Jahrbuch Des Offentlichen Rechts Der Gegenwart 3161557816, 9783161557811

English summary: The 2018 volume of the yearbook focuses on issues of legal pluralism, uniform law, and the diversity of

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German Pages 767 [774] Year 2018

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Titel
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunktthema: Einheitliches Recht und Vielfalt der einzelstaatlichen Rechtskulturen
Angelika Nußberger: „Schmelztiegel Europa“. Wie europäische Richter mit einer Stimme sprechen (oder auch nicht)
Christoph Grabenwarter: Die Herausbildung europäischer Verfassungsstandards in der Venedig-Kommission
Oliver Jürgen Junge: Vielfalt und Einheit von Recht und Verfassung in der Europäischen Union und imperialen Ordnungen
Ann-Katrin Kaufhold: Einheit in Vielfalt durch umgekehrten Vollzug? Zur Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts durch europäische Institutionen
Fabian Wittreck: Staatliche und geistliche Gerichtsbarkeit
Katharina Reiling, Maria Daniela Poli, Gustavo Manuel Díaz González und Nada Pauer: Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten
Abhandlungen und Aufsätze
Thomas Groß: Der Missbrauch der Menschenwürde als Schranke der Meinungsfreiheit
David Kuch: Die Freiheit der Person: Grundrecht und Grundrechtsvoraussetzung
Ferdinand Weber: Überstaatlichkeit als Kontinuität und Identitätszumutung. Eine historisch-dogmatische Grundlegung
Paulina Starski und Leander Beinlich: Der Amtshaftungsanspruch und Auslandseinsätze der Bundeswehr. Eine verfassungsrechtliche und rechtsvergleichende Betrachtung aus Anlass des Kunduz-Urteils des Bundesgerichtshofs
Debatte: Demokratie in Zeiten der Migration
Anuscheh Farahat: Inklusion in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft. Verfassungsrechtliche Eckpunkte
Markus Kotzur: We the People on the move. Wie Migrationsbewegungen demokratische Herrschaftsorganisation herausfordern und verändern
Dietrich Murswiek: Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes
Astrid Wallrabenstein: Wahlrecht und Mobilität
Ulrich K. Preuß: Migration und Demokratie. Das Volk, die Demokratie und die Fremden
Porträts und Erinnerungen
Bernhard Schlink: Erinnerung an Adalbert Podlech
Wolfgang Clement: „Nec temere, nec timide“. Zum Gedenken an Horst Ehmke
Peter Häberle: Gedächtnisblatt für Horst Ehmke
Fritz W. Scharpf: Horst Ehmke kontrafaktisch: Prinzipien der Verfassungsinterpretation im Europarecht?
Kurt Graulich: Horst Ehmkes Aufsatz „Demokratischer Sozialismus und demokratischer Staat“ (1974) – Like a bridge over troubled water
Frieder Günther: „Renegatentum“ als Lebensprinzip. Horst Ehmke und die alte Bundesrepublik
Entwicklungen des Verfassungsrechts
I. Gliedstaatliches Verfassungsrecht
Markus Möstl: Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung. Ein Bericht aus Deutschland
Arno Wettlaufer: Zur Verfassungsreform in Hessen
Werner Reutter: Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein
II. Verfassungsrecht in Europa
Adam Bodnar: Protection of Human Rights after the Constitutional Crisis in Poland
Marta Breichová Lapc?áková: Europäisches Recht in der Judikatur des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik
Peter Bussjäger: Verfassungsrecht im Kleinstaat. Zur Entwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik in Liechtenstein
III. Verfassungsrecht außerhalb Europas
Andreas Timmermann: „Der Krausismus“ in Argentinien und die Radikalen um Hipólito Yrigoyen (1850–1933)
Xiaodan Zhang: Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats der VRCh und ihre dialektische Funktion im sozialistischen Rechtsstaat Chinas
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Jahrbuch Des Offentlichen Rechts Der Gegenwart
 3161557816, 9783161557811

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DA S ÖF F EN T LICH E R ECHT DE R GEGEN WA RT

JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 66

herausgegeben von

Susanne Baer, Oliver Lepsius, Christoph Schönberger, Christian Waldhoff und Christian Walter

Mohr Siebeck

Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer, LL.M., Humboldt Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M., Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie, Universität Münster, Bispinghof 24/25, D-48143 Münster Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte, D-78457 Konstanz Prof. Dr. Christian Waldhoff, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Christian Walter, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht, Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München

ISBN 978-3-16-155781-1 / eISBN 978-3-16-159057-3 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Inhaltsverzeichnis Schwerpunktthema: Einheitliches Recht und Vielfalt der einzelstaatlichen Rechtskulturen Angelika Nußberger: „Schmelztiegel Europa“. Wie europäische Richter mit einer Stimme sprechen (oder auch nicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Christoph Grabenwarter: Die Herausbildung europäischer Verfassungsstandards in der Venedig-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Oliver Jürgen Junge: Vielfalt und Einheit von Recht und Verfassung in der Europäischen Union und imperialen Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Ann-Katrin Kaufhold: Einheit in Vielfalt durch umgekehrten Vollzug? Zur Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts durch europäische Institutionen . 85 Fabian Wittreck: Staatliche und geistliche Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 111 Katharina Reiling, Maria Daniela Poli, Gustavo Manuel Díaz González und Nada Pauer: Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten . 145

Abhandlungen und Aufsätze Thomas Groß: Der Missbrauch der Menschenwürde als Schranke der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 David Kuch: Die Freiheit der Person: Grundrecht und Grundrechtsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Ferdinand Weber: Überstaatlichkeit als Kontinuität und Identitätszumutung. Eine historisch-dogmatische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Paulina Starski und Leander Beinlich: Der Amtshaftungsanspruch und Auslandseinsätze der Bundeswehr. Eine verfassungsrechtliche und rechtsvergleichende Betrachtung aus Anlass des Kunduz-Urteils des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

IV

Inhaltsverzeichnis

Debatte: Demokratie in Zeiten der Migration Anuscheh Farahat: Inklusion in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft. Verfassungsrechtliche Eckpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Markus Kotzur: We the People on the move. Wie Migrationsbewegungen demokratische Herrschaftsorganisation herausfordern und verändern . . . . . . . 371 Dietrich Murswiek: Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Astrid Wallrabenstein: Wahlrecht und Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Ulrich K. Preuß: Migration und Demokratie. Das Volk, die Demokratie und die Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Porträts und Erinnerungen Bernhard Schlink: Erinnerung an Adalbert Podlech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Wolfgang Clement: „Nec temere, nec timide“. Zum Gedenken an Horst Ehmke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Peter Häberle: Gedächtnisblatt für Horst Ehmke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Fritz W. Scharpf: Horst Ehmke kontrafaktisch: Prinzipien der Verfassungsinterpretation im Europarecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Kurt Graulich: Horst Ehmkes Aufsatz „Demokratischer Sozialismus und demokratischer Staat“ (1974) – Like a bridge over troubled water . . . . . . 509 Frieder Günther: „Renegatentum“ als Lebensprinzip. Horst Ehmke und die alte Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

Entwicklungen des Verfassungsrechts I. Gliedstaatliches Verfassungsrecht Markus Möstl: Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung. Ein Bericht aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Arno Wettlaufer: Zur Verfassungsreform in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Werner Reutter: Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . 617

Inhaltsverzeichnis

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II. Verfassungsrecht in Europa Adam Bodnar: Protection of Human Rights after the Constitutional Crisis in Poland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 Marta Breichová Lapcˇáková: Europäisches Recht in der Judikatur des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Peter Bussjäger: Verfassungsrecht im Kleinstaat. Zur Entwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik in Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

III. Verfassungsrecht außerhalb Europas Andreas Timmermann: „Der Krausismus“ in Argentinien und die Radikalen um Hipólito Yrigoyen (1850–1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Xiaodan Zhang: Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats der VRCh und ihre dialektische Funktion im sozialistischen Rechtsstaat Chinas . . . . . . . 731

Schwerpunktthema: Einheitliches Recht und Vielfalt der einzelstaatlichen Rechtskulturen

„Schmelztiegel Europa“ Wie europäische Richter mit einer Stimme sprechen (oder auch nicht) von

Prof. Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger M.A. Vizepräsidentin des EGMR Straßburg/Köln* Inhalt I. Argumentationsstil und Diskussionskultur als Teil des Beratungsgeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Modelle richterlichen Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 III. Individuelle Vorprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1. Berufliche Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Alter und Erfahrungshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 4. Politische Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 IV Rechtskulturelle Vorprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1. Die Rolle des Richters – Teamplayer vs. Einzelkämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Fokus der Entscheidung – Einzelfallgerechtigkeit vs. Stimmigkeit des Gesamtsystems . . . . . . . . 14 3. Juristischer Diskurs – die Bedeutung von Fußnoten und Verweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 V. Schmelztiegeleffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

I.  Argumentationsstil und Diskussionskultur als Teil des Beratungsgeheimnisses Kleine Unterschiede in der Strichführung verraten, ob eine Handschrift aus deutscher, französischer oder englischer Feder stammt. Aus der Form und Geschmeidigkeit der Schriftzüge lassen sich auch Rückschlüsse auf das Alter des Schreibers ziehen, *   Die Autorin ist die seit 2011 für Deutschland gewählte Richterin und Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die folgenden Ausführungen geben ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder und binden den Gerichtshof in keiner Weise. Intention ist, die in dem Band enthaltenen wissenschaftlichen Analysen zum Thema „Einheitliches Recht und Vielfalt der Rechtskulturen“ um einen subjektiven Erfahrungsbericht zu ergänzen.

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Angelika Nußberger

nicht aber unbedingt darauf, ob das lateinische Alphabet das zuerst Erlernte war oder aber ob das Schreiben zunächst mit der kyrillischen, armenischen oder georgischen Schrift geübt worden ist. Auch kann man nicht sicher wissen, manches Mal aber raten, ob der Schreiber Rechts- oder Linkshänder ist. Was sind individuelle Charakteristika, was ist kulturbedingt? Es lässt sich nicht leicht zu trennen. Keine Handschrift gleicht der anderen, aber manche Handschriften sind einander erkennbar ähnlicher als andere. So ist es auch mit dem Rechtsdenken. Konzepte, Strukturen, Ideen, Argumentationsweisen, Schlussfolgerungen, all das, was man unter den Oberbegriff „juristischer Stil“ fassen könnte,1 ist ein Konglomerat aus Erlerntem, kulturell Vorgeprägtem und individuell Geformtem. Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommen die 47 Richterinnen und Richter aus 47 verschiedenen europäischen Staaten 2 und repräsentieren unterschiedliche Rechtskulturen.3 Dennoch können die 17 Richter der Großen Kammer oder die 7 Richter der Kammer als Kollektiv mit einer Stimme sprechen und gemeinsam „europäische Urteile“ verfassen. Sie können es, aber sie wollen es nicht unbedingt. Kollektiv entscheiden ist nicht die einzige Option. Nicht selten zeigen die Urteile mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, erweisen sich als eine Art Patchwork. Daher wäre ein Blick hinter die Kulissen von großem Interesse. Wie sieht die Werkstatt aus? Wie ist es möglich, auch dann einen gemeinsamen Ansatz zu formulieren, wenn man eine Frage aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, auf der

1  Nach Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3.  Aufl. Tübingen 1996, S.  62 ff., S.  67 ff., ist der „Stil“ einer Rechtsordnung der entscheidende Faktor, um verschiedene Rechtsordnungen in Rechtskreise zusammenzufassen. Als „stilbildende Faktoren“ sehen die Autoren die historische Herkunft und Entwicklung einer Rechtsordnung, die in ihr vorherrschende Denkweise, besondere kennzeichnende Rechtsinstitute, die Art der Rechtsquellen und ihrer Auslegung sowie ideologische Faktoren an. Im Folgenden wird nur das zweite Element, konkret die gerichtlichen Entscheidungen zugrunde liegende juristische Denkweise, herausgegriffen. 2  In der gegenwärtigen Besetzung ist auch der Liechtensteiner Richter Schweizer Staatsbürger; mehrere Richter haben mehr als nur eine Staatsangehörigkeit. In der ursprünglichen Fassung der Konvention von 1950 war es ausgeschlossen, dass zwei Richter Staatsangehörige desselben Staates sind. Diese Regelung wurde aber mittlerweile abgeschafft. 3   In der Geschäftsordnung des Gerichtshofs (Rules of the Court) wird zwar nicht von verschiedenen „Rechtskulturen“, wohl aber von verschiedenen „Rechtssystemen“ gesprochen (Artikel 24 Abs.  2 (e), 25 Abs.  2 Rules of the Court), allerdings ohne zu klären, an welchen Kriterien die Unterschiede festgemacht werden und inwieweit sich die am Gerichtshof vertretenen nationalen Rechtsordnungen in verschiedenen „Systemen“ zusammenfassen lassen (siehe dazu unten IV). Gruppierungsversuche (als „Rechtskreis“, „Rechtsfamilie“, „Rechtstradition“) liegen der Rechtsvergleichung als Wissenschaft zugrunde; vgl. zu frühen Ansätzen A. Esmein, Le droit comparé et l’enseignement du droit, in: Congrès international de droit comparé, Procès-verbaux des séances et documents I (1905), 445 ff. 451, der den romanischen, germanischen, angelsächsischen, slawischen und islamischen Rechtskreis voneinander abgrenzt; aus neuerer Zeit Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, Oxford, 4.  Aufl. 2010 – hier sind die Unterkategorien Chthonic Law, Talmudic Law, Civil law, Islamic Law, Common Law, Hindu Law, Asian Law; ähnlich die „Klassiker“ René David/Camille Joffret-Spinosi/Marie Goré, Les grands systèmes des droit contemporains, 2.  Aufl. Paris 2016 und Zweigert/Kötz, a.a.O. Fn.  1. Um die in der Wissenschaft strittige Gruppenbildung von Rechtskulturen oder Rechtssystemen soll es aber im Folgenden nicht gehen.

„Schmelztiegel Europa“

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Grundlage unterschiedlicher Vorverständnisse betrachtet? Warum erreicht man in manchen Fällen ein einstimmiges Ergebnis, in anderen Fällen aber nicht? Darüber, wie Urteile entstehen, ist aufgrund des Beratungsgeheimnisses der Mantel des Schweigens gebreitet.4 Dies ist grundsätzlich gut so, wird damit doch das Recht, frei nachzudenken und, wenn nötig, auch die Meinung frei zu ändern, gesichert. Nachteil ist, dass das Gericht wie eine Blackbox erscheint, in die auf der einen Seite die Argumente der Parteien – von Bürger und Staat – eingegeben werden und auf der anderen Seite die Urteile herauskommen. Dies gilt für nationale wie internationale Gerichte gleichermaßen. Für letztere aber ist es noch spannungsreicher, sind sie doch ein Schmelztiegel unterschiedlicher Rechtskulturen, bei denen es erst recht wichtig wäre zu verstehen, auf welche Weise sich die Engführung der verschiedenen Rechtstraditionen vollzieht. Der über Argumentationsstil und Diskussionskultur gebreitete Schleier wird allerdings am EGMR durch die Vielzahl von Sondervoten, die zu den Urteilen verfasst werden, etwas gelüftet. Aus den Sondervoten mag man Rückschlüsse, wenn nicht auf die Beratungen, so doch auf die für wichtig befundenen Argumente ziehen.

II.  Modelle richterlichen Entscheidens Die Frage nach der Meinungsbildung in Kollektiven stellt sich nicht nur mit Blick auf internationale oder nationale Gerichte, sondern ist ein allgemeiner Gegenstand der Forschung. Gerade bei Gerichtsentscheidungen aber gibt es grundsätzlich unterschiedliche Modelle, das mehr individualistisch geprägte „Seriatim-Modell“ und das mehr kollektivistisch geprägte „Per Curiam-Modell“. Ersteres ist typisch für das Common Law, letzteres für das kontinentaleuropäische Recht.5 Beide Schulen sind am EGMR vertreten.6 Gerade auch vor diesem Hintergrund ist die Modellbildung und Überlagerung der verschiedenen Traditionen am Straßburger Gericht als Teil der historischen Entwicklung, in der sich die unterschiedlichen Formen immer wieder angenähert und voneinander abgegrenzt haben, bedeutsam. Beim „Seriatim-Modell“ in seiner Ursprungsform wird nicht der Versuch unternommen, aus verschiedenen Rechtsmeinungen eine gemeinsame Meinung zu formen und damit die Unterschiede einzuebnen und Kompromisse auszuhandeln, sondern vielmehr werden die einzelnen Stimmen in ihrer Eigenart belassen und lediglich aneinandergefügt. Das „Urteil“ ist damit nichts anderes als eine Addition der sich aus den jeweiligen individuell verantworteten Rechtsanalysen ergebenden Resultate. Wolfgang Ernst fasst den Ausgangspunkt der angelsächsischen Rechtstradition folgendermaßen zusammen: „Jeder Richter ist hier für sich Träger der rechtspre4   Nach Art.  3 Rules of the Court hat jeder Richter vor Beginn seiner Arbeit am Gericht feierlich zu erklären, „die Beratungen geheim zu halten“. 5   Vgl. zu den historischen Hintergründen und Unterschieden zwischen den beiden Modellen Wolfgang Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, Tübingen 2016; ders., Abstimmen über Rechtserkenntnis, JZ 2012, 637; Gertrude Lübbe-Wolff, Cultures of Deliberations in Constitutional Courts, in: P. Maraniello (Hg.), Justicia Constitucional, Buenos Aires 2016, S.  37, 42. 6   Das Vereinigte Königreich und Irland sind klassische Common Law Systeme, Malta und Zypern haben als ehemalige britische Kolonien Elemente des Common Law in ihre Rechtssysteme integriert.

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Angelika Nußberger

chenden Gewalt, jeder Richter spricht den Parteien das Recht, wobei nur die Wirkung seines Spruchs auf den Streitgegenstand davon abhängt, wie die anderen Richter über denselben Streit urteilen.“7 Der britische Richter Tom Bingham sieht in dieser Form des Entscheidens wichtige Vorteile: „… this practice fosters beneficial development of the law and avoids unsatisfactory compromises which result in a final judgment commanding the wholehearted support of no one.“8

Nach seiner Meinung gibt es allerdings zwei wichtige Voraussetzungen für ein positives Resultat. Zum einen müsse bei aller Verschiedenheit der einzelnen Stellungnahmen das Gesamtergebnis klar sein. Zum anderen dürfe die Rechtsfortbildung nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen, da sonst die Rechtssicherheit und damit die Rechtsstaatlichkeit des Entscheidens gefährdet sei.9 Die Urteile des EGMR fügen sich dagegen a priori in die kontinentaleuropäische Rechtskultur ein und folgen dem „Per Curiam Modell“. Dies wird ex negativo aus der Bestimmung der Konvention zu Sondervoten (Art.  45 Abs.  2 EMRK) deutlich: „Bringt ein Urteil ganz oder teilweise nicht die übereinstimmende Meinung der Richter zum Ausdruck, so ist jeder Richter berechtigt, seine abweichende Meinung darzulegen.“

Diese Normierung der Ausnahme setzt als „Normalfall“ voraus, dass ein Urteil „die übereinstimmende Meinung der Richter“ zum Ausdruck bringt. Grundannahme ist daher, dass die Richter in ihren Urteilen einen von allen getragenen Kompromiss formulieren. Allerdings sind Ausnahmen vorgesehen, und damit nähert sich das „Per Curiam-Modell“ eben doch dem „Seriatim-Modell“ an. Wer nicht zustimmen will, kann dies explizit zum Ausdruck bringen. Dass in der Praxis des Gerichtshofs bei den Urteilen der Großen Kammer einstimmige Entscheidungen die Ausnahme und Entscheidungen mit Sondervoten die Regel sind, zeigt gleichermaßen die Tendenz weg vom kollektiven hin zum individuellen Entscheiden, eine Entwicklung, die man, je nach Perspektive, als Autoritätsverlust beklagen oder als Emanzipation der Mitglieder der Spruchkörper begrüßen kann. Nun sind die Mechanismen, nach denen aus dem notwendigerweise im Ausgangspunkt vorliegenden Meinungspluralismus kohärente Urteile erarbeitet werden, die nicht nur alle Argumente aufnehmen, sondern sie auch noch zu einem schlüssigen Ganzen verarbeiten, subtil, teils explizit geregelt, teils von langer praktischer Übung geprägt, und doch immer wieder in Frage gestellt. Nicht darum aber soll es im Folgenden gehen; diese Mechanismen wurden an anderer Stelle ausführlich analysiert.10 Vielmehr ist hier von Interesse zu reflektieren, welche Faktoren die unterschiedlichen Ansätze bei der Entscheidungsfindung bedingen, einer Entscheidungsfindung, die nicht „frei“ ist, sondern das geschriebene Recht zur Anwendung bringen soll.   W. Ernst, Abstimmen über Rechtserkenntnis, S.  637 ff., S.  639.   T. Bingham, The Rule of Law, London 2010, S.  45. 9   Ebenda, S.  45. 10  Siehe Angelika Nußberger, Designing collegiate courts’ decision making processes – The fine-mechanics of judicial majoritarianism. The European Court of Human Righs, in: Wolfgang Ernst, Beate Gsell, Birke Haecker, Collective Judging in Comparative Perspective: Counting Votes and Weighing Opinions, Cambridge 2018. 7 8

„Schmelztiegel Europa“

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Die folgenden Beobachtungen sind nicht Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse, sondern sind – vergleichbar der „erlebten Geschichte“ – „erlebtes Recht“. Vorgestellt werden subjektive Beobachtungen während der siebenjährigen Arbeit am EGMR, wobei allerdings das Beratungsgeheimnis dem Erzählen und Reflektieren Grenzen zieht.11 Zu unterscheiden sind individuelle und rechtskulturelle Vorprägungen des Entscheidenden, auch wenn trennscharfe Grenzziehungen nicht möglich sind.

III.  Individuelle Vorprägungen 1.  Berufliche Erfahrung Niemand am EGMR wird Richter ohne ein langes „juristisches Vorleben“. Dementsprechend ist die „déformation professionnelle“ unverkennbar, ein Faktor, der auch bei anderen Höchstgerichten, insbesondere bei Verfassungsgerichten, sichtbar ist. Auch dort gibt es nicht einen „klassischen“ Karriereweg, vielmehr wird bei den Berufungen gerade auch Wert auf Vielfalt gelegt. Vergleichbar zum Bundesverfassungsgericht dominieren auch am EGMR zwei Berufsgruppen: Richter und Rechtswissenschaftler. Dies ergibt sich bereits aus der Konvention, die als Voraussetzung für das Richteramt normiert (Art.  21 Abs.  1 EMRK): „Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung hoher richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein.“

Die Berufungskriterien sind allerdings offen formuliert. Es ist nicht Voraussetzung, Richter an einem Höchstgericht des Herkunftsstaats zu sein, um berufen zu werden, sondern lediglich, die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Dennoch waren und sind unter den Richtern am EGMR nicht wenige, die bereits Präsidenten an nationalen Verfassungsgerichten und Obersten Gerichten waren, bevor sie an den EGMR kamen.12 Auch der Begriff „Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf “ ist offen formuliert und erfordert nicht zwingend eine universitäre Stellung. Darunter gefasst wird auch die dritte am EGMR vertretene Berufsgruppe der Rechtsanwälte, die oftmals, aber nicht nur aus kleinen Mitgliedsstaaten kommen, in denen es in der Regel keine eigenen Universitäten gibt und die Richterschaft zahlenmäßig sehr klein ist.13 Für die Auswahl kann auch das Ansehen der jeweiligen Berufsgruppe in den 11   Vgl. zu weiteren subjektiven Berichten über die Arbeit am Gericht aus der Sicht ehemaliger Richter/Präsidenten Jean-Paul Costa, La Cour européenne des droits de l’homme. Des juges pour la liberté, Paris 2013, Loukis G. Loucaides, Reflections of a former European Court of Human Rights Judge on his Experiences as a Judge, Roma Rights Journal 2010, S.  61 ff. 12   So war etwa die finnische Richterin Pauliine Koskelo Präsidentin des finnischen Obersten Gerichts, der litauische Richter Egidius Kuris Präsident des litauischen Verfassungsgerichts, der aserbeidschanische Richter Khanlar Hadziev Präsident sowohl des Obersten Gerichts Aserbeidschans als auch des Verfassungsgerichts Aserbeidschans. 13   Vgl. z.B. den ehemaligen Präsidenten Dean Spielmann, der vor seiner Berufung an den EGMR Rechtsanwalt in Luxemburg war; ebenso kam der ehemalige Vizepräsident aus Andorra Josep Casadevall aus der Rechtsanwaltschaft. Dasselbe trifft für die aktuelle Richterin aus San Marino, Kristina

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Angelika Nußberger

entsprechenden Entsendestaaten ausschlaggebend sein. Gerade in den so genannten „Neuen Demokratien“ hatte die Justiz oftmals einen eher schlechten Ruf, während man den Vertretern aus der Rechtsanwaltschaft eher Vertrauen entgegenbringt. In der Tat waren auch einige der an den EGMR berufenen Richter bereits als Menschenrechtsanwälte aktiv gewesen und hatten große Verfahren an den EGMR gebracht.14 Neben Richtern, Rechtsanwälten und Professoren gibt es noch einzelne, die zuvor in anderer Funktion, etwa als Regierungsvertreter oder als Vertreter einer internationalen Organisation, tätig waren.15 Die jeweilige berufliche Sozialisierung im Herkunftsstaat ist ein Faktor, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte.16

2.  Alter und Erfahrungshorizont Prägend ist auch das Alter der an den EGMR Gewählten, nicht nur aufgrund der damit verbundenen Erfahrung, sondern vor allem aufgrund der Zugehörigkeit zu von historischen Ereignissen in Europa je unterschiedlich geprägten Generationen. Hatten die ersten Generationen von Richtern noch erfahren, was Krieg bedeutet – oftmals waren sie selbst in der einen oder anderen Funktion involviert gewesen17 -, war nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten die Sozialisierung in den jeweiligen kommunistischen Regimen ausschlaggebendes Merkmal. Der erste für die Russische Föderation gewählte Richter Vladimir Tumanov, Jahrgang 1926, war jahrelang Inhaber des Lehrstuhls für „bourgeoises Recht“, Autor von Büchern wie „Contemporary bourgeois legal thought. A Marxist evaluation of the basic concepts“ (1974) gewesen, danach aber Präsident des neu geschaffenen russischen Verfassungsgerichts geworden, bevor er als erster russischer Richter an den EGMR berufen wurde. Auch andere aus dieser Generation hatten nach der Wende in ihren Heimatländern wichtige neue Funktionen übernommen. Wieder andere – die Generation der nach 1970 Geborenen – waren so jung, dass die Erfahrung des Kommunismus nur noch ihre Kindheit und Jugend prägte.18 Unabhängig vom Alter hatten dagegen alle Pardalos, zu. Vielfach kamen aus Kleinststaaten aber auch Richter (z.B. Pere Pastor-Villanova aus Andorra, Isabelle Berro-Lefèbre und Stéphanie Mourou-Vikström aus Monaco, Vincent de Gaetano aus Malta, Carlo Ranzoni aus Liechtenstein). 14   Ein Beispiel wäre der bulgarische Richter Yonko Grozev, der etwa im Fall Hasan und Chaush v. Bulgarien (Nr.  30985/86, 26. Oktober 2000) vor dem EGMR plädiert hatte. 15   Siehe z.B. den früheren Gerichtspräsidenten Nikolas Bratza, der Vertreter der Britischen Regierung von dem Gerichtshof war, oder den aserbeidschanischen Richter Latif Huseynov, der Präsident des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung war; kritisch zur Wahl der Richter an den EGMR Norbert Paul Engel, Mehr Transparenz für die Wahrung professioneller Qualität bei den Richterwahlen zum EGMR, EuGRZ 2012, S.  486 ff., Koen Lemmens, (S)electing Judges for Strasbourg: A (Dis)appointing Process, in: Michal Bobek, Selecting European judges, Oxford 2015, S.  95–119, David Kosar, Selecting Strasbourg Judges: A Critique, in: idem, S.  120–161. 16   Vgl. Zur Sozialisierung der Richter in ihrer jeweiligen „judicial community“ John Bell, Judicia­r ies within Europe. A Comparative Review, Cambridge 2006, S.  13–34. 17   Vgl. statt vieler etwa die eindrückliche Biographie eines der „Väter“ der Konvention und französischen Richters Pierre-Henri Teitgen, Faites entrer le témoin suivant 1940–1958, Rennes 1988, in der er seinen Weg von der Résistance zum Vorkämpfer für Menschenrechte beschreibt. 18   Siehe beispielsweise den albanischen Richter Ledi Biancu ( Jahrgang 1971), die ukrainische Rich-

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aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien stammenden Richter, wenn auch in unterschiedlichem Maß, Erfahrung mit Bürgerkrieg und Gewalt gemacht. Alter und beruflicher Werdegang sind immer prägende Faktoren für an Höchstgerichte berufene Richter. Für ein europäisches Gericht wie den EGMR sind diese grundsätzlich neutralen Faktoren aber in besonderer Weise mit historischem und rechtskulturellem Kolorit angereichert. Eine Jugend in Island in den 60er Jahren ist nicht mit einer Jugend in Armenien zur selben Zeit vergleichbar. Ebenso wenig lässt sich richterliche Tätigkeit in einem Land wie etwa Großbritannien der richterlichen Tätigkeit in einem anderen Land – etwa Aserbeidschan oder Moldawien, aber auch Deutschland oder Frankreich – unbedingt gleichsetzen.

3. Geschlecht Bis zur Einrichtung des ständigen Gerichtshofs wurden nur sehr wenige Frauen als Richterin an den EGMR berufen.19 In der ursprünglichen Zusammensetzung des Gerichtshofs im Jahr 1959 fand sich keine einzige Frau; 20 bei der Neubesetzung im Jahr 1998 wurden für zu diesem Zeitpunkt 39 Mitgliedsstaaten acht Frauen berufen.21 Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, wurde die Regel eingeführt, dass die von den Regierungen der Mitgliedsstaaten vorgelegten Listen sowohl Kandidatinnen als auch Kandidaten enthalten müssen.22 Dies brachte manche, insbesondere kleine Mitgliedsstaaten, in die Verlegenheit, über längere Zeit überhaupt keine Liste vorlegen zu können 23 – legendär ist die zweijährige Verzögerung der Vorstellung einer Frauen und Männer enthaltenden Liste aus Malta – führte aber im Ergebnis doch im Laufe der Jahre zu einer ausgeglicheneren Besetzung des Gerichts; gegenwärtig (Stand 1.1.2018) stehen 15 Richterinnen 32 Richtern gegenüber, wobei allerdings das Präsidium des Gerichts fast paritätisch besetzt ist.24 terin Ganna Yudkivska ( Jahrgang 1973), die georgische Richterin Nona Tsotsoria ( Jahrgang 1973) oder die estnische Richterin Julia Laffranque ( Jahrgang 1974). 19   Helga Pedersen für Dänemark (1971–1980), Elisabeth Palm für Schweden (1988–2003) und Denise Blindschedler-Robert für die Schweiz (1975–1981). 20   Zur Zusammensetzung des Gerichtshofs im Jahr 1959 vgl. Ed Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights. From its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, Oxford 2010, S.  182. 21  Siehe Bates (a.a.O. Fn.  20), S.  467. 22   Vgl. Empfehlung Nr.  1429 (1999) der Parlamentarischen Versammlung; die Bestimmung, dass beim Vorschlag der Regierung beide Geschlechter vertreten sein müssten, wurde in der Anordnung 558 (1999) an den Wahlausschuss nochmals hervorgehoben: “to make sure that in future elections to the Court member states apply the criteria which it has drawn up for the establishment of lists of candidates, and in particular the presence of candidates of both sexes“. 23   Aufgrund der Negativerfahrungen erlaubten Resolutionen 1426 (2005) und 1627 (2008), nachdem die Regel ursprünglich zwingend war, Ausnahmen. Danach würden „single-sex lists of candi­ dates“dann akzeptiert, wenn das Geschlecht der auf der Liste genannten Kandidaten unterrepräsentiert ist (weniger als 40 %) oder außergewöhnliche Umstände vorliegen. 24   Vgl. auch Artikel 14 Rules of the Court: „In relation to the making of appointments governed by this and the following chapter of the present Rules, the Court shall pursue a policy aimed at securing a balanced representation of the sexes“; zu der Problematik vgl. auch die Erläuterungen bei Kosar (a.a.O. Fn.  15), S.  129 ff.

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4.  Politische Einstellung Anders als bei manchen nationalen Verfassungsgerichten ist Parteizugehörigkeit kein Kriterium, nach dem die Richter ausgesucht würden. Zum einen kommen viele Richter aus Rechtssystemen, die aufgrund der Erfahrungen während der Zeit des Sozialismus Parteizugehörigkeit als Ausschlussgrund für die Berufung ins Richteramt ansehen; in jedem Fall wird sie negativ gewertet. Zum anderen wären aber Parteibestimmungen wie „links“ – „rechts“ bei der Vielzahl der im Europarat vertretenen politischen Kulturen sowieso nicht nur konturlos, sondern irreführend. Regierungsnähe ist ebenso wie Parteizugehörigkeit ein Kriterium, das einer Berufung an den EGMR grundsätzlich entgegensteht. Dies ist allerdings ein Dilemma, müssen doch die Kandidaten für das Richteramt von der Regierung vorgeschlagen werden. Allerdings ist zwischen „von der Regierung akzeptiert“ und „die Positionen der Regierung vertretend“ doch ein großer Unterschied. Das Panel zur Überprüfung der Kandidaten hat jedenfalls zu denjenigen, die der Regierung allzu nahe standen, in der Regel ein negatives Votum abgegeben. Nicht immer konnten die entsprechenden Kandidaturen aber im Ergebnis verhindert werden.25 Die der richterlichen Tätigkeit vorausliegenden, im weitesten Sinn als „politisch“ anzusprechenden Überzeugungen werden von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt; im Ergebnis lassen sie sich mit Blick auf die Auslegung von Grund- und Menschenrechten auf einer Skala mit den Eckpunkten „besser mehr Staat“ – „besser weniger Staat“ verorten. Wie Richter denken und abstimmen, ist aber grundsätzlich geheim. In den Urteilen angegeben wird nur das Abstimmungsergebnis.26 Allerdings schreiben die dissentierenden Richter in aller Regel zu Urteilen eine abweichende Meinung und offenbaren so – ganz bewusst – ihre Position im spezifischen Fall. Ein derartiges „Bekenntnis“ ist aber – wie auch beim Bundesverfassungsgericht – nicht zwingend vorgeschrieben; wer mit seinen Überlegungen anonym bleiben will, kann anonym bleiben.27

IV.  Rechtskulturelle Vorprägungen28 Dass es geographische und rechtskulturelle Unterschiede zwischen den in der EMRK zusammengefassten Rechtssystemen gibt, wird in der Entscheidungspraxis des 25   Vgl. die Kritik bei Kosar (a.a.O. Fn.  15), S.  159 ff., der unter der Überschrift „The Ugly“ über die politischen Hintergründe bei der Wahl der Richter in der Parlamentarischen Versammlung berichtet. 26   Bei Unzulässigkeitsentscheidungen wird nur zwischen „einstimmig“ und „mit einer Mehrheit“ unterschieden. 27   Vgl. z.B. EGMR (GK) Paradiso und Campanelli v. Italien vom 24.1.2017, Nr.  25358/12: Hier wurde mit 11 zu 6 Stimmen festgestellt, dass Art.  8 EMRK nicht verletzt sei. Dennoch fügten nur fünf Richterinnen und Richter dem Urteil eine abweichende Meinung an. 28   Wie bereits erwähnt (siehe oben Fn.  3 ), ist die Terminologie –„Rechtskultur“, „Rechtskreis“, „Rechtstradition“ nicht nur uneinheitlich, sondern spiegelt auch ein unterschiedliches wissenschaftliches Verständnis wider. Im Folgenden wird – abweichend von der Terminologie des Konvention – der Begriff „Rechtskultur“ (und nicht „Rechtssystem“ – „legal system, système de droit) verwendet, da dies in der deutschen Rechtssprache weniger missverständlich erscheint.

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EGMR keineswegs geleugnet. Vielmehr werden diese Faktoren in den Regelungen der Geschäftsordnung des Gerichtshofs ausdrücklich berücksichtigt. So wird zur Zusammensetzung der Sektionen bestimmt: „The composition of the Sections shall be geographically and gender balanced and shall reflect the different legal systems among the Contracting Parties.“29

Ähnlich ist auch die Bestimmung zum Losverfahren bei der Bestimmung der Zusammensetzung der Großen Kammer: „The modalities for the drawing of lots shall be laid down by the Plenary Court, having due regard to the need for a geographically balanced composition reflecting the different legal systems among the Contracting Parties.“30

Welche „unterschiedlichen Rechtssysteme“ damit gemeint sind, ist weder in der Konvention noch in der Geschäftsordnung des Gerichtshofs festgelegt. Zweifellos war man sich bei der Ausarbeitung der Konvention der Unterschiede zwischen den großen europäischen Rechtstraditionen, insbesondere zwischen dem Common Law und dem kontinentaleuropäischen Recht, sehr wohl bewusst.31 Allgemein anerkannt war auch die besondere Prägung der ehemals sozialistischen Staaten, die als „Transformationsstaaten“ dem Konventionssystem nach 1990 beitraten. Darüber ob, und wenn ja, in welcher Weise, weitere Untergruppen von Rechtssystemen zu bilden sind, besteht dagegen keine Einigkeit; anders als in der Wissenschaft 32 ist es aber kein Gegenstand einer Grundsatzdiskussion am Gericht. Die „ausgeglichene Zusammensetzung“ sowohl bei den Sektionen33 als auch beim Losverfahren für die Große Kammer34 wird so eher nach pragmatischen als nach wissenschaftlich fundierten Kriterien erreicht. Zudem wird die Zusammensetzung alle drei Jahre geändert, um Verkrustungen entgegenzuwirken.35 Von Interesse ist vor diesem Hintergrund, ob, und wenn ja, wie die individuelle bzw. die rechtskulturelle Vorprägung der Richterinnen und Richter auf die Entscheidungsfindung in Kammer und Großer Kammer Einfluss nimmt. Relevant kann dies zum einen sein bei der inhaltlichen Beurteilung von Rechtsinstituten, die für   Vgl. Art.  25 Abs.  2 Rules of the Court.   Art.  24 Abs.  2 (e) Rules of the Court. 31   Interessanterweise war die angebliche Dominanz des angelsächsischen Rechtsdenkens im Konventionssystem eines der Argumente Frankreichs, um die EMRK trotz der intensiven Beteiligung an der Ausarbeitung – im Gegensatz zu allen anderen Gründungsstaaten des Europarats – zunächst nicht zu ratifizieren (die Ratifikation der 1950 zur Zeichnung aufgelegten Konvention erfolgte erst 1974); vgl. Bates (a.a.O. Fn.  20), S.  177 Fn.  24. 32   Siehe die Nachweise Fn.  3. 33   Die 47 Richterinnen und Richter des Gerichtshofs sind in fünf Sektionen mit neun oder zehn Mitgliedern eingeteilt, innerhalb derer die Entscheidungsformationen, die Spruchkammern mit sieben Mitgliedern, gebildet werden; dazu im Einzelnen Nußberger (a.a.O. Fn.  10). 34   Der Großen Kammer gehören ex officio der Präsident des Gerichtshofs, die beiden Vizepräsidenten sowie die drei Sektionspräsidenten und der „nationale Richter“ (der Richter aus dem Staat, gegen den sich die Beschwerde richtet) an. Die übrigen Richterinnen und Richter der Großen Kammer werden per Los aus verschiedenen Gruppen gezogen; die Einteilung dieser (nicht öffentlich bekannt gegebenen) Gruppen erfolgt auf der Grundlage von Geographie und Rechtssystemen. 35   Siehe als Beispiel für eine ausgeglichene Zusammensetzung die fünfte Sektion des Gerichtshofs, in der die Richterinnen und Richter aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Irland, Norwegen, Lettland, Bulgarien, Aserbeidschan und Georgien vertreten sind (Stand Januar 2018). 29

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bestimmte Rechtskreise als charakteristisch anzusehen sind, aus der Außensicht aber möglicherweise befremdlich anmuten. Ein prominentes Beispiel wären etwa Entscheidungen von Geschworenengerichten, die in der Regel nicht begründet werden.36 Rechtskulturell bedingt kann auch die Akzeptanz oder Ablehnung der strafrechtlichen Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten und das damit verbundene Vertretungsrecht der Rechtsanwälte sein.37 Ähnliches gilt für die Regeln zur Zulassung der Aussagen von in der Hauptverhandlung abwesenden Zeugen.38 Allerdings muss das Kriterium der Vertrautheit mit einem Rechtsinstitut nicht unbedingt auch zu einer bestimmten konventionsrechtlichen Beurteilung führen, hat doch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gerade das Potential, lange gepflegte Traditionen in Frage zu stellen.39 Der Anstoß dazu kann ebenso wie von „Insidern“ wie von „Außenstehenden“ kommen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher auch nicht auf die Beurteilung bestimmter Rechtsinstitute, an denen sich die (rechtskulturellen) Geister scheiden mögen, sondern vielmehr auf Grundeinstellungen zur richterlichen Entscheidungsfindung als solcher. Relevant ist, inwieweit auf bestimmte – fast „philosophisch“ zu nennende – Grundfragen implizit oder explizit unterschiedliche Antworten gegeben werden. Dies gilt insbesondere für die Frage nach Rolle und 36   Vgl. EGMR (GK) Urteil vom 16.11.2010 Taxquet v. Belgien (Nr.  926/05): hier entschied die Große Kammer, dass das faire Verfahren verletzt war, da der wegen Mordes Angeklagte nicht verstehen konnte, warum ihn die Geschworenenkammer schuldig fand; der Gerichtshof verweist dabei explizit auf die unterschiedlichen Modelle in Europa: „The member States may be divided into three categories: those without any form of jury trial or any model of lay adjudication in criminal matters; those using a collaborative court model of lay adjudicators sitting and deliberating alongside professional judges in criminal matters; and those which have opted for the ‚traditional‘ jury model in criminal matters.“(§44). Die Regierung kritisiert, die Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfe nicht zu einer Einebnung der Unterschiede der Rechtssysteme führen und betont: „The Government noted, firstly, that European legal systems were marked by considerable diversity: some did not have, or no longer had, a system of lay adjudication, while others did, but its operation, in particular the role entrusted to the jury and the way in which it functioned, differed from one State to another.“ (§  67). Besonders deutlich die Stellungnahme der irischen Regierung: „In the Irish Governement’s submission, the system of jury trial in Ireland was the unanimous choice of accused persons and human-rights advocates and was viewed as a cornerstone of the country’s criminal system. There had never been a complaint that the system lacked transparency or infringed on or inhibited the rights of the accused. The system inspired confidence among Irish people, who were very attached to it for historical and other reasons.“ (§  76). Das Urteil war allerdings einstimmig. 37   EGMR vom 8.11.2012 Neziraj v. Deutschland (Nr.  30804/07); vgl. dazu die Analyse von Thomas Weigend, „Das erledigt mein Anwalt für mich.“ – Hat der Angeklagte ein Recht darauf, sich in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen?, in: FS für Kristian Kühl, 2014, S.  947–962. 38   In dem Urteil EGMR (GK) vom 15.12.2011 Al Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich (Nr.  26766/05 22228/06) ändert der Gerichtshof seine Rechtsprechung aufgrund der Erläuterung des britischen Supreme Court, der ausführt, dass die Besonderheiten des Common Law nicht richtig verstanden worden seien: „The sole or decisive rule had been introduced into the Strasbourg case-law in Doorson (…) without discussion of the underlying principle or full consideration of whether there was justification for imposing the rule as an overriding principle applicable equally to continental and common-law jurisdictions. Indeed, the rule seemed to have been created because, in contrast to the common law, continental systems of criminal procedure did not have a comparable body of jurisprudence or rules governing the admissibility of evidence.“ (Urteil des Supreme Court, zitiert in §  58). 39   Vgl. etwa die Rechtsprechung zur Konventionswidrigkeit der Unterscheidung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern im Erbrecht; EGMR vom 13.6.1979 Marckx v. Belgien (Nr.  6833/74) sowie die Nachfolgefälle.

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Selbstverständnis des Richters, nach der Auslegung des Rechts, nach der Einschätzung der Bedeutung von Rechtsdoktrin und nach dem Verständnis von juristischem Diskurs.

1.  Die Rolle des Richters – Teamplayer vs. Einzelkämpfer In wohl jeder Rechtskultur gibt es einerseits Einzelrichter, andererseits Spruchkörper, die aus mehreren Richtern zusammengesetzt sind. Sobald eine Mehrzahl von Richtern entscheidet, stellt sich die Frage, ob mehr Wert auf Individualität gelegt oder aber das kollektive Entscheiden betont wird. Ersteres Modell wird typischerweise mit der britischen Tradition verbunden, in der, wie zuvor erläutert, jeder Richter individuell „Träger der rechtsprechenden Gewalt“ ist. Dies impliziert beim Prozess des Entscheidens die Aufforderung, auf der eigenen Meinung zu beharren und sie konsequent von Anfang bis Ende durchzudenken und vorzuführen. Kompromissbereitschaft wäre aus dieser Perspektive ein Zeichen von ungebührlichem Nachgeben und Schwäche. Grundannahme ist, dass die klar formulierte Stellungnahme des Einzelnen besser ist als ein Konglomerat von Ideen. Ganz anders, wenn man die Entscheidung in den Händen des Kollektivs liegend sieht und die Autorität des Einzelnen sich nur aus seiner Zugehörigkeit zu eben jener zur Entscheidung berufenen Gruppe ergibt. Hier ist Kompromissbereitschaft die – positiv gewertete – Grundvor­ aussetzung, um überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen. Das Miteinander wird als befruchtend angesehen. Grundannahme ist, dass das gemeinsam gefundene Ergebnis besser ist als es die Reflexion eines Einzelnen je sein könnte. Die Haltung zu dieser Frage bestimmt das Selbstverständnis als Richter. Ist man Teil einer homogenen (nationalen) Entscheidungskultur, die historisch gewachsen ist und in der alle Entscheidungsträger „durch dieselbe Schule gegangen sind“, wird man nicht mit fremd anmutenden Rollenverständnissen konfrontiert, mag man sich darüber auch keine Gedanken machen. Anders ist dies an einem europäischen Gericht, an dem unterschiedliche Sichtweisen aufeinander treffen und „gelebt“ werden – im Nachgeben oder Beharren auf der eigenen Position, in der Bereitschaft, im Zweifel die eigene Meinung in einem Sondervotum zum Ausdruck zu bringen oder aber darauf um eines einstimmigen Ergebnisses willen zu verzichten. Manche mögen bestrebt sein, mit ihrer Handschrift das Urteil mitzuschreiben ohne aber darauf Wert zu legen, dass die eigene Handschrift am Ende noch erkennbar ist. Für andere ist das Urteil der Kammer eher eine Kulisse, um davor die eigenen Ausführungen kundzutun; für sie ist die Arbeit am Text des Urteils von geringerer Bedeutung. Studien zur rechtsvergleichenden Betrachtung der unterschiedlichen Entscheidungsmodelle, einerseits des eher individualistischen „Seriatim-Modells“, andererseits des eher kollektiv ausgerichteten „Per Curiam-Modells“, erläutern die Auswirkungen auf Verhandlung und Abfassung des Urteils. Im – idealtypischen – „Seriatim-Modell“ ist eine Verhandlung im Grunde verzichtbar; das aus Einzelmeinungen zusammengesetzte Urteil wird von den Richtern je einzeln abgefasst.40 Im „Per Curiam-Modell“ dagegen ist die Verhandlung von ausschlaggebender Bedeutung. Das   Ernst (a.a.O. Fn.  5 ), S.  641.

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Urteil wird in der Regel von einem Berichterstatter vorbereitet und gemeinsam überarbeitet.41 Letzteres ist, wie bereits erläutert, auch die Vorgehensweise am EGMR. Die – nach außen dokumentierte – Einstellung zu Sondervoten kann so eine implizite Antwort auf die Frage nach dem (Selbst)verständnis als Richter auf der Grundlage der beiden idealtypischen Modelle geben. Am einen Ende der Skala stehen Richter, die nie oder fast nie Sondervoten verfassen und die eine entsprechende Zurückhaltung als Tugend ansehen mit der Begründung, es gehe darum, persönliche Einstellungen nicht zu erkennen zu geben und damit nicht „taxierbar“ zu werden. Am anderen Ende der Skala befinden sich Richter, deren Sondervoten ebenso lang oder länger wie die Entscheidungen der Kammer sind. Oftmals handelt es sich um ausgearbeitete, wissenschaftlichen Artikeln mit Fußnoten vergleichbare und mit Gliederungen mit einer Vielzahl von Unterpunkten versehene Ausführungen.42 Die große Mehrzahl der Richter handhabt das Instrument des Sondervotums eher mit Bedacht und legt Wert darauf, die Unterschiede zur Mehrheitsmeinung konturiert, aber knapp herauszuarbeiten. Wie weit für die jeweilige Haltung die eigene Rechtskultur, die berufliche Vorprägung oder aber die Persönlichkeit ausschlaggebend ist, ist nicht genau zu bestimmen. Dennoch scheint der Einfluss von Tradition und Gewohnheit sowie von positiver oder negativer Wertschätzung von Sondervoten in der je eigenen Rechtskultur von großer Bedeutung zu sein. Die Sondervoten ablehnende französische Rechtskultur und die dem „Seriatim-Modell“ verpflichtete englische Rechtskultur sind als entgegengesetzte Pole anzusehen. Das Modell des deutschen Rechts mit der nur bei Senatsurteilen des Bundesverfassungsgerichts zugelassenen, von den Richtern und Richterinnen aber mit großer Zurückhaltung genutzten Möglichkeit, Sondervoten zu schreiben, dürfte wohl eher in der Mitte zu verorten sein. Eng damit verbunden ist auch die Frage nach der Rolle der Richter bei der Weiterentwicklung des Rechts. Auch wenn die Vorstellung vom Richter als „bouche de la loi“ ebenso überholt ist wie die Idee einer völlig freien Rechtsfindung, so prägen doch auch diese Grundmodelle das Denken. Gerade für die Rechtsprechung zur EMRK ist entscheidend, ob die Rolle des Gerichtshofs darin gesehen wird, die Menschenrechte kontinuierlich zu stärken und ihnen eine immer größere Bedeutung auch gegenüber den nationalen Schutzsystemen einzuräumen, oder aber, ob die europäische Dimension des Menschenrechtsschutzes der historischen Ausgangssituation entsprechend als subsidiärer Mindestschutz verstanden wird.43 Dementsprechend   Ernst (a.a.O. Fn.  5 ), S.  641.   Vgl. als eines von vielen Beispielen das Sondervotum des Richters Paolo Pinto de Albuquerque zu EGMR (GK) vom 15.11.2016 A. und B. v. Norwegen (Nr.  24130/11 29758/11), das das Problem des Grundsatzes „ne bis in idem“ ausgehend vom römischen Recht über die Auf klärung bis in die Gegenwart verfolgt. Das 40 Seiten umfassende Sondervotum ist nur wenig kürzer als das 53 Seiten umfassende Votum der Mehrheit. 43   Vgl. etwa Sondervoten, in denen Richter beklagt haben, der Gerichtshof habe eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung des Rechts ausgelassen (z.B. Sondervotum des Richters Pinto de Albuquerque in der Entscheidung der Kammer im Fall EGMR (GK) vom 12.1.2016 Barbulescu v. Rumänien (Nr.  61496/08): „The case presented an excellent occasion for the European Court of Human Rights („the Court“) to develop its case-law in the field of protection of privacy with regard to employees’ Internet communications“; dies steht im Gegensatz zu Sondervoten, in denen Richter erklärt haben, 41

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wird auch einerseits eher Distanziertheit, andererseits Engagement als dem Richter zuzuschreibende ideale Eigenschaft gesehen. Die meisten Richter lassen sich nicht „in die Karten schauen“ und vermeiden auch in ihren Sondervoten Formulierungen, aus denen Rückschlüsse auf ihre persönlichen Einstellungen gezogen werden könnten. Es gibt allerdings Ausnahmen, insbesondere bei weltanschaulich kontroversen Fällen.44 Schließlich wirkt sich diese Grundhaltung auch auf das Verhältnis des einzelnen Richters zum Gericht und insbesondere die als zulässig empfundene Kritik aus. Auch hier werden die Grenzlinien sehr unterschiedlich gezogen Das Spektrum reicht von einer sich vor der Autorität des Gerichts verneigenden Haltung, die mit der häufig verwendeten Formulierung „I respectfully disagree“ zum Ausdruck kommt, bis zu Voten, bei denen die Kritik nicht gerade hinter vorgehaltener Hand vorgetragen wird.45 Den Aktionsmöglichkeiten der Richter am EGMR sind enge Grenzen gesetzt. Aber auch in diesem von der Konvention und der Geschäftsordnung des Gerichtshofs abgesteckten Rahmen kann sich das Selbstverständnis als Richter – insbesondere im Umgang mit dem Instrument des Sondervotums – offenbaren. Die Frage, wie diese unterschiedlichen Rollenverständnisse zu werten sind, welcher Richtertypus dem von der Konvention gesetzten Auftrag der Durchsetzung der Menschenrechte in Europa am besten gerecht wird, darüber werden wohl gleichfalls, wiederum von rechtskultureller Sozialisierung mitbestimmt, unterschiedliche Antworten gegeben werden.

die Entscheidung der Mehrheit sei eine nicht gerechtfertigte Weiterentwicklung des Konventionsrechts; vgl. etwa das Sondervotum des Richter Kuris im Fall EGMR vom 22.11.2016 Ermenyj v. Ungarn (Nr.  22254/14): „There are many ways in which law can move towards alienation from those who have to live under it. One of them is the overly discretionary interpretation of a legal provision and its application contrary to what that provision explicitly states, or in such an expansive manner that its boundaries become blurred and its content inflated. This particular judgment is a vivid manifestation of such inflation“ (§  1); ähnlich Richter Spano in seinem Sondervotum im Fall EGMR vom 2.3.2017 Talpis v. Rumänien (Nr.  41237/14): „The law has its limits, even human rights law.“ (§  1); „Although it may be tempting to dilute legal concepts such as the Osman test when faced with heart-rending facts and give solace to individuals in situations such as that of the applicant, there are reasons why the thres­ hold under the Convention is set high, and, in my view, why it must continue to remain so.“ (§  16). 44   Dies kann in Einzelfällen, gleich ob die Kritik berechtigt ist oder nicht, zu einer die Autorität des Gerichts gefährdenden Richterschelte führen; vgl. die Kritik an dem Sondervotum des russischen Richters Dmitry Dedov im Fall EGMR vom 20.06.2017 Bayev und andere v. Russische Föderation (Nr.  67667/09, 44092/12, 56717/12): Laurens Lavryson, Bayev and other v. Russia: On Judge Dedov outrageously homophobic dissent, https://strasbourgobservers.com/2017/07/13/bayev-and-others-vrussia-on-judge-dedovs-outrageously-homophobic-dissent/. 45   Vgl. z.B. das Sondervotum der Richter Hajiyev, Šikuta, Tsotsoria, De Gaetano and Grit¸co in dem Fall Lambert v Frankreich, Nr.  46043/14, 5 Juni 2015, §  11, in dem es um die Erlaubnis, die künstliche Ernährung bei einer bereits jahrelang und nach medizinischen Erkenntnissen dauerhaft im vegetativen Zustand befindlichen Person ging: „In 2010, to mark its fiftieth anniversary, the Court accepted the title of The Conscience of Europe … We regret that the Court has, with this judgment, forfeited the above-mentioned title.“ (§  11); vgl. auch die abweichende Meinung der Richter Wojtyczek und Kuris im Fall Fürst-Pfeifer v. Österreich, Nr. (Appl. nos. 33677/10 and 52340/10) 17. Mai 2016: „Combined together, these flaws have produced the most regrettable result – a one-sided, unbalanced and, it appears, fundamentally unjust judgment.“ (§  1).

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2.  Fokus der Entscheidung – Einzelfallgerechtigkeit vs. Stimmigkeit des Gesamtsystems Auch bei dem Vorverständnis der Auslegung und Anwendung des Rechts lassen sich verschiedene idealtypische Modelle kontrastieren. Kontinentaleuropäische Tradition und Common Law unterscheiden sich darin, dass bei ersterer die abstrakten Rechtsbegriffe, bei letzterem vorausgegangene Urteile für die Entscheidungsfindung im Vordergrund stehen.46 Bei der Konvention gilt es geschriebenes (Vertrags)recht auszulegen. Dabei sind die allgemeinen Auslegungsregeln des Wiener Abkommens über das Recht der Verträge zu beachten.47 Allerdings sind die in der Konvention verwendeten Begriffe wie „unmenschliche Behandlung“, „Familie“ „Privatleben“ etc. so vage, dass sich die Rechtsprechung des EGMR dennoch an den vorausgegangenen Entscheidungen orientiert und die Argumentation im Wesentlichen auf der Abgrenzung bzw. Parallelsetzung des zu entscheidenden Falles zu ähnlichen bereits entschiedenen Fällen beruht. Über diesen Ausgangspunkt besteht Konsens. Variabel ist aber, ob Einzelfallgerechtigkeit es in Ausnahmefällen rechtfertigen kann, von den festgefügten Strukturen des Fallrechts abzuweichen. Aussagekräftig ist hier die Auseinandersetzung zwischen Mehrheits- und Mindermeinung im Fall Belane Nagy v. Ungarn. Die Darstellung der allgemeinen Grundsätze der Rechtsprechung, konkret geht es um den eigentumsrechtlichen Schutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche, unterscheidet sich indem Akzente deutlich unterschiedlich gesetzt werden. Dementsprechend gelangen Mehrheits- und Mindermeinung zu unterschiedlichen Ergebnissen. Aus der Sicht der dissentierenden Richter ist die Mehrheitsmeinung vornehmlich daran ausgerichtet, ein bestimmtes, als sozial gerecht verstandenes Ergebnis zu erreichen und hält dagegen: „We are very well aware of the applicant’s difficult situation. She fell through the holes of the social-security net when it was reformed. But nevertheless we consider that hard cases do not make good law. Such cases cannot be a reason to change the Court’s long-standing and well-entrenched approach to the interpretation of ‚possessions‘ and ‚legitimate expectations‘ within the meaning of Article 1 Protocol No.  1 to the Convention.“48

Besonders aussagekräftig in dieser Hinsicht ist auch das Sondervotum des Richters Aleš Pejchal im Fall Karoly Nagy v. Ungarn,49 in dem es um die Frage geht, ob ein Pfarrer aus einer bischöflichen Ernennungsurkunde ein „Recht“ im Sinne der Konvention ableiten kann, das vor den staatlichen Gerichten einklagbar ist. Die Mehrheit verneint dies, da in der ungarischen Rechtsordnung kein entsprechendes Recht normiert ist und der Gerichtshof über das nach Art.  6 EMRK verbriefte Recht auf ein faires Verfahren keine neuen Rechte schaffen, sondern lediglich für im nationalen Recht bestehende Rechte einen Zugang zum Gericht fordern könne. Dem widerspricht Richter Pejchal mit Blick auf die Einzelfallgerechtigkeit, wobei er fordert, dass das case-law außer Betracht zu bleiben habe und man sich auf die in der Kon  Vgl. statt vieler Zweigert/Kötz (a.a.O. Fn.  1), S.  69.   Vgl. Art.  31, 32, 33 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge. 48  Sondervotum der Richter Nussberger, Hirvelä, Bianku, Yudkivska, Mose, Lemmens und O’Leary zu EGMR (GK) vom 13.12.2016 Belane Nagy v. Ungarn (Nr.  53080/13), §  45. 49   EGMR (GK) vom 14.9.2017 Karoly Nagy v. Ungarn (Nr.  56665/09). 46

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vention (konkret bezieht er sich auf die Präambel sowie Art.  1 EMRK) zum Ausdruck kommenden allgemeinen Werte zu beziehen habe. Er führt aus: „There are cases before this Court which cannot be rejected only with reference to the caselaw, although such a method seems to be correct in a large majority of cases. That is, with reference to already existing interpretation of the Convention and its Protocols in cases similar to, but never entirely the same as, the instant case. This is one of those exceptional cases which require consideration solely by virtue of the text of the Convention interpreted in the most restrained way.“50

In ähnlicher Weise zeigen sich Unterschiede bei der Beantwortung der Frage, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen man die Rechtsprechung ändern dürfe. Konsens besteht darüber, dass dies grundsätzlich möglich sein muss, da die Rechtsprechung sonst der Gefahr ausgesetzt wäre zu verkrusten. Konsens besteht auch darüber, dass dies nur unter außergewöhnlichen Voraussetzungen möglich sein kann, da sonst das Vertrauen in die Konsistenz der Rechtsprechung des Gerichtshofs und damit in die Rechtssicherheit gefährdet wäre. In der Praxis zeigen sich dann aber doch wieder Unterschiede, geht es darum zu bestimmen, was derartige außergewöhnliche Umstände sein sollen und ob nur eine Weiterentwicklung hin zu mehr Menschenrechtsschutz oder auch eine Rückentwicklung möglich wäre. Ein Beispiel dafür, dass eine Mehrheit der Richter eine Rechtsprechungsänderung für erforderlich, aber aufgrund der klaren Vorgaben der vorausgehenden Rechtsprechung der Großen Kammer51 für nicht möglich hält, ist der Fall Yoh-Ekale Mwanje v. Belgien,52 in dem sechs der sieben Richter ein gemeinsames konkurrierendes Sondervotum verfassen. In dem Fall geht es um die Auslegung von Art.  3 EMRK, konkret darum, unter welchen Voraussetzungen Schwerkranke in ihr Heimatland zurückgeschickt werden dürfen, auch wenn dort die medizinische Versorgung schlechter als im ausweisenden Staat ist. In dem Sondervotum wird ausgeführt: „Comme il n’est pas établi que tel est le cas en l’espèce, nous nous estimons tenus, afin de préserver la sécurité juridique, de suivre l’approche de la Grande Chambre dans l’affaire N. c. Royaume-Uni. Nous pensons cependant qu’un seuil de gravité aussi extrême – être quasi-mourant – est difficilement compatible avec la lettre et l’esprit de l’article 3, un droit absolu qui fait partie des droits les plus fondamentaux de la Convention et qui concerne l’intégrité et la dignité de la personne. A cet égard, la différence entre une personne qui est sur son lit de mort ou dont on sait qu’elle est condamnée à bref délai nous paraît infime en termes d’humanité. Nous espérons que la Cour puisse un jour revoir sa jurisprudence sur ce point.“53

50   Sondervotum des Richters Alesˇ Pejchal zu EGMR (GK) vom 14.9.2017 Karoly Nagy v. Ungarn (Nr.  56665/09), §  1. 51  Konkret handelt es sich um den Fall EGMR (GK) vom 27.5.2008 N. v. Vereinigtes Königreich (Nr.  26565/05). 52   EGMR vom 20.12.2011 Yoh-Ekale Mwanje v. Belgien (Nr.  10486/10). 53   Sondervotum der Richter Tulkens, Jocˇ iene˙, Popovicˇ, Karakas¸, Raimondi et Pinto de Albuquerque zum Fall EGMR vom 20.12.2011 Yoh-Ekale Mwanje v. Belgien (10486/10), §  5 –6 (Fußnote ausgelassen).

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Sechs Jahre später erfolgt dann eine Änderung der Rechtsprechung, allerdings nur mit Nuancierungen und im Blick auf das Verfahrensrecht; eine echte Kehrtwende findet nicht statt.54 Klassische Beispiele für Rechtsprechungsänderung sind dagegen etwa Christine Goodwin v. Vereinigtes Königreich zur Änderung der in der Geburtsurkunde vermerkten Geschlechtszuhörigkeit bei Transsexuellen,55 Vilho Eskelinen v. Finnland zum Begriff des „civil right“ nach Art.  6 EMRK bei Beamtenrechtsstreitigkeiten,56 Bayatyan v. Armenien57 zu dem aus der Glaubensfreiheit ableitbaren Recht, statt des Militärdienstes Zivildienst zu leisten, Al Kawaja und Taherty v. Vereinigtes Königreich zum fairen Verfahren, ist die kontradiktorische Befragung von Belastungszeugen unmöglich, und A und B. v. Norwegen zum Umfang des Verbots „ne bis in idem“ bei parallel geführten Straf- und Verwaltungsverfahren.58 All diese Urteile zeichnen sich dadurch aus, dass entweder ein geänderter europäischer Konsens oder eine Fehlentwicklung in der Rechtsprechung, insbesondere eine Inkonsistenz der Auslegung durch die verschiedenen Kammern, eine – explizit als solche anerkannte – Änderung der Rechtsprechung erfordert. Nicht über diese grundsätzlichen Voraussetzungen, wohl aber darüber, ab wann eine neue Akzentuierung der Rechtsprechung bereits eine Änderung des case-law bedeutet, gehen die Meinungen der Richter oftmals auseinander. Strittig ist auch, ob eine Rechtsprechungsänderung dann ausgeschlossen ist, wenn sie weniger Schutz einfordern würde. Entsprechende Stellungnahmen59 verweisen auf die Grundannahme, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs dem Fortschritt bei der Gewähr von Individualrechten gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet sei und dass Fortschritt immer ein „Mehr“ an Rechten des Einzelnen bedeute. Interessanterweise wird bei Rechtsprechungsänderungen oftmals auch auf die Entwicklung des Rechts außerhalb der EMRK, etwa in anderen Menschenrechtsschutzsystemen, in ausländischen Rechtssystemen oder im soft law verwiesen.60 Auch bei diesem Punkt zeigt sich ein Unterschied bei der Argumentation der Richter in ihren Sondervoten, der als Zeichen eines bestimmten rechtskulturellen Vorverständnisses gesehen werden könnte. So räumen manche Richter der Entwicklung des soft law einen sehr großen Stellenwert bei der Auslegung der Konvention ein, während andere, wie auch der Gerichtshof selbst, konkreten Rückschlüssen auf die Auslegung der Konvention eher zurückhaltend gegenüberstehen.61   Vgl. EGMR (GK) vom 13.12.2016 Paposhvili v. Belgien, (41738/10), §§  181 ff. im Vergleich zur Entscheidung der Kammer; vgl. dazu auch das Sondervotum von Paul Lemmens. 55   EGMR (GK) vom 11.07.2002 Christine Goodwin v. Vereinigtes Königreich (28957/95). 56   EGMR (GK) vom 19.04.2007 Vilho Eskelinen v. Finnland (63235/00). 57   EGMR (GK) vom 07.07.2011, Bayatyan v. Armenien (23459/03). 58   EGMR (GK) vom 15.11.2016 A. und B. v. Norwegen (24130/11, 29758/11), §§  84, 85. 59   Vgl. die Kritik der Richter Sajo und Karakas am Mehrheitsvotum in EGMR (GK) vom 15.12.2011 Al-Khawaja und Tahery v. Vereinigtes Königreich (26766/05, 22228/06): „To our knowledge this is the first time ever that this Court, in the absence of a specific new and compelling reason, has diminished the level of protection. This is a matter of gravest concern for the future of the judicial protection of human rights in Europe.“ 60   EGMR (GK) vom 11.07.2002 Christine Goodwin v. Vereinigtes Königreich (28957/95). 61   Vgl. zu Verweisen auf nationale und internationale Gerichte und soft law Luis Lopez Guerra, Dialogues between the Strasbourg Court and National Courts, in: Amrei Müller, Judicial Dialogue and 54

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Oftmals sind die Fragen, mit denen sich der Gerichtshof auseinanderzusetzen hat, völlig neu und es gilt, innovative Argumentationsmuster zu entwickeln. Viele Streitigkeiten lassen sich aber auch auf bestimmte Grundkonflikte zurückführen, wie etwa die in vielen Variationen wiederkehrende Auseinandersetzung zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit auf der einen und dem Schutz der Privatsphäre auf der anderen Seite. Auch hier lassen sich unterschiedliche Lösungsansätze nachweisen, wobei die angelsächsische Tradition der Idee einer grundsätzlich unbeschränkten Redefreiheit verpflichtet ist, während die kontinentaleuropäische Tradition die Persönlichkeitsrechte und die Meinungsfreiheit grundsätzlich als gleich wichtig betrachtet; beide Traditionen stehen einander vergleichsweise unversöhnlich gegenüber.62 Hier fällt in den Sondervoten eine deutliche Polarisierung sowie eine das Grundsätzliche und Allgemeine betonende unterschiedliche Haltung auf.63

3.  Juristischer Diskurs – die Bedeutung von Fußnoten und Verweisen Es gibt ein berühmtes Obiter dictum zu dem Urteil Tierfabriken v. Schweiz, das rechtsdogmatisch geschulte deutsche Juristen allenfalls ungläubig zur Kenntnis nehmen: „… the Court does not consider it desirable, let alone necessary, to elaborate a general theory concerning the extent to which the Convention guarantees should be extended to relations between private individuals inter se.“64

In der Tat scheiden sich auch an der Frage, ob die Einzelentscheidungen des Gerichtshofs in einem theoretischen Konstrukt zu systematisieren und damit eine DogHuman Rights, Cambridge 2017, S.  4 01 ff., Erik Mose, The ECtHR’s Use of Decisions and Domestic Courts from States Not Involved in the Case and of Other Council of Europe Bodies, in: idem, S.  410 ff., Angelika Nußberger, The ECtHR’ Use of Decisions of International Courts and Quasi-Judicial Bodies, in: idem, S.  419 ff.; diess., Hard law or soft law – does it matter? Dinstinction between different sources of international law in the jurisprudence of the ECtHR, in: Anne von Aaken, Iulia Motoc (Hg.), Euro­ pean Law of Human Rights and General International Law, Oxford 2018 (im Erscheinen). 62   Vgl. statt vieler Guy E. Carmi, Dignity versus Liberty: The Two Western Cultures of Free Speech, Boston University International Law Journal, 2008, S.  277 ff. 63   Vgl. z.B. auf der einen Seite das Sondervotum der Richter Wojtyczek and Kūris im Fall EGMR vom 17.5.2016 Fürst-Pfeiffer v. Österreich (Nr.  33677/10 und 52340/10), in dem es um einen in die Intimsphäre einer psychologischen Sachverständigen eingreifenden Zeitungsartikel geht : „As time goes by, there must be growing awareness of the increasingly pressing need to ensure more effective protection for personality rights, in particular privacy rights, vis-à-vis a progressively all-powerful media, acting under the aegis of ‚public interest‘ (often a simulated one), as well as vis‑à‑vis the impingement on individuals’ privacy rights by those seeking to use the media as a tool for pursuing, to the detriment of privacy rights, whatever interests they may have.“; vgl. auf der anderen Seite das Sondervotum der Richter Sajó and Tsotsoria im Fall EGMR Delfi v. Estland, der die Verantwortung für Hassrede in Kommentaren zu Nachrichtenportalen im Internet betrifft: „For the sake of preventing defamation of all kinds, and perhaps all ‚illegal‘ activities, all comments will have to be monitored from the moment they are posted. As a consequence, active intermediaries and blog operators will have considerable incentives to discontinue offering a comments feature, and the fear of liability may lead to additional self-censorship by operators. This is an invitation to self-censorship at its worst.“ 64   EGMR (GK), Urt. v. 28.6.2001, Verein gegen Tierfabriken v. Schweiz, Beschwerde Nr.  24699/94, para. 46.

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matik zu entwickeln ist, die Geister. Der Begriff der Rechtsdogmatik wird vermieden; der Rechtsdiskurs in Straßburg und an deutschen Gerichten ist insofern grundsätzlich verschieden. Insbesondere wird die für das deutsche Rechtsdenken typische Begeisterung für Theorien („Wechselwirkungstheorie“, „neue Formel“, „Legitimationskettentheorie“) nicht geteilt. Bei den vom Gerichtshof entwickelten Argumentationsmustern wie „margin of appreciation“, „living instrument“, „media as public watchdog“ gibt es – zumindest was den Gerichtshof selbst anbetrifft – nicht das Bemühen, diese als vollwertige Theorien auszubauen. Allenfalls werden verschiedene Kriterien benannt, die dann in den Entscheidungen regelmäßig zur Anwendung kommen. Wie groß die Zurückhaltung konkret ist, hängt wiederum mit der Grundeinstellung zu Einzelfallgerechtigkeit oder Stimmigkeit des Systems als der Rechtsprechung unterliegendem Wert zusammen. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Fußnoten; wissenschaftliche Literatur wird nicht zitiert. Dies entspricht dem Stil der französischen Urteile, steht aber im Gegensatz zu den ausführlich auf Forschungsarbeiten verweisenden Urteile etwas des Bundesverfassungsgerichts. Häufig verwendet werden dagegen Zitate aus der eigenen Rechtsprechung.65 Insofern unterscheidet sich die Praxis des Gerichtshofs von französischen Urteilen, auch wenn in Frankreich im Augenblick ein gewisses Umdenken zu beobachten ist. Der unterschiedliche Urteilsstil spiegelt das jeweilige Verständnis des juristischen Diskurses wieder. Auf der einen Seite steht das Ideal der Knappheit, der Konzentration auf das Wesentliche, auf der anderen Seite der Anspruch, ausführliche und gut nachvollziehbare Begründungen zu liefern, die im wissenschaftlichen Diskurs abgesichert sind. Den Urteilen des EGMR ist eine gewisse Formelhaftigkeit nicht abzusprechen; im Übrigen lässt sich von einem „Mischstil“ sprechen, der verschiedene Elemente in sich aufnimmt. Das „case-law“ des EGMR sind keine „precedents“ des Common Law,66 die Knappheit der Urteile ist nicht dem „attendu que-Stil“ der französischen Höchstgerichte, insbesondere der Cour de Cassation,67 vergleichbar, die vom EGMR verwendeten Kriterienkataloge68 sind keine Theoriegebäude, die von herrschender Meinung und Minderheitmeinung in unterschiedlicher Weise systematisiert werden. Aber von all diesen Ansätzen finden sich einzelne Elemente in den „europäischen“ Urteilen des Straßburger Gerichtshofs. Diese stilprägenden Elemente mögen für die Richter von besonderer Bedeutung sein, insbesondere, wenn sie zuvor selbst als Richter gearbeitet haben. Auch hier dringt „das Eigene“ gerade in den von Richtern allein verfassten Sondervoten durch, auch wenn zu berücksichtigen ist, dass Sondervoten grundsätzlich freier formuliert werden können als bindende Urteile. Auch diejenigen, die ihre Sondervoten mit literarischen Zitaten überschreiben, würden dies wohl bei den Urteilen nicht für angebracht halten. Aber die Begründung der abweichenden Positionen zeigt oft die rechtskulturelle Rückbindung. Es macht einen Unterschied, ob auf allgemeine phi  Vgl. dazu die Nachweise in Fn.  61.   Michal Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, Oxford 2013, S.  77 m.w.N. 67   Bobek (Fn.  66), S.  96: „The French judicial style, especially at the highest level, is an example ( or the example) of a legal tradition which hides more than it explicitly tells.“ 68   Vgl. z.B. den im Fall EGMR (GK) vom 07.02.2012 Von Hannover v. Deutschland (Nr.  2 ) (40660/08, 60641/08) vorgestellten Kriterienkatalog. 65

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losophische Zitate, Inkonsistenzen im Gesamtsystem oder Inkompatibilität mit ähnlichen Entscheidungen hingewiesen wird.

V. Schmelztiegeleffekte Wie lässt es sich, trotz aller Verschiedenheiten, erreichen, dass europäische Richterinnen und Richter, zumindest in der Mehrzahl der Fälle, mit einer Stimme sprechen? Richter am Gerichtshof kommen und gehen. Seit dem Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls ist das Mandat neun Jahre ohne Verlängerungsmöglichkeit. Dagegen bleiben die fest angestellten Mitglieder der Kanzlei für ihr gesamtes Berufsleben am Gericht. Mit ihnen bleibt das institutionelle Gedächtnis erhalten. Es sind die Mitarbeiter der Kanzlei, die die ersten Entwürfe der Urteile verfassen; über eine Vielzahl von Kontroll- und Korrekturmechanismen wird erreicht, dass die Entwürfe, soweit es Stil, Einbindung ins case-law, Zitate, angeht lege artis sind. Sicherlich, es sind die Richterinnen und Richter, die entscheiden und die zu Beginn der Arbeit an einem Entwurf die Richtung vorgeben und die endgültigen Formulierungen der Urteile bestimmen. Dies ist vor allem, aber nicht nur, in der Großen Kammer eine kollektive richterliche Arbeit, bei der jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden kann. Aber die Arbeit am Text vollzieht sich in einem von institutioneller Tradition vorgegebenen Rahmen. Dieser institutionelle Schmelztiegeleffekt ist von nicht zu überschätzender Bedeutung. Wird man an den Gerichtshof gewählt, akzeptiert man das „corporate design“, auch wenn man frei ist, es gemeinsam mit den anderen mit neuen Inhalten zu füllen. Letztendlich ist es auch ein psychologisches Moment, das verbindet: die Entstehung eines „Wir-Gefühls“ als „europäische Richter“. Dies gilt besonders dann, wenn Europa als Idee ebenso wie Menschenrechtsschutz auf europäischer Ebene grundsätzlichen Angriffen ausgesetzt ist. Die in der berühmten Züricher Rede von Winston Churchill anklingende Zukunftsvision eines „Vereinigten Europa“ ist in vielen der europäischen Vertragswerke nicht mehr zu spüren; dagegen hat der Gerichtshof – diesen Anspruch darf man erheben – diese Vision weitergetragen. Effektiver und ernst genommener Menschenrechtsschutz ist zu einem Markenzeichen für Europa geworden. Dies stärkt die Richter in ihrem Bemühen, Kompromisse zu finden und gerade einer mehr und mehr feindlichen Außenwelt gegenüber mit einer Stimme zu sprechen, auch wenn oftmals zwischen Mehrheits- und Minderheitsmeinung tiefe Gräben klaffen. Vielstimmigkeit ist kein Charakterfehler. Dennoch ist es besser, wenn das Ergebnis nicht atonal ist, sondern von außen die (europäischen) Harmonien erkennbar bleiben.

Die Herausbildung europäischer Verfassungsstandards in der Venedig-Kommission von

Prof. DDr. Christoph Grabenwarter, Wirtschaftsuniversität Wien Mitglied des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Mitglied der Venedig-Kommission

Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 II. Die Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Einrichtung als beratendes Expertengremium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Vorgaben für die Schwerpunkte der Tätigkeit der Venedig-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 III. Die Arten der Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Studien, Berichte und Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Amicus Curiae-Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 IV. Das Verfahren der Gutachtenserstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 V. Die Einwirkung der Dokumente auf die europäische Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 27 VI. Besonderheiten des Prozesses der Gutachtenserstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Die Auswahl der Gutachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Die Erstinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4. Kommentare und Textvorschläge der Gutachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5. Besuche im Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 6. Die Erstellung eines Gutachtensentwurfs („draft opinion“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 7. Die Stellungnahme der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 8. Die Beratungen in den Unterkommissionen und im Erweiterten Büro . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 9. Die Beratung im Plenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 VII. Beobachtungen zu einigen Rahmenbedingungen der Herausbildung von Verfassungsstandards . . . . 35 1. Name und Sitzungsort der Venedig-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Herkunft, Alter und berufliche Prägung der Mitglieder: Legitimation durch Expertise und Angaben der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Der Faktor Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 VIII. Einige Reflexionen zur Entstehung der Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IX. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

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I. Einleitung Seit knapp dreißig Jahren existiert im Europarat eine Kommission aus Expertinnen und Experten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Die Venedig-Kommission, im offiziellen Titel „European Commission for Democracy through law“ wurde zu Beginn der 1990er Jahre in der Überzeugung eingerichtet, dass eine nachhaltige Demokratie nur auf einer soliden verfassungsrechtlichen Basis auf bauen könne, nämlich insbesondere gegründet auf die Rechtsstaatlichkeit.1 Ursprünglich waren nicht alle Mitgliedstaaten des Europarates einer solchen Idee aufgeschlossen, die insbesondere zum Ziel hatte, mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs beim Auf bau einer Demokratie behilflich zu sein.2 Mittlerweile geht der Kreis der Mitgliedstaaten weit über jenen der Mitglieder des Europarates hinaus, er umfasst etwa Südkorea, Algerien, Israel, Brasilien, Mexiko oder die USA.3 Insgesamt zählt die Kommission heute über 60 Mitglieder, grundsätzlich ein Mitglied aus jedem Staat, das jedoch in individueller Eigenschaft, unabhängig und nicht als Vertreter der jeweiligen Regierung agiert. Die Venedig-Kommission ist als Einrichtung schwer einzuordnen. Sie ist charakterisiert durch ihre Aufgaben, den Kreis ihrer Mitglieder und durch ihre Arbeits­ weise. Die im Titel des Beitrags angesprochene Frage nach der Art und Weise, wie in der Venedig-Kommission europäische Verfassungsstandards herausgebildet werden, erfordert daher ein Eingehen auf alle drei Charakteristika. Vorweg ist in einem ersten Zugriff aber festzuhalten, was die Venedig-Kommission nicht ist: Sie ist kein judizielles Organ, auch nicht ein justizähnliches Organ. Solches ist weder in den rechtlichen Rahmenbedingungen nahegelegt, noch wäre eine richterliche Arbeitsweise in der Praxis auf Grund der Größe des Organs und der tatsächlichen Zusammensetzung überhaupt möglich.

II.  Die Rechtsgrundlagen 1.  Einrichtung als beratendes Expertengremium Die Venedig-Kommission wurde im Jahr 1992 durch ein so genanntes Teilabkommen („partial agreement“)4 mit einer Resolution des Ministerkomitees des Europarates eingerichtet. Das bedeutet, dass die Venedig-Kommission organisatorisch nicht 1   Vgl. insbesondere die bei den ersten beiden Konferenzen der Venedig-Kommission gehaltenen Reden von Antonio La Pergola, abgedruckt in Liber Amicorum Antonio La Pergola (2008), S.  29 ff. 2   Zu den Anfängen der Venedig-Kommission z.B. Buquicchio/Granata-Menghini, The Venice Commission twenty years on, in: van Roosmalen u.a. (Hrsg.), Fundamental rights and principles – Liber Amicorum Pieter van Dijk, 2013, S.  241, 242 f.; Dürr, The Venice Commission, in: Kleinsorge (Hrsg.), Council of Europe (CE), 2010, S.  151 (152 ff.); Grabenwarter, Constitutional Standard-setting and strengthening of new democracies, in: Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of Europe, 2017, S.  732 (733 f.); Matscher, Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956–2006, Tbd 1, 2008, S.  191 (191 ff.). 3   Vgl. zur Entwicklung der Mitgliedsstaaten z.B. Dürr, Venice Commission, S.  153 ff. 4   Partial agreements sind keine selbständigen völkerrechtlichen Verträge, sondern bilden bloß eine Form der Zusammenarbeit innerhalb der Internationalen Organisation des Europarates.

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völlig in den Europarat integriert ist, sondern in budgetär-organisatorischer Hinsicht eine gewisse Autonomie genießt. Die Mitarbeiter des Sekretariats, das aus rund dreißig Bediensteten besteht und vom Sekretär geleitet wird, sind gleichwohl dienstrechtlich Beamte des Europarates. Bereits in Art.  1 des revidierten Statuts der Venedig-Kommission aus dem Jahr 20025 wird der beratend-kooperative Charakter der Tätigkeit der Venedig-Kommission hervorgehoben: Die Kommission soll ein unabhängiges Beratungsorgan sein, das mit den Mitgliedstaaten des Europarates ebenso kooperiert wie mit anderen Staaten und interessierten internationalen Organisationen und Einrichtungen. Die Rechtsgrundlage für die Mitgliedschaft findet sich in Art.  2 des revidierten Statuts. Danach müssen die Mitglieder unabhängige Experten sein, die internationales Ansehen durch ihre Erfahrung in demokratischen Einrichtungen oder „durch ihren Beitrag zur Förderung des Rechts“ erlangt haben. Wenngleich diese Begriffe denkbar offen sind, sollen weisungsgebundene Beamte nicht Mitglieder sein. Ausnahmen werden in der Praxis für höherrangige Beamte gemacht. Der Begriff der „demokratischen Einrichtung“ ist sehr unbestimmt, er ist nicht auf eine bestimmte Staatsfunktion bezogen, sondern umfasst Personen mit Erfahrungen in einem Regierungs- oder Parlamentsamt ebenso wie amtierende, mitunter auch ehemalige Richter nationaler Höchst- und Verfassungsgerichte oder (meist ehemalige) Richter internationaler bzw. europäischer Gerichte. Für die Rezeption der Dokumente der Venedig-Kommission dürfte nicht ohne Bedeutung sein, dass eine wachsende Zahl von Richtern an europäischen Gerichtshöfen, insbesondere am EGMR, zuvor (Ersatz-) Mitglieder der Venedig-Kommission waren.6 Die Bestellungsdauer ist vier Jahre mit der Möglichkeit der Wiederbestellung. Ein erheblicher Teil der Mitglieder wurde von den Regierungen bereits mehrmals wiederbestellt, weshalb es nicht wenige Richter und Professoren mit langjähriger Mitgliedschaft in der Venedig-Kommission gibt, welche die notwendige Erfahrung einbringen.7

2.  Vorgaben für die Schwerpunkte der Tätigkeit der Venedig-Kommission Vorgaben für die Schwerpunkte der Tätigkeit ergeben sich auf einer allgemeinen Ebene wieder aus Art.  1 des Statuts der Venedig-Kommission. Ganz abstrakt wird das Tätigkeitsfeld einleitend mit den „gesetzlich gewährleisteten Garantien im Dienste der Demokratie“ umschrieben. Als Ziele innerhalb dieses Tätigkeitsfeldes werden ausdrücklich genannt die Stärkung des Verständnisses der Rechtssysteme der beteiligten Staaten (insbesondere mit dem Ziel der wechselseitigen Annäherung), die Förderung der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie und die Überprüfung von Pro5   Resolution (2002) 3, angenommen durch das Ministerkomitee des Europarates am 21.2.2002 bei der 784. Sitzung der Vertreter der Minister. 6   Obwohl es keine rechtliche Unvereinbarkeit gibt, entspricht es der Praxis am EGMR, dass neue Richter mit ihrer Wahl ihre Mitgliedschaft zur Venedig-Kommission zurücklegen. 7   Zu den Mitgliedern der Venedig-Kommission vgl. Art.  2 Z.  1–3 des Statuts der Venedig-Kommission, CDL(2002)27. Näher Grabenwarter, Constitutional standard-setting, S.  734 f.; Matscher, VenedigKommission, S.  192.

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blemen, die aus der Arbeit demokratischer Einrichtungen entstehen, und schließlich die Stärkung und Entwicklung dieser demokratischen Einrichtungen. In einer Präzisierung werden unter dem Titel einer „Priorisierung“ Prinzipien auf Verfassungs-, Gesetzgebungs- und Verwaltungsebene, welche der Effizienz und der Stärkung demokratischer Einrichtungen dienen, sowie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit („rule of law“) genannt, ferner die Grundrechte und schließlich der Beitrag lokaler und regionaler Selbstverwaltung zur Förderung der Demokratie. Über die Jahrzehnte hat sich über zahlreiche konkrete Ersuchen um Gutachten eine reiche Praxis mit bestimmten Schwerpunkten entwickelt. Für die Schwerpunkte waren zum einen der Inhalt der konkreten Anfragen, zum anderen der Kreis der Antragsteller entscheidend. Inhaltlich zeigt sich eine große Vielfalt an Fragestellungen, sie reichen von Gesamtreformen des Verfassungssystems eines Landes über Justizreformen bis zu Grundrechtsfragen. Eigene Schwerpunkte liegen ferner in der Verfassungsgerichtsbarkeit und im Wahlrecht. Beim Kreis der Antragsteller war und ist es entscheidend, ob die Anfrage aus dem Staat selbst kommt oder von anderen antragsberechtigten Stellen. Betrachtet man die Aktivitäten der Venedig-Kommission in der Praxis, so bestätigt sich, dass Verfassungsreformen, demokratische Einrichtungen, die Gerichtsbarkeit, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit sowie Wahlen zu den Hauptfeldern der Tätigkeit der Venedig-Kommission gehören.8

III.  Die Arten der Dokumente Die Arbeit der Venedig-Kommission ist durch die bereits erwähnten Arten der Dokumente bestimmt. Die bedeutendsten sind Gutachten, Studien, Berichte und Leitlinien sowie Amicus Curiae-Antworten.

1. Gutachten Der häufigste und wichtigste Typ von Dokumenten sind Gutachten („opinions“, „avis“) über Gesetzesentwürfe, über Verfassungsentwürfe oder aber über (Verfassungs-)Gesetze, die zum Zeitpunkt der Anfrage oder der Verabschiedung des Gutachtens durch das Plenum bereits in Kraft getreten sind.9 Das Ziel eines Gutachtens ist eine vollständige, präzise, detaillierte und objektive Analyse nicht bloß der Vereinbarkeit mit europäischen und internationalen Standards, sondern auch der Praktikabilität und der Übertragbarkeit von Lösungen, die der Staat anstrebt. Die Arbeitsmethode der Kommission ist durch die Konsensmethode und das Prinzip des Dialogs bestimmt; häufig werden nicht nur Feststellungen über die Vereinbarkeit mit europäischen Standards getroffen, sondern auch konkrete Empfehlungen an den betroffenen Staat ausgesprochen.10   Grabenwarter, Constitutional Standard-setting, S.  737 ff.   Im Falle von Zeitdruck, der meist aus innenpolitischen Gründen gegeben ist. 10   Zur Bedeutung dieses Dialogs z.T. über mehrere Gutachten hinweg Hoffmann-Riem, The Venice Commission of the Council of Europe – Standards and Impact, EJIL 25 (2014), S.  579, 589 f. 8 9

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2.  Studien, Berichte und Leitlinien In bestimmten Fällen beschäftigt sich die Venedig-Kommission nicht mit einem bestimmten Land, sondern allgemein mit der Erstellung von Studien, Berichten und Leitlinien.11 Hier prüft die Venedig-Kommission nicht ein konkretes Gesetzesvorhaben eines bestimmten Landes, sondern sie analysiert allgemeine länderübergreifende oder internationale Fragestellungen. Meist entstehen Leitlinien aus konkreten Stu­ dien oder Berichten,12 in einem Fall hat die Venedig-Kommission sogar eine eigene Checklist aufgestellt, nämlich im Zusammenhang mit der Rechtstaatlichkeit („rule of Law“),13 ergänzt durch einen Fragebogen.

3.  Amicus Curiae-Antworten Ein weiterer Typus von Dokumenten der Venedig-Kommission sind sogenannte Amicus Curiae-Antworten („amicus curiae briefs“), mit denen Höchst- und Verfassungsgerichten Informationen in Form von Antworten auf von diesen gestellte Fragen gegeben werden, die für das jeweilige Gericht in einem konkreten Verfahren von Bedeutung sind.14 Diese Tätigkeit steht im Zusammenhang mit einer weiteren Aktivität der Venedig-Kommission, nämlich ein Forum für den Austausch der Verfassungsgerichte über konkrete Fragen in der Rechtsprechung zur Verfügung zu stellen („Venice Forum“). Dieses Forum ergänzt die CODICES-Datenbank, die von der Venedig-Kommission betrieben wird und in der Rechtsprechung der Mitgliedsgerichte der Weltkonferenz der Verfassungsgerichte dokumentiert und abgefragt werden kann.15

IV.  Das Verfahren der Gutachtenserstellung Im Folgenden wird das Verfahren der Erstellung der Dokumente der Venedig-Kommisson aus einer Innensicht betrachtet, wobei sich die Darstellung auf die praktisch häufigste und auch bedeutendste Art beschränkt, nämlich auf die Gutachten. Für den Verlauf eines Verfahrens ist es nicht unerheblich, auf wessen Initiative die Venedig-Kommission tätig wird. Der Kreis jener, die um ein Gutachten ersuchen können, ist in Art.  3 des Statuts der Venedig-Kommission festgelegt, wobei der wichtigste Fall des Tätigwerdens der Kommission in Bezug auf Gutachten in Abs.  2 geregelt ist. Auf diese beschränken sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen,

11  Vgl. Art.  3 Z.  1 des Statuts der Venedig-Kommission, CDL(2002)27. Vgl. dazu Dürr, Venice Commission, S.  159 ff. 12  Näher Grabenwarter, Constitutional standard-setting, S.  736. 13   Rule of law checklist, Study No.  711/2013 CDL-AD(2016)007. 14   Vgl. für den EGMR z.B. Art.  36 Abs.  2 EMRK; dazu v.a. Bode-Kirchhoff, Why the road from Luxembourg to Strasbourg leads through Venice: the Venice Commission as a link between the EU and the ECHR, in: Dzehtslarou u.a. (Hrsg.), Human Rights Law in Europe, 2014, S.  55. 15   Unter www.codices.coe.int.

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wenngleich viele Aussagen auch auf die Entstehung der übrigen Arten der Dokumente übertragbar sind. Zunächst ist vorgesehen, dass Gutachten auf der Basis von Anfragen durch verschiedene Organe des Europarates erstattet werden, nämlich das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung, den Generalsekretär oder den Kongress der Gemeinden und Regionen.16 Praktisch wichtig ist der zweite Fall der Gutachtensanfragen von Mitgliedstaaten; diese betreffen meist die eigene Rechtsordnung. Schließlich gibt es ein praktisch nicht besonders wichtiges Antragsrecht von Einrichtungen oder Organen, „die an der Arbeit der Kommission teilnehmen“. Beispiele hierfür aus der Praxis sind die EU, die OSZE und die Vereinten Nationen bzw. UNMiK, auf das Ganze gesehen sind Anfragen aus diesem Bereich aber vergleichsweise selten. Ein Vorgehen auf eigene Initiative der Kommission gibt es nur bei anderen, von Gutachten verschiedenen Dokumenten, nämlich bei Forschungsarbeiten, Studien oder Entwürfen von Richtlinien, Gesetzen oder internationalen Abkommen. In Verfassungskrisen können Anfragen oft von Organen des Europarates kommen, d. i. insbesondere das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Jüngste Beispiele hierfür sind Fragen nach zusätzlichen Befugnissen für das spanische Verfassungsgericht im Zusammenhang mit der Katalonienkrise17 oder die Gutachten zum Medienrecht und zur Verfassungsreform in der Türkei.18 Mit Genehmigung des Ministerkomitees kann ein Mitgliedstaat auch ein Gutachten über die Rechtslage in einem anderen Mitgliedstaat beantragen. Hier tritt meist bereits in der Anfrage ein Konflikt zutage, der auf den Ablauf der Erstellung des Gutachtens Einfluss hat, beginnend mit der Auswahl der Gutachter über den Arbeitsbesuch der Gutachter im betroffenen Staat bis hin zur Beratung des Gutachtens im Plenum der Kommission.19 Erreicht die Kommission hingegen eine Anfrage aus dem betroffenen Mitgliedstaat selbst, ist die Ausgangslage meist eine gänzlich andere, weil hier schlicht die Einbeziehung externen Sachverstandes im Vordergrund steht bzw. zu stehen scheint. Es gibt Fälle von Anfragen bei Verfassungsreformen in Luxemburg 20 oder Finnland,21 in denen ganz eindeutig diese Funktion im Vordergrund steht. Darüber hinaus gibt es bis heute Fälle, in denen sich die Regierung durch eine Mitwirkung der Venedig-Kommission eine leichtere Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen verspricht, Armenien lässt sich als aktuelles Beispiel anführen.22 Auch das Ersuchen des slowakischen Präsidenten im jahrelangen Konflikt mit dem Parlament um die Bestellung von drei Verfassungsrichtern dürfte von ähnlichen Motiven getragen gewesen 16   Vgl. m.w.N. Grabenwarter, Constitutional standard-setting, S.  737 ff.; Matscher, Venedig-Kommission, S.  194 ff. Näher zu diesen Organen und ihren Zuständigkeiten siehe die Beiträge von Palmer, Leach, Ruffert und Schaffarzik, in Schmahl/Breuer (Hrsg.), The Council of Europe, 2017, Abschnitte 6, 7, 8 und 10. 17   Opinion No.  827/2015, CDL-AD(2017)003. 18   Opinion No.  875/2017, CDL-AD(2017)005; Opinion No.  872/2016, CDL-AD(2017)007. 19  Aus einem derartigen Konflikt ist z.B. der Report on the Preferential Treatment of National Minorities by their Kin-State, CDL‑INF(2001)019, entstanden. Näher dazu Buquicchio/Granata-Menghini, Venice Commission, S.  249 mit Fn.  19. 20   Opinion No.  544/2009, CDL-AD(2009)057. 21   Opinion No.  420/2007, CDL-AD(2008)010. 22   Opinion No.  883/2017, CDL-AD(2017)011.

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sein,23 wenn man bedenkt, dass der verfassungsrechtliche Berater des Präsidenten nicht nur ehemaliger Generalanwalt am EuGH, sondern auch ehemaliges Mitglied der Venedig-Kommission ist. Eine eigene Gruppe von Gutachten sind solche, in denen der Mitgliedstaat im Zuge des EU-Beitrittsprozesses durch Reformen die Voraussetzungen für einen möglichen EU-Beitritt schaffen will und in denen die EU die Einholung eines Gutachtens anregt. Hinter einer solchen Anregung können Zweifel der EU-Kommission an der Vereinbarkeit eines bestimmten Gesetzes mit europäischen Standards stehen, die durch das Gutachten der Venedig-Kommission entweder beseitigt oder bestätigt werden. Im zweiten Fall kommt es dann auch regelmäßig zu Rechtsänderungen. Doch es gibt auch Beispiele von Antragstellungen aus dem betroffenen Land, in denen die Motive der Antragsteller diffuser oder überhaupt andere sind. Im Falle Ungarns erfolgte ein Ersuchen um ein Gutachten – kurz nachdem bereits der Generalsekretär eine vergleichbare Anfrage an die Venedig-Kommission gerichtet hatte – wohl primär in der Erwartung, dass ein Gutachten der Venedig-Kommission für die Verfassungsreform legitimierend wirken könnte.24 Diese Erwartung wurde in der Folge nicht erfüllt.25 Im Fall des ersten Gutachtens zur polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit 201626 war die Situation geringfügig anders. Auch hier erfolgte das Ersuchen über Initiative des Außenministers und neben der Erwartung eines für die polnische Regierung positiven Gutachtens war es hier wohl auch die Absicht, angesichts der ersten kritischen Stellungnahmen aus Brüssel, einer Antragstellung „von außen“ zuvorzukommen.

V.  Die Einwirkung der Dokumente auf die europäische Verfassungsentwicklung Betrachtet man die Entwicklung der letzten knapp drei Jahrzehnte unter dem Gesichtspunkt des Einflusses der Dokumente, so zeigen sich je nach Zeitraum und Inhalt der Gutachten unterschiedliche Ziele und damit zusammenhängend Wirkungsweisen. Vor allem in der ersten Zeit des Bestehens der Venedig-Kommission hat diese maßgeblich daran mitgewirkt, Verfassungsordnungen so auszugestalten, dass nicht demokratische und rechtstaatswidrige Relikte aus der Zeit von Diktaturen überwunden und aus den Verfassungsordnungen beseitigt werden konnten. Hier hat sich die Venedig-Kommission meistens der Vorbilder aus anderen demokratischen Verfassungen bedient, um konkrete Ratschläge zu erteilen und Hilfestellungen zu leisten.27 Im Vorfeld eines möglichen Beitritts zur Europäischen Union war und ist es eine maßgebliche Motivation für Regierungen, Gutachten der Venedig-Kommission   Opinion No.  877/2017, CDL-AD(2017)001.   Vgl. auch einen ähnlichen Fall in Bezug auf Rumänien CDL-AD(2012)026. 25   Opinion No.  720/2013, CDL-AD(2013)012. 26   Opinion No.  833/2015, CDL-AD(2016)001. 27   Insbesondere mit Blick auf Mittel- und Osteuropa z.B. Bartole, Final remarks: The role of the Venice Commission, Review of Central and East European Law 26 (2000), S.  351. 23 24

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einzuholen, die rechtsstaatlichen Standards so anzupassen und auszubauen, dass die Rechtslage in einem ehemals nicht demokratischen Staat in rechtsstaatlicher Hinsicht auf das Niveau der Anforderungen des Rechts der Europäischen Union herangeführt wird. Die so erreichten Rechtsänderungen wirken bis heute nach.28 In jüngerer Zeit wird die Venedig-Kommission häufiger dann mit Gutachtensanfragen befasst, wenn hinter einer Verfassungsdiskussion ein innenpolitischer Konflikt steht. Dieser wird in der Folge im Wege der Venedig-Kommission und der parlamentarischen Versammlung des Europarates auf europäischer Ebene ausgetragen. Frühe Beispiele dieser Art waren etwa der Verfassungskonflikt im Fürstentum Liechtenstein,29 aus jüngerer Zeit sind etwa die Konflikte in der Ukraine,30 in der Türkei,31 in Polen,32 aber auch isolierte politische Auseinandersetzungen etwa im Zusammenhang mit der Wahl von Verfassungsrichtern in der Slowakei zu nennen.33 Ein spezifisches Feld der Aktivitäten der Venedig-Kommission sind Verfassungskrisen, welche die Folge eines politischen Wechsels in der Regierung sind. Neue Regierungen und Parlamentsmehrheiten, die nach einem Machtwechsel Verfassungsreformen in kürzerer Zeit durchführen, verursachen einen erhöhten Beratungsaufwand auf Seiten der Venedig-Kommission. Häufig vor dem Hintergrund hitziger innenpolitischer Debatten fragen entweder das betroffene Land selbst oder – angestoßen von Parlamentsmitgliedern des betreffenden Staates – die Parlamentarische Versammlung des Europarates nach einem Gutachten der Venedig-Kommission zu den umstrittenen Fragen. Ganz selten richten Regierungen, Staatsoberhäupter oder Parlamentspräsidenten selbst eine Anfrage nach einem Gutachten der Venedig-Kommission. Mitunter ist das anfragende Organ mit dem Inhalt des Gutachtens nicht zufrieden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Gutachten der Venedig-Kommission in gleicher Weise zu beachten sind und die Empfehlungen in der Praxis in hohem Maße Beachtung finden. Von vorneherein andere Ziele verfolgen Antworten auf Amicus Curiae-Anfragen und Richtlinien. Im Fall von Amicus Curiae-Antworten der Venedig-Kommission besteht das Ziel, durch eine Antwort vor dem Hintergrund einer europäischen, meist rechtsvergleichenden Analyse die Autorität des anfragenden Verfassungsgerichts zu erhöhen, die Akzeptanz seines Urteils zu erhöhen und damit langfristig auch seine Unabhängigkeit zu stärken.34 Guidelines und Verhaltensregeln sind wiederum maßgeblich auf Vereinheitlichung und häufig auch auf die Hebung europäischer Standards gerichtet.35

  Grabenwarter, Constitutional standard-setting, S.  743; Hoffmann-Riem, Venice Commission, S.  595.   Opinion No.  227/2002, CDL-AD(2002)32. 30   Opinion No.  870/2016, CDL-AD(2016)034. 31   Vgl. Fn.  18. 32   Vgl. Fn.  26. 33   Vgl. Fn.  23. 34  Vgl. Grabenwarter, Constitutional standard-setting, S.  743 mit Fn.  59; ders., Menschenrechtsschutz und Menschenrechtspolitik durch den EGMR, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, 2014, S.  45; Hoffmann-Riem, Venice Commission, S.  591 f. 35   Zum Einfluss von „soft law“ und „soft instruments“ vgl. Hoffmann-Riem, Venice Commission 595 ff. 28 29

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VI.  Besonderheiten des Prozesses der Gutachtenserstellung 1. Allgemeines Die Rolle der Venedig-Kommission im europäischen Raum demokratischer Rechtsstaaten wird maßgeblich von dem Verfahren der Erstellung der Gutachten bestimmt. Antragsberechtigt aus einem Staat sind im Wesentlichen jene Organe, welche auch völkerrechtlich zur Außenvertretung befugt sind. Regelmäßig geht die Initiative von Regierungen oder vom Staatsoberhaupt aus.36 Der Prozess der Gutachtenserstellung gliedert sich in mehrere Schritte. Jede Phase hat Einfluss auf den Inhalt und den Stil der letztendlich verabschiedeten Gutachten. In einem ersten Schritt richtet die Venedig-Kommission unter Koordination durch den Präsidenten der Venedig-Kommission, unterstützt vom Sekretariat, eine Gruppe von Berichterstattern ein. Die Auswahl von drei bis sechs Gutachtern bringt rechtsvergleichende Aspekte aus verschiedenen Rechtssystemen ein. Auf der Grundlage von Entwürfen der einzelnen Gutachter wird mit Hilfe des Sekretariats ein Gutachtensentwurf („draft opinion“) zusammengestellt, die spätestens 14 Tage vor Beginn der Plenarsitzung der Kommission allen Mitgliedern, der betroffenen Regierung und allen ständigen Vertretern der Mitgliedstaaten in Straßburg übermittelt wird. Regelmäßig findet im Rahmen der Gutachtenserstellung ein Besuch im betroffenen Staat statt, wobei Vertreter der Regierung ebenso zu Wort kommen, wie die Opposition und die Zivilgesellschaft. Naturgemäß ist die Art der Gespräche der Gutachter vor Ort vom Anlass des Gutachtens bestimmt.

2.  Die Auswahl der Gutachter Wenn eine Gutachtensanfrage im Sekretariat einlangt oder unmittelbar bevorsteht, beginnt die Suche nach Gutachtern. Gutachtensanfragen und die Zusammensetzung des Kreises der Gutachter werden allen Mitgliedern in regelmäßigen Aussendungen mitgeteilt. Im Prinzip und formal betrachtet kann jedes Mitglied sein Interesse an der Mitarbeit an einem bestimmten Gutachten äußern, vorausgesetzt das Mitglied ist in der Lage, an der Gutachtenserstellung im vorgegebenen Zeitrahmen aktiv mitzuwirken.37 In der Praxis kommt die Information über Gutachtensanfragen aber zu spät, daher erfolgt die Auswahl der Gutachter – nicht zuletzt auch mit Blick auf den regelmäßig gegebenen Zeitdruck – durch den Präsidenten, unterstützt von den Mitarbeitern des Sekretariats. Die Gesamtheit der Gutachter bildet eine Arbeitsgruppe („working 36  Ausnahmsweise versuchen Regierungen durch die Formulierung der Fragen, Einfluss auf das Gutachten zu nehmen. Dies geschieht einerseits durch die Allgemeinheit der Fragestellung, andererseits durch Ausgrenzung heikler Bereiche. Die Frage nach der Wahl einiger polnischer Verfassungsrichter im Herbst 2015 sollte explizit nicht in der Gutachtensanfrage enthalten sein, wurde jedoch von der Venedig-Kommission wegen des untrennbaren Zusammenhangs mit der Krise des Verfassungsgerichts mitbehandelt. Der Untersuchungsgegenstand des Gutachtens wurde vergleichsweise ausführlich dargelegt: Opinion No.  833/2015, CDL-AD(2016)001, Rz.  6 ff. 37   Guidelines relating to the working methods of the Venice Commission, CDL-AD(2010)034, S.  4.

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­ arty“). Nachdem das Sekretariat der Venedig-Kommission nach Abteilungen gep gliedert ist,38 übernehmen in der Praxis jene Sekretariatsmitarbeiter, die für das Thema des Gutachtens im Sekretariat zuständig sind, die Anfrage an die in Betracht kommenden Mitglieder der Kommission. Dies geschieht entweder informell während der vierteljährlichen Sitzungen der Kommission oder durch telefonische oder schriftliche Anfragen (per e-mail). Die Kriterien, nach denen die Gutachter ausgewählt werden, richten sich primär nach der Spezialisierung und dem Sachverstand der jeweiligen Mitglieder. Beides ist zum Teil auf Grund des Lebenslaufs und der Aktivitäten der Mitglieder in öffentlichen Ämtern und an Universitäten ohnehin allgemein bekannt. Zusätzlich dazu werden alle neuen Mitglieder und Ersatzmitglieder nach ihrer Bestellung nach ihren Spezialisierungen und Interessen gefragt. Weitere Gesichtspunkte der Auswahl sind die Herkunft der Gutachter, Geschlechterparität, zeitliche Verfügbarkeit (auch mit Blick auf einen möglichen Besuch im betroffenen Land) und Erfahrung auf dem Gebiet des Gutachtensthemas. Bei der Herkunft spielt zum einen die regionale Ausgewogenheit eine Rolle, andererseits sind auch eine Ausgewogenheit in Nähe und Distanz zum Thema bzw. zur betroffenen Verfassungsordnung maßgeblich. Ausgeschlossen ist das Tätigwerden eines Mitglieds in Bezug auf sein eigenes Land. So wurden in Bezug auf Verfassungsreformen in Ungarn Gutachter aus Polen und Österreich herangezogen. Bei Gutachten zu Fragen der Gerichtsbarkeit oder der Verfassungsgerichtsbarkeit ist das Bestreben gegeben, auch Verfassungsrichter bzw. Richter als Gutachter in der Arbeitsgruppe zu haben. Mitglieder, die zur selben Thematik bereits zum selben Land oder zu einem anderen Land gearbeitet haben, werden bevorzugt herangezogen.39 Immer wieder zieht die Venedig-Kommission auch externe Experten heran, um einerseits die Qualität der Gutachten weiter zu erhöhen, andererseits um auch die Legitimität nach außen zu stärken. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Zusammenarbeit mit der OSZE, im besonderen mit ihrem Büro für Demokratische Einrichtungen und Menschenrechte in Warschau (ODIHR), bedeutsam. Dessen Experten und Vertreter nehmen nicht nur stets an den Sitzungen der Venedig-Kommission teil, sondern wirken auch regelmäßig als Gutachter mit. Weitere Experten werden aus anderen Tätigkeitsbereichen des Europarates herangezogen. Die Zahl der Mitglieder beträgt regelmäßig drei, in wichtigen, komplexen Fällen können es auch bis zu sechs Mitglieder sein. Die Zahl ist einerseits bestimmt durch Kostengründe, andererseits aber vor allem durch die Bedeutung und Komplexität der Angelegenheit. Die Heranziehung von gleich sechs bzw. fünf Gutachtern bei den beiden Gutachten zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen im Jahr 2016 bildet den absoluten Ausnahmefall.

  Es gibt eine Abteilung für demokratische Einrichtungen und Grundrechte, eine Abteilung für Verfassungsgerichtsbarkeit und Gerichtsbarkeit, eine Abteilung für Wahlen und Referenden und eine Abteilung für Nachbarschaftliche Zusammenarbeit. 39   Guide to the Venice Commission’s Activities and Working Methods, CDL(2014)037. 38

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3.  Die Erstinformation Die Gutachter erhalten zu Beginn ihrer Arbeit eine vom Sekretariat zusammen gestellte Dokumentation als Erstinformation („information sheet“). Diese frühe Information erleichtert und beeinflusst die Arbeit erheblich. Sie enthält zunächst die notwendigen Unterlagen, nämlich den genauen Wortlaut der Gutachtensanfrage (in Einzelfällen auch eine Interpretation der Anfrage und Ausführungen zu möglichen Grenzen des Gutachtensthemas) sowie die maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Sachverhaltsausführungen. Wesentlich sind – nicht zuletzt auch im Hinblick auf zeitliche Restriktionen – die weiteren Inhalte der Dokumentation, die gleichzeitig den Ausgangspunkt für den herangezogenen Maßstab bilden.40 Dazu gehören zunächst insbesondere die einschlägige Rechtsprechung des EGMR und andere maßgebliche Rechtsquellen, wie insbesondere andere internationale Verträge; sodann Dokumente des Europarates (insbesondere Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung und Empfehlungen des Ministerkomitees), ferner frühere einschlägige Gutachten oder andere Dokumente der Venedig-Kommission, im Einzelfall auch Hinweise auf die Rechtsvergleichung. Darüber hinaus werden vom Sekretariat Hinweise auf mögliche Punkte, die im Gutachten zu thematisieren sind, gegeben. Der Bogen möglicher Hinweise ist dabei weit gespannt von Punkten, die im betroffenen Staat umstritten sind, bis hin zu politisch heiklen Fragen. Zu bedenken ist, dass viele Mitarbeiter des Sekretariats über eine teils jahrzehntelange Erfahrung mit bestimmten Mitgliedstaaten verfügen, diese aus einer Reihe von Besuchen kennen und daher auch mit einem Teil der handelnden Personen sowie insbesondere mit der Verfassungskultur und der Kultur des betroffenen Landes vertraut sind. Mitunter werden auf der Basis dieser Erfahrung und im Hinblick auf die bisherige Praxis der Kommission in vergleichbaren Fällen erste vorsichtige Beurteilungen der Gutachtensanfrage abgegeben. Schließlich enthält die Dokumentation Informationen zu rein praktischen Fragen wie den einzuhaltenden Fristen und dem Erfordernis eines Besuchs der Gutachter im betroffenen Staat.

4.  Kommentare und Textvorschläge der Gutachter In der nächsten Phase verfassen die einzelnen Gutachter Texte, die gleichzeitig als Entwurf für den Entwurf des Gutachtens dienen können, der später vom Sekretariat erstellt wird. Wenn es der zeitliche Ablauf zulässt, sprechen sich die Gutachter zu Beginn ab, entweder am Rande einer Sitzung der Venedig-Kommission oder – allerdings nur in Ausnahmefällen – im Rahmen eines eigenen Treffens. In der Regel erfolgt die Kommunikation in diesem Stadium aber per e-mail. Die Gutachter schicken ihre Textentwürfe innerhalb einer Frist von zumeist mehreren Wochen an den zuständigen Mitarbeiter des Sekretariats. Der zeitliche Rahmen ist dabei meist davon bestimmt, dass das Gutachten bei der nächsten Plenarsitzung vorliegen und beschlossen werden soll. Da mit Ausnahme der Sommerpause nur zwei bis drei Monate zwischen den Sitzungen liegen und die Gutachtensentwürfe seit einiger   Dazu und zum Folgenden vgl. CDL-AD(2010)034, Anhang.

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Zeit spätestens zwei Wochen vor der Sitzung an alle Mitglieder geschickt werden müssen, verbleibt in dem Großteil der Fälle, in denen ein Besuch im Mitgliedstaat stattfinden soll, im günstigsten Fall ein zeitlicher Rahmen von drei bis vier Wochen für das Verfassen dieser Entwurfstexte, oft sind es auch nur zwei Wochen. In der Regel sollen die Entwürfe nämlich vor dem Besuch im Staat vorliegen, die Gutachter haben danach noch die Möglichkeit, ihre Entwürfe zu modifizieren, bevor sich der Sekretariatsmitarbeiter an die Arbeit macht. Bis 2015 wurden die Entwürfe der einzelnen Gutachter gemeinsam mit dem Gutachtensentwurf des Sekretariats an alle Mitglieder der Kommission geschickt und als Folge dessen später auch publiziert; es finden sich demgemäß bis heute zahlreiche dieser Entwürfe auf der Website der Venedig-Kommission. Um möglichem Druck auf die Gutachter von Seiten einzelner Regierungen vorzubeugen, werden die Entwürfe der Gutachter seit dem Jahr 2015 nicht mehr publiziert, so dass die jüngere Praxis hier nicht mehr an Hand konkreter Beispiele diskutiert werden kann. Es ist aber davon auszugehen, dass sich die Praxis in den letzten Jahren nicht in einem Maße geändert hat, dass die Beobachtungen, die im Folgenden angestellt werden, nicht auch noch heute Gültigkeit hätten. Betrachtet man die Entwürfe der Gutachter in einer Gesamtschau, so lässt sich eine große Vielfalt im Stil, in der Ausführlichkeit und in der analytischen Tiefe feststellen. Manche Gutachter liefern elaborierte wissenschaftliche Analysen insbesondere der Rechtsprechung des EGMR mit einem teils umfangreichen Anmerkungsapparat,41 andere Stellungnahmen von wenigen Seiten,42 die auch politische Aspekte integrieren können.43 In Ausnahmefällen beschränken sich Gutachter gar auf Kommentare zu den Entwürfen der anderen Gutachter bzw. überhaupt zum Gutachtensentwurf des Sekretariats. In dieser Pluralität spiegelt sich im Besonderen die Vielfalt im beruflichen Hintergrund der Mitglieder, aber auch in Bezug auf Rechtstraditionen wider.

5.  Besuche im Mitgliedstaat Von Einfluss auf den Prozess der Gutachtenserstellung ist weiter der Besuch in dem betroffenen Mitgliedstaat. Bei diesem Besuch treffen die Gutachter regelmäßig Ver41   Vgl. z.B. die ausführliche Analyse einer Novelle eines aserbaidschanischen Gesetzes betreffend Nichtregierungsorganisationen am Maßstab der Vereinigungsfreiheit des Art.  11 EMRK durch Veronika Bílková im Jahr 2009 (CDL[2011]089). Die Stellungnahme wertet – neben anderen relevanten Dokumenten – weit mehr als ein Dutzend einschlägiger EGMR-Entscheidungen aus. 42   Vgl. z.B. die zweiseitige ohne jegliche Nachweise auskommende Stellungnahme von Giorgio Malinverni zu einem Fragen der Religionsfreiheit bzw. allgemeine religionsrechtliche Angelegenheiten betreffenden Gesetzesentwurf in Rumänien im Jahr 2005 (CDL[2005]079). 43   Vgl. nur folgenden Ausschnitt aus seiner Stellungnahme von Kaarlo Tuori zu allgemeinen (verfassungs-)rechtlichen Fragen eines Parteiverbots in der Türkei aus dem Jahr 2008: „As regards the right to launch the process, we should stress the desirability of a solution which, already at this stage, combines legal considerations and the attention to the political repercussions of such a highly politically-laden issue as the prohibition of a political party. As I have stated before, I find a purely political solution problematic, too. Already launching a case concerning the prohibition of party has political consequences, and those holding political power can always be accused of using their right of initiative for political purposes. This is highly detrimental to the legitimacy of the procedure. This consideration is of particular relevance in a country like Turkey with its long tradition of party prohibition“ (CDL[2008]141).

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treter der Regierung und des Parlaments, je nach Fragestellung aber auch Vertreter von betroffenen sonstigen Staatsorganen sowie von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Der Zweck dieser Besuche besteht primär darin, nähere Informationen über den Gegenstand des Gutachtens zu erhalten, bei umstrittenen Fragen auch darin, allen Seiten des Konflikts gleichberechtigt die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Darüber hinaus gibt es den Gutachtern Gelegenheit, gemeinsam mit dem mitreisenden Mitarbeiter des Sekretariats noch offene Fragen bzw. den Einfluss der neuen Informationen auf das Gutachten zu diskutieren. Je nach Aktualität der Fragestellung in der innenpolitischen Auseinandersetzung eines Staates kann die Atmosphäre während eines Besuches durchaus angespannt sein, das Medieninteresse kann erheblich sein. Ein außergewöhnliches Beispiel für großes Medieninteresse an einem Besuch der Venedig-Kommission bildet jenes am Besuch der Kommission in Polen im Februar 2016. Im Zuge der Erstellung des Gutachtens zur Verfassungsreform in Armenien fand im Rahmen des Besuchs im Jahr 2015 ein öffentlicher Auftritt der Venedig-Kommission mit NGOs und Medienvertretern statt, bei der ein voller Saal von Journalisten und NGOs ein Gespräch mit den Vertretern führte, das von einem Dutzend Kameras aufgezeichnet wurde. Ein Besuch und die dabei herrschende Atmosphäre werden auch maßgeblich von der Haltung der Regierung bestimmt. Beim ersten Gutachten zur polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahr 2016 bestand wohl die Absicht der Regierung auch darin, durch zunächst kooperatives Verhalten den Prozess beeinflussen zu können. Es wurde dabei auch auf das Besuchsprogramm Einfluss genommen, nämlich insbesondere was die Auswahl von NGOs und sonstigen Stellen betrifft, mit denen die Delegation der Venedig-Kommission sprechen sollte.

6.  Die Erstellung eines Gutachtensentwurfs („draft opinion“) Nach dem Besuch im Staat bzw. nach Erhalt der Stellungnahmen der einzelnen Gutachter beginnt der Sekretariatsmitarbeiter mit der Arbeit am Gutachtensentwurf, wofür ihm regelmäßig nur einige Tage bis höchstens eine Woche zur Verfügung stehen bzw. steht. Auch hier ist eine Bandbreite an Möglichkeiten denkbar. Haben die Gutachter bereits sehr detaillierte Stellungnahmen abgegeben und stimmen diese auch wenigstens im Ergebnis weitgehend überein, so liegt das Schwergewicht der Arbeit in einer redaktionellen Tätigkeit, der Hinzufügung von Nachweisen, dem Verfassen von Einleitung und Zusammenfassung, und mit Hilfe anderer Sekretariatsmitarbeiter auch in einer sprachlichen Überarbeitung, sofern die Gutachter nicht die Sprache des Gutachtens (regelmäßig Englisch, ausnahmsweise auch Französisch) als Muttersprache sprechen. Wenn zwischen den Gutachtern Konsens über den Gutachtensentwurf hergestellt ist, gelangt dieser intern zur Verteilung, und zwar an alle Mitglieder der Kommission, an die betroffene Regierung und an alle ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten beim Europarat, mithin an die Regierungen aller Mitgliedstaaten. Dies hat spätestens vierzehn Tage vor Beginn der Plenarsitzung zu erfolgen. Der Gutachtensentwurf ist zu diesem Zeitpunkt immer noch vertraulich, mag er auch in umstrittenen Fällen immer wieder vorzeitig an die Medien gespielt

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(„geleakt“) werden. An dieser Stelle ist auf ein Problem aufmerksam zu machen, das der Venedig-Kommission in politisch umstrittenen Fällen regelmäßig vorgehalten wird: Durch das gerade in Konfliktfällen in letzter Zeit deutlich gestiegene mediale Interesse an Gutachten der Venedig-Kommission gelangten Gutachtensentwürfe regelmäßig an die Öffentlichkeit. Zu bedenken ist, dass der Gutachtensentwurf per e-mail an einen Kreis von rund hundert Empfängern versendet wird; die Zahl der Personen, die Zugang zum Gutachten haben, dürfte ein Mehrfaches sein. In einer solchen Situation kann Vertraulichkeit angesichts der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten nicht mehr erhalten werden. Hier gibt es vielmehr einen Zielkonflikt zwischen Vertraulichkeit, Größe der Kommission und Grundsatz eines dialogischen Verfahrens, der gegenwärtig zugunsten des dialogischen Verfahrens gelöst ist.

7.  Die Stellungnahme der Regierung Die Regierung hat danach die Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme, von der viele Regierungen auch Gebrauch machen. Meist wird dabei auf technische Details hingewiesen, die in der Folge noch abgeändert werden, selten lehnt eine Regierung den Gutachtensentwurf zur Gänze oder in wesentlichen Teilen ab. Bei komplexeren Gutachten bildet die Stellungnahme der Regierung aber die Grundlage für kurzfristige Gespräche zwischen der Regierung und den Gutachtern (unterstützt vom Sekretariat), die meist in Venedig und am Tag vor, mitunter noch am Tag der Plenarberatung am Tagungsort selbst stattfinden.

8.  Die Beratungen in den Unterkommissionen und im Erweiterten Büro Wenn die Gutachter dies beschließen, kann ein Gutachtensentwurf am Tag vor der Plenarberatung auch in einer der Unterkommissionen vorberaten werden. In der Praxis werden die Entwürfe ohne formelle Meinungsbildung darüber unter den Gutachtern im Wege des Sekretariats den Unterkommissionen zugeleitet. Dies ist in der jüngeren Zeit sehr häufig der Fall. Im Regelfall liegt hier auch der letzte Zeitpunkt für eine wirklich ausführliche Diskussion.

9.  Die Beratungen im Plenum In der Beratung im Plenum sind grundsätzliche Änderungen am Text eines Gutachtens sehr schwierig, ja fast ausgeschlossen. Dies liegt im Wesentlichen am „Setting“ der Plenarberatungen. Die Zahl von rund 100 Sitzungsteilnehmern lässt eine interaktive Diskussion kaum zu. Dazu kommt, dass die Sitzung nahezu immer in einem eher düster beleuchteten Saal der Scuola Grande di San Evangelista stattfindet. Die Teilnehmer sitzen relativ gedrängt in einem langgestreckten Rechteck und können einander überhaupt nur sehen, weil seit einigen Jahren eine Videoübertragung auf einem großen Schirm im Saal erfolgt. Ein weiterer Bestimmungsgrund für die Arbeitsweise liegt in einer strikten Redezeitbeschränkung. Diese ist einerseits wegen

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der Größe des Organs erforderlich, andererseits diszipliniert sie jene, die einen Hang zu ausführlicheren Wortmeldungen haben. Insgesamt gesehen ist die zeitliche Disziplin der Mitglieder aber sehr groß. Für die Plenarberatungen sehen die Verfahrensregeln der Venedig‑Kommission Vertraulichkeit vor, weshalb Medienvertreter während der Beratung nicht anwesend sind. Sie werden protokolliert, ein Resümeeprotokoll wird nach wenigen Wochen veröffentlicht. Gleichwohl kann der Präsident Gäste einladen, an den Sitzungen teilzunehmen und auch das Wort zu ergreifen. Wenn ein Gutachten über ein bestimmtes Land erstattet wird, können die Vertreter des Landes an der Sitzung der Venedig‑Kommission teilnehmen und zum entsprechenden Tagesordnungspunkt auch das Wort ergreifen. Für die Abstimmung kann der Präsident die Vertreter des Landes jedoch auffordern, den Raum zu verlassen. In der Praxis tut er das jedoch selten, dies hängt mit den Usancen der Abstimmung zusammen. Über jedes Gutachten findet eine Abstimmung statt, wobei der Vorsitzende meist nur nach Gegenstimmen und Enthaltungen fragt. Zwar sieht Art.  12 der Verfahrensregeln vor, dass Beschlüsse der Kommission mit Mehrheit gefasst werden. In der Praxis werden die Gutachten aber zumeist ohne Gegenstimme angenommen. Dieser Umstand wird auch durch das Bewusstsein um die Unverbindlichkeit der Gutachten begünstigt.44

VII.  Beobachtungen zu einigen Rahmenbedingungen der Herausbildung von Verfassungsstandards Die vorstehenden Ausführungen haben erste Einblicke in die Arbeitsweise der Venedig-Kommission gegeben. Im Folgenden sollen einige Charakteristika der Arbeit der Kommission besonders akzentuiert werden, um das Eigentümliche der Arbeit der Kommission herauszuarbeiten.

1.  Name und Sitzungsort der Venedig-Kommission Ausführungen zum Charakter der Venedig-Kommission als eines Hybrids aus beratendem Expertengremium und Einrichtung zur Herausbildung von Standards im Bereich des soft law müssen ihren Ausgang beim Namen und dem Sitzungsort nehmen. Der Sitzungsort und der von ihm abgeleitete Name haben historische Gründe, die mit handelnden Personen in Europa am Ende des Kalten Krieges, wie insbesondere mit dem (aus Venedig stammenden) damaligen italienischen Außenminister Gianni de Michelis, zu tun haben. Heute prägt die Anreise eines Trosses von Mitgliedern der Kommission, Vertretern europäischer Institutionen, Regierungsmitgliedern und deren Stäben sowie Beamten des Sekretariats die Arbeitsweise. Vier Mal im Jahr wird die Scuola Grande di San Evangelista im Zentrum Venedigs von der Venedig-Kommission in Beschlag genommen, im ersten Stock werden 100 Sitz44   Hoffmann-Riem, „Soft Law“ und „Soft Instruments“ in der Arbeit der Venedig-Kommission des Europarates, FS Bryde (2013), S.  595 (605).

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plätze auf alten Stühlen in einem langen hohen Saal mit Marmorboden und typisch venezianischen Deckengemälden geschaffen, drei mobile Übersetzungskabinen werden aufgestellt. Im Erdgeschoss wird ein behelfsmäßiges Sekretariat mit zwei aus Straßburg mitgebrachten Druckern und Computern eingerichtet, ein kleiner Besprechungstisch steht für Besprechungen der Gutachter in letzter Minute zur Verfügung, auch im kleinen Café gegenüber der Scuola werden knapp vor Beginn der Plenarberatungen Kompromisse in heiklen Formulierungen gesucht und meist gefunden. Dieses Entfernen weg aus den europäischen Hauptstädten hin zum östlichen Mittelmeer in eine stets eher nach Osten hin orientierte, historisch bedeutsame Hafenstadt hat mehr als nur symbolische Bedeutung. Es verdeutlicht das Bekenntnis zu einem gemeineuropäischen Verfassungserbe, das in selbständiger Weiterentwicklung in allen Teilen Europas weiter getragen und maßgeblich auch von den Institutionen in den Mitgliedstaaten und ihren Vertretern geprägt wird.

2.  Herkunft, Alter und berufliche Prägung der Mitglieder: Legitimation durch Expertise und Ansehen der Mitglieder Damit ist zu den Mitgliedern der Venedig-Kommission übergeleitet. Anders als bei Gerichten gibt es in den Rechtsgrundlagen keine strikten Qualitätskriterien, nicht einmal eine juristische Ausbildung ist vorgesehen. Das Statut der Venedig-Kommission ist hier relativ offen, es enthält einen Hinweis in Art.  2 auf Erfahrung in demokratischen Institutionen und auf Beiträge zur Förderung des Rechts und der Politikwissenschaften. Geleitet von den Vorgaben des Statuts haben sich über die Jahre nach und nach Kriterien herausgebildet, die von den Mitgliedstaaten beachtet werden, wenn sie ihre Mitglieder und Ersatzmitglieder auswählen.45 In den meisten Mitgliedstaaten hat sich aber die Praxis durchgesetzt, entweder angesehene Professoren (überwiegend des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, nicht selten auch des Völker- und Europarechts) oder aber Personen aus höchsten beruflichen Stellungen in der Justiz, seien es Richter an Höchstgerichten oder Verfassungsgerichten oder aber Mitglieder anderer unabhängiger Organe zu bestellen. Rund ein Dutzend Mitglieder sind (ehemalige) Minister, stellvertretende Minister, Staatssekretäre oder leitende Ministerialbeamte, überwiegend im Justizministerium, aber auch im Außenministerium; auch Diplomaten waren immer wieder Mitglieder. Die Mitglieder handeln unabhängig, weshalb auch die Mitgliedschaft von Beamten in der Weisungshierarchie in einem gewissen Spannungsverhältnis mit der Unabhängigkeit der Mitglieder steht. Vereinzelt finden sich auch (ehemalige) Parlamentsabgeordnete und Anwälte oder in der Wirtschaft tätige Juristen unter den Mitgliedern. Insgesamt sind aber die Richter und Professoren bei Weitem in der Mehrheit, sie prägen auch die Arbeit der VenedigKom­m ission. Das Statut legt größten Wert auf die Unabhängigkeit der Mitglieder. Nach Art.  2 Abs.  1 besteht die Kommission aus unabhängigen Experten, die in ihrer persönlichen Eigenschaft handeln und keinerlei Anweisungen erhalten oder annehmen dürfen. 45   Für jedes Mitglied wird ein Ersatzmitglied bestellt, manche Staaten haben auch zwei Ersatzmitglieder bestellt, insbesondere wenn die zeitliche Verfügbarkeit des Mitglieds eingeschränkt ist.

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Ein im Jahr 2004 eingefügter Art.  3a der Verfahrensordnung46 enthält entsprechende Vorgaben für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Mitglieder. Er sieht im Besonderen die Veröffentlichung eines Lebenslaufes, eine Pflicht zur Mitteilung von Interessenkonflikten und den Ausschluss vom Stimmrecht im Fall eines potentiellen Interessenkonflikts vor. Generell ausgeschlossen ist das Stimmrecht in Bezug auf den Staat, der ein Mitglied bestellt hat oder dessen Staatsangehörigkeit ein Mitglied besitzt (Art.  13 Abs.  1 der Verfahrensordnung). Mitglieder der Venedig-Kommission, die zu Richtern des EGMR gewählt werden, scheiden nach der Praxis des EGMR aus der Venedig-Kommission aus, hier wird eine Unvereinbarkeit auf Seiten des EGMR angenommen. Ein wesentliches Charakteristikum – im Gegensatz zu den meisten innerstaatlichen Höchst- und Verfassungsgerichten – ist die Nebenamtlichkeit der Tätigkeit. Die Gutachtenserstellung erfolgt gegen eine geringe Aufwandsentschädigung, auch die Teilnahme an den vierteljährlichen Sitzung erfolgt im Prinzip nur gegen Ersatz der Aufenthalts- und Reisekosten. Die bloße Nebentätigkeit begünstigt das Einfließen von berufsspezifischem Sachverstand, setzt aber umgekehrt dem zeitlichen Ausmaß der Befassung mit Fragestellungen Grenzen. Zwar gibt es eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern, die aus ihrer aktiven Berufstätigkeit in ihrem Staat bereits ausgeschieden sind, und sich in höherem Maße der Tätigkeit in der Venedig-Kommission widmen können. Auch Mitglieder, die aktive Professoren sind, können oft ihre wissenschaftlichen Aktivitäten gut mit der Tätigkeit im Rahmen eines Gutachtens verbinden. Dem stehen richterliche Mitglieder gegenüber, die unter einem stärkeren Arbeits- und Zeitdruck in ihren Gerichten stehen. Im Ganzen gesehen, ist derzeit eine ausgewogene Mischung der verschiedenen Berufs- und Altersgruppen gegeben, die auch eine Verteilung der anfallenden Arbeit nach zeitlicher Verfügbarkeit ermöglicht. Die Altersstruktur ist ein weiteres Merkmal. Da es keine Altersgrenze für das Ausscheiden gibt (allenfalls nationale Kriterien in diese Richtung), ist das Altersspektrum weiter als bei nationalen Höchstgerichten. Es gibt eine Reihe von Mitgliedern, die das siebzigste Lebensjahr bereits (teils deutlich) überschritten haben. Unter fünfzigjährige Mitglieder sind eher die Ausnahme, der Großteil der Mitglieder befindet sich im Alterssegment zwischen 55 und 65 Jahren. Unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtergleichheit ist nach wie vor ein deutliches Überwiegen männlicher Mitglieder festzustellen. Die Vielfalt der Profile der Mitglieder, ihre verfassungsrechtlichen Hintergründe und die bereits angesprochene geographische Streuung tragen bei aller Einheitlichkeit zu einer Vielfalt auch im Prozess der Gutachtenserstellung bei. Dabei sind die vielfältigen beruflichen Hintergründe ebenso zu veranschlagen wie unterschiedliche Verfassungstraditionen und mitunter auch politische Ausrichtungen. Eine weitere Pluralität verbunden mit der Steigerung der inhaltlichen Qualität wird durch die Heranziehung externer Gutachter, insbesondere aus dem Bereich von OSZE und ODIHR erreicht.

  Revised Rules of Procedure CDL-AD(2015)044.

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3.  Der Faktor Zeit Die oben dargestellten zeitlichen Zusammenhänge und Abläufe machen deutlich, dass Gutachten üblicherweise in einem Zeitraum von unter zwei Monaten erstellt werden. In der Geschwindigkeit liegt eine große Stärke. Nationale wie internationale Stellen erwarten rasche Antworten auf verfassungsrechtliche Fragen von einem unabhängigen internationalen Beratungsorgan – und sie erhalten sie auch zumeist. So können sie unmittelbar in den politischen Prozess oder in Einzelfällen auch in gerichtliche Verfahren einfließen. Auch die Erwartungen in der modernen Medienberichterstattung werden auf diese Weise erfüllt. Allerdings hat die Geschwindigkeit auch Schattenseiten und Nachteile. Die Gründlichkeit einer gerichtlichen Aufarbeitung, einer über mehrere Tage reichenden richterlichen Diskussion im Kollegenkreis ist nicht leistbar, ja faktisch gar nicht möglich. Zusätzlich muss die räumliche Streuung eines Gutachterteams bedacht werden. Wenn es, wie im Fall eines jüngeren Gutachtens zu Polen aus einer US-Amerikanerin, zweier Skandinavier, zweier Mitteleuropäer und eines Westeuropäers, besteht, so wird deutlich, dass der schriftliche Austausch über e-mail gegenwärtig die wohl einzige ökonomisch vertretbare Form mit ausführlicherer schriftlicher Diskussion ist. Eine ausführliche Diskussion, wie sie in einer kollegialen Beratung im Senat oder in einer Kammer eines Gerichts stattfindet, ist zwischen den Sessionen aber nicht erreichbar. In bestimmten Fällen gewinnt der Faktor Zeit noch besondere Bedeutung, nämlich dann, wenn ein Gutachten besonders rasch vorliegen muss. Sogenannte „dringende Gutachten“ werden ausnahmsweise ohne Diskussion und Beschlussfassung vom Plenum als sogenannte „vorläufige Gutachten“ veröffentlicht. Wenn es die innerstaatliche Situation erfordert, kann der Präsident nach Beratung mit dem Büro der Kommission die Gutachter ermächtigen, das noch nicht beschlossene Gutachten den innerstaatlichen Behörden zuzuleiten. Das Gutachten wird dann zur Bestätigung und Annahme dem Plenum bei der nächsten Sitzung der Venedig‑Kommission vorgelegt. Das Plenum hat in diesem Stadium dann auch die Möglichkeit, das Gutachten ausnahmsweise auch inhaltlich zu ändern. Im Regelfall bleibt es aber bei einer bloßen Bestätigung („endorsement“).

VIII.  Einige Reflexionen zur Entstehung der Texte Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Entstehung des endgültigen Texts eines Gutachtens in einem mehrstufigen komplexen Prozess erfolgt, der im Vergleich zu gerichtlichen Entscheidungen weniger durch „harte“ Verfahrensregeln gesteuert wird. Dementsprechend bedeutsam ist es, die faktischen Bestimmungsgründe für den Prozess der Gutachtenserstellung kritisch zu reflektieren. Folgende Beobachtungen lassen sich zusammentragen: Bereits bei der Erstellung der Textvorschläge durch die Gutachter in der Einzelarbeit schreibt der Gutachter mit Blick auf seine Mitgutachter. Er versucht inhaltliche Elemente beizutragen, von denen er annimmt, dass sie von den anderen Kollegen nicht erwähnt werden. Er versucht weiter die in der Erstinformation angelegten Li-

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nien schriftlich festzuhalten und bereits als Basis für den Gutachtensentwurf durch das Sekretariat zu formulieren. Dazu gehört es, dass ein Gutachter besondere eigene Expertise etwa im Bereich der Menschenrechte oder im Verfassungsrecht der ihm bekannten Verfassungsordnungen hervorhebt. Das Sekretariat seinerseits versucht, aus den Textentwürfen ein inhaltlich und formal kohärentes Ganzes zu formen. Je nachdem wie detailliert und umfangreich die Entwürfe sind, kann es genügen die Texte zusammenzufügen und geringfügige Ergänzungen vorzunehmen, insbesondere im Bereich der Einleitung und der Zusammenfassung des Gutachtens. Sind die Entwürfe jedoch nur thesenhaft, liegt der Spielraum in der Formulierung stärker bei den Mitarbeitern des Sekretariats. Wesentlichen Einfluss in vielen Fällen hat der Besuch im betroffenen Staat. Hier können die Gutachter die vorläufigen Thesen überprüfen und sie haben vor allem die Gelegenheit nicht nur mit innerstaatlichen Behörden und Experten in Austausch zu treten, sondern das eigene Papier und die Entwürfe der anderen Gutachter im persönlichen Gespräch zu diskutieren. Wie erwähnt ist das Entstehen des Textes im Wesentlichen ein Verfahren des Austausches und des Zusammenfügens von Texten. Abgesehen von den nur ausnahmsweise stattfindenden Treffen der Gutachter während der Erstellung des Gutachtensentwurfs kann erst wieder unmittelbar vor dem Stattfinden der Plenarsitzung über Inhalte und Formulierungen diskutiert werden. Solche Gespräche sind vor allem dann nicht unüblich, wenn die betroffene Regierung eine ausführliche Stellungnahme zu einem Gutachtensentwurf erstattet. In solchen Fällen kommt es sowohl zu Beratungen unter den Gutachtern, als auch regelmäßig zu Gesprächen mit Regierungsvertretern, die mitunter auch kontrovers sein können, vor allem dann, wenn nicht die Regierung selbst um ein Gutachten angesucht hat. Sobald der aus den verschiedenen Entwürfen der Gutachter zusammengefügte Text vorliegt, kann zumeist nur mehr über Formulierungen diskutiert werden. Nur dann, wenn einander widersprechende Positionen bezogen wurden und das Sekretariat einen Kompromiss formuliert hat, kann es noch zu weitergehenden Diskussionen unter den Gutachtern im e-mail‑Wege kommen. Hinzuweisen ist auf einen Mechanismus, den die Richtlinien über die Arbeitsmethoden der Venedig‑Kommission zwar vorsehen, der in der Praxis aber selten stattfindet. Diese sehen einen „wissenschaftlichen Beirat“ („Scientific Council“) vor, der für die hohe Qualität und die Widerspruchsfreiheit der Studien und Gutachten der Kommission primär verantwortlich sein soll. Dieser Beirat soll den Gutachtern Informationen über die „Lehrmeinungen der Kommission“ („The Commission‘s doctrine“) und anderes relevantes wissenschaftliches Material für die Vorbereitung von Gutachten zur Verfügung stellen. Diese Bestimmungen in den Richtlinien machen das Problembewusstsein innerhalb der Kommission deutlich, dass die Dokumente ungeachtet des Zeitdrucks einer wissenschaftlichen Fundierung bedürfen, die möglicherweise gegenwärtig nicht in jeder Hinsicht geleistet werden kann. Eine wesentliche Hilfe bilden aber heute schon Zusammenstellungen zu bestimmten Themen („compilations“), die in Hinkunft weiter ausgebaut werden sollen. Die übrigen Mitglieder der Kommission, die nicht als Gutachter bestellt wurden, haben regelmäßig keinen erheblichen Einfluss auf ein Gutachten. Zwar sehen die Richtlinien über die Arbeitsmethoden der Venedig-Kommission vor, dass ein Mit-

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glied, das substantielle Einwände in Bezug auf einen Gutachtensentwurf hat, der für den Zweck der Diskussion im Plenum versendet wurde, die Gutachter vor Beginn der Plenarberatungen darüber informieren soll. Soweit dies möglich ist, sollen Vorschläge über Formulierungen den Gutachtern oder dem Sekretariat vor Beginn der Plenarberatungen schriftlich mitgeteilt werden. Gegebenenfalls werden Gutachten am Tag vor den Plenarberatungen in einer der Unterkommissionen vorberaten, in diesem Stadium kann von den Mitgliedern dieser Unterkommission auf den Inhalt des Gutachtens Einfluss genommen werden. Die Qualität der Gutachten als nichtverbindliche Empfehlungen begünstigt tendenziell die Fortbildung bestehender Standards. Es geht eben nicht bloß um die Definition von bestimmten Mindesterfordernissen, häufig wird auch in die Richtung von „best practice“ gearbeitet. Dabei ist wieder auf eine bestimmte Vielfalt der Mitglieder zwischen den Polen von eher normativ denkenden richterlichen Mitgliedern und eher politisch denkenden, auf Rechtsgestaltung ausgerichteten Mitgliedern mit politischem Hintergrund hinzuweisen.47 Im Gesamten stellt sich der Vorgang der Gutachtenserstellung als eine Gemeinschaftsarbeit von Akteuren unterschiedlicher Qualität dar, im Kern Spezialisten des europäischen Verfassungsrechts, gesteuert weniger von formalen Verfahrensregeln, denn von stillschweigendem Konsens und mittlerweile jahrzehntelanger Übung. Wegen des Zeitdrucks und im Wissen um die Unverbindlichkeit der Dokumente sind Formulierungen nicht immer mit jener Präzision ausgewählt und diskutiert, wie das häufig bei Verfassungs- und Höchstgerichten der Fall ist. Ihr besonderer Wert liegt in der gemeineuropäischen Perspektive, im Einfließen verschiedener Standards und darin, dass im Gutachten diese gemeinsamen Standards gerinnen, so dass andere Organe darauf auf bauen können, seien es Gerichte oder politische Organe. Schließlich ist der Grundsatz des dialogischen Verfahrens als allgemeines Charakteristikum noch einmal zu betonen. Er beherrscht vor allem die Schlussphase des Verfahrens. Viele Gutachtensentwürfe werden unmittelbar vor der Endberatung im Plenum auf Wunsch der Regierungen häufig noch in bilateralen Gesprächen zwischen Gutachtern und Regierungsvertretern beraten, mitunter vorbereitet durch schriftliche Stellungnahmen der Regierungen. Hier finden durchaus noch substantielle Änderungen statt. An der Beratung über den Entwurf des Gutachtens im Plenum dürfen die Regierungsvertreter sogar mit Rederecht teilnehmen, allerdings können sie hier faktisch nicht mehr den Gutachtensinhalt beeinflussen.

IX. Schlussbetrachtung Das Agora-Gebäude des Europarates, in dem das Sekretariat der Venedig-Kommission untergebracht ist, befindet sich nur durch eine Straße, die Allée des Droits de l’Homme, getrennt vom Gebäude des Menschenrechtsgerichtshofes an einem der Straßburger Kanäle. Diese Lage hat mehr als nur symbolische Bedeutung. Ebenso wie die Richterinnen und Richter des EGMR sind auch die Mitglieder der VenedigKom­m ission von der Vorstellung eines gemeineuropäischen Verfassungserbes gelei47

  Vgl. etwa Hoffmann-Riem, FS Bryde, S.  604.

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tet, wie es den Regierungen der Mitgliedstaaten (wenigstens zum Zeitpunkt der Gründung des Europarates) vor Augen stand, wenn man den letzten Erwägungsgrund der Präambel der EMRK ernst nimmt, in dem von Regierungen von Staaten die Rede ist, die „vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit“ besitzen. Wechselseitige Bezugnahmen in Gutachten, Studien und Urteilen steigern den Zusammenhalt, das Bewusstsein gegenseitiger Unterstützung in der Wahrung und Fortentwicklung demokratischer, rechtsstaatlicher und nicht zuletzt menschenrechtlicher Standards. Die jahrelange, in manchen Fällen jahrzehntelange gemeinsame Arbeit an dutzenden von Gutachten und Studien erzeugt bei den Mitgliedern der Venedig-Kommission einen Korpsgeist und eine Loyalität gegenüber den Zielen des Europarates und der Venedig-Kommission im Besonderen, und zwar auch in Zeiten, in denen manche Regierung nicht mehr im selben Maße uneingeschränkt für diese Ziele eintritt. Nationale Interessen und Perspektiven werden in den Hintergrund gerückt zugunsten einer gemeineuropäischen Perspektive, der Suche nach einem Konsens und letztlich einer Gesamtverantwortung für das Organ der Venedig-Kommission und ihrer gemeineuropäischen, ja weltweiten Zwecksetzung der Sicherstellung demokratischer Rechtsstaaten.

Vielfalt und Einheit von Recht und Verfassung in der Europäischen Union und imperialen Ordnungen von

Oliver Jürgen Junge, Stuttgart Inhalt I. Einleitung: Die unklare Rechtsnatur der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Europäische Union als Ordnung sui generis ohne historisches Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Staatsähnlichkeit der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Imperiale Charakteristik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Definition und Abgrenzung imperialer Ordnungen und Gemeinsamkeiten mit der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Ausdehnung imperialer Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Grenzenlosigkeit imperialer Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Vielfalt als Ausgangsbedingung imperialer Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . 56 III. Differenzierte Grundordnung in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . . 60 1. Zentrum/Peripherie-Gefälle in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . 60 2. Vielheit der Verfassungen und Verträge in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union . 64 3. Abgestufte Bürgerrechte in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . 70 IV. Vielheit der Rechtsordnungen und Rechtsangleichung in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Rechtsangleichung in formellen und informellen Imperien und der Europäischen Union . . . . . . . 75 2. Rechtsangleichung und funktionelle Dynamik in wirtschaftlichen Ordnungen wie dem British Empire und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Vielheit und Eigenständigkeit der Rechtsordnungen in imperialen Ordnungen . . . . . . . . . . . . . 80 4. Das Interesse der anderen an der Ordnung, Kultur und Recht des imperialen Verbandes: Freiwillige Rechtsrezeptionen der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 V. Ausblick von imperialen Ordnungen auf die Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

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I.  Einleitung: Die unklare Rechtsnatur der Europäischen Union 1.  Europäische Union als Ordnung sui generis ohne historisches Vorbild Die Rechtsnatur der Europäischen Union ist seit den Römischen Verträgen nicht nur in den Rechtswissenschaften, sondern auch in anderen Sozialwissenschaften Gegenstand kontroverser Debatten und zahlreicher Theorien gewesen. Nach herrschender staats- und völkerrechtlicher Lehre ist die Europäische Union weder eine völkerrechtliche Ordnung – kein Staatenbund und keine internationale Organisation – noch eine staatsrechtliche Ordnung in Form eines Bundesstaates. Meistens wird sie als Zwischenform zwischen Staatenbund und Bundesstaat gesehen. Praktisch allen Theorien, unabhängig davon, ob diese aus der Rechtswissenschaft kommend eher den völkerrechtlichen oder eher den staatsrechtlichen Charakter der Europäischen Union betonen, liegt die Annahme zugrunde, die Europäische Union sei mit vergangenen Ordnungen nicht vergleichbar.1 Da es jenseits des Staatenbundes und des Bundesstaates keine historischen Beispiele und deshalb auch keine weiteren Kategorien politischer Ordnungen gebe („tertium non datur“), handele es sich bei der Europäischen Union um ein vollkommen neu- und einzigartiges Gebilde – eine Ordnung „sui generis“.2 Basierend auf der Annahme, Europa sei ein nie da gewesenes Phänomen, galt die Suche nach historischen Analogien und vergleichbaren Ordnungen bald als obsolet. Insbesondere in den politischen Wissenschaften wurden neue Integrationsmodelle entwickelt. Die Europäische Union verkörpert darin stets so etwas wie den Prototyp einer neuen Ordnung. So ist die Europäische Union u.a. als supranational,3 als neo-funktionalistisch,4 als intergouvernemental,5 als Zweckverband,6 als Staatenverbund,7 als Staatenverband,8 als Staatenverein, als multilevel constitutiona Vgl. G. Preyer, Konstitutiver Liberalismus als soziale Ordnung der Europäischen Union, Rechtstheorie 40 (2009), 493: „ohne historisches Vorbild.“; S. Griller, Der „Sui Generis Charakter der EU“, in: W. Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende, Wien 2004, S.  14; T. Schmitz, Integration in der supranationalen Union, Baden-Baden 2001, S.  65 ff.; G. Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, S.  985 ff. 2   Vgl. hierzu P. Fischer, Die EU – Eine autonome Rechtsgemeinschaft?, in: W. Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende, Wien 2004, S.  4 f.; kritisch hierzu Jonescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, 2016, S.  20 ff. 3   P. Saladin, Wozu noch Staaten?, Bern 1995, S.  73; H.-J. Seeler, Die Legitimation des hoheitlichen Handelns der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union, EuR 1998, S.  721 ff.; vgl. R. UerpmannWitt­zack, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd.  1, 6.  Aufl., München 2012, Art.  23 Rn.  7 ff. Entsprechend spricht auch das Bundesverfassungsgericht von Supranationalisierung, BVerfGE 123, 267 (356) – Lissabon [2008]. 4   E. B. Haas, The Uniting of Europe. Political, Social and Economic Forces, 1950–57, Stanford 1958; ders., Beyond the Nation-State: Functionalism and International Organization, Stanford 1964; D. Mitrany, The Prospect of European Integration: Federal or Functional, Journal of Common Market Studies 4 (1965), S.  119 ff.; ders., The Functional Theory of Politics, New York 1976. 5   A. Moravcsik, Negotiating the Single European Act. National Interests and Conventional Statecraft in the European Community, in: International Organization 45 (1991), S.  19 ff.; vgl. R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 3.  Aufl., München 2002, S.  202. 6   H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S.  196 ff. 7   BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht [1993]. 8   H. Lecheler, Der Rechtscharakter der Europäischen Union, in: H. P. Ipsen u.a. (Hrsg.), FS zum 1

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lism,9 als Mehrebenensystem,10 als Netzwerkordnung,11 oder als europäischer Verfassungsverbund12 beschrieben worden. Die Schwierigkeiten, die vermeintlich neue, beispiellose Ordnung Europas in ihrer Gesamtheit, in ihrer Komplexität und auch in manch scheinbaren Widersprüchen zu erfassen, bleiben jedoch evident. So viel Richtiges und Hilfreiches diese und andere Begriffe zum Verständnis Europas auch beitragen, zu komplex und differenziert sind die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge in Europa, als dass sie durch Begriffe erfasst werden könnten, die vornehmlich einzelne Strukturmerkmale und einzelne Aspekte eines komplexeren Ganzen zum Ausdruck bringen.13

2.  Staatsähnlichkeit der Europäischen Union Weit verbreitet ist inzwischen auch die Ansicht, dass die Europäische Union, wenn auch neuartig und historisch einzigartig, staatsähnlich, staatsanalog oder vorstaatlich sei.14 Aber auch die heute gängigen Staatsanalogien tragen zum Begreifen der Europäischen Union nur bedingt etwas bei.15 Der Europäische Bundesstaat mag ein langfristiges Ziel oder zumindest eine denkbare Möglichkeit der Europäischen Integration bleiben. Die Europäische Union ist einem Bundesstaat tatsächlich aber weder ähnlich noch nahe. Auch die schrittweise Übertragung weiterer Einzelkompetenzen und Souveränitätsrechte wird daran in naher Zukunft alleine nichts ändern. Richtig ist zwar, dass in den vergangenen fünfzig Jahren im Europäischen Integrationsprozess eine schleichende Annäherung der Europäischen Union an den Staat und seine drei Elemente des Staatsgebiets, des Staatsvolks und der Staatsgewalt16 stattgefunden hat, die sich zum einen in der schrittweisen Übertragung staatlicher Machtbefugnisse auf 180jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, Verfassungsrecht im Wandel der Zeit, Köln 1995, S.  383 f. 9   I. Pernice, Multilevel Constitutionalism in Action, Columbia Journal of European Law 15 (2009), S.  349 ff. 10   M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch, Regieren in dynamischen Mehrebenensystemen, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S.  15 ff.; I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148 (173). 11   K.-H. Ladeur, Europa kann nur als Netzwerk, nicht als Superstaat gedacht werden, in: C. Fran­ zius/F. C. Mayer/J. Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, Baden-Baden 2010, S.  119 ff. 12   I. Pernice, Theorie und Praxis des Europäischen Verfassungsverbundes, in: C. Callies (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, Tübingen 2007, S.  61 ff. 13  Vgl. J. Neyer, Welche Integrationstheorie braucht Europa?, Integration 2007, S.  383. 14   Exemplarisch hierfür T. Oppermann, Nationale Identität und supranationale Homogenität, in: A. Epiney/M. Haag/A. Heinemann (Hrsg.), FS für R. Bieber, Die Herausforderung von Grenzen, BadenBa­den 2007, S.  397: „staatsähnliche supranationale Union“; ähnlich auch T. Schmitz (Fn.  1), S.  178: „jedenfalls bundesstaatliche Züge“; vgl. F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, Berlin 2000, S.  196 ff., 204 ff.; J. Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: O. Due (Hrsg.), FS für U. Everling, Baden-Baden 1995, S.  572 f.; D. Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der Staat 32 (1993), 161 (177 ff.); S. Breitenmoser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, ZaöRV 1995, 979 (991); dagegen jedoch BVerfGE 123, 267 (371) – Lissabon [2008]: „gerade nicht staatsanalog aufgebaut“. 15   W. Loth, Der Weg nach Rom – Entstehung und Bedeutung der Römischen Verträge, Integration 2007, S.  36. 16  Nach G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900, S.  355 ff.

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die Union vollzogen hat und die sich mit der Unionsbürgerschaft und individuellen Rechtsverleihungen zum anderen in rechtlichen Vorformen einer europäischen Staatsbürgerschaft realisiert hat. Im Zuge dessen sind Vorformen einer öffentlichen europäischen Gewalt und einer Rechtsgemeinschaft europäischer Angehöriger mit subjektiven Rechten entstanden, die in Teilaspekten an Staatsgewalt und Staatsvolk erinnern. Eine „souveräne“ europäische Staatsgewalt existiert bis heute jedoch ebenso wenig wie ein „homogenes“ europäisches Staatsvolk. Trotz Unionsbürgerschaft bleiben die Mitgliedstaaten für die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten insbesondere im Hinblick auf Wahlrechte und politische Partizipation weitgehend verschlossen. Eine europäische Bundesstaatsangehörigkeit und ein europäisches Staatsvolk gibt es nicht.17 Obwohl umfangreiche Kompetenzen und Zuständigkeitsbereiche auf die Europäische Union übertragen worden sind, wodurch die Hoheitsgewalt und die Souveränität der Mitgliedstaaten relativiert worden ist, ist die Europäische Union ihrerseits längst noch nicht souverän geworden.18 Selbst im Vergleich zur Verteilung der Hoheitsgewalt in Bundesstaaten fehlen der Europäischen Union wesentliche Kompetenzen, die in föderalen Staaten in der Regel auf die Bundesebene übertragen sind, wie eine eigene Finanzhoheit, die alleinige Kompetenz für Verteidigung und Außenpolitik, eine gemeinsame Armee sowie generell eigene Vollstreckungsorgane und ein physisches Gewaltmonopol. Auch wenn als Gradmesser für die Staatswerdung der Europäischen Union nicht das in föderalen Ordnungen seit jeher fragwürdige Souveränitätsverständnis der herrschenden staats- und völkerrechtlichen Lehre zugrunde gelegt wird, sondern die tatsächliche Kompetenzverteilung in Bundesstaaten und die typische Ausgestaltung der Bundesangehörigkeit, dann existiert eine europäische Staatsgewalt bis heute ebenso wenig wie ein europäisches Staatsvolk. In Anbetracht zunehmender nationaler Gegensätze, sprachlicher und kultureller Heterogenität ist die Konsolidierung zu einem europäischen Staatsvolk und eine weitere Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf die Europäische Union in Richtung einer bundesstaatlichen Zentralisierung auf kurze und mittlere Sicht unwahrscheinlich geworden. Wiedereinsetzende Desintegration und der Austritt weiterer Mitglieder sind faktisch nicht mehr ausgeschlossen. Bei genauem Hinsehen muss die These der Staatsähnlichkeit allerdings noch in einem weiteren Punkt grundlegend in Zweifel gezogen werden: Europa hat nicht nur kein Staatsvolk und keine „souveräne“ Staatsgewalt, sondern auch kein Staatsgebiet. Vor allem letzterer Aspekt ist bis jetzt kaum beachtet worden. Voraussetzung eines Staatsgebietes ist das Bestehen von klaren Grenzen zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen und Hoheitsgewalten.19 Die Europäische Union ist aber keine Ter17  So bereits H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), 10 (28); C. Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, Baden-Baden 2001, S.  32: „Die Unionsbürgerschaft begründet kein umfassendes Status-, Schutz- und Gehorsamsverhältnis, wie es das Verhältnis eines Staates zu seinen Staatsangehörigen kennzeichnet.“ 18   So insbesondere mit Verweis auf die fehlende Kompetenz-Kompetenz bzw. fehlende Organisationshoheit BVerfGE 75, 223 (224; 242) – Kloppenburg [1987]; BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht [1993] und zuletzt auch BVerfGE 123, 267 (349) – Lissabon [2008]; ähnlich auch schon H.-J. Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht. Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, 412 (419); J. Isensee (Fn.  14), S.  574. 19  Vgl. G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd.  I/1, 2.  Aufl., Berlin 1989, S.  127 f.; K. Ipsen, Völkerrecht, 3.  Aufl., München 1990, S.  57; M. N. Shaw, International Law, 3.  Aufl., Cambridge

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ritorialherrschaft.20 Die Europäische Union hat keine für Staaten typischen klaren und festen Grenzen im Sinne von strikten Trennlinien zwischen ihrer eigenen Ordnung und äußeren Ordnungen. Die „Grenzen“ der Europäischen Union sind vielmehr fließend, abgestuft und offen. An den Rändern der Europäischen Union liegen allenfalls „Grenzräume“: Sogar das Recht der Europäischen Union gilt in unterschiedlichem Umfang auch außerhalb ihrer Grenzen in vielen Drittstaaten.21

3.  Imperiale Charakteristik der Europäischen Union Kategorien politischer Herrschaftsgebilde jenseits staatlicher Ordnungen sind den Rechtswissenschaften im Grunde aber fremd. So wird und wurde mit Blick auf den hoheitlichen Charakter der Europäischen Union, durch den diese sich nach herrschender Lehre von völkerrechtlichen Ordnungen unterscheidet, in der Regel schon im Ansatz nur überprüft, ob und inwieweit in Europa Übereinstimmung oder zumindest Ähnlichkeit mit den Merkmalen des Staates bzw. Bundesstaates besteht. Ob die Europäische Union „souverän“ ist, ob sie die „Kompetenz-Kompetenz“ besitzt oder ob staatliche Souveränitätsrechte und Kernkompetenzen auf sie übergegangen sind, gilt als entscheidendes Kriterium dafür, ob es sich schon um eine eher staatsrechtliche oder noch um eine eher völkerrechtliche Staatenverbindung handelt. Jede Kompetenz und jede hoheitliche Funktion werden dabei im Grunde als Alleinstellungsmerkmale des Staates behandelt, als hätte es Macht und hoheitliche Befugnisse in anderen Ordnungen als staatlichen nie gegeben. An diesem Punkt ist der Diskurs allerdings auch mit Blick auf vergangene Ordnungen stets unvollständig geblieben: Neben Staat und Bund sind Imperien und Reiche als internationale Ordnungen durch die Zeiten hindurch bedeutende Kategorien politischer Ordnung gewesen. Die Ausübung von Macht über andere Verbände und Staaten ist für sie immer charakteristisch gewesen. Schon bei flüchtigem Hinsehen fällt deshalb vor allem eine offensichtliche Parallele auf, die die Vergleichbarkeit der Europäischen Union mit imperialen Ordnungen nahelegt. In Wissenschaft und Literatur – auch in der Rechtsprechung des BVerfG – hat sich inzwischen die Charakterisierung der Europäischen Union als supranationaler Verband durchgesetzt: Die Europäische Union wird trotz ihrer erheblichen Heterogenität und trotz ihres Multinationalismus längst nicht mehr einfach als internationale Organisation wahrgenommen, sondern – tendenziell – zutreffend als Herrschaftsordnung erkannt, die im Rahmen ihrer Kompetenzen durch eigene Organe öffentliche Gewalt über die ihr angehörenden Staaten, integrierten Völker und Nationen ausübt.22 Im Kern 1991, S.  138 ff.; S. Breitenmoser (Fn.  14), S.  951 ff. Dieser Grundsatz kennt freilich Grenzen, siehe dazu ausführlich G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, a.a.O., S.  4 41 ff. 20   Anderer Ansicht C. Dorau (Fn.  17), S.  30; A. Schäfer, Die Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, Dornbirn 2003, S.  171 („Das Staatsgebiet der Europäischen Union ist klar umrissen und richtet sich nach den anerkannten Grenzen der Mitgliedstaaten.“); wohl auch H.-J. Blanke (Fn.  18), S.  415. 21  Vgl. E. Greco/N. Tocci/M. Comelli, From Boundary to Borderland: Transforming the Meaning of Borders through the European Neighbourhood Policy, European Foreign Affairs Review 12 (2007), S.  203 ff. 22   So inzwischen auch BVerfGE 123, 267 (356) – Lissabon [2008].

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ist die Europäische Union in den vergangen Jahrzehnten vor allem deshalb als neuartige, nie da gewesene Ordnung betrachtet worden, weil sie diese zwei grundlegenden Charakteristika in sich vereint, von denen man annahm, dass sie sich gegenseitig ausschließen: Einen Universalismus, eine räumliche Ausdehnung und eine damit einhergehende innere Heterogenität und Vielfalt, wie sie nach bekannten ordnungsrechtlichen Kategorien eigentlich nur für internationale Ordnungen ohne hoheitliche Befugnisse und Hoheitsrechte typisch sind; und gleichzeitig dennoch eine Machtfülle hoheitlicher Kompetenzen und Befugnisse, die nach überkommenem völkerrechtlichen Verständnis doch allein staatlichen und bundesstaatlichen Ordnungen vorbehalten war.23 Alle Versuche, diesen vermeintlichen Widerspruch zwischen Vielfalt und Herrschaft aufzulösen, indem man sich entweder versicherte, die Europäische Union sei im Grunde doch eine historisch-kulturell homogene Gemeinschaft mit klaren Grenzen, oder aber sich ihres bloßen Intergouvernementalismus vergewisserte, als übe die Union als abgeleitete Ordnung im Grunde doch gar keine eigene Macht aus, sind – wie sich nun immer klarer zeigt – evident am eigentlichen Kern des Problems vorbeigegangen und ihm ausgewichen. Dabei haben sich Universalismus, Ausdehnung und Vielfalt einerseits sowie Macht und öffentliche Gewalt andererseits auch früher nicht ausgeschlossen, sondern sind wesentliche Charakteristika jeder imperialen Ordnung gewesen. Folgerichtig wurden Imperien ganz ähnlich wie nun die Europäische Union schon immer als „supranationale“ oder „überstaatliche“ Ordnungen beschrieben.24 Die Grundfragen imperialer Herrschaft sind deshalb stets und in besonderer Weise Pluralismusfragen. Die Pluralismusproblematik betrifft im Kern das Verhältnis rechtlicher Einheit und Differenz vor dem Hintergrund sprachlicher, kultureller, religiöser, ethnischer, nationaler und wirtschaftlicher Vielfalt. Die Grundbedingungen des Imperiums und des Europäischen Integrationsprozesses stimmen darin überein. Die Ähnlichkeit dieser Problemstellung verleiht der vergleichenden Untersuchung ihre eigentliche, tiefere Bedeutung. Die Fragestellung, wie zentrale Herrschaftsformen unter den Bedingungen der Vielfalt und der Differenz entstehen, ist ein Teil dieser Frage, die sich Europa heute gleichermaßen stellt, wie sie sich imperialen Ordnungen seit jeher stellte. Wichtiger, drängender aber noch erscheint die Frage, auf welche Weise internationale Herrschaft unter der Bedingung der Vielfalt nicht nur kurzfristig errungen, sondern wie sie auf Dauer und unter Erfüllung ihrer grundlegenden Ideen und Ziele bewahrt und konsolidiert werden kann.25 Der hier zugrunde gelegte Ansatz, Parallelen des Europäischen Integrationsprozesses zu imperialen Ordnungen nachzuvollziehen, stellt die These, dass es sich bei der Europäischen Union um eine vollkommen neuartige Ordnung handele, die mit 23   Siehe etwa G. Thiemayer, Supranationalität als Novum in der Geschichte der internationalen Politik der fünfziger Jahre, Journal of European Integration History 4 (1998), S.  5 ff. 24  Vgl. J. Schatz, Imperium, Pax et Iustitia. Das Reich – Friedenstiftung zwischen Ordo, Regnum und Staatlichkeit, Berlin 2000, S.  28, 32: „Das Reich fußt auf übernationalem Recht“; vgl. auch E. Kotte, „Barbablanca“ und die Wiederkehr des Reiches: Der Reichsmythos im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: P. Nitschke/M. Feuerle (Hrsg.), Imperium et Comitatus, Frankfurt a.M. 2009, S.  241 f.; B. Stollberger-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006, S.  7. 25  Vgl. A. J. Motyl, Thinking About Empire, in: K. Barkey/M. v. Hagen (Hrsg.), After Empire – Multiethnic Societies and Nation-Building, Boulder 1997, S.  28; ähnlich auch J. Schatz (Fn.  24), S.  26.

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vergangenen Ordnungen überhaupt nicht vergleichbar sei, deshalb in Frage. Dieser Ansatz ist dagegen weniger als Widerspruch zu den bisher vorliegenden Theorien der intergouvernementalen, supranationalen, funktionalistischen, konstitutionellen, föderalen oder auch staatsähnlichen Charakteristika der Europäischen Union zu verstehen, sondern vielmehr als deren Ergänzung und Zusammenführung im Kontext komplexer, weit im Raum sich ausdehnender und allmählich erst sich konsolidierender Herrschaftsordnungen mit differenzierten Eigenschaften. In erster Linie befasst sich dieser Beitrag allerdings mit der Frage, welche Rolle das Verfassungsrecht und die Angleichung der Rechtsordnungen bei der Integration imperialer Ordnungen gespielt haben, welche Formen Recht und Verfassungen im Integrationsprozess imperialer Ordnungen angenommen haben, welche Bedeutung der Vielheit und Heterogenität des Rechts dabei zukommt und inwiefern Gemeinsamkeiten mit der ­Europäischen Union und dem Europäischen Integrationsprozess bestehen. Für ein besseres Verständnis der Bedeutung der Vielheit und Einheit des Rechts bei der Integration imperialer Ordnungen ist ein kurzer Überblick über die grundlegenden Charakteristika imperialer Ordnungen und die Gemeinsamkeiten mit der Europäischen Union zunächst jedoch unerlässlich.

II.  Definition und Abgrenzung imperialer Ordnungen und Gemeinsamkeiten mit der Europäischen Union Im Kern zeichnen sich imperiale Ordnungen durch folgende Merkmale aus: Imperien sind nach außen sich ausdehnende, territorial unbegrenzte, deshalb offene und ihrem Selbstverständnis nach universelle, multinationale und kulturell heterogene sowie rechtlich diversifizierte und nur langfristig sich konsolidierende und vereinheitlichende Ordnungen mit mindestens zwei politischen Ebenen, in denen ein zentraler Verband (imperialer Verband) formell oder informell, direkt oder indirekt Macht über andere periphere Verbände und deren Angehörige ausübt.26 Die Europäische Union teilt diese Merkmale – Ausdehnung, Entgrenzung und Grenzenlosigkeit, Universalismus, Vielfalt, Differenzierungen zwischen Zentrum und Peripherie sowie Machtausübung – weitgehend mit imperialen Ordnungen. Gleichzeitig unterscheiden sich Imperien wie die Europäische Union aufgrund dieser Merkmale wesentlich von völkerrechtlichen und (bundes)staatlichen Ordnungen. Betrachtet man den Staat bzw. Bundesstaat nach Maßgabe des Staatsverständnisses G. Jellineks als territoriale sowie durch Staatsangehörigkeit und Staatsgewalt zusammengefasste politische Einheit, sieht man ihn im Grunde als in sich geschlossene Ordnung.27 Der idealtypische Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts – homogen und souverän – ist eine räumlich, kulturell, ethnisch und politisch geschlossene Ord26  Vgl. M. W. Doyle, Empires, Ithaca 1986, S.  19 ff.; C. Tilly, How Empires End, in: K. Barkey/M. v. Hagen (Hrsg.), After Empire – Multiethnic Societies and Nation-Building, Boulder 1997, S.  3; J. Gilissen, La notion d’empire dans l’histoire universelle, in: J. Pirenne/J. Gilissen (Hrsg.), Les grands empires, Brüssel 1973, S.  793; S. Wank, The Habsburg Empire, in: K. Barkey/M. v. Hagen (Hrsg.), After Empire – Multiethnic Societies and Nation-Building, Boulder 1997, S.  45; H.-H. Nolte, 1., 2., 3. Reich – Zum Begriff Imperium, in: ders. (Hrsg.), Imperien. Eine vergleichende Studie, Schwalbach 2008, S.  5. 27   Siehe etwa S. Haack, Verlust der Staatlichkeit, Tübingen 2007, S.  136.

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nung: Territorial geschlossen, weil die Begrenzungsfunktion des Staatsgebiets den Staat räumlich gegenüber der Außenwelt abgrenzt; kulturell und ethnisch geschlossen, weil die Staatsbürgerschaft exklusiv ist und die nach traditionellem Verständnis vorausgesetzte Homogenität des Staatsvolks Individuen und Kollektive ausgrenzt, die seinen Homogenitätskriterien nicht entsprechen; politisch geschlossen, weil die souveräne Staatsgewalt die Rechtseinheit nach innen gewährleistet und keinen rechtlichen Bindungen nach außen unterliegt. Die drei Elemente zeigen den Staat als Einheit nach innen und als Festung nach außen. Nun ist diese im 19. und teils auch im 20. Jahrhundert noch idealtypische Sichtweise auf den Staat bzw. Bundesstaat in der Gegenwart nicht uneingeschränkt aufrechtzuerhalten und auch in der Vergangenheit nie ganz real gewesen. Vor allem die für den Nationalstaat reklamierten Merkmale der Homogenität und der Souveränität sind in der jüngeren Vergangenheit durch internationale Entwicklungen zunehmend relativiert worden. Absolute Kategorien staatlicher Ordnungen sind sie nicht mehr. Noch immer führen sie aber mehr als nur ein Schattendasein in Theorie und Praxis und prägen nach wie vor das Erscheinungsbild des Nationalstaates.28 Im Unterschied zu diesem Staatsverständnis ist das Imperium eine räumlich, ethnisch, kulturell und politisch offene Ordnung: Räumlich offen, weil seine Grenzen, solange es sich ausdehnt und konsolidiert, ungewiss sind und weil es Grenzen nicht im Sinne von Grenzlinien, sondern lediglich im Sinne von Grenzräumen mit abnehmendem Integrationsgrad hat; ethnisch und kulturell offen, weil die Vielfalt der Völker, der Kulturen, Sprachen, Religionen und Ethnien infolge seiner Ausdehnung zu seinem natürlichen Erscheinungsbild gehört; politisch offen, weil dem Imperium in seinem Erweiterungsdrang und seinem Bemühen um Integration äußerer Räume und Völker eine strikte Unterscheidung zwischen Innen und Außen fremd ist und das Imperium seinem Selbstverständnis nach keinen Anspruch auf Souveränität erhebt, sondern in weitem, mitunter aber sehr unterschiedlichem Umfang die Autonomie seiner Mitglieder anerkennt.29 Anders formuliert: Der Staat hat ein Volk in einem geschlossenen Territorium, über das er einheitlich Herrschaft ausübt, das Imperium viele Völker in einem offenen Raum, über die es auf sehr unterschiedliche Weise Macht ausübt. Durch ihren hoheitlichen Charakter unterscheiden sich imperiale Ordnungen gleichzeitig von völkerrechtlichen Ordnungen. Anders als Bündnisse und Organisationen des klassischen Völkerrechts üben imperiale Verbände Macht und hoheitliche Befugnisse in ihren Mitgliedstaaten aus und erlassen auch unmittelbar verbindliche Rechtsakte. Darin unterscheidet sich auch die Europäische Union als „Herrschaftsordnung“ nach überwiegender Ansicht von völkerrechtlichen Staatenverbindungen.30 28   Zum Staat als „politische Einheit“ C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: ders., Positionen, Begriffe, Berlin 1988, S.  141; vgl. ders., Staatsethik und pluralistischer Staat, in: aaO., S.  141 ff. 29   Siehe für das Heilige Römische Reich G. Bührer-Thierry, Centre et Périphéries dans l’Empire Carolingien, in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires, Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008, S.  151 f.; ähnlich auch P. Monnet, Le Saint-Empire entre Regnum et Imperium, in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires: Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008, S.  155 ff. 30  Vgl. S. Breitenmoser, (Fn.  14), S.  985.

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1.  Ausdehnung imperialer Ordnungen und der Europäischen Union Die politischen Gemeinwesen, die als Imperien gelten, waren stets große, weit im Raum sich ausdehnende Ordnungen. Imperial ist im Ausgangspunkt immer eine Politik der Grenzüberschreitung, Grenzauflösung und Grenzverschiebung. Imperiale Integrationsprozesse zeichnen sich nicht nur durch eine nach innen, sondern zunächst immer auch durch eine nach außen gewandte Integration aus. Am Anfang der Entstehung der imperialen Ordnung und ihrer Integration steht die Erweiterung nach außen – meist ohne vorherbestimmten Plan,31 fast immer ohne vorgegebene Grenzen: Das „Außen“ wird Bestandteil des „Innen“, das Nicht-Dazugehörende zugehörig, das Fremde vertraut. Ein Staat, der sich nach außen öffnet und seine Grenzen auszudehnen beginnt, ist kein gewöhnlicher Territorialverband mehr im modernen staats- und völkerrechtlichen Sinne, sondern ein imperialer Staat. Ebenso ist eine Föderation, die sich nach außen ausdehnt, keine gewöhnliche staats- oder völkerrechtliche Föderation, sondern eine imperiale Föderation. Die Erweiterung ist im Kern das Imperiale des Imperiums. Die Integration äußerer Verbände kann freiwillig oder erzwungen sein. Historisch betrachtet ist in imperialen Ordnungen beides der Fall gewesen. Als Form der Entstehung imperialer Ordnungen kannte bereits die Antike neben gewaltsamer Eroberung imperiale Erwerbs- und Erweiterungsvorgänge durch Erbe, Kauf und Übereignung fremder Mächte.32 Die Geschichte der Römischen und Britischen Reiche ist voller Beispiele dafür, dass fremde Völker und deren politische Führungen sich ohne Zwang und Androhung von Gewalt unter die Vormacht der imperialen Ordnung begaben. Die britische Herrschaft beruhte im Laufe des 18. Jahrhunderts in nahezu allen Überseebesitzungen auf dem Prinzip der Übereinkunft („government by consent“) und nicht auf Zwang.33 Zu einseitig ist deshalb die Annahme, dass der teils Jahrhunderte währende Zusammenhalt imperialer Ordnungen allein oder gar vornehmlich auf Zwang beruhte. Die Pluralismusproblematik des Imperiums als internationaler Ordnung ist langfristig durch Suppression und Zwang nicht zu lösen gewesen. Genauso wenig konnte freilich die Pluralismusproblematik der Europäischen Integration auf lange Sicht durch die Freiwilligkeit ihrer Gründungshistorie gelöst werden. Das britische 31   H. Münkler, Imperien, 2.  Aufl., Berlin 2008, S.  21. Siehe dazu m.w.N. auch E. Baltrusch, Außenpolitik, Bünde und Reichsbildung in der Antike, München 2008, S.  164 f.; H. Triepel, Hegemonie, 2.  Aufl., Aalen 1961, S.  313. 32   Siehe dazu R. A. Billows, Kings and Colonists. Aspects of Macedonian Imperialism, Leiden 1995, S.  25; E. Baltrusch (Fn.  31), S.  151; B. Holtheide, Römische Bürgerrechtspolitik und römische Neubürger in der Provinz Asia, Freiburg 1983, S.  5. Vgl. auch M. W. Doyle (Fn.  26), S.  45: „Empire, then, is a relationship, formal or informal, in which one state controls the effective political sovereignty of another political society. It can be achieved by force, by political collaboration, by economic, social, or cultural dependence.“ 33   So auch J. Hatschek, Britisches und Römisches Weltreich, München 1921, insbesondere S.  179 f.; vgl. J. P. Greene, Peripheries and Center – Constitutional Development in the Extended Polities of the British Empire and the United States 1607–1788, Athens 1986, S.  145: „During the eighteenth century, as Black notes and as he has been argued at length in this volume, Britain’s various overseas dominions had been ‚much, if not equally, blessed by the extension of the benefits of government by consent‘. […] To an extraordinary degree, in fact, royal government in the colonies had come more and more to mean government by the elected representatives of the people.“

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Beispiel macht dies sehr deutlich. Ohnehin verlieren die Umstände der Entstehung auf lange Sicht meist an Bedeutung. Der räumlichen Ausdehnung des imperialen Verbandes folgen meist nur schrittweise die Konsolidierung und Verdichtung des Imperiums, seiner Macht und seiner Beziehungen im Innern – teilweise und zeitweise Rückschläge, Rückschritte und Desintegration inbegriffen. Oft bleiben die erweiterten Beziehungen des imperialen Verbandes zu anderen Verbänden zunächst relativ lose, schwach, informell und es dauert lange, bis aus der informellen Dominanz des imperialen Verbandes und den lediglich völkerrechtlichen Bindungen zwischen imperialem Verband und peripheren Einzelverbänden verdichtete, staatsähnliche, letztlich vielleicht sogar staatsrechtliche Beziehungen hervorgehen. Auch innerhalb ein und derselben imperialen Ordnung variiert in der Regel die räumliche und zeitliche Abfolge der Ausdehnungen und Konsolidierungen. Imperien sind deshalb keine einheitlichen, sondern differenzierte Ordnungen. In erster Linie müssen imperiale Integrationsprozesse jedoch als Ausdehnungs- und in zweiter Linie erst als Konsolidierungsprozesse begriffen werden. Gleichbedeutend mit imperialen Ausdehnungs- und Konsolidierungsprozessen kann man auch von Erweiterungs- und Vertiefungsprozessen sprechen – wie im Falle der Europäischen Union und der Europäischen Integration. Wo die Grenzen des Prozesses der „imperialen“ Ausdehnung im Raum liegen, ist von vornherein nicht klar und bleibt meist lange Zeit unklar. Die Ungewissheit über die Grenzen des Imperiums und ein mögliches Ende seiner Erweiterung gehört wie im Fall der Europäischen Union und ihrer Grenzen zur Entstehungsgeschichte fast jedes Imperiums. Die Grenzenlosigkeit ihres Reiches in Zeit und Raum gehörte gewissermaßen zum Selbstverständnis der Römer: Dem Dichter Vergil galt das Römische Reich als „imperium sine fine“ – als Imperium ohne Grenze.34 Die Idee der Grenzenlosigkeit der eigenen Ordnung war untrennbar mit der Entstehung des Imperiums und der Ausdehnung seiner Macht verbunden.35 Dementsprechend hat später auch J. Schumpeter die „Expansion ohne angebbare Grenze“36 als zentrales Charakteristikum imperialer Ordnungen erkannt und seiner Imperialismus-Definition zugrunde gelegt.37

34   P. Vergilius Maro, Aeneis (I 279), in: J. Götte (Hrsg.), Düsseldorf 2000, S.  21: „Hier wird drei Jahrhunderte nun beim Stamme des Hektor bleiben das Reich; dann wird seine Priesterin, Tochter des Königs, Ilia, schwanger von Mars und Mutter von Zwillingssöhnen. Prangend umhüllt vom gelblichen Fell seiner Amme, der Wölfin, führt dann Romulus weiter den Stamm: Die Mauern der Marsstadt baut er auf und nennt nach seinem Namen die Römer. Diesen setze ich weder in Raum noch Zeit eine Grenze. Endlos Reich hab ich ihnen verliehen.“ 35   A. Demandt, Die Auflösung des Römischen Reiches, in: ders. (Hrsg.), Das Ende der Weltreiche. Von den Persern bis zur Sowjetunion, München 1997, S.  38. 36   Imperialismus wird demnach als „die objektlose Disposition eines Staates zu gewaltsamer Expansion ohne angebbare Grenze“ definiert, siehe J. Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen, Tübingen 1919, S.  5. 37   Siehe zur politischen Dimension von Expansion und Ausdehnung des Imperiums und ihren „inneren“ und „äußeren“ Gründen auch H. Münkler (Fn.  31), S.  63 ff.

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2.  Grenzenlosigkeit imperialer Ordnungen und der Europäischen Union Solange imperiale Verbände expandieren, sich ausdehnen und erweitern, haben Imperien keine feststehenden, linienförmigen, klar umrissenen Außengrenzen. Grenzen und ein Gebiet im modernen staatsrechtlichen Sinne hatten in ihrer langen Entstehungs- und Ausdehnungsphase weder das Römische Reich38 noch das Chine­ sische Reich39 noch das Heilige Römische Reich40 oder das British Empire.41 Im Gegensatz zu modernen Territorialstaaten und Nationalstaaten haben imperiale Ordnungen weder feste Grenzen noch ein nach außen feststehendes Gebiet. Imperiale Ordnungen sind in ihrer Entstehungs- und Erweiterungsphase deshalb weder territoriale Ordnungen, die feste räumliche Grenzen haben, noch gleichen Imperien in ihrer zunehmenden Vielfalt nationalen Gemeinschaften, die aufgrund bestimmter Merkmale Grenzen zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen, zwischen Innen und Außen festlegen wollen – und meist auch nicht festlegen können. Im Unterschied zu territorialstaatlichen Grenzen sind die „Grenzen“ imperialer Mächte immer nur vorläufig und im Fluss, nicht selten schnellen Veränderungen unterworfen, variieren graduell und zeichnen sich durch räumliche Abstufungen aus. Als sich ausdehnende, sich erweiternde politische Ordnungen haben Imperien deshalb keine linienförmigen Grenzen im Sinne von Demarkationslinien (border bzw. hard, exclu­ sionary boundaries), sondern allenfalls Grenzgebiete im Sinne von lediglich teilweise bzw. schwächer integrierten Grenzräumen (borderland/border-region). Sie lassen nur ein ungefähres, aber kein exaktes Ende der imperialen Ordnung und der imperialen Gewalt erkennen. Strikte Barrieren für Handel und Freizügigkeit sind imperiale Grenzräume in aller Regel nicht. Für die Europäische Union ist neben der inneren Integration – der Vertiefung – bis heute immer auch die äußere Integration – die Erweiterung – charakteristisch gewesen. Dadurch erhält die Europäische Union in erster Linie ihre imperiale Charakteristik. Die Europäische Integration ist von Anfang an ein auch nach außen gewandter, dabei stets internationaler bzw. supranationaler Integrationsprozess gewesen und   Siehe für das Römische Reich E. Meyer-Zwiffelhoffer, Imperium Romanum. Geschichte der römischen Provinzen, München 2009, S.  14; J. Richardson, The Language of Empire – Rome and the Idea of Empire from the Third Century BC to the Second Century AD, Cambridge 2008, S.  88 f.; E. Baltrusch (Fn.  31), S.  35; J. Schatz (Fn.  24), S.  62. 39   Siehe für das Chinesische Reich T. Klein, China – Das Imperium der Quing und sein Erbe (17.– 20. Jahrhundert), in: H.-H. Nolte (Hrsg.), Imperien, Eine vergleichende Studie, Schwalbach 2008, S.  45 ff., 49. Ansätze zu Grenzen im Sinne von Demarkationslinien entstanden zunächst lediglich im Norden Chinas gegenüber der heutigen Mongolei als Sicherheitsbarriere vor nomadischen Reitervölkern und wohl auch zur Kontrolle des Handels. Erst wesentlich später entstand schließlich gegenüber dem russischen Imperium auch eine anerkannte Grenze. Der Vertrag von NerČinsk (1689) gilt demnach als erste akzeptierte „Territorialgrenze“, die „beide Seiten als gleichberechtigte Partner erscheinen ließ“. 40   Siehe für das Heilige Römische Reich G. Bührer-Thierry (Fn.  29), S.  151; siehe auch J. Smith, Confronting Identities: the Rhetoric and Reality of Carolingian frontier, in: W. Pohl/M. Diesenberger (Hrsg.), Integration und Herrschaft, Wien 2002, S.  169–182. 41   Siehe für das British Empire P. Wende, Das britische Empire. Geschichte eines Weltreichs, München 2012, S.  3, der auf das „Fehlen eindeutiger Grenzen“ hinweist. Die Grenzen des Empire seien vielmehr „fließend“ gewesen, sie „trennten keine gleichberechtigten politischen Einheiten“, sondern stellten eher „Abstufungen von Macht und Einfluss“ dar. 38

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ist dies trotz in ihrem Innern fortschreitender Vertiefung und Konstitutionalisierung sowie zwischenzeitlicher Desintegration im Grunde auch bis heute geblieben. Die Europäische Union integriert äußere Staaten und Nationen, indem sie diese als Mitglieder aufnimmt, aber auch indem sie mit Drittstaaten internationale Verträge, Assoziierungsverträge und andere Abkommen schließt. Eine nationale Idee, eine natio­ nale Identität und vorherbestimmte Grenzen haben Europa und die Europäische Union nie gehabt. Solange sich die Europäische Union im Erweiterungsprozess befindet, aber auch solange sie anstelle der formalen Erweiterung ihres Mitgliederkreises ihren Raum zumindest teilweise öffnet und offen hält, indem sie durch Assoziierungen und Partnerschaften abgestufte und partielle Formen der Teilnahme an ihrem Wirtschaftsraum und ihrer Rechtsordnung auch über den Kreis ihrer formalen Mitglieder hinaus zulässt und ausdehnt, hat sie nach außen keine klar definierten und scharfen Grenzen im Sinne von Barrieren zwischen unterschiedlichen Rechts- und Verfassungsräumen, zwischen einander verschlossenen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Räumen. Die „Grenzen“ der Europäischen Union sind fließend, abgestuft, offen und unklar.42 Starre rechtliche und politische Grenzen zwischen EU-Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern im Sinne des Völkerrechts, d.h. Grenzen im für Staaten gebräuchlichen Wortsinne – begriffen als Grenz- und Trennlinien, an denen die Rechtsordnung und Hoheitsgewalt eines Hoheitsträgers uneingeschränkt enden und die eines anderen Hoheitsträgers ohne Einschränkung beginnen – gibt es an den Rändern der Europäischen Union nicht. Im gesamten Geltungsbereich des EURechts sind lediglich räumliche Abstufungen der Rechtsgeltung und der Hoheitsgewalt der Union, aber keine klaren Grenzen mehr zu identifizieren.43 An den Rändern der Europäischen Union und in seiner Peripherie liegen deshalb allenfalls „Grenzräume“. Schon innerhalb der Europäischen Union zeichnen sich immer deutlicher rechtlich-politische Abstufungen und eine differenzierte Integrationsdichte ab – wichtigstes, aber nicht das einzige Beispiel ist die Währungsunion. Dieses Integrationsgefälle setzt sich außerhalb der Europäischen Union fort. Keineswegs gilt das „EU-Recht“ nur in Mitgliedstaaten der Union. Eine Abgrenzung der Hoheitsgewalt und der Rechtsordnung der Europäischen Union von ihrer unmittelbaren Nachbarschaft existiert nur graduell, aber nicht grundsätzlich: Das Recht der Europäischen Union gilt in unterschiedlichem Umfang auch außerhalb ihrer Grenzen in vielen Drittstaaten. Hoheitsgewalt und Einfluss üben die Organe der Europäischen Union dadurch auch außerhalb der Grenzen ihrer Mitgliedstaaten aus.44 In teils beträchtlichem Umfang und auf Dauer nehmen Drittstaaten auf Grundlage bilateraler, teils auch multilateraler Assoziierungsverträge gemäß Art.  217 AEUV partiell an der Rechts- und Wirtschaftsordnung der Europäischen Union teil. Drittstaaten werden nicht vollwer42  Vgl. H. Kriesi, Staatsentwicklung, Nationenbildung und Demokratisierung, in: P. Mastronardi/D. Taubert (Hrsg.), Staats- und Verfassungstheorie im Spannungsfeld der Disziplinen, Stuttgart 2006, S.  220; A. Siehr, Entdeckung der Raumdimension in der Europapolitik: neue Formen territorialer governance in der Europäischen Union, Der Staat 48 (2009), 75 (97). Vgl. auch A. Faber, Die Weiterentwicklung der Europäischen Union: Vertiefung versus Erweiterung?, Integration 2007, S.  110 ff. 43  Vgl. U. di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen 2001, S.  68 f.; vgl. hierzu auch U. Battis/J. Kersten, Europäische Raumentwicklung, EuR 2009, 3 ff. 44  Vgl. A. Siehr (Fn.  42), S.  97.

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tig, aber teilweise in die Ordnung der Europäischen Union integriert.45 Regelmäßig beinhalten Assoziierungsverträge, die die Europäische Union mit Nicht-EU-Staaten schließt, Vereinbarungen über die dauerhafte und unmittelbar verbindliche Geltung von EU-Recht oder zumindest dem EU-Recht entsprechenden oder ähnlichen rechtlichen Standards auch über das „Gebiet“ der EU-Mitgliedstaaten hinaus in den assoziierten Drittstaaten. Auf Grundlage der Assoziierungsverträge können Assoziierungsorgane auch unmittelbar verbindliche Sekundärrechtsnormen und Entscheidungen erlassen.46 In vielen Fällen enthalten Assoziierungsabkommen Regelungen, deren Wortlaut identisch ist mit Bestimmungen der EU-Verträge. Rechtstechnisch häufiger sind Bezugnahmen oder Verweisungen auf Normen und Kapitel des EURechts.47 In anderen Fällen enthalten Assoziierungsverträge modifizierte, teils abgewandelte, teils abgeschwächte Formen EU-rechtlicher Normen und Standards. Im Fall „Demirel“ hat der EuGH die „teilweise Teilnahme am Gemeinschaftssystem“ deshalb als Grundmerkmal der Assoziierung hervorgehoben.48 Im Falle des Kooperationsabkommens mit Marokko von 1978 konstatierte der EuGH, dass das bloße Ziel der Zusammenarbeit zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Vertragspartners keine Assoziierung darstelle.49 Auch wenn diese Ansicht des EuGH der langjährigen Assoziierungspraxis nicht in allen Fällen gerecht wird und auch keine ungeteilte Zustimmung von Seiten der Literatur erhält,50 bringt sie doch das Spezifische und eigentlich Charakteristische der Europäischen Assoziierungspraxis insbesondere im Beitrittsprozess und in der unmittelbaren Nachbarschaftspolitik, mit Abstrichen auch der Assoziierungspolitik generell zum Ausdruck. Schon W. Hallstein hatte deshalb bemerkt, dass bestehende Formen der Assoziation von „Freihandel plus ein Prozent bis Mitgliedschaft minus ein Prozent“ reichten.51 Inzwischen muss man mit Blick auf weitgehend assoziierte Staaten einerseits sowie rudimentäre Mitgliedschaften andererseits sogar feststellen, dass manches Nicht-EU-Mitglied in verschiedener Hinsicht weitgehender in das Gemeinschaftssystem der Europäischen Union integriert ist als manche EU-Mitglieder an ihren Rändern. Durch die allmähliche Erweiterung und das Übergreifen ihrer politischen Ordnung, ihrer Rechts- und Wirtschaftsordnung wurden an den Rändern der Europäischen Union schrittweise auch bestehende Barrieren und Schranken für Freizügigkeit, Migration und Freihandel abgebaut. Starre, undurchlässige Zollgrenzen für den 45  Vgl. P. Koutrakos, EU International Relations Law, Oxford 2006, S.  238; J. Klabbers, Völkerrechtsfreundlich? International law and the Union legal order, in: ders. (Hrsg.), European Foreign Policy, Legal and Political Perspectives, Cheltenham 2011, S.  111 f. 46  Siehe S. Vöneky/B. Beylage-Haarmann, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, München 2017, Art.  217 Rn.  5 ff. Zur unmittelbaren Verbindlichkeit von Beschlüssen eines Assoziationsrates siehe EuGH, Rs. C-237/91, Slg. 1992, I-6781 – Kus; EuGH, C-355/93, Slg. 1994, I-5113 – Eroglu. 47  Siehe H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze, EU-Kommentar, 3.  Aufl., Baden-Baden 2012, Art.  310 EGV Rn.  20. Dennoch kann die Auslegung dieser Vertragsbestimmungen im Einzelfall von der Auslegung der EU-Verträge abweichen, vgl. EuGH, Rs. C-162/00, Slg. 2002, I-1049 – PokrzeptowiczMeyer. 48   EuGH, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719 – Demirel. 49   EuGH, Rs. C-18/90, Slg. 1991, I-199 – Kziber. 50  Krit. K. Schmalenbach, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV Kommentar, 5.  Aufl., München 2016, Art.  217 AEUV Rn.  8. 51  Zit. W. Hallstein nach H. Keller, Rezeption des Völkerrechts, Berlin 2003, S.  222.

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Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sind in den vergangenen Jahrzehnten im Verhältnis zu vielen Nachbar- und auch sonstigen Drittstaaten beseitigt oder reduziert worden. Verteidigungs- und Wehrgrenzen sind die nationalen Staatsgrenzen im Verhältnis zu den meisten angrenzenden Drittstaaten, mit denen bereits Assoziierungen, Partnerschaften und internationale Bündnisse bestehen, ebenfalls nicht mehr. Eine scharfe Trennung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern der Union, zwischen integrierten und nicht-integrierten Staaten, zwischen Innen und Außen in Europa ist deshalb praktisch kaum mehr und immer weniger möglich. Ebenso wenig verlaufen an den Rändern der Union klare Trennlinien zwischen einheitlichen Kultur- und Sprachräumen, zwischen unterschiedlichen Ethnien oder Nationen.

3.  Vielfalt als Ausgangsbedingung imperialer Ordnungen und der Europäischen Union Heterogenität und Pluralismus sind die unvermeidliche Folge der Ausdehnung imperialer Verbände.52 Die räumliche Erweiterung des imperialen Verbandes bringt eine Vielfalt und Differenzierung der Kulturen, Nationen, Völker, Stämme, Religionen, Sprachen und Ethnien, aber auch der Rechts- und Verfassungsordnungen mit sich, die das Imperium von allen anderen politischen Herrschaftsordnungen unterscheidet.53 Die aufgrund der Ausdehnung im Raum sich entwickelnde Vielfalt verschiedenartiger Völker, Nationen, Kulturen, Religionen, Sprachen, Ethnien, Wirtschafts- und Rechtsordnungen ist für alle imperialen Ordnungen charakteristisch.54 Imperien haben Menschen und Völker unterschiedlichster Sprachen, Religi Vgl. M. Duverger, Le concept d‘empire, in: ders. (Hrsg.), Le Concept d’Empire, Paris 1980, S.  8.   Siehe für Imperien im Allgemeinen: J. Burbank/F. Cooper, Empires in World History, Princeton 2010, S.  11 ff.; J. Gilissen (Fn.  26), S.  793; F. Clément, Califat abbasside: la circulation du pouvoir selon les Ahkam sultaniyya d’al-Mawardi (XI. siècle), in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires, Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008, S.  199; K. Barkey, Thinking About Consequences of Empire, in: dies./M. v. Hagen (Hrsg.), After Empire – Multiethnic Societies And Nation-Building, Boulder 1997, S.  105; A. J. Motyl (Fn.  25), S.  20; F. Hurlet/J. Tolan, Conclusion, in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires, Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008, S.  248. 54  Siehe für das Seleukidenreich L. Capdetrey, Le royaume séleucide: l’empire impossible?, in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires, Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008, S.  60. Siehe für das Römische Reich E. Meyer-Zwiffelhoffer (Fn.  38), S.  112 ff. Siehe für das Chinesische Reich T. Klein (Fn.  39), S.  38 ff. Siehe für das Reich Karls des Großen und das Heilige Römische Reich G. BührerThierry (Fn.  29), S.  151 f.; vgl. J. Smith (Fn.  4 0), S.  169 ff.; H. W. Goetz, Concepts of Realm and Frontiers from late Antiquity to Early Middleages: some preliminary Remarks, in: W. Pohl (Hrsg.), The transformation of frontiers, Leiden 1996, S.  73–83; P. Monnet, Le Saint-Empire entre Regnum et Imperium, in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires, Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008; vgl. auch M. Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002; E. Kotte (Fn.  24), S.  241 f.; K.-U. Jäschke, Europa und das römisch-deutsche Reich um 1300, Stuttgart 1999; J. Schatz (Fn.  24), S.  29 f. – Anderer Ansicht für das Heilige Römische Reich A. Demandt, Die Weltreiche in der Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Das Ende der Weltreiche. Von den Persern bis zur Sowjetunion, München 1997, S.  216; siehe für das Imperium der Genueser M. Balard, L’empire génois au moyen âge, in: F. Hurlet (Hrsg.), Les empires, Antiquité et Moyen Âge. Analyse comparée, Rennes 2008, S.  188 ff. Siehe für das British Empire David Armitage, The British Conception of Empire in the Eighteenth Century, in: F. Bosbach/H. Hiery (Hrsg.), Imperium/Empire/Reich – Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen 52

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onen, Sitten, Gebräuche und Ethnien integriert, haben hochdiversifizierte Wirtschafts- und Währungsräume ökonomisch miteinander verflochten, haben Räume mit geographisch und klimatisch unterschiedlichsten Bedingungen unter dem Dach einer politischen Ordnung zusammengefügt. Naturvölker waren neben alten Kulturnationen Teile imperialer Ordnungen. Arbeitsteilige Industriegesellschaften und Wirtschaftsräume auf höchstem technologischem Stand gehörten neben einfach strukturierten Agrargesellschaften und nomadischen Reitervölkern zu imperialen Ordnungen. Vielfalt und Einheit sind ihrem Wesen nach keine absoluten, sondern lediglich relative Maßstäbe. Wenn imperiale Ordnungen als vielfältig bezeichnet werden, gilt dies also immer nur in Relation zu anderen politischen Ordnungen und Modellen. Während im Verhältnis imperialer zu internationalen Ordnungen von einem vergleichbaren Grad an Vielfalt gesprochen werden kann, unterscheidet sich das Imperium durch seine außergewöhnliche Vielfalt insbesondere vom Staat – vor allem vom Nationalstaat. Wenn C. Schmitt sagt, dass der „Staatsbegriff der eigentliche Feind des Reichsbegriffs“ sei, dann meint er in erster Linie diesen Gegensatz von Reich und Nation, von Imperium und Nationalstaat.55 Das Imperium ist weder vorrechtliche noch rechtliche „Einheit“. Es ist nicht ein einheitliches Ganzes, sondern ein vielfältiges Ganzes aus einzelnen Teilen – mit je unterschiedlichen politischen und rechtlichen Beziehungen zueinander.56 Wäre „Ordnung naturgemäß Einheit“57, dann wären Imperien wohl überhaupt keine Ordnungen. In der paradigmatischen Vorstellung von Ordnung als Einheit kommt bei genauem Hinsehen aber ein eher neueres politisches und verfassungsrechtliches Denken zum Vorschein, das sich bei genauer Betrachtung stärker erst im Zuge der Entstehung moderner Nationalstaatlichkeit durchzusetzen beginnt.58 Das Heilige Römische Reich war, selbst als es den Beinamen „deutscher Nation“ erhalten hatte, noch bis zu seiner Auflösung 1806 weit davon entfernt, eine Einheit zu sein.59 Sogar in europäischen Territorialstaaten des 18. Jahrhunderts, selbst in europäischen Nationalstaaten Vergleich, München 1999, S.  107; A. Demandt, a.a.O., S.  220; siehe für das Habsburger Reich S. Wank (Fn.  26), S.  50. 55   C. Schmitt, Reich-Staat-Bund, in: ders., Positionen und Grundbegriffe, Berlin 1988, S.  219; vgl. auch ders., Der Reichsbegriff im Völkerrecht, in: ders., Positionen und Begriffe, Berlin 1988, S.  303; vgl. H.-H. Nolte, War die Sowjetunion ein Imperium?, in: ders. (Hrsg.), Imperien, Eine vergleichende Studie, Schwalbach 2008, S.  76: „Imperium macht vor allem Sinn als Gegenbegriff zur Nation.“ 56   Siehe allgemein für das Römische Reich J. Richardson (Fn.  38), S.  116; vgl. M. W. Doyle (Fn.  26), S.  9 0. Siehe für das Heilige Römische Reich J. Schatz (Fn.  24), S.  28; vgl. P. Monnet (Fn.  54), S.  180. Siehe für das British Empire A. N. Porter, From Empire to Commonwealth of Nations, in: F. Bosbach/H. Hiery (Hrsg.), Imperium/Empire/Reich – Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999, S.  168; vgl. J. P. Greene (Fn.  33), S.  75. 57  Zit. S. Haack (Fn.  27), S.  111; vgl. K. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, Heidelberg 1935, S.  9 ff. 58   Zum Aspekt der verfassungsrechtlichen Einheit („Grundsatz der Einheit der Verfassung“) BVerfGE 1, 14 (32) – Südweststaaten [1951]; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, München 1977, S.  131; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20.  Aufl., Heidelberg 1995, S.  27 f.; P. Badura, Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des BVerfG, Bd.  2 , Tübingen 1976, S.  2 ff.; F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 2.  Aufl., Berlin 2007. Dass die rechtliche Grundordnung eines Staates lediglich auf einer einheitlich geltenden und nicht auf verschiedenen, unterschiedlichen Verfassungen beruht, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt. 59  Vgl. J. Schatz (Fn.  24), S.  269 ff.

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des 19. Jahrhunderts gab es noch nicht annähernd jenes paradigmatische Einheits­ ideal, das sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt hat und zeitgenössische Staaten wie auch Bundesstaaten prägt. Moderne staatsrechtliche Idealvorstellungen von staatlicher Ordnung als möglichst vollkommener Einheit stehen also nicht in der Tradition eines zeitlosen, allgemeingültigen Begriffs politischer Herrschaftsordnungen. Selbstverständlich hat es Prozesse der Angleichung, der Vereinheitlichung und Einheitsbildung auch in imperialen Ordnungen gegeben – allerdings anders und in weit geringerem Maße als dies unter Zugrundelegung zeitgenössischen Staatsverständnisses der Fall ist. Einheitsbildung ist in entstehenden imperialen Ordnungen niemals etwas vergleichbar Absolutes, niemals etwas ähnlich Vollkommenes gewesen wie im modernen Nationalstaat, vielmehr ein „dialektischer Prozess von Vereinheitlichung im Großen und Ausdifferenzierung im Kleinen.“60 Imperiale Formen der Einheitsbildung waren eher partiell als umfassend, eher punktuell als ganzheitlich. Entsprechend waren imperiale Machtausübung und Verwaltung insgesamt eher indirekt als direkt;61 eher schwach als stark.62 Unmittelbare Verwaltungsstrukturen waren für Imperien eher die Ausnahme als die Regel. Imperien sind dementsprechend keine Einheiten im Sinne eines monolithischen Ganzen, sondern aus Teilordnungen bestehende Ordnungssysteme mit einzelnen, punktuell einheitsstiftenden Verbindungen. Das Spezifische imperialer Ordnung als Ganzes ist mindestens so sehr die Vielfalt ihrer Struktur und Organisation wie die Einheit ihrer Ordnung als Ganzes.63 Als Herrschaftsinstrument und Form imperialer Machtausübung haben gezielte Differenzierungen und Unterscheidungen in imperialen Ordnungen eine ebenso starke Tradition wie Einheitsbildung und Vereinheitlichung. Als Inbegriff differenzierter Herrschaftsform verkörpert das imperiale Motto „divide et impera“ schlagwortartig diesen grundlegenden Gegensatz zu modernen Konzeptionen nationaler Einheit und der Einheitsbildung des Staates.64 „Divide et impera“ versteht Ordnung, wenn erforderlich und opportun, ebenso als Teilung wie als Einheitsbildung. Wo Einheitsbildung nicht möglich oder sinnvoll erscheint, setzt imperiale Politik auf Trennung statt Zusammenfügung, versteht das Imperium Ordnung auch als Differenzierung statt Gleichbehandlung. Imperien sind deshalb keine vollkommenen oder absoluten, sondern lediglich relative Einheiten, oft aber auch weitgehend differenzierte und heterogene politische Systeme. Die Frage, ob die Europäische Union eine Einheit ist oder die Vielfalt bewahrt, wie auch die Frage, ob, in welchen Bereichen und wie viel Einheit Europa braucht,  Zit. R. Bollmann, Lob des Imperiums, 2.  Aufl., Berlin 2006, S.  176.   Siehe generell für Imperien M. Duverger (Fn.  52), S.  11; C. Tilly (Fn.  26), S.  3; vgl. auch I. Geiss, Great Powers and Empires, in: G. Lundestad (Hrsg.), The Fall of Great Powers – Peace, Stability, and Legitimacy, Oslo 1994, S.  35; vgl. auch A. N. Porter (Fn.  56), S.  174 f.; S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, 2.  Aufl., Toronto 1967, S.  15 ff.; F. Hurlet/J. Tolan (Fn.  53), S.  245; siehe für das Heilige Römische Reich auch A. Gotthard, Das Alte Reich, Darmstadt 2003, S.  6. 62  Vgl. H. Münkler (Fn.  31), S.  94. Vgl. auch I. Geiss (Fn.  61), S.  35. 63  Vgl. M. Duverger (Fn.  52), S.  10: „Dans l’ensemble impérial, l’organisation des peuples est aussi variée que l’organisation de l’espace. Elle oscille partout entre deux exigences contraires et complémentaires: celle de la diversité, celle de l’unité.“ 64   Vgl. dazu H. Isernhagen, The regulation of conflict, or: Territory, order, power – On the imperiousness of cultures (A provisional polemic), in: J. G. Blair/R. Wagnleitner (Hrsg.), Empire, American Studies, Tübingen 1997, S.  55. 60 61

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gehören zweifellos zu den Grundfragen ihres politischen und rechtlichen Wesens. Auch die Europäische Union ist nach wie vor in vieler Hinsicht eher vielfältig als einheitlich, auch die europäische Rechtsordnung und sogar die europäische Verfassung sind vielmehr differenziert als einheitlich.65 Europa und die Europäische Union basieren somit schon im Ausgangspunkt auf völlig anderen Prämissen als der Staat nach klassischem Verständnis und insbesondere der Homogenitätslehre C. Schmitts. Kulturelle Homogenität oder gar eine kollektive Identität waren nicht die Grundlage der Europäischen Integration.66 Ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit oder gar kulturellen Einheit hat es nie gegeben.67 „Einen Mythos Europa sollte es nicht geben, jedenfalls nicht mit einem Nationalstaat bisheriger Prägung, den der Zusammenschluss Europas zu überwinden sich anschickte.“68 Kulturelle Einheit war auch später nicht das Ziel dieses Prozesses. Im Grunde ging es stets um eine politische, wirtschaftliche und rechtliche Einigung, aber keineswegs in allen Bereichen. Der Versuch, als zentrales kulturelles Projekt eine eigene europäische Geschichte zu schreiben, ein europäisches Nationalbewusstsein zu begründen oder einen nationalen Mythos zu erfinden, „fehlt in auffälliger – und beabsichtigter – Weise.“69 Die Offenheit seiner Grenzen und seines Raumes, die Unklarheit seiner Bürgerschaft und seiner kollektiven Identität prägen nach wie vor das Wesen des europäischen Integrationsprozesses. Die Europäische Einigung war von Anfang an ein Projekt politischer und wirtschaftlicher Eliten, die durch die Verwirklichung eines einigen, nicht aber einheitlichen Europas strategische Ziele und Zwecke verfolgten.70 Dazu gehörte zum einen die Schaffung eines einheitlichen Wirtschafts- bzw. Freihandelsraumes, der allmählich durch die Europäischen Gemeinschaften realisiert wurde, zum anderen die Verankerung und Sendung verfassungsrechtlicher Grundprinzipien und Werte (Art.  2 EUV), die zunächst durch Europarat, EMRK und EGMR und erst später mehr und mehr auch durch die Europäische Union realisiert werden sollten. Durch die bis heute andauernde Erweiterung der Europäischen Union sind die kulturelle Vielfalt, insbesondere die sprachliche und die wirtschaftliche Heterogenität sowie die nationalen Gegensätze innerhalb der Europäischen Union immer größer geworden. Als „geschlossenes Gemeinwesen“ – kulturell, rechtlich und politisch, aber auch territorial – kann der Staatsbegriff diese Spannungsfelder nicht erfassen. Die „Internationalisierung wirft keine Einheits-, sondern Pluralismusprobleme“ auf.71 Das gilt für 65  Siehe zur Vielfalt bzw. Heterogenität Europas J. Zielonka, Europe as Empire, Oxford 2006, S.  65 ff. 66  Vgl. W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, Düsseldorf 1969, S.  16: „Das System souveräner Nationalstaaten hatte seine ‚Gültigkeit‘ verloren, weil es die einzige Prüfung nicht bestanden hat, die im 20. Jahrhundert wahrhaft verbindlich war: es hat sich als unfähig erwiesen, den Frieden zu wahren.“ 67  Vgl. A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), 156 (185 f.). 68  Zit. G. Nicolaysen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, in: O. Due (Hrsg.), FS für U. Everling, Bd.  II, Baden-Baden 1995, S.  957. 69  So J. W. Meyer, Die Europäische Union und die Globalisierung der Kultur, in: ders. (Hrsg.), Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M. 2005, S.  174 ff. 70  Siehe insbesondere M. Haller, Die europäische Integration als Elitenprozess. Das Ende eines Traums?, Wiesbaden 2009; ders., Die europäische Integration als Elitenprojekt, APuZ Nr.  23–24, 2009, S.  18 ff. 71  Zit. O. Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates? – Eine deutsche Perspektive: Von der Staatstheorie zur Theorie der Herrschaftsformen, EuGRZ 2004, 370 (376).

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die „Europäisierung“ und „Supranationalisierung“ wie für jeden internationalen Verband, der Macht über andere Verbände ausübt. Mit den Souveränitäts-, Homogenitäts- und Einheitsparadigmen des Staats- und Demokratieverständnisses von J. Bodin bis C. Schmitt können diese Probleme schon im Ansatz nicht erklärt und erfasst werden. Von Vereinheitlichung und Homogenität in Europa zu sprechen mag deshalb nicht generell falsch sein. Dass der Integrations- und Vertiefungsprozess zu Vereinheitlichung in bestimmten Bereichen führt und dass der formale Erweiterungsprozess der Union auch die rechtliche Grundordnung sowie die wirtschaftliche Ordnung und Leistungsfähigkeit betreffende Homogenitätsanforderungen stellt, steht außer Frage. Pauschal von Homogenität oder allgemein von kultureller Homogenität zu sprechen, wird Europa jedoch nicht gerecht. Aspekte der Einheitsbildung bleiben für den Europäischen Integrationsprozess nur begrenzt charakteristisch. Die Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen des Europäischen Integrationsprozesses und imperialer Ordnungen stimmen darin überein. Von der Integration staatlicher und bundesstaatlicher Ordnungen unterscheiden sie sich dagegen wesentlich.

III.  Differenzierte Grundordnung in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union 1.  Zentrum/Peripherie-Gefälle in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union Der räumlichen Ausdehnung des imperialen Verbandes folgen meist nur schrittweise die Konsolidierung und Vertiefung des Imperiums, seiner Macht und seiner Beziehungen im Innern. Oft bleiben die erweiterten Beziehungen des imperialen Verbandes zu anderen Verbänden zunächst relativ lose, schwach, informell und es dauert lange, bis aus der informellen Dominanz des imperialen Verbandes und den lediglich völkerrechtlichen Bindungen zwischen imperialem Verband und peripheren Einzelverbänden verdichtete, letztlich vielleicht sogar staatsrechtliche Beziehungen hervorgehen (s. o. S.  52). Auch innerhalb ein und derselben imperialen Ordnung variiert in der Regel die räumliche und zeitliche Abfolge der Ausdehnung und Konsolidierung. Imperien sind deshalb keine einheitlichen Ordnungen, sondern differenzierte Ordnungen, die sich durch ein Gefälle zwischen imperialem Zentrum und imperialer Peripherie auszeichnen. Dem zentralen Verband (bzw. den zentralen Verbänden) im Kern stehen periphere Verbände am Rande des Imperiums gegenüber. Die Gegenüberstellung von zentralen Verbänden und peripheren Verbänden ist in erster Linie die Beschreibung eines in allen imperialen Ordnungen angelegten und mal mehr, mal weniger ausgeprägten Macht- und Integrationsgefälles.72 Während der Grad der politischen, rechtlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Integration und Angleichung im Zentrum der imperialen Ordnung vergleichsweise hoch   Siehe dazu im Allgemeinen H. Münkler (Fn.  31), S.  17; vgl. auch I. Geiss (Fn.  61), S.  33 ff.; vgl. auch A. J. Motyl (Fn.  25), S.  20; K. Barkey (Fn.  53), S.  105: „[…] in traditional empires the multiplicity of overlapping forms of control and sovereignty, the variously embedded forms of intermediary structures between core and contiguous periphery […]“ F. Hurlet/J. Tolan (Fn.  53), S.  241. 72

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ist, nimmt er in Richtung der imperialen Peripherie ab. Gleichzeitig ist der Grad der Macht und der Machtkonzentration des imperialen Verbandes in den zentralen Verbänden relativ stark und die Verbände im Zentrum sind oft weitgehend oder sogar vollwertig in den imperialen Verband integriert und partizipieren an seinen Organen und Institutionen. Die Macht des imperialen Verbandes in der Peripherie und den äußeren Verbänden nimmt dagegen regelmäßig ab, um sich an den äußeren Rändern des Imperiums allmählich zu verlieren, weil periphere Verbände politisch und rechtlich meist auch nur lediglich teilweise und schwach in den imperialen Verband integriert oder nur lose mit ihm verbunden sind. Während wirtschaftliche Integration und ökonomische Verflechtung, Handel und Arbeitsteilung sich häufig relativ schnell entwickeln und vertiefen können, werden periphere Verbände in die Rechtsordnung, die Legislative, die Verwaltung und die Justiz des imperialen Verbandes deshalb meist nur langsam und schrittweise integriert. Erst allmählich und meist nur langfristig werden auch sonstige kulturelle, sprachliche und religiöse Einflüsse des imperialen Verbandes auf die imperiale Peripherie und umgekehrt sichtbar. Die rechtliche, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Angleichung an den imperialen Verband bleibt in der Peripherie hinter dem imperialen Zentrum zurück. Äußeren Verbänden bleiben deshalb meist weitergehende Autonomie und Selbstverwaltungsrechte als zentralen Verbänden und Mitgliedern innerhalb des Imperiums. Entsprechend geringer sind im Gegenzug allerdings auch die Möglichkeiten peripherer Verbände und ihrer Angehörigen, die Politik des imperialen Verbandes zu beeinflussen und mitzubestimmen. In den imperialen Verband sind sie lediglich teilweise oder nur schwach integriert, partizipieren folglich auch nicht oder kaum am politischen System des imperialen Verbandes. Die Teilhabe an der Macht des imperialen Verbandes, der Zugang zu seinen Ämtern und öffentlichen Funktionen bleibt oft lange Zeit oder sogar dauerhaft Angehörigen des imperialen Zentrums vorbehalten, während sie Angehörigen der Peripherie verschlossen bleiben. Auch die wirtschaftliche und soziale Integration peripherer Bevölkerungsgruppen bleibt solange meist hinter derjenigen des Zentrums zurück. Die Angehörigen peripherer Verbände genießen Freiheit, Freizügigkeit und ökonomische Teilhabe innerhalb des gesamten imperialen Raumes nicht im selben Umfang wie die Angehörigen des Zentrums. Zwar geht die wirtschaftliche Integration der politischen Integration in der Regel voraus und gestattet Teilnahme und Zugang zum imperialen Markt, an seiner Infrastruktur und an seinen sozialen Angeboten früher und in wesentlich weiterem Umfang als an seinen politischen Funktionen und Einrichtungen. Dennoch bleibt neben dem politischen zumeist auch ein wirtschaftliches und soziales Gefälle zwischen Angehörigen zentraler und peripherer Verbände. Im British Empire bildeten die Mitglieder des United Kingdom and Ireland das Macht- und Integrationszentrum des Empire. Schottland, Wales, Irland und Nordirland waren im Verbund mit England weitgehend in den englischen Staat und seine Verfassung inkorporiert worden. In seine Staatsorgane, seine Institutionen und seine Jurisdiktion waren diese Staaten nach und nach integriert worden. Damit ging eine Angleichung der Bürgerrechte in den einzelnen Verbänden des United Kingdom einher. Wahlrechte, Freiheit und Freizügigkeitsrechte der Schotten, Waliser und Iren glichen sich jenen der Engländer an. Ein signifikantes Integrationsgefälle bestand dagegen schon im Verhältnis zu den Kolonien und Besitztümern der Krone: Den

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colonies und dominions of the Crown. Selbst unter den verschiedenen Kolonien variierten der Grad der Machtausübung und Integration, die rechtliche Form und politische Stellung ihrer Beziehung zum Empire noch erheblich. Grob vereinfacht lassen sich folgende Arten unterschiedlicher kolonialer Rechtsstellungen gegenüber dem Zentrum des Empire unterscheiden: Kronkolonien im Sinne reiner Verwaltungsbezirke des Empire, in denen der Gouverneur der Krone weitgehende Hoheitsrechte besaß, insbesondere das Recht, durch Verordnung auch gesetzgeberisch einzugreifen (vor allem in kleineren Kolonien wie Gibraltar oder St. Helena); Kronkolonien mit beschränkter Selbstverwaltung, in denen ein eigener gesetzgebender Rat (council) entweder durch Beschluss der Krone ernannt war oder sich zumindest teilweise oder sogar vollständig durch Mehrheitswahlen konstituierte; Kolonien mit weitgehender Selbstverwaltung, die über eine eigene legislative Versammlung hinaus eine eigene Repräsentativverfassung hatten; und schließlich die großen „weißen“ Selbstverwaltungskolonien – ursprünglich und vornehmlich Siedlungskolonien (Australien, Neuseeland, Kanada, Südafrika, vorher auch die amerikanischen Kolonien). Diese verwalteten sich selbst (Rechtsprinzip der Responsible Government) und unterstanden nur dort, wo imperiale Interessen unmittelbar berührt waren, der Aufsicht des Parliament (Paramount Authority). Auch ihre Verfassung, wenn auch nicht ihr Gebiet, konnten sie schließlich aus eigenem Willen ändern.73 Weitere vielfältige Abstufungen gegenüber den Kolonien ergaben sich im Hinblick auf die formale Rechtsstellung zahlreicher Protektorate und anderer abhängiger Gebiete (protectorates, protected states und mandated territories). Viele andere Staaten und Gebiete wurden darüber hinaus überhaupt nicht formal von London aus beherrscht noch waren sie formal in irgendeiner Form in das Vereinigte Königreich integriert, waren aber dennoch durch Verträge mit dem Empire verbunden und unterlagen in unterschiedlichem Umfang, bisweilen sogar weitgehend seinem Einfluss. Diesbezüglich hat sich die Bezeichnung informal empire durchgesetzt. Ähnliche Differenzierungen und Abstufungen existierten im Römischen Reich. Grundlegend blieb über Jahrhunderte hinweg die Unterscheidung zwischen Bürgergemeinden (cives romani) und Bundesgenossen (socii). Innerhalb dieser beiden Gruppen von Bürgergemeinden und Verbündeten im Imperium gab es ebenfalls weitere Abstufungen. Unter den römischen Bürgergemeinden gab es neben Vollbürgergemeinden lange Zeit Halbbürgergemeinden, die nicht vollständig oder lediglich teilweise in den Römischen Bürgerverband inkorporiert wurden und nur über eingeschränkte Bürgerrechte verfügten (municipia civium Romanorum und municipia sine suffragio). Während die Bürgergemeinden ungeachtet ihres Bürgerstatus und des Grades ihrer rechtlichen Integration auch außerhalb Roms als Bestandteil des römischen Staates (res publica) angesehen wurden, galten die Verbündeten dagegen ursprünglich als Außenstehende. Grundlage der friedlichen Beziehungen (pax) und festen Bündnisse (societas) Roms mit außenstehenden Bundesgenossen und Partnern waren in der Regel Verträge. Dies konnten gleiche oder ungleiche Verträge sein ( foedus aequum oder foedus iniquum). Möglicherweise bestanden die Beziehungen Roms zu äußeren Gemeinwesen teilweise auch auf informeller Basis ohne formal-vertragliche Grund Siehe J. Hatschek (Fn.  33), S.  131 f.

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lage (amicitia).74 Die vertraglichen Beziehungen konnten befristet, aber auch von unbegrenzter Dauer sein. Meist abhängig von der Vorgeschichte und den Umständen des Vertragsschlusses waren sie freundschaftlicher Natur (amicitia) oder auf formale Unterwerfung gerichtet (deditio).75 Je nachdem können verschiedene Formen und Arten vertraglicher Außenbeziehungen unterschieden werden. Die vertraglichen Beziehungen zu formal ungleichen und deshalb auch rechtlich abhängigen Bündnispartnern wurden als civitates stipendiariae bezeichnet. Diese waren Rom untergeben und verfügten nur über eingeschränkte innere Autonomie. Als civitates liberae und civitates immunes wurden dagegen Bündnispartner bezeichnet, denen Rom zwar einseitig Autonomierechte gewährte, die ebenso einseitig aber auch wieder aufgehoben werden konnten. Dagegen galten die civitates foederatae als formal gleichberechtigt. Sie blieben auch in inneren Angelegenheiten autonom.76 Letztlich waren ungeachtet der Feinheiten ihrer jeweiligen Rechtsstellung allerdings alle Bundesgenossen von Rom abhängig. Auch im Falle formal gleichberechtigter Verträge nahm der Einfluss des römischen Zentrums auf die Bundesgenossen mit der Zeit immer weiter zu. Als weitere Differenzierungsform der Reichsorganisation kam gegen Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr. die Provinzialverwaltung hinzu. Erste Provinzen wurden ab 227 v. Chr. Sizilien, Sardinien, Korsika, Illyrien und das keltische Norditalien.77 Vereinfacht kann die Reichsorganisation während 227 bis 89 v. Chr. in vier unterschiedliche Integrationsstufen eingeteilt werden. Im Zentrum des Reiches standen Rom und das in seine res publica ganz oder teilweise inkorporierte römische Bürgergebiet einschließlich seiner Halbbürgergemeinden, darum herum das für sich genommen ebenfalls überaus komplexe und differenzierte bundesgenössische Italien, dann die von Rom eingerichteten, aber jeweils unterschiedlich regierten und organisierten Provinzen und schließlich verschiedene abhängige Bundesgenossen und Klientelstaaten, die auf Grundlage von Freundschaften und Verträgen am geringsten in den römischen Staat integriert waren.78 Entsprechende Abstufungen der Macht und Integrationsstufen, die an das Machtund Integrationsgefälle in imperialen Ordnungen wie dem Römischen und dem Britischen Reich erinnern, zeichnen sich auch in der Europäischen Union seit einiger Zeit immer deutlicher ab: Erstens innerhalb von Währungsunion und Europäischer Union die führende, hegemoniale Stellung einzelner Staaten, insbesondere Deutschlands und traditionell auch Frankreichs als führender Nationen aufgrund ihrer überlegenen Wirtschaftskraft bzw. aufgrund ihrer politischen Autorität als Gründerstaaten und „Integrationsmotor“.79 Zweitens die Währungsunion als zunehmend eigenständige Organisation innerhalb der Europäischen Union, die, obwohl keine eigene Rechtsperson, zunehmend eine Sonderstellung in der Europäischen Union ein74   Ob es im Falle der amicitia und der deditio als Formen römischer Außenpolitik formal geregelte (vertragliche) Grundlagen gab, ist umstritten. Siehe zum Forschungsstand m.w.N. E. Baltrusch (Fn.  31), S.  112, 118, 123 ff. 75   Siehe zu Systematik und Typologie der römischen Bündnispolitik E. Baltrusch (Fn.  31), S.  33 f. 76   Siehe dazu J. Hatschek (Fn.  33), S.  124 f. 77   Siehe dazu E. Baltrusch (Fn.  31), S.  168 f. 78  So E. Baltrusch (Fn.  31), S.  70. 79   Siehe dazu insbesondere C. Schönberger, Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union, Merkur 2012, S.  1 f.; vgl. auch T. Corn, Neue deutsche Illusionen, FAZ v. 2.1.2012, S.  27; J. Joffee, Der „gute Hegemon“, Die Zeit v. 5.1.2012, S.  8.

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nimmt, eigenständig agiert, sich weiterentwickelt, sich vertieft und Entwicklungen auch der Europäischen Union als Ganzes beeinflusst. Drittens die Europäische Union als zentrale Organisation bzw. als zentraler Verband Europas, dessen Grundordnung mehr und mehr verfassungsrechtliche Züge angenommen hat. Ob man die Europäische Union insgesamt als Zentrum Europas betrachtet oder nur die Währungsunion oder sogar nur einzelne, einflussreiche Staaten innerhalb der Währungsunion, ist dabei eine reine Wertungsfrage. Außerhalb der Union – vor allem in ihrer Nachbarschaft – zeichnen sich dagegen mehr und mehr die Umrisse eines informal European Empire ab, zu dem die Europäische Union vielfältige und differenzierte vertragliche Beziehungen unterhält, die eindeutig noch nicht verfassungsrechtlicher oder staatsrechtlicher Natur sind, die in vielen Fällen aber deutlich hegemoniale Züge erkennen lassen. Dazu können gezählt werden erstens periphere Staaten um die Europäische Union herum, die durch den Europarat und durch weitgehende Assoziierungen (EWR/Schweiz) bereits in weitem Umfang mit der Europäischen Union verknüpft und, auch ohne in ihr politisches System integriert zu sein, immerhin aber schon weitgehend in ihren Freihandelsraum und ihre Wirtschaftsordnung integriert sind. Ob Ähnliches künftig auch für Großbritannien gelten wird, ist bis jetzt offen. Zweitens periphere Staaten im Beitrittsprozess, die durch Assoziierungsabkommen allmählich an die Rechtsordnung der Europäischen Union angepasst werden, um ebenfalls formal in diese inkorporiert zu werden. Drittens Staaten, die durch Entwicklungs- und Freihandelsassoziierungen teilweise in die Rechts- und Wirtschaftsordnung der Europäischen Union integriert sind und weiter integriert werden sollen, ohne in absehbarer Zeit formal in die Union inkorporiert werden zu sollen. Dann Staaten, die durch Assoziierungsabkommen und Partnerschaften nur lose mit der Europäischen Union verbunden sowie wirtschaftlich und vor allem politisch und rechtlich nur sehr schwach in die europäische Gemeinschaftsordnung integriert sind. Insoweit kann von einem informal European Empire bzw. von imperialer Peripherie gesprochen werden. Schließlich spielt die Europäische Union inzwischen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung einer zunehmend durch bilaterale Abkommen errichteten globalen Freihandelsordnung.

2.  Vielheit der Verfassungen und Verträge in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union Die kulturelle, sprachliche, religiöse, ethnische und wirtschaftliche Vielfalt imperialer Ordnungen und das sich im Zuge ihrer Ausdehnung entwickelnde Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie wirken sich auch auf die politische und rechtliche Grundordnung des Imperiums aus. Jedes Land, jedes Volk und jede Nation, die Teil des Imperiums sind, haben ihre eigene Kultur und Wirtschaft, haben besondere Bräuche und Eigenheiten. Überall findet der imperiale Verband spezielle Verhältnisse vor und sieht sich mit unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert. Das Recht und die Verfassung des imperialen Verbandes können deshalb nicht einheitlich auf andere Verbände übertragen werden – das Imperium muss trotz Universalismus flexibel und anpassungsfähig bleiben. Gleiches Recht kann „nicht Gebiete umspannen, die unter verschiedenen Himmelsstrichen liegen. Ein anderes Privatrecht, ein ande-

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res Verfassungsrecht wird bald da, bald dort zur Anwendung gebracht werden müssen. Wenn einem imperialen Verband neue Gebiete zufallen, wachsen sie diesem nicht in der Weise zu, dass in dem neuen Gebiet dieselbe Verfassung gelte wie in dem sich ausdehnenden Verband. Das verbieten möglicherweise schon die klimatischen oder geographischen, insbesondere aber die kulturellen Verschiedenheiten.“80 Die rechtliche Grundordnung imperialer Ordnungen ist deshalb nicht einheitlich, sondern ebenfalls heterogen und vielfältig. Das gilt in erster Linie für die internationalen imperialen Beziehungen und Außenrechtsformen imperialer Ordnungen, für die bilateralen Verträge und Abkommen, die der imperiale Verband mit äußeren Verbänden schließt und durch die er diese dominiert, kontrolliert oder zumindest beeinflusst. Für imperiale Verbände gilt „die äußere Ordnung der internationalen Beziehungen in der Regel nur als die Verlängerung ihrer inneren Ordnung“.81 Das spezifisch Imperiale an ihrer völkerrechtlichen Außenrechtsordnung ist infolgedessen die Ungleichheit der tatsächlichen und rechtlichen Beziehungen, die Bevorzugung bilateraler Beziehungen gegenüber multilateralen Partnerschaften und die zentrale Stellung des imperialen Verbandes im Netzwerk der föderalen Beziehungen, die es dem imperialen Verband ermöglicht, nicht nur die Außenbeziehungen als solche, sondern auch die inneren Verhältnisse formal eigenständiger Staaten einseitig und nachhaltig zu beeinflussen. Die Abstufungen und Differenzierungen der föderalen Außenrechtsordnung des imperialen Verbandes, die Folge der bilateralen vertraglichen Erweiterungspraxis sind, lösen sich regelmäßig auch im Prozess der allmählichen Integration und Inkorporation äußerer Verbände in den imperialen Verband nicht auf. Dass es zur formalen Integration und zur Inkorporation äußerer Verbände in den imperialen Verband kommt, ist zwar keineswegs zwangsläufig. Viele Imperien sind auf Dauer informell und damit eher völkerrechtlich als staatsrechtlich geblieben. Wenn es zur formalen Integration kommt und die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie verfassungsrechtliche Züge annehmen, werden diese in der Regel aber nicht in kurzen Zeiträumen vereinheitlicht. Wie die äußeren Beziehungen nicht auf einer vertraglichen Grundlage basieren, beruhen die inneren Beziehungen auch dann nicht auf einer einheitlichen Verfassung. Für die rechtliche Grundordnung imperialer Ordnungen bleibt die Vielheit der Verträge und Verfassungen vielmehr meist auch auf Dauer kennzeichnend. Ihre rechtliche Grundordnung ist sowohl nach außen als auch nach innen vielfältig und differenziert. Vor allem in letzterem Aspekt unterscheiden sich Imperien und die Europäische Union grundlegend von (Bundes)Staaten. Zwar ist und war die Einheit des (Bundes) Staates in kultureller, sprachlicher und religiöser Hinsicht in vielen Fällen unvollkommen. Real ist der Einheitsanspruch des Staates wie des Bundesstaates aber in rechtlicher Hinsicht, vor allem im Verfassungsrecht. Tatsächlich beruhen moderne Nationalstaaten in der Regel auf weitgehend einheitlichen verfassungsrechtlichen Grundordnungen. Im Gegensatz zur oft postulierten, aber nicht selten unvollkommenen kulturellen, sprachlichen und ethnischen Einheit des Staatsvolks ist die Einheit der Rechtsordnung und der Verfassung des Staates kein bloßer Mythos des mo Zit. J. Hatschek (Fn.  33), S.  124, 145.  Zit. M. Duverger (Fn.  52), S.  17; so insbesondere auch für das Römische Reich E. Baltrusch (Fn.  31), S.  21. 80 81

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dernen Nationalstaates. In erheblichem Umfang ist zwar die Einheit der Rechtsordnung in bundesstaatlichen Ordnungen aufgehoben – allerdings nur im Verhältnis der Rechtsordnungen der Gliedstaaten untereinander. Ähnliches gilt für Regionen oder Gemeinden innerhalb staatlicher Ordnungen, wenn ihnen die staatliche Gewalt Autonomie gewährt. Die Einheit der Rechtsordnung des Bundes als übergeordneten staatlichen Verbandes wird durch das bundesstaatliche Kompetenzgefüge und die bundesstaatliche Kompetenzteilung grundsätzlich aber nicht berührt. Entscheidend ist die Einheit der Verfassung des Gesamtstaates. Tatsächlich gehört die Einheit der Verfassung, d.h. die allgemeine und gleiche Geltung des Verfassungsrechts im gesamten Staatsgebiet, zu den elementaren Eigenschaften staatlicher und bundesstaatlicher Ordnungen: Ein Staat – eine Verfassung; bzw. ein Bundesstaat – eine Bundesverfassung. Die Verfassung des Staates gilt allgemein, ist für alle Verbände und Personen im Staatsgebiet gleichermaßen verbindlich und gültig. Dies gilt auch in Bundesstaaten, wo es zumindest auf der Ebene des Bundes nur eine Verfassung gibt. Der Grundsatz der allgemeinen und gleichen Geltung der Verfassung wird in Einzelfällen zwar durchbrochen, wenn z.B. einzelnen Regionen und Bundesländern Autonomierechte und Sonderstatuten eingeräumt werden. Entsprechende Ausnahmen und Autonomierechte gibt es in Zentralstaaten genauso wie in Bundesstaaten (heute z.B. noch in Spanien: Katalonien und Baskenland, aber auch in Italien: Südtirol). Regelmäßig bestehen solche Differenzierungen im Verhältnis zu Gebietsteilen und Volksgruppen, deren Zugehörigkeit zum Staatsverband aus historischen, politischen oder kulturellen Gründen umstritten ist. Die Einheit der Verfassung ist in staatlichen Ordnungen insgesamt dennoch nicht nur der Ideal-, sondern tatsächlich auch der Regelfall.82 In imperialen Ordnungen gibt es dagegen selbst auf höchster rechtlicher Ebene keine einheitliche Grundordnung: Das Imperium hat nicht eine Verfassung, sondern mehrere (Teil-)Verfassungen. Imperiale Föderationen beruhen entsprechend nicht auf einem Bundesvertrag, sondern auf vielen Bundesverträgen. So wird auch das British Empire nicht als ein einheitliches Empire, sondern als Vielheit verschiedener Empires bestehend aus unterschiedlichen Verfassungen beschrieben: „It was well understood throughout the twentieth century that Britain had no single ‚em­pire‘, and that no one concept of rule could be applied to its many different parts. In the years immediately before the First World War, it is possible to distinguish at least three and perhaps even four British ‚empires‘ beneath the umbrella of ‚the British Empire‘. At least in constitutional terms, each one was associated with its own distinct ‚concept of rule‘.“83 „According to the praxis of the extended polity of the British Empire as it had developed during the three-quarters of a century following the Glorious Revolution, there were thus three separate constitutions. First, there was a British constitution for the central state and its immediate dependencies, including Cornwall, Wales, and, after 1707, Scotland. Second, there were separate provincial constitutions for Ireland and for each of the colonies in America. Third, there was an as yet undefined, even unacknowledged, imperial constitution – the constitution of the British Empire – according to the practice of which authority was distributed in an as yet uncodified and not very clearly understood way between the center and the 82  Vgl. dazu C. Möllers, Fragmentierung als Demokratieproblem?, in: C. Franzius/F. C. Mayer/ J. Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, Baden-Baden 2010, S.  151. 83  Zit. A. N. Porter (Fn.  56), S.  168.

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peripheries with Parliament exercising power over general concerns and the local legislatures handling local affairs within their respective jurisdictions.“84

Es ist zwar möglich und hilfreich, ähnliche Typen imperialer Verfassungen und Regierungsformen innerhalb des Empire pauschal zusammenzufassen. Im Grunde galt für jedes Gebiet innerhalb des British Empire aber ein eigenes tatsächliches oder rechtliches Verhältnis zum britischen Zentrum, d.h. ein eigener Vertrag oder eine eigene Verfassung im Verhältnis zum britischen Zentrum.85 Indien beispielsweise, das ursprünglich selbst im 17. und 18. Jahrhundert noch durch hunderte einzelne Verträge, größtenteils zwischen der East India Company und den Mogulherrschern und ihren Nachfolgern geschlossen, mit der englischen Krone verbunden war, wurde seit dem 19. Jahrhundert als vollkommen eigenständiges System regiert. Darüber hinaus unterschieden sich aber auch die imperialen Beziehungen des britischen Zentrums zu allen anderen Gebieten in Übersee teils grundlegend.86 Noch im Rahmen der Imperial Conference von 1926 und des von ihr eingesetzten Inter-Imperial-Relations-Committee konnten sich Forderungen nach einer einheitlichen Verfassunggebung für das Empire nicht durchsetzen. Schon eingangs wendet sich der als Balfour Report bekannt gewordene Abschlussbericht des Komitees grundsätzlich gegen jeden Versuch, dem 84  Zit. J. P. Greene (Fn.  33), S.  67. Der hierbei zugrundegelegte Verfassungsbegriff ist ein anderer als es kontinentaleuropäischer Verfassungstradition seit der Französischen Revolution entspricht – nicht im formalen Sinne einer geschriebenen Verfassung, sondern in der auf Gewohnheitsrecht beruhenden Verfassungstradition des Common Law, siehe ders., aaO., S.  65: „Without as yet having formulated a coherent and fully articulated sense of empire, the British political nation had not, before the 1760s, developed any explicit concept of an imperial constitution. Yet the absence of the concept did not mean that an imperial constitution did not exist or was not being slowly formed through the same evolutionary process that was shaping and reshaping the constitutions of the several entities that composed the British Empire. As Burke would subsequently remark, during the eighteenth century an imperial constitution had gradually evolved out of mere neglect; possibly from the natural operation of things, which, left to themselves, generally fall into their own proper order.“ S.  75: „In this unsettled and uncodified situation, practice was the best, indeed, the only, guide to what was ‚constitutional‘ in relations between center and peripheries within the empire, and, as McLaughlin pointed out in the 1930s, the British Empire ‚as a practical working system‘.“ 85  Vgl. Lord Milner zit. nach J. Hatschek (Fn.  33), S.  22: „Try to lay down any principle of Imperial policy which is not mere platitude and verbiage and you will almost immediately be struck by the fact that, if it is really applicable to one of the great divisions of the Empire, it is inapplicable to the other.“ 86   Insgesamt soll die Britische Krone nach Auflösung der East India Company vertragliche Beziehungen zu 584 indischen Staaten unterhalten haben, so J. F. Poleman, The Indian Princes‘ Treaty Rights. Far Eastern Survey 11 (1942), S.  197. J. MacKenzie, India’s Role in the Victorian Concept of Empire, in: F. Bosbach/H. Hiery (Hrsg.), Imperium/Empire/Reich – Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999, S.  124 f.: „The notion that the Indian Empire was essentially sui generis is confirmed in many other ways. The very phrase the Indian Empire suggested that it was a separate entity with, theoretically, its own system of government, its own foreign policy and its own defense arrangements. […] It is indeed something of truism to suggest that the British Empire was at least four different empires: the territories of white settlement which were later to be termed dominions; the empire of islands and strategic posts in the Caribbean, the Mediterranean, the Atlantic, Indian and Pacific Oceans, and the Far East; the so-called dependent empire of the later nineteenth century, in Africa, South-East Asia and the Pacific; and India with its outriders as described above. Although territories were moved from one imperial network to another, the Indian Empire was ruled as an entirely separate system. With its own ministry, the India Office, in London, with its own Indian Civil Service, there was little exchange of personnel among the various empires.“ Vgl. auch D. Armitage (Fn.  54), S.  97 ff.

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gesamten Empire eine einheitliche Verfassung zu geben. Dagegen spreche bereits dessen heterogene Struktur als Resultat der unterschiedlichen Entwicklungsstufen der einzelnen Reichsteile.87 So gab es bis zuletzt nie eine Verfassung des Empire. Auch im Römischen Reich gab es weder nach Abschluss der Einrichtung von Provinzen im gesamten Mittelmeerraum noch nach Vollendung der Bürgerrechtsverleihungen durch die Constitutio Antoniniana eine einheitliche konstitutionelle Grundordnung des Imperiums. „Weder die Constitutio Antoniniana noch irgendein Kaiser des dritten Jahrhunderts haben die immer noch sehr verschiedenartigen Verfassungen und Gebietsorganisationen im Römischen Reich generell neugeordnet, einander angeglichen oder wenigstens mithilfe von allgemeinen Organisationsvorschriften dem obrigkeitlichen Eingriff zugänglicher gemacht. Wie die Constitutio Antoniniana nicht die Römische Reichs- und Heeresorganisation berührte […], so hat sie in gleicher Weise nicht den indigenen, lokalen Bereich neugestaltet, um über eine stärkere gegenseitige Durchdringung der beiden traditionell getrennten Sphären eine intensivere Verwaltung zu ermöglichen.“88 „Was heute als selbstverständlich erscheint, dass das Staatsgebiet ein klar abgegrenztes, homogenes Territorium ist, traf weder für das Imperium Romanum als Ganzes noch für seine Provinzen zu. Denn das Römische Reich, das sich gegen Ende der Republik als räumlich zusammenhängender Herrschaftsverband etabliert hatte, war ein historisch gewachsenes Konglomerat unterschiedlicher Rechtsbeziehungen zu einzelnen Fürsten, Städten und Völkern. Schon seit der Einrichtung der ersten Provinz in Sizilien (227 v. Chr.) verfügten einzelne Gemeinden und Personengruppen der Provinzialbevölkerung über unterschiedliche Rechtsstellungen gegenüber dem Statthalter. In der späten Republik wie in der Kaiserzeit lassen sich nun zwei zum Teil gegenläufige Tendenzen römischer Herrschaftspraxis erkennen. Auf der einen Seite bemühten sich die römischen Machthaber, diese unterschiedlichen Rechtsstellungen im Rahmen einer Provinzialorganisation zu homogenisieren. Auf der anderen Seite aber bildeten gerade die Privilegierung und Diskriminierung von Gemeinden, Personengruppen und Einzelpersonen ein effektives Herrschaftsmittel, das jedoch den provinzialen Herrschaftsraum wieder heterogener machte.“89 Wie im British Empire können im Römischen Reich zwar generelle Unterschiede und Ähnlichkeiten der einzelnen Vertragsbeziehungen und Gebietsorganisationen festgestellt werden.90 Eine einheitliche imperiale Grundordnung hat es auch im Römischen Reich trotz seiner langen Dauer und seiner weitgehenden individualrechtlichen Integration aber nie gegeben. Das Gleiche gilt für das Heilige Römische Reich. Statt einer einheitlichen Verfassung besaß das Reich „eine Reihe von Grundgesetzen“. Es blieb eine „Verfassungsstruktur mit höchst unterschiedlichen Integrationsformen.“ Das Sacrum Imperium existierte „als Reich der verschiedenen Geschwindigkeiten. Norditalien war de facto längst aus dem Reichsverband ausgeschieden, die Republik der Vereinigten Niederlande und die Schweizer Eidgenossenschaft verließen ihn nach dem Dreißigjährigen Krieg auch de jure. Preußen und Österreich spielten im Reich zwar eine wichtige   Siehe dazu P. Wende (Fn.  41), S.  248 f.  Zit. H. Wolff, Die Constitutio Antoniniana und Papyrus Gissensis 40 I, Köln 1976, S.  113. 89  Zit. E. Meyer-Zwiffelhoffer (Fn.  38), S.  15–35 und vor allem S.  57 f. Ähnlich auch E. Baltrusch (Fn.  31), S.  173 m.w.N.; J. Richardson (Fn.  38), S.  116. 90   Siehe etwa M. W. Doyle (Fn.  26), S.  9 0. 87

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Rolle, regierten gleichzeitig aber große Gebiete wie Ungarn oder Ostpreußen, die dem Reichsverband nicht angehörten. Mittelgroße Territorien wie Sachsen oder Bayern agierten immer unabhängiger. Funktionsfähig blieb der Reichsverband nur, weil die Großen erkannten, dass auch sie von einem Mindestmaß an Integration profitierten. Dazu gehörte mit Gulden und Taler auch ein einheitliches Währungssystem.“91 Eine einheitliche rechtliche Grundordnung gibt es in der Europäischen Union so wenig wie im British Empire, im Heiligen Römischen Reich oder im Römischen Reich und anderen imperialen Ordnungen. Als Strukturprinzip sind unterschiedliche Verfassungen und Verträge für unterschiedliche Mitglieder längst zu einem essentiellen Charakteristikum der rechtlichen Grundordnung der Europäischen Union geworden: „In fact, the legal and institutional discourse in the Union has changed dramatically over the past few years from one of uniformity and harmonization to one of fexibility and differentiation.“ 92 Eine einheitliche Bundesverfassung oder einen Bundesvertrag, der für alle Staaten im Europäischen Integrationsprozess allgemein und gleich gilt, gibt es nicht. Im Gegenteil haben selbst innerhalb der Europäischen Union die Ausdifferenzierungen ihrer föderalen Grundordnung und ihrer unterschiedlichen Rechtsgrundlagen in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter zugenommen. Längst weist der EU-Vertrag mit seinen Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit eines Teils seiner Mirglieder in diese Richtung (Art.  20 EUV). Kennzeichnend dafür ist die Aufspaltung der europäischen Primärrechtsordnung in eine Vielzahl unterschiedlicher Verträge und Protokolle, deren Mitgliederkreis sich von Fall zu Fall unterscheidet.93 Die Verträge über die Währungsunion, ESM, EFSM und EFSF, der europäische Fiskalpakt, die Schengener Abkommen, die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die EU-Grundrechte-Charta – sie alle galten oder gelten immer nur für einen Teil der Mitglieder der Europäischen Union. Ausnahmen für einzelne Mitgliedstaaten finden sich darüber hinaus in vielen einzelnen Bereichen der Primärrechtsordnung. Noch deutlicher sind die föderalen Differenzierungen nach außen. Neben Europarat und EMRK sowie zahllosen bilateralen Assoziierungsverträgen und Abkommen, auf die wesentliche Teile der Primärrechtsordnung der Europäischen Union Bezug nehmen, prägen unterschiedliche multilaterale Beziehungen und Partnerschaften mit jeweils eigenen vertraglichen Grundlagen die 91   Zit. nach R. Bollmann, Heiliges Römisches Europa, FAZ v. 10.11.2012. Ähnlich auch zum Heiligen Römischen Reich J. Schatz (Fn.  24), S.  269 ff.: „Die Vielfalt der im Reich wie in der Kirche verfassten kulturellen, ethnischen und religiösen Formen machte eine monarchische Herrschaft im eigentlichen Wortsinne unmöglich. Sie zwang zu Macht(Ver)teilung, ermöglichte es aber unterhalb des Daches des Reiches, zu neuen Verfassungsformen zu kommen. Dazu wäre ein staatlicher Zentralismus unfähig gewesen. Als die drei wichtigsten verfassungsrechtlichen Sonderbildungen des Reiches sind zu nennen: der hansische Städtebund, das Deutschordensland und die Schweizer Eidgenossenschaft. Was sich aus der Sicht des Westens als ein Festhalten am veralteten Rechts- und Herrschaftsbegriff darstellte, erwies sich in der Nähe und innerhalb des Reiches, trotz und wegen seiner vielfältigen Sonderbildungen, als lebensfähig und zukunftsträchtig. Weil das Reich kein Staat sein wollte und sein konnte, war es eine haltbare Form, welche eine Vielfalt an Herrschaftsformen ermöglichte und diese unter einem gemeinsamen Ideal im Hegelschen Sinne auf hob.“ 92  Zit. J. Zielonka (Fn.  65), S.  148 f. 93  Siehe zum Aspekt der „Fragmentierung“ bzw. „differenzierten Integration“ auch C. Möllers (Fn.  82), S.  160 f. Vgl. J. Zielonka (Fn.  65), S.  120–125.

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integrativen Beziehungen der Europäischen Union nach außen. Besonders eng sind die Schweiz durch bilaterale Verträge und die EFTA-Staaten durch den EWR-Vertrag mit der Europäischen Union verbunden. Hinzu kommen multilaterale Partnerschaften wie Östliche Partnerschaft und Mittelmeer-Union, zudem multilaterale Organisationen wie der Europarat. Lange Zeit vorherrschende Einheitsansätze im Bereich des europäischen Verfassungsrechts sind damit überholt.94 Betracht man allein die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander verschiedener Konstitutionalisierungsprozesse im europäischen Raum, „erweist sich die Rede von Homogenität und politisch-rechtlicher Einheit in der europäischen Mehrebenenordnung rasch als euphemistisch. Schon in politisch-rechtlicher Hinsicht wird man als Unitarist enttäuscht: Statt eines einheitlich verfassten Superstaates finden konkurrierende Konstitutionalisierungsprozesse statt.“95

3.  Abgestufte Bürgerrechte in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union Mit der sich wandelnden und ausdifferenzierenden Grundordnung des Imperiums, die von informellen, föderalen bis hin zu konstitutionellen, staatsähnlichen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie reichen kann, verändern sich in der Regel auch der Status und die Rechtsstellung der imperialen Bürger in Zentrum und Peripherie. Die individuelle Rechtsstellung der Angehörigen peripherer Verbände im Verhältnis zum imperialen Verband entwickelt sich entsprechend der schrittweisen Konsolidierung des Imperiums und der Integration peripherer Verbände in den imperialen Verband meist nur in Stufen. Dies lässt sich beispielhaft an der Ausdehnung des Römischen Bürgerrechts nachvollziehen und trifft auch auf die Entstehung und Erweiterung der Unionsbürgerschaft zu. Die schrittweise Erweiterung des Bürgerverbandes vollzieht sich zunächst nur in Übergangsformen eines vollwertigen Bürgerrechtsstatus. Der vollwertige Bürgerrechtsstatus bleibt zunächst den Altbürgern vorbehalten, während die Neubürger zumindest übergangsweise einen abgestuften, lediglich teilweisen Bürgerrechtsstatus erhalten. Übergangsweise Beschränkungen des vollwertigen Bürgerrechts der Neubürger sind bereits aus den Bürgerrechtsverleihungen an die italischen Bundesgenossen bekannt. Die aristokratische Oberschicht Roms, die um ihre privilegierte politische Stellung innerhalb des römischen Bürgerverbands fürchtete, erkannte zwar, dass sie die personelle Erweiterung des römischen Bürgerverbands auf Dauer nicht verhindern konnte, versuchte aber die „Konsequenzen der Erweiterungspolitik durch bürgerrechtsähnliche Formen abzuschwächen“.96 Als die italischen Bundesgenossen  In diesem Sinne auch A. Fischer-Lescano, Europäische Rechtspolitik als transnationale Verfassungspolitik. Soziale Demokratie in der transnationalen Konstellation, in: C. Franzius/F. C. Mayer/J. Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, Baden-Baden 2010, S.  321 ff. 95  Zit. A. Fischer-Lescano (Fn.  94), S.  322. Vgl. auch J. Zielonka (Fn.  65), S.  125; H. Schneider, Die Zukunft der differenzierten Integration in der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, Integration 2004, S.  259 ff.; P.-C. Müller-Graff, Differenzierte Integration: Konzept mit sprengender oder unitarisierender Kraft für die Europäische Union, Integration 2007, S.  129 ff. 96  Zit. J. Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches, Bd.  2 , Paderborn 1978, S.  4 0. 94

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in den Jahren 90/89 v. Chr. die Verleihung des römischen Bürgerrechts durchgesetzt hatten, erhielten sie zunächst nur ein eingeschränktes Stimmrecht in den Volksversammlungen, um die „Altbürger“ durch eine Veränderung des Stimmengewichts nicht in eine Minderheitensituation zu bringen. Die Stimmrechtsbeschränkungen der italischen Bundesgenossen wurden allerdings bereits im Jahr 88 v. Chr. wieder beseitigt.97 Tatsächlich hatte es aber schon seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. – also lange Zeit vor der Verleihung der civitas romana an die italischen Bundesgenossen – abgestufte Teilrechtsformen des römischen Bürgerrechts gegeben. Nach dem römischen Sieg im Latiner-Krieg (340–338 v. Chr.) wurden einige Stadt-Staaten des ehemaligen Latiner-Bundes mit ihren Angehörigen vollständig in das römische Staatswesen und seine Rechtsordnung integriert, während andere nur beschränkte Rechte und Privilegien im Verhältnis zu Rom erhielten: das sog. ius latii bw. das ius latinum.98 Das ius latinum verlieh seinem Träger unter dem Schutz der römischen Rechtsordnung einen teilweisen Bürgerrechtsstatus. Dieser beinhaltete einen wesentlichen Teil der Freiheitsrechte, die sonst nur römische Vollbürger genossen.99 Politische Mitgestaltung und Partizipation eröffnete das ius latinum dagegen nicht. Seine praktische Relevanz behielt das ius latinum über die Zeit der Ausdehnung des Römischen Reiches hinaus. Noch im Jahr 74 n. Chr. verlieh Vespasian das ius latinum an ganz Spanien und 123 n. Chr. nutzte Kaiser Hadrian das von ihm eigens modifizierte ius latinum maior zur effektiveren politischen Bindung und Integration peregriner provinzialer Eliten.100 So wurden über Jahrhunderte zunächst Vorstufen des römischen Bürgerrechts eingeführt, mit denen die in den römischen Bürgerverband strebenden Menschen zeitweise vom vollen Bürgerstatus ferngehalten wurden und erst allmählich vollwertig integriert wurden.101 Seine Bedeutung verloren das ius latinum bzw. ius latinum minor und ius latinus maior als abgestufte Bürgerrechte faktisch wohl erst infolge der Constitutio Antoniniana im Jahr 212 n. Chr. Dass es als Rechtsinstitut später noch genutzt wurde, ist jedenfalls nicht bekannt.102 Im British Empire hat es einen einheitlichen Bürgerrechtsstatus nie gegeben.103 Ein einheitliches Bürgerrecht hat sich ausschließlich im United Kingdom als Zentrum des Empire herausgebildet. Heterogen und differenziert blieb wie die rechtliche Grundordnung des Empire aber auch der subjektive Rechtsstatus der Bürger in den anderen Teilen des Empire. Schon die Frage, welche Personen und Personengruppen in den Kolonien als British subjects überhaupt Angehörige des Reiches und als aliens fremde Personen ohne Reichsangehörigkeit in den Kolonien des Empire waren, war  So J. Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik, 8.  Aufl., Paderborn 2008, S.  242.   Als vertragliche Grundlage der Sonderrechte der Latiner gilt u.a. der foedus Cassianum – siehe dazu A. Coşkun, Bürgerrechtsentzug oder Fremdenausweisung, Göttingen 2010, S.  32; siehe auch F. W. Walbank (Hrsg.), The Cambridge Ancient History, Bd.  V II/2: The Rise of Rome to 220 BC, 2.  Aufl., Cambridge 1994, S.  269 ff. 99   Siehe umfassend zu den einzelnen Privilegien A. Coşkun (Fn.  98), S.  46. 100  Siehe dazu A. K. Bowman, The Cambridge Ancient History, Bd.  X I: The High Empire A.D. 70–192, 2.  Aufl., Cambridge 2008, S.  139, 364 f. 101   J. Bleicken (Fn.  96), S.  4 0. 102   H. Wolff (Fn.  88), S.  68 f. 103   Darin sieht J. Hatschek (Fn.  33), S.  297, 366 das entscheidende (politische, aber auch moralische) Defizit des British Empire. 97

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in Einzelfällen immer wieder problematisch und umstritten.104 Das Ausland hat die Reichsangehörigen der Kolonien mit den Briten zusammen zwar als Einheit betrachtet und England die völkerrechtliche Verantwortung für diese nach außen wahrgenommen. Aber innerhalb des Empire blieben die subjektiven Angehörigkeitsverhältnisse sogar im Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu den Kolonien uneinheitlich: Allein die Briten verfügten ursprünglich über eine allgemeine Reichsbürgerschaft im Vereinigten Königreich und in den Kolonien. Die Kolonialbriten aus den Kolonien hatten dagegen lediglich eine beschränkt wirkende Reichsbürgerschaft. Ihnen gegenüber waren wiederum die Kolonialbriten aus den großen Selbstverwaltungskolonien privilegiert, ohne aufgrund ihrer Privilegien allerdings über denselben Rechtsstatus wie die Briten zu Hause im Vereinigten Königreich zu verfügen (siehe dazu den British Nationality and Status of Aliens Act von 1914).105 Noch geringer ausgeprägt waren die Bürgerrechte der Angehörigen britischer Protektorate und Mandatsgebiete (protectorates, protected states, mandated territories, trust territories). In Abgrenzung zu den British subjects hat sich für sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung als British protected persons durchgesetzt. Für sie ist – ähnlich wie für Personen im Römischen Reich mit latinischem Bürgerrecht und die Angehörigen assoziierter Staaten in Europa – kennzeichnend, dass sie nur einen partiellen Bürgerrechtsstatus und damit nur begrenzte Bürgerrechte erhielten.106 Auf ähnliche Art und Weise vollzieht sich auch die Entwicklung der Unionsbürgerschaft in Stufen. Erst nach und nach sind die heute bestehenden subjektiven Rechte des Einzelnen entstanden und werden im Beitrittsprozess erst schrittweise auf die Angehörigen der beitretenden Staaten ausgedehnt. Bis heute gibt es im europäischen Recht vielfältige Abstufungen und Differenzierungen der Unionsbürgerschaft. Den vollkommenen rechtlichen Status des Unionsbürgers haben grundsätzlich nur Angehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union inne. Ausnahmslos gilt wie im Falle des Römischen Rechts auch, dass nur die vollwertige Unionsbürgerschaft des Angehörigen eines EU-Mitgliedstaates politische Partizipationsrechte, darunter das aktive und passive Wahlrecht bei Europarechtswahlen und bei Kommunalwahlen, vermittelt. Die mit der Unionsbürgerschaft im weiteren Sinne verbundenen subjektiv-rechtlichen Vorzüge, d.h. neben den Berechtigungen aus Art.  18 ff. AEUV vor allem auch die persönliche und wirtschaftliche Freizügigkeit, können teilweise und in unterschiedlichem Maße aber auch Staatsangehörige von Nicht-EU-Staaten für sich in Anspruch nehmen. Vom Status der vollwertigen Unionsbürgerschaft gibt es im Wesentlichen Abstufungen in zwei Richtungen. Zum einen gibt es Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates mit eingeschränktem Unionsbürgerrechtsstatus, zum anderen gibt es Staatsangehörige von Nicht-Mitgliedstaaten mit teilweisem Unionsbürgerrechtsstatus. Nicht erst seit dem Ost-Erweiterungsprozess, sondern aufgrund der seit langem schon geübten Assoziierungspraxis verschwimmt so die Unterscheidung zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern. Eine ideelle Unterscheidung 104   Siehe dazu W. Forsyth, Cases and Opinions on Constitutional Law and various Points of English Jurisprudence (1869), London 1971, S.  252 ff. – grundlegend zur Frage der Reichsangehörigkeit und Fremdheit im Empire Sir Edward Northey, On the Question of Alienage, in: aaO., S.  252 ff. 105   Siehe dazu J. Hatschek (Fn.  33), S.  298 ff. 106   Zur beschränkten Freizügigkeit im British Empire siehe etwa J. Hatschek (Fn.  33), S.  28.

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zwischen Europäern und Nicht-Europäern war mit dieser Differenzierung ohnehin niemals verbunden. Eine partielle Bürgerrechtsstellung hatten Assoziationsabkommen (Europa-Abkommen) mit den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten bereits enthalten, bevor diese Staaten der Europäischen Union im Zuge des Osterweiterungsprozesses beitraten.107 Soweit diese Staaten der Europäischen Union noch nicht beigetreten sind (z.B. Mazedonien), gelten diese Regelungen noch immer. Sie gewähren mit langen Übergangsfristen Inländergleichbehandlung und Grundfreiheiten jedenfalls für solche Staatsangehörige der Assoziationsstaaten, die sich bereits rechtmäßig in einem Unionsstaat auf halten. Der individuelle Rechts-Status osteuropäischer Staatsangehöriger blieb allerdings auch nach dem Beitritt ihrer osteuropäischen Heimatstaaten in die Europäische Union übergangsweisen Beschränkungen unterworfen. Bis Mai 2011 konnten die Staatsangehörigen trotz des Beitritts ihrer Heimatstaaten im Jahr 2004 essentielle Individualrechte wie vor allem die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art.  45 ff. AEUV) noch nicht in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union für sich in Anspruch nehmen. Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatten befürchtetet, ihre Staatsbürger könnten durch die hinzukommende Konkurrenz auf den heimischen Arbeitsmärkten wirtschaftliche Nachteile erleiden. Noch weiter beschränkt ist der Rechtsstatus solcher Staatsbürger, die einem mit der Europäischen Union lediglich assoziierten Drittstaat angehören. Aber auch sie genießen mitunter einen ausgeprägten Rechtsstatus, der Teilhabe an wesentlichen subjektiven Rechten der durch die Unionsbürgerschaft vermittelten Rechtsstellung beinhaltet.108 Der Vertrag zwischen Europäischer Union und EFTA-Staaten zur Gründung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) stellt die Staatsangehörigen der EFTA-Staaten den Unionsbürgern der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Grundfreiheiten (Art.  45 ff. AEUV) sogar gleich. Die Staatsangehörigen Islands, Liechtensteins und Norwegens konnten von den Grundfreiheiten des EU-Vertrages aufgrund dessen bereits ungehindert Gebrauch machen, als die Angehörigen osteuropäischer Beitrittsländer noch weitgehenden Beschränkungen unterlagen. Mit der Schweiz wurden, nachdem diese das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum nicht ratifiziert hatte, gesonderte, im Wesentlichen inhaltsgleiche Assoziierungsabkommen geschlossen, die am 1.1.2002 in Kraft getreten sind.109 Diese enthalten auch entsprechende Freizügigkeits- und Diskriminierungsbestimmungen. Insgesamt zeigt sich im Falle des British Empire und des Römischen Reiches wie im Falle der Europäischen Union, dass die Angehörigen von Verbänden, die nicht formal in die Verfassung des imperialen Verbandes integriert und sogar ganz inkor107   W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.   1, Europäische Grundfreiheiten, Heidelberg 2004, S.  112 ff. 108   Siehe dazu S. Vöneky/B. Beylage-Haarmann (Fn.  46), Art.  217 Rn.  71, wonach die „partielle Annäherung der Rechtsstellung der Staatsangehörigen assoziierter Staaten an die Unionsbürgerschaft“ zu den grundlegenden Gemeinsamkeiten aller Assoziierungsabkommen gehört; hinzukommen in der Regel Diskriminierungsverbote. 109  Diese Abkommen (ABl. 2002 L 114/480) betreffen die Bereiche Personenfreizügigkeit, Forschung, Öffentliches Beschaffungswesen, Technische Handelshemmnisse, Landwirtschaftliche Produkte, Luft- und Landverkehr. Teilweise bleiben sie allerdings hinter den Regelungen des EWR-Vertrages zurück. Siehe dazu D.-E. Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV Kommentar, 6.  Aufl., München 2017, §  217 Rn.  26.

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poriert werden, durchaus bereits subjektive Rechte im imperialen Raum erhalten. Zumindest von der politischen Partizipation am imperialen Verband bleiben diese aber stets ausgeschlossen.

IV.  Vielheit der Rechtsordnungen und Rechtsangleichung in imperialen Ordnungen und der Europäischen Union Imperiale Ordnungen haben im Zuge ihrer Ausdehnung in sehr unterschiedlichem Maße kulturelle Einflüsse auf die in den imperialen Verband integrierten und mit diesem assoziierten Verbände ausgeübt. Nicht alle Imperien haben als sich ausdehnende Ordnungen kulturelle Spuren hinterlassen. Neben bis heute prägenden sprachlichen und religiösen Einflüssen gehören aber gerade der Einfluss auf Recht und Rechtsordnungen anderer Verbände zu den bedeutenden kulturellen Hinterlassenschaften der großen Imperien des Abendlandes. Allen voran der Einfluss des Römischen Reiches und des römischen ius civile ebenso wie der Einfluss des British Empire und des englischen Common Law können in ihrer historischen Bedeutung bis heute kaum unterschätzt werden. Die Entwicklung und Ausbreitung dieser bis heute nachwirkenden Rechtstraditionen ist untrennbar mit der imperialen Ausdehnung der römischen Ordnung in der Antike und der britischen Ordnung in der Neuzeit verknüpft. Auch darin sind diese beiden Ordnungen jedoch nicht einzigartig, sondern verkörpern ein allgemeines Prinzip, dessen sich die Europäische Union mit ihrem Anspruch, eine „Rechtsgemeinschaft“ zu sein, deren rechtliche Standards in den Mitgliedstaaten, aber auch im Erweiterungsprozess durchgesetzt und in assoziierten Staaten gelten sollen, auf ihre Weise bemächtigt hat. Das gilt auch für den seinerseits in der römischen Rechtstradition stehenden und innerhalb kürzester Zeit weit über die Grenzen Frankreichs hinausreichenden Einfluss des code civil bzw. code napoléon. Zwischen 1807 und 1814 wurde dieser binnen kürzester Zeit in allen linksrheinischen und nordwestdeutschen Gebieten, in verschiedenen Rheinbundstaaten, in leicht abgewandelter Gestalt in Baden, zudem in Luxemburg, Belgien, Westfalen, Warschau, den Niederlanden, teils auch in Schweizer Kantonen und dem Königreich Italien eingeführt, um von dort aus wiederum in die unterschiedlichsten Teile der Welt exportiert zu werden.110 Recht und Rechtsordnungen imperialer Verbände, die wie das British Empire in vielen Gebieten faktisch nicht einmal einhundert Jahre ihren Einfluss geltend machen konnten oder wie das Imperium Napoléon Bonapartes tatsächlich nicht einmal ein Jahrzehnt ihre Dominanz bewahren konnten, haben teils Jahrhunderte über den Verfall des Imperiums hinaus, teils bis heute fremde Rechtsordnungen beeinflusst. Diese Beispiele belegen nicht allein die Bedeutung, die imperiale Verbände der Verbreitung des eigenen Rechts und der eigenen Rechtsordnung als Machtmittel und Einflusskanal beimaßen, sondern sind zugleich Zeugnis der Nachhaltigkeit gerade dieser Hinterlassenschaft imperialer Ordnung. Wie viel stärker die Überzeugungskraft, Wirkung und Lebensfähigkeit des Rechts und der Rechtskultur als die bloßer Macht oder militärischer Überlegenheit sind, das hatte auch der General der Artillerie Napoléon Bonaparte erkannt und vorhergesehen:   Siehe dazu auch H. Triepel (Fn.  31), S.  226.

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„Mein wirklicher Verdienst ist nicht, 40 Schlachten gewonnen zu haben. Waterloo wird die Erinnerung an so viele Siege zunichtemachen. Was aber durch nichts zu löschen ist, was ewig leben wird, ist mein code civil.“111

1.  Rechtsangleichung in formellen und informellen Imperien und der Europäischen Union Wenn äußere Verbände in einen imperialen Verband inkorporiert werden, liegt es nahe, dass diese auch in die Rechtsordnung des führenden Verbandes integriert werden und sein Recht vollständig übernehmen. Nun dauert es aber – wie im Falle des Römischen Reiches und des British Empire sowie auch im Erweiterungsprozess der Europäischen Union – meist lange Zeit, bis periphere Verbände in den imperialen Verband inkorporiert oder zumindest förmlich integriert wurden. Selbst in formal in den imperialen Verband integrierten, aber noch nicht vollständig inkorporierten Verbänden – ob Kolonien, Provinzen, Verwaltungsbezirken oder Mitgliedern – galten zunächst meist nur Teile der Verfassungs- und Rechtsordnung des imperialen Verbandes. Sogar diese Fragmente seiner Rechtsordnung waren oft noch modifiziert und abgeschwächt, in Formen eigenen, nationalen Rechts gekleidet und galten oft nur zum Teil und lediglich subsidiär. Soweit es lokales und nationales Recht gab, galt dieses weitgehend fort.112 In den Siedlungskolonien des Empire galt grundsätzlich zwar das Common Law. Wohin englische Siedler emigrierten, um eine Kolonie zu gründen, dorthin brachten sie nach englischer Rechtsauffassung auch das Common Law mit: „Lass einen Engländer gehen, wohin er mag, er trägt mit sich das Recht und die Freiheit“.113 Das von ihnen mitgenommene Common Law führte aber sogar in den Kolonien von Beginn an ein Eigenleben, so dass es zu einer „Dezentralisation des Common Law“, zu mehr oder weniger starken Abweichungen und unterschiedlichen Rechtsentwicklungen in den unterschiedlichen Kolonien im Verhältnis zur Rechtsordnung des Mutterlandes kam.114 Als oberste Rechtsinstanz und „Reichsgerichtshof “ des British Empire, an das Rechtsmittel und Beschwerden in innerkolonialen wie imperialen Rechtsangelegenheiten gerichtet werden konnte, hat vor allem das Judicial Committee of the Privy Council in London den englischen Einfluss auf die Rechtsordnung der Kolonien in den Kolonien bewahren können. Insbesondere hat die dem Judicial Committee of the Privy Council in London zustehende oberste Gerichts111   Zit. N. Bonaparte auf St. Helena, in: Charles-Tristan de Montholon, Récit de la Captivité de l’Empereur Napoléon à Saint-Hélène, Bd.  I, Paris 1847, S.  4 01. 112   Siehe dazu N. Krisch, Imperial International Law, Global Law Working Paper 01/04, New York 2004, S.  48. 113  Zit. M. West, Opinion that the Common Law of England is the Common Law of the Colonies (aus dem Jahr 1720), in: William Forsyth (Hrsg.) (Fn.  104), S.  1; vgl. C. Pratt/C. Yorke, Joint Opinion of the Attorney and Solicitor General (aus dem Jahr 1720), in: William Forsyth (Fn.  104), S.  1 f.: „In respect to such places as have been or shall be acquired, by treaty or grant […] the property of the soil vesting in the grantees by the Indian grants, subject only to your Majesty’s right of sovereignty over the settlements, as English settlements, and over the inhabitants, as English subjects, who carry with them your Majesty’s laws wherever they form colonies, and receive your Majesty’s protection, by virtue of royal charter.“ 114   J. Hatschek (Fn.  33), S.  305.

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barkeit über die Gerichte der britischen Kolonien in den Selbstverwaltungskolonien zu einer fortgesetzten Rezeption englischen Rechts und dadurch zu einer Stärkung des britischen Einflusses auch ihnen gegenüber geführt.115 Aber auch im Verhältnis zu formal eigenständigen Staaten haben imperiale Verbände im Rahmen internationaler Beziehungen nicht nur gezielt auf die auswärtigen Beziehungen ihrer Vertragspartner, sondern auch auf deren innere Angelegenheiten eingewirkt und auf deren Rechtsordnungen Einfluss genommen. Die Anpassung peripherer Rechtsordnungen an das Recht imperialer Verbände hat, wie die Beispiele des Römischen Reiches und des British Empire deutlich zeigen, nicht erst in formal bzw. konstitutionell vereinten Rechtsordnungen, sondern auch schon in informellen imperialen Ordnungen in beträchtlichem Ausmaß stattgefunden.116 Das Recht des imperialen Verbandes, seine Gesetze und Werte galten deshalb auch jenseits seiner formalen Grenzen. Trotz seines normativen Einflusses auf das Recht anderer Verbände fehlt es dort meist noch an Organen und Institutionen des imperialen Verbandes, die sein Recht und seine Normen durchsetzen.117 Typischerweise sind es zunächst nur die Höchstgerichte imperialer Verbände, deren Kompetenzen als erstes auch auf äußere Verbände und Drittstaaten ausgedehnt werden. Das gilt im Hinblick auf das Judicial Committee of the Privy Council im British Empire wie im Hinblick auf EuGH und EGMR in Europa. Ein umfassendes Gerichtswesen und vor allem eine unmittelbare Verwaltung existieren nur in den formal in den imperialen Verband integrierten Teilen des Imperiums. In formal eigenständigen Verbänden äußert sich die imperiale Macht dagegen lediglich indirekt bzw. mittelbar. Auch das materielle Recht, insbesondere natürlich Gesetze und Rechtsnormen imperialer Verbände werden nicht einfach auf äußere, formal eigenständige Verbände übertragen. Die Ausdehnung des Rechts des imperialen Verbandes vollzieht sich eher informell.118 Die Rechtsnormen des imperialen Verbandes werden nicht offen und deshalb auch nicht unmittelbar erkennbar auf andere Rechtsordnungen übertragen. Ihre grundlegenden Ideen, Wertungen und Maßstäbe gehen vielmehr in die Rechtsordnung des äußeren Verbandes ein und fügen sich in den vorgegebenen Rechtsrahmen, in bereits vorhandene Strukturen und Formen formal eigenständig bleibender Rechtsordnungen ein. Dieser Prozess kann langsam oder sogar schleichend sein, muss aber aus Sicht der imperialen Macht keineswegs weniger effektiv sein. Auf diese Weise wird einerseits der Eindruck der Bevormundung oder gar Fremdherrschaft weitgehend vermieden. Die Legitimität der imperialen Macht nimmt dadurch in der Regel geringeren Schaden und die übertragenen rechtlichen und normativen Standards haben weit bessere Aussichten, von der Bevölkerung irgendwann als „eigenes“ Recht akzeptiert zu werden. Gleichzeitig werden so die Kosten für Verwaltung und die Beseitigung von Widerständen gering gehalten.119 Die Ausbreitung etwa des Common Law hat sich   H. Triepel (Fn.  31), S.  226.  So N. Krisch (Fn.  112), S.  3: „This turn to domestic law is typical for formal empires, which rule their periphery entirely through internal law“, der allerdings selbst relativiert aaO., S.  47: „Though typical for formal empires, the use of domestic law as a tool of government is, however, often also present in informal empires and hegemony, but it takes a number of less obvious forms.“ 117  Vgl. N. Krisch (Fn.  112), S.  48. 118   N. Krisch (Fn.  112), S.  54 spricht insofern von „informeller normativer Diffusion“. 119   N. Krisch (Fn.  112), S.  54 f. 115 116

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keineswegs auf das in den englischen Staat weitgehend inkorporierte Vereinigte Königreich, nicht einmal auf die formal der Krone unterstehenden Kolonien beschränkt, sondern ist selbst darüber noch weit hinaus gegangen. Das British Empire und das englische Common Law haben die Rechtsordnungen peripherer Verbände auch beeinflusst, bevor und ohne dass diese den Status von Kolonien erlangten oder formal in das Vereinigte Königreich integriert wurden.120 Sogar Protektorate und sonstige, „informell“ unter dem Einfluss des British Empire stehende Gebiete wurden nachhaltig durch das Common Law geprägt. Auch soweit sich dort Mischsysteme herausgebildet haben und das Common Law lediglich neben indigenen und lokalen Rechten oder anderen Kultur- und Rechtskreisen entnommenen Rechtstraditionen zur Anwendung kommt, ist das Common Law in unterschiedlichem Maße ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsordnung auch dieser Teile des Empire geblieben. Zu sehen sind diese Einflüsse des englischen Rechts in Teilen Südamerikas, in West- und Südafrika, in Israel, im gesamten Umkreis des indischen Subkontinents bis nach Ozeanien.

2.  Rechtsangleichung und funktionelle Dynamik in wirtschaftlichen Ordnungen wie dem British Empire und der Europäischen Union Dass sich auch im Bereich des informal empire nach und nach rechtliche Einflüsse und Standards des britischen Zentrums durchsetzen konnten, erklärt sich nicht zuletzt durch ökonomische Eigendynamiken und Sachzwänge.121 Wie die Europäische Union hatte auch das British Empire das Selbstverständnis einer vornehmlich wirtschaftlichen Ordnung. Bei der Ausdehnung eines „informal“ British Empire sollte das Militär nach der verbreiteten Vorstellung liberaler Kreise im 19. Jahrhundert überhaupt keine Rolle mehr spielen, widersprach es doch dem Geiste des Freihandels und der im vermeintlichen Interesse aller beteiligten Seiten liegenden ökonomischen Verflechtung. Ein großer, freier Weltmarkt sollte militärische Machtpolitik schlicht überflüssig machen und zugleich eine wesentlich tiefergehende integrative Funktion zur Verbindung und Zusammenführung unterschiedlicher Völker und Kulturräume, zur Überwindung nationaler Unterschiede durch eine allgemeine Weltbürgerschaft erfüllen.122 Die hochidealisierte Überzeugung von der völkerverbindenden Kraft des Freihandels, der sich selbst überlassen alle kulturellen Gegensätze überwinden und dauerhaften Frieden bewirken werde, kommt exemplarisch bei Richard Cobden, dem Begründer und leidenschaftlichen Verfechter der Freihandelsbewegung, zum Ausdruck:123 „Ich glaube, dass der materielle Gewinn für die Menschheit der geringste Gewinn des Freihandels sein wird. Nach meiner Ansicht wird das Prinzip des Freihandels in der moralischen Welt wirken wie das Prinzip der Gravitation im Uni  Siehe dazu auch J. Hatschek (Fn.  33), S.  316 f.   Zum wirtschaftsrechtlichen Universalismus des British Empire M. W. Doyle (Fn.  26), S.  357. 122  Vgl. J. Hatschek (Fn.  33), S.  49; B. Porter, Die Transformation des British Empire, in: A. Demandt (Hrsg.), Das Ende der Weltreiche. Von den Persern bis zur Sowjetunion, München 1997, S.  161. 123   Eingehend zur maßgeblich durch das Marktkonzept von A. Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, London 1776, geprägten Freihandelsbewegung bzw. Freihandelsideologie im viktorianischen Britannien B. Porter (Fn.  122), S.  160 ff. 120 121

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versum: Es wird die Menschen näher zusammenführen, die Gegensätze der Rasse, des Glaubens und der Sprache überwinden und uns durch die Bindungskraft des ewigen Friedens vereinigen.“124 Auffallend ist, dass es zu Rechtsvereinheitlichung und einheitlichen rechtlichen Standards im British Empire wie in Europa und der Europäischen Union vor allem im Bereich des Wirtschafts- und Vermögensrechts, des Handels- und Vertragsrechts kam. Im Finanzmarkt- und Bankrecht, im Gesellschafts- und Handelsrecht, im Schifffahrts- und Seerecht, im Zivil- und Vertragsrecht, im Eigentums- und Urheberrecht, im Markenschutz- und Geschmacksmusterrecht lag der Schwerpunkt der Einflüsse des Common Law auf koloniale und indigene Rechtsordnungen.125 Sowohl im Römischen Reich (Denar und Sesterz) und im Heiligen Römischen Reich (Gulden und Taler) als auch im Chinesischen Reich und im British Empire (sterling area) erleichterten daneben allmählich auch gemeinsame Währungssysteme und Währungsordnungen den Freihandel im imperialen Raum.126 Wo lokale und indigene Rechtsordnungen im Reich – außerhalb der großen, von europäischen Einwanderern dominierten Siedlungskolonien, die ihr europäisches Recht und das Common Law mitgebracht hatten – bestanden, galten aber auch das Römische Recht und das Common Law grundsätzlich nur subsidiär.127 Anders als in wirtschaftlich, vermögensrechtlich und finanziell relevanten Bereichen hat es Vereinheitlichungsbestrebungen in kulturell, insbesondere religiös besonders sensiblen Bereichen wie dem Personenrecht, dem Erbrecht und dem Familienrecht im British Empire praktisch nicht oder erst wesentlich später gegeben.128 Lediglich in besonders krass von Normen der eigenen Rechts- bzw. Werteordnung abweichenden Ausnahmefällen – wie der Witwenverbrennung in Indien – wurde die Integrität indigener Rechtstraditionen auch insoweit durchbrochen („revolting to the feeling of human nature“).  Zit. R. Cobden, in: J. Bright/J. E. Thorold Rogers (Hrsg.), Speeches on Questions of Public Policy by Richard Cobden, Bd.  1, London 1870, S.  362 f. Siehe dazu auch J. Schell, Die Politik des Friedens. Macht, Gewaltlosigkeit und die Interessen der Völker, München 2004, S.  45. Die theoretischen Grundlagen für die bei R. Cobden zum Ausdruck kommenden Kernideen der britischen Freihandelsbewegung hatte zuvor auch D. Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation, London 1817, zusammengefasst. 125   Der Grundgedanke der Rechtsentwicklung im Empire bestand darin, nur in Bezug auf geborene Briten das (gesamte) englische Recht zur Anwendung kommen zu lassen, während für Einheimische weiterhin deren traditionelles Recht gelten sollte – aber mit einer bedeutenden Ausnahme der Wirtschafts- und Verkehrsrechts. So das Urteil Freeman v. Fairlie v. 1828, 10 Moore Indian Appeals, S.  305: „leaving Mahomedan and Gentoo inhabitants to their own laws and customs, but with some particular exceptions that were called for by commercial policy, or the convenience of mutual intercourse.“ 126   Siehe zur Währungseinheit im Römischen Reich (z.B. Denar, Quinar, Sesterz, Gold-Ass) M. H. Crawford, Roman Republican Coinage, 2 Bde., Cambridge 1974; U. Kampmann, Die Münzen der Römischen Kaiserzeit, Regenstauf 2004; zur Währungseinheit (Gulden, Taler) im Heiligen Römischen Reich R. Bollmann (Fn.  91); zur Währungseinheit in imperialen Ordnungen im Allgemeinen und insbesondere auch im Chinesischen Reich H. Münkler (Fn.  31), S.  164 f., wonach während der Tang-Dynastie im Chinesischen Reich erstmals auch mit der Ersetzung des Münzgeldes durch Papiergeld experimentiert wurde, wodurch es zu einer Verdichtung des Binnenhandels innerhalb des Reiches und zur Erhöhung des Geldumlaufes kam. 127   J. Hatschek (Fn.  33), S.  317. 128  Nach L. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs, Leipzig 1891, S.  121 blieben vom Römischen Recht und seiner Ausbreitung im Imperium ebenfalls die „fast unbedingt respektierten Gebiete des Personen-, Familien- und Erbrechts“ ausgenommen. 124

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Die Entwicklung vom informal British Empire zum formal British Empire ist Inbegriff eines internationalen Integrationsprozesses, dessen Idee anfänglich lediglich der Ausbau sich verdichtender Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und die Errichtung eines gemeinsamen Marktes war, der schließlich aber weit über freien Wirtschaftsverkehr hinausging und der imperialen Peripherie ihre politische und administrative Selbständigkeit am Ende oft weitgehend nahm. Erst nach und nach wurden zunächst unmittelbar komplementäre Bereiche von der Zivilrechtsordnung über die Gerichtsbarkeit bis hin zu Straf- und Polizeigewalt zentralisiert. Weitgehend war dies vor allem in British India der Fall. „Das Empire, die Antithese zum freien Markt, war sein Produkt: Schon allein aus dem Grund, weil der freie Handel nicht ohne Regeln funktionieren konnte, deren Einhaltung wiederum erzwungen werden musste.“129 Dass ein gemeinsamer Markt langfristig nicht ohne gemeinsame Jurisdiktion, ohne einheitliche Standards und Regeln auskommt, erklärt zu einem wesentlichen Teil auch die normative und institutionelle Dynamik Europas und der Europäischen Union. Erst im Lichte dessen wird verständlich, weshalb die innere Dynamik und der kontinuierliche Kompetenzausbau sowohl des British Empire als auch der der Europäischen Union sich vor allem im Bereich der Wirtschaft und des Wirtschaftsrechts zugetragen haben. Die Europäischen Gemeinschaften waren zunächst ebenfalls weitgehend beschränkte Zusammenschlüsse, die auf der Freihandelsidee, dem Gedanken der wirtschaftlichen Vernetzung und der wirtschaftlichen Interdependenz der Märkte beruhten, die sich aber nach und nach zu politischen Gemeinschaften mit Aufgaben und hoheitlichen Befugnissen in vielen anderen Bereichen weiterentwickelt haben. Immer mehr hoheitliche Kompetenzen in immer unterschiedlicheren Bereichen der Legislative, der Exekutive und Judikative werden von der Union wahrgenommen.130 Solche „Übertragungseffekte“ (spill-over-Effekte), auf die vor allem Vertreter der neo-funktionalistischen Theorie im Prozess der Europäischen Integration hingewiesen haben131, hat es mehr oder weniger in allen langfristigen imperialen Integrationsprozessen gegeben. Insofern waren langfristige imperiale Ordnungsbildungen als internationale Integrationsprozesse ebenfalls „funktionalistisch“ oder „pfadabhängig“. Was in neueren Integrationstheorien der Neo-Funktionalisten zunächst als spillover und in jüngerer Zeit zunehmend als Pfadabhängigkeit beschrieben wird, ist ein Phänomen praktisch aller Imperien in ihrer langfristigen Entwicklung und ihrem 129  Zit. B. Porter (Fn.  122), S.  164. So auch M. W. Doyle (Fn.  26), S.  357. „The development of ‚con­ stitutional‘ colonial order soon led to substantive colonial law governing crime, commerce, and pro­ perty. […] But why did Britain create a new (primary) legal order? One reason undoubtedly was humanitarian. But perhaps the clearest reason was that commercial capitalism which sustained the colony required an extensive and modern legal order. It required universality of application and equality in a free market, specific and rigidly fixed standards for the commodity trade, specific relationships of contract and conveyance to finance firms, and government and regular courts to provide an efficient means of enforcement of western legalism.“ Dazu ausführlich auch D. K. Fieldhouse, Economics and Empire 1830–1914, London 1973, insbesondere S.  462 ff. Ähnlich auch H. Münkler (Fn.  31), S.  80. 130   Siehe zur „Rückkehr des Neo-Funktionalismus“ in der Wirtschafts- und Staatskrise J. Beckert/ W. Streeck, Die Fiskalkrise und die Einheit Europas, APuZ 4 (2012), 7 (15). 131  Siehe grundlegend zu Übertragungseffekten und allgemein zum Funktionalismus bzw. Neofunktionalismus E. B. Haas, The Uniting of Europe (Fn.  4); ders., Beyond the Nation-State (Fn.  4); D. Mitrany, The Prospect of European Integration (Fn.  4), S.  119 ff.; ders., The Functional Theory of Politics (Fn.  4).

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schleichenden Übergang vom informal zum formal empire gewesen.132 Vorhersehbar oder gar detailliert geplant waren diese Entwicklungen und langfristigen Veränderungsprozesse nicht. Vielmehr ergaben sie sich aus der Situation und den Umständen ihrer jeweiligen Zeit. Oft haben (vermeintliche) Krisen, ökonomische Notlagen, militärische Konflikte, politische Aufstände und nationale Widerstandsbewegungen diese Entwicklungen kurzfristig beschleunigt.133 Die Ausdehnung ihrer Werte und ihres Rechts aufgrund internationaler Verträge ist die zentrale und ohne Zweifel bedeutendste Form der „imperialen“ Erweiterung der Europäischen Union, ihrer Rechtsordnung und ihrer normativen Grundlagen: Durch Analogien, Bezugnahmen und Verweisungen auf EU-Normen, aber auch durch inhaltlich entsprechende oder nur leicht modifizierte Vertragsbestimmungen erlangen das Recht und die Werte der Europäischen Union Geltung und unmittelbare Verbindlichkeit auch in Drittstaaten und äußeren Verbänden. Die tatsächliche Umsetzung ihres Rechts, die tatsächliche Einhaltung ihrer Werte und Verfassungsprinzipien gelingt vor allem im Beitrittsprozess. In dessen Verlauf müssen die assoziierten Staaten ihre Rechtsordnung vollständig an den acquis communautaire anpassen. Der Beitrittskandidat wird zu diesem Zweck Untersuchungen und Kontrollen durch die Beitrittskommissare unterzogen – im EU-eigenen Jargon auch als monitoring bzw. scanning bezeichnet. Neben der Übertragung der materiell-rechtlichen Grundlagen und Standards der Primär- und Sekundärrechtsordnung der Europäischen Union nach außen durch Assoziierungsverträge ist in den am weitesten fortgeschrittenen Assoziierungsbeziehungen mittlerweile auch die Zuständigkeit und die Autorität des EuGH über die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinaus ausgedehnt worden. Exemplarisch hierfür ist das eigenständige System der Streitbeilegung nach Art.   111 EWR-Abkommen.134 An die Anrufung des EWR-Ausschusses hat sich die unmittelbare Befassung durch den EuGH anzuschließen, wenn Umfang oder Dauer von Schutzmaßnahmen umstritten sind (Art.  111 Abs.  4 EWR-Abkommen und Protokoll 33 zum EWR-Vertrag). Eine – wenn auch nur fakultative – Zuständigkeit des EuGH zur Streitschlichtung sehen darüber hinaus auch andere Assoziierungsverträge vor. Gemäß Art.  25 Abs.  2 des Assoziierungs-Abkommens mit der Türkei kann der Assoziationsrat z.B. beschließen, die Streitigkeit dem EuGH oder einem beliebigen anderen Gericht zur Entscheidung zu unterbreiten.

3.  Vielheit und Eigenständigkeit der Rechtsordnungen in imperialen Ordnungen Zur Bewältigung der in erster Linie zweckmäßigen finanz- und wirtschaftsrechtlichen Anpassungen entstand in imperialen Ordnungen wie dem British Empire allerdings niemals eine einheitliche Rechtsordnung. Es blieb vielmehr wie schon im Römischen Reich und wie gegenwärtig in Europa und der Europäischen Union bei der   Siehe zu diesen Theorien G. Thiemeyer, Europäische Integration, Köln 2010, S.  16 f., 22.   Das ist gemeint, wenn J. Gallagher/R. Robinson, The Imperialism of Free Trade, Economic History Review (2d ser.), 6, 1 (1953), S.  8 sagen, dass die Britische Politik sich auf „informelle Kontrolle stützte, soweit möglich, und formell nur, soweit nötig.“ 134   Siehe dazu S. Vöneky/B. Beylage-Haarmann, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2017, Art.  217 Rn.  48. 132 133

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Vielfalt der nebeneinander bestehenden, miteinander konkurrierenden Rechtsordnungen in den einzelnen Verbänden, Nationen, Völkern, Staaten, Städten und Bünden des Empire. Selbst innerhalb des Vereinigten Königreiches als erweitertem Zentrum des Empire ist es bis heute bei diesem Nebeneinander formal eigenständiger Rechtsordnungen geblieben. So steht trotz weitgehender politischer Inkorporation in die englische Verfassung sogar das schottische Rechtssystem, das nach wie vor auch über eine eigene Gerichtsbarkeit verfügt, der Tradition des Römischen Rechts und kontinentaleuropäischer Rechtskodifizierung näher als der des englischen Common Law. Zwar hat sich auch das schottische Rechtssystem seit seiner formalen Union mit England mehr und mehr dem Common Law angenähert. Nach wie vor kann allenfalls aber von einem Mischsystem gesprochen werden.135 Wie dort entwickelten sich in unterschiedlicher Intensität allmählich überall im British Empire punktuell ähnliche rechtliche Standards, vergleichbare rechtliche Maßstäbe, Stile, Rechtstechniken und Rechtsprechungen, die in unterschiedlichem Grad und Ausmaß fast alle Rechtsordnungen, wenn diese auch formal eigenständig blieben, nach dem Vorbild des englischen Common Law miteinander teilten und bis heute teilen. Eine einheitliche Rechtsordnung hat sich im British Empire aber nicht gebildet. Es hat darin nie die Einheit einer Rechtsordnung gegeben. Auch in langewährenden imperialen Ordnungen wie dem Römischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich ist es niemals zu einer vergleichbaren Einheit der Rechtsordnungen gekommen, wie man sie aus Nationalstaaten und sogar aus modernen Bundesstaaten kennt. Da es in Imperien schon keine einheitliche rechtliche Grundordnung in Form eines Vertrages oder einer Verfassung gibt, ist dies an sich kaum überraschend. Sowohl im Römischen Reich als auch im British Empire behaupteten sich bis zuletzt eigenständige Rechtsordnungen, lokale Rechtstraditionen und traditionelle Rechtspraktiken. Die noch Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschende Ansicht, es habe im Römischen Reich eine einheitliche Rechtsanwendung und Rechtsprechung auf Grundlage des corpus iuris civilis als einheitlich geltender Rechtskodifikation gegeben, wird in dieser Form heute nicht mehr geteilt.136 Es hat weder ein römisches noch ein britisches Gesetzbuch analog dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem code civil gegeben, das verbindlich und allgemein im gesamten Reich angewendet wurde.

4.  Das Interesse der anderen an der Ordnung, Kultur und Recht des imperialen Verbandes: Freiwillige Rechtsrezeptionen der Peripherie Die Beeinflussung fremder Rechtsordnungen durch Übertragung des eigenen Rechts ist ein wichtiges Mittel der Politik imperialer Verbände sowie Grundlage ihrer Macht und ihres Einflusses auf andere Verbände. Andererseits darf das Interesse äußerer 135   Der Einfluss des englischen Common Law wuchs auch, seit nach der Entscheidung Greenshields vs. Magistrates of Edinburgh (1710/11) die Berufung zum House of Lords zugelassen wurde. Siehe zur Entwicklung des schottischen Rechts E. A. Marshall, General Principles of Scots Law, 7.  Aufl., Edin­ burgh 1999, S.  3 ff. 136   Diese Ansicht, die neben Theodor Mommsen auch Ludwig Mitteis vertreten hatte, teilte auch noch J. Hatschek (Fn.  33), S.  305.

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Verbände, sich an die Kultur und insbesondere ihre Rechtsordnung an rechtliche und normative Standards des imperialen Verbandes anzupassen, nicht unterschätzt werden. Meist waren es deshalb auch im Bereich des Rechts wechselseitige Anpassungs- und Harmonisierungsbestrebungen, die zum Austausch und zur Vereinheitlichung unterschiedlicher Rechtsordnungen in imperialen Räumen führten: Nicht nur das Zentrum, sondern auch die Peripherie hatte ein Interesse an der Anpassung und Harmonisierung der unterschiedlichen Rechtsordnungen. Dass im Falle des Römischen Reiches die Ausbreitung des römischen Rechts nicht in erster Linie auf Vereinheitlichungsbestrebungen des römischen Zentrums, sondern auf den Wunsch römischer Verbündeter zur Rezeption des römischen Rechts zurückging, ist bereits für das Verhältnis der Römischen Republik zu seinen Bündnispartnern überliefert. M. T. Cicero berichtet schon zur Zeit der Republik, dass die „latinischen Bundesgenossen das vom römischen Recht übernommen haben, was sie wollten.“137 Es gehörte aber selbst in der Kaiserzeit noch zu den Eigenheiten des römischen Reiches, dass „weder der Senat noch die Kaiser versuchten, das römische Recht den Provinzen zu oktroyieren und damit ein reichsweit einheitliches Rechtssystem zu schaffen. Es setzte sich durch, weil sich die Untertanen davon wirtschaftliche Vorteile und Rechtssicherheit versprachen, und weil es Ausdruck des imperialen Verbandes war, an dem sie zunehmend Anteil hatten. Das römische Recht war abstrakt und flexibel genug, um den Herausforderungen des wachsenden Weltreichs begegnen zu können.“138 Es war nicht der „Druck der römischen Vormacht“, der zur Übernahme des römischen Rechts zwang, sondern das „Beispiel“, die Leitfunktion und das Vorbild des römischen Rechts, die zur freiwilligen „Nachahmung“ durch die Fremden führten.139 Der Prozess der Ausbreitung des römischen Rechts vollzog sich demnach nicht als zwangsweise Oktroyierung fremden Rechts, vielmehr als freiwillige Rezeption fremden Rechts. Was die imperiale Ausbreitung des römischen Rechts von gemeinhin als autonom bezeichneten Rechtsrezeptionen unterscheidet, ist also nicht das Element des Zwangs, sondern seiner Vorbildfunktion bzw. seines Leitbildcharakters. Internationale Rechtsharmonisierung hat bestimmt nicht immer und vielleicht auch nicht überwiegend auf Betreiben imperialer oder hegemonialer Verbände stattgefunden. Der Einfluss imperialer Verbände darf im Kontext internationaler Rechtsanpassungen und Harmonisierungen allerdings nicht unterschätzt werden.140 Das gilt 137  Siehe M. T. Cicero, Pro Balbo (8, 21), in: G. Tarditi (Hrsg.), Tutte le Opere di Cicerone, Bd.  9, Florenz 1970, S.  112 f.: „Tulit apud maiores nostros legem C. Furius de testamentis, tulit Q. Voconius de mulierum hereditatibus, innumerabiles aliae leges de civili iure latae sunt: quas Latini voluerunt, adsciverunt.“ 138  Zit. E. Meyer-Zwiffelhoffer (Fn.  38), S.78, wonach das prätorische Privatrecht, auf dem später das Provinzialedikt basierte, seit dem dritten Jh. v. Chr. in ständiger Anpassung an den Rechtsverkehr römischer Bürger mit Personen und Gemeinden peregrinen Rechts weiterentwickelt worden ist. 139  Zit. H. Triepel (Fn.  31), S.  460, der dies im Unterschied zu den Athenern auch im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Einflüsse des römischen Rechts gelten lassen will: „In Verfassungsstreitigkeiten der Bundesgenossen hat sich Rom regelmäßig nur auf Anrufen der Beteiligten eingemischt, sonst nur dann, wenn seine eigene Sicherheit, etwa bei Sklavenaufständen, bedroht war; die bei den griechischen Hegemonien übliche Oktroyierung von Verfassungen in den Gefolgstaaten ist der römischen Politik überhaupt bis in späte Zeiten der Republik fremd geblieben.“ 140  Vgl. H. Triepel (Fn.  31), S.  225; siehe dazu auch E. Heger Boyle/J. W. Meyer, Das moderne Recht als säkularisiertes globales Modell: Konsequenzen für die Rechtssoziologie, in: J. W. Meyer (Hrsg.), Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M. 2005, S.  179 ff.

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nicht zuletzt für die Entwicklung des Völkerrechts selbst.141 Die Frage nach imperialen und hegemonialen Einflüssen stellt sich im Falle der Rechtsharmonisierung deshalb grundsätzlich, weil Harmonisierung in der Regel Angleichung an etwas bereits Bestehendes und Rechtsharmonisierung deshalb in der Regel Anpassung an normative Standards einer schon existierenden Rechtsordnung ist. Treibende Kräfte internationaler Rechtsharmonisierung und Rechtsangleichung waren und sind in vielen Fällen aber mächtige, überlegene und deshalb einflussreiche „imperiale“ Verbände. Ihre Rechtsordnungen dienen zugleich als Vorbilder, an denen sich die Rechtsordnungen anderer Verbände – auf äußeren Druck, aber eben auch aus eigenem Interesse – orientieren. Diese Vorbildfunktion, die zunächst das Römische Reich in Europa hatte, später auch das Spanische Kolonialreich in Südamerika, das British Empire in verschiedenen Teilen der Welt und auch das kurzlebige Imperium Napoléon Bonapartes in Europa, hat neben den Vereinigten Staaten und dem „Westen“ in beträchtlichem Umfang die Europäische Union angenommen – in Europa und seiner Nachbarschaft, allmählich aber auch darüber hinaus.

V. Ausblick von imperialen Ordnungen auf die Europäischen Union Als nach und nach sich ausdehnende, heterogene Ordnung mit einem zunehmenden Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie hat die Europäische Union in den vergangenen Jahrzehnten allmählich immer mehr imperiale Charakteristika angenommen. Zu diesen Gemeinsamkeiten mit imperialen Ordnungen gehört wie hier gezeigt insbesondere ihre differenzierte Grundordnung mit differenzierten Verfassungen, Verträgen und Bürgerrechten, die relative Vereinheitlichung des Rechts bei gleichzeitig fortbestehenden Rechtsordnungen in den Mitgliedsverbänden. Imperiale Ordnungen mögen aufgrund ihrer fehlenden Einheit der Verfassung und ihrer nur punktuellen Rechtseinheit in mancher Hinsicht unvollkommen und ungerecht sein, mögen sich in vielen Fällen auch als relative lose und brüchig erwiesen haben. Historisch betrachtet waren imperiale Ordnungen mit ihren differenzierten Verfassungen, Verträgen und Rechtsordnungen dessen ungeachtet aber ein pragmatischer Weg für die Entwicklung und allmähliche Konsolidierung weit ausgedehnter und deshalb sehr heterogener Ordnungen. Unnachgiebiges Festhalten an den Idealen der Gleichheit, Einheit und Uniformität kann dagegen in vielen Fällen von vornherein jeden praktisch gangbaren Weg einer fortschreitenden Integration in multilateralen Verbänden versperren. Will eine ausgedehnte und heterogene Ordnung wie die Europäische Union nach innen und nach außen entwicklungsfähig bleiben, dann wird sie auf kurze und mittlere Sicht auf eine gewisse Flexibilität und das heißt auf Differenzierungen und Abstufungen nicht nur ihrer äußeren, sondern auch ihrer inneren rechtlichen Grundordnung deshalb nur schwer verzichten können. Allem Anschein nach werden diese Differenzierungen der politischen und rechtlichen Grundord141   Siehe zum historischen Entstehungshintergrund des internationalen Rechts im Kontext des Imperialismus und zum Einfluss des Imperialismus auf das internationale Recht A. Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, Cambridge 2005.

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nung der Europäischen Union künftig eher noch weiter zu- als abnehmen. Selbst Austritte, wie der Fall des Vereinigten Königreichs, könnten diese Tendenz möglicherweise sogar noch verstärken. Als politische und rechtliche Ordnung sind Imperien wie die Europäische Union jedenfalls nur zu verstehen, wenn die Bereitschaft besteht, politische und rechtliche Ordnung jenseits der „Einheit“ zu denken: Ordnung jenseits der Einheit ist nicht notwendig Unordnung. Als differenzierte Ordnung kann Ordnung jenseits der Einheit ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität beinhalten, zugleich die kulturelle Vielfalt bewahren, bestehenden Unterschieden gerecht werden, auch dem Anderen und Fremden seinen Freiraum lassen.

Einheit in Vielfalt durch umgekehrten Vollzug? Zur Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts durch europäische Institutionen von

Prof. Dr. Ann-Katrin Kauf hold, Universität München Inhalt I. Einführung: Gewissheitsverluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. Ein föderales Novum: Nationales Recht in europäischen Händen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III. Die Tradition in der Krise: Einheit durch Angleichung des anwendbaren Rechts . . . . . . . . . . . . . . 91 IV. Das Modell der SSM-Verordnung: Einheit durch umgekehrten Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Das Ausgangsproblem: Vereinheitlichung des Vollzugs ohne „Single Rule Book“ . . . . . . . . . . . 93 a) Angleichung, aber keine Vereinheitlichung des materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Koordinierung, aber keine Vereinheitlichung des Vollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Die Lösung: Umgekehrter Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 V. Primärrechtliche Grenzen: Wie viel mitgliedstaatliches Recht darf in die Hände europäischer Einrichtungen gelegt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, Art.  5 Abs.  2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Art.  291 Abs.  1 AEUV, Art.  197 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Subsidiaritätsprinzip, Art.  5 Abs.  3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Demokratieprinzip, Art.  10 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Unabhängigkeit der umgekehrt vollziehenden europäischen Verwaltungseinrichtungen . . . . . . 102 b) Aufspaltung und Umkehrung von Rechtssetzungs- und Vollzugsebene . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5. Rechtsstaatsprinzip, Art.  2 EUV, Art.  20 Abs.  3 GG, und die Garantie effektiven Rechtsschutzes, Art.  47 GRCh, Art.  19 Abs.  4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Zuständigkeit des EuGH für die Kontrolle umgekehrter Vollzugsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Umgekehrtes Normenkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Umgekehrtes Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

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I.  Einführung: Gewissheitsverluste Verwaltungseinrichtungen der Union vollziehen Unionsrecht, und zwar ausschließlich Unionsrecht. Das gehörte bislang zu den (unausgesprochenen) Gewissheiten des Unionsrechts. Der europäische Verwaltungsraum und speziell das Verhältnis zwischen mitgliedstaatlichen und europäischen Verwaltungen haben sich seit den 1990er-Jahren zwar grundlegend verändert: Die Eigenverwaltung der Union ist erheblich erweitert und ausdifferenziert worden,1 insbesondere über die Einrichtung von Agenturen,2 und das Unionsrecht wird daher zu einem wachsenden Teil von der Union selbst angewandt, obwohl die Verträge den dezentralen Vollzug als Grundsatz vorsehen3. Zudem kooperieren nationale und europäische Verwaltungen im Rahmen von Verwaltungsverbünden4 mittlerweile so eng, dass man mit gutem Grund fragen kann, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von zwei getrennten Verwaltungsräumen zu sprechen5. Doch trotz dieser Veränderungen bestand bislang in allen Bereichen des Verwaltungsrechts Einigkeit und Sicherheit darüber, dass mitgliedstaatli-

  S. zu dieser Entwicklung statt vieler zusammenfassend Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, 2014, S.  12 ff.; Gundel, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), EnzEuR, Bd.  3, 2014, §  32 Rn.  1, 18 ff.; Craig, EU Administrative Law, 22012, S.  27 ff. 2   S. für einen Überblick über die rechtlich verselbständigten Agenturen, ihre Aufgaben und Befugnisse mit unterschiedlichen Typisierungsangeboten etwa Görisch, Demokratische Verwaltung durch Unionsagenturen, 2009, S.  185 ff.; Augsberg, in: Terhechte (Hrsg.), VwR EU 2011, §  6 Rn.  73 ff.; Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S.  57 ff.; zur allgemeinen Rechtsangleichungskompetenz des Art.  114 Abs.  1 AEUV als möglicher Rechtsgrundlage für die Einrichtung von Agenturen EuGH, Urt. v. 02.05.2006, Rs. C-217/04, Slg. 2006, I-3771, Rn.  44 f.; EuGH, Urt. v. 22.01.2014, Rs. C-270/12 (ESMA), JZ 2014, S.  244 (248 Rn.  104 f.), sowie zur Kritik an dieser Rspr. Kaufhold, Systemaufsicht, 2016, S.  263 ff. 3  Ob Art.  291 Abs.  1 AEUV als Zuständigkeitsregelung und Normierung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zugunsten des mitgliedstaatlichen Vollzugs verstanden werden kann, ist im Schrifttum umstr., wird aber weiterhin überwiegend bejaht, s. etwa Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/ AEUV, 52016, Art.  291 Rn.  2 ; Geismann, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 72015, Art.  291 AEUV Rn.  7; Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 22012, Art.  291 AEUV Rn.  3 ; Augsberg, in: Terhechte (Hrsg.), VwR EU 2011, §  6 Rn.  31; Kahl, Der Staat 50 (2011), S.  353, und ausführlich Haselmann, Delegation und Durchführung gemäß Art.  290 und 291 AEUV, 2012, S.  190 ff.; krit. etwa Stelkens, EuR 2012, S.  511, 531 ff.; Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S.  6 f., die Art.  291 Abs.  1 AEUV in erster Linie als Normierung der mitgliedstaatlichen Verpflichtung zur Durchführung des Unionsrechts verstehen; für einen knappen Überblick über die verschiedenen Lesarten des Art.  291 Abs.  1 AEUV s. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art.  291 AEUV Rn.  5 f. 4   S. statt vieler Schöndorf-Haubold/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005; von Bogdandy/Dann, GLJ 9 (2008), S.  2013 ff.; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010; Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  I, 22012, §  5 Rn.  16 ff.; zu Funktionen und Typen der verschiedenen Verwaltungsverbünde Kahl, Der Staat 50 (2011), S.  353 ff.; zu den Verwaltungsverbünden im Bereich der Finanzmarktaufsicht Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), S.  309 ff., und speziell zum Einheitlichen Aufsichtsmechanismus als einem „Verwaltungsverbund par excellence“ Hilbert, DV 50 (2017), S.  189 (190 ff.). 5   S. zu Konzept und Entstehung eines einheitlichen „europäischen Verwaltungs(rechts)raums“ von Bogdandy, in: ders./Cassese/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd.  I V, 2011, §  57 Rn.  1 ff.; Terhechte, in: Leible/ders. (Hrsg.), EnzEuR, Bd.  3, 2014, §  30 Rn.  21; zur zunehmenden Verschmelzung der Verwaltungsräume ferner Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, 2014, S.  23 ff. 1

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ches Recht von den Mitgliedstaaten vollzogen wird und unionale Verwaltungsstellen lediglich europäisches Recht anwenden.6 Im Bereich der Bankenaufsicht bricht das Unionsrecht nun erstmals mit dieser Regel. Die EZB ist heute nicht nur in weiten Teilen für die Durchsetzung des europäischen Bankenaufsichtsrechts verantwortlich. In Reaktion auf die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat der europäische Gesetzgeber auch den Vollzug des mitgliedstaatlichen Bankenrechts in erheblichem Umfang in ihre Hände gelegt. Nach Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 der Verordnung über den Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism-Verordnung – SSM-VO7) hat die Zentralbank zur Erfüllung ihrer Aufgaben neben dem einschlägigen Unionsrecht auch jene nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden, mit denen europäische Richtlinien umgesetzt oder Wahlrechte ausgeübt werden. Weil sie den vertraglichen Regelfall des europäischen Verwaltungsvollzugs umdreht und auf den Kopf stellt, lässt sich diese spezielle Konstruktion als „Vollzug in umgekehrter Richtung“8 oder – noch prägnanter – als „umgekehrter Vollzug“9 bezeichnen. Die Umkehrung des Verwaltungsvollzugs rührt an Grundstrukturen jedes föderalen Systems und auch des europäischen Mehrebenensystems. Sie ist eine Neuerfindung des europäischen Bankenaufsichtsrechts, aber nicht allein für das Unionsrecht ein Novum. Auch in anderen föderalen Ordnungen finden sich keine Vorbilder für eine Regelung, wonach die größere Einheit das Recht der kleineren vollzieht.10 Die neue Vollzugskonstruktion wirft daher eine Vielzahl bislang nicht oder wenig erörterter Fragen auf. In Anbetracht der Diskussion über die Krise der europäischen Rechtsgemeinschaft, die seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise intensiv geführt wird11 und – wie die Reaktionen auf die EuGH-Entscheidung über den Ad-hoc-Mechanismus zur Umverteilung von Asylbewerbern deutlich machen – auf absehbare Zeit nichts von ihrer Intensität verlieren dürfte, ist es von besonderem Interesse zu untersuchen, ob es sich beim umgekehrten Vollzug um einen Mechanismus handelt, der zur Stabilisierung der Rechtsgemeinschaft beitragen und zu diesem Zweck auch außerhalb des Finanzaufsichtsrechts eingesetzt werden könnte. Um die Übertragbar Vgl. exemplarisch Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 22010, §  3 Rn.  91 ff.; Augsberg, in: Terhechte (Hrsg.), VwR EU 2011, §  6 Rn.  14 ff.; Terhechte, in: Leible/ders. (Hrsg.), EnzEuR, Bd.  3, 2014, §  30 Rn.  17 f.; Streinz, EuropaR, 102016, §  7 Rn.  582 ff. 7   Verordnung (EU) Nr.  1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank. 8   Peuker, JZ 2014, S.  764 (766). 9   Tusch/Herz, EuZW 2015, S.  814 (815). 10   Im deutschen Bundesstaat bildet bislang die Gesetzgebungskompetenz des Bundes die äußerste Grenze seiner Verwaltungsbefugnisse, s. BVerfGE 12, 205 (229) – erstes Rundfunkurteil [1961]; 15, 1 (16) – Seewasserstraßen [1962]; 102, 167 (174) – Bundesstraße B 75 [2000]. Das BVerfG hat dieses Kompetenzverteilungsmuster jedoch in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht aus dem Bundesstaats-, Rechtsstaats- oder Demokratieprinzip abgeleitet, sondern als zusammenfassende Beschreibung der derzeitigen grundgesetzlichen Regelungen über die Aufteilung der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern verstanden und die Möglichkeit einer Änderung damit nicht prinzipiell ausgeschlossen. 11  S. statt vieler etwa Joerges, Der Staat 51 (2012), S.  357 ff.; Volkmann, Merkur 68/787 (2014), S.  1059 ff.; Voßkuhle, in: Stock/Markschies/Hauer (Hrsg.), Zukunftsort: Europa, 2015, S.  135 ff., sowie die Beiträge in Chalmers/Jachtenfuchs/Joerges (Hrsg.), The End of Eurocrats’ Dream, 2016, und jüngst etwa von Bogdandy, EuR 2017, S.  487 ff., sowie Weber, DÖV 2017, S.  741 ff., jeweils m.w.N. 6

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keit und das Steuerungspotential der neuen Konstruktion bewerten zu können, gilt es vor allem zwei Aspekte zu klären. Erstens: Welche Probleme haben den europäischen Gesetzgeber zur Einführung des Mechanismus im Bereich der Bankenaufsicht veranlasst und welches Ziel verfolgt er mit seiner Nutzung? Zweitens: Ist die Anordnung des umgekehrten Vollzugs mit dem europäischen Primärrecht vereinbar? Die weiteren Ausführungen sind daher wie folgt gegliedert: Zunächst werde ich den Regelungsgehalt des Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO näher bestimmen (II.). Anschließend werde ich die Reformen der Finanzaufsicht in der breiteren Diskussion über die Krise der Rechtsgemeinschaft verorten (III.) und die Motive für die Wahl der neuen Vollzugskonstruktion im Bankenaufsichtsrecht analysieren, womit zugleich ihre möglichen Anwendungsbereiche in anderen Politikfeldern beschrieben werden (IV.). Eine Anwendung des umgekehrten Vollzugs außerhalb des Finanzmarktrechts setzt seine Vereinbarkeit mit dem europäischen Primärrecht voraus, die daher im nächsten Schritt zu erörtern ist (V.). Auf dieser Grundlage lässt sich abschließend eine Einschätzung dazu formulieren, ob und unter welchen Bedingungen der umgekehrte Vollzug als ein neues Instrument zur Sicherung von Einheit in Vielfalt in der europäischen Rechtsgemeinschaft eingesetzt werden könnte und sollte (VI.).

II.  Ein föderales Novum: Nationales Recht in europäischen Händen Seit 2014 ist die EZB berechtigt und verpflichtet, neben den unionsrechtlichen Regelungen auch nationale Rechtsvorschriften zu vollziehen, soweit diese Vorschriften europäische Vorgaben umsetzen. Nach Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO wendet die EZB „zur Wahrnehmung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben und mit dem Ziel, hohe Aufsichtsstandards zu gewährleisten, […] das einschlägige Unionsrecht an, und wenn dieses Unionsrecht aus Richtlinien besteht, wendet sie die nationalen Rechtsvorschriften an, mit denen diese Richtlinien umgesetzt wurden. Wenn das einschlägige Unionsrecht aus Verordnungen besteht und den Mitgliedstaaten durch diese Verordnungen derzeit ausdrücklich Wahlrechte eingeräumt werden, wendet die EZB auch die nationalen Rechtsvorschriften an, mit denen diese Wahlrechte ausgeübt werden.“ Zum Umsetzungsrecht im Sinne dieser Regelung zählen zunächst jene nationalen Vorschriften, die ausbuchstabieren, was in Richtlinien bzw. Verordnungen vorgezeichnet ist, und die Spielräume ausfüllen, die der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten eröffnet hat. Darüber hinaus hat die EZB jedoch auch jene mitgliedstaatlichen Normen anzuwenden, die zwar im Zuge der Umsetzung und im Regelungsbereich einer Richtlinie erlassen wurden, aber zulässigerweise12 über die europäischen Vorgaben hinausgehen, indem sie etwa den unionsrechtlich vorgezeichneten Anwendungsbereich erweitern oder höhere Anforderungen als die euro12   S. zu den Grenzen überschießender Richtlinienumsetzung Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, 2006, S.  26 ff.; Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, S.  375 f.; Burmeister/Staebe, EuR 2009, S.  4 44 (449 ff.); zur Abgrenzung der „echten“ inhaltlichen Übererfüllung vom „unechten“ gold plating in der Gestalt einer Übertragung auf verwandte, von der Richtlinie aber nicht berührte Sachbereiche Schwarze, a.a.O., S.  374 f.; Burmeister/Staebe, a.a.O., S.  4 45 f.

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päischen Mindestvorgaben normieren.13 Als Beispiel für eine solche „überschießende“, insbesondere im Wirtschaftsrecht vielfach auch als „gold plating“ bezeichnete Richtlinienumsetzung kann die Regelung des §  10 Abs.  4 KWG dienen, die unionsrechtliche Anforderungen an das Eigenkapital erweitert und zur Sicherung der Finanz­stabilität die Anordnung zusätzlicher Kapitalpuffer gestattet.14 Für die Einbeziehung der „überschießenden“ Regelungen spricht zunächst, dass Wertungswidersprüche und Beeinträchtigungen der Aufsichtseffektivität drohten, würden die Vollzugszuständigkeiten für einen einheitlichen Regelungskomplex aufgespalten.15 Zudem lassen sich die „vergoldenden“ Elemente einer nationalen Regelung vielfach nicht ohne Weiteres von den einfachen Umsetzungsvorschriften differenzieren. Wollte man den Vollzug der überschießenden Elemente den nationalen Behörden vorbehalten, wäre die EZB gezwungen, entweder eine einheitliche Regelung aufzuspalten und dann einzelne Fragmente umzusetzen, was nicht nur unpraktikabel, sondern vor allem mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden wäre, oder sie müsste die Vorschrift vollständig außer Betracht lassen, was dem Zweck des Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO zuwiderliefe, denn in diesem Fall würden auch die umsetzenden Elemente nicht auf europäischer Ebene vollzogen. Autonom gesetztes nationales Recht wird hingegen unabhängig davon, ob es einen inhaltlichen Bezug zum europäischen Bankenaufsichtsrecht hat, nicht vom Anwendungsbefehl des Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO erfasst. Die gelegentlich erörterte „Annexkompetenz“ der Zentralbank für die Anwendung auch des nicht europäisierten materiellen Bankenaufsichtsrechts16 ist mit dem insoweit eindeutigen Wortlaut der SSM-Verordnung nicht vereinbar, mag man sie auch rechtspolitisch für noch so dringlich erachten.17

  I. Erg. ebenso Lackhoff, in: Posser/Pünder/Schröder (Hrsg.), Liber Amicorum für Dirk Ehlers, 2015, S.  177 (188); ders., The Single Supervisory Mechanism, 2017, Rn.  142 ff.; Berger, WM 2016, S.  2325 (2333); für eine Begrenzung auf die umsetzenden Regelungen im engen Sinne hingegen Schuster, EuZW-Beilage 2014, S.  3 (8); Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  179; Kämmerer, WM 2016, S.  1 (3 f.); offen gelassen von Schneider, EuZW 2013, S.  452 (455). Zur Begründung der engen Interpretation wird überwiegend auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verwiesen. Da es bei der Auslegung von Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO jedoch gerade zu ermitteln gilt, wie weit die Kompetenzübertragung reicht, dürfte Art.  5 Abs.  2 EUV hier ebenso wenig weiterhelfen wie ein Grundsatz, wonach Ausnahmen eng zu interpretieren sind, die Auslegung von Ausnahmevorschriften sinnvoll anleiten kann. 14   S. zu dieser Regelung und ihrem Zusammenspiel mit den weiteren makroprudentiellen Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung Gurlit, WM 2015, S.  1217 (1223 ff., 1261); Konesny/Glaser, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler (Hrsg.), KWG, CRR, 52016, §  10 KWG Rn.  32 ff. 15  Vgl. Berger, WM 2016, S.  2325 (2332 f.). 16   Für eine solche Kompetenz der EZB mit Verweis auf die Intention des europäischen Gesetzgebers insbes. Lackhoff, in: Posser/Pünder/Schröder (Hrsg.), Liber Amicorum für Dirk Ehlers, 2015, S.  177 (188); ders., The Single Supervisory Mechanism, 2017, Rn.  142 ff. 17   Tusch/Herz, EuZW 2015, S.  814 (815), und Berger, WM 2016, S.  2325 (2331), weisen ergänzend mit Recht darauf hin, dass Regelungen, die (wie insbes. Verwaltungsvorschriften) keine rechtliche Außenwirkung entfalten und deshalb nicht zu den zulässigen Umsetzungsakten einer Richtlinie nach Art.  288 Abs.  3 AEUV zählen, ebenfalls nicht zum Kreis der von der EZB zu vollziehenden Vorschriften gehören können. Der deutsche Gesetzgeber hat daher in Reaktion auf Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSMVO in vielen Bereichen Ermächtigungen zum Erlass von Verordnungen geschaffen, die an die Stelle von Verwaltungsvorschriften treten soll, so etwa in §  25a Abs.  4 KWG. 13

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Auch wenn die EZB als Bankenaufsichtsbehörde nationales Recht anwendet, wird sie als Einrichtung der Union und nicht etwa als ein an die Mitgliedstaaten entliehenes Organ tätig. Ihre Personal- und Sachmittel werden nicht in den Dienst der nationalen Aufsichtsbehörden und deren Aufgaben gestellt.18 Vielmehr werden Aufgaben und Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert. Die EZB handelt auch als Bankenaufsicht institutionell wie funktionell auf eigene Rechnung, auf der Grundlage unionsrechtlicher Kompetenzen und mithin als Unionsorgan. Die von ihr vollzogenen mitgliedstaatlichen Vorschriften bleiben dem nationalen Rechtskorpus zugehörig und werden nicht in Unionsrecht transformiert.19 Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO enthält keine dynamische Verweisung, sondern eine Außennormverweisung auf das mitgliedstaatliche Umsetzungsrecht.20 Letzteres wird daher auch nicht in die Unionsrechtsordnung einbezogen und nicht zu einem Teil des europäischen Bankenrechts gemacht. Vielmehr wird die EZB als europäische Einrichtung zur Anwendung von Vorschriften der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verpflichtet. Das legt bereits der Wortlaut nahe, der zwischen dem „einschlägigen Unionsrecht“ und den „nationalen Rechtsvorschriften“ differenziert, mit denen das Unionsrecht umgesetzt wird. Eine dynamische Verweisung wäre angesichts der Grundrechtsrelevanz der bankenaufsichtsrechtlichen Vorschriften zudem grundsätzlich unzulässig.21 Die SSM-Verordnung errichtet mithin eine bislang unbekannte Vollzugskon­ struk­t ion. Zwar finden sich im Unionsrecht bereits Konstellationen, in denen nationales Recht auf europäischer Ebene zur Anwendung gebracht wird. So schreibt etwa Art.  54 UAbs.  1 AEUV vor, dass nach Maßgabe des mitgliedstaatlichen Rechts zu beurteilen ist, ob eine Gesellschaft mit Sitz innerhalb der Union wirksam gegründet wurde und sich deshalb auf die europäische Garantie der Niederlassungsfreiheit berufen kann.22 Das Regelungsziel besteht hier wie bei vergleichbaren Integrationsklauseln 23 jedoch nicht darin, die Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Vorschriften sicherzustellen und den Vollzug zu diesem Zweck auf Unionseinrichtungen zu über18  Ebenso Kämmerer, WM 2016, S.  1 (4); vgl. zu den Charakteristika der Organleihe BVerfGE 63, 1 (31 f.) – Schornsteinfegerversorgung [1983], sowie Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  I, 22012, §  14 Rn.  35, 49. 19   So i. Erg. auch Kämmerer, WM 2016, S.  1 (3: keine „Rechtsleihe“); Berger, WM 2016, S.  2325 (2332); Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (180); a.A. Tusch/Herz, EuZW 2015, S.  814 (815), die das „einschlägige Unionsrecht“ als neue unionsrechtliche Kategorie qualifizieren, die auch nationales Umsetzungsrecht umfasst; ähnlich Lackhoff, The Single Supervisory Mechanism, 2017, Rn.  136; Varentsov, DÖV 2017, S.  53 (55). 20   S. zur Unterscheidung der Verweisungstypen etwa Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S.  49 ff., sowie Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 32008, Rn.  235 f., 243 ff. 21  Vgl. Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (180), sowie zu den (v.a. aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Bestimmtheit und des Vorbehalts des Gesetzes und aus dem Demokratieprinzip) folgenden Anforderungen an die nur ausnahmsweise Zulässigkeit einer dynamischen Verweisung auf von anderen Gesetzgebern erlassene Normen BVerfGE 47, 285 (311 ff.) – Notargebühren [1978], sowie den ausführlichen Überblick über den Meinungsstand von Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S.  203 ff. 22   Im Unterschied zu den Verwaltungseinrichtungen der Union war der EuGH daher bereits in der Vergangenheit mitunter verpflichtet, mitgliedstaatliches Recht anzuwenden, s. hierzu Gaintanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 72015, Art.  19 EUV Rn.  34. 23   S. etwa Art.  299 UAbs.  2 und Art.  340 AEUV.

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tragen. Anders als von Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO werden nicht die Verwaltungskompetenzen geregelt. Vielmehr handelte es sich um Kollisionsrecht24, das den sachlichen Anwendungsbereich materiell-rechtlicher Vorschriften bestimmt. Bei einer Anordnung des Vollzugs nationalen Rechts durch Unionseinrichtungen bleibt dieser hingegen unberührt.

III.  Die Tradition in der Krise: Einheit durch Angleichung des anwendbaren Rechts Das Finanzaufsichtsrecht beschreitet mit der Einführung des umgekehrten Vollzugs einen neuen Weg zur Herstellung von Einheitlichkeit. Ob es damit als Vorbild für andere Rechtsbereiche wirken kann, ist abhängig von der Nachfrage und der Qualität des Lösungsangebots. Jedenfalls über die erste Voraussetzung dürfte weitgehende Einigkeit bestehen: Am Bedarf für Instrumente der Einheitsbildung fehlt es nicht. Die Europäische Rechtsgemeinschaft steht unter Druck und das nicht erst, seit sie durch den Zustrom von Flüchtlingen herausgefordert wird und das Dublin-System, das Schengen-Abkommen und der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts insgesamt ins Wanken geraten sind. Schon zuvor haben die Missachtung des EuroStabi­litätspakts, die Finanz- und Staatsschuldenkrise und dann die Rettungspakete, die man zur Krisenbewältigung geschnürt hat, manchen daran zweifeln lassen, dass das Recht auch weiterhin das einigende Band Europas ist oder sein kann. Wie die Rechtsgemeinschaft in die Krise geraten ist oder wie zumindest der nachhaltige Eindruck entstehen konnte, das Recht halte die Gemeinschaft nicht länger zusammen, ist nach wie vor unklar. Die Thesen gehen weit auseinander. Zum Teil versteht man Staatsschulden-, Flüchtlings- und Verfassungskrisen als Beleg dafür, dass das Recht als Integrationsinstrument grundsätzlich ungeeignet ist. Recht soll zu kalt, zu langsam, zu bürokratisch und insgesamt zu wenig liebenswert sein, um aus einer Gesellschaft eine stabile Gemeinschaft zu formen.25 „Integration durch Recht“ war danach allein der Traum einiger einflussreicher Eurokraten, der nun endgültig ausgeträumt ist.26 Auf der Tagesordnung soll deshalb jetzt das „orderly management of decline“ stehen, die „geordnete Verwaltung des unvermeidlichen Niedergangs“.27 24  Vgl. Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 72015, Art.  54 Rn.  5 („Kollisionsnorm sui generis“); Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EURecht, Art.  54 AEUV Rn.  13 m.w.N. („versteckte unionsrechtliche Kollisionsnorm“). 25   S. etwa Volkmann, Merkur 68/787 (2014), S.  1059 ff. (insbes. S.  1062: „Recht allein reicht nicht für Gemeinschaft, hat noch nie gereicht.“); vgl. auch die aus Anlass der Staatsschuldenkrise formulierten Plädoyers, Recht in Krisenzeiten durch politische Lösungen zu ersetzen, etwa von Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S.  299 ff., und Schorkopf, AöR 136 (2011), S.  323 (340); zusammenfassend zu den gegen das Recht als Integrationsinstrument vorgetragenen Einwände Voßkuhle, JZ 2016, S.  161 (167 f.). 26   In Anlehnung an Chalmers/Jachtenfuchs/Joerges (Hrsg.), The End of Eurocrats’ Dream, 2016, die freilich nicht das Recht als solches, sondern „nur“ jene rechtlichen Regelungen als empirisch wie normativ zur Integration ungeeignet bewerten, die im System des „postdemokratischen Exekutivförderalismus“ (Habermas) von den Brüsseler Institutionen ausgearbeitet wurden, s. Chalmers/Jachtenfuchs/ Joerges, in: dies. (Hrsg.), The End of Eurocrats’ Dream, 2016, S.  1 (21). 27   Asch, Die Krise der EU und die Idee einer europäischen Rechtsgemeinschaft, 2016, abruf bar

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Die Masse der unionsrechtlichen Normen, die jeden Tag geräuschlos und zuverlässig umgesetzt werden und den Weg bereiten für enge ökonomische, soziale und kulturelle Verflechtungen, und die Offenheit vieler jener Vorschriften, über deren Einhaltung jetzt gestritten wird, begründet erhebliche Zweifel an dieser Deutung.28 Näher liegt es meines Erachtens, die diversen Krisen nicht als Ausdruck der prinzipiellen Ungeeignetheit des Rechts als einigendes Band, sondern als Folgen von konkreten Konstruktionsfehlern und Anwendungsdefiziten zu verstehen. Wenn die Krise der Rechtsgemeinschaft aber keine prinzipielle Krise des Rechts als Integrationsinstrument, sondern Folge von konkreten Architektur- und Umsetzungsfehlern ist, dann ist es sinnvoll und notwendig, über alternative Konstruktionen und über Änderungen der traditionellen Anwendungspraxis nachzudenken. Die Vorschläge, die insoweit bisher gemacht werden, lassen sich ganz überwiegend auf der klassischen Skala verorten, die von „so-viel-wie-möglich“ bis „so-wenig-wienötig“ Europäisierung reicht. „Europäisierung“ im Sinne dieser Skala meint dabei regelmäßig: Harmonisierung oder Vereinheitlichung des materiellen Rechts, ggf. in Verbindung mit einer Angleichung des Verfahrensrechts. Jedenfalls geht es um Rechtssetzung, um die Modifikation der anzuwendenden Normen. „Integration durch Recht“ war und ist bisher vor allem „Integration durch Rechtssetzung“. Als nächster Integrationsschritt – egal, ob man ihn nun gehen oder unter allen Umständen vermeiden möchte – wird typischerweise die weitere Rechtsangleichung gesehen. Dahinter steht die Vorstellung: Je einheitlicher das anzuwendende Recht, desto tiefer die Integration, desto enger die Gemeinschaft. Die Rechtsanwendung durch die Verwaltung ist daneben als einheitsbildender Faktor bislang eher im Hintergrund geblieben. Die gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts und der EuGH werden seit jeher als wesentliche Integrationsbausteine bewertet, für die Verwaltung und ihren Gesetzesvollzug gilt das jedoch nicht. Wenn das erwünschte Niveau an Einheitlichkeit in einem Rechtsbereich über den Erlass einer Richtlinie nicht zu erreichen war, weil die Mitgliedstaaten die Vorgaben fehlerhaft umgesetzt oder ihr nationales Umsetzungsrecht nicht effektiv durchgesetzt haben, dann hat der europäische Gesetzgeber hierauf typischerweise mit dem Erlass von Verordnungen reagiert und nicht etwa mit der Übertragung von Verwaltungskompetenzen auf die Union, so zuletzt beispielsweise im Datenschutzrecht29. Wurde die Rechtsanwendung doch europäisiert, dann regelmäßig, um einer vorherigen Rechtsangleichung mehr Effektivität zu verleihen. Geht es um Einheitsbildung und Integration durch Recht, wird der Vollzug durch die Union bisher überwiegend als „dienend“ und nachgeordnet konzipiert. Er bildet den Annex zur Unionsrechtsetzung.

unter: www.tichyseinblick.degastbeitrag/die-krise-der-eu-und-die-idee-einer-europaeischen-rechtsgemeinschaft/(zuletzt aufgerufen am 14.10.2017). 28  S. Voßkuhle, JZ 2016, S.  161 (168); Volkmann, Merkur 68/787 (2014), S.  1059 (1062); vgl. auch Oppermann/Classen/Nettesheim, EuropaR, 72016, §  3 Rn.  23, 26. 29   Hier soll mit Hilfe der Datenschutzgrundverordnung (VO [EU] Nr.  679/2016 des EP und des Rates) das einheitliche Datenschutzniveau in der Union erreicht werden, das mit der Datenschutzrichtlinie (Richtlinie 95/46/EG des EP und des Rates) aufgrund der uneinheitlichen Umsetzung in den Mitgliedstaaten und der heterogenen Aufsichtspraxis nicht verwirklicht werden konnte.

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IV.  Das Modell der SSM-Verordnung: Einheit durch umgekehrten Vollzug Die SSM-Verordnung bricht mit dieser Tradition und europäisiert den Vollzug ohne zuvor das anwendbare Recht vereinheitlicht zu haben. Was hat die Staaten des Euroraums dazu veranlasst, das Schicksal ihrer Gesetze in wesentlichen Bereichen der EZB anzuvertrauen?

1.  Das Ausgangsproblem: Vereinheitlichung des Vollzugs ohne „Single Rule Book“ Die Motive für die Wahl der neuartigen Vollzugskonstruktion erschließen sich bei einem Blick auf die historische Entwicklung des Finanzmarktrechts. Seit den 1970erJahren und bis 2009 hat sich der europäische Gesetzgeber im Wesentlichen darauf beschränkt, das materielle Finanzmarktrecht durch Richtlinien und Mindestvorgaben zu harmonisieren. Der Vollzug der harmonisierten Vorgaben war den mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörden überlassen. Das Unionsrecht hat sie lediglich zur Kooperation verpflichtet und die Rechtsanwendung durch unverbindliche Leitlinien koordiniert. Solange eine vollständige Angleichung der materiellen Aufsichtsanforderungen im Wege des Verordnungserlasses politisch nicht erwünscht oder rechtlich nicht durchsetzbar war, schien der koordinierte mitgliedstaatliche Vollzug harmonisierter nationaler Vorschriften als das Mittel der Wahl.30 Diese minimal-invasive Regulierungsstrategie war mit einer Reihe von Problemen verbunden. So sind zum einen die Unterschiede im materiellen Finanzmarktrecht auch nach dem Erlass der Richtlinien signifikant geblieben und waren ein Hindernis für grenzüberschreitende Finanzdienstleistungen und ein Anreiz für Aufsichtsarbitrage. Zum anderen sind die nationalen Regelungen, auch soweit sie harmonisiert waren, uneinheitlich angewandt und interpretiert worden.31 Die Leitlinien der Koordinationsausschüsse haben daran wenig geändert. Denn Ursache der unterschiedlichen Aufsichtspraktiken war selten das fehlende Verständnis für eine Norm und ihre ratio oder die Unkenntnis davon, wie sie im Rest der Union umgesetzt wird. Hintergrund war vielmehr das als capture bekannte Problem. Die nationalen Behörden haben sich von den Instituten, die ihrer Aufsicht unterstellt waren, beeinflussen und vereinnahmen lassen. Insbesondere gegenüber den so genannten national champions wurden Aufsichtsmaßnahmen entweder gar nicht oder nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung ergriffen.32 Die Aufsichtspraxis variierte daher 30  S. zu dieser Entwicklung des Finanzmarktrechts van Aaken, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S.  219 (237 ff.); Ohler, in: Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht (EnzEuR Bd.  5 ), 2012, §  10 Rn.  1, 32 ff.; Kaufhold, in: Schmidt/Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2016, §  14 Rn.  9 ff. 31   S. statt vieler die einflussreichen Analysen der Vor-Krisen-Defizite der de Larosière-Gruppe, Report, 2009, S.  30 ff., sowie der FSA, The Turner Review, 2009, S.  100 ff. 32   S. statt vieler etwa Kämmerer, NVwZ 2013, S.  830 (831); Binder, ZBB 2013, S.  297 (300); Ferran/ Babis, The European Single Supervisory Mechanism, 2013, S.  11; Lehmann/Manger-Nestler, ZBB 2014, S.  1 (8); Wymeersch, The Single Supervisory Mechanism or „SSM“, Part One of the Banking Union, 2014, S.  8.

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zwischen den Mitgliedstaaten und den aufsichtsunterworfenen Unternehmen. Auch die harmonisierten Aufsichtsanforderungen wurden nicht effektiv durchgesetzt. Diese Probleme sind im Prinzip seit Jahrzehnten bekannt. Aber erst in der Krise der Finanzmärkte 2007/2008 sind sie offenkundig und vor allem für den Steuerzahler teuer geworden. Die Union hat auf die Krise zunächst entlang der bekannten Linien reagiert, d.h. sie hat das anzuwendende Recht stärker angeglichen (1. a.) und für den mitgliedstaatlichen Vollzug eine engere Abstimmung vorgesehen (1. b.). Erst als dann zum zweiten Mal deutlich wurde, dass dieses traditionelle Vorgehen ineffektiv ist und auch bleibt, hat man die Regulierungsstrategie geändert und den umgekehrten Vollzug als neuen Mechanismus eingeführt (2.).

a)  Angleichung, aber keine Vereinheitlichung des materiellen Rechts Die erste, gleichsam klassische Reaktion auf die Krise im Finanzsystem betraf das materielle Finanzmarktrecht. 2009 hat der europäische Gesetzgeber damit begonnen, die Aufsichtsanforderungen zunehmend anstatt durch Richtlinien durch Verordnungen zu regeln, die den Mitgliedstaaten keine Regelungsspielräume lassen. Wesentliche Anforderungen an Banken finden sich heute beispielsweise in der EU-Ban­ken­ aufsichtsverordnung33 und wurden zu einem großen Teil maximal harmonisiert. Eine vollständige und abschließende Regelung der Aufsichtsmaßstäbe enthalten diese und andere Verordnungen jedoch nach wie vor nicht. Andere zentrale Bereiche des Finanzmarktrechts werden weiterhin nur durch Richtlinien und Mindestanforderungen gesteuert. Die Eigenkapitalanforderungen beispielsweise, die nach wie vor ein wichtiges Instrument des Gesetzgebers zur Lenkung des Finanzsystems bilden, sind nur zum Teil in der EU-Bankenaufsichtsverordnung geregelt.34 Die als Antwort auf die Krise und als Maßnahme zum Schutz der Systemstabilität konzipierten Eigenkapitalpuffer etwa wurden durch eine Richtlinie eingeführt,35 die den Mitgliedstaaten nicht nur unwesentliche Umsetzungsspielräume eröffnet. Die EZB hat daher Anfang 2016 noch 160 Vorschriften allein über das vorzuhaltende Eigenkapital gezählt, die den Mitgliedstaaten Umsetzungs- oder Anwendungsspielräume belassen.36 Das so genannte „Single Rule Book“ – also das einheitliche Gesetzbuch für den Finanzmarkt, von dem in den Diskussionen über die Bankenunion oft und oft beschwörend die Rede ist – wurde bisher also nicht geschaffen.37 Das ist zum Teil eine 33   VO (EU) Nr.  575/2013 des EP und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (EU-Bankenaufsichtsverordnung). 34   S. Art.  25 ff. EU-Bankenaufsichtsverordnung. 35   Richtlinie 2013/36/EU des EP und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen (CRD-IVRichtlinie). 36   EZB, Jahresbericht 2015, 2016, S.  5 ; s. ferner den sog. „Bericht der fünf Präsidenten“ aus dem Jahr 2015, der auf nationaler Ebene nach wie vor einen „signifikante[n] Ermessensspielraum“ beobachtet „der […] immer noch Auswirkungen hat, besonders auf Qualität und Zusammensetzung des Eigenkapitals von Banken“ ( Juncker/Tusk et al., Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, 2015, S.  14). 37   Vgl. die Resümees von Babis, Single Rulebook for Prudential Regulation of Banks: Mission Accomplished?, 2014, S.  8 ff., und Lackhoff, The Single Supervisory Mechanism, 2017, Rn.  144. Der Be-

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Folge mangelnden politischen Willens und fehlender Kompetenzen, aber nicht nur. Es ist auch eine Reaktion auf Eigenheiten des Regelungsbereichs. Ein signifikanter Teil der verbleibenden Spielräume soll es den nationalen Gesetzgebern ermöglichen, auf solche Marktstrukturen und -entwicklungen zu reagieren, die sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden.38 Die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Konkretisierung der Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation39 erlauben es den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern beispielsweise, auf nationale Traditionen in den Strukturen der Unternehmensführung zu reagieren. Vollständig harmonisierte Anforderungen an die internen Risikomanagementsysteme könnten die Banken zu dem mittelfristig zur Einrichtung uniformer Institutsstrukturen und Geschäftsmodelle veranlassen und damit die Anfälligkeit des Finanzsystems für systemische Risiken steigern anstatt sie zu reduzieren.40 Die Flexibilität bei der Ausgestaltung der Kapitalpuffer41 ermöglicht eine Anpassung an zwischen den Mitgliedstaaten variierende Marktstrukturen, in denen jeweils unterschiedliche Institute für die Systemstabilität Bedeutung erlangen können. Die Zurückhaltung des Unionsgesetzgebers gegenüber einer Vollharmonisierung markiert also zumindest auch durch die Sache bedingte Grenzen der Vereinheitlichung.

b)  Koordinierung, aber keine Vereinheitlichung des Vollzugs Die zweite kriseninduzierte Änderung der Regulierungsstrategie, die im vorliegenden Zusammenhang relevant ist, betrifft die Institutionen und das Verfahren der Bankenaufsicht. Parallel zur weiteren Angleichung des anzuwenden Rechts hat man sich nach der Krise darum bemüht, die mitgliedstaatliche Rechtsdurchsetzung enger zu steuern. Dazu hat man zum einen die Ausschüsse, die früher für die Koordinierung zuständig waren, zu europäischen Agenturen ausgebaut und mit erweiterten Befugnissen ausgestattet und zum anderen Organisations- und Verfahrensvorgaben für den mitgliedstaatlichen Vollzug harmonisiert. Der 2010 errichteten Europäischen Bankenaufsichtsbehörde beispielsweise hat man das Recht eingeräumt, unmittelbar Maßnahmen gegenüber Finanzunternehmen zu ergreifen, wenn und soweit die nationalen Aufsichtsinstanzen europäisches Recht missachten.42 Ihr Vorgänger, der griff „Single Rule Book“ (Einheitliches Regelwerk) wurde 2009 vom Europäischen Rat zur Beschreibung eines der Kernziele der avisierten Reformen von Finanzmarktregulierung und -aufsicht geprägt, s. Rat der Europäischen Union, 11225/2/09 REV 2, Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Nr.  20. 38  S. zur Notwendigkeit, die nationalen Marktstrukturen in Rechnung zu stellen, Binder, ZBB 2013, S.  297 (302); Schneider, EuZW 2013, S.  452 (454); Babis, Single Rulebook for Prudential Regulation of Banks: Mission Accomplished?, 2014, S.  4 f. 39   Vgl. Art.  74 ff. CRD IV-Richtlinie sowie die Umsetzung in Deutschland durch §  25a KWG. 40   S. zu diesem und weiteren aus den Eigenheiten des Finanzsystems abgeleiteten Argumenten gegen eine Vollharmonisierung der materiellen Aufsichtsanforderungen zusammenfassend Babis, Single Rulebook for Prudential Regulation of Banks: Mission Accomplished?, 2014, S.  4 f. m.w.N. 41   S. Art.  128 ff. CRD IV-Richtlinie sowie die Umsetzung in Deutschland in §§  10c ff. KWG und hierzu Gurlit, WM 2015, S.  1217 (1222 ff.). 42  S. Art.   8 Abs.   2 lit.   f i.V.m. Art.   17 Abs.   6, Art.   18 Abs.   4, Art.   19 Abs.   4 Verordnung (EU) Nr.  1093/2010 des EP und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), sowie zu diesen subsidiären Aufsichtsbefugnissen

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Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden für das Bankwesen43, hatte die Institute lediglich mittelbar, über den Erlass von Leitlinien für die nationale Aufsichtspraxis adressieren können. Die Ausarbeitung dieser koordinativen Praxisleitfäden blieb freilich die Hauptaufgabe auch der neuen Europäischen Finanzaufsichtsbehörden.44 Die regelmäßige Verantwortung für die Eröffnungskontrolle wie für die laufende Überwachung lag weiterhin bei den Mitgliedstaaten, deren Verfahrensrecht jedoch durch eine Reihe von neu geschaffenen Mindestanforderungen angeglichen wurde.45 Entscheidendes gewonnen wurde mit diesen materiell-rechtlichen und institutionellen Maßnahmen nicht. Speziell die Erfahrungen mit den neuen europäischen Aufsichtsagenturen waren ernüchternd.46 Es wurde relativ schnell ersichtlich, dass sie die Defizite des mitgliedstaatlichen Vollzugs nicht beseitigen würden. Dazu hatte man ihnen schlicht keine ausreichenden Befugnisse verliehen.47 Nationale Behörden haben ihre Heimatbanken nach der Krise sogar noch weitergehend bevorzugt als zuvor.48 Obwohl das materielle Recht in größerem Umfang harmonisiert war und obwohl man neue Koordinationseinrichtungen geschaffen hatte, konnte man nach 2010 eine wachsende Fragmentierung der Finanzmärkte entlang der nationalen Grenzen beobachten.49

2.  Die Lösung: Umgekehrter Vollzug Die Länder der Eurozone haben sich daher in einem zweiten Reformschritt entschlossen, den vertrauten Weg zu verlassen, die Regulierungsstrategie grundsätzlich zu ändern und den Vollzug des Aufsichtsrechts nicht länger nur zu koordinieren, sondern in weiten Teilen zu europäisieren. Sie haben den SSM – den Einheitlichen Aufsichtsmechanismus – eingerichtet und die EZB in diesem Rahmen mit weitreichenden Vollzugskompetenzen ausgestattet. Einige wesentliche Aufsichtsbefugnisse werden jetzt für sämtliche Banken, unabhängig von ihrer Bedeutung für den natioz.B. Kämmerer, NVwZ 2011, S.  1281 (1284 ff.); Ohler, in: Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht (EnzEuR Bd.  5 ), 2012, §  10 Rn.  130. 43   Besser bekannt unter seinem englischen Akronym CEBS (Committee of European Banking Supervisors). 44   S. etwa Art.  8 Abs.  1 lit.  a Verordnung (EU) Nr.  1093/2010 (Europäische Bankenaufsichtsbehörde). Die Verordnungen über die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) sowie die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen (EIOPA) entsprechen strukturell jener über die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, s. für einen Überblick über die Aufgaben und Befugnisse der neuen Einrichtungen Kaufhold, in: Schmidt/Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2016, §  14 Rn.  97 ff. 45   S. Art.  49 ff. CRD-IV-Richtlinie. 46   Vgl. die Zwischenbilanzen zu den Arbeiten der ESAs etwa von Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  7, und Ceyssens, NJW 2013, S.  3704 (3705). 47   Der Bankenstresstest beispielsweise, den die Europäische Bankenaufsichtsbehörde 2011 erstmals durchgeführt hat, baute auf unterschiedlichen nationalen Datensätzen auf und wurde deshalb als Risikobewertung kaum ernstgenommen, s. Bellarz, in: Grieser/Heemann (Hrsg.), Europäisches Bankenaufsichtsrecht, 22016, IX, S.  335 (355); Ohler, Die Verwaltung 49 (2016), S.  309 (330). 48  S. Ferran, in: Busch/Ferrarini (Hrsg.), European Banking Union, 2015, S.  56 (60 Rn.  3.09). 49  S. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2014/ 2015, 2014, Rn.  318; ders., Jahresgutachten 2015/2016, Rn.  435; S.  56 (60 Rn.  3.09).

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nalen und europäischen Finanzmarkt ausschließlich von der EZB ausgeübt. Dazu gehören insbesondere die Erteilung und der Entzug der Zulassung zum Geschäftsbetrieb.50 Alle Kreditinstitute erhalten ihre Erlaubnis heute von der EZB, die BaFin wirkt insoweit nur noch als Übermittlerin der Entscheidungen.51 Andere Kompetenzen sind der Zentralbank allein mit Blick auf die bedeutenden Kreditinstitute52 übertragen worden, so beispielsweise die Befugnisse zur laufenden Überprüfung der Eigenkapitalausstattung.53 Soweit es um kleine, unbedeutende Banken geht, werden diese Befugnisse nach wie vor von den mitgliedstaatlichen Behörden ausgeübt. Die EZB überwacht in diesem Fall jedoch die nationale Aufsichtstätigkeit und steuert sie durch Verordnungen, Leitlinien und Weisungen.54 Für diese weitgehende Europäisierung gerade des Vollzugs haben sich die Staaten der Eurozone vor allem entschieden, um die Aufsichtsverfahren von ihrem home bias zu befreien und eine einheitliche und effektive Rechtsanwendung zu gewährleisten.55 Denn eine Vereinnahmung (capture) der Aufsichtsbehörden durch die Aufsichtsunterworfenen bedroht die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte gleich auf mehreren Wegen: Zum einen gefährdet sie den Sicherheitsstandard der Kreditinstitute und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls, der zur Belastung für die Gläubiger, das Finanzsystem insgesamt und letztlich die Steuerzahler werden kann. Zum anderen beeinträchtigt eine ungleichmäßige Rechtsanwendung das wechselseitige Vertrauen der Finanzmarktteilnehmer, denn diese können sich nicht   Art.  4 Abs.  1 lit.  a i.V.m. Art.  6 Abs.  4 S.  1 SSM-VO.   Anträge auf Zulassung sind bei den zuständigen nationalen Behörden einzureichen, Art.  14 Abs.  1 SSM-VO. Diese prüfen, ob der Antragsteller alle Zulassungsbedingungen des nationalen Rechts erfüllt und schlagen der EZB dann entweder die Erteilung der Zulassung vor oder lehnen den Antrag auf Zulassung ab, Art.  14 Abs.  2 SSM-VO. Die EZB erteilt die Zulassung, wenn der Antragsteller alle Voraussetzungen des einschlägigen Unionsrechts erfüllt, Art.  14 Abs.  3 SSM-VO. Die nationale Behörde übermittelt den EZB-Beschluss an den Antragsteller, Art.  14 Abs.  4 SSM-VO. 52   Ein Institut ist als bedeutend zu qualifizieren, wenn der Gesamtwert seiner Aktiva 30 Mrd. Euro übersteigt, das Verhältnis seiner gesamten Aktiva zum BIP des teilnehmenden Mitgliedstaats seiner Niederlassung 20 % übersteigt (es sei denn, der Gesamtwert der Aktiva liegt unter 5 Mrd. Euro) oder wenn nationale Aufsichtsbehörden und EZB aufgrund einer Gesamtbetrachtung und speziell einer Bewertung der grenzüberschreitenden Tätigkeiten zu der Auffassung gelangen, dass das Institut für die Volkswirtschaft des Niederlassungsstaates bedeutend ist, s. Art.  6 Abs.  4 SSM-VO. Ein Unternehmen wird jedoch erst als bedeutendes behandelt, nachdem die EZB dies in einem konstitutiven Einstufungsbeschluss festgestellt hat, Art.  39 Abs.  1 Verordnung (EU) Nr.  468/2014 der EZB vom 16. April 2014 zur Einrichtung eines Rahmenwerks für die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Zentralbank und den nationalen zuständigen Behörden und den nationalen benannten Behörden innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM-Rahmenverordnung). Die EZB veröffentlicht gem. Art.  49 Abs.  1 SSM-Rahmenverordnung regelmäßig die Liste der von ihr als bedeutend eingestuften Banken, abruf bar unter https://www.bankingsupervision.europa.eu/banking/list/who/html/index.en.html (zuletzt aufgerufen am 14.10.2017). 53   S. Art.  4 Abs.  1 lit.  d i.V.m. Art.  6 Abs.  4 SSM-VO. Insofern wird üblicherweise von der „indirekten Aufsicht“ der EZB gesprochen. 54   S. Art.  6 Abs.  5 SSM-VO sowie Art.  9 Abs.  1 UAbs.  3 SSM-VO. 55   S. statt vieler etwa Wymeersch, The Single Supervisory Mechanism or “SSM”, Part One of the Banking Union, 2014, S.  8 ; Binder, in: ders./Gortsos (Hrsg.), The European Banking Union, 2015, S.  5 f.; Lastra, International Financial and Monetary Law, 22015, Rn.  10.15; vgl. auch Erwägungsgrund Nr.  12 zur SSM-VO, wonach der einheitliche Aufsichtsmechanismus sicherstellen soll, dass bei der Beaufsichtigung von Kreditinstituten „von nicht-aufsichtsrechtlichen Überlegungen unbeeinflusste Standards“ angewandt werden. 50 51

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länger darauf verlassen, dass ihre Geschäftspartner die gesetzlichen Vorschriften einhalten. Die Risikoverteilung im Finanzsystem verliert infolgedessen an Transparenz, was Institute typischerweise zur Abkehr von ihrer Geschäftstätigkeit veranlasst und zudem zur Folge hat, dass Informationen über (vermeintliche) Liquiditäts- oder Solvenzprobleme einzelner Akteure zu Panikverkäufen und Markteinbrüchen führen.56 Schließlich gefährdet die aufgrund eines home bias uneinheitliche Aufsichtspraxis die Einheit des europäischen Finanzbinnenmarkts, weil Institute ungleich behandelt werden, je nachdem, welche Bedeutung sie für den Staat besitzen, aus dem die Kontrolleure stammen. Über eine weitere Vereinheitlichung des anzuwendenden Rechts waren das Problem der Vereinnahmung und die damit verbundenen Gefahren nicht zu beseiten. Denn eine Rechtsangleichung schafft nicht den Abstand zwischen der Aufsicht und den Beaufsichtigten, der für eine effektive Rechtsdurchsetzung erforderlich ist und einen home bias verhindert. Deshalb hat man sich entschlossen, die benötigte Distanz mit Hilfe des SSM herzustellen. Die Europäisierung des Vollzugs des Bankenaufsichtsrechts ist demnach zunächst und vor allem als ein Instrument zur Distanzierung von Kontrolleuren und Kontrollierten zu verstehen.57 Nach den tradierten Grundsätzen des Europäischen Verwaltungsrechts wäre die EZB aber trotz ihrer umfangreichen Vollzugskompetenzen auf die Durchsetzung von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht beschränkt gewesen, im Fall der Bankenaufsicht also vornehmlich auf die Durchsetzung der EU-Bankenaufsichtsverordnung. Die in Richtlinien geregelten und im nationalen Recht umgesetzten Vorgaben hätte sie außer Betracht lassen müssen und zwar auch insoweit, wie sie ausschließlich für die Aufsicht zuständig ist, also insbesondere bei der Kontrolle der bedeutenden Banken und generell im Zulassungsverfahren. Das konnte und sollte freilich nicht die Lösung sein. Drei Auswege waren und sind grundsätzlich denkbar: (1) Die mitgliedstaatlichen Behörden bleiben für den Vollzug der nationalen Regelungen zuständig, kontrollieren ihre Einhaltung z.B. in einem eigenständigen Verfahrensabschnitt und treffen eine insoweit für die EZB verbindlich Entscheidung. Das Ziel, die Aufsichtsverfahren von ihrem home bias zu befreien, lässt sich mit dieser Lösung jedoch nicht erreichen. (2) Das materielle Recht wird vollständig europäisiert. Das ist jedenfalls zurzeit weder rechtlich möglich noch politisch erwünscht und zudem auch wenig sinnvoll. Denn auch wenn ein hinreichender Abstand zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten zu den Voraussetzungen einer effektiven Aufsicht zählen, sollen die materiellen Regelungen doch nah an den Erfordernissen der jeweiligen Märkte bleiben und die Diversifizierung im Finanzsystem unterstützen. (3) Als dritte Möglichkeit, für die man sich letztlich entschieden hat, bleibt der umgekehrte Vollzug, d.h. die Beauftragung der EZB damit, im Rahmen ihres Kom56   Zur Intransparenz der Risikoverteilung im Finanzsystem als Ausgangskonstellation für die Entwicklung systemischer Risiken sowie zur Aktualisierung dieses Systemrisikopotentials durch eine (vermeintliche) Änderung der verfügbaren Informationen eingehend Kaufhold, Systemaufsicht, 2016, S.  130 ff. 57   Zur Distanz zwischen Kontrolleur und Kontrollgegenstand als Spezifikum und Effektivitätsbedingung von Kontrollen Schmidt-Aßmann, in: ders./Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S.  10 f.

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petenzbereichs auch das nationale Recht durchzusetzen. In der Ausprägung, die der umgekehrte Vollzug in der SSM-Verordnung gefunden hat, bleiben die mitgliedstaatlichen Behörden zwar in die Aufsichtsverfahren der EZB eingebunden: Im Zulassungsverfahren etwa erarbeiten die nationalen Instanzen Beschlussentwürfe mit Blick auf die einschlägigen nationalen Vorschriften,58 und den Aufsichtsteams, die bei der EZB für jede bedeutende Bank zusammengestellt werden (sog. Joint Super­ visory Teams), gehören stets auch Mitarbeiter der Aufsichtsinstanzen des Herkunftsmitgliedstaates an59. Auf diese Weise sollen nationale Erfahrungen, Expertise und Kapazitäten genutzt werden. Die Letztentscheidungskompetenz liegt aber auch mit Blick auf die Interpretation und Anwendung des mitgliedstaatlichen Umsetzungsrechts bei der EZB. Ihre Mitarbeiter sind weisungsbefugt gegenüber den Entsandten der nationalen Behörden. Man kann nun mit gutem Grund die Vorprägung betonen, die europäische Entscheidungen durch die beteiligten nationalen Experten erfahren, und daran zweifeln, dass die EZB ihre Letztentscheidungsbefugnis tatsächlich mit Leben füllen kann und wird. Hier liegen sicher Stellschrauben für einen Ausbau des umgekehrten Vollzugs. Der entscheidende Schritt aber wurde mit der Entkopplung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung gemacht. Der potentielle Anwendungsbereich für die neue Vollzugskonstruktion ist damit umrissen: Sie kommt immer dann als Regulierungsinstrument in Betracht, wenn ein Rechtsbereich, aus welchen Gründen auch immer, nicht vollständig harmonisiert werden kann oder soll, man auf die Vorteile der Rechtsanwendung durch europäische Institutionen aber gleichwohl nicht verzichten möchte. Anders formuliert: Die Einführung des umgekehrten Vollzugs sollte erwogen werden, wenn der Bedarf nach einer institutionellen Europäisierung weiter reicht als der Bedarf nach einer materiell-rechtlichen Angleichung, etwa weil die zu lösenden Probleme60 überhaupt erst beim Vollzug entstehen. Der umgekehrte Vollzug ermöglicht es, Spielräume bei der Gestaltung des materiellen Rechts zu erhalten, ohne dass damit zugleich die Nachteile des mitgliedstaatlichen Vollzugs eingekauft werden müssten.

V.  Primärrechtliche Grenzen: Wie viel mitgliedstaatliches Recht darf in die Hände europäischer Einrichtungen gelegt werden? Auf dieser Grundlage lässt sich nun das Primärrecht danach befragen, ob ein solches institutionelles Überholmanöver zulässig ist und wie viel mitgliedstaatliches Recht in die Hände europäischer Einrichtungen gelegt werden darf.

  S. Art.  14 Abs.  2 SSM-VO.   S. Art.  4 SSM-Rahmenverordnung. 60   Neben dem Problem der Vereinnahmung sind beispielsweise Schwierigkeiten bei der Informa­ tionsgewinnung oder der grenzüberschreitenden Abstimmung von Aufsichtsmaßnahmen denkbar. 58 59

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1.  Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, Art.  5 Abs.  2 EUV Auch für die Anordnung des umgekehrten Vollzugs ist selbstverständlich eine Ermächtigung durch die Verträge erforderlich. Die SSM-Verordnung ist vom europäischen Gesetzgeber – trotz erheblicher Bedenken nicht nur von Seiten der Rechtswissenschaft61 – auf Art.  127 Abs.  6 AEUV gestützt worden. Danach kann der Rat der EZB unter anderem „besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute“ übertragen. Ein großer Teil der Literatur bezweifelt, dass es sich bei einer Kompetenzverschiebung in dem Umfang, wie sie die SSM-Verordnung vorsieht, noch um die Übertragung „besonderer“ Aufgaben handelt.62 Dass der Rat im Prinzip die Möglichkeit hat, die EZB zum Vollzug von Bankenaufsichtsrechts zu ermächtigen, wird aber ganz überwiegend nicht bestritten. Wer Vollzugskompetenzen verlagern darf, der muss aber doch auch bestimmen dürfen, wie diese Kompetenzen ausgeübt werden sollen, und das heißt zunächst und vor allem, welche materiell-rechtlichen Normen anzuwenden sind. Soweit die Verträge der Union die Möglichkeit eröffnen, eigene Verwaltungsstellen einzurichten, verleihen sie dem europäischen Gesetzgeber also grundsätzlich auch die Befugnis zu bestimmen, welches Recht diese europäischen Institutionen zu vollziehen haben, einschließlich der Kompetenz, gegebenenfalls den Vollzug von nationalem Recht anzuordnen.63 Man könnte die Union danach auch zur Verwalterin von autonomem nationalen Recht ernennen und ihr nicht nur, wie es Art.  4 Abs.  3 UAbs.  1 SSM-VO vorsieht, die Anwendung des mitgliedstaatlichen Umsetzungsrechts anvertrauen.64 Entscheidend ist, dass die Verträge der Union die Verwaltungsbefugnis für einen Rechtsbereich übertragen. Art.  291 Abs.  2 AEUV versperrt diesen Rückgriff auf die Verwaltungsbefugnisse als Rechtsgrundlagen für die Bestimmung des von europäischen Stellen anzuwendenden Rechts nicht. Denn er bestimmt die Kompetenzen der Union für die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten Unionsrechtsakte ausführen, ent61   S. statt vieler Waldhoff/Dieterich, EWS 2013, S.  72 (74 f.); Binder, ZBB 2013, S.  297 (305); Peters, WM 2014, S.  396 (399) sowie CEP, EZB-Bankenaufsicht, 2012, S.  4, jeweils m.w.N. auch der a.A., die z.B. Tröger, Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus (SSM), ZBB 2013, S.  373 (379); Kämmerer, NVwZ 2013, S.  830 (832 ff.) und Wymeersch, The Single Supervisory Mechanism or “SSM”, Part One of the Banking Union, 2014, S.  16 ff., vertreten; s. für einen Überblick über den Diskussionsstand ferner Kaufhold, Systemaufsicht, 2016, S.  284 ff. 62   S. beispielsweise Herdegen, WM 2012, S.  1889 (1891); Waldhoff/Dieterich, EWS 2013, S.  72 (75), sowie CEP, EZB-Bankenaufsicht, 2012, S.  4, die auf die insoweit aufschlussreiche englische („specific tasks“) und französische („missions spécifiques“) Fassung der Verträge verweisen. 63  A.A. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  180, der eine Kompetenz der Union zur Regelung des anwendbaren Rechts verneint, weil diese nicht ausdrücklich durch die Verträge übertragen wird. Mit der bisherigen Praxis der Vertragsauslegung insbesondere durch den EuGH ist diese Argumentation freilich schwer vereinbar. Würden nur ausdrücklich eingeräumte Befugnisse anerkannt, könnten etwa Art.  114 Abs.  1 AEUV kaum jene Verwaltungskompetenzen entnommen werden, die mittlerweile, trotz zahlreicher Bedenken und Einschränkungen im Einzelnen, im Grundsatz überwiegend anerkannt sind (vgl. die oben in Fn.  2 nachgewiesene Rspr. sowie etwa Korte, in: Calliess/Ruffert [Hrsg.], EUV/AEUV, 52016, Art.  114 AEUV Rn.  25; Tiedje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim [Hrsg.], EU-Recht, Art.  114 Rn.  119, jeweils mit umfangreichen w. Nw.) sowie in der Praxis genutzt werden. 64   Hierfür spricht auch Art.  298 AEUV, wonach die Funktion der europäischen Verwaltung darin besteht, die Unionsorgane und -einrichtungen insgesamt bei der „Ausübung ihrer Aufgaben“ zu unterstützen, und nicht allein darin, bei der Durchführung der Unionsrechtsakte zu assistieren.

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hält aber keine Regelung für den Fall des umgekehrten Vollzugs, bei dem Unionseinrichtungen nationales Recht anwenden.

2.  Art.  291 Abs.  1 AEUV, Art.  197 AEUV Auch Art.  291 Abs.  1 und Art.  197 AEUV stehen der Anordnung des umgekehrten Vollzugs nur auf den ersten Blick entgegen. Bei allen Unklarheiten, die es über ihren rechtlichen Gehalt gibt, kann ihnen zwar jedenfalls entnommen werden, dass Unionsrecht grundsätzlich von den Mitgliedstaaten durchgesetzt werden soll.65 Im Wege eines Erst-recht-Schlusses lässt sich daraus dann eine weitere Aussage ableiten: Wenn schon das Unionsrecht grundsätzlich von den nationalen Behörden durchgesetzt werden soll, dann muss dies erst recht für das mitgliedstaatliche Recht gelten. Damit werden im Ergebnis aber keine höheren Anforderungen aufgestellt, als sie sich schon aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ergeben: Wenn der europäische Gesetzgeber von dem Grundsatz abweichen möchte, dass nationales Recht von den Mitgliedstaaten vollzogen wird, dann bedarf er dafür einer primärrechtlichen Grundlage. Soweit es um die EZB als Bankenaufsicht geht, findet sich diese Grundlage in Art.  127 Abs.  6 AEUV, für andere Einrichtungen kann sie sich etwa aus Art.  114 Abs.  1 AEUV ergeben.

3.  Subsidiaritätsprinzip, Art.  5 Abs.  3 EUV Das Subsidiaritätsprinzip des Art.  5 Abs.  3 EUV bildet bekanntlich keine starre Schranke für die Kompetenzausübung, sondern verlangt nach einem Vergleich der Wirksamkeit von mitgliedstaatlichen und unionalen Maßnahmen in einem konkreten Regelungsbereich.66 Dieser Vergleich kann für die Gesetzgebung und für den Gesetzesvollzug durchaus unterschiedlich ausfallen. So können etwa die Gefahren einer unbotmäßigen Einflussnahme auf den Gesetzgeber einerseits und auf die gesetzesanwendende Verwaltung andererseits unterschiedlich groß sein. Das zeigt das Beispiel der Bankenaufsicht. Es ist also denkbar, dass zwar keine Europäisierung des anzuwendenden Rechts, wohl aber ein europäischer Vollzug erforderlich ist, um die Ziele eines Regelungskomplexes zu erreichen. Die EZB – oder allgemeiner: europäische Verwaltungsstellen – können daher im Grundsatz zur Anwendung von nationalen Regelungen auch in solchen Rechtsbereichen verpflichtet werden, die der europäische Gesetzgeber aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes gar nicht oder zumindest nicht maximal harmonisieren darf. Noch weitergehend gilt: Soweit eine Europäisierung des Vollzugs ausreicht, um ein Regelungsziel zu erreichen, gebietet es der Subsidiaritätsgrundsatz, die Ausgestaltung des anzuwendenden Rechts den Mitgliedstaaten zu überlassen.

  S. hierzu die Nw. auch der a.A. oben in Fn.  3.  S. statt vieler Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art.  5 EUV Rn.  54 f.; Streinz, EuropaR, 102016, Rn.  172. 65

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4.  Demokratieprinzip, Art.  10 EUV Das setzt freilich voraus, dass eine umgekehrt vollziehende Unionsverwaltung hinreichend demokratisch legitimiert ist bzw. sein kann. Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip ergeben sich zum einen aus der Unabhängigkeit der beauftragten europäischen Verwaltungsstellen und zum anderen aus der Aufspaltung und Umkehrung von Rechtssetzungs- und Vollzugsebene.

a)  Unabhängigkeit der umgekehrt vollziehenden europäischen Verwaltungseinrichtungen Europäische Einrichtungen, denen die Anwendung von nationalem Recht überantwortet ist, werden regelmäßig Unabhängigkeit sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten als auch gegenüber anderen europäischen Organen oder Stellen genießen. Das Erfordernis einer Unabhängigkeitsgarantie gegenüber den Mitgliedstaaten ergibt sich bereits aus der ratio des umgekehrten Vollzugs. Er soll den nationalen Regierungen den Einfluss auf die Rechtsanwendung entziehen und den Verwaltungsvollzug vom home bias befreien. Weisungsbefugnisse der Mitgliedstaaten würden diese zentrale Funktion der neuen Konstruktion konterkarieren. Dass speziell die EZB als umgekehrt vollziehende Bankenaufsichtsbehörde in kein Weisungsverhältnis gegenüber den mitgliedstaatlichen Regierungen oder anderen Unionsorganen eingebunden werden darf, folgt für den Rat und das Direktorium der Zentralbank zudem wohl schon aus der Unabhängigkeitsgarantie des Art.  130 AEUV, die neben den geldpolitischen Aufgaben auch die Tätigkeit der Zentralbank als Bankenaufsichtsbehörde erfassen dürfte,67 jedenfalls aber aus Art.  19 SSM-VO68. Soweit sonstige europäische Verwaltungsstellen mit der Durchsetzung nationalen Rechts beauftragt werden, gebietet Art.  298 AEUV die Gewährleistung der Unabhängigkeit nicht allein gegen67   Die Bankenaufsicht wird zwar weder von den Verträgen noch von der ESZB-Satzung als Aufgabe der EZB definiert (gegen eine Anwendung von Art.  130 AEUV auf die EZB als Bankenaufsichtsbehörde aus diesem Grund etwa Wolfers/Voland, BKR 2014, S.  177 [181 f., 184]; Häde, in: Calliess/Ruffert [Hrsg.], EUV/AEUV, 52016, Art.  130 AEUV Rn.  18), in Art.  127 Abs.  6 AEUV ist sie jedoch bereits angelegt, für die Erstreckung der Unabhängigkeitsgarantie auf die aufsichtliche Tätigkeit daher z.B. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  82. Die besondere Anfälligkeit der Geldpolitik für nicht primär stabilitätsorientierte Einflussnahmen der Regierung mag historisch Hintergrund und Begründung der Unabhängigkeitsgarantie gewesen sein. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen jedoch, dass auch die Bankenaufsicht vielfach politisch vereinnahmt und die Effektivität der Aufsicht dadurch beeinträchtigt wird. Auf internationaler Ebene ist die „operational independence“ daher – freilich gleichrangig neben der „accountability“ – als Voraussetzung einer effektiven Bankenaufsicht anerkannt, s. BCBS, Core Principles for Effective Banking Supervision, 2012, principle 2. Die Rspr. des BVerfG begründet hingegen Zweifel an der Vereinbarkeit einer unabhängigen Bankenaufsicht durch die EZB mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes, s. BVerfGE 134, 366 (399 f.) – OMT [2014]: „Die […] verfassungsrechtliche Billigung der Unabhängigkeit einer Europäischen Zentralbank ist jedoch auf den Bereich einer vorrangig stabilitätsorientierten Geldpolitik beschränkt und lässt sich auf andere Politikbereiche nicht übertragen.“ 68   Demgegenüber wird die Unabhängigkeit der weiteren internen Gremien der EZB, die an der Bankenaufsicht beteiligt sind und die Aufsichtsentscheidungen maßgeblich vorbereiten, aber nicht zu den Beschlussorganen der EZB zählen, allein durch Art.  19 SSM-VO garantiert, s. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  82.

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über den mitgliedstaatlichen Regierungen, sondern auch gegenüber anderen Unionseinrichtungen.69 Damit ist eine fachaufsichtliche Kontrolle der umgekehrt vollziehenden europäischen Einrichtungen ausgeschlossen. Aber weder die ratio der Vollzugskonstruktion noch die Verträge sprechen grundsätzlich dagegen, eine Rechtsaufsicht auf europäischer Ebene einzurichten70, die sich etwa an dem Warnsystem orientieren könnte, das Europäisches Parlament, Rat und Kommission in ihrer Gemeinsamen Erklärung zu den dezentralen Agenturen im Jahr 2012 konzipiert haben und das ein Einspruchsrecht der Kommission bei behaupteten Rechtsverstößen vorsieht71. Mit der Möglichkeit einer Fachaufsicht über Unionseinrichtungen entfällt gleichwohl ein Baustein demokratischer Legitimation der Verwaltung, dem jedenfalls in Deutschland traditionell zentrale Bedeutung beigemessen wird.72 Diese Schwächungen der demokratischen Legitimation im Falle des umgekehrten Vollzugs unterscheidet sich strukturell aber nicht von jenen demokratischen „Einflussknicks“ (F. Wagener), die beim direkten Vollzug von europäischem Recht durch unabhängige Unionseinrichtungen auftreten. Ob und wie sich solche Legitimationseinbußen kompensieren lassen, ist insbesondere mit Blick auf die unabhängigen Regulierungsagenturen, zuletzt mit Blick auf die Datenschutzaufsicht und auch für die Aufsichtstätigkeit der EZB im Rahmen des SSM intensiv diskutiert worden.73 Die Argumente und Positionen, die in diesem Zusammenhang entwickelt wurden, lassen sich auf die Konstellation des umgekehrten Vollzugs grundsätzlich übertragen. Wer eine Verwaltungsstelle, die mit Eingriffsbefugnissen ausgestattet ist, aber außerhalb eines hierarchischen Verwaltungsauf baus und Weisungszusammenhangs steht, für demokratisch unzulässig, weil nicht ausreichend sachlich-inhaltlich legitimiert hält, und wer hier eventuell sogar einen Konflikt mit dem integrationsfesten Kern des grundgesetzlichen Demokratieprinzips ausmacht, der wird auch das Regelungsarrangement des umgekehrten Vollzugs für grundsätzlich unzulässig erachten müssen. Wer hingegen mit dem EuGH74 davon ausgeht, dass die Gesetzesbindung, die gerichtliche 69  S. Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S.  89 f.; vgl. ferner Krajewski/ Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art.  298 AEUV Rn.  24 ff.; Reithmann, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 72015, Art.  298 AEUV Rn.  13 f. 70  Vgl. Groß, DV 47 (2014), S.  197 (198). 71   Diesen Vorschlag formuliert Groß, DV 47 (2014), S.  197 (207). 72   Vgl. etwa Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S.  188 ff.; Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S.  483 ff.; Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  III, 22012, §  6 Rn.  13, 52; Ehlers, in: ders./Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15 2016, §  6 Rn.  7. 73   Vgl. etwa Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999, S.  184 ff., 218 ff.; Wiedemann, in: Masing/Marcou (Hrsg.), Unabhängige Regulierungsbehörden, 2010, S.  39 ff.; Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  III, 22012, §  6 Rn.  107 ff.; Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, insbes. S.  115 ff. und zur Bankaufsicht S.  128 ff. Skeptisch speziell zur demokratischen Legitimation der als Bankenaufsichtsbehörde agierenden EZB etwa Wolfers/Voland, BKR 2014, S.  177 (182 ff.); Ferran/Babis, The European Single Supervisory Mechanism, 2013, S.  16 ff.; für i. Erg. gerade noch ausreichend hält die demokratische Rückbindung demgegenüber z.B. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  84 f. 74   S. etwa EuGH, Urt. v. 09.03.2010, Rs. C-518/07, Slg. 2010, I-1885 (Rn.  42 ff.); vgl. auch EuGH (Große Kammer), Urt. v. 16.10.2012, Rs. C-614/10, ZD 2012, 563 (Rn.  65).

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Kontrolle und andere parlamentarische Einflussnahmen die Einbußen kompensieren können, die durch die Weisungsfreiheit verursacht werden, der wird die Zulässigkeit des umgekehrten Vollzugs nicht prinzipiell bezweifeln, sondern im Einzelfall prüfen, ob sich genügend Legitimationsbausteine zusammentragen lassen.75

b)  Aufspaltung und Umkehrung von Rechtssetzungs- und Vollzugsebene Der Legitimationssammler wird dann einer Besonderheit des umgekehrten Vollzugs begegnen: Die inhaltliche Steuerung der Verwaltung durch den Unionsgesetzgeber fällt hier regelmäßig dünn aus, der sachlich-inhaltliche Legitimationsbaustein der Bindung an das Unionsrecht hat nur geringes Gewicht. Wenn Unionsbehörden autonomes nationales Verwaltungsrecht anwenden, erschöpft sich der Regelungsgehalt des europäischen Rechts in der Anordnung, mitgliedstaatliche Vorschriften zu vollziehen. Wird nationales Umsetzungsrecht angewandt, ist der Einfluss des Unionsgesetzgebers größer, denn dann dirigiert er das Verwaltungshandeln mittelbar über den umzusetzenden Rechtsakt. In beiden Konstellationen aber wird die jeweilige unionsrechtliche Bindungsschwäche durch das nationale Recht ausgeglichen. Mitgliedstaatliche und europäische Gesetzgebung wirken als Legitimationsstränge zusammen. Diese Kombination von Legitimationssträngen entspricht der allgemeinen dualistischen Legitimationsstruktur der Union76 und ist nicht zuletzt vom dezentralen Vollzug her bekannt und vertraut. Als zusätzliche Legitimationsmechanismen kommen – beim umgekehrten Vollzug wie sonst bei unabhängigem Verwaltungshandeln von Unionseinrichtungen – neben der personellen Legitimation der Verwaltungsstellen und einer außerhalb des Bereichs der Bankenaufsicht denkbaren Rechtsaufsicht etwa nachträgliche Kontrollen durch die Parlamente und Rechenschaftspflichten in Betracht.77 Überdies kann eine informationelle Einbindung der mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden, wie sie im Rahmen des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus in der Form der Beteiligung nationaler Mitarbeiter in den Aufsichtsteams und der Verpflichtung der nationalen Aufsichtsbehörden zur Anfertigung von Beschlussentwürfen vorgesehen ist, ergänzend Legitimation vermitteln.78 Ausgestaltung und Effektivität79 dieser Mechanis75  Vgl. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  III, 22012, §  6 Rn.  68; Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.   I, 22012, §  5 Rn.  60 ff.; Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S.  100 ff. 76   S. Art.  10 Abs.  2 EUV, sowie etwa Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 22006, Siebentes Kapitel Rn.  39 ff.; von Bogdandy, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S.  62 ff. 77   Vgl. zu möglichen Elementen der Legitimation einer unabhängigen Bankenaufsicht Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S.  128 ff. 78   S. zur informationellen Einbindung als ein mögliches Element des für transnationales Verwaltungshandeln erforderlichen Legitimationsbündels Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  I, 22012, §  5 Rn.  62. 79   Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR, Bd.  III, 22012, §  6 Rn.  14, gibt insoweit mit Recht zu bedenken, dass der Vorrang der klassischen Legitimationsmodi häufig mit einer besonderen Effektivität begründet wird, diese besondere Effektivität aber regelmäßig nur unterstellt und nicht dargelegt wird und in manchen Fällen wohl nicht besteht.

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men entscheiden dann, ob der umgekehrte Vollzug hinreichend rückgebunden und mit dem Demokratieprinzip vereinbar ist.

5.  Rechtsstaatsprinzip, Art.  2 EUV, Art.  20 Abs.  3 GG, und die Garantie effektiven Rechtsschutzes, Art.  47 GRCh, Art.  19 Abs.  4 GG Das Rechtsstaatsprinzip verlangt eine umfassende rechtliche Bindung aller hoheitlichen Gewalt. Jeder Rechtsakt muss sämtlichen Vorgaben höherrangigen Rechts genügen. Die Anwendung rechtswidriger Gesetze wäre selbst ein Gesetzesverstoß, die Anwendung verfassungswidrigen Rechts eine Verletzung der Verfassung.80 Eine Rechtsnorm muss auch deshalb stets mit Blick auf ihren Regelungskontext interpretiert werden. Gelangt die zur Anwendung berufene Stelle zu der Überzeugung, dass eine Vorschrift mit höherrangigem Recht unvereinbar ist, muss sie die Regelung verwerfen oder, soweit ihr keine Verwerfungskompetenz zusteht, einer Instanz zur Prüfung vorlegen, die berufen ist, über Vereinbarkeit und Gültigkeit zu entscheiden. Mit diesen Geboten korrespondiert das Recht der von der Rechtsanwendung Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz. Jeder, der durch eine hoheitliche Maßnahme in seinen rechtlich geschützten Positionen beeinträchtigt wird, muss die Möglichkeit haben, die Entscheidung umfassend gerichtlich überprüfen und auch die Gesetzesbzw. Verfassungskonformität des angewandten Rechts kontrollieren zu lassen.81 Im Rahmen des umgekehrten Vollzugs lassen sich diese rechtsstaatlichen Gebote und Ansprüche nicht ohne Weiteres umsetzen. Das Unionsrecht vermittelt den europäischen Einrichtungen, die zum umgekehrten Vollzug verpflichtet werden, jedenfalls bisher nicht die Befugnis, die anzuwendenden mitgliedstaatlichen Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem nationalem Recht, insbesondere nationalem Verfassungsrecht, hin zu überprüfen und bei Unvereinbarkeit zu verwerfen. Der EuGH, der für die Kontrolle der im umgekehrten Vollzug erlassenen europäischen Hoheitsakte zuständig sein dürfte (5. a.), verfügt ebenso wenig über eine solche Normprüfungs- und ‑verwerfungsbefugnis, hat jedoch – zumindest bislang – auch nicht die Möglichkeit, ein nationales (Verfassungs-)Gericht um eine Vereinbarkeits- und Gültigkeitskontrolle zu ersuchen. Das bedeutet: Im Rahmen des umgekehrten Vollzugs können europäische Einrichtungen zur Durchsetzung von gesetzes- bzw. verfassungswidrigem nationalem Recht verpflichtet sein, ohne dass der damit verbundene Verfassungsverstoß gerichtlich korrigiert werden könnte.82 Das ist weder mit Art.  2 EUV noch mit Art.  47 GRCh vereinbar; die SSM-Verordnung sowie Akte des umgekehrten Vollzugs wären aufgrund des Verstoßes gegen das Rechts  S. BVerfGE 43, 27 (33) – Vorführung pornographischer Filme [1976].   Vgl. BVerfGE 113, 273 (310) – Europäischer Haftbefehl [2005]: „Zur Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes gehört vor allem, dass dem Richter eine hinreichende Prüfungsbefugnis hinsichtlich der tatsächlichen und rechtlichen Seite eines Streitfalls zukommt, damit er einer Rechtsverletzung abhelfen kann.“, sowie etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.  I, 32013, Art.  19 IV Rn.  116 ff., und speziell im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolle von Maßnahmen der Bankenaufsicht im Rahmen des SSM Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (179). 82   Auf dieses Problem haben Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 ff., erstmals nachdrücklich aufmerksam gemacht. Als mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar qualifiziert den umgekehrten Vollzug mit anderen Argumenten auch Peuker, JZ 2014, S.  764 (768 f.). 80 81

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staatsprinzip in Deutschland daher gemäß Art.  23 I 3, 79 III GG nicht anwendbar.83 Zu Recht ist daher eine Ergänzung des umgekehrten Vollzugs um ein umgekehrtes Normenkontrollverfahren zu den nationalen Höchst- bzw. Verfassungsgerichten gefordert worden (5. b.).84 Im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtseinheit angezeigt, wenngleich wohl nicht zwingend rechtsstaatlich geboten ist zudem die Einführung eines umgekehrten Vorabentscheidungsverfahrens für jene Fälle, in denen nicht die Vereinbarkeit entscheidungserheblicher mitgliedstaatlicher Normen mit höherrangigem Recht in Frage steht, aber die Interpretation der nationalen Vorschriften Schwierigkeiten bereitet, so etwa wenn es gilt, konfligierende Vorgaben derselben Regelungsstufe in Einklang zu bringen (5. c.).

a)  Zuständigkeit des EuGH für die Kontrolle umgekehrter Vollzugsakte Das Rechtsschutzsystem der Union folgt bisher dem strikten Dualismus, der bis zur Einrichtung des SSM auch das Europäische Verwaltungsrecht gekennzeichnet hat: Der Gerichtshof kontrolliert Handlungen von Unionsorganen am Maßstab des Unionsrechts, die mitgliedstaatlichen Gerichte wachen über die Einhaltung des nationalen Rechts und kontrollieren die Rechtsakte nationaler Hoheitsträger. Welches Gericht für die Kontrolle umgekehrter Vollzugsakte zuständig ist, lässt sich mithilfe dieses Trennungsprinzips nicht eindeutig bestimmen.85 Dass Unionsreinrichtungen handeln und europäische Hoheitsakte zu überprüfen sind, spricht für eine Kontrolle durch Unionsgerichte. Dass nationales Recht den Prüfungsmaßstab bildet, legt hingegen die Zuständigkeit nationaler Gerichte nahe. Vor allem drei Überlegungen sprechen dafür, unionale Hoheitsakte auch dann und insoweit durch die europäische Gerichtsbarkeit kontrollieren zu lassen, wenn und wie sie nationales Umsetzungsrecht vollziehen: 86 Erstens wird die Kontrolle der Rechtsakte europäischer Hoheitsträger neben der Anwendung von nationalem Recht immer auch die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht verlangen, dessen Einhaltung letztinstanzlich der EuGH überwacht. Zudem dürfte es, zweitens, der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit zuträglich sein, wenn eine Gerichtsbarkeit für alle Verfahren zuständig ist, die europäische Aufsichtsmaßnahmen innerhalb eines Regelungskomplexes zum Gegenstand haben. Schließlich spricht die Formulierung des Art.  263 Abs.  2 AEUV, wonach der Gerichtshof Handlungen europäischer Stellen am Maßstab der Verträge und der bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnormen überprüft, dafür, dass die Unionsgerichte jedenfalls dann auch die 83   Vgl. zu der Frage, inwieweit die Maßnahmen als Ultra-Vires-Akte oder Verletzungen der Verfassungsidentität zu qualifizieren wären, Dietz, AöR 142 (2017), S.  78 (120 ff.); Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (181), gehen (ohne Weiteres) von einem Ultra-Vires-Akt aus; vgl. zu Gehalt und Leistungsfähigkeit des Identitätsbegriffs Wischmeyer, AöR 140 (2015), S.  415 (426 ff.). 84  S. Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (182 f.), die von einem „(umgekehrten) Vorlageverfahren“ sprechen. 85  S. zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten mit unterschiedlichen Bewertungen und Lösungsvorschlägen Peuker, JZ 2014, S.  764 (768 f.); Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  180; Kämmerer, WM 2016, S.  1 (4). 86  S. hierzu bereits Kaufhold, Die Verwaltung 49 (2016), S.  339 (365 f.); i. Erg. ebenso Schuster, EuZW-Beilage 2014, S.  3 (8); Kämmerer, WM 2016, S.  1 (4).

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Anwendung von mitgliedstaatlichem Recht kontrollieren können und müssen, wenn dieses Recht zur Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben erlassen wurde.87 Europäische Rechtsakte, die autonomes nationales Recht durchsetzen, können demgegenüber nicht mehr als Vertragsdurchführung i.S.d. Art.  263 Abs.  2 AEUV qualifiziert und daher vom EuGH nicht am Maßstab der mitgliedstaatlichen Normen gemessen werden. Man könnte erwägen, die Anwendung des autonomen nationalen Rechts durch europäische Stellen als Durchführung jener Verordnungen zu verstehen, die den umgekehrten Vollzug anordnen, und einen Verstoß gegen nationales Recht dann als Verstoß auch gegen eben diese unionsrechtliche Anordnung qualifizieren. Damit würde im Ergebnis jedoch einer Verwaltungskompetenz der Union nicht allein die Ermächtigung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts und zur Anordnung des umgekehrten Vollzugs, sondern zugleich die Kompetenz des EuGH entnommen, die Einhaltung von autonomem mitgliedstaatlichem Recht zu kontrollieren. Mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art.  5 Abs.  2 EUV) und der für die europäische Gerichtsbarkeit gewählten Enumeration von Einzelzu­ ständigkeiten ist eine solche Interpretation nicht vereinbar. Da die oben genannten funktionalen Überlegungen aber dafürsprechen, die Kontrolle umgekehrter Vollzugsakte sämtlich der europäischen Gerichtsbarkeit zu unterstellen, wäre der europäische (vertragsändernde) Gesetzgeber aufgerufen, die Kontrollbefugnisse des EuGH zu erweitern, sollte sich der (einfache) Unionsgesetzgeber dazu entschließen, auch autonome nationale Regelungen umgekehrt vollziehen zu lassen.

b)  Umgekehrtes Normenkontrollverfahren Rechtsstaatlichen Bedenken begegnet der umgekehrte Vollzug jedoch auch schon in seiner derzeitigen Ausgestaltung. Selbst wenn Unionseinrichtungen lediglich mit der Durchsetzung von nationalem Umsetzungsrecht betraut werden, können sie mangels Normverwerfungsbefugnis zur Anwendung von (verfassungs‑)rechtswidrigem na­ tio­nalem Recht und damit zu einem Gesetzes- bzw. Verfassungsverstoß gezwungen sein, der im Rahmen des geltenden Rechts auch gerichtlich nicht korrigiert werden könnte.88 Soweit das nationale Umsetzungsrecht durch das Unionsrecht determiniert ist, bemisst sich seine Grundrechtskonformität zwar allein nach Unionsrecht und kann also in Klageverfahren, die umgekehrte Vollzugsakte zum Gegenstand haben, durch den EuGH kontrolliert und garantiert werden. Der Gerichtshof besitzt jedoch nicht die Kompetenz zu überprüfen, ob darüber hinausgehende Anforderungen der mitgliedstaatlichen Verfassung an das nationale Gesetz beachtet wurden, kann also beispielsweise nicht kontrollieren, ob eine Norm vom zuständigen Gesetzgeber in einem ordnungsgemäßen Verfahren erlassen wurde.89 Soweit die mitgliedstaatlichen 87  Vgl. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, §  5 Rn.  180; Kämmerer, WM 2016, S.  1 (4). 88   Eingehend zu den Koordinaten, aus denen dieses Problem resultiert, Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 ff. 89   Zur erwägenswerten, im Ergebnis aber nicht belastbaren Ableitung einer solchen Befugnis aus Art.  127 Abs.  6 AEUV sowie dem Zustimmungsgesetz zur SSM-Verordnung Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (179 ff.).

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Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung Gestaltungsspielräume ausfüllen (und überdies natürlich bei der autonomen Rechtsetzung), sind sie zudem zumindest auch an die nationalen Grundrechte gebunden.90 Wird das Umsetzungsrecht von europäischen Stellen durchgesetzt, besteht nach derzeitiger Rechtslage jedoch für den Gerichtshof keine Möglichkeit, einen Verstoß der nationalen Regelungen gegen nationale Grundrechte zu berücksichtigen. Soll der umgekehrte Vollzug als ein Regulierungsinstrument erhalten und die Auslegung des nationalen Verfassungsrechts zugleich weiterhin den nationalen Höchst- bzw. Verfassungsgerichten vorbehalten bleiben, sind Änderungen des nationalen und europäischen Verfassungsrechts daher unerlässlich. Als ein sinnvoller Weg zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit der neuen Vollzugskonstruktion und zur Garantie effektiven Rechtsschutzes erscheint die Einführung eines umgekehrten Normenkontrollverfahrens.91 Der EuGH wäre dabei zu verpflichten, die mitgliedstaatlichen Gerichte um die Prüfung der Verfassungskonformität von entscheidungserheblichen nationalen Normen zu ersuchen, wenn begründete Zweifel92 an der Vereinbarkeit bestehen.

c)  Umgekehrtes Vorabentscheidungsverfahren Der umgekehrte Vollzug soll die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung sichern. Solange die Durchsetzung nationaler Regelungen nicht umfassend auf die europäische Ebene verlagert wird, also auf absehbare Zeit, kann die neue Vollzugskonstruktion jedoch selbst zur Gefahr für die Rechtseinheit werden, und dies auch dann, wenn die gerichtliche Kontrolle umgekehrt vollziehender Maßnahmen vollständig dem EuGH überantwortet wird. Das zeigt das Beispiel des Finanzaufsichtsrechts und des umgekehrten Vollzugs im Rahmen des SSM: Die materiellen Anforderungen des Finanzmarktrechts, die sich aus europäischen Richtlinien ergeben und im nationalen Recht umgesetzt werden, gelten überwiegend nicht nur für Banken, sondern auch für  S. BVerfGE 118, 79 (95) – Emmissionshandel [2007]; 121, 1 (15) – Vorratsdatenspeicherung [2008]; 130, 151 (172) – Bestandsdatenspeicherung [2012], sowie EuGH (Große Kammer), Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn.  29; EuGH (Große Kammer) Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-399/11 (Melloni), Rn.  60, der die parallele Anwendung freilich nur unter der Einschränkung zulässt, dass es zu keiner Beeinträchtigung des Schutzniveaus der GRCh oder der Einheit, des Vorrangs oder der Wirksamkeit des Unionsrechts kommt; vgl. zur daraus resultierenden doppelten und konkurrierenden Grundrechtsbindung und den damit verbundenen Problemen etwa Kingreen, JZ 2013, S.  801 (806 ff.); Masing, JZ 2015, S.  477 (483 ff.). 91  S. Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (182 f.). 92   Für eine Verpflichtung des EuGH zur anlasslosen Vorlage plädieren demgegenüber Martini/Weinzierl, NVwZ 2017, S.  177 (182). Diese Pflicht hätte zur Folge, dass jede Norm, auf die eine umstrittene Maßnahme des umgekehrten Vollzugs gestützt wird, von den nationalen Höchst- bzw. Verfassungsgerichten überprüft werden müsste. Für die damit verbundene erhebliche zusätzliche Belastung gibt es m.E. keine hinreichende Rechtfertigung. Bestehen keinerlei Zweifel an der Verfassungskonformität, besteht kein Grund zur Vorlage. Dass mit der Normierung einer Zulässigkeitshürde in der Gestalt von „begründeten Zweifeln an der Verfassungskonformität“ im Ergebnis Kompetenzen auf den für die Einschätzung der Zweifel zuständigen EuGH übertragen werden, ist zutreffend, als solches aber noch kein Gegenargument (so aber Martini/Weinzierl, a.a.O.), solange man sich nicht prinzipiell gegen eine Kompetenzverschiebung wendet. 90

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Wertpapierfirmen und sonstige Finanzdienstleistungsinstitute.93 Die EZB wurde aber lediglich damit beauftragt, sie gegenüber Banken durchzusetzen und im laufenden Geschäftsbetrieb grundsätzlich94 auch nur gegenüber bedeutenden Banken.95 Wertpapierfirmen und weniger bedeutende Kreditinstitute unterstehen weiterhin den mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörden, die aber dieselben materiellen nationalen Umsetzungsvorschriften anwenden wie die EZB. Maßnahmen der EZB werden dann vom EuGH kontrolliert, Entscheidungen der nationalen Behörden von den mitgliedstaatlichen Gerichten. Wenn gewährleistet werden soll, dass sich in dieser Situation keine abweichenden Rechtsprechungslinien entwickeln und Banken und Wertpapierfirmen nicht aufgrund identischer materieller Regelungen vom Gerichtshof einerseits und einem nationalen Verwaltungsgericht andererseits zu unterschiedlichen Maßnahmen verurteilt werden, sollte – neben der Einrichtung einer umgekehrten Normenkontrolle – ein umgekehrtes Vorabentscheidungsverfahrens eingeführt werden.96 Der EuGH wäre zu verpflichten, die mitgliedstaatlichen obersten Fachgerichte um die Auslegung all jener nicht (vollumfänglich) unionsrechtlich determinierten97 nationalen Vorschriften zu ersuchen, deren Regelungsgehalt nicht eindeutig ist, ohne dass die Verfassungskonformität in Frage stünde98. Insbesondere vor einer Abweichung von der Auslegung durch ein mitgliedstaatliches Gericht wäre also eine Vorabentscheidung einzuholen.

VI. Fazit Ausgangspunkt dieses Beitrags war eine Regelung in der SSM-Verordnung, die zunächst als Spezialvorschrift des Europäischen Bankenaufsichtsrechts erscheinen könnte. Bei näherer Betrachtung erweist sich der umgekehrte Vollzug jedoch als eine mögliche vierte Dimension des Europäischen Verwaltungsrechts99 neben dem direkten und indirekten Vollzug des Unionsrechts sowie den verschiedenen Verbundstrukturen. Sie kann und sollte auch außerhalb des Finanzmarktrechts zur Sicherung von Einheit in Vielfalt genutzt werden. Der Einsatz des neuen Instruments kommt immer dann in Betracht, wenn und soweit speziell die Effektivität der Gesetzesan  S. etwa die im KWG umgesetzten Anforderungen der CRD IV-Richtlinie.   Eine Ausnahme bildet die Bewertung des Erwerbs oder der Veräußerung von qualifizierten Beteiligungen an Kreditinstituten, die auch während des laufenden Betriebs der EZB obliegt, s. Art.  4 Abs.  1 lit.  c. i.V.m. Art.  6 Abs.  4 SSM-VO. 95   S.o. IV. 2. mit Fn.  52 f. 96   S. hierzu auch Kaufhold, Die Verwaltung 49 (2016), S.  339 (366). 97   Die letztverbindliche Entscheidung über die Interpretation der unionsrechtlich vorgezeichneten Vorschriften obliegt nach Art.  267 AEUV dem EuGH. 98  Bestehen Zweifel an der Verfassungskonformität einer Regelung, muss sie dem nationalen Höchst- bzw. Verfassungsgericht im Wege des umgekehrten Normenkontrollverfahrens vorgelegt werden, s.o. V. 5. b. sowie Fn.  92. 99   In Anlehnung an Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, 2014, S.  12 ff., der den direkten, den indirekten und den Vollzug mit Hilfe von Verwaltungsverbünden als die drei Dimensionen der europäischen Verwaltungsarchitektur beschreibt; für ein über den Bereich der Bankenaufsicht hinausreichendes Anwendungspotential des umgekehrten Vollzugs auch Witte, MJ 21 (2014), S.  89 (108). 93

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wendung durch nationale Traditionen, Interessen und Egoismen beeinträchtigt wird und der Vollzug deshalb europäisiert werden soll, den Mitgliedstaaten aber zugleich Spielräume bei der Gestaltung des materiellen Rechts bleiben müssen oder sollen. Denkbar wäre eine Einführung der neuen Konstruktion daher etwa im Bereich des Lebensmittelrechts, und auch das Migrationsrecht bildet ein mögliches Anwendungsfeld. Die Anordnung eines umgekehrten Vollzugs setzt zum einen voraus, dass die Union Verwaltungskompetenzen für den fraglichen Regelungsbereich besitzt und die Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts durch europäische Einrichtungen erforderlich ist, um die Ziele einer gesetzlichen Regelung zu erreichen. Das folgt aus dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung sowie dem Subsidiaritätsprinzip. Ebenso wie der indirekte Vollzug von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten muss auch die umgekehrte Konstellation, der Vollzug von nationalem Recht durch Unionseinrichtungen, zum anderen durch eine gerichtliche Verfahrensordnung flankiert werden, die gewährleistet, dass die Einheit der – in diesem Fall: nationalen – Rechtsordnung und insbesondere die Verfassungskonformität aller Hoheitsakte gesichert ist. Das gebieten das Rechtsstaatsprinzip und die Garantie effektiven Rechtsschutzes. Die hier vorgeschlagenen Verfahren der umgekehrten Normenkontrolle sowie der umgekehrten Vorabentscheidung sollen diesen Geboten Rechnung tragen und als funktionale Äquivalente von Nichtigkeits- und Vorabentscheidungsverfahren fungieren. Sie greifen Kooperationsmechanismen auf, die sich im Bereich des Rechtsschutzes bereits bewährt haben und die deshalb auch bei der Ausgestaltung der neuen Vollzugskonstruktion genutzt werden sollten. An der Ausgestaltung des umgekehrten Vollzugs müssen sich sowohl der vertragsändernde europäische Gesetzgeber als auch die nationalen verfassungsändernden Gesetzgeber beteiligen. Die Hürde ist damit hoch. Wer Einheit und Vielfalt auch künftig nicht gegeneinander ausspielen möchte, sollte sich davon jedoch nicht abschrecken lassen. Denn die vierte Dimension der europäischen Verwaltungsarchitektur eröffnet einen Raum, in dem sich zentrifugal und kohäsiv wirkende Kräfte neu und anders als bisher austarieren lassen und die europäische Rechtsgemeinschaft stabilisiert werden kann.

Staatliche und geistliche Gerichtsbarkeit von

Prof. Dr. Fabian Wittreck, Universität Münster

Inhalt I. Problemaufriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 II. Typen geistlicher Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Religiöse Binnengerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Informelle Streitschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4. Staatlich angeordnete religiöse Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Staatliche Parameter geistlicher Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Parameter erster Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Gewalt- und Rechtsprechungsmonopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Religiöse Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 c) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 d) Grundrechte Betroffener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 e) Verfassungsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Parameter zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Säkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Superiorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 IV. Schluß: Spielräume religiöser Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

I. Problemaufriß Das Verhältnis von „weltlicher“ (unter den Bedingungen moderner Verfassungsstaatlichkeit: staatlicher) und „geistlicher“ (oder auch religiöser) Gerichtsbarkeit zählt – spätestens seit der schon hinsichtlich ihrer Rechtsgrundlage wie ihrer Faktenbasis hoch strittigen Betrauung der konstantinischen Reichskirche mit der sog. episcopalis

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audientia1 – zu den klassischen Grund- und Streitfragen der Jurisprudenz.2 Das hat angebbare Gründe, konkretisieren doch weltliche wie geistliche Gerichte die abstrakten Normbefehle des jeweiligen Referenzrechts und machen damit die zunächst nur latenten Normkonflikte zwischen beiden Rechten explizit: Wenn aber weltliches und geistliches Recht auf Normbefehle unterschiedlicher Dignität, ja unterschiedlicher Rationalität rekurrieren, ist eine prinzipiell unauflösbare Normdivergenz vorprogrammiert, sofern nicht beide Rechte – sei es unilateral, sei es in der (möglichst kongruenten) Interaktion – Metaregeln entwerfen, nach denen Konfliktfälle aufzulösen sind.3 Nachdem unter den Bedingungen des traditionellen Staatskirchenrechts altbundesrepublikanischer Prägung4 dieser klassische Streit im Kern in der Vignette „Rechtsschutz in Kirchensachen“,5 vielleicht noch nicht museal entsorgt, aber doch biedermeierlich präsentabel eingefaßt und gerahmt war, kommt spätestens seit der Jahrtausendwende im Zeichen der Säkularisierung wie der religiösen Pluralisierung der deutschen Gesellschaft Bewegung in das Bild;6 konkret 1  Dazu A. Steinwenter, Zur Lehre von der episcopalis audientia, in: Byzantinische Zeitschrift 30 (1930), S.  660 ff.; V. Bušek, Episcopalis audientia, eine Friedens- und Schiedsgerichtsbarkeit, in: ZRG (Kan. Abteilung) 59/XXVIII (1939), S.  453 ff.; H.G. Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, 1959, S.  75 m.w.N. in Fn.  1; G. Stühff, Vulgarrecht im Kaiserrecht unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebung Konstantins des Großen, 1966, S.  98 f.; W. Selb, Episcopalis audientia, in: ZRG (Rom. Abteilung) 84 (1967), S.  162 ff.; W. Waldstein, Zur Stellung der episcopalis audientia im spätrömischen Prozeß, in: D. Medicus u.a. (Hrsg.), Festschrift für Max Kaser, 1976, S.  533 ff.; H. Kaufhold, Römisch-byzantinisches Recht in den Kirchen syrischer Tradition, in: R. Coppola (Hrsg.), Atti del congresso internazionale „Incontro fra canoni d’oriente e d’occidente“/Proceedings of the International Congress „The Meeting of Eastern and Western Canons“, Bari 1994, Bd.  1, S.  133 (135 f.); G. Vismara, La giurisdizione dei vescovi nel mondo antico, in: La giustizia nell’Alto Medioevo (Secoli V-VIII), Spoleto 1995, S.  225 ff.; P.G. Caron, I tribunali della chiesa nel diritto del Tardo Imperio, in: Atti dell’Accademia Romanistica Costantiniana 11 (1997), S.  245 ff. 2   Siehe nur J. Wenzel, „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ – Zum Richten in Staat und Kirche, in: ZevKR 49 (2004), S.  559 ff. sowie die magistrale Darstellung von P. Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge, 2012; zuletzt die Beiträge in U. Kischel (Hrsg.), Religiöses Recht und religiöse Gerichte als Herausforderung des Staates, 2016; hier insbesondere S. Korioth, Generalbericht: Religiöses Recht und religiöse Gerichte als Herausforderung des Staates, ebda., S.  135 ff. 3   Als Beispiel möge das kanonische Recht der katholischen Kirche dienen, das im Eherecht ausdrücklich einen Vorbehalt zugunsten der „Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen dieser Ehe“ kennt: Can. 1059 CIC und dazu K. Lüdicke, in: ders. (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici, Can. 1059 (2006), Rn.  8 ff. 4   Siehe nur H.M. Heinig/C. Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007; F. Wittreck, Religionsverfassungsrecht als Kompass einer modernen Religionspolitik?, in: D. Bogner/M. Heimbach-Steins (Hrsg.), Freiheit – Gleichheit – Religion. Orientierungen moderner Religionspolitik, 2012, S.  53 (54 ff.); Kontrapunkt bei M. Jestaedt, Unverstandenes Staatskirchenrecht. Ein Zwischenruf, ebda., S.  77 ff. 5   Dazu im ersten Zugriff – außer den einschlägigen Handbuchbeiträgen – nur C. Kirchberg, Staatlicher Rechtsschutz in Kirchensachen, in: NVwZ-Extra 2013, S.  1 ff.; L. Bechler, Staatliche Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Bd.  3, 2014, S.  297 (298 ff.). 6   Zusammenfassend m.w.N. F. Wittreck, Perspektiven der Religionsfreiheit in Deutschland, in: K. Ebner/T. Kraneis/M. Minkner u.a. (Hrsg.), Staat und Religion, 2014, S.  73 (85 ff.) sowie G. Robbers, Germany, in: ders./W.C. Durham (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Religion, Bd.  I V, Leiden/Boston 2016, S.  140 (140).

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zeichnen sich bislang so nicht bekannte Bruch- und Konfliktlinien ab. Derzeit verhandeln wir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – über die folgenden Problemkonstellationen, die sich sämtlich dem Oberthema „staatliche/weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit“ zuordnen lassen: Zunächst ist in das vertraute Meinungsbild zum „Rechtsschutz in Kirchensachen“ unter Druck geraten, weil die Gerichte dazu übergegangen sind, etwa ihres Amtes enthobenen Geistlichen und Kirchenbeamten den staatlichen Rechtsschutz nicht mehr (sub specie Zulässigkeit) ganz zu verweigern,7 sondern in die Sachprüfung eintreten und erst im Rahmen der Begründetheitsprüfung das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bzw. Religionsgesellschaften i.S.v. Art.  140 GG i.V.m. Art.  137 Abs.  3 WRV berücksichtigen.8 Eng damit verwandt ist die neuere Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, die sich mit dem „Düsseldorfer Chefarztfall“ verknüpft9 und ebenfalls auf eine Neukonfiguration des Interessenausgleichs zwischen staatlicher Justizgewähr, Individualrechten und kollektiver Religionsfreiheit zielt;10 dieser Konflikt ist 7   Zuletzt bekräftigt in BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2009, S.  1195 (1196, Rn.  6 = BVerf K 14, 485 [487] = KirchE 52, 337 [339]): „Wenn staatliche Gerichte in der Sache über kirchliche Angelegenheiten zu entscheiden haben, bestimmen sie in diesen Angelegenheiten mit, und zwar selbst dann, wenn sie sich bemühen, der kirchlichen Eigenständigkeit bei der materiellen Entscheidung gerecht zu werden. Die konkrete Betrachtung der konfligierenden Interessen und Rechte im Einzelfall kann erfahrungsgemäß zu einer allmählichen Steigerung der richterlichen Kontrolldichte führen und birgt so die Gefahr, dass die religiöse Legitimation kirchenrechtlicher Normen verkannt und damit gegen den Grundsatz der Neutralität des Staates in religiösen Dingen verstoßen wird.“ – Vgl. aus der Literatur dazu M. Germann, Die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde gegen die Kirche: kein Grund zum Nachdenken über die Justizgewährung in kirchlichen Angelegenheiten, in: ZevKR 54 (2009), S.  214 ff. sowie H. Weber, Der Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht: Unrühmliches Ende einer unrühmlichen Geschichte?, in: NJW 2009, S.  1179 ff. – Die Besetzung der fraglichen Kammer (Richter Broß, Di Fabio und Landau) hat die Fachwelt zum Spott über die „schwarze Kammer des schwarzen Senats“ provoziert und wirft in der Tat die Frage nach der Weisheit der Delegation von Entscheidungskompetenzen an einen in Sachen politischer Farbenlehre dergestalt einseitig besetzten Spruchkörper auf. 8   BVerwGE 149, 139 (143, Rn.  14) [2014]: „Danach können auch Geistliche oder Beamte einer Religionsgesellschaft, die von ihrer Dienstherrenfähigkeit Gebrauch gemacht hat, staatliche Gerichte anrufen, wenn und soweit sie geltend machen, ein Akt ihrer Religionsgesellschaft habe sie in ihren Rechten verletzt (v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4.  Aufl. 2006, §  37 S.  311). Das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften gemäß Art.  140 GG i.V.m. Art.  137 Abs.  3 WRV schließt nicht bereits den Zugang zu den staatlichen Gerichten aus, sondern bestimmt Umfang und Intensität der Prüfung des Aktes der Religionsgesellschaft durch das staatliche Gericht“. – Vgl. zur Entscheidung C. Kirchberg, Rechtsschutz Geistlicher vor staatlichen Gerichten, in: NJW 2014, S.  2763 ff.; R. Hotstegs, Anmerkung zu einer Entscheidung des BVerwG, Urteil vom 27.02.2014 (2 C 19.12; DVBl 2014, 993) – Zur Überprüfung von Maßnahmen der im Sinne des Art.  140 GG i.V.m. Art.  137 Abs.  3 WRV selbstbestimmten Religionsgemeinschaften durch staatliche Gerichte, in: DVBl. 2014, S.  997 ff. sowie J. Kuntze, Mehr als Tendenzen beim Rechtsschutz in Kirchensachen, in: ZevKR 60 (2015), S.  195 ff. 9   BVerfGE 137, 273 – Katholischer Chefarzt [2014]. Vgl. dazu aus der überaus reichhaltigen Besprechungsliteratur (instruktive Auflistung unter juris) im ersten Zugriff nur C.D. Classen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12, in: JZ 2015, S.  199 ff.; S. Rixen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12, ebda., S.  202 ff.; F. Hammer, Ein Kompendium des Staatskirchenrechts und des kirchlichen Arbeitsrechts von höchster Stelle. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Düsseldorfer Chefarzt-Fall vom 22.10.2014, in: Kirche & Recht 20 (2014), S.  145 ff.; G. Neureither, Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer – neue Variationen eines alten Themas, in: NVwZ 2015, S.  493 ff. 10   BVerfGE 137, 273 (316, Rn.  118) – Katholischer Chefarzt [2014]: „darf der Staat das so umschrie-

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u.a. deshalb noch nicht entschieden, weil neben staatlichen und geistlichen Instanzen auch noch solche des supranationalen Rechts involviert sind.11 Während hier dem Grunde nach vertraute Fälle lediglich neu bewertet werden, sieht sich der Verfassungsstaat in anderen Fallkonstellationen tatsächlich mit gänzlich neuen Herausforderungen konfrontiert. Das gilt zunächst für das Stichwort „Paralleljustiz“:12 Die Beobachtung, daß offenbar einzelne Einwanderermilieus die informelle Streitschlichtung der Anrufung der staatlichen Gerichte vorziehen,13 wird verbreitet dahingehend gedeutet, daß hier Imame oder „muslimische Friedensrichter“ Streitigkeiten nach der šarī ca, dem islamischen religiösen Recht entscheiden und damit eine geistliche Gerichtsbarkeit zumindest partiell an die Stelle der staatlichen treten lassen.14

bene glaubensdefinierte Selbstverständnis der Kirche nicht nur nicht unberücksichtigt lassen; er hat es vielmehr seinen Wertungen und Entscheidungen zugrunde zu legen, so lange es nicht in Widerspruch zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen steht (vgl. dazu BVerfGE 70, 138 [168], wo auf die Grundprinzipien der Rechtsordnung abgestellt wurde, wie sie im allgemeinen Willkürverbot [Art.  3 Abs.  1 GG] und in den Begriffen der ‚guten Sitten‘ [§  138 Abs.  1 BGB] und des ordre public [Art.  6 EGBGB] ihren Niederschlag gefunden haben; vgl. ferner BVerfGE 102, 370 [392 ff.]).“ 11   Konkret hat das vom Bundesverfassungsgericht gerügte Bundesarbeitsgericht den Fall nunmehr im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt: BAG, Beschluß v. 28.7.2016 – 2 AZR 746/14 (B), in: NZA 2017, S.  388; vgl. dazu die Anmerkungen von H. Reichold, in: MedR 2017, S.  495 f. und R. Weis, EuZA 2017, S.  214 ff. Die Entscheidung des EuGH steht noch aus. 12   Dazu aus dem deutschen Schriftttum bislang A. Funke, Parallelwelten des Rechts? Die Anerkennung des Rechts und der Gerichtsbarkeiten von Religionsgemeinschaften durch den Staat, in: A. Bettenworth u.a. (Hrsg.), Herausforderung Islam, 2011, S.  42 ff.; C. Schirrmacher, Friedensrichter, Streit­ schlichter, Schariagerichtshöfe: Ist die Rolle der Vermittler auf den säkularen Rechtsstaat übertragbar?, 2013; E. Özkaraca, Paralleljustiz in Einwanderervierteln, in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 2013, S.  36 ff.; D. Dienstbühl, Paralleljustiz in Deutschland – Machtlose Polizei?, in: Deutsche Polizei 10/2013, S.  4 ff.; I. Augsberg/S. Korioth, Applicable Religious Rules According to the Law of the State – Germany, in: M. Schmidt-Kessel (Hrsg.), German National Reports on the 19th International Congress of Comparative Law, 2014, S.  679 (690 f.); F. Brosius-Gersdorf, Dritte Gewalt im Wandel – Veränderte Anforderungen an Legitimität und Effektiviät?, in: VVDStRL 74 (2015), S.  169 (192 f.); C. Ernst, Die Bewältigung konfligierender normativer Ordnungen. Die Aushöhlung hoheitlicher Gewalt durch muslimische Friedensrichter?, in: DÖV 2015, S.  809 ff.; K. Wegner/M. Begemeier, Die Straf barkeit so genannter Friedensrichter, in: JuS 2015, S.  688 ff.; K. Bauwens, Religiöse Paralleljustiz – Zulässigkeit und Grenzen informeller Streitschlichtung und Streitentscheidung unter Muslimen in Deutschland, 2016; I. Augsberg, Landesbericht Deutschland: Religiöses Recht und religiöse Gerichte als Herausforderung des Staates, in: Kischel, Herausforderung (Fn.  2), S.  1 (33); F. Wittreck, Religiöse Paralleljustiz im Rechtsstaat?, in: U. Willems/A. Reuter/D. Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität, 2016, S.  439 (446 f. u. passim); M. Rohe, ADR und „Paralleljustiz“: das Gesetz sind wir …, in: Politische Studien 469 (2016), S.  24 ff. 13   Erste empirisch abgesicherte Untersuchungen: Abschlussbericht „Paralleljustiz“ (Stand: 1.11.2012, nicht veröffentlicht), verfaßt vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz unter Einbeziehung der Ergebnisse des Runden Tisches „Paralleljustiz“; Abschlußbericht des Bundesjustizministeriums (http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/‌Studie-Paralleljustiz.pdf ? __blob=publicationFile, S.  5 ff. [30.12.2017]) sowie M. Rohe/M. Jaraba, Paralleljustiz (Gutachten für die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz [2015]; https://www.berlin.de/sen/justv/service/ broschueren-und-info-materialien [30.12.2017]); instruktiv auch das Interview mit dem Berliner „Friedensrichter“ Hassan Allouche in: Betrifft Justiz 108 (2011), S.  173 ff. 14   Siehe einerseits Bauwens, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  43 ff., andererseits F. Wittreck, „Scharia-Polizei“ und „Friedensrichter“ – Amtsanmaßung oder Rechtsanmaßung?, in: M. Kment (Hrsg.), Das Zusammenwirken von deutschem und europäischem Öffentlichen Recht. Festschrift für Hans D. Jarass, 2015, S.  265 (278 ff.).

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Wenigstens dem ersten Eindruck zufolge damit eng verknüpft ist die Frage, wie der deutsche Verfassungsstaat im Rahmen des Internationalen Privatrechts mit der Rechtsordnung solcher Staaten verfährt, die wie muslimisch geprägte Staaten des Nahen Ostens, Israel oder Indien für Teile des Ehe- und Erbrechts auf religiöses Recht rekurrieren.15 Da sie ihre Bürgerinnen und Bürger damit dem Grunde nach auch an religiöse Gerichte verweisen (können), steht die Frage im Raum, welches Gewicht deutsche Gerichte deren Entscheidungen einräumen können. Hier hat zuletzt die Stellungnahme des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Sahyouni ./. Mamisch für Furore gesorgt,16 da sie der bisherigen differenzierten Praxis des Umgangs mit religiösem Recht wie Entscheidungen religiöser Gerichte den Boden entzogen hätte.17 Der Europäische Gerichtshof ist dem kurz vor Jahresende 2017 nicht gefolgt, hat allerdings zugleich eine Regelungslücke in das deutsche Internationale Privatrecht gerissen, deren sachgerechte Schließung noch auszuhandeln sein wird.18 Dabei sei schon an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, daß der Schlußantrag des Generalanwalts wie die Entscheidung des Gerichtshofes auf einer Sicht bzw. Kenntnis des islamischen religiösen (Familien-)Rechts wie der wohlgemerkt staatlichen syrischen Orientierung daran beruhen, die man bei freundlicher Formulierung wohl als „Orientalismus“ wird einstufen müssen.19   Näher unten II.3.   Schlußantrag v. 14.9.2017 – Rs. 372/16 (ECLI:EU:C:2017:686). Vgl. dazu als erste Stellungnahme F. Cranmer, EU recognition of sharia divorce decrees: Sahyouni, in: Law & Religion UK, 18.9.2017, http://www.lawandreligionuk.com/2017/09/18/eu-recognition-of-sharia-divorce-degrees-sahyouni/ (7.1.2017). Vgl. zur Vorentscheidung des EuGH in der Sache noch M. Pika/M.-P. Weiler, Privatscheidungen zwischen Europäischem Kollisions- und Zivilprozessrecht. Zu EuGH, Beschluss v. 12.5.2016 – Rs. 281/15 – Soha Sahyouni ./. Raja Mamisch, unten S.  9 0, Nr.  2 , und OLG München, Beschluss v. 29.6.2016 – 34 Wx 146/14, unten S.  92, Nr.  3, in: IPRax 2017, S.  65 ff. sowie T. Helms, Anwendbarkeit der Rom III-VO auf Privatscheidungen? Anmerkung zum Beschluss des Europäischen Gerichtshofs (Erste Kammer) v. 12.5.2016 – C-281/15 (Sahoyouni), in: FamRZ 2016, S.  1134 f. 17   Ebda, Rn.  105 (Ziffer 2): „Hilfsweise, für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass solche privaten Ehescheidungen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr.  1259/2010 fallen, wäre ihr Art.  10 dahin auszulegen, dass zum einen das Recht des Staates des angerufenen Gerichts anzuwenden ist, wenn das nach den Art.  5 oder 8 dieser Verordnung bezeichnete ausländische Recht abstrakt zu einer Diskriminierung wegen der Geschlechtszugehörigkeit der Ehegatten führt, und zum anderen der Umstand, dass der diskriminierte Ehegatte möglicherweise in die Ehescheidung eingewilligt hat, für die Anwendbarkeit dieses Artikels unerheblich ist.“ – Vgl. zur bisherigen Handhabung aus der Literatur: A. Lüderitz, „Talâq“ vor deutschen Gerichten, in: H. Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel, 1990, S.  333 ff.; E. Jayme, Religiöses Recht vor staatlichen Gerichten, 1999, S.  6 ff.; M. Rohe, Islamic Law in German Courts, in: Hawwa. Journal of Women in the Middle East and the Islamic World 1 (2003), S.  46 ff.; D. Coester-Waltjen, Das religiöse jüdische Recht im internationalen Privat- und Verfahrensrecht, in: J.F. Baur/O. Sandrock/B. Scholtka/A. Shapira (Hrsg.), Festschrift für Gunther Kühne zum 70. Geburtstag, 2009, S.  669 ff.; P. Scholz, Grundfälle zum IPR: Ordre public-Vorbehalt und islamisch geprägtes Recht, in: ZJS 2010, S.  185 ff., 325 ff. – Instruktiver rechtsvergleichender Überblick bei P. Fournier, Muslim Marriage in Western Courts, Farnham/Burlington 2010; vgl. auch E.B. Crawford/J.M. Carruthers, The Place of Religion in Family Law: The International Private Law Imperative, in: J. Mair/E. Örücü (Hrsg.), The Place of Religion in Family Law: A Comparative Search, Cambridge/Antwerpen/Portland 2011, S.  37 ff. 18   EuGH, Entscheidung v. 20.12.2017, Rs. C-372/16 – Sahyouni ./. Mamisch; erste Anmerkung von F. Cranmer, Non-recognition of third-country talaq divorce: Sahyouni, in: Law & Religion UK, 20.12. 2017, http://www.lawandreligionuk.com/2017/12/20/recognition-of-third-country-talaq-divorcesahyouni (17.1.2018). 19   Das beginnt mit der Bezeichnung der streitgegenständlischen Scheidung als „Privatscheidung“ 15 16

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Zuletzt sieht sich die deutsche Gerichtsbarkeit namentlich in Ansehung jüdischer Gemeinden mit der besonders intrikaten Aufgabe konfrontiert, Binnenstreitigkeiten in religiösen Gemeinschaften zu schlichten 20 (und dabei wiederum die Entscheidungen genuin religiöser Spruchkörper zu verarbeiten). Hier ist staatliche Gerichtsbarkeit deshalb latent überfordert, weil die binäre Codierung „orthodox/heterodox“ dem Entscheidungsprogramm des religionsneutralen Staates fremd ist und sein muß. Die Reihe ließe sich verlängern. Will der demokratische Verfassungsstaat auf diese teils neuen, teils nur neu formulierten Herausforderungen angemessen reagieren, so muß er sich zunächst vergegenwärtigen, ob und in welchem Ausmaß er es hier mit einem genuin religiösen Phänomen zu tun hat; damit muß zugleich eine Risikoanalyse einhergehen, die nach dem Konflikt- oder Eskalationspotential der jeweiligen Ausprägung geistlicher Streitschlichtung fragt. Das soll hier unter II. in Form einer Typologie der geistlichen Gerichtsbarkeit geleistet werden. Es schließt sich umgekehrt die Sichtung des „Arsenals“ des freiheitlichen und religionsneutralen Verfassungsstaates an: Welche ihm zur Verwirklichung aufgegebenen Rechtswerte werden durch geistliche Gerichtsbarkeit tangiert, und wo kann sich diese umgekehrt auf Sätze des geltenden (Verfassungs-) Rechts berufen? Dabei ist zu unterscheiden zwischen Parametern erster Ordnung (also namentlich den in der Verfassung kodifizierten Rechtsfiguren und -instituten) und solchen zweiter Ordnung (gemeint sind damit dogmatische Figuren, die der Verfassung voraus- oder zugrundeliegen, ohne regelrecht kodifiziert zu sein; III.). Am Ende steht die Frage, welchen Spielraum der freiheitliche Verfassungsstaat geistlicher Gerichtsbarkeit lassen darf, lassen muß oder aus guten Gründen lassen sollte (IV.).

(Rn.  27 u. passim). Da der syrische Staat sunnitische Staatsbürger in Ehesachen an die (staatlicherseits eingesetzten und kontrollierten) šarī ca-Gerichte verweist, ist der Antrag an ein solches Gericht genausowenig „privat“ wie ein Scheidungsantrag vor einem deutschen Amtsgericht; auch die Bezeichnung des šarī ca-Gerichts als „eine geistliche Stelle“ (Rn.  55) schöpft dessen Funktion in der syrischen Rechtsordnung gelinde gesagt nicht aus (näher unten II.3). 20   Typisch sind einerseits Auseinandersetzungen über die Verteilung von Staatsleistungen an jüdische Gemeinden, so in Sachsen-Anhalt (BVerwG, Urt. v. 28.2.2002 – 7 C01, BVerwGE 116, 86 [2002] = KirchE 40, 140; dazu die Urteilsbesprechung von H. Maurer, in: JZ 2002, S.  1104 ff. sowie die Folgeentscheidung OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.11.2004 – A 2 S 339/98, KirchE 46, 253), in Rheinland-Pfalz (OVG Koblenz, Beschl. v. 10.2.2010 – 2 K 1700/09, KirchE 55, 68) oder in Brandenburg: BbgVerfG, Entsch. v. 24.4.2012, Az. VfGBbg 47/11, NVwZ-RR 2012, 577. – Andererseits sind Streitigkeiten um die Ämtervergabe zu verzeichnen: OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 24.2.1997 – 2 B S 30/96, KirchE 35, 52 (kein Rechtsschutz gegen einen vermeintlichen Gemeindevorstand); OLG Naumburg, Urt. v. 11.9.1997 – 7 U 1328/97, KirchE 35, 358 (umgekehrtes Ergebnis in gleicher Sache); VG Neustadt, Urt. v. 27.7.1998 – 1 K 2037/98, KirchE 36, 324; Urt. v. 27.7.1998 – 1 K 1617/98, KirchE 36, 321; OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.10.1998 – 13 O 3662/98, KirchE 36, 452; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 12.5.1999 – 23 Sch 1/98, KirchE 37, 116; BGH; Urt. v. 11.2.2000 – V ZR 271/99, KirchE 38, 60; OVG Koblenz, Beschl. v. 15.7.2004 – 6 B 10891/04.OVG, ZevKR 51 (2006), 596; VGH Mannheim, Beschl. v. 13.10.2005 – 4 S 1542/05, KirchE 47, 381 sowie zuletzt VG München, Beschl. v. 10.7.2008 – M 22 E 08.3289, KirchE 52, 22: Unzulässiger Antrag auf Untersagung der Durchführung einer Vorstandswahl, die nach Auffassung des Klägers gegen das jüdische Religionsgesetz verstößt.

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II.  Typen geistlicher Gerichtsbarkeit Wer sich mit dem Gesamtphänomen „geistliche Gerichtsbarkeit“ beschäftigt, stößt rasch auf ein Muster, das zwar nicht die trennscharfe und rückstandsfreie Einordnung aller denkbaren Erscheinungsformen leisten kann, aber nach Art der Weberschen Idealtypen 21 einen Großteil der religiös radizierten Streitentscheidungsinstanzen zu erfassen vermag. Danach sind vier Typen geistlicher Gerichtsbarkeit namhaft zu machen und auf ihr Konfliktpotential mit dem weltlichen Recht hin „abzuklopfen“: An erster Stelle steht die rein innerkirchliche oder innerhalb der Religionsgemeinschaft verortete Gerichtsbarkeit (1.); an zweiter Stelle folgt die (förmliche) religiöse Schiedsgerichtsbarkeit, die das Formangebot des staatlichen Rechts nutzt und sich im Gegenzug für die Vollstreckbarkeit ihrer Erkenntnisse einem Mindestmaß an staatlicher Kontrolle unterwirft (2.). Im Gegensatz dazu verzichten die als „Paralleljustiz“ perhorreszierten informellen Streitschlichtungsinstanzen auf die staatliche Sanktion, entziehen sich aber auch in der Tendenz der staatlichen Kontrolle (3.). Schließlich ist nicht nur denkbar, sondern verbreitete Praxis, daß der Staat religiöse Gerichtsbarkeit zwar nicht explizit anordnet, aber vorfindet und seine Bürgerinnen und Bürger zwingt, sie mangels eines entsprechenden staatlichen Justizgewährangebots bereichsspezifisch in Anspruch zu nehmen (4.).

1.  Religiöse Binnengerichtsbarkeit Der erste Typ geistlicher Gerichtsbarkeit weist dem Grunde nach das geringste Konfliktpotential mit dem weltlichen Recht auf: Sofern hinreichend klar abgegrenzt ist, was sich als (rein) innerkirchliche bzw. innerreligionsgemeinschaftliche Angelegenheit darstellt, stehen geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit tatsächlich unvermischt und unverbunden nebeneinander.22 Die Religionsgemeinschaft entscheidet nach den vor ihr aufgestellten (oder in der jeweiligen Offenbarung vorgefundenen) Regeln über Fragen der Rechtgläubigkeit, die Vergabe von Ämtern oder den wirksamen Vollzug von Weiheakten (man denke insbesondere an die Ehe). Grundsätzlich können derartige Entscheidungen die Sphäre des weltlichen Rechts nicht berühren – dieses ist gleichsam religiös farbenblind –; sie können deshalb auch von staatlichen Stellen weder „vollzogen“ noch (dem Grunde nach) überprüft werden. Da etwa die Ehe nach Kanonischem Recht ein aliud zur Ehe nach dem Bürgerlichen Recht darstellt (vgl. Cann. 1055 ff. CIC und §§  1303 ff. BGB),23 kann die kirchengerichtliche 21   M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5.  Aufl. 1972, S.  12 f.; dazu nur G. Albert, Idealtyp, in: H.P. Müller/S. Sigmund (Hrsg.), Max Weber Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2014, S.  63 ff. 22   Näher zum folgenden F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S.  254 ff.; A. Weiß, Grundfragen kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: S. Haering/W. Rees/H. Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3.  Aufl. 2015, §  108 (S.  1647 ff.); M. Germann, Kirchliche Gerichtsbarkeit, in: H.U. Anke/H. de Wall/H.M. Heinig (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, 2016, §  31 (S.  1060 ff.) sowie zuletzt M. Arning, Grundrechtsbindung der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 2017, S.  141 ff., 173 ff. 23   Im ersten Zugriff nur D. Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: J. Listl/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2.  Aufl. 1995, Bd.  I, §  28 (S.  787 ff.; teils veraltet); N. Schöch, die Ehe in der kirchlichen Rechtsordnung, in: Haering/Rees/Schmitz, Hand-

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Feststellung, daß eine kirchliche Eheschließung entweder nichtig oder wirksam war, die Eheschließungsfreiheit der Betroffenen nach Art.  6 Abs.  1 GG i.V.m. dem Bürgerlichen Recht nicht tangieren.24 Umgekehrt kann die katholische Kirche ihren Spruch nur „vollziehen“, indem sie in extremis die Mitgliedschaftsrechte des „ungehorsamen“ Betroffenen suspendiert oder beendet25 – wie in jedem nichtstaatlichen Verband beschränkt sich die Sanktion auf qualifizierten sozialen Druck bzw. die Drohung mit dem Ausschluß.26 Eine Reihe von aktuellen Beispielen belegt allerdings, daß das soeben skizzierte Modell die Dinge über Gebühr vereinfacht. So fallen die eingangs bereits aufgerufenen Fälle des Rechtsschutzes von Geistlichen bzw. kirchlichen Beamten in diesen Typ der geistlichen Gerichtsbarkeit, denn es geht in beiden Konstellationen um die Vergabe von Ämtern innerhalb der Religionsgemeinschaft (vgl. Art.  140 GG i.V.m. Art.  137 Abs.  3 S.  2 WRV). Zugleich werden hier regelmäßig zunächst die kirchlichen Gerichte nach kirchlichem Recht tätig, bevor der Staat seinem Rechtsschutz­ auftrag nachkommt, da der Verlust des kirchlichen Amtes den Betroffenen eben doch in seiner weltlichen (nicht zuletzt ökonomischen) Rechtssphäre tangiert. Insofern wäre innerhalb des Typs 1 nochmals zu differenzieren, ob eine Entscheidung kirchlicher Gerichte tatsächlich ein reines religiöses internum bleibt oder den Betroffenen unmittelbar (Verlust der Anstellung) oder mittelbar (Verlust der Anstellung, falls etwa in Gestalt der bürgerlichen Wiederheirat auf die Nichtanullierung der kirchlichen Ehe ein von der Kirche verpöntes Verhalten folgt) eben doch in seiner bürgerlichen Rechtssphäre tangiert. Umgekehrt belegt die neuere Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur faktischen Vollstreckung der Kostenentscheidungen kirchlicher Gerichte im Wege der anschließenden verwaltungsgerichtlichen Leistungsklage,27 daß auch insofern geistliche und staatliche Gerichtsbarkeit nicht in einem Alternativ-, sondern in einem Konsekutivverhältnis stehen können.

buch (Fn.  22), §  84 (S.  1243 ff.) sowie A. Uhle, Eheschließung und Ehescheidung im staatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland, ebda., §  92 (S.  1404 ff.). 24   Statt aller C. Seiler, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art.  6 Abs.  1 (2014), Rn.  64 sowie F. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3.  Aufl., Bd.  I, 2013, Art.  6 Rn.  53 f. (Letztere mit Differenzierung nach in- bzw. ausländischer kirchlicher Ehe). Vgl. noch F. Sanders, Die rein kirchliche Trauung ohne zivilrechtliche Wirkung, 2001. 25  Näher und m.w.N. zur Exkommunikation W. Rees, Straftat und Strafe, in: Haering/ders./ Schmitz, Handbuch (Fn.  22), §  106 (S.  1591 [1598 f.]); zum praktischen Verzicht auf den Kirchenausschluß im evangelischen Kirchenrecht bündig J. Kuntze, Mitgliedschaft und Mitgliedschaftsrecht, in: Anke/de Wall/Heinig, Handbuch (Fn.  22), §  5 Rn.  4 4 (S.  224). 26   Statt aller T. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6.  Aufl. 2013, S.  233 ff. 27   BVerwG, Urt. v. 22.11.2015, Az. 6 C 21.14, NVwZ 2016, S.  453, Ls. 4: „Die von den Kirchengerichten zuerkannten und festgesetzten Ansprüche auf Erstattung der Kosten eines kirchengerichtlichen Verfahrens sind von staatlichen Gerichten anzuerkennen, wenn sie nicht auf einer Verletzung der fundamentalen Verfassungsprinzipien des Art.  79 Abs.  3 GG, des Willkürverbots oder elementarer Verfahrensgarantien beruhen.“ – Weitgehend wortlautgleich die beiden weiteren Entscheidungen gleichen Datums: Az. 6 C 18.14 und 6 C 20.14. – Siehe dazu die ersten Anmerkungen von S. Muckel, in: NVwZ 2016, S.  457 f. sowie C. Tegethoff, Durchsetzung kirchenrechtlicher Ansprüche im Klageverfahren vor staatlichen Gerichten, in: jurisPR-BVerwG 10/2016, Anm.  4.

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2.  Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit Als ähnlich komplex präsentiert sich Typ 2, nämlich die Inanspruchnahme des staatlichen Angebots einer formalisierten nichtstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit (in Deutschland §§  1025 ff. ZPO).28 Diese muß bestimmte Mindestanforderungen erfüllen, erstreckt sich lediglich auf die sog. schiedsfähigen Rechtsgebiete (vgl. §  1030 ZPO)29 und unterliegt einer – eingeschränkten – Kontrolle durch die staatliche Gerichtsbarkeit (siehe namentlich §  1059 Abs.  2 Nr.  2 lit.  b ZPO zum ordre public-Vorbehalt). Sind die genannten Voraussetzungen erfüllt, tritt die vereinbarte Schiedsgerichtsbarkeit allerdings an die Stelle der staatlichen nach Art.  92 GG bzw. schließt sie aus (näher §§  1032 f. ZPO); der Schiedsspruch fungiert als vollstreckbarer Titel (vgl. §  1064 ZPO). In der Bundesrepublik Deutschland ist Typ 2 der geistlichen Gerichtsbarkeit derzeit nicht prominent vertreten.30 Das liegt zum einen darin begründet, daß umstritten bleibt, ob eine Schiedsvereinbarung wirksam ist, die unmittelbar auf religiöses Recht verweist 31 (unstreitig dürfte der mittelbare Verweis wirksam sein, also die Abrede, den Schiedsrichter an das Recht eines ausländischen Staates zu binden, der seinerseits – wie die Mehrzahl der arabischen Staaten – auf näher bestimmtes religiöses Recht verweist)32. Zum anderen ist mit Händen zu greifen, daß die nichtchrist28  Maßgebliche Monographie zum folgenden: F. Hötte, Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit. Anglo­ amerikanische Rechtspraxis, Perspektiven für Deutschland, 2013. – Vgl. aus der (primär angloamerikanischen) Literatur noch die Darstellungen von D.E. Hosmer, Professional Responsibility in Mediating Disputes Among Christians, in: Journal of Christian Jurisprudence 2 (1981), S.  163 ff.; K. Johnston/G. Camelino/R. Rizzo, A Return to „Traditional“ Dispute Resolution – An examination of Religious Dispute Resolution Systems, in: Canadian Forum on Civil Justice, Dispute Resolution Award in Law Studies 2000, abruf bar unter: http://www.cfcj-fcjc.org/sites/default/files/docs/hosted/16173-trad_ dr.pdf (30.12.2017); F. Lyall, Religious Law and its Application by Civil and Religious Jurisdiction in Great-Britain, in: E. Caparros/L.-L. Christians (Hrsg.), La religion en droit comparé à l’aube du XXIe siècle: Religion In Comparative Law At The Dawn Of The 21st Century – XVe Congrès International de Droit Comparé, Brüssel 2000, S.  251 ff.; M. Rosenblatt, Hidden in the Shadows: The Perilous Use of ADR by the Catholic Church, in: Pepperdine Dispute Resolution Law Journal 5 (2005), S.  115 ff.; S.P. Chotalia, Arbitration Using Sharia Law in Canada: A Constitutional and Human Rights Perspective, in: Constitutional Forum 15 (2006), S.  63 ff.; C.L. Wolfe, Faith-Based Arbitration: Friend or Foe? An Evaluation of Religious Arbitration Systems and Their Interaction with Secular Courts, in: Fordham Law Review 75 (2006–2007), S.  427 ff.; A. Shachar, Privatizing Diversity: A Cautionary Tale from Religious Arbitration in Family Law, in: Theoretical Inquiries in Law 9 (2008), S.  573 (580 ff.). 29   Schiedsfähig sind nach §  1030 Abs.  1 ZPO „vermögensrechtliche Streitigkeiten“; danach sind insbesondere familienrechtliche Streitigkeiten in weitem Umfang ausgeschlossen; näher im Detail Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  196 ff. 30  Näher Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  128 ff. 31   Für eine solche Möglichkeit K. Bälz, Die islamische Scharia als Vertragsstatut? – Kollisionsrechtliche Aspekte des Islamic Banking, in: H. Kronke/G. Reinhart/N. Witteborg (Hrsg.), Islamisches und arabisches Recht als Problem der Rechtsanwendung, 2001, S.  63 (67); ders., Das islamische Recht als Vertragsstatut, in: IPRax 2005, S.  4 4 (45 f.); J. Adolphsen/F. Schmalenberg, Islamisches Recht als materielles Recht in der Schiedsgerichtsbarkeit, in: SchiedsVZ 2007, S.  57 (59) sowie Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  205 ff. (dort auch Nachw. zu weiteren Differenzierungen des Meinungsbildes). 32   BGH NJW 1980, S.  1221: „Rechtssätze, die dem religiösen Recht angehören, sind demnach von deutschen Gerichts- und Verwaltungsbehörden nur dann anzuwenden, wenn die maßgeblichen deutschen Kollisionsnormen das Recht eines Staates für anwendbar erklären, der das religiöse Recht auch im staatlichen Bereich als verbindlich anerkennt.“

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lichen Religionsgemeinschaften und Verbände es offenbar in ihrer gegenwärtigen Situation für höchst untunlich halten, nach dem Muster der USA wie Großbritanniens eine formalisierte religiöse Schiedsgerichtsbarkeit anzustreben.33 In den USA ist etwa im Großraum New York eine etablierte jüdische Schiedsgerichtsbarkeit zu verzeichnen, die über Fragen des halachischen Eherechts hinaus namentlich auch Streitigkeiten in Handelssachen schlichtet.34 Im Vereinigten Königreich amtiert ein Muslim Arbitration Tribunal, das auf der Grundlage des Arbitration Act verbindliche Schiedssprüche erläßt,35 sich ebenfalls über das Ehe- und Familienrecht hinaus auch wirtschaftsrechtlich betätigt und namentlich von den in Großbritannien verbreiteten shariah councils abzugrenzen ist.36 Ebenso abzugrenzen ist eine solche religiöse Schiedsgerichtsbarkeit nach §§  1025 ff. ZPO ferner von der verbands- oder religionsgesellschaftlichen Binnen-Schiedsge33   Vgl. namentlich die Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft, die folgendes feststellt: Nr.  10: „[…] Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. […]. Nr.  11: […] bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime […] die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, […].“ und Nr.  13: „[…] Das Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige lokale Rechtsordnung anzuerkennen, schließt die Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechts ein.“ Die Erklärung ist abruf bar unter http://zentralrat.de/3035.php (30.12.2017). 34   Eingehend und m.w.N. Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  73 ff. – Siehe ferner B.J. Meislin, Jewish Law in America, in: B.S. Jackson (Hrsg.), Jewish Law in Legal History and the Modern World, Leiden 1980, S.  149 ff.; J.A. Harding, Religious Postmarital Dispute Resolution: Jewish Marriage Con­ tracts and Civil Courts, in: Ohio State Journal on Dispute Resolution 4 (1988–1989), S.  97 ff.; M. Freeman, Is the Jewish Get any Business of the State?, in: R. O’Dair/A. Lewis (Hrsg.), Law and Religion, Oxford/New York 2001, S.  365 ff.; L.C. McClain, Marriage Pluralism in the United States: On Civil and Religious Jurisdiction and the Demands of Equal Citizenship, in: J.A. Nichols (Hrsg.), Marriage and Divorce in a Multicultural Context, Cambridge u.a. 2012, S.  309 (322 f.). – Zu christlichen und muslimischen (namentlich ismailitischen) Einrichtungen in den USA wiederum materialreich Hötte, ebda., S.  101 ff. 35  Näher S. Bano, Multicultural Interlegality? Negotiating Family Law in the Context of Muslim Legal Pluralism in the UK, in: M.D.A. Freemann/D. Napier (Hrsg.), Law and Anthropology, Oxford/ New York 2009, S.  408 (427); M. Rafeeq, Rethinking Islamic Law Arbitration Tribunals: Are they compatible with traditional American notions of justice?, in: Wisconsin International Law Journal 28 (2010), S.  108 (124 ff.); J. Rivers, The Law of Organized Religions, Oxford/New York 2010, S.  100 ff.; R. Sandberg, Islam and English Law, in: Law and Justice 164 (2010), S.  27 (38 ff.); L. Zucca, A Secular Europe, Oxford/New York 2012, S.  55, 129 f.; vgl. die Selbstdarstellung unter www.matribunal.com. sowie erneut Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  179 ff. 36   Dazu im ersten Zugriff S. Poulter, The Claim to a Separate Islamic System of Personal Law for British Muslims, in: C. Mallat/J. Connors (Hrsg.), Islamic Family Law, London/Norwell 1990, ND 1993, S.  147 ff.; Z. Badawi, Muslim Justice in a Secular State, in: M. King (Hrsg.), God’s Law versus State Law. The Construction of an Islamic Identity in Western Europe, London 1995, S.  73 (75); D. Pearl, Islamic Family Law and its Reception by the Courts in the West: The English Experience, in: C. v. Bar (Hrsg.), Islamic Law and its Reception by the Courts in the West, 1999, S.  111 ff.; I. Yilmaz, Muslim Alternative Dispute Resolution and Neo-Ijtihad in England, in: Alternatives 2 (2003), S.  117 ff.; M. Reiss, The materialization of legal pluralism in Britain: why Shari’a council decision should be non-binding, in: Arizona journal of international and comparative law 26 (2009), S.  739 ff.; R. Arshad, Islamic Family Law, London 2010, S.  34 ff.; S. Bano, Cultural translations and legal conflict: Muslim women and the Shari’a councils in Britain, in: A. Hellum (Hrsg.), From transnational relations to transnational laws, Farnham u.a. 2011, S.  165 ff.; dies., Muslim women and Shari’ah Councils. Transcending the boundaries of community and law, Houndmills u.a. 2012, S.  73 ff.; zuletzt T. Walker, Sharica Councils and Muslim Women in Britain, Leiden/Boston 2017; näher sogleich unter 3.

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richtsbarkeit, die in zahlreichen Religionsgesellschaften bzw. religiös radizierten Verbänden in der Bundesrepublik etabliert ist. Diese sind entweder noch keine Körperschaften des öffentlichen Rechts i.S.v. Art.  137 Abs.  5 WRV (so die verschiedenen muslimischen Verbände)37 oder verfügen zwar über diese Anerkennung, haben aber aus diversen Gründen darauf verzichtet, regelrechte „Gerichte“ zu errichten. Letzteres gilt für die Bahá’í38 sowie – eingeschränkt – für die jüdischen Gemeinden. Hier unterhält der Zentralrat der Juden in Deutschland nebeneinander ein Oberes Schiedsund Verwaltungsgericht sowie reguläre Schiedsgerichte. Ersteres ist nur für Eilverfahren und Streitigkeiten zwischen verschiedenen Organen des Zentralrats zuständig; alle anderen Fälle werden von den regulären Schiedsgerichten verhandelt.39 Daneben existieren – in Abbildung der konfessionellen Binnenpluralität des Judentums – mehrere sog. Batei Din. Das „Zentrale Beit Din Deutschlands“ in Köln wird von der Orthodoxen Rabbinerkonferenz in Zusammenarbeit mit dem israelischen Oberrabbinat betrieben; es befaßt sich primär mit der Durchführung religiöser Scheidungen, der Beglaubigung des Übertritts zum Judentum sowie der Klärung sonstiger persönlicher Statusfragen.40 Ein weiteres Gericht mit gleichem Zuschnitt unterhält die Allgemeine Rabbinerkonferenz, die verschiedene im weitesten Sinne liberale Strömungen vertritt bzw. vereint.41 Beide agieren funktional als binnenreligiöse Gerichte des hiesigen Typs 1.42 Ungeachtet der Einhegung durch das staatliche Schiedsrecht – nur Teile des Rechtsstoffs sind schiedsfähig, der Staat macht Form- und Verfahrensvorgaben und behält sich am Ende die (eingeschränkte) gerichtliche Kontrolle vor – verläuft auch die etablierte religiöse Schiedsgerichtsbarkeit durchaus nicht konflikt- und reibungsfrei. Schwer tun sich staatliche Gerichte bereits mit dem Religionswechsel oder auch nur religiösen Sinneswandel der Parteien: Darf man den areligiös gewordenen Teil unter Berufung auf den Satz pacta sunt servanda an der religiös radizierten Schiedsvereinbarung festhalten, oder obsiegt nunmehr seine negative Religionsfreiheit?43 Fer37   Soweit ersichtlich, hat keiner der muslimischen Verbände in Deutschland eine Schiedsgerichtsbarkeit institutionalisiert. Als funktionales Äquivalent fungieren teils die geistlichen oder „Gelehrtenräte“, die von den Verbänden in dem Bestreben eingerichtet worden sind, ihre Fähigkeit zur Generierung religiöser Wahrheiten zu belegen. Vgl. dazu zuletzt OVG Münster, Entscheidung v. 9.11.2017 – 19 A 997/02, Rn.  37. 38   Sie unterhalten in Deutschland lokale Geistige Räte sowie einen Nationalen Geistigen Rat, von dem wiederum der Rechtsweg zum „Universalen Haus der Gerechtigkeit“ eröffnet ist; näher E.V. Towfigh, Die rechtliche Verfassung von Religionsgemeinschaften. Eine Untersuchung am Beispiel der Bahai, 2006, S.  75 ff., 85 ff., 112 f. 39   K. Richter, Im Namen der Gemeinden. Wie das Schieds- und Verwaltungsgericht des Zentralrats funktioniert, in: Jüdische Allgemeine v. 4.9.2008, abruf bar unter: http://www.juedische-allgemeine. de/article/view/id/2176 (7.1.2018); D. Majic, Beschlossen und verkündet. Das Schiedsgericht nimmt in neuer Besetzung seine Arbeit auf, in: Jüdische Allgemeine v. 17.12.2009, abruf bar unter: http://www. juedische-allgemeine.de/article/view/id/3129 (7.1.2018) sowie Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  193 f. m. Fn.  11. 40   Siehe Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland: Bet Din. Seine Aufgabe und Funktion, abrufbar unter: http://www.ordonline.de/index.php?option=com_content&view=article‌& id=77&Itemid= 58 (7.1.2018) sowie Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  193. 41   Siehe http://a-r-k.de/betdin/ (7.1.2018). 42  Siehe Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  193 f. – Instruktiv für die Schweiz A. Strauss, Das rabbinische Schiedsgericht, 2004. 43   Zusammenfassend und m.w.N. zur staatlichen Durchsetzung religiöser Schiedsvereinbarungen

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ner belegen zahlreiche Entscheidungen namentlich der US-amerikanischen Gerichte, daß insbesondere die Verfahrensvorschriften des traditionellen religiösen Rechts nicht zu übersehende Fallstricke spannen; so gilt in den Vereinigten Staaten wie im Vereinigten Königreich für die religiösen Schiedsgerichte mittlerweile ein rechtsstaatlich überformtes religiöses Recht,44 das namentlich diejenigen Klauseln stumm schaltet, die dem Zeugnis von Frauen einen minderen Rang zuweisen oder es sogar ganz ausschließen.45

3.  Informelle Streitschlichtung Als Typ 3 sei hier die informelle Streitschlichtung durch religiöse Akteure bzw. auf der Grundlage der Normen religiösen Rechts verstanden, die in der deutschen Diskussion meist als „Paralleljustiz“ firmiert; daneben begegnen der Verweis auf „Friedensrichter“ oder die Redeweise von der „Hinterhofgerichtsbarkeit“.46 Hier steht zunächst die Frage im Raum, ob wir es überhaupt mit einem Phänomen geistlicher Gerichtsbarkeit zu tun haben. Daß dies intuitiv angenommen wird, verdanken wir der gekonnten Rahmung der Diskussion durch die Monographie „Richter ohne Gesetz“ des Juristen und Journalisten Joachim Wagner.47 Rein zufällig grün eingebunund -sprüche Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  106 ff.; vgl. auch die ältere Darstellung von A.F. Baron, The Treatment of Jewish Law in American Decisions, in: Israel Law Review 9 (1974), S.  85 ff. 44   Siehe für die USA R.S. Shippee, Peacemaking. Applying Faith to Dispute Resolution, in: Dispute Resolution Magazine 10 (2004), S.  3 (5) und dazu Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  50 ff., 59 ff. Instruktiv auch M.J. Broyde, New York’s Regulation of Jewish Marriage: Covenant, Contract, or Statute?, in: Nichols, Marriage (Fn.  34), S.  138 ff. – Vgl. für das Vereinigte Königreich den Arbitration Act 1996 und dazu B. Harris/R. Planterose/J. Tecks, The Arbitration Act 1996. A Commentary, 3.  Aufl. Oxford u.a. 2003; R. Sandberg, Law and Religion, Cambridge 2011, S.  184 ff. sowie nochmals Hötte, ebda., S.  173 ff.; siehe ferner N. Ahmed, Notes on the Judicial Situations of Muslims in the United Kingdom, in: T.G. Schneiders/L. Kaddor (Hrsg.), Muslime im Rechtsstaat, 2005, S.  71 (72). 45   Konkret sieht das klassische islamische Recht (wiederum mit zahlreichen Modifikationen durch die einzelnen Rechtsschulen) vor, daß das Zeugnis von Frauen im Zusammenhang mit schweren Delikten überhaupt nicht, im übrigen jedenfalls nur eingeschränkt zu berücksichtigen ist. So sollen etwa bei der Vereinbarung eines Darlehens entweder zwei Männer, oder aber, sofern nur ein Mann verfügbar ist, ein Mann und zwei Frauen als Zeugen anwesend sein (Koran, Sure 2:282); vgl. dazu E. Tyan, Histoire de l’organisation judiciaire en pays d’Islam, Leiden 1960, S.  236 ff.; T. Alwani, The Testimony of Women in Islamic Law, in: The American Journal of Islamic Social Sciences 13 (1996), S.  173 ff. – Der Versuch einer gleichheitsgerechten Neuinterpretation des religiösen Rechts begegnet bei N. Ahmad, Women’s Testimony in Islamic Law and Misconceptions: A Critical Analysis, in: Religion and Human Rights 6 (2011), S.  13 ff. – Im jüdischen religiösen Recht hingegen sind Frauen grundsätzlich keine tauglichen Zeugen vor dem Rabbinatsgericht: E. Quint, A Restatement of Rabbinic Civil Law, Bd.  I, Northvale/London 1990, S.  255 (relativierend allerdings ebda., S.  276 ff.) und ebenfalls relativierend Strauss, Schiedsgericht (Fn.  42), S.  185. – Kritisch aus westlich-rechtsstaatlicher Sicht J.E. Tucker, Women, Family, and Gender in Islamic Law, Cambridge u.a. 2008, S.  133 ff. 46   Die Bezeichnung „‚back-alley‘ forms of dispute settlement“ findet sich bei F. Ahmed/S. Luk, How Religious Arbitration Could Enhance Personal Autonomy, in: Oxford Journal of Law and Religion 1 (2012), S.  424 (441), die wohlgemerkt für die staatliche Anerkennung religiöser Schiedsgerichte plädieren und den „Hinterhof “ als düstere Alternative ausmalen. 47   J. Wagner, Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 1.  Aufl. 2012. Vgl. dazu die kritischen Besprechungen von M. Brocker, in: Zf P 58 (2011), S.  474 ff. sowie H. Rottleuthner, Mediation im Schatten des Strafrechts. Auch eine Auseinandersetzung mit Joachim Wagners Buch „Richter ohne Gesetz“, in: KritJ 45 (2012), S.  4 44 ff.; siehe ferner A. Kaminski, Islamische

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den und mit dem suggestiven Untertitel „Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat“ (seit der zweiten Auflage noch mit dem Zusatz „Wie Imame in Deutschland die Scharia anwenden“) sorgt es für eine klare Einordnung: Die Tätigkeit von „Friedensrichtern“ in Berlin, Bremen, Essen und andernorts ist – einmal mehr – ein Problem „des“ Islam, auf jeden Fall aber ein religiöses Phänomen. Dabei ist der tatsächliche Befund an sich unstreitig. Es gibt in Deutschland zahlreiche „communities“ von Ausländern oder Deutschen mit Migrationshintergrund, in denen an sich straf bare Auseinandersetzungen oder familienrechtlich relevante Streitigkeiten nicht (oder nicht nur) vor deutschen Behörden und Gerichten ausgetragen, sondern durch Vermittlung von Autoritätspersonen aus dem jeweiligen „Milieu“ beigelegt werden; typisch ist dann, daß im bereits eingeleiteten Strafverfahren Anzeigen und Strafanträge zurückgezogen werden bzw. Zeugen Erinnerungslücken geltend machen oder Aussagen gar widerrufen. Ist dieses Phänomen der staatsfernen informellen Streitschlichtung mithin ein religiöses Phänomen und gehört damit in die Typologie der geistlichen Gerichtsbarkeit? Die Frage verlangt nach einer differenzierten Antwort. Gut unterrichtet sind wir über den Ursprungskontext zumindest einer Tradition, nämlich der arabisch-nahöstlichen. Hier wird rasch deutlich, daß die Tätigkeit der „Friedensrichter“ zunächst nicht religiös konnotiert ist, was schon der Umstand belegt, daß die sog. S ․ulh ․ -Schlichtung dort auch von arabischen Christen praktiziert wird.48 Vielmehr handelt es sich um eine gewohnheitsrechtlich überlieferte Form der informellen Streitschlichtung, die namentlich in ehedem herrschaftsfernen Zonen wie den Hebron-Bergen anzutreffen ist und von den Bewohnern dieser Gebiete bis heute – durchaus im Sinne eines „forum shopping“ – strategisch neben der staatlichen wie der (staatlicherseits angeordneten) geistlichen Gerichtsbarkeit (unten Typ 4) genutzt wird.49 In Deutschland ist das Bild nun nach ersten empirischen Schnittgrabungen komplexer:50 Nebeneinander begegnen offenbar traditionelle nichtreligiöse Streitschlich51 ter in der S ․ulh ․ -Tradition, Imame (die schwerpunktmäßig in familienrechtlichen Auseinandersetzungen angerufen werden) sowie Angehörige von Großfamilien mit einer kurdisch-libanesischen Migrationsgeschichte, die schlicht der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind.52 Während eine institutionalisierte šarīca-GerichtsParalleljustiz? Innerkultureller Interessenausgleich? Patriarchalischer Druck?, in: Betrifft Justiz 108 (2011), S.  170 ff. 48   Grundlegend zum folgenden U. Qubaja, Konfliktregulierung in den besetzten palästinensischen Gebieten: Empirische Betrachtung des ․Sulh ․-Systems in der Region Hebron, islamwiss. Magisterarbeit Hamburg 2012; zuvor S. Lang, Sulha Peacemaking and the Politics of Persuasion, in: Journal of Palestine Studies 31 (2002), S.  52 ff. sowie I. Zilbermann, Palestinian Customary Law in the Jerusalem Area, in: Catholic University Law Review 45 (1995/1996), S.  795 ff.; vgl. noch F. Wittreck, Dritte Gewalt im Wandel – Veränderte Anforderungen an Legitimität und Effektivität?, in: VVDStRL 74 (2015), S.  115 (122 f.). 49   Instruktive Fallschilderung von U. Qubaja, Ein ․Sulh ․-Verfahren nach einem tödlichen Unfall in der Region Hebron – Wahlmöglichkeiten und Normen im Kontext von rechtlichem Pluralismus, in: GAIR-Mitteilungen 6 (2014), S.  207 ff. 50   Vgl. oben Fn.  13. 51   Dieser Tradition dürfte der Berliner „Friedensrichter“ Hassan Allouche zuzuordnen sein: vgl. oben Fn.  13. 52  Siehe M. Jaraba, „Paralleljustiz“ in Berlin’s Mh ․allamī Community in View of Predominately Customary Mechanisms, in: Zeitschrift für islamisches Recht (ZIR) 2016, S.  225 ff.

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barkeit in Deutschland nicht nachweisbar ist,53 finden sich über den islamisch-arabischen Kontext hinaus Phänomene der informellen Streitschlichtung auch unter orientalischen Christen, Sinti und Roma, Vietnamesen sowie – dort explizit nicht religiös konnotiert – in der kurdischen Diaspora.54 Wir haben es also nur in Teilen mit einem Phänomen geistlicher Gerichtsbarkeit zu tun, das in Deutschland namentlich deshalb weniger ausgeprägt ist als in Großbritannien mit den dort flächendeckend und semi-öffentlich operierenden informellen shariah councils, weil es offenbar keine spezifisch türkische Tradition der nichtstaatlichen Schlichtung gibt. Das Konfliktpotential derartiger „Hinterhofgerichtsbarkeit“ wird gemeinhin als hoch eingeschätzt, was nicht zuletzt jüngere Koalitionsverträge belegen, die allesamt größten Wert darauf legen, symbolisch zu unterstreichen, daß die neue Regierung „Paralleljustiz“ keinesfalls dulden werde.55 Im Hintergrund stehen im Kern Befürchtungen, in den sich herausbildenden Parallelgesellschaften könnten „Befreite Zonen“ entstehen, in denen die deutschen Strafverfolgungsorgane komplett machtlos sind; ähnlich gelagert ist der manchmal eher diffuse Hinweis auf das Rechtsprechungsmonopol des Staates.56 Zu recht wird ferner darauf verwiesen, daß sich „Friedensrichter“ namentlich in strafrechtlich relevanten Sachverhalten selbst straf bar machen könnten, wenn sie etwa zu Aussagedelikten anstiften, Druck auf Beteiligte ausüben oder Strafvereitelung betreiben.57 Schließlich wird mit Blick auf familienrechtlich relevante Sachverhalte die Sorge geäußert, die Anwendung entweder des islamischen religiösen Rechts oder schlicht eines traditionsverhafteten Weltbildes benachteilige unweigerlich Frauen bzw. verkürze deren Gleichbehandlungsrechte.58

 Pointiert Rohe/Jaraba, Paralleljustiz (Fn.  13), S.  162 f.  Eingehend L. Tas, Legal pluralism in action. Dispute resolution and the Kurdish peace committee, Farnham 2014. 55   Siehe den Koalitionsvertrag von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen (abruf bar unter https:// www.cdu-nrw.de/koalitionsvertrag-fuer-nordrhein-westfalen-2017–2022 [7.1.2018]), S.  66: „Religiöse Paralleljustiz werden wir in Nordrhein-Westfalen nicht dulden. Dies gilt insbesondere für die Bereiche der Strafjustiz und des Familienrechts. Über die grundlegenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes und deren Ausprägung im Ehe-, Familien- und Familienverfahrensrecht soll künftig bereits im Schulunterricht informiert werden. Wir werden erstmals ein landesweites Lagebild ‚Paralleljustiz‘ erstellen lassen.“ Vgl. ferner den Koalitionsvertrag von SPD und CDU in Niedersachsen (abruf bar unter http://cdu-niedersachsen.de/medien/‌koalitionsvertrag-2017–2022/ [7.1.2018]), S.  45: „Wir verteidigen das Gewaltmonopol des Staates und werden nicht zulassen, dass sich Parallelstrukturen etablieren. Schariagerichte werden wir nicht dulden.“ Aus Bayern zuletzt W. Bausback, Angekommen auch im Recht? Bayern sagt Schattenrichtern den Kampf an, in: Politische Studien 469 (2016), S.  16 ff. 56   Er begegnet früh bei D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S.  29 f.; aus der aktuellen Literatur zur Paralleljustiz etwa Dienstbühl, Polizei (Fn.  12), S.  6; Ernst, Friedensrichter (Fn.  12), S.  811. 57  Näher Wegner/Begemeier, Straf barkeit (Fn.  12) sowie Wittreck, „Scharia-Polizei“ (Fn.  14), S.  272 ff.; ders., Paralleljustiz (Fn.  12), S.  464 ff. 58   Aus der deutschsprachigen Literatur statt aller Wagner, Richter (Fn.  47), S.  249 ff. sowie Bausback, Bayern (Fn.  55), S.  20 f. – Breiten Raum nimmt diese Diskussion in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Israel ein; einige repräsentative Beiträge: A. Scolnicov, Religious Law, Religious Courts and Human Rights Within Israeli Constitutional Structure, in: International Journal of Constitutional Law 4 (2006), S.  732 (739 f.); J. Rehman, The Sharia, Islamic Family Laws and International Human Rights Law: Examining the Theory and Practice of Polygamy and Talaq, in: International Journal of Law, Policy and the Family 21 (2007), S.  108 (122 f.); D.G. Green, Editor’s Introduction, in: D. MacEoin, Sharia Law or ‚One Law For All?‘, London 2009, S.  1 (4 ff.). 53

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4.  Staatlich angeordnete religiöse Gerichtsbarkeit Der letzte Typ wirkt aus Sicht der deutschen Rechtsordnung zunächst fernliegend bzw. hypothetisch: Religiöse Gerichtsbarkeit kann vom Staat bereichsspezifisch regelrecht befohlen werden, indem er für bestimmte Lebenssachverhalte entweder keine Rechtsregeln oder zumindest keinen Rechtsweg anbietet, sondern seine Bürgerinnen und Bürgern in diesen Fragen an das jeweilige religiöse Recht bzw. die religiösen Gerichte verweist.59 Diese Rechtsspaltung oder besondere Form des staatlich induzierten Rechtspluralismus60 begegnet in Israel61, Indien62 sowie in zahlreichen muslimisch geprägten Staaten des vorderen Orients (teils auch Ostafrikas), ferner im Libanon.63 In der Sache setzen die genannten Staaten in Fragen des Ehe-, teils auch des Erbrechts kein eigenes Recht (oder beschränken sich auf punktuelle Regelungen), sondern gehen explizit oder implizit davon aus, daß Bürgerinnen und Bürger, die einer „anerkannten“ Konfession angehören, in Fragen des „Personalstatuts“ dem   Zusammenfassend zum folgenden Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  4 45 f.   Zu diesem Konzept jüngst R. Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, 2015 sowie P. Gailhofer, Rechtspluralismus und Rechtsgeltung, 2016. 61   Statt aller im ersten Zugriff E. Scheftelowitz, Israel (1987), in: D. Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S.  17 ff., 99 ff., 126 ff.; A. Günzel, Religionsgemeinschaften in Israel. Rechtliche Grundstrukturen des Verhältnisses von Staat und Religion, 2006, S.  100 f., 101 ff.; A. Margalith/D. Assam, Israel (2012), in: Henrich, Kindschaftsrecht, ebda., S.  9 f., 37 ff., 67 ff. (einschlägige Rechtsdokumente) und S.M. Weiss/N.C. Gross-Horowitz, Marriage and Divorce in the Jewish State. Israel’s Civil War, Walham 2013, S.  8 ff. 62  Siehe S. Poulter, Ethnicity, Law and Human Rights, Oxford u.a. 1998, S.  221 ff.; G.L. Larson, Religion and Personal Law in Secular India – A Call to Judgment, Bloomington 2001, S.  15 ff.; I. Das, Staat und Religion in Indien: Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung, 2004, S.  29 ff.; P. Jain, Balancing Minority Rights and Gender Justice: The Impact of Protecting Multiculturalism on Women’s Rights in India, in: Berkeley Journal of International Law 23 (2005), S.  201 (209 ff.); E. Reenberg Sand, The State and Religious Laws: The Case of India, in: R. Mehdi u.a. (Hrsg.), Law and Religion in Multicultural Societies, Copenhagen 2008, S.  95 ff.; G.Solanki, Adjudication in Religious Family Laws, Cambridge 2011, S.  267 ff.; V.C. Govindaraj, The Conflict of Laws in India, Neu-Dehli 2011, S.  73 ff.; W. Menski, Ancient and Modern Boundary Crossings Between Personal Laws and Civil Law in Composite India, in: Nichols, Marriage (Fn.  34), S.  219 ff. – Zusammenschau beider Länder bei M. Galanter/J. Krishnan, Personal Law and Human Rights in India and Israel, in: Israel Law Review 34 (2000), S.  101 ff. 63  Zusammenfassend J. Prader, Die Gerichtsbarkeit in Personalstatutsfragen der christlichen Religionsgemeinschaften in den Ländern des vorderen Orients, in: Kanon III (1977), S.  249 ff.; ders., Das Personalstatutsrecht der christlichen Religionsgemeinschaften in den Ländern des vorderen Orients, in: Kanon X (1991), S.  195 ff.; T. Mahmood, Statutes of Personal Law in Islamic Countries – History, Texts and Analysis, 2.  Aufl. o.O. 1995; C. Mallat, Introduction to Middle Eastern Law, Oxford/New York 2007, S.  355 ff.; H. Krüger, Allgemeine Ehewirkungen im Recht der orientalischen Staaten – Zugleich eine Anmerkung zu Aufregungen über eine Richterin, in: FamRZ 2008, S.  649 ff.; J.J.A. Nasir, The Islamic Law of Personal Status, 3.  Aufl. Leiden/Boston 2009, S.  34 ff. – Nachweise zu einzelnen Ländern bei E. Jarawan, La loi libanaise des successions pour les communautés non-mahométans (23 Juin 1959), Mailand 1968; H. Sadek/H. El Haddad, Les règles matérielles de droit musulman en matière de statut personnel en Égypte, in: Le statut personnel des musulmans. Droit comparé et droit international privé, Brüssel 1992, S.  39 ff.; J. Sweihat, La constitution des tribunaux ecclesiastiques selon la legislation jordanienne, Diss. iur. can. Rom (Lateranuniversität) 1992; H. Hamidian, Jurisdiction of Family Courts in Iran, in: J. Basedow/N. Yassari (Hrsg.), Iranian Family and Succession Laws and their Application in German Courts, 2004, S.  81 ff.; B. Messick, Provincial Judges. The Sharīca Judiciary of Mid-Twentieth-Century Yemen, in: R. Shaham (Hrsg.), Law, Custom, and Statue in the Muslim World. Studies in Honor of Aharon Layish, Leiden/Boston 2007, S.  149 ff. 59

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religiösen Recht dieser Konfession unterliegen und gehalten sind, es vor den Institutionen bzw. letztlich Gerichten dieser Konfession auch geltend zu machen. Dabei ist die Vielfalt im Detail wiederum groß; regelmäßig ist für Christen nur das Eherecht, für Muslime das Ehe- und Erbrecht der jeweiligen Konfession maßgeblich; das religiöse Recht wie die religiöse Gerichtsbarkeit ist teils völlig autonom (d.h. der Staat läßt es beim bloßen Verweis), teils vom Staat unter Beteiligung der religiösen Akteure kodifiziert bzw. strukturiert. Die Gerichtsbarkeit ist teils in den staatlichen Instanzenzug förmlich integriert, teils völlig losgelöst; zuletzt begegnet – etwa in Ägypten – die Anwendung religiösen Rechts durch staatliche Gerichte (mit der absurden Folge, daß diese auch bei der Anwendung christlichen, etwa koptischen Rechts, einen islamischen Rechtsgelehrten als Sachverständigen hinzuziehen)64. Nur vereinzelt begegnet eine staatlicherseits gewährte „Rückfallposition“ in Gestalt einer Zivilehe – sie wird seit geraumer Zeit im Libanon wie in Israel intensiv diskutiert. Typ 4 ruht auf einem mächtigen historischen Narrativ auf: Die mit dieser Konstruktion einhergehende Mediatisierung des einzelnen gegenüber dem religiösen Kollektiv, dem er staatlicherseits zugerechnet wird, soll Konsequenz des sog. millet-Systems sein. Danach hätten unter islamischer Herrschaft Juden und Christen als sog. Schutzbefohlene (sing. dhimmī) einerseits diskriminierende, teils demütigende Rechtsminderungen hinnehmen müssen, andererseits aber von Mindestgarantien (im Kern Leben und Glauben) profitiert und seien noch dazu von ihren jeweiligen religiösen Oberhäuptern regiert worden; jedes Millet hätte danach unter islamischer Oberherrschaft eine beschränkte Autonomie genossen. Dieser Autonomiestatus werde nun als modern gewendetes „Gruppenrecht“ der jeweiligen Konfession fortgeschrieben und schütze zugleich mittelbar die individuelle Religionsfreiheit der jeweiligen Gruppenmitglieder.65   Siehe zum Gesetz Nr.  462 (1955) näher J. Hajjar, La Suppression des Tribunaux Confessionnels en Egypte. Notes d’histoire et de droit, in: Proche-Orient Chretien 6 (1956), S.  11 ff.; Y. Linant de Bellefonds, La suppression des jurisdictions de statut personnel en Égypte, in: Revue international de droit comparé 8 (1956), S.  412 ff.; N. Safran, The abolition of the Sharīca courts in Egypt, in: The Muslim World 48 (1958), S.  20 ff., 125 ff.; S. Sourial, The Sources of the Modern Canon Law (Personal Status) of the Coptic Orthodox Church, in: Kanon I (1973), S.  96 (100 f.); E.S. Freig, Statut personnel et autonomie des Chrétiens en Égypte. Les limites de l’autonomie législative et judiciaire des Chrétiens égyptiens en matière de statut personnel, spécialement de 1955 à nos jours. Étude historique et juridique, Jerusalem 1974; B. Menhofer, Religiöses Recht und internationales Privatrecht dargestellt am Beispiel Ägypten, 1995, S.  53 ff.; A. Omar Sherif, The origins and development of the egyptian judicial system, in: K. Boyle/ders. (Hrsg.), Human Rights and Democracy. The Role of the Supreme Constitutional Court in Egypt, London/Den Haag/Boston 1996, S.  13 (17 ff.); H.G. Ebert/A. Hefny, Ägypten. Einführung zum Ehe- und Kindschaftsrecht (2008), in: Henrich, Kindschaftsrecht (Fn.  61), S.  14 (15 ff.). 65   So etwa D. Zaffi, Das millet-System im Osmanischen Reich, in: C. Pan/B.S. Pfeil (Hrsg.), Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa, 2006, S.  132 ff. Dieses System beschreiben N. Edelby, L’autonomie législative des chrétiens en terre d’Islam, in: Archives d’histoire du droit oriental V (1950/51), 307 ff.; B. Scarcia Amoretti, A proposito di arabi cristiani e arabi musulmani, ovvero dei rapporti tra maggioranza e minoranze nell’Islam medievale, in: Cristianità d’occidente e cristianità d’oriente (Secoli VI–XI), Spoleto 2004, S.  871 ff. sowie W. Hage, Art. Islam und orientalisches Christentum, in: H. Kauf hold, (Hrsg.), Kleines Lexikon des Christlichen Orients, 2.  Aufl. 2007, S.  205 ff. – Die moderne Fortentwicklung schildern K. Wähler, Interreligiöses Kollisionsrecht im Bereich privatrechtlicher Rechtsbeziehungen, 1978, S.  330 ff.; S.A.W. Abu Salieh, L’impact de la religion sur l’ordre juridique. Cas de l’Egypte. Non-Musulmans en pays d’Islam, Diss. iur. Freiburg/Ue. 1979, S.  97 ff., 247 ff.; Menhofer, Religiöses Recht (Fn.  64), S.  4 4 ff., 70 ff., 82 ff.; I. Dick, Évolution du statut légal et 64

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Das hier stark verknappte Narrativ entpuppt sich in mehrfacher Hinsicht als Produkt freier dichterischer Rechtsschöpfung. So dürfte schon die Annahme eines „Systems“ vormoderne Gesellschaften und Rechtsordnungen überfordern bzw. ihnen Ordnungsmuster unterlegen, die den Zeitgenossen fremd sein mußten. Tatsächlich gibt es kanonische Texte des islamischen Rechts zum Status von geduldeten Nichtmuslimen (wörtlich „Leute des Buches“) sowie einen Bestand an Interpretationen dazu,66 doch stecken diese nur einen vergleichsweise breiten Korridor ab, der vom bloßen Überlebenlassen über die bewußte Stigmatisierung bis hin zur echten Toleranz reicht; dem entspricht eine tatsächliche Situation der christlichen und jüdischen Gemeinden im islamischen Herrschaftsbereich, die je nach Epoche und Region vom gedeihlichen Miteinander über die Zwangskonversion bis hin zur schlichten Ausmerzung reicht.67 Wichtiger als diese Abkehr vom Begriff des Millet-„Systems“ ist die Einsicht, daß auch auf christlicher (und jüdischer) Seite von der vermeintlich eingeräumten gerichtlichen Autonomie keineswegs flächendeckend Gebrauch gemacht wurde.68 Zwar läßt sich für das Hochmittelalter parallel zur lateinischen und byzantinischen Kanonistik eine Welle der Kodifikationen des Kirchenrechts der sog. orientalischen Kirchen nachweisen,69 doch gibt es eine ganze Reihe von Indizien dafür, daß diese Texte zwar den Anspruch erheben mögen, Grundlage einer christlichen Jurisdiktion in „eigenen“ Angelegenheiten zu sein, ihn aber nicht einzulösen vermögen (schönes Beispiel: im koptischen Nomokanon des Ibn al-cAssāl ist ausgerechnet das Kapitel über den Richter eins zu eins aus dem Handbuch eines muslimischen fiqh-Gelehrten kopiert).70 Ganz im Gegenteil belegen muslimische Gerichtsarchive wie die Klagen christlicher und jüdischer Hierarchen gleichermaßen, daß sich die Angehörigen dieser Gemeinden mit ihren Anliegen in aller Regel an den muslimischen Qadi wandten.71 sociologique des chrétiens en Syrie, in: Proche-Orient Chrétien 45 (1995), S.  64 (69 ff.) sowie H. Kaufhold, Art. Personalstatut, in: ders., Kleines Lexikon, ebda., S.  4 07 f. – Zugespitzt kritische Darstellung von B. Ye’or [Pseudonym], Der Niedergang des orientalischen Christentums unter dem Islam, 2002, S.  71 ff. 66  Monographisch A.S. Tritton, The Caliphs And Their Non-Muslim Subjects, London u.a. 1930; K. Binswanger, Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts, 1977; W. Kallfelz, Nichtmuslimische Untertanen im Islam, 1995; Y. Friedmann, Tolerance and Coercion in Islam, Cambridge u.a. 2003. 67   Instruktive Quellensammlung: S. Noble/A. Treiger (Hrsg.), The Orthodox Church in the Arab World 700–1700, DeKalb 2014. Einzelstudien: J. Pahlitzsch, Graeci und Suriani im Palästina der Kreuzfahrerzeit, 2001, S.  235 ff.; T. Hofmann (Hrsg.), Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, 2004; zusammenfassend C. Lange/K. Pinggéra, Die altorientalischen Kirchen, 2010, S.  16 ff. 68   Näher zum folgenden F. Wittreck, Interaktion religiöser Rechtsordnungen, 2009, S.  20 ff. 69  Siehe C. Gallagher, Church Law and Church Order in Rome and Byzantium, Aldershot 2002, S.  114 ff., 153 ff., 187 ff. sowie H. Kaufhold, Sources of Canon Law in the Eastern Churches, in: W. Hartmann/K. Pennington (Hrsg.), The History of Byzantine and Eastern Canon Law to 1500, Washington 2012, S.  215 (253 f., 285 f., 310 ff., 316 f.). 70  Näher Wittreck, Interaktion (Fn.  68), S.  232 ff. sowie H. Kaufhold, Der Richter in den syrischen Rechtsquellen. Zum Einfluß islamischen Rechts auf die christlich-orientalische Rechtsliteratur, in: Oriens Christianus 68 (1984), S.  91 (104). Zur Quelle m.w.N. Wittreck, ebda., S.  175, 208 f. 71  Siehe K. Çīçek, Zimmis (Non-Muslims) of Cyprus in the Sharia Court: 1110/39 A.H./1698–1726 A.D., Diss. phil. Birmingham 1992, S.  88 ff.; N. Al-Qattan, Dhimmīs in the Muslim Court: Legal Auto-

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Dieser historische Befund dokumentiert freilich nur, daß das heute in Geltung befindliche System sich nicht umstandslos auf eine jahrhundertealte Traditions- und Legitimationskette berufen kann; auch hier gilt mithin, daß von der (historisch womöglich fehlerhaft rekonstruierten) Genese nicht auf die (fehlende) Geltung geschlossen werden darf. Fragt man nach dem tatsächlichen Ursprungskontext, so fällt auf, daß gleich mehrfach (namentlich in Indien, Israel, Ostafrika und einzelnen arabischen Staaten) Spuren der britischen Kolonialherrschaft und ihrer wohlfeilen Maxime „divide et impera“ nicht zu übersehen sind.72 Die Briten bauen ihrerseits teilweise auf Systematisierungsbemühungen des Osmanischen Reiches auf, das im 19. Jahrhundert die bisherige Millet-Praxis tatsächlich in schriftliche Formen gießt und dabei ganz offensichtlich sowohl von europäischem Systemdenken als auch von europäischen Bestrebungen beeinflußt wird, Garantien für die Rechte der als bedroht wahrgenommenen christlichen Gemeinschaften zu erwirken.73 Es bleibt die Frage nach dem Eskalations- und Irritationspotential einer solchen staatlich angeordneten religiösen Gerichtsbarkeit. Es sollte auf der Hand liegen: Zunächst dürfte überdeutlich sein, daß zumindest die übliche Handhabung im Nahen Osten nach deutschem Verständnis mit der negativen Religionsfreiheit nicht vereinbar sein dürfte,74 weil etwa in Israel ein Bürger, der nach dem Gesetz als Jude gilt, vom Staat gezwungen wird, sich für Eheschließung und -scheidung auch dann an religiöse Institutionen und Gerichte zu wenden, wenn er an rein gar nichts glaubt75 nomy and Religious Discrimination, in: International Journal of Middle East Studies 31 (1999), S.  429 ff. – Instruktives Beispiel zur Rechtsgestaltung bei Pahlitzsch, Graeci (Fn.  67), S.  181 ff. 72   Nachweise für die britische Ordnung des Personalstatuts in Palästina bei E. Vitta, The Conflict of Laws in Matters of Personal Status in Palestine, Tel Aviv 1947, S.  6 ff. und passim; R.H. Eisenman, Islamic Law in Palestine and Israel. A History of the Survival of Tanzimat and Sharī ca in the British Mandate and the Jewish State, Leiden 1978, S.  49 ff.; K. Penev, Minderheitenrechte der Araber in Israel, 2004, S.  31 ff., 150 f., 160 ff.; N. Haiduc-Dale, Arab Christians in British Mandate Palestine, Edinburgh 2013, S.  25 ff. (relevante Texte in: Margalith/Assan, Israel [Fn.  61], S.  67 ff.); instruktiv zum völkerrechtlichen Kontext C. Hauswaldt, Der Status von Palästina, 2007, S.  31 ff. – Vergleichend M. Weiss, Institutionalizing Sectarianism: The Lebanese Jacfari Court and Shici Society under the French Mandate, in: Islamic Law and Society 15 (2008), S.  371 ff. 73  Näher G. Papadopoulos, Les Privilèges du Patriarcat Œcuménique (Communauté Grecque Orthodoxe) dans l’Empire ottoman, Paris 1924; K. S. Abu Jaber, The Millet System in the Nineteenth-Century Ottoman Empire, in: The Muslim World 57 (1967), S.  212 ff.; B. Braude, Foundation Myths of the Millet System, in: ders./B. Lewis (Hrsg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society, Bd.  1: The Central Lands, New York/London 1982, S.  69 ff.; A. Layish, The Heritage of Ottoman Rule in the Israeli Legal System. The Concept of Umma and Millet, in: P. Bearman/W. Heinrichs/B. G. Weiss (Hrsg.), The Law Applied. Contextualizing the Islamic Shari’a, London/New York 2008, S.  128 ff.; Haiduc-Dale, Christians (Fn.  72), S.  21 ff. 74   Aus der deutschen Grundrechtsdogmatik nur A. Frhr. v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  VII, 3.  Aufl. 2009, §  157 Rn.  127 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  I V/2, 2011, S.  956 ff. (§  118 III 4). – Aus der israelischen Literatur: A. Rosen-Zvi, Freedom of Religion: The Israeli Experience, in: ZaöRV 46 (1986), S.  213 (226 ff.); A. Maoz, Religious Human Rights in the State of Israel, in: J.D. van der Vyver/J. Witte (Hrsg.), Religious Human Rights in Global Perspective, Bd.  2: Legal Perspectives, Den Haag/Boston/London 1996, S.  349 (359 ff.); R. Lapidoth, Freedom of Religion and of Conscience in Israel, in: dies./O. Ahimeir (Hrsg.), Freedom of Religion in Jerusalem, Jerusalem 1999, S.  3 (9, 23); N. Lerner, Religious Liberty in the State of Israel, in: Emory International Law Review 21 (2007), S.  239 (252 ff., 260 ff.). 75   Beißend kritisch O. Kaufman, The Right to Freedom From Religion in a Jewish State, in: Human

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(bekanntlich weichen nichtreligiöse Israelis en masse zur Heirat wie zur Scheidung nach Zypern aus …)76. Ferner belegen jüngere Konflikte aus Israel und Indien, daß selbst die (staatliche) Integration religiöser Gerichtsbarkeit in das staatliche Rechtsprechungssystem deren Eigenlogik nicht zwangsläufig einhegen kann. Beginnen wir mit Israel. Wie dargelegt, sind hier aufgrund wohlgemerkt staatlicher Gesetze religiöse Gerichte für Fragen des Familien-, teils auch Erbrechts zuständig; die Entscheidungen dieser geistlichen Gerichte unterliegen wiederum der – eingeschränkten – Überprüfung durch das Oberste Zivilgericht.77 Zum Auslöser des Konflikts wird nun der Versuch des israelischen Parlaments, gezielt die Rechte von Frauen im Unterhaltsrecht zu stärken.78 Diesem Versuch hat sich wiederum das oberste Rabbinatsgericht verweigert, weil es ihn als unzulässigen Eingriff in das seiner Obhut anvertraute jüdische religiöse Recht brandmarkte. Das Oberste Zivilgericht hat diese Entscheidung zwar seinerseits kassiert,79 verfügt aber über keine weiteren Mittel, die religiösen Gerichte tatsächlich zum Gehorsam gegenüber dem weltlichen Gesetz zu zwingen. Das Ende ist hier offen.80

Rights Brief 5 (1997–1998), S.  10 (11); A. Gross-Schaffer/W. Jacobsen, If Not Now, When? The Case for Religious Liberty in the State of Israel, in: Journal of Church and State 44 (2002), S.  539 (544 f.) sowie Weiss/Gross-Horowitz, Marriage (Fn.  61), S.  164 ff. 76   T. Einhorn, Israeli International Family Law – the Liberalization of Israeli Substantive Family Law, in: H.-E. Rasmussen-Bonne (Hrsg.), Balancing of Interests. Liber Amicorum Peter Hay, 2005, S.  141 (142 u. passim) sowie Weiss/Gross-Horowitz, Marriage (Fn.  61), S.  28 f., 150 ff. – Zum Problem der religionsverschiedenen Ehen noch Scheftelowitz, Israel (Fn.  61), S.  32 ff.; D. Hacker, Inter-Religious Marriages in Israel: Gendered Implications for Conversion, Children and Citizenship, in: Israel Studies 14 (2009), S.  178 ff. 77  Näher D.I. Frimer, Israel Civil Courts and Rabbinical Courts under one roof, in: Israel Law Review 24 (1990), S.  553 (558 f.); D. Levin, Konflikte zwischen einer weltlichen und einer religiösen Rechtsordnung. Eine kritische Würdigung des israelischen Familienrechts mit besonderer Berücksichtigung des jüdischen Scheidungsrechts aus der Sicht des schweizerischen internationalen Privatrechts, 1991, S.  61 f.; R. Halperin-Kaddari, Expressions of Legal Pluralism in Israel: The Interaction between the High Court of Justice and Rabbinical Courts in Family Matters and Beyond, in: M.D.A. Freeman (Hrsg.), Jewish Family Law in the State of Israel, Binghamton 2002, S.  185 (191 ff., 225 ff., 231 f.). 78   Das Women‘s Equal Rights Law Nr.  5711–1951, 5 LSI 33 (1951–52; zugänglich in: Margalith/Assan, Israel [Fn.  61], Nr. B 13, S.  92 f.), sieht vor, überkommene Ungleichbehandlungen abzubauen, enthält zugleich aber einen unklaren Vorbehalt zugunsten der religiösen Gerichtsbarkeit; siehe nur G. Tedeschi, On the Problem of Marriage in Israel, in: ders., Studies in Israel Private Law, Jerusalem 1966, S.  218 (228 ff.) sowie M. Cohn, Women, Religious Law and Religious Courts in Israel – The Jewish Case, in: Retfaerd. Nordisk juridisk tidsskrift 27 (2004), S.  57 (61 f.). 79   Fundstelle: High Court 1000/92 Bavli v. The Supreme Rabbinical Court P.D. 48 (2) 221 (1994). Vgl. dazu aus der israelischen Literatur näher Halperin-Kaddari, Legal Pluralism (Fn.  77), S.  191 ff.; Scolnicov, Religious Law (Fn.  58), S.  732 ff. sowie Cohn, Women (Fn.  78), S.  70 ff. Zuletzt M. Karayanni, National Report Israel: Religious Law and Religious Courts as a Challenge to the State, in: Kischel, Herausforderung (Fn.  2), S.  113 (129 ff.). 80   Natürlich ist der geschilderte Konflikt nur eine spezielle Ausprägung der fundamentalen Auseinandersetzung um den Charakter als „jüdischer“ Staat: Vgl. dazu I. Englard, The Problem of Jewish Law in a Jewish State, in: Israel Law Review 3 (1968), S.  254 ff.; Kaufman, Freedom (Fn.  75), S.  10 ff. sowie B.S. Jackson, Secular and Religious Constructions of Jewish Identity and Jewish Politics in the Law of the Modern State of Israel, in: G. Filoramo (Hrsg.), Teologie politiche. Modelli a confronto, Brescia 2005, S.  263 (264 ff.).

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In Indien hat zuletzt das Oberste Gericht die muslimische talaq-Scheidung generell verworfen;81 diese erlaubt einseitig dem Ehemann, die Ehe durch dreimaliges Aussprechen der talaq- oder Verstoßungsformel zu beenden.82 Auch hier bleibt abzuwarten, wie die religiösen Institutionen nunmehr diese Irritation verarbeiten.

III.  Staatliche Parameter geistlicher Gerichtsbarkeit Hält man als Zwischenergebnis fest, daß alle genannten Typen geistlicher Gerichtsbarkeit Konflikte mit der staatlichen Rechtsprechung herauf beschwören können, so stellt sich die Frage nach den angemessenen Reaktionsmöglichkeiten des demokratischen Verfassungsstaates. Sie soll hier in zwei Schritten entfaltet werden. Zunächst ist die geschriebene Verfassung auf solche Bestimmungen hin zu sichten, die religiöse Gerichtsbarkeit entweder gestatten oder einzuschränken vermögen; sie firmieren hier als Parameter erster Ordnung (1.). Möglicherweise sind in Sachen geistlicher Gerichtsbarkeit aber ganz grundlegende Prämissen des demokratischen Verfassungsstaates tangiert, die in der Verfassungsurkunde nicht mehr explizit aufgerufen werden; sie werden hier als Parameter zweiter Ordnung bezeichnet und erörtert (2.).

1.  Parameter erster Ordnung Als „Prüfsteine“ geistlicher oder religiöser Gerichtsbarkeit resp. Streitschlichtung kommen zunächst das Gewalt- bzw. Rechtsprechungsmonopol des Staates (a.), seine religiös-weltanschauliche Neutralität (b.), die – positive wie negative – Religionsfreiheit (c.), weitere Grundrechte der Betroffenen (d.) sowie eingedenk der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Schutzgüter des Art.  79 Abs.  3 GG in Betracht (e.).

81   Dazu als erster Kommentar m.w.N. T. Herklotz, Shayara Bano versus Union of India and others. The Indian Supreme Court‘s Ban of Triple Talaq and the debate around muslim personal law and gender justice, in: VRÜ 50 (2017), S.  281 ff. 82   Vgl. dazu aus der einschlägigen Literatur P. Heine, Ehe/Eheschließung, in: A.T. Khoury/ders./J. Oebbecke (Hrsg.), Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, 2000, S.  132 (138 f.); M. Rohe, Das islamische Recht, 2.  Aufl. 2009, S.  91 ff.; W. Hallaq, An Introduction to Islamic Law, Cambridge u.a. 2009, S.  131 ff. – Speziell zur Vereinbarkeit mit dem deutschen ordre public OLG Hamm FamFR 2010, S.  192; E. Jayme, „Talaq“ nach iranischem Recht und deutscher ordre public, in: IPRax 1989, S.  223 ff.; M. Bolz, Verstoßung der Ehefrau nach dem islamischen Recht und deutscher ordre public, in: NJW 1990, S.  620 ff.; A. Lüderitz, Talâq vor deutschen Gerichten, in: H. Prütting (Hrsg.), Festschrift für Gottfried Baumgärtel zum 70. Geburtstag, 1990, S.  333 ff.; G. Beitzke, Scheidung sunnititscher Libanesen, in: IPRax 1993, S.  231 ff.; K. Wähler, Islamische talaq-Scheidung vor deutschen Gerichten, in: H. Kronke/G. Reinhart/N. Witteborg (Hrsg.), Islamisches und arabisches Recht als Problem der Rechtsanwendung. Symposium zu Ehren von Professor Emeritus Dr. iur. Omaia Elwan, 2001, S.  113 ff.; H.J. Sonnenberger, Wandlungen und Perspektiven des familienrechtlichen ordre public, in: R. Freitag/S. Leible/H. Sippel/U. Wanitzek (Hrsg.), Internationales Familienrecht für das 21. Jahrhundert, 2006, S.  29 ff.; M. Andrae, Anwendung des islamischen Rechts im Scheidungsverfahren vor deutschen Gerichten, in: NJW 2007, S.  1730 ff.

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a)  Gewalt- und Rechtsprechungsmonopol Namentlich die Erscheinungsformen der „Paralleljustiz“ werden häufig mehr intuitiv als Verletzung entweder des Gewalt- oder des Rechtsprechungsmonopols gebrandmarkt.83 Bei näherem Hinsehen zerfließt der Vorwurf aber zwischen den Fingern des Rechtsanwenders:84 Das Gewaltmonopol des Staates ist nicht allein eine Figur der Verfassungstheorie oder der Allgemeinen Staatslehre,85 sondern läßt sich unter dem Grundgesetz aus einer Gesamtschau der Normen des Polizei-, Prozeßund Vollstreckungsrechts herleiten (auch die Vorschriften über den Streitkräfteeinsatz zählen hierher).86 Es steht aber erst dann zur Disposition, wenn sich eine religiöse Gruppe entweder anschickt, die Entscheidungen ihrer religiösen Gerichte durch einen eigenen „bewaffneten Arm“ zu vollstrecken oder nach dem Muster der vieldiskutierten „Reichsbürger“ offen zur Nichtanerkennung des staatlichen Anspruchs auf Rechtsgehorsam aufruft.87 Das wird man derzeit allenfalls für einzelne ausgewiesen salafistische Gruppierungen annehmen können. Auch das Rechtsprechungsmonopol dürfte hier nicht weiterhelfen. Niedergelegt ist es in Art.  92 GG, wonach die rechtsprechende Gewalt den Richtern „anvertraut“ ist.88 Erneut tut allerdings Präzisierung Not: Wie schon die Existenz- der Schiedsund Verbandsgerichtsbarkeit belegt, folgt aus Art.  92 GG kein staatliches Monopol auf die Funktion „Gerichtsbarkeit“ oder gar die Bezeichnung als „Gericht“.89 Das „Umwillen“ des Rechtsprechungsmonopols erhellt aus der Zusammenschau mit dem   So für das Rechtsprechungsmonopol Merten, Rechtsstaat (Fn.  56), S.  29 f. sowie K.-H. Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit. Über die Frage nach der staatlichen Kompetenz zur Rechtsschutzgewährung im Wirkungsbereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften, 1991, S.  99 ff. 84   Näher zum folgenden Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  456 ff. (dort auch zum verwandten Topos von der „Einheit der Rechtsordnung“). 85   G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.  Aufl. 1913 (ND 1960), S.  435 ff.; E. Benda, Der Soziale Rechtsstaat, in: ders./W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2.  Aufl. 1995, §  17 Rn.  14 ff.; M. Schulte, Gewalt durch private Sicherheitskräfte im Lichte des staatlichen Gewaltmonopols, in: DVBl. 1995, S.  130 (131 f.); C. Müller, Das staatliche Gewaltmonopol. Historische Entwicklung, verfassungsrechtliche Bedeutung und aktuelle Rechtsfragen, 2007; T. Gutmann, Die Grenzen staatlicher Gewalt, in: ders./B. Pieroth (Hrsg.), Die Zukunft des staatlichen Gewaltmonopols, 2011, S.  33 (35 f.). 86   J. Isensee, Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates, in: G. Müller/R. Rhinow/G. Schmid/L. Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S.  23 ff.; ders., Staat und Verfassung, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3.  Aufl., Bd.  II, 2004, §  15 Rn.  88; C. Möllers, Staat als Argument, 2.  Aufl. 2011, S.  272 ff. 87   Wie hier A. Eser, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, 29.  Aufl. 2014, §  111 Rn.  11 ff.; T. Schilling, Das Verhältnis zwischen Völkerrecht, Gemeinschaftsrecht und staatlichem Recht, in: S. Griller/H.P. Rill (Hrsg.), Rechtstheorie: Rechtsbegriff – Dynamik – Auslegung, 2011, S.  153 (159 ff.). 88  Siehe H.-J. Schleicher, Staatliches Rechtsprechungsmonopol und kirchliche Gerichtsbarkeit, 1968, S.  45 ff.; Kästner, Justizhoheit (Fn.  83), S.  112 f.; D. Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3.  Aufl., Bd.  V, 2007, §  112 Rn.  24 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  III, 3.  Aufl. 2018, Art.  92 Rn.  17, 51; historische Skizze zur Herausbildung der „Justizhoheit“ des Staates bei Wittreck, Verwaltung (Fn.  22), S.  38 ff. 89  Näher F. Wittreck, Verfassungsrechtliche (und unionsrechtliche) Rahmenbedingungen privater Justiz, in: Stiftung Gesellschaft für Rechtspolitik/Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche. Jahrbuch 2016, 2017, S.  31 (36 ff.). 83

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Gewaltmonopol: Der Staat beansprucht, letztlich mit Gewalt vollstreckbare Entscheidungen entweder ausschließlich durch seine eigenen Gerichte i.S.v. Art.  92 GG selbst zu fällen oder auf Private nur unter bestimmten Voraussetzungen (zu denen ein Mindestmaß an Kontrolle zählt; vgl. die Schiedsgerichtsbarkeit oder auch die neuere Rechtsprechung zur faktischen Vollstreckung der Kostenentscheidungen kirchlicher Gerichte)90 zu delegieren.91 Umgekehrt bleibt jede Form von Streitschlichtung, die lediglich auf die Überzeugungskraft des Schlichterspruchs oder die informelle soziale Sanktion setzt, grundsätzlich unter dem Radar des Rechtsprechungsmonopols. Daß auch in diesen Fällen ein Rechtsweg dann offenstehen muß, wenn der Betroffene plausibel geltend machen kann, durch das Verfahren oder das Ergebnis der nichtstaatlichen Streitschlichtung in seinen staatlich garantierten Rechten tangiert zu sein (ihr etwa nicht freiwillig zugestimmt zu haben), folgt dann primär aus dem Justizgewähranspruch gem. Art.  20 Abs.  3 i.V.m. Art.  2 Abs.  1 GG.92

b)  Religiöse Neutralität Die religiös-weltanschauliche Neutralität des vom Grundgesetz verfaßten Staates wird gemeinhin aus einer Gesamtschau von Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG (Verbot der Diskriminierung wegen der Religion), Art.  4 Abs.  1 u. 2 GG (Religions- und Weltanschauungsfreiheit), Art.  33 Abs.  3 GG (Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig von der Religion), Art.  140 GG i.V.m. Art.  136 WRV (Garantien verschiedener Teilgehalte der negativen Religionsfreiheit) sowie Art.  140 GG i.V.m. Art.  137 Abs.  1 WRV (Verbot der Staatskirche) abgeleitet.93 Der Streit, ob diejenigen Normen des Grundgesetzes, in denen die Bundesrepublik eben nicht gänzlich neutral auftritt, sondern sich mit einer Gottesvorstellung (Präambel), den Glaubensinhalten (aller) Religionsgemeinschaften (Religionsunterricht nach Art.  7 Abs.  3 GG) sowie dem Christentum (Sonntagsschutz nach Art.  140 GG i.V.m. Art.  139 WRV) identifiziert, den Neutralitätsgrundsatz einschränken oder gerade akzentuieren,94 führt dabei nicht wirklich weiter.95 In Ansehung religiöser Gerichtsbarkeit folgt aus dem Neutralitätsgrundsatz wenigstens zweierlei: Da der Staat wie seine Gerichte unfähig sind, religiöse Wahrhei  Oben Fn.  27.   Näher m.w.N. Wittreck, Rahmenbedingungen (Fn.  89), S.  46 ff. 92   Näher dazu W. Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S.  59 ff.; J. Freitag, Staatliche Handlungspflichten im Justizbereich, 2000, S.  215 ff.; Wittreck, Verwaltung (Fn.  22), S.  203 ff.; H.-J. Papier, Justizgewährungsanspruch, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3.  Aufl., Bd.  VIII, 2010, §  176; A. Uhle, Rechtsstaatliche Prozeßgrundrechte und -grundsätze, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  V, 2013, §  129 Rn.  26 ff. 93  Monographisch K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972 sowie S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, 1992; vgl. ferner J.P. Schaefer, Die religiöse Neutralität des Staates im öffentlichen Raum, in: Verwaltungsarchiv 103 (2012), S.  136 (146 ff.). 94   Statt aller F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GGK I (Fn.  24), Art.  7 Rn.  79 ff. 95  Wie hier H. Wißmann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar (Fn.  24), Art.  7 – III (2015), Rn.  133. 90 91

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ten zu generieren, können sie – erstens – in Binnenstreitigkeiten in religiösen Gemeinschaften nur nach formalen bzw. äußeren Kriterien eingreifen. Das sind in erster Linie solche des staatlichen Rechts, etwa des Vereins- oder Grundbuchrechts.96 Versagt ist staatlichen Organen demgegenüber die eigene Entscheidung darüber, welche Fraktion sich tatsächlich in Übereinstimmung mit dem religiösen Recht befindet oder die „wahre“ Deutung der jeweiligen Religion vertritt.97 Fraglich ist zweitens, wie sich der Staat bzw die staatliche Gerichtsbarkeit danach gegenüber Entscheidungen religiöser Gerichte in der Sache zu verhalten hat. Auf der einen Seite liegt es nahe, die Entscheidung eines religionsgemeinschaftlichen Spruchkörpers erstens schlicht als sachnäher einzustufen und zweitens zu berücksichtigen, daß er im Gegensatz zum weltlichen Gericht „religiös wahrheitsfähig“ ist.98 Dem steht gegenüber, daß der Staat in Gestalt des zuständigen Gerichts Gefahr läuft, sich punktuell zwar nicht mit einer bestimmten Religion zu identifizieren, wohl aber mit einer bestimmten Lesart dieser Religion. Das läßt sich plastisch anhand des Streits um die Leitung der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale dokumentieren, dem in der Sache offenbar Konflikte zwischen „Alteingesessenen“ und zugewanderten Juden aus Osteuropa zugrundelagen. Hier hatte das Schieds- und Verwaltungsgericht des Zentralrats der Juden in Deutschland zugunsten der „entmachteten“ alten Gemeindeleistung entschieden. Während die Verwaltungsgerichte diesen Streit dem innerkirchlichen Bereich zugeordnet und damit staatlichen Rechtsschutz versagt haben,99 hat das Oberlandesgericht Naumburg in gleicher Sache – mit vorzugswürdigen Argumenten – für die faktische Vollziehung der Entscheidung des Schiedsgerichts beim Zentralrat votiert, da die Religionsgemeinschaft andernfalls im staatli96   Vgl. den paradigmatischen Streit um die St. Salvator-Kirche in München (BayVGH, Entsch. v. 25.10.1995, Az. 7 B 90.3798, NVwZ 1996, S.  1120 [1125] und BVerfGE 99, 100 [126] – St. SalvatorKirche [1998] sowie dazu L. Renck, Religionsfreiheit, Kirchengut und die St.-Salvator-Kirche in München, in: NVwZ 1996, S.  1078 ff.; zuvor H. Reis, Die St. Salvator-Kirche in München aus der Sicht des orthodoxen Kirchenrechts sowie des bayerischen und griechischen Staatskirchenrechts, in: ZevKR 30 [1985], S.  186 [189]). – Zum gleichen Problem aus dem angloamerikanischen Rechtskreis M. Hill, Judicial Approaches to Religious Disputes, in: O’Dair/Lewis, Law and Religion (Fn.  34), S.  4 09 ff. sowie K. Greenawalt, Hands Off! Civil Court Involvement in Conflicts over Religious Property, in: Columbia Law Review 98 (1998), S.  1843 ff. 97   Daß der Staat und seine Gerichte sich hier praktisch nur „verheben“ können, illustriert der Versuch bulgarischer Institutionen, ein Schisma in der (traditionell mit dem Staat eng verwobenen) bulgarisch-orthodoxen Kirche zu beenden: S.T. Raikin, The Schism in the Bulgarian Orthodox Church, 1992–1997, in: J.D. Bell (Hrsg.), Bulgaria in Transition, Boulder 1998, S.  207 ff. sowie J. Broun, The Schism in the Bulgarian Orthodox Church, in: Religion, State and Society 21 (1993), S.  207 ff.; dies., The Schism in the Bulgarian Orthodox Church, Part 2: Under the Socialist Government, 1993–97, in: Religion, State and Society 28 (2000), S.  263 ff.; dies., The Schism in the Bulgarian Orthodox Church, Part 3: Under The Second Union of Democratic Forces Government, 1997–2001, in: Religion, State and Society 30 (2002), S.  365 ff.; dies., The Bulgarian Orthodox Church: the continuing schism and the religious, social and political environment, in: Religion, State and Society 32 (2004), S.  209 ff.; speziell zur Frage der staatlichen Einwirkung L. Duridanov, Ein „postbyzantinisches“ Schisma – Bulgarien 1992 oder: wie viel hat Politik mit Religion zu tun?, in: V. Makrides (Hrsg.), Religion, Staat und Konfliktkonstellationen im orthodoxen Ost- und Südosteuropa, 2005, S.  115 (117 f.). 98   Vgl. BVerwGE 149, 139 (148 f., Rn.  27) [2014]: „Dennoch gebührt der innerkirchlichen Gerichtsbarkeit der Vorrang vor der subsidiären Anrufung staatlicher Gerichte. Dies gebietet die verfassungsrechtlich geschuldete Rücksichtnahme auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften (Art.  140 GG i.V.m. Art.  137 Abs.  3 WRV).“ 99   OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 24.2.1997 – B 2 S 30/96, KirchE 35, 52.

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chen Rechtskreis rechtlos gestellt würde.100 Der Schiedsspruch unterliege lediglich „im Rahmen einer Inzidentprüfung durch staatliche Gerichte […] einer Überprüfung anhand elementarer Menschenrechte und grundlegender Staatsgesetze bzw. auf Willkür“;101 der Bundesgerichtshof hat das im Kern bestätigt.102 Diese Handhabung sollte als taugliche Kompromißlinie auch die Neutralitätsmaxime wahren. Dritte – wohl unstreitige – Konsequenz des Satzes „Es besteht keine Staatskirche“ dürfte sein, daß die hier als Typ 4 firmierende Indienstnahme religiösen Rechts wie religiöser Gerichte für das Familien- und Erbrecht nach dem Muster des Nahen Ostens zumindest dann ausgeschlossen sein muß, wenn sie erstens verbindlich und zweitens alternativlos ausgestaltet ist. Zwar identifiziert sich etwa der Staat Israel hier nicht allein mit dem Judentum, sondern mit einer Vielzahl von („anerkannten“) Religionen.103 Gleichwohl verstößt diese Handhabung nach deutschem Verfassungsverständnis nicht allein gegen die negative Religionsfreiheit der Betroffenen (oben II.4), sondern installiert bereichsspezifisch sogar eine Vielzahl von Staatskirchen, indem der Staat in zentralen Bereichen des Zivilrechts „Outsourcing“ betreibt und genuine Staatsaufgaben religiösen Akteuren zuweist. Das ist letztlich von der Fallhöhe her nicht vergleichbar mit den Fällen, in denen Kirchen als Körperschaften des Öffentlichen Rechts etwa im Friedhofsrecht in der Bundesrepublik noch tatsächlich Staatsgewalt ausüben104 (zumal der Fall Israel belegt, daß die nachgelagerte staatliche Kontrolle im Fall von religiösen Gerichten, die Selbstand für sich reklamieren, ein Muster ohne Wert sein kann)105.

c) Religionsfreiheit Die grundrechtliche Legitimation geistlicher Gerichtsbarkeit muß zunächst nach der individuellen (Art.  4 Abs.  1 u. 2 GG) wie der kollektiven Religionsfreiheit i.S.v. Art.  137 Abs.  3 S.  1 WRV i.V.m. Art.  140 GG unterscheiden.106 Bezüglich des einheitlichen Grundrechts der Glaubens- oder Religionsfreiheit haben sich die beiden Weichenstellungen durchgesetzt, daß diese aus Art.  4 Abs.  1 u. 2 GG folgende Freiheit erstens neben Glauben und Bekenntnis auch die Freiheit umfaßt, sich im Alltag nach den Regeln des Glaubens zu richten.107 Das Schächtverbot   OLG Naumburg, Urt. v. 11.9.1997 – 7 U 1328/97, KirchE 35, 358.   OLG Naumburg, ebd., Rn.  125 (vgl. ebd., Rn.  152 zur Geltung des ordre public). 102   BGH, Urt. v. 11.2.2000 – V ZR 271/99, KirchE 38, 60; dazu die Anmerkung v. H. Maurer, in: JZ 2000, S.  1113 ff.; A. Nolte, Durchbruch auf dem Weg zu einem gleichwertigen staatlichen Rechtsschutz in „Kirchensachen“?!, in: NJW 2000, S.  1844 f.; K.-H. Kästner, Tendenzwende in der Rechtsprechung zum staatlichen Rechtsschutz in Kirchensachen, in: NVwZ 2000, S.  889 ff. sowie A. Frhr. v. Campenhausen, Neues zum staatlichen Rechtsschutz im kirchlichen Bereich, in: ZevKR 45 (2000), S.  622 ff. 103   Bündig m.w.N. Günzel, Religionsgemeinschaften (Fn.  61), S.  59 ff., 65 ff. 104  Statt aller H. Engelhardt, Bestattungswesen und Friedhofsrecht, in: Listl/Pirson, Handbuch II (Fn.  23), S.  105 (109 ff.). 105   Nochmals oben bei und in Fn.  79. 106   Unerörtert bleibt hier der Streit über die einschlägige Reichweite des Art.  19 Abs.  3 GG; dazu statt aller H. Dreier, in: ders., GGK I (Fn.  24), Art.  19 III Rn.  92 f. 107   Std. Rechtsprechung seit BVerfGE 24, 236 – Aktion Rumpelkammer [1968]. Näher dazu C. Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, S.  496 ff. 100 101

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belegt dabei, daß der Grundrechtsträger hier nicht absolute Ge- und Verbote plausibilisieren muß, sondern lediglich konditionale: Wenn sich der Gläubige in einer Alltagsfrage für eine bestimmte Handlungsweise entscheidet, darf er sich dabei nach den Regeln seiner Religion bzw. dem von ihm als bindend empfundenen religiösen Recht richten, ohne sich vorhalten lassen zu müssen, er könne doch ganz anders handeln108 – im Hintergrund steht die schlichte Einsicht, daß die deutsche Grundrechtsordnung dem Staat die Begründungslast überantwortet, wohingegen der Freiheitsgebrauch des einzelnen dem Grunde nach willkürlich erfolgen kann.109 Zweite Weichenstellung: Maßgeblich ist nach ganz herrschender Auffassung das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers.110 Stellt man darauf ab, daß die Religionsfreiheit den einzelnen vor Gewissensnot im Angesicht staatlicher Ge- wie Verbote bewahren will, dann kann konsequenterweise nur das Selbstverständnis des einzelnen Grundrechtsträgers maßgeblich sein; daß die Rechtsprechung in der Tendenz auf das Selbstverständnis einer im Einzelfall ganz unterschiedlich bestimmten Bezugsgruppe abstellt,111 ist erkennbar der Beweisbarkeit einer solchen Behauptung geschuldet. Welche Selbstverständnisse lassen sich im Hinblick auf die Inanspruchnahme einer geistlichen Gerichtsbarkeit bzw. des religiösen Rechts derzeit plausibel behaupten?112 Ausreichend wären sowohl das strikte Gebot, lediglich religiöse Institutionen zum Zwecke der Streitschlichtung anzurufen (oder das korrespondierende Verbot, sich an nichtreligiöse zu wenden)113, als auch die konditionierte Regel, dies nur zu tun, falls   Neben der Sache daher der Vorhalt des Bundesverwaltungsgerichts, Muslime würden durch das Schächtverbot nicht in ihrer Religionsfreiheit tangiert, weil sie erstens bitteschön Fisch essen und zweitens Fleisch aus dem Ausland importieren könnten: BVerwGE 99, 1 (8) [1995]; vgl. dazu näher F. Wittreck, Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot. Anmerkungen zur Schächtentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat 42 (2003), S.  519 (524 f. m. Fn.  31). – Ein weiteres Beispiel wäre die von Art.  6 Abs.  1 GG gewährleistete Eheschließung: Keine christliche Konfession kennt ein regelrechtes Gebot der Eingehung einer Ehe. Praktisch alle aber halten ihre Gläubigen für gehalten, im Fall der Eheschließung die religiöse Form zu nutzen, und hier brachte der Staat bis ins Jahr 2008 die Gläubigen in Gewissensnot, weil er ihnen dafür ohne sachlichen Grund die vorherige standesamtliche Trauung abnötigte (§  67 PStG a.F.). Zu kurz daher Seiler (Fn.  24), Art.  6 Abs.  1 Rn.  64. 109   Unterstrichen von H. Dreier, Recht und Willkür, in: C. Starck (Hrsg.), Recht und Willkür, 2012, S.  1 (18 ff.). 110   BVerfGE 12, 1 (3 f.) – Glaubensabwerbung [1960]; 24, 236 (247 f.) – Aktion Rumpelkammer [1968]; 30, 415 (423) – Mitgliedschaftsrecht [1971]; 44, 37 (49 ff.) – Kirchenaustritt [1977]; aus der Literatur zustimmend P. Häberle, Grenzen aktiver Glaubensfreiheit. Zur Lumpensammlerentscheidung des BVerfG, Beschluß v. 16. Okt. 1968 (BVerfGE 24, 236 ff. – Aktion Rumpelkammer – [1968]), in: DÖV 1969, S.  385 (389); M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S.  49 ff., insb. 52 ff., 78 ff., 393 ff. und passim; M. Borowski, Der Grundrechtsschutz des religiösen Selbstverständnisses, in: A. Haratsch u.a. (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkulären Staat, 2001, S.  49 (49 ff.); C.D. Classen, Religionsrecht, 2006, Rn.  85; M. Morlok, in: Dreier, GGK I (Fn.  24), Art.  4 Rn.  60 ff. (Rn.  72: „das zu plausibilisierende Selbstverständnis“). 111   Namentlich BVerfGE 104, 337 (354: Selbstverständnis einer überschaubaren Bezugsgruppe) – Schächten [2002] und BVerwGE 141, 223 (227: Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft) [2011] sowie aus der Literatur Walter, Religionsverfassungsrecht (Fn.  107), S.  506 ff. („Plausibilisierung“); A. v. Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa. Die Freiheit individueller Religionsausübung in Großbritannien, Frankreich und Deutschland – ein Vergleich, 2008, S.  231 f.; P. Badura, Staatsrecht, 6.  Aufl. 2015, Rn. C 58 (S.  207). 112   Näher zum folgenden Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  459 ff. 113   Wer das für fernliegend hält, konsultiere den 1. Korintherbrief (6, 1): „Wie darf jemand unter 108

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sich die Streitigkeit nicht durch eine (vorgeschaltete) Schlichtung nach den Regeln der Religion beilegen läßt. Hier ist nun das Bild außerordentlich bunt: Unter christlichen Gemeinschaften lassen sich in der Bundesrepublik derartige Selbstverständnisse praktisch nicht nachweisen; lediglich für einzelne Gruppen orientalischer Christen wie Armenier und (West-)Syrer (früher „Jakobiten“) ist die faktische Neigung aktenkundig,114 Streitigkeiten informell zu schlichten (was wiederum mit Macht die Frage aufwirft, ob wir es mit einem religiös radizierten oder lediglich kulturell tradierten Handlungsmuster zu tun haben). Auch unter Muslimen wie Juden dominiert nach deren klassischen religiösen Rechtsordnungen gerade die Regel göttlichen Rechts, sich in Ländern, die nicht von der eigenen Religion geprägt sind, an das Recht des jeweiligen Landes zu halten.115 Dem stehen wiederum als greif bares Zeichen der Binnenpluralität beider „Gesetzesreligionen“ jüdische wie muslimische Gruppen gegenüber, die plausibel ein Selbstverständnis geltend machen können, wonach ihnen die Anrufung „weltlicher“ Gerichte entweder versagt oder erst nach einem vorherigen „geistlichen“ Schlichtungsversuch gestattet sei.116 Stellt man auf die – zustimmungswürdige – Auffassung der Rechtsprechung ab, daß Art.  4 Abs.  1 u. 2 GG lediglich einem verfassungsimmanenten Schrankenvorbehalt unterliegt,117 so bedarf euch, wenn er einen Streit hat mit einem andern, sein Recht suchen vor den Ungerechten und nicht vor den Heiligen?“ – Vgl. zur herkömmlichen exegetischen Deutung (danach haben Christen einen Konflikt gütlich beizulegen, da die eschatologische Freiheit ihnen verbietet, heidnische Gerichte anzurufen) C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Bd.  7, 1996, S.  111 ff. sowie F. Lang, Die Briefe an die Korinther, Das Neue Testament Deutsch, Bd.  7, 16.  Aufl. 1986, S.  76 ff. – Zur Rolle der Bibelstelle für die christliche Schiedsgerichtsbarkeit in den USA m.w.N. Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  9 0 f. 114   Armenier: Abschlußbericht „Paralleljustiz“ (Fn.  13), S.  2 , 16; das OLG Hamm hat in einer unveröffentlichten Entscheidung das Ergebnis einer bischöflichen Schlichtung zwischen zwei westsyrischen KfZ-Händlern als Prozeßvergleich anerkannt. Vgl. zu dieser häufig anfechtbar als „syrisch-orthodox“ eingestuften Gruppe der orientalischen Tradition näher m.w.N. H. Kaufhold, Art. Syrisch-orthodoxe („jakobitische“) Kirche, in: ders., Lexikon (Fn.  65), S.  479 ff. 115   Zu den unterschiedlichen Grundhaltungen von Muslimen zur geltenden Rechtsordnung siehe R.A. Doi, Duties and Responsibilities of Muslims in Non-Muslim States: A Point of View, in: Journal of the Institute of Muslim Minority Affairs 8 (1987), S.  42 ff.; Rohe, Islamisches Recht (Fn.  82), S.  385 ff.; ders., Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektiven, 2001, S.  84 ff.; zur Flexibilität der religiösen Vorgaben für Muslime D. Zacharias, Islamisches Recht und Rechtsverständnis, in: S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S.  43 (155 ff.); J. Schlabach, Scharia im Westen. Muslime unter nicht-islamischer Herrschaft und die Entwicklung eines muslimischen Minderheitenrechts für Europa, 2009, S.  9 f. sowie U. Shavit, Sharī‘a and Muslim Minorities, Oxford u.a. 2015, S.  77 ff. – Zum Kollisionsprinzip des jüdischen religiösen Rechts siehe D. v. Daniels, Religiöses Recht als Referenz, 2009, S.  117 sowie Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  19 ff. 116   So auch das (Zwischen-)Ergebnis von J. Witte/J.A. Nichols, The Frontiers of Marital Pluralism, in: Nichols, Marriage (Fn.  34), S.  357 (366 f.); vgl. ferner Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  461 f. 117   BVerfGE 19, 206 (107 f.) – Kirchenbausteuer [1965]; 52, 223 (247 f.) – Schulgebet [1979]; 93, 1 (21) – Kruzifix [1995]. Aus der Literatur wie das Gericht: K. Fischer/T. Groß, Die Schrankendogmatik der Religionsfreiheit, in: DÖV 2003, S.  932 (937); Borowski, Glaubensfreiheit (Fn.  110), S.  502 ff.; A. v. Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit – ein ausuferndes Grundrecht?, in: H. Rensen/S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Bd.  1, 2009, S.  247 ff.; Wittreck, Perspektiven (Fn.  6), S.  94 ff.; Morlok (Fn.  110), Art.  4 Rn.  126 ff. – Hier setzt grundlegende Kritik an, die gerade im Hinblick auf die „Zumutungen“ islamischer religiöser Praktiken anregt, entweder die Religionsfreiheit insgesamt über Art.  136 Abs.  1 WRV i.V.m. Art.  140 GG einem einfachgesetzlichen Einschränkungsvorbehalt zu unterwerfen (so M. Mayer, Religionsfreiheit und Schächtverbot, in: NVwZ 1997, S.  561 [562 f.]; S. Muckel, Streit um den muslimischen

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der Staat eines unmittelbar in der Verfassungsurkunde angesiedelten widersprechenden Normbefehls, um diesem Ansinnen entgegentreten oder entsprechende Schlichtungen untersagen zu können (dazu sogleich). In Ansehung von Art.  137 Abs.  3 S.  1 WRV i.V.m. Art.  140 GG dürfte hingegen ein breiter Konsens herrschen, daß zur „Verwaltung der eigenen Angelegenheiten“ auch die gerichtsförmige Entscheidung von internen Streitigkeiten der Religionsgemeinschaften gehört.118 Diese sind – unabhängig vom Körperschaftsstatus nach Art.  137 Abs.  5 WRV i.V.m. Art.  140 GG – wohlgemerkt grundsätzlich nicht verpflichtet, zur Entscheidung interner Streitigkeiten unabhängige Spruchkörper oder Schiedsgerichte einzusetzen.119 Sie sind aber erstens gut beraten (namentlich in Ansehung der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum rechtsstaatlichen Minimum i.S.v. Art.  79 Abs.  3 GG)120, dies zu tun, da sie andernfalls befürchten müssen, daß etwa im Dienstrecht Entscheidungen von staatlichen Gerichten beanstandet werden oder Kostenentscheidungen nicht im Klagewege vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden können. Zweitens hat die geistliche Gerichtsbarkeit zumindest der etablierten Kirchen namentlich katholischerseits eine lange Tradition (die in vielfacher Hinsicht auf die moderne staatliche Gerichtsbarkeit eingewirkt und sie mitgeformt hat)121, wohingegen die Gliedkirchen der EKD sich bis in den Wortlaut hinein der jeweiligen Normen an die staatlichen Verwaltungsbzw. teils auch Verfassungsgerichtsbarkeit „angeschmiegt“ haben.122

d)  Grundrechte Betroffener In der Diskussion um die sog. Paralleljustiz nimmt die Sorge um die Grundrechte der Betroffenen breiten Raum ein,123 wobei wiederum die Befürchtung besonders prominent ist, namentlich in familienrechtlichen Streitigkeiten könnten die Rechte von Frauen nicht hinreichend gewahrt werden.124 Dahinter steht die verbreitete EinschätGebetsruf, in: NWVBl. 1998, S.  1 [4]) oder diesen zumindest für die Religionsausübung des Art.  4 Abs.  2 GG anzunehmen (so BVerwGE 112, 227 [231 f.] [2000]; F. Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: J. Bohnert u.a. [Hrsg.], Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S.  149 [165 f.]; S. Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S.  28 ff., 36 und C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ders. [Hrsg.], GG, Bd.  I, 6.  Aufl. 2010, Art.  4 Rn.  87 ff.). 118   Ganz h.M.: A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  III, 6.  Aufl. 2010, Art.  137 WRV Rn.  113; D. Ehlers, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8.  Aufl. 2018, Art.  140 GG/Art.  137 WRV Rn.  6; Hans Hofmann, in: A. Schmidt-Bleibtreu/ders./H.-G. Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, 14.  Aufl. 2018, Art.  140 Rn.  22; kritisch allerdings U. Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: VVDStRL 68 (2009), S.  74 (76). 119   So auch (m.w.N.) Germann, Gerichtsbarkeit (Fn.  22), §  31 Rn.  25. 120   Siehe oben I. bzw. näher unten lit.  e. 121   Dazu nur H. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung. Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: JZ 2002, S.  1 (2) sowie F. Wittreck, Christentum und Menschenrechte. Schöpfungs- oder Lernprozeß?, 2013, S.  33 f. 122  Näher Wittreck, Verwaltung (Fn.  22), S.  254 ff.; Arning, Grundrechtsbindung (Fn.  22), S.  141 ff., 173 ff. 123   Siehe nur Wagner, Richter (Fn.  47), S.  249 ff. – Vgl. oben Fn.  58. 124   Statt aller N. Simsek, Recht … herzlich willkommen, in: Politische Studien 469 (2016), S.  42 ff.

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zung, daß gerade das islamische religiöse Recht im Zweifel Frauen benachteilige125 (wobei die Rechtsprechung der US-Gerichte zur jüdischen Schiedsgerichtsbarkeit bzw. einzelstaatliche Reformgesetze belegen, daß auch die halaka diesbezüglich keiˉ neswegs unauffällig ist)126. Erneut ist zu differenzieren: Einigkeit dürfte zunächst darin herrschen, daß Grundrechte der Betroffenen dann verletzt werden, wenn die „Schlichtung“ (oder eine Schiedsvereinbarung) nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf Zwang beruht;127 hier liefert namentlich die Praxis der Berliner organisierten Kriminalität beklemmendes Anschauungsmaterial128 (und unterstreicht sogleich die Schwierigkeit der Staatsgewalt, in derartige Strukturen einzudringen). Ferner sind Grundrechte unzweifelhaft dann tangiert, wenn in formeller Perspektive den Verfahrensbeteiligten ungleiche Möglichkeiten der Einwirkung auf das Verfahren eingeräumt werden.129 Als komplex erweist sich schließlich die Bewertung der materiellen Ergebnisse informeller resp. religiöser Streitschlichtung. Hier ist zum einen davor zu warnen, einer solchen Beurteilung vorschnell das „Normalmodell“ des deutschen materiellen (Sach-)Rechts zugrundezulegen, ohne zuvor zu prüfen, welche Abweichungen es beispielsweise in einem Ehevertrag zuläßt.130 Zum anderen bleibt das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht ein potentes 125   Dieser Tenor in der deutschen Literatur speziell zur religiösen Gerichtsbarkeit bei Brocker, Scharia-Gerichte (Fn.  47), S.  317 u. 328; K.A. Schachtschneider, Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam, 2.  Aufl. 2011, S.  104 f.; Rohe, Islamisches Recht (Fn.  82), S.  398: „Wo traditionalistische oder islamistische Kräfte stark sind oder stark werden, wirkt sich das regelmäßig zuerst massiv zu Lasten der Frauenrechte aus“; Wagner, Richter (Fn.  47), S.  253 f. – Gute Zusammenfassung bei R. Hassan, Rights of Women Within Islamic Communities, in: J.D. van der Vyver/J. Witte (Hrsg.), Religious Human Rights in Global Perspective, Bd.  1: Religious Perspectives, Den Haag/Boston/London 1996, S.  361 ff.; vgl. auch A. Shachar, Multicultural Jurisdictions. Cultural Differences and Women’s Rights, Cambridge u.a. 2001, S.  55 ff. u. passim. 126   Vgl. aus der deutschen Rechtsprechung BGH NJW-RR 2008, S.  1169 (Unvereinbarkeit einer israelischen „Get-Scheidung“ mit deutschem ordre public – Anm. zum Urteil von H. Dörner, in: JR 2009, S.  331 f.); näher Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  28), S.  84 ff. Aus der US-Literatur S.M. Aiardo, Avitzur v. Avitzur and New York Domestic Relations Law Section 253: Civil Response to a Religious Dilemma, in: Albany Law Review 49 (1984), S.  131 ff.; L.M. Warmflash, The New York Approach to Enforcing Religious Marriage Contracts: From Avitzur to the Get Statute, in: Brooklyn Law Review 50 (1984), S.  229 ff.; T. Rostain, Permissible Accommodations of Religion: Reconsidering the New York Get Statute, in: Yale Law Journal 96 (1987), S.  1147 ff.; E.S. Nadel, New York’s Get Laws: A Constitutional Analysis, in: Columbia Journal of Law & Social Problems 27 (1993), S.  55 ff.; L. Zornberg, Beyond the Constitution: Is the New York Get Legislation Good Law?, in: Pace Law Review 15 (1995), S.  703 ff.; P.A. Scott, New York Divorce Law and the Religion Clauses: An Unconstitutional Exorcism of the Jewish Get Laws, in: Seton Hall Constitutional Law Journal 6 (1996), S.  1117 ff.; J. Glicksman, Almost, but not quite: the failure of New York’s Get Statute, in: Family Court Review 44 (2006), S.  300 ff.; J.A. Nichols, Multi-Tiered Marriage: Ideas and Influences from New York and Louisiana to the International Community, in: Vand. Journal of Transnational Law 40 (2007), S.  135 ff.; J. Wexler, Gotta Get a Get: Maryland and Florida Should Adopt Get Statutes, in: Journal of Law and Policy 17 (2009), S.  735 ff. – Internationaler Vergleich von J.C. Kleefeld/A. Kennedy, „A Delicate Necessity“: Bruker v. Marcovitz and the Problem of Jewish Divorce, in: Canadian Journal of Family Law 24 (2008), S.  205 (219 ff.). 127   Statt aller m.w.N. Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  467. 128  Näher Bauwens, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  197 ff.; Rohe/Jaraba, Paralleljustiz (Fn.  13), S.  39 ff., 82 ff. sowie Dienstbühl, Polizei (Fn.  12), S.  5 ff. 129   Vgl. oben Fn.  45 zum minderen Wert, den religiöse Rechte teils den Aussagen von Frauen einräumen; näher zum Problem Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  453 f. 130   Näher m.w.N. Wittreck, Paralleljustiz (Fn.  12), S.  454 f.

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„Gegenrecht“, wenn den tatsächlich die „eigenen Angelegenheiten“ aufgerufen sind.131

e) Verfassungsidentität Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen jüngsten Entscheidungen zum Rechtsschutz in Kirchensachen wie zur faktischen Vollstreckung kirchengerichtlicher Kostenentscheidungen einen neuen Kanon an Mindestanforderungen für Entscheidungen kirchlicher Gerichte formuliert, die vom Staat anerkannt bzw. durchgesetzt werden sollen. Danach sei „die Kontrolle durch die staatlichen Gerichte darauf beschränkt, ob die angegriffene Maßnahme gegen die in Art.  79 Abs.  3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien verstößt.“132 In der konkreten Entscheidung zum Rechtsschutz von Geistlichen lief dies auf eine Prüfung des Sozialstaatsprinzips i.S.v. Art.  20 Abs.  1 GG hinaus, die angesichts der in den protestantischen Kirchen obwaltenden Neigung zur Übernahme staatlichen Dienstrechts zu dem wenig überraschenden Ergebnis führte, daß die Kirche nicht fürsorglicher sein müsse als der Staat selbst.133 Im Urteil zur Kostenerstattung hat das Gericht ausgeführt, Entscheidungen kirchlicher Gerichte seien „von staatlichen Gerichten anzuerkennen, wenn sie nicht auf einer Verletzung der fundamentalen Verfassungsprinzipien des Art.  79 Abs.  3 GG, des Willkürverbots oder elementarer Verfahrensgarantien beruhen.“134 Hier werden Rechtsprechung und Literatur näher zu konturieren haben, welche Mindestgarantien oder -anforderungen in Ansehung der verschiedenen Typen religiöser (wie sonstiger nichtstaatlicher) Gerichtsbarkeit zu gelten haben. Einigen Spielraum verschafft insofern der implizite Verweis auf das notorisch unscharfe Rechtsstaatsprinzip, dem – über einen konsentierten Kern hinaus – bekanntlich Teilgehalte in durchaus divergierender Anzahl zugeordnet werden.135 Gleiches gilt für die Frage, welche Verfahrensgarantien denn nun „elementar“ sind. Neuralgische Punkte dürften die Unabhängigkeit der Gerichtspersonen, der gleichberechtigte Zugang der Parteien sowie die Gewährleistung eines – in einem weiten Sinne verstandenen – fairen Verfahrens sein.

2.  Parameter zweiter Ordnung Hinter den gerade gesichteten Verfassungsbestimmungen oder Rechtsinstituten stehen allerdings Grundentscheidungen oder Weichenstellungen des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates, die im Grundgesetz nicht oder nur am Rande ex  Nochmals BVerfGE 137, 273 – Katholischer Chefarzt [2014].   BVerwGE 149, 139 (Leits. 3) [2014]. 133   BVerwGE 149, 139 (151 ff., Rn.  39 ff.) [2014]. 134   BVerwG (Fn.  27), Leits. 4. 135   Vgl. nur K. Sobota [ jetzt v. Schlieffen], Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S.  27 ff. (25 Elemente) sowie H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.   II, 3.   Aufl. 2015, Art.   20 (Rechtsstaat), Rn.  66 (acht näher untergliederte Kernelemente); vgl. zum Ringen um die normative Deutung resp. Einordnung des „Rechtsstaatsprinzips“ ebda., Rn.  41 ff. 131

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plizit gemacht werden, für den Umgang des Staates mit religiöser Gerichtsbarkeit jedweder Couleur aber von Bedeutung sind: Säkularität (a), Superiorität (b) und Kohärenz (c).

a) Säkularität Die Säkularität ist mit der bereits erörterten Neutralität (oben III.1.b) eng verwandt, aber nicht identisch.136 Auch solche Verfassungsstaaten, die wie Island oder Großbritannien noch über eine Staatskirche verfügen137 oder wie zahlreiche Staaten mit orthodoxer Bevölkerungsmehrheit der jeweiligen autokephalen „Nationalkirche“ eine wie auch immer näher bestimmte privilegierte Position zuweisen138 (und damit nach deutschem Verständnis eben nicht religiös „neutral“ auftreten), weisen dieses institutionelle Arrangement nicht mehr als den bloßen Nachvollzug eines göttlichen Willens aus, sondern als bewußte Entscheidung des höchst irdischen Souveräns – oder eben als Menschenwerk.139 Die genuin theonome Legitimation von menschlicher Herrschaft ist im 21. Jahrhundert keine belastbare Option mehr; wo sie vereinzelt behauptet oder versucht wird (etwa im Iran oder in Saudi-Arabien), ist sie letztlich Camouflage für mit Händen zu greifende zutiefst weltliche Machtstrukturen oder die Ansprüche von Eliten mit angebbaren irdischen Interessen.

b) Superiorität Eng mit der Säkularität des modernen demokratischen Verfassungsstaates hängt eine Grundentscheidung zusammen, die hier als Superiorität bezeichnet wird, nämlich die Überordnung des weltlichen gegenüber dem religiösen oder göttlichen Recht. Auch hier gilt, daß Recht ein Speicher von Verletzungserfahrungen ist, im konkreten Fall der leidvollen Erfahrung der Stützung von innerweltlichen Machtansprüchen auf göttlichen Ratschluß (diese theonomen Ansprüche sind wohlgemerkt in der europäischen Geschichte von weltlichen wie geistlichen Akteuren gleichermaßen erhoben worden; die Stichworte „Gottesgnadentum“ und „Zweischwerterlehre“   Prägnante Zusammenfassung bei H. Dreier, Säkularisierung und Sakralität, 2013, S.  12 ff.  Siehe Rivers, Organized Religions (Fn.  35), S.  72 ff.; dens., National Report England: Religious Law and Religious Courts as a Challenge to the State, in: Kischel, Herausforderung (Fn.  2), S.  59 (72 f., 76 ff.). – Für Island P. Petursson, Religion and State in Iceland, in: Nordic Journal of Religion and Society 24 (2011), S.  189 ff. sowie C. Ladbrooke u.a., Iceland, in: Robbers, Encyclopedia (Fn.  6), S.  183 ff.; speziell zur Rolle der Staatskirche im jüngst erfolgten Prozeß der Verfassunggebung A. Guðmundsdóttir, Aiming for a just society: a theological and constitutional response, in: Political Theology 14 (2013), S.  188 ff. 138  Näher S. Runciman, The Orthodox Churches and the Secular State, Auckland/Oxford 1971; I. Naletova, Other-Wordly Europe? Religion and the Church in the Orthodox Area of Eastern Europe, in: Religion, State & Society 37 (2009), S.  375 ff. sowie G. Stricker, Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 45 (2011), S.  7 ff. 139  Pointiert Korioth, Generalbericht (Fn.  2), S.  155: „Alle betrachteten Staaten mit der Ausnahme Israels verstehen sich als säkulare Ordnungen, deren Legitimation sich von religiösen Wurzeln und Legitimationsmustern, wenn es sie denn jemals gegeben hat, gelöst hat.“ 136 137

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mögen hier genügen)140. Wenn Art.  20 Abs.  1 S.  1 GG festhält, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, normiert er in positiver Perspektive die Volkssouveränität;141 in negativer Perspektive enthält die Bestimmung die Absage an jede Form von religiös radizierter Herrschaftslegitimation.142 Anders formuliert: Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes geht davon aus, daß er den „ewigen Kampf “ des weltlichen gegen das geistliche Recht143 für sich entschieden hat und nunmehr in Ansehung religiös fundierter Verhaltensnormen die Kompetenz-Kompetenz nicht nur für sich reklamiert, sondern rechtlich wie tatsächlich innehat.144 „Göttliches Recht“ ist danach für den modernen Verfassungsstaat eine Kategorie, die in seine Sprache als wohlgemerkt rechtliche Kategorie nicht übersetzbar ist. Sie wirkt im Grunde nur grundrechtlich mediatisiert fort, indem der Staat des Grundgesetzes sich in wohlgemerkt eigener Machtvollkommenheit entschieden hat, seinen Bürgerinnen und Bürgern die Orientierung an religiösen Imperativen (und damit eben auch an solchen Sätzen, die sie nicht lediglich als nicht näher qualifiziertes Gebot, sondern als spezifisch göttliches Recht empfinden) zu ermöglichen, um sie nicht in Gewissensnot zu bringen.145 „Göttliches Recht“ ist danach für den demokratischen Verfassungsstaat dann eine relevante Größe, wenn entweder der oder die einzelne unter Berufung auf Art.  4 Abs.  1 u. 2 GG plausibel machen kann, daß für sie oder ihn ein verpflichtendes Gebot oder Verbot existiert (wobei die Qualifikation als genuin rechtlich im Grunde keinen Unterschied macht bzw. regelmäßig nur die Plausibilisierung erleichtern wird, wenn derartige Sätze des religiösen Rechts dokumentiert oder kodifiziert sind bzw. sich unmittelbar aus heiligen Schriften ergeben). Alternativ kann eine Religionsgesellschaft oder -gemeinschaft unter Berufung auf Art.  137 Abs.  1 S.  1 WRV i.V.m. Art.  140 GG wiederum plausibel behaupten, daß ihre Binnenorganisation sich an Sätzen orientiert und orientieren muß, die nach dem Selbstverständnis der Angehörigen solche des göttlichen Rechts sind (also etwa für die Katholische Kirche der Primat des Petrus wie seiner Nachfolger)146; der Staat würde eine solche Gemeinschaft andernfalls zum Selbstwiderspruch zwingen. Für die individuelle wie die kollektive Orientierung an Sätzen des göttlichen Rechts gilt aber, daß sie unter Vorbehalt steht, was erneut die Kompetenz-Kompetenz des weltlichen Rechts unterstreicht: Die individuelle Religionsfreiheit unterliegt einem verfassungsimmanenten Schrankenvorbehalt,147 die (potentiell gefährlichere) kollektive demjenigen der für 140   Jüngere monographische Darstellungen: G. Flor, Gottesgnadentum und Herrschergnade. Über menschliche Herrschaft und göttliche Vollmacht, 1991 sowie V. Mantey, Zwei Schwerter – zwei Reiche: Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, 2005. 141   Siehe nur (m.w.N.) H. Dreier, in: ders, GGK II (Fn.  135), Art.  20 (Demokratie), Rn.  82 ff. 142  Näher F. Wittreck, Jesus Christus oder Immanuel Kant – Auf wessen Schultern ruht das Grundgesetz?, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Verfassung mit Zukunft!?, 2010, S.  9 (14 ff., 26 ff.). 143   In Anlehnung an die Schrift von H. v. Schubert, Der Kampf des geistlichen und weltlichen Rechts, 1927. 144  Gleichsinnig Korioth, Generalbericht (Fn.  2), S.  150. 145  Für dieses Kernanliegen der Religionsfreiheit Walter, Religionsverfassungsrecht (Fn.   107), S.  502 ff. 146   Statt aller m.w.N. H. Schwendenwein, Der Papst, in: Haering/Rees/Schmitz, Handbuch (Fn.  22), §  28 (S.  4 47 ff.). 147   Häufig ist hier ungenau von „verfassungsimmanenten Schranken“ die Rede (statt aller H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, Grundgesetz, 14.  Aufl. 2016, Vorb. vor Art.  1 Rn.  48). Schranke der Religionsfreiheit ist jedoch eingedenk der Kompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers zur Herstellung

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Fabian Wittreck

alle geltenden Gesetze (Art.  137 Abs.  1 S.  1 WRV).148 Im übrigen gilt für die Berufung auf „göttliches Recht“ das, was Ernst-Wolfgang Böckenförde für das – ohnehin nah verwandte – Naturrecht angemahnt hat: Wer sich im modernen demokratischen Verfassungsstaat auf von Natur aus oder eben kraft Gottes unerfindlichen Ratschlusses geltendes Recht beruft, entzieht sich dem Zwang zum demokratischen Kompromiß.149

c) Kohärenz Zuletzt sei der Hinweis erlaubt, daß der bundesdeutsche Verfassungsstaat (wie die bundesdeutsche Rechtswissenschaft) derzeit mit den oben skizzierten Typen der religiösen Gerichtsbarkeit ganz unterschiedlich umgeht bzw. sie in weitgehend getrennten Diskursen verhandelt (dieser Befund läßt sich im übrigen auf weitere Arten der nichtstaatlichen Gerichtsbarkeit erweitern).150 So wird der klassische Streit um den „Rechtsschutz in Kirchensachen“ (oben I.) von anderen Akteuren, in anderen Foren sowie nach anderen Parametern verhandelt als etwa die (vermeintlich islamische) „Paralleljustiz“, die Handels- oder die Sportschiedsgerichtsbarkeit. Dem steht als schlichte Forderung der praktischen Vernunft der Anspruch gegenüber, daß der rational handelnde und regelnde demokratische Verfassungsstaat vergleichbare Sachverhalte nach vergleichbaren Kriterien beurteilt – man mag statt Kohärenz auch von „Folgerichtigkeit“151 sprechen oder den Gleichheitssatz bemühen, wobei es auch hier die Fallhöhe des Problems verfehlen dürfte, streng formal zu prüfen, ob der „Friedensrichter“ im Sinne von Art.  3 Abs.  1 GG im Vergleich zum kirchlichen Diözesanrichter ungleich behandelt wird bzw. ob eine angenommene Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden könnte.

der praktischen Konkordanz zwischen kollidierenden Werten von Verfassungsrang regelmäßig ein einfaches Gesetz (im Falle des Schächtens etwa §  4a Abs.  2 Nr.  2 TierSchG), nicht das kollidierende Grundrecht oder der sonstige Rechtswert von Verfassungsrang (hier Art.  20a GG in seiner Ausprägung als individueller Tierschutz). 148   Statt aller M. Morlok, in: Dreier, GGK III (Fn.  88), Art.  140/Art.  137 WRV Rn.  57 ff. 149  Vgl. E.-W. Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche (1957), in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, 2004, S.  9 (18 ff.) und dazu jetzt F. Wittreck, Naturrecht und die Begründung der Menschenrechte, in: M. Wasmaier-Sailer/M. Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte, 2017, S.  43 (50 ff.). 150   Näher dazu Wittreck, Rahmenbedingungen (Fn.  89), S.  31 ff. 151   Aus der Rechtsprechung BFH 257, 12 (Rn.  25: Anerkennung von Turnierbridge i.S.v. §  52 Abs.  2 S.  2 AO) sowie BVerfG DStR 2017, 1094 (Rn.  104); aus der Literatur nur L. Karrenbrock, Die steuerliche Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste im Inland. Eine Untersuchung unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt der Folgerichtigkeit, 2013 sowie J.D. Brückner, Folgerichtige Gesetzgebung im Steuerrecht und öffentlichen Wirtschaftsrecht. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Forderungen nach Folgerichtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2014.

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IV.  Schluß: Spielräume religiöser Gerichtsbarkeit Der freiheitliche Verfassungsstaat des Grundgesetzes räumt nach alledem der geistlichen oder religiösen Streitschlichtung einigen Spielraum ein; er ist im Interesse der individuellen wie kollektiven Freiheit der seiner Gewalt Unterworfenen auch gut beraten, dies zu tun. Sofern religiöse Streitschlichtunginstanzen die ihnen staatlicherseits gezogenen Grenzen wahren, ist ferner die Kooperation von weltlicher wie geistlicher Gerichtsbarkeit opportun. Dies gilt allerdings nur, wenn allen Akteuren als handlungsleitend vor Augen steht, daß diese Grenzen vom Staat einseitig gesetzt und letztverbindlich kontrolliert werden. Anders gewendet: Der biblische Satz „Richtet nicht, damit Ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt. 7, 1 bzw. Lk. 6, 37) frommt der Bergpredigt, eignet sich aber nicht als Klugheitsregel für die weltliche in Ansehung der geistlichen Gerichtsbarkeit.

Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten von

Dr. Katharina Reiling (Universität Konstanz), Dr. Maria Daniela Poli (FU Berlin), Dr. Gustavo Manuel Díaz González (Universität Konstanz), Dr. Nada Pauer (Universität Konstanz)* Inhalt A. Erfahrungen aus vier dezentralisierten Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Das Umsetzungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Die Föderalismusreform I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Ein kritischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Die umgekehrte Nachgiebigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Der Regressanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Die Kontroverse über die Ergänzungsklausel des Art.  149 Abs.  3 in fine . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Der Regressanspruch gegen die Autonomen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 IV. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Die innerstaatliche Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Umsetzungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Mitwirkung der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4. Möglichkeiten zur rechtzeitigen Umsetzung auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Abschluss einer „Art.  15a B-VG-Vereinbarung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Gebrauch der „Bedarfskompetenz“ gem. Art.  11 Abs.  2 B-VG . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Kompetenzverschiebungen per Verfassungsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

*   Für wertvolle Hinweise und Anregungen danken die Verfasser Prof. Dr. Hans Christian Röhl. Der Beitrag wurde von den Autoren gemeinsam konzipiert und diskutiert; er baut auf den Länderberichten des ersten Teils auf, die von jedem Autor jeweils für sein Heimatland verfasst wurden.

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B. Die Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Hochzonung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Flexibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Ersatzvornahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Nationale Eigenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Grenzen der Ersatzvornahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Weiche Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 IV. Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 C. Unionsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 I. Primärrechtliche Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Sperrwirkung des Art.  260 Abs.  3 AEUV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Verfassungsidentität als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 II. Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 III. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Die Europäische Union (EU) betrachtet ihre Mitgliedstaaten in Teilbereichen noch immer durch eine völkerrechtliche Brille. Insbesondere spielt der innere Staatsauf bau der Mitgliedstaaten im Unionsrecht eine untergeordnete Rolle.1 Zwar ist die Bedeutung der staatlichen Untergliederungen seit dem Vertrag von Lissabon primärrechtlich explizit anerkannt (Art.  4 Abs.  2 EUV) und wird etwa durch den Ausschuss der Regionen auch gefördert.2 Ein Durchgriff der EU auf die staatlichen Untergliederungen ist aber nicht vorgesehen. Vielmehr bleibt der Mitgliedstaat Adressat und Ansprechpartner: Er trägt allein die Verantwortung für die innerstaatliche Verwirklichung des Europarechts und kann sich in der Folge der EU gegenüber nicht mit der nationalen Kompetenzverteilung entlasten.3 Diese Vorstellung von einer „LandesBlind­heit“, die Ipsen bereits 1966 zu den Gemeinschaften beklagte,4 erscheint allerdings passé und sollte überdacht werden, denn eine Indifferenz der EU gegenüber den staatlichen Untergliederungen wird der Tatsache nicht gerecht, dass nicht nur viele Mitgliedstaaten dezentralisiert sind, sondern dass darüber hinaus eine solche dezentrale Struktur die Effektivität des Europarechts erheblich hemmen kann. Diese Implementationsherausforderung betrifft besonders die Umsetzung von Richt­l inien.5  Jüngst Isensee, in: Hilpold/Steinmair/Perathoner (Hrsg.), Europa der Regionen, 2016, S.  7, 18.   Über die Rolle der Regionen in Europa siehe den Sammelband von Hilpold/Steinmair/Perathoner (Fn.  1). 3   Dies verdeutlicht die ständige Rechtsprechung des EuGH, wonach sich ein Mitgliedstaat „nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen“, siehe insbesondere die Urteile Rs. C-33/90, Slg. 1991, I-5987, Rn.  24; Rs. C-297/95, Slg. 1996, I-6739, Rn.  9 und Rs. 388/01, Slg. 2003, I-721, Rn.  28. 4   In: FS Hallstein, 1966, S.  248, 256. 5  Siehe die politikwissenschaftliche Implementationsforschung, die verschiedene Faktoren für Non-Compliance der Mitgliedstaaten herausgearbeitet hat, wobei allgemein zwischen fehlender Fähigkeit und fehlendem Willen zur Umsetzung differenziert wird, m.w.N. Zhelyazkowova, Journal of European Public Policy 20 (2013), S.  702, 704; speziell zur Rolle der Dezentralisation siehe Borghetto/Fran1 2

Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten

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Der Hintergrund dafür ist, dass sich Koordinationsfragen stellen, sobald mehrere Stellen innerhalb eines Mitgliedstaates für die staatliche Rechtssetzung zuständig sind, und dass diese Koordinationsfragen den Umsetzungsprozess verzögern oder sogar blockieren können. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung umweltrechtlicher Richtlinien in Deutschland,6 die 2006 mit der Föderalismusreform I einer Lösung v.a. durch die Option der „föderalen Entflechtung“ zugeführt werden sollten,7 bilden ein Beispiel dafür. Die EU ist dem Problem der Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten bislang allerdings nicht mit spezifischen Mitteln des Unionsrechts begegnet. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat zwar Instrumente zur Umsetzung von Unionsrecht entwickelt, etwa die unmittelbare Wirkung von Richtlinien und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch.8 Diese Instrumente betreffen jedoch zum einen allgemein Umsetzungsschwierigkeiten, zum anderen greifen sie erst im Nachgang zu Umsetzungsdefiziten, anstatt diese von vornherein zu verhindern. Wenn das Umsetzungsproblem in dezentralisierten Mitgliedstaaten aber ein strukturelles ist, erscheint es unbefriedigend, die Mitgliedstaaten als impermeable Einheiten zu betrachten. Vor diesem Hintergrund möchte der Beitrag ausloten, welche Möglichkeiten die EU hat, um auf eine effektive Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten9 hinzuwirken.10 Methodischer Ausgangspunkt für dieses Vorhaben ist der Rechtsvergleich. Es wird untersucht, welche Instrumente Deutschland, Österreich, Italien und Spanien in ihren Rechtsordnungen entwickelt haben, um die Schwierigkeiten, die diese bei der Umsetzung europäischer Richtlinien haben, beheben oder zumindest lindern zu können. Diese vier Mitgliedstaaten wurden nicht ohne Bedacht ausgewählt: Zum einen macht ihre gemeinsame Einwohnerzahl ca. 38 % der Bevölkerung der EU aus,11 sie genießen aus diesem Grund eine große Repräsentativität im europäischen Parlament12 und spielen auch über ihre Verfassungsgerichtsbarkeit eine wichtige Rolle im Integrationsprozess,13 was sie insgesamt zu besonders chino, Journal of European Public Policy 17 (2010), S.  759 ff. und der Überblick bei Thomson, Journal of European Policy 16 (2009), S.  1, 9 f. 6   Rehbinder/Wahl, NVwZ 2002, S.  21 ff. 7  Kritisch Epiney, NuR 2006, S.  4 03 ff. 8   Zu ihrem Umsetzungspotential gegenüber den deutschen Bundesländern, von Danwitz, NWVBl. 1997, S.  7 ff. 9  Der Beitrag zieht diesen Begriff dem engeren Begriff des Föderalismus vor, da in der EU nur Deutschland, Österreich und Belgien echte föderale Strukturen aufweisen, siehe die Übersicht über die Staatsorganisationen der Mitgliedstaaten bei Grasse, Modernisierungsfaktor Region, 2005, S.  4 40. 10   Allein analytisch-systematisierend die Dissertation von Ehrbeck, Umsetzung von Unionsrecht in föderalen Staaten, 2010, der die „Kompetenzsysteme“ und „Garantiemechanismen“ in Spanien, Deutschland und Österreich untersucht. 11   Die EU-Bevölkerung umfasst ca. 508.450.856 Personen, von denen 81,2 Millionen zu Deutschland, 60,8 Millionen zu Italien, 46,45 Millionen zu Spanien und 8,58 Millionen zu Österreich gehören, vgl. https://europa.eu/european-union/about-eu/figures/living_de. 12   Von den 751 Mitgliedern gehören 96 zu Deutschland, 73 zu Italien, 54 zu Spanien und 18 zu Österreich, vgl. http://www.europarl.europa.eu. Sie sind insgesamt 241 und somit 32 % der Mitglieder. 13   Allgemein zum mittelbaren und unmittelbaren Dialog der Verfassungsgerichte mit dem EuGH Poli, Der Staat 2016, S.  373 ff. Zu denken ist etwa in Bezug auf Italien an den Dialog zwischen dem EuGH und dem Corte costituzionale über den Vorrang des Unionsrechts (von Costa/Enel bis Granital), an die Theorie der controlimiti und an den aktuellen Fall Taricco (Corte cost. 24/2017 und EuGH, Rs. C-42/2017). Zum sog. Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH siehe Kirchhof, JZ 1989,

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bedeutsamen Mitgliedstaaten macht. Zum anderen bieten sich diese vier Länder als Untersuchungsgegenstand gut an, da sie verschiedene Stufen der Dezentralisierung besitzen:14 Deutschland und Österreich sind – neben Belgien – die Bundestaaten in der Union, die allerdings ein unterschiedliches föderales Verständnis besitzen,15 während Italien und Spanien Regionalstaaten darstellen, deren Untergliederungen eine unterschiedliche gesetzgebende Gewalt genießen16 und daher ebenfalls dezentralisiert sind. Gemeinsam ist allen vier Ländern, dass der jeweilige Mitgliedstaat keine allgemeine Umsetzungskompetenz besitzt, so dass sich im Laufe der Zeit diverse Instrumente herausgebildet haben, um zu verhindern, dass die internen Koordinierungsprobleme zu Sanktionen auf Unionsebene führen. Mit dem hier verfolgten Ziel, Einwirkungsmöglichkeiten der EU in dezentralisierten Mitgliedstaaten zu diskutieren, wird der Rechtsvergleich als ein Instrument der übernationalen Rechtsangleichung herangezogen. Allerdings weicht der Beitrag von der gängigen Rechtsvergleichung im Europarecht17 ab: Gewöhnlich ist die Rechtsvergleichung entweder – im Sinne eines Förderns des Systemwettbewerbs18 – an die Mitgliedstaaten adressiert oder soll – im Sinne einer Informationsfunktion19 – konkrete Rechtssetzungsvorhaben der Union vorbereiten oder aber sie erfolgt – man denke an die Entwicklung von gemeinsamen Rechtsgrundsätzen 20 – durch die Rechtsprechung. Im Beitrag geht es demgegenüber darum, die mitgliedstaatliche Rechtslage wissenschaftlich zu analysieren, um im Sinne eines Lernens auf Unionsebene auf Seiten der EU eine Sensibilität dafür zu schaffen, wie mit den Umsetzungshürden dezentralisierter Mitgliedstaaten umgegangen werden kann. S.  453, 454; BVerfGE 89, 155, 175, 178 – Maastricht [1993]. Von großer Bedeutung im Dialog der Gerichte ist auch Spanien, etwa aufgrund der sogenannten Melloni-Saga zwischen dem spanischen Verfassungsgericht und dem EuGH über die Frage des Schutzniveaus der Grundrechte im europäischen Mehrebenensystem und das Problem der Grenzen bei höheren nationalen Standards (EuGH, Rs. C-399/11, Slg. 2013, und Tribunal Constitucional 26/2014). Die Rolle des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zeichnet sich dadurch aus, dass er – im Unterschied zur ehemaligen Lage in Deutschland und Italien – nicht zurückhaltend ist, Vorlagen beim EuGH einzureichen, Poli, NordÖR 2013, S.  284 ff., und der österreichische Verfassungsgerichtshof hat sich jüngst sogar bereit erklärt, die Garantien der europäischen Grundrechtscharta als Prüfungsmaßstab im Verfahren der generellen Normenkontrolle anzuwenden, dazu Reiling, in: Broemel/Krell/Muthorst/Prütting (Hrsg.), Prozessrecht in nationaler, europäischer und globaler Perspektive, 2017, S.  11 ff. 14   Bundesstaat und Einheitsstaat sind nur Grobraster bzw. Typen, siehe Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3.  Aufl., 2004, §  29 Rn.  9; Maurer, Staatsrecht I, 6.  Aufl., 2010, §  10 Rn.  9. 15   Ossenbühl und Schambeck, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S.  7 ff., 117 ff. 16   Die italienischen Regionen und die spanischen Autonomen Gemeinschaften genießen eine gesetzgebende, aber keine verfassungsgebende Gewalt und sind deswegen mit den Ländern der Bundesstaaten nicht vergleichbar; die spanischen Autonomiestatuten werden aber häufig als „materielle Verfassungen“ der dementsprechenden Autonome Gemeinschaften, da sie „die grundlegende institutionelle Norm der jeweiligen Autonomen Gemeinschaft“ (Art.  147 Abs.  1 der Spanischen Verfassung) sind, beschrieben; siehe i.d.S. Muñoz Machado, Tratado de Derecho Administrativo y Derecho Público General, Bd.  V I, 4.  Aufl. 2015, S.  172 f. 17  Allgemein von Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 2015, S.  217 ff. 18   von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S.  127. 19   Zu dieser Schneider, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht in Europa, Bd.  1, 2007, S.  25, 29. 20   Zur Rolle des EuGH Basedow, JZ 2016, S.  269 ff.

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Das Anliegen, Optionen der EU zur Förderung der Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten aufzuzeigen, verwirklicht der Beitrag in drei, aufeinander auf bauenden Schritten: Zunächst werden für jeden der vier Mitgliedstaaten das landestypische Problem bei der Umsetzung von Richtlinien und die entsprechenden Abhilfeangebote beschrieben (A.). Die Reihenfolge, in der diese Ländererfahrungen dargestellt sind, orientiert sich an der Dauer der Mitgliedschaft der einzelnen Staaten. Begonnen wird daher mit Deutschland und Italien als zwei Gründungsstaaten der EU. Spanien, erst seit 1986 ein Mitgliedstaat der EU, wurde Teil der Europäischen Gemeinschaft als sich diese in den achtziger Jahren die Entwicklung einer Regionalpolitik zum Ziel gesetzt hatte, während Österreich 1995 in die EU aufgenommen wurde, als die Subsidiarität als europäischer Grundsatz bereits anerkannt war. Auf der Basis dieser landesspezifischen Erfahrungen werden dann die typischen Instrumente und ihre Vor- und Nachteile vorgestellt (B.). Abschließend wird danach gefragt, ob die Union die Einführung solcher Instrumente dezentralisierten Mitgliedstaaten vorschreiben könnte (C.).

A.  Erfahrungen aus vier dezentralisierten Mitgliedstaaten I. Deutschland Die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes (GG), nach der die Länder die Regelkompetenz zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben und Befugnisse (Art.  30, Art.  70 ff., Art.  83 ff.) haben, gilt auch für die Durchführung von Europarecht. Die gegenteilige Auffassung, der Bund sei kraft seiner „Integrationsgewalt“ auch innerstaatlich für den Vollzug europarechtlicher Pflichten zuständig,21 konnte sich weder in der Praxis22 noch in der Wissenschaft23 durchsetzen, da sich das GG nicht ausdrücklich zur Umsetzungszuständigkeit verhält und eine generelle Kompetenz des Bundes nicht als unerlässlich betrachtet wurde, um den Außenpflichten der Bundesrepublik intern zur Geltung zu verhelfen.24 Die – v.a. ab den neunziger Jahren im Umweltrecht – viru­ lent werdenden Umsetzungsdefizite Deutschlands (1.) stießen eine vertiefte Auseinandersetzung damit an, wie die Anforderungen an eine vollständige und zügige Richtlinienumsetzung und die grundsätzliche Beteiligung der Bundesländer an der Gesetzgebung in Einklang gebracht werden können (2.).

21   Insb. als Annexkompetenz zu Art.  23 GG bzw. Art.  32 I GG, dazu Birke, Die deutschen Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften, 1973, S.  121 ff.; Dreher, Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Rahmen der auswärtigen Gewalt nach dem Bonner Grundgesetz, 1970, S.  97 f.; die Kompetenz unmittelbar aus dem Europarecht ableitend Riegel, NuR 1981, S.  9 0, 93. 22   Davon geht u.a. Art.  10 Abs.  3 des Einigungsvertrages, BGBl. II S.  855, aus: „Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften, deren Umsetzung oder Ausführung in die Zuständigkeit der Länder fällt, sind von diesen durch landesrechtliche Vorschriften umzusetzen oder auszuführen“. 23  M.w.N. Baier, Bundesstaat und europäische Integration, 2006, S.  61 ff. 24   Grabitz, AöR 111 (1986), S.  1, 28 ff.; Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S.  318.

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1.  Das Umsetzungsproblem Ein Grund für die Umsetzungsschwierigkeiten der Bundesrepublik 25 liegt darin, dass das GG die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes abschließend aufführt, was – da die Zuständigkeitsordnung auf deutscher und europäischer Ebene nicht kongruent ist – zu Abgrenzungsproblemen grundsätzlicher Art führt, welcher Kompetenztitel inhaltlich im Einzelfall einschlägig ist. Die besondere Zulässigkeitsvoraussetzung der Erforderlichkeit, die die Verfassung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und der ehemaligen Rahmengesetzgebung an Bundesgesetze zum Schutz der Länder aufstellt, erhöhen diese Abgrenzungsschwierigkeiten. Zudem werden in Bereichen, in denen der Bund nur Teilbereiche des europäischen Rechtsaktes umsetzen kann, wie das v.a. bei der ehemaligen Rahmenkompetenz der Fall war,26 zeitlich parallele und damit langwierige Gesetzgebungsverfahren auf Bundes- und Länderebene erforderlich.27 Neben diesem verfassungsstrukturellen Problem wird die Europaskepsis der deutschen Bundesländer als eine Hürde bei der Richtlinienumsetzung genannt.28 Lange Zeit war es dem Bund allerdings möglich, Richtlinien durch die Kombination von Kompetenztiteln und die extensive Nutzung seiner Rahmenkompetenz weitestgehend allein umzusetzen; nach der Verfassungsänderung von 1994 und der darauf folgenden restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG),29 welche die Länderkompetenzen stärkten, war eine solche extensive Nutzung der Rahmenkompetenz aber nicht mehr möglich.30 Gerade im Umweltrecht spitzten sich die Umsetzungsprobleme zu.31 In diesem Sektor setzt das Europarecht auf einen medienübergreifend-integrierenden Ansatz, während die deutsche Kompetenzordnung auf einzelne Umweltmedien fokussiert.32 Diese unterschiedlichen Konzepte verschärften die Abgrenzungs- und Koordinationsschwierigkeiten bei der Gesetzgebung. Zudem setzt das europäische Umweltrecht zunehmend auf prozedurale Regeln; Bundesgesetze, die Verfahren und Organisation des Landesvollzugs regeln, bedurften aber früher stets der Zustimmung des Bundesrates, was die Gefahr von Blockaden und Verzögerungen bei der Umsetzung erhöhte.33

2.  Die Föderalismusreform I Die v.a. in der älteren Literatur diskutierten Verbesserungsmöglichkeiten zur Richtlinienumsetzung setzten an den bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Instru  Das Problem und seine Ursachen nachzeichnend Baier (Fn.  23), S.  137 ff.   Bei ihr waren stets zwei Gesetzgebungsakte (für den „Rahmen“ und die „Ausfüllung“) notwendig; die Länder konnten mit der Ausfüllung erst beginnen, wenn der Rahmen des Bundes stand. 27   Baier (Fn.  23), S.  161 ff. 28   Baier (Fn.  23), S.  169 ff. 29   BVerfGE 106, 62, 135 ff. – Altenpflegegesetz [2002]; BVerfGE 111, 226, 253 ff., 266 f. – Juniorprofessur [2004]. 30   Zum Ganzen Rehbinder/Wahl (Fn.  6), S.  22 f. 31   Groß, NWVBl. 2002, S.  289 ff. 32   Steinbeiß-Winkelmann, in: Henneke (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutschland, 2005, S.  125, 126. 33   Zum Problem des unionsrechtlich determinierten Umweltverfahrensrecht Kahl, NVwZ 2008, S.  710, 715 ff.; Becker, ZUR 2010, S.  528, 531 f. 25

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menten an. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist, eine Umsetzungspflicht der Länder – in der Regel aus dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens – zu konstruieren,34 die der Bund dann mittels Bundeszwangs, des Bund-Länder-Streits vor dem BVerfG bzw. über einen Haftungsanspruch von säumigen Ländern einfordern könne. Solche Zwangs- und Druckmittel kamen bislang allerdings nicht zum Einsatz. Dies wird auf die deutsche Verfassungskultur zurückgeführt, die ein gerichtliches Streitverfahren einer unmittelbaren Vollstreckung durch den Bund nach Art.  37 GG, gerade bei einfachen Pflichtverletzungen wie der unzulänglichen Richtlinienumsetzung, vorziehe35 bzw. auf die lange Verfahrensdauer von Bundeszwang und Verfassungsprozess sowie die fehlenden Vollstreckungsmöglichkeiten des Verfahrens nach Art.  93 Abs.  1 Nr.  3 GG,36 was die grundsätzlich als geeignet eingestufte Haftung der Ländern angeht, so war die Anspruchsgrundlage umstritten, da Wortlaut und Systematik der in Betracht kommenden Verfassungsnorm des Art.  104a Abs.  5 S.  1 GG gegen eine Haftung für legislatives Unrecht sprechen.37 Wurde dem deutschen Föderalismus daher eine „Introvertiertheit“ vorgehalten,38 konzentrierten sich Überlegungen zur Verbesserung der deutschen Umsetzungstätigkeiten auf eine Änderung der verfassungsrechtlichen Kompetenz- und Haftungsordnung. Mit der Föderalismusreform I, die Vorarbeiten aus der Rechtswissenschaft aufgriff,39 wurden diese 2006 in die Tat umgesetzt: Danach wird die als Ursache des Übels ausgemachte Rahmenkompetenz aufgegeben und die entsprechenden Umweltmaterien in die konkurrierende Kompetenz des Bundes nach Art.  74 GG überführt. Die Erforderlichkeitsklausel nach Art.   72 Abs.   2 GG wird stark zurück­ gedrängt. Im Gegenzug erhalten die Länder zwar ein Recht zu abweichenden ­Regelungen (Art.72 Abs.  3 GG). Allerdings sind weite Teile des Umweltrechts abweichungsfest. Zudem entfällt bei Gesetzen zu Verwaltungsverfahren und -organisation grundsätzlich das Zustimmungsbedürfnis des Bundesrates, die Länder haben auch hier ein Abweichungsrecht (Art.  84 Abs.  1 S.  2 GG), das mittels eines Zustimmungsgesetzes in „Ausnahmefällen“ und „wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung“ ausgeschlossen werden kann (Art.  84 Abs.  1 S.  5 und 6 GG). Die Föderalismusreform I normiert eine explizite Regressmöglichkeit für den Bund, wenn die europäischen Zahlungspflichten einem Länderfehlverhalten zuzurechnen sind. Die Anspruchsgrundlage des Art.  104a Abs.  6 S.  1 GG beruht auf dem Verursacherprinzip;40 auf ein Verschulden kommt es folglich nicht an. Beruht  Zu den Begründungen siehe Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S.  57; Grabitz (Fn.  24), S.  1, 30; von Danwitz (Fn.  8), S.  19. 35   Zu den Anwendungsproblemen der Norm und ihren Ursachen Pauly/Pagel, DÖV 2006, S.  1028, 1029. 36   Roth, AöR 124 (1999), S.  470, 495. 37   Zur Diskussion Mitsch, Bund-Länder-Regress nach Verhängung von EU-Zwangsgeldern, 2008, S.  130 ff.; Knief, Der Regreß im Bundesstaat, 2009, S.  74 ff. 38  So Huber, in: Henneke (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutschland, 2005, S.  87, 93. 39   Insb. in der öffentlich-rechtlichen Abteilung des 65. DJT, siehe das Gutachten von Huber sowie Sitzungsbericht P, in: Verhandlungen des 65. DJT, I und II/1, 2004; ferner Rehbinder/Wahl (Fn.  6), S.  21 ff. 40   BT-Drs. 16/813, S.  19. Art.  104a VI 2 GG enthält eine Abweichung vom Verursacherprinzip, sofern eine länderübergreifende Finanzkorrektur vorliegt, zur Entstehungsgeschichte siehe Kröning und Riebel, in: Holtschneider/Schöm (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, S.  335 ff., 353 ff. 34

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die Zahlungspflicht demnach auf dem Fehlverhalten vom Bund und einem oder mehreren Ländern, bemisst sich die Haftung nach dem Verursachungsbeitrag.41

3. Kritik Die Föderalismusreform I stärkt somit die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, ohne diesem eine umfassende Umsetzungskompetenz zuzubilligen. Die Umsetzungstauglichkeit dieser Zuständigkeitslösung wird hinterfragt: Zum einen befürchtet man, die neu eingeführte Abweichungskompetenz führe zu einem undurchsichtigen Nebeneinander von Bundes- und Landesgesetzen, was nicht nur die Umsetzung von Richtlinien, sondern auch die Umsetzungskontrolle der Kommission erschwere.42 Die damit induzierte Rechtszersplitterung widerspreche aber europarechtlichen Erfordernissen, da nach der Rechtsprechung des EuGH eine Umsetzung „den Erfordernissen der Eindeutigkeit und Bestimmtheit des Rechtszustandes voll gerecht“ werden müsse.43 Zum anderen sei zu bemängeln, dass weiterhin solche Bundesgesetze zum Ländervollzug zustimmungsbedürftig seien, welche die Abweichungsmöglichkeit der Länder ausschließen, weil dies die erstrebten Vereinfachungseffekte bei der innerstaatlichen Richtlinienumsetzung verringere.44 Auch wird bezweifelt, ob die weiteren Voraussetzungen für einen Ausschluss des Abweichungsrechts der Länder so einfach zu bejahen sind,45 wie es die Gesetzesbegründung für das Umweltverfahrensrecht annimmt.46 Kritiker verlangen daher eine erneute Reform der Kompetenzordnung: entweder innerstaatlich über die Einräumung einer konkurrierenden Bundeskompetenz für die Richtlinienumsetzung ohne Erforderlichkeitsklausel47 oder auf Unionsebene über einen „klaren und abschließenden Kompetenzkatalog“ der Union.48

II. Italien Während sich das Thema der Richtlinienumsetzung in Deutschland auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern konzentriert,49 wird es in Italien auf einer vorgeordneten Ebene aufgegriffen, nämlich bei der Frage nach der grundsätzlichen Beteiligung der Regionen im Rahmen der europäischen Rechtsetzung.50 Die  Vgl. §  1 Abs.  2 Lastentragungsgesetz (BGBl. I S.  2098, 2105).   Epiney (Fn.  7 ), S.  4 09; Häde, JZ 2006, S.  930, 936 f. 43   Ebenda unter Berufung auf EuGH, Rs. 102/79, Slg. 1980, 1473 (Rn.  11). 44   Breuer, in: FS Starck, 2007, S.  165, 181 f. 45  Dazu Kahl (Fn.  33), S.  710, 715; Becker, ZUR 2010, S.  528, 531 f. 46   BT-Drs. 16/813, 15. 47   Für das Umweltrecht Epiney (Fn.  7 ), S.  4 03, 410. 48   Breuer (Fn.  4 4), S.  183. 49   Schefold, in: D’Atena (Hrsg.), L’Europa delle autonomie, 2003, S.  95, 95 f. 50   Über die Teilnahme der Regionen an der Bearbeitung und Umsetzung von Rechtsakten der EU am Beispiel Italiens in deutscher Sprache: Perathoner, in: Hilpold/Steinmair/Perathoner (Fn.  1) S.  39, 68 ff. Die italienische Literatur ist sehr breit, siehe Bilancia, Le Istituzioni del Federalismo 2002, S.  49 ff.; Iurato, Le Regioni italiane e il processo decisionale europeo. Un’analisi neo-istituzionalista della parte41

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ser tiefgreifende Unterschied liegt nicht nur in der bundesstaatlichen Natur des deutschen Staates, sondern auch in dessen Geschichte begründet: Die Außenpolitik gehörte traditionell zum Aufgabenbereich der Länder.51 Es ist somit kein Zufall, dass der Ausdruck der „Landesblindheit“ der Union deutsch geprägt ist und dass die Einführung des Subsidiaritätsprinzips im Maastricht-Vertrag hauptsächlich ein Produkt der Anforderungen der deutschen Bundesländer war.52 In Italien hat hingegen hat das Außenvertretungsmonopol und die Konzeption des Zentralstaates als dem einzigen Völkerrechtssubjekt, die auch durch die Verfassungsrechtsprechung gestützt wurde,53 zunächst zu einer Staatszentralisierung im europäischen Integrationsprozess geführt.54 Aus diesem Grund spielten die Regionen – auch bedingt durch die verspätete Errichtung der Regionen mit Normalstatut im Jahr 1970 und ihrer bis 2001 begrenzten Gesetzgebungskompetenz – zunächst bei der Umsetzung des europäischen Gemeinschaftsrechts keine Rolle. Im Gegenteil: Dem Staat kam ein exklusiver Vorbehalt für die Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft zu. Die Zuständigkeit der Regionen zur Umsetzung des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts ergab sich daher erst schrittweise ab Ende der siebziger Jahre. Obwohl die Regionen im Laufe der Zeit eine größere Beteiligung erfuhren,55 fehlte in der italienischen Verfassung bis zur Änderung dessen Titels V im Jahr 2001 jede Berücksichtigung der Regionen im europäischen Integrationsprozess. In dieser Zeit behielt der Zentralstaat somit seine Vorrangposition. Die Verfassungsreform des Titels V stellt den Gipfel des Prozesses der regionalen Beteiligung in der EU dar. Einerseits wurde explizit die Teilnahme der Regionen am europäischen Rechtsetzungsprozess anerkannt. Anderseits wurde durch die Reform die legislative Rolle der Regionen insofern gestärkt, als die Gesetzgebungskompetenzverteilung zwischen dem Staat und den Regionen umgekehrt wurde, so dass sie als eine kopernikanische Reform bezeichnet wird.56 Diese stärkte folglich auch ihre Rolle bei der Richtlinienum­ setzung.

cipazione, 2005; Furlan, Riv. it. dir. pubbl. comun. 2005, S.  125 ff.; Caretti, in: Baroncelli (Hrsg.), Il ruolo del Governo nella formazione e applicazione del diritto dell’Unione europea. Le peculiarità del sistema multilivello, 2008, S.  249 ff.; Bertolino, Le Regioni 2009, 1249 ff.; Odone/Di Federico (Hrsg.), Il recepimento delle direttive dell’Unione europea nella prospettiva delle regioni italiane. Modelli e soluzioni, 2010; Bartoli/Paoletti, La progressiva affermazione del ruolo delle Regioni nella formazione e nel recepimento del diritto europeo, 2012. 51   Die Länder vor 1861/71 (d.h. vor dem Norddeutschen Bund und dem Deutschen Kaiserreich) sowie auch vor 1949 (als die Bundesrepublik Deutschland gegründet war) hatten eine vollständige Souveränität, einschließlich die Außenpolitik. Vgl. Schefolf (Fn.  49), S.  95. 52   Götz, in: Scarciglia (Hrsg.), Unione europea e autonomie regionali, 2003, S.  53, 55. 53   Zum Beispiel im Urteil Nr.  46/1961. 54   Anzon, in: D’Atena (Fn.  49), S.  129, 130 f. 55   Über dieses Thema in einer vergleichenden Perspektive in deutscher Sprache: Palermo, Die Außenbeziehungen der italienischen Regionen in rechtsvergleichender Sicht, 1999. 56   Vor der Verfassungsreform listete Artikel 117 der Verfassung diejenigen Sachgebiete, in denen die Regionen ihre Gesetzgebung im Rahmen der von Staatsgesetzen festgelegten Grundsätze ausübten, auf. In den übrigen Sachgebieten hatte der Staat die Gesetzgebungsbefugnis. Heutzutage listet Artikel 117 der Verfassung die Sachgebiete der ausschließlichen Gesetzgebung des Staates und der konkurrierenden Gesetzgebung auf; in den übrigen Sachgebieten üben die Regionen die Gesetzgebung aus.

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In der Tat gilt die Kompetenzverteilung zwischen Staat und den Regionen57 nun auch für die Durchführung von Europarecht. Das bedeutet, dass die Regionen in jenen Sachgebieten, die nicht zur ausschließlichen Gesetzgebung des Staates gehören,58 für die Umsetzung der Richtlinien sorgen. In den Sachgebieten der konkurrierenden Gesetzgebung – vergleichbar mit der ehemaligen deutschen Rahmengesetzgebung – setzt der Staat die unabdingbaren Grundsätze für die Umsetzung und die Regionen die übrigen Bestimmungen fest. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die Regionen in der Vergangenheit in den Sachgebieten der konkurrierenden Gesetzgebung erst nach Verabschiedung des staatlichen Gesetzes EU-Recht umsetzen konnten. In den neunziger Jahren wurde diese Beschränkung allerdings aufgehoben, weshalb die Regionen nicht mehr das staatliche Gesetz abwarten müssen. Zudem war die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips durch die italienische Verfassung (Art.  118) ein Ergebnis der Bedeutung dieses Grundsatzes auf europäischer Ebene. Schließlich ist die gegenwärtige Rolle der italienischen Regionen in der ansteigenden sowie absteigenden Phase des europäischen Rechtsetzungsprozesses ein Ausdruck sowohl der Anerkennung und Aufwertung der nationalen Untergliederungen auf europäischer Ebene als auch die Folge der innerstaatlichen territorialen Dezentralisation.

1.  Ein kritischer Überblick Konsequenz und Korrelat der fortlaufenden Beteiligung der Regionen an der Umsetzung des Unionsrechts ist die sog. Ersetzungsbefugnis des Staats im Fall der Untätigkeit der Regionen.59 Durch sie hat die italienische Rechtsordnung auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Teilnahmeanspruch der Regionen an der Umsetzung des Unionsrechts und der Haftung des Staates – unabhängig von der internen Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse – bei Verletzung des Unionsrechts reagiert.60 In der Tat stellt die Ersetzungsbefugnis des Staats eine Konstante im System dar. Ihre ausdrückliche Erwähnung in der Verfassung nach ihrer Anerkennung als notwendiges und unabdingbares Instrument durch den Gesetzgeber 61 und die Verfassungsrechtsprechung 62 ist daher kein Zufall: Man spricht von einer Konstitutionalisierung der bestehenden, bereits konsolidierten Lage.63 57   Nach der aktuellen Gestaltung gibt es eine ausschließliche Gesetzgebung des Staates, eine konkurrierende Gesetzgebung des Staates und der Regionen und eine residuale Gesetzgebung der Regionen. 58   Vgl. die Auflistung in Art.  117 Abs.  2 der italienischen Verfassung. 59   Hinsichtlich der Ersetzungsbefugnis des Staats Rescigno, Le Regioni 2002, S.  729 ff. 60   Vgl. die Antwort der italienischen Rechtsordnung auf dieses Spannungsverhältnis in einer vergleichenden Perspektive mit Spanien Porchia, Il diritto dell’Unione europea 2011, S.  4 07 ff. 61   Gesetz La Pergola (Nr.  86/1989) und folgende Gesetze. 62   Z.B. Corte Costituzionale, Urteil Nr.  182/1976. Siehe auch Corte costituzionale, Urteil 126/1996. In diesem Urteil bestätigt das Verfassungsgericht, dass die Umsetzung der europäischen Gemeinschaftsvorschriften in den Mitgliedstaaten ihre zentralisierte, dezentralisierte oder bundesstaatliche Struktur berücksichtigen muss, sodass Italien berechtigt (und nach Verfassungsrecht verpflichtet) ist, seine grundlegende regionale Zusammensetzung zu achten; da jedoch nur der Staat für die Anwendung des Europarechts gegenüber der Europäischen Union verantwortlich ist, steht ihm also eine Kompetenz der „zweiten Instanz“ zu, um Verletzungen der Autonomie gegenüber der Europäischen Union zu vermeiden. 63   Anzon (Fn.  54), S.  141.

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Nach der Verfassungsreform des Titels V im Jahr 2001 setzt Artikel 117 Abs.  5 der Verfassung auf Gesetzgebungsebene fest: „Die Regionen und die Autonomen Provinzen Trient und Bozen nehmen für die in ihre Zuständigkeit fallenden Sachgebiete an den Entscheidungen im Rahmen des Rechtsetzungsprozesses der Europäischen Union teil und sorgen für Anwendung und Durchführung von völkerrechtlichen Abkommen und Rechtsakten der Europäischen Union; dabei sind die Verfahrensbestimmungen zu beachten, die mit jenem Staatsgesetz festgesetzt werden, das die Einzelheiten der Ausübung der Ersetzungsbefugnis in Fällen der Untätigkeit regelt.“64

Ähnlich setzt Artikel 120 Abs.  2 der Verfassung auf Verwaltungsebene fest: „Die Regierung ist – ohne Rücksicht auf die Gebietsgrenzen der lokalen Regierungen – befugt, bei Nichtbeachtung internationaler Bestimmungen und Abkommen oder der EUBestimmungen … zu handeln.“65

Die detaillierte Regelung der staatlichen Ersetzungsbefugnis ist heute in Artikel 41 des Gesetzes über die Teilnahme Italiens an der Entstehung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und Politiken der Europäischen Union enthalten.66 Die Ersetzungsbefugnis kann sowohl präventiv als auch sukzessiv sein (vgl. Abs.  1 und Abs.  2 des Artikels 41).67 Sie wird sukzessiv ausgeübt, wenn es notwendig ist, den europäischen Verpflichtungen nachzukommen, und ein präventives Vorgehen unmöglich ist. Dies ist der Fall, soweit die Umsetzungsfrist vor der Verabschiedung des sog. europäischen Bevollmächtigungsgesetzes und des sog. europäischen Gesetzes, d.h. die Verbindungsinstrumente zwischen den europäischen und nationalen Ordnungen,68 abgelaufen ist. Soweit das Ziel in der Verhinderung einer Verurteilung Italiens in einem Vertragsverletzungsverfahren angesichts der Untätigkeit der Regionen bei der Richtlinienumsetzung in ihren Kompetenzfeldern liegt, riskiert die Ersetzungsbefugnis des Staates jedoch, die Rolle der Regionen zu unterminieren. Um zu vermeiden, dass 64   „Le Regioni e le Province autonome di Trento e di Bolzano, nelle materie di loro competenza, partecipano alle decisioni dirette alla formazione degli atti normativi comunitari e provvedono all’attuazione e all’esecuzione degli accordi internazionali e degli atti dell’Unione europea, nel rispetto delle norme di procedura stabilite da legge dello Stato, che disciplina le modalità di esercizio del potere sostitutivo in caso di inadempienza.“ 65   „Il Governo può sostituirsi a organi delle Regioni, delle Città metropolitane, delle Province e dei Comuni nel caso di mancato rispetto di norme e trattati internazionali o della normativa comunitaria […]“. 66   Gesetz Nr.  234/2012 „Norme generali sulla partecipazione dell’Italia alla formazione e all’attuazione della normativa e delle politiche dell’Unione europea.“, vgl. hierzu Costato/Rossi/Borghi (Hrsg.), Commento alla legge 24.12.2012 n.  234 „Norme generali sulla partecipazione dell’Italia alla formazione e all’attuazione della normativa e delle politiche dell’Unione europea“, 2015. 67   Für einen Kommentar zu Artikel 41 siehe Tovo, in: Costato/Rossi/Borghi (Fn.  66), S.  354 ff. 68   Das Gesetz La Pergola (Nr.  86/1989), welches vom Gesetz Buttiglione (Nr.  11/2005) und danach vom Gesetz 234/2012 ersetzt wurde, hat ein jährliches Gesetz (das sog. EU-Gesetz/legge comunitaria) eingeführt, um die nationalen Rechtsvorschriften jedes Jahr erneut den europäischen Verpflichtungen anzugleichen. Dieses Gesetz wurde vom Gesetz 234/2012 in das sog. europäische Bevollmächtigungsgesetz und das sogenannte europäische Gesetz aufgeteilt. Das europäische Bevollmächtigungsgesetz überträgt der Regierung die Verpflichtung, die EU-Rechtsakte zu rezipieren; das sog. europäische Gesetz enthält dagegen Bestimmungen, die die nationalen Vorschriften, die nicht mit Europarecht vereinbar sind, ändern oder abschaffen.

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die Teilnahme der Regionen wegen der Staatsintervention nur eine Teilnahme auf dem Papier bleibt, besteht ein komplizierter Mechanismus, der die Ersetzungsbefugnis des Staats zu einem außergewöhnlichen und abdingbaren Instrument macht: Im Fall ihrer präventiven Ausübung treten die Ersetzungsvorschriften des Staates demnach erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist in Kraft, so dass die Regionen bis zuletzt die Möglichkeit haben, initiativ zu werden. Im Fall ihrer sukzessiven Ausübung informiert der Ministerpräsident oder der Minister für Europa-Angelegenheiten die zuständigen Behörden über die Notwendigkeit, den europäischen Verpflichtungen nachzukommen, und setzt ihnen eine Frist zur eigenständigen Durchführung. Greift der Staat präventiv oder sukzessiv ein, erlässt er wohlgemerkt nicht regionales, sondern staatliches Recht. Es handelt sich dabei um partiell geltendes Staatsrecht, weil es nur für die nicht umsetzenden Regionen gilt. Außerdem wurde gleichzeitig mit der Ersetzungsbefugnis das Prinzip der Nachgiebigkeit der Staatsgesetze gegenüber den Regionalgesetzen eingeführt: Die Ersetzungsvorschriften des Staates verlieren ab Inkrafttreten der Durchführungsbestimmungen der Regionen ihre Wirksamkeit, so dass die Regionen die Gelegenheit haben, sich ihre Rolle wieder anzueignen. Darüber hinaus müssen die Staatsvorschriften den Ersetzungs- und Nachgiebigkeitscharakter explizit anzeigen, um von den Regionen erkennbar und umsetzbar zu sein. Von Bedeutung ist auch, dass die staatlichen Ersatzvorschriften der präventiven Überprüfung der Ständigen Konferenz der Beziehungen zwischen Staat, Regionen und den Autonomen Provinzen von Trient und Bozen unterliegen. Trotz dieses Instruments haben sich die Regionen in der Praxis oftmals uneinsichtig gezeigt und angesichts staatlicher Ersatzvorschriften nichts unternommen. Anzumerken ist hierbei allerdings, dass der Gestaltungsraum der Regionen im Fall von detaillierten Richtlinien oft sehr eng ist, insbesondere in den Sachgebieten der konkurrierenden Gesetzgebung, in welchen der Staat die grundsätzlichen Prinzipien festlegt. Um die Rolle der Regionen zu stärken, wurde im Zuge einer Systematisierung der regionalen Umsetzung europäischer Richtlinien das Modell des jährlichen, staatlichen Gesetzes zum Rezipieren europäischer Vorschriften, auf die regionale Ebene übertragen: Man spricht von „leggi comunitarie regionali“.69 Trotzdem ist das Verhältnis zwischen Staat und Regionen im Hinblick auf die europäischen Verpflichtungen, besonders hinsichtlich des schwierigen Identifizierens der jeweiligen Kompetenzbereiche, noch nicht endgültig geregelt. Zudem sind die einzelnen Regionen sehr verschieden und unterscheiden sich in ihre Leistungsfähigkeit stark.

2.  Die umgekehrte Nachgiebigkeit Eine Besonderheit des italienischen Instrumentariums ist die sog. umgekehrte Nachgiebigkeit („cedevolezza invertita“). Diese beinhaltet die Möglichkeit der Regionen, die staatliche Umsetzung des Europarechts vorzuverlegen und das Prinzip der Nach Siehe Adinolfi, Rivista di dir. internaz. 2004, S.  759 ff.; Vipiana, Quaderni regionali 2007, S.  4 49 ff.; Pastore, La legge comunitaria regionale, www.astrid-online.it 2009; Saputelli, Il ruolo della „legge comunitaria“ regionale nel sistema multilivello, tra soluzioni pensate e concreto utilizzo, www.issirfa.cnr. it 2012; Rosini, Diritti regionali 1/2018. 69

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giebigkeit umkehren zu können. Die regionalen Vorschriften verlieren dabei ihre Rechtswirkung, sobald der Staat die entsprechenden Umsetzungsvorschriften, die seine Kompetenz berühren, verabschiedet. Eine derartige Möglichkeit, die zum ersten Mal in einem regionalen Gesetzeserlass der Regionen Friuli Venezia Giulia enthalten war, wurde vom Verfassungsgericht explizit anerkannt.70 Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die regionalen Nachgiebigkeitsklauseln im Rahmen von Umweltrichtlinien – einem Bereich, der stark durch das Europarecht beeinflusst wird und als „trasversale“ (querlaufend)71 in der Kompetenzverteilung zwischen Staat und Regionen bezeichnet wird – Anwendung finden.72 Diesbezüglich kann man heute von einem bi-direktionalen Charakter der Nachgiebigkeit sprechen. Obwohl diese Entwicklung der gleichberechtigten Stellung von Staat und Regionen im Gefolge der Verfassungsänderung von 2001 entspricht und damit ein größeres Verantwortungsbewusstsein der Regionen gegenüber den europäischen Pflichten verdeutlicht, scheint eine Generalisierung der regionalen Ersetzungsbefugnis fragwürdig. Sie riskiert nicht nur einen Anstieg der Konflikte zwischen Staat und Regionen, sondern gleichzeitig eine Ungewissheit hinsichtlich der Effektivität der betroffenen europäischen Durchführungsvorschriften.73

3.  Der Regressanspruch Als finaler Mosaikstein im Umsetzungsprozess ist der Regressanspruch zu nennen,74 der mit dem Finanzgesetz 200675 eingeführt und nach weiteren Präzisierungen nun von Art.  43 des Gesetzes Nr.  234/201276 geregelt wird. Mittels dieses Instruments besitzt der Staat die Möglichkeit, sich im Fall einer Verurteilung Italiens in einem Vertragsverletzungsverfahren und der sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und finanziellen Folgen bei den Regionen Genugtuung zu verschaffen. Obwohl der Regressanspruch als Abschreckungsmittel gegen einer Verletzung von Europarecht durch die Regionen dienen soll, ist er kritisch zu sehen. In der Tat scheint er nicht ganz vereinbar mit der Ersetzungsbefugnis des Staates: Denn wenn der Staat die Untätigkeit der Regionen ersetzen kann oder sogar muss, besteht gleichzeitig eine Verantwortung des Staates. In diesem Fall wäre ein Regressanspruch allerdings nicht durchsetzbar. Auch wenn man annimmt, dass der Staat die regionale Untätigkeit nicht immer völlig eindämmen kann, ist es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, die konkrete Verantwortung der Nichterfüllung zwischen Staat und Regionen zu 70   Corte costituzionale, Urteil Nr.  398/2006. Vgl. hierzu Tripodi, L’attuazione delle direttive comunitarie e le clausole di cedevolezza, www.federalismi.it 9/2007. 71   Unten den ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnissen des Staates gibt es Sachgebiete – wie z.B. der Schutz der Umwelt – die „querlaufend“ sind, weil sie mit anderen Interessen verflochten sind, die zu den konkurrierenden Kompetenzen oder residualen Kompetenzen der Regionen gehören. 72   Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme. 73  Vgl. Tripodi (Fn.  70) S.  14. 74   Zum Thema Bini, Quaderni regionali 2010, S.  815 ff.; Bertolino, Le Regioni 2013, S.  283 ff.; dies., Diritti regionali 1/2017; Tomasi, Osservatorio sulle fonti 2/2017. 75   Art.  1 Abs.  1213–1223, Gesetz Nr.  296/2006. 76  Siehe Pepe, in: Costato/Rossi/Borghi (Fn.  66), S.  381 ff.

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verteilen. Im Übrigen fehlen festgesetzte Kriterien für die Mengenbestimmung des Staatskredits. Bislang müssen diese durch eine Verordnung des Wirtschafts- und Finanzministers innerhalb von drei Monaten ab Zustellung des Urteils über die Verurteilung Italiens nach Einigung über den Wiederherstellungsmodus jeweils neu festgelegt werden. Weiter stößt der Staat, der sich bei den Regionen Genugtuung verschaffen möchte, auch unter einem praktischen Gesichtspunkt auf eine Grenze im Fall einer Wirtschaftskrise: die oft negativen Bilanzen der Regionen. In der Praxis ist der Regressanspruch somit nicht besonders wirksam. Auf der einen Seite hat sich seine Abschreckungsnatur als schwach herausgestellt, da die Regionen nicht eine größere Neigung zur Erfüllung des Europarechts bekundet haben. Auf der anderen Seite zeigt der Staat eine gewisse Zurückhaltung, auf dieses Instrument zurückzugreifen. In der Tat wurde der Regressanspruch bis jetzt nur in seltenen Fällen nach Verurteilungen des EGMR von italienischen Gemeinden durchgesetzt. Die Gemeinden haben im Übrigen auf den Gebrauch des Regressanspruchs mit gerichtlichen Klagen reagiert. Da die Funktionalität des Systems aus den genannten Gründen nicht völlig gewährleistet ist, kann dieses Instrumentarium der italienischen Rechtsordnung als noch unvollkommen bezeichnet werden.

III. Spanien In der spanischen Rechtsordnung ließe sich ein Monopol des Zentralstaates beim Vollzug des Völker- und Europarechts zwar auf verschiedene Vorschriften der Verfassung 1978 stützen.77 Jedoch hat das spanische Verfassungsgericht schon kurz nach dem Eintritt Spaniens in die EU festgestellt, dass die durch die Verfassung und die Autonomiestatuten definierte Kompetenzabgrenzung zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften78 auch für die Umsetzung von Unionsrecht in die innerstaatliche Rechtsordnung respektiert werden muss.79 Dies warf die Frage auf, ob spezifische Instrumente für einen stellvertretenden Zugriff des Zentralstaates im Fall einer Nichterfüllung der Autonomen Gemeinschaften möglich sind. Gründe für einen entsprechenden Bedarf sind die ausschließliche Haftung des Zentralstaates im internationalen Bereich sowie die Verpflichtung der Cortes Generales und der Re77   Art.  93 der Spanischen Verfassung lautet, dass „durch ein Organgesetz der Abschluß von Verträgen autorisiert werden [kann], durch die einer internationalen Organisation oder Institution die Ausübung von aus der Verfassung abgeleiteten Kompetenzen übertragen wird. Die Gewährleistung für die Erfüllung dieser Verträge und der Beschlüsse, die die internationalen oder supranationalen Organismen, denen die Kompetenzen übertragen wurden, fassen, obliegt je nach Fall den Cortes Generales oder der Regierung“ (Betonung durch den Verfasser hinzugefügt). Andererseits behält Art.  149 Abs.  1 S.  3 dem Zentralstaat die ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der internationalen Beziehungen vor. 78   Die Spanische Verfassung hat die Entscheidung über die Struktur des Staates nicht getroffen: die Dezentralisation ist aus dieser Sicht nur eine Möglichkeit, die durch die Verabschiedung der Autonomiestatuten und die folgende Gründung der Autonomen Gemeinschaften implementiert werden kann. Anders gesagt ist in Spanien sowohl eine zentralisierte als auch eine dezentralisierte Strukturierung des Staates verfassungsmäßig. Deswegen spricht die Spanische Rechtslehre über das sog. „principio dispositivo“ (Öffnungsprinzip); so z.B. Fossas, El principio dispositivo en el Estado autonómico, 2007. 79  In diesem Sinne hat sich das spanische Verfassungsgericht seit seinem Urteil v. 20.12.1988 (252/1988) geäußert (abruf bar unter http://hj.tribunalconstitucional.es/).

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gierung, die Erfüllung supranationaler Verpflichtungen zu gewährleisten (Art.  93 Spanische Verfassung in fine 80). Trotz isolierter Stimmen, die auf der Basis des Art.  93 eine zentralstaatliche Befugnis aufzubauen versuchten,81 haben ursprünglich sowohl das spanische Verfassungsgericht als auch die Rechtslehre allein die sog. Ergänzungsklausel des Art.  149 Abs.  3 in fine 82 als normative Grundlage einer zentralstaatlichen Eingriffsbefugnis gegenüber den Autonomen Gemeinschaften betrachtet. Ob die Anwendung der Ergänzungsklausel allerdings ausreicht, kann man angesichts zweier Beschlüsse des spanischen Verfassungsgerichts83 bezweifeln; auch der EuGH hat in jüngerer Zeit daran Kritik geübt (1.). Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch um Haushaltsstabilität zu gewährleisten, wurde im Jahr 2012 letztlich ein Regressanspruch des Staates in die spanische Rechtsordnung eingefügt (2.).

1.  Die Kontroverse über die Ergänzungsklausel des Art.  149 Abs.  3 in fine Die Ergänzungsklausel ist in Art.  149 Abs.  3 Spanischen Verfassung in fine normiert, der lautet: „Das staatliche Recht ergänzt in jedem Fall das Recht der Autonomen Gemeinschaften“. Die Auslegung dieser verfassungsrechtlichen Vorschrift ist eines der am meisten diskutierten Probleme des spanischen öffentlichen Rechts. Schon kurz nach der Verabschiedung der spanischen Verfassung 1978 haben zwei prominente Autoren Theorien über deren konkrete Bedeutung entwickelt. De Otto y Pardo war der Meinung, dass durch die Ergänzungsklausel das zentralstaatliche Recht als eine – zumindest potenziell – komplette Rechtsordnung charakterisiert werde: Der Zentralstaat könne nämlich Gesetze in jeglichen Materien erlassen, auch wenn diese Rechtsetzungsbefugnisse der Autonomen Gemeinschaften berühren. Dies rühre aus der Tatsache, dass die Autonomen Gemeinschaften vor Erlass der spanischen Verfassung 1978 nicht bestanden und ihnen somit keinerlei Kompetenzen zugesprochen werden konnten. Auch nach deren Konstituierung könne der Zentralstaat nach De Otto y Pardo jedoch auf Basis der Ergänzungsklausel rechtssetzend tätig werden, soweit die betreffende Gemeinschaft inaktiv geblieben sei oder seiner Ansicht nach unzureichende Vorschriften erlassen habe. Im letzteren Fall würden die betreffenden Rechtsvorschriften allerdings nur zusätzlich neben den jeweiligen Vorschriften der Autonomen Gemeinschaft gelten.84 In diesem gewissermaßen statisch-zentralisierten   Siehe Fn.  77.   So z.B. Ortega Álvarez, Revista Española de Derecho Administrativo 55 (1987), S.  353, 363 ff. 82  Weiter regelt Art 149 Abs.  3 sowohl eine doppelte, für die Kompetenzabgrenzung geltende „Schließungsklausel“, als auch die „Vorrangklausel“ zentralstaatlichen Rechts gegenüber dem Recht der Autonomen Gemeinschaften. Die sogenannte „Schließungsklausel“ beinhaltet dabei einerseits, dass die Gemeinschaften die Rechtsetzungsbefugnisse, die dem Zentralstaat nicht vorbehalten werden, selbst wahrnehmen können. Andererseits sind die Rechtsetzungsbefugnisse, die die Autonomen Gemeinschaften nicht wahrnehmen, zentralstaatliche. Die „Vorrangklausel“ besagt, dass im Fall eines Widerspruchs zwischen geltendem zentralstaatlichen Recht und dem Recht der Autonomen Gemeinschaften, ersterem Vorrang zukommt. 83   Urt. des spanischen Verfassungsgerichts vom 27.6.1996 (118/1996) und vom 20.3.1997 (61/1997); abruf bar unter http://hj.tribunalconstitucional.es/. 84   De Otto y Pardo, Revista Española de Derecho Constitucional 2 (1981), S.  57, 73. 80 81

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Verständnis würde sogar der wichtigste Unterschied zwischen dem Autonomie- und dem Bundesstaatsprinzip liegen.85 Anders verstand Muñoz Machado den Inhalt der Ergänzungsklausel. Ausgangspunkt sei, das zentralstaatliche Recht nur deshalb als komplett anzusehen, da der Zentralstaat mit Entstehung der Autonomen Gemeinschaften im Jahr 1978 die Möglichkeit hatte, seine Kompetenzen schrittweise zu Gunsten jener einzuschränken und ihnen somit zunehmend Rechtsetzungsbefugnisse einzuräumen. Die Ergänzungsklausel sei hierfür unumgänglich, um eine transitorische Funktion seiner zunehmend auf die Autonomen Gemeinschaften verlagerten Rechtsetzungs- und Zuständigkeitsbereiche zu gewährleisten. Muñoz Machados Interpretation war dabei gelenkt von einem flexiblen Verständnis der Ergänzungsklausel, mit Hilfe derer die Autonomen Gemeinschaften Schritt für Schritt mehr Kompetenzen erhalten und ausüben sollten, um dem Risiko einer vorübergehenden Regellosigkeit von vormals zentralstaatlichen Sachmaterien entgegenzuwirken. Allerdings sollte der Ergänzungsklausel nicht nur diese transitorische Bedeutung beigemessen werden, sondern sie soll zentralstaatliches Recht durch seine parallele Maßgeblichkeit und Anwendbarkeit immer als einheitliche Grundlage für die Sachmaterien der Autonomen Gemeinschaften darstellen, um dessen insgesamte Kohärenz zu gewährleisten. Muñoz Machado stützt sich hierfür auf Art.  149 Abs.  1 Spanische Verfassung, der dem Zentralstaat sehr allgemeine Rechtsetzungsbefugnisse (z.B. für das Justiz-, Straf-, Prozess- und Handelsrecht, die Arbeits- und Zivilgesetzgebung oder die rechtliche Grundlagen der öffentlichen Verwaltung) vorbehält. Die Funktionalität der so verstandenen Ergänzungsklausel würde voraussichtlich progressiv abnehmen, aber auf keinen Fall verschwinden.86 Das spanische Verfassungsgericht hat die Ergänzungsklausel zunächst als sehr allgemeine Kompetenzvorschrift für zentralstaatliche Rechtsetzungsbefugnisse interpretiert.87 In dieser Anfangsphase hat es ihre Anwendung noch für den Fall für zulässig gehalten, dass eine oder mehrere Autonome Gemeinschaften ihre Verpflichtungen aus dem europarechtlichen Bereich nicht erfüllen.88 Dies sollte einerseits eine ausreichende Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten garantieren und andererseits dem Zentralstaat die Letztverantwortung hierfür übertragen.89 Ein solches Verständnis der betreffenden verfassungsrechtlichen Regel soll aber nicht bedeuten, dass der Zentralstaat eine allgemeine Zuständigkeit für den innerstaatlichen Vollzug des Europarechts hat, da dem entsprechenden staatlichen Zugriff lediglich eine zusätzliche Dimension beigemessen wird. Diese parallele Rechtsetzung könnten die Autonomen Gemeinschaften allerdings durch die effektive Erfüllung von Unionspflichten in ihren Kompetenzbereichen vermeiden.90   De Otto y Pardo, Derecho Constitucional. Sistema de fuentes, 1987, S.  248 f.   Muñoz Machado, Derecho Público de las Comunidades Autónomas, Bd.  I, 1982, S.  4 09 ff. Eine solche Grundlage bei der Erklärung der Ergänzungsklausel benutzen heutzutage auch andere Autoren, siehe z.B. Santamaría Pastor, Principios de Derecho Administrativo General, Bd.  I, 4.  Aufl. 2016, S.  152. 87   Dies wurde wohlgemerkt ‚generell‘ verstanden, und nicht nur im Hinblick auf die Umsetzung und Erfüllung europarechtlicher Verplichtungen. 88   Urt. vom 28.5.1992 (79/1992) und vom 14.7.1994 (213/1994), abruf bar unter http://hj.tribunal constitucional.es/. 89   Vgl. Art.  93 der Spanischen Verfassung. 90   So wurde in einer wichtigen Anmerkung zum Beschluss v. 28.5.1992 präzisiert: Bustos Gisbert, Revista Española de Derecho Constitucional 37 (1993), S.  215, 229; siehe auch Ruiz Ruiz, Revista 85

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Später definierte das Verfassungsgericht den Inhalt der verfassungsrechtlichen Vorschrift allerdings restriktiver. Demnach soll die Ergänzungsklausel nicht als eine für den Zentralstaat allgemeine gesetzliche Ermächtigung verstanden werden, sondern nur als Interpretationsvorschrift dienen, die es erlaubt, normative Lücken des autonomen Rechts mit geltenden zentralstaatlichen Vorschriften zu füllen. Staatliche Gesetze, die nur zu dem Zweck erlassen werden, materielle Bereiche originär zu regeln, die in den Kompetenzbereich Autonomer Gemeinschaften fallen, seien demnach verfassungswidrig und damit nicht nur unanwendbar, sondern insgesamt nichtig.91 Im Sinne der früheren Interpretation der Ergänzungsklausel als zentralstaatlicher Garant für die Erfüllung europäischer Vorgaben92 brachte Spaniens Regierung in einem Vertragsverletzungsprozess zum Wasserrecht vor, dass die Umsetzung der Verpflichtungen aus den Vorschriften der Richtlinie 2000/60 im Bereich der Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften durch die Ergänzungsklausel gewährleistet sei. Hintergrund des Prozesses war, dass das spanische Recht zwischen zwei Kategorien von Einzugsgebieten unterscheidet, nämlich den „intergemeinschaftlichen“, die das auf dem Gebiet mehrerer Autonomer Gemeinschaften fließende Wasser umfassen und für die nur der Zentralstaat gesetzgebungsbefugt ist, und den „innergemeinschaftlichen“, die sich im Gebiet nur einer Autonomen Gemeinschaft befinden und für die die Autonomen Gemeinschaften Rechtsetzungsbefugnisse wahrnehmen können. In Bezug auf die intergemeinschaftlichen Einzugsgebiete erfolgte die Durchführung der betreffenden Bestimmungen der Richtlinie 2000/60 durch die Rechtsverordnung vom 10.9.2008 zur Genehmigung der Anweisungen für die hydrologische Planung. Abs.  2 des einzigen Artikels der Rechtsverordnung bestimmte, dass „die genehmigten Anweisungen […] für die intergemeinschaftlichen Einzugsgebiete [gelten]“. Für die innergemeinschaftlichen Einzugsgebiete übte aber nur die Autonome Gemeinschaft Katalonien ihre Rechtsetzungsbefugnis aus. Der EuGH entschied in seinem dahingehenden Urteil vom 24.10.2013 (Rs. C-151/12), der Anwendungsbereich der staatlichen Vorschrift durch die Rechtsverordnung gelte in nur sehr begrenztem Umfang im Verhältnis zur wasserrechtlichen Kompetenz der Autonomen Gemeinschaften. Die zentralstaatliche Rechtsverordnung würde explizit lediglich auf zentralstaatlicher Ebene gelten. Die spanische Wasserrechtslage erfülle im Hinblick auf die Umsetzungserfordernisse nicht die AnforEspañola de Derecho Constitucional 51 (1997), S.  159, 179 f. Trotzdem ist diese Rechtsprechung in letzter Zeit als ein Grund der Untätigkeit der Autonomen Gemeinschaften bei der Richtlinienumsetzung betrachtet worden, siehe i.d.S. Arzoz Santisteban, in: ders. (Hrsg.), Transposición de directivas y autogobierno 2013, S.  491, 507 f. 91   Urt. vom 27.6.1996 (118/1996) und vom. 20.3.1997 (61/1996); abruf bar unter http://hj.tribunal constitucional.es/. Die neue Auslegung der Ergänzungsklausel sei nicht für den Fall einer Nichterfüllung europarechtlicher Verpflichtungen anwendbar, da die vom spanischen Verfassungsgericht entschiedenen Rechtssachen keine unionalen Implikationen hatten; i.d.S. siehe Alonso García, Gaceta jurídica de la CE 123 (1997), S.  1, 2 ff.; in jüngster Zeit siehe auch Rodríguez Portugués, in: Baño León (Hrsg.), Memorial para la reforma del Estado. Estudios en homenaje al Profesor Santiago Muñoz Macha­do, Bd.  2 , 2016, S.  1665, 1679; implizit dafür auch García de Enterría/Fernández, Curso de Derecho Administrativo, Bd.1, 17.  Aufl. 2015, S.  185. 92   Wohlgemerkt bleibt in dieser Hinsicht die frühere Interpretation der Ergänzungsklausel durch das spanische Verfassungsgericht weiterhin anwendbar. Die neue Interpretationsregel gilt nämlich nur im Hinblick auf eine potentiell notwendige Lückenfüllung autonomen Rechts der Gemeinschaften.

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derungen der Klarheit und Genauigkeit. Außerdem habe der spanische Staatsrat („Consejo de Estado“) in einem Bericht vom 15.12.2010 festgestellt, dass die Verfassungsrechtsprechung zur Anwendbarkeit der Ergänzungsklausel zur Gewährleistung der Umsetzung des europäischen Unionsrechts unklar wäre. Demnach stellte der EuGH fest, Spanien habe die Richtlinie 2000/60 nicht ausreichend umgesetzt. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die von der spanischen Regierung vorgebrachte zusätzliche Anwendung des zentralstaatlichen Rechts der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung entsprach. Wie von der Rechtslehre betont, handele es sich nicht um die Verabschiedung einer kompetenzwidrigen staatlichen Vorschrift, sondern um die Verwendung der Ergänzungsklausel als Interpretationsregel, um die normativen Lücken der autonomen Rechtsordnungen zu erfüllen.93 Dem EuGH aber genügte eine solche Argumentation zur Rechtslage aus den oben genannten Gründen nicht. Um eine Verurteilung durch den EuGH zu vermeiden, hat das spanische Verfassungsgericht die potentielle Nutzung der Ergänzungsklausel als Mechanismus zur Gewährleistung europarechtlicher Pflichten bestätigt. Dies entsprach grundsätzlich seiner ursprünglichen Interpretation, während die Neu-Interpretation nur für den nationalen Anwendungsbereich gelten solle. Die zwei Beschlüsse des spanischen Verfassungsgerichts konnten allerdings nicht mehr vom EuGH berücksichtigt werden. Sie stehen aber dennoch für eine neue Phase der Anwendbarkeit der Ergänzungsklausel als Garantie der Erfüllung des Unionsrechts.94

2.  Der Regressanspruch gegen die Autonomen Gemeinschaften Im Kontext der letzten Wirtschaftskrise wurde die Spanische Verfassung reformiert, um die Bedingungen des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion zu erfüllen. Durch die Reformierung des neuen Art.  135 Spanische Verfassung wurde gleichzeitig das Organgesetz 2/2012 vom 27. April zur Budgetstabilität und Finanznachhaltigkeit verabschiedet. Die zweite komplementäre Anordnung des oben genannten Organgesetzes fügt einen Regressanspruch des Zentralstaates gegenüber den Gebietskörperschaften ein, die ihre Verpflichtungen aus dem europäischen Bereich nicht erfüllen. Sie ermächtigt auch die Regierung, eine Rechtsverordnung zur verwaltungsverfahrensrechtlichen Konkretisierung dieser Vorschrift zu beschließen. Die oben genannte Ermächtigung wurde durch die Verabschiedung der Rechtsverordnung 515/2013 vom 5. Juli ausgeübt. Bevor das Organgesetz 2/2012 verabschiedet wurde, fand sich ein derartiger Regressanspruch in der ersten komplementären Anordnung des Gesetztes 2/2011 vom 4. März zur nachhaltigen Wirtschaft. Diese komplementäre Anordnung diente dem Zweck, die damals bestehende gesetzliche Zersplitterung auszuräumen: Den Regressanspruch hatte ursprünglich der Gesetzgeber in mehreren Fachgesetzen nur für die   Rodríguez Portugués (Fn.  91), S.  1665, 1678 f.   Urt. vom 4.6.2013 (130/2013) und vom. 6.6.2013 (135/2013); abruf bar unter http://hj.tribunal constitucional.es/. Siehe dazu Fernández Pérez, Revista Española de Derecho Europeo 52 (2014), S.  117, 139. Dennoch Skepsis äußernd hinsichtlich des Umfangs der neuen Rechtsprechung Ferreres Comella, Revista Española de Derecho Constitucional 103 (2015), S.  333, 348, Fn.  27. 93

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entsprechenden materiellen Bereiche vorgesehen. Dieses verständliche Ziel wurde aber nur teilweise erreicht, da der Regressanspruch teils noch in gültigen Fachgesetzen vorgesehen ist.95 Die Rechtsverordnung 515/2003 wurde im Hinblick auf eine potentiell nachteilige Stellung der Autonomen Gemeinschaften stark kritisiert. Die Rechtsverordnung sei zu sehr darauf fokussiert, der Nichterfüllung von Unionsrecht der Autonomen Gemeinschaften vorzubeugen, und berücksichtige umgekehrt nicht den Fall, dass jenen durch verabsäumte staatliche Umsetzung ebenfalls ein wirtschaftlicher Schaden entstehen könne.96 Es wäre durchaus denkbar, dass die Gemeinschaften aufgrund einer derartigen staatlichen Untätigkeit ökonomische Einbußen hinzunehmen hätten, die sie ihrerseits nicht mittels des Regressanspruches geltend machen könnten.97 Besonders problematisch scheint die Anwendbarkeit des Regressanspruchs, wie er derzeit geregelt ist, nach der Re-Definition der Ergänzungsklausel in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung. Nach der Neuinterpretation der Ergänzungsklausel könnte der Zentralstaat nämlich auch dann für eine Nichtumsetzung haften, wenn diese einen Bereich betrifft, in dem die Autonomen Gemeinschaften rechtsetzungsbefugt sind. Diese nicht zufriedenstellende Situation spricht für eine notwen­ dige Reformation der Rechtsverordnung 515/2013 im Sinne einer „Haftungsteilung“.98

IV. Österreich Wie im Fall der Bundesrepublik Deutschland wird das nationale Transpositionsverfahren zur Umsetzung von Richtlinien maßgeblich durch den föderalen Staatsaufbau der Republik Österreich bestimmt.99 Mit der Umsetzung der Materien, die durch Richtlinien geregelt werden, sind am häufigsten und intensivsten die Bundesländer selbst befasst.100 Während noch Ende der neunziger Jahre aufgrund der oftmals verspäteten Umsetzung von Richtlinien auf Landesebene mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich seitens der Europäischen Kommission eingeleitet 95   So z.B. in der siebten komplementären Anordnung des Gesetzes 1/1996 vom 15. Januar zur Disziplinierung des Einzelhandelns, wie die spanische Lehre richtig bemerkt hat. Siehe dazu Andrés Sáenz de Santamaría, Revista Catalana de Dret Públic 47 (2013), S.  4 0, 52; Cienfuegos Mateo, Revista Vasca de Administración Pública 98 (2014), S.  49, 76. 96   Ein Regressanspruch gegen den Zentralstaat ist für diesen Fall nicht vorausgesehen worden; siehe Andrés Sáenz de Santamaría (Fn.  95), S.  4 0, 57; Martín Delgado, Revista de Administración Pública 199 (2016), S.  51, 66. 97   Gómez Puente, La repercusión interna de la responsabilidad por incumplimiento del Derecho comunitario, abruf bar unter: http://idpbarcelona.net/docs/intranets/incumplimientoue_2014.pdf, S.  1, 29 ff. 98   Diese Möglichkeit wurde von Azpitarte Sánchez, Revista d’estudis autonòmics i federals 15 (2012), S.  85, 107 f., im Prinzip nur als Hypothese formuliert, denn die Beschlüsse des spanischen Verfassungsgerichts über die neue Auslegung der Ergänzungsklausel als Garantie der Erfüllung des Unionsrechts wurden später entschieden. 99  Vgl. König/Mäder, Bürokratisierung oder Politisierung: Eine Untersuchung der Umsetzungseffekte von Europäischen Richtlinien in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zeitraum von 1985–2003, S.  26, abruf bar unter: http://www.foev-speyer.de/files/de/f bpdf/FB-251.pdf. 100  Vgl. Streinz, Europarecht 10.  Aufl., 2016, S.  57 f.

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wurden,101 haben sich auf Bundesebene mittlerweile einige Mechanismen etabliert, um diesem Versäumnis vorzubeugen.

1.  Die innerstaatliche Kompetenzverteilung Die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den nach Art.  2 Bundesverfassungsgesetz (B-VG) selbstständigen Ländern wird im Wesentlichen in den Bestimmungen der Artikel 10 bis 15 B-VG geregelt, welche insgesamt vier Haupttypen der Kompetenzverteilung beinhalten. Neben ausschließlicher Landesoder Bundesgesetzgebung sieht die österreichische Verfassung in Art 12 Abs.  2 B-VG vor, dass der Bund zu bestimmten Sachgebieten Grundsatzgesetze verabschieden kann, aufgrund derer die Länder Ausführungsgesetzte erlassen.102 Der dadurch bedingte „doppelte“ Legislativaufwand wurde in der Literatur als besonders hinderlich für eine rechtzeitige Umsetzung von Richtlinienvorgaben kritisiert.103 Weiter bestehen in der österreichischen Kompetenzordnung sog. „weder-noch“ Materien, die weder eine reine bundes- noch eine reine Landesgesetzgebungskompetenz bedingen, sondern nur durch die Schaffung einer verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung umgesetzt werden können.104 Hier kann etwa mittels Erlass eines Gesetzes im Verfassungsrang eine eigene Kompetenzbestimmung etabliert werden. Zuletzt beinhaltet die österreichische Verfassung in Art.  23d Abs.  5 B-VG eine sog. „Devolutionszuständigkeit“ des Bundes für den Fall, dass ein Land seiner Pflicht zur Gesetzgebung bzw. hinsichtlich der Umsetzung einer Richtlinie nicht rechtzeitig nachkommt.105

2. Umsetzungstechnik Die konkrete Umsetzung von Richtlinien erfolgt in der Regel durch die Verabschiedung von Gesetzen und Verordnungen.106 Österreich hat sich in seiner bisherigen Umsetzungspraxis bisher oft auf die Änderung bzw. Ergänzung bestehender Gesetze,107 sowie die extensive Interpretation von Mindestharmonisierungsbestimmungen 101  Siehe Neisser/Puntscher, Europäisierung der österreichischen Politik: Konsequenzen der EU-Mitgliedschaft, 2002, S.  207. 102  Siehe Adamovic (jun.)/Funk/Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd.  1, Grundlagen, 1997, Rn.  10.014 ff. 103  Vgl. König/Mäder (Fn.  99), S.  27. 104  Siehe Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 2001, S.  98. 105  Siehe Börger, Austrian Law Journal 2015, S.  143, 145; Okresek, in: Rosner/Bußjäger (Hrsg.), FS 60 Jahre Verbindungsstelle der Bundesländer, 2011, S.  511, 517 ff. 106   Beispiele hierfür sind etwa das Bundes-Energieeffizienzgesetz – EeffG (Bundesgesetz über die Steigerung der Energieeffizienz bei Unternehmen und dem Bund, BGBl. I Nr.  72/2014), das Teilnutzungsgesetz (Bundesgesetz über den Verbraucherschutz bei Teilnutzungs- und Nutzungsvergünstigungsverträgen – TNG 2011), das Fernabsatzgesetz (Bundesgesetz über Fernabsatz- und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge – FAGG 2015) und das Preisauszeichnungsgesetz (Bundesgesetz über die Auszeichnung von Preisen (Preisauszeichnungsgesetz – PrAG 2016). 107   So wurden in Angleichung an die EU-Verbraucherrichtlinie (Richtlinie 2011/83/EU, in Kraft seit 13.6.2014), Art.  3, 4, 6, 8–9b, 28–30, und 31b–31f des Konsumentenschutzgesetzes (KschG) geändert.

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konzentriert. Im zuletzt genannten Fall werden Begriffe europäischer Richtlinien oft autonom interpretiert bzw. erweitert.108 So geht etwa die Definition des Begriffs „Verbrauchervertrag“ weiter als in EU-Richtlinien. Das österreichische Verständnis schließt alle Arten von gegenseitigen Verträgen und auch einseitige Rechtshandlungen wie Auslobungen, öffentliche Vertragsschlussangebote oder den Widerruf ein. Selbst juristische Personen können als Verbraucher geschützt sein.109 Beim Erlass neuer Gesetze werden oft verfassungsrechtlich determinierte Kompetenzen zwischen Bund und Ländern per Verfassungsbestimmung verschoben.110 So normiert etwa §  1 Energieeffizienzgesetz (EeFFG),111 dass „die Erlassung, Änderung, Auf hebung und Vollziehung von Vorschriften“ dieses Bundesgesetzes „auch in den Belangen Bundessachen [sind], hinsichtlich derer das B-VG etwas anderes bestimmt.“ Hiermit wird per Verfassungsbestimmung eine Kompetenzverschiebung zugunsten des Bundes angeordnet. Hintergrund war dabei nicht nur die zentralisierte Überwachung der Umsetzung, sondern auch die Sicherung einheitlicher Vorschriften für Unternehmen, möglicher Sanktionen und deren rechtzeitige Umsetzung.112 Die meisten europäischen Richtlinien wurden in Österreich allerdings durch Änderung und Ergänzung bestehender Gesetze umgesetzt, anstatt eigene Gesetze zu erlassen.113

3.  Mitwirkung der Länder Für die Umsetzung von Richtlinien in einem föderalen Kontext enthält das Unionsrecht, wie ausgeführt, keine spezifischen Bestimmungen, sodass die oben genannten verfassungsrechtlichen Grundlagen maßgeblich sind.114 Ein Staat kann sich gegenüber der EU daher auch nicht auf seine innerstaatliche Struktur zur Rechtfertigung einer verspäteten Umsetzung berufen.115 Auf österreichischer Ebene wesentlich ist dabei nach wie vor Art.  23d B-VG, sowie die bereits 1992 zum EWR abgeschlossene Vereinbarung zwischen Bund und Ländern gemäß Art.  15a B-VG116 über die Mit-

 Vgl. Börger (Fn.  105), S.  151 f. (am Beispiel des Wasserrechts).   Die extensiven Begriffsbestimmungen im KschG sind dabei keine Ausnahme, sondern lediglich repräsentativ für teils autonom implementierte Richtliniengrundsätze. 110   Vgl. die „weder-noch“ Kompetenz unter Punkt 1, bei der weder der Bund noch die Länder explizit zuständig sind und die Umsetzung einer Richtlinie nur nach Änderung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung erfolgen kann, vgl. Öhlinger/Potacs (Fn.  104), S.  98. 111   Das EeFFG (Bundes-Energieeffizienzgesetz 2014) setzt die Richtlinie 2012/27/EU über Energieeffizienz (20 % Energieeffizienzverbesserung EU-weit bis zum Jahr 2020), die Forcierung erneuerbarer Energien und eine ausreichend gesicherte Versorgung um. 112   Vgl. erläuternde Bemerkungen des BMWFW, abruf bar unter: http://www.bmwfw.gv.at/Ener gieUndBergbau/Energieeffizienz/Seiten/Energieeffizienzpaket.aspx. 113  Vgl. Twigg-Flesner, Rechtsvergleichende Studie zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (99/44), S.  49. 114  Vgl. Börger (Fn.  105), S.  143. 115   Zwar anerkennt der Vertrag von Lissabon die Bedeutung der regionalen und lokalen Länderebenen im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung nach Art.  5 Abs.  3 AEUV, allerdings geht dies nicht einher mit einer eigenen Anerkennung an der Rechtsetzung auf Unionsebene. 116   Dieser enthält grundsätzlich die Möglichkeit von Gliedstaatsverträgen zur Regelung von Kostenfragen und wird jährlich zur Aufteilung der Kosten des Staatshaushalts herangezogen, vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht, 2014, S.  123 ff., 209. 108 109

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wirkungsrechte der Länder und Gemeinden in Angelegenheiten der europäischen Integration.117 In der genannten Vereinbarung sind Informationsrechte der Länder gemäß Art.  23d Abs.  1 B-VG, Mitwirkungsmöglichkeiten am österreichischen Standpunkt zu EU-Angelegenheiten gemäß Abs.  2 sowie die zentrale Regelung der Durchführungsverpflichtung der Länder von Unionsrecht festgelegt. Letztere sind mit der Devolutionszuständigkeit des Bundes verbunden, um diesem die Erfüllung seiner unionsrechtlichen Verpflichtungen als faktische Bundesangelegenheit zu ermöglichen.118 Anzumerken ist, dass zur Devolution einer Landeskompetenz an den Bund zuvor einer Feststellung der Nichtumsetzung einer Richtlinie des Landes durch den Europäischen Gerichtshof bedarf, um den Übergang der Kompetenz auf Bundesebene zu rechtfertigen.119 Diese relativ strenge Voraussetzung einer Feststellung durch den Gerichtshof ist allerdings nicht der Grund, weshalb die Devolutionszuständigkeit praktisch so gut wie noch nie wahrgenommen wurde, sondern vielmehr, dass der Bund andere Mechanismen geschaffen hat, um einer verspäteten Umsetzung auf Landesebene zuvor zu kommen.120 Während die Informationspflicht des Bundes gegenüber den Ländern in der Praxis weitgehend reibungslos funktioniert,121 hat sich besonders die Möglichkeit der Länder, an EU-Angelegenheiten durch Stellungnahmen an den Bund mitzuwirken, als essentiell für die Berücksichtigung ihrer Interessen erwiesen.122 In der bisherigen innerstaatlichen Praxis gab es bisher nur vier dokumentierte Abweichungen des Bundes von diesen bindenden Stellungnahmen aus „zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“ i.S.d. Art.  23d Abs.  2 letzter Satz B-VG.123 Andererseits reagierten die Länder im Fall von eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren aufgrund von Art.  23d Abs.  5 B-VG bis auf in einem einzigen Fall124 selbst und kamen

  BGBl 775/1992 i.d.F. BGBl, id.F. BGBl I 2/2008.  Siehe Börger (Fn.  105), S.  144. Die zusätzlich in Art.  23d Abs.  3 B-VG vorgesehene Möglichkeit eines Mitglieds der Landesregierung an Ratssitzungen teilzunehmen, wird in der Praxis nicht wahrgenommen. 119   Siehe Art.  23d Abs.  5 B-VG. 120   Siehe dazu noch unter 4. 121   Dies ist bedingt durch die Koordination der Bundes-und Ländervertreter im Rahmen der Einrichtung zur Richtlinienumsetzung beim Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts, der für eine rechtzeitige Information der kompetenten Stellen sorgt. In jedem Ministerium bzw. in den Ländern gibt es eigene „Umsetzungsbeauftragte“, welche die Richtlinienumsetzung mittels einer vom Bundeskanzleramt eingerichteten Richtliniendatenbank koordinieren und sich jährlich im Rahmen der sog. Umsetzungskommission treffen. Siehe Börger (Fn.  105), S.  148. 122   Mit Stichtag 1.1.2015 haben die Länder 97 einheitliche Länderstellungnahmen gemäß Art.  23d Abs.  2 letzter Satz B-VG abgegeben, die für den Bund wohlgemerkt verbindlich sind. Diese ergingen sowohl zu innerstaatlichen bzw. steuerlichen Themen wie dem Liegenschaftserwerb, als auch zu internationalen Abkommen, wie dem TTIP. Vgl. Rundschreiben des Bundeskanzleramts, BKA-671.982/ 0005-V/7/2012, zuletzt aktualisiert am 15.07.2015. 123   Börger (Fn.  105), S.  144. 124   Dies betraf eine Verordnung zum Bedienstetenschutz, wo ein Zuvorkommen des Bundes erforderlich war, da das Land Kärnten die betreffende Richtlinie als bewusste politische Entscheidung nicht umsetzte. Vgl. dazu Okresek, in: Rosner/Bußjäger (Hrsg.), FS 60 Jahre Verbindungsstelle der Bundesländer, 2011, S.  511, 517; Novak, in: FS Havranek, 2007, S.  160, 172. 117

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ihren notwendigen Umsetzungsverpflichtungen noch vor einem Gerichtshofurteil nach.125 Die österreichischen Bundesländer haben mit der Verbindungsstelle der Länder126 sowie den regelmäßigen Länderkonferenzen zusätzliche Abstimmungsmechanismen eingeführt und übermitteln sich wechselseitig die Ergebnisse ihrer Zuständigkeitsprüfungen.127 Darüber hinaus bearbeitet die Verbindungsstelle Themen, die von länderübergreifendem Interesse sind.128 Besteht eine gleichzeitige Kompetenz von Bundes- oder Landesstellen, so werden bei Bedarf wiederum gemeinsame Arbeitsgruppen gebildet oder unabhängige Koordinationseinrichtungen der jeweils betroffenen Materien genutzt, etwa die interministerielle Arbeitsgruppe, welche sich mit der derzeitigen Verfassung des Bundesgesetzes Cyber Sicherheit (Arbeitstitel) befasst.129 Bei einer teils vorkommenden „doppelten Inkongruenz“, nämlich wenn eine Richtlinie sowohl Bundes- als auch Landeszuständigkeiten erfasst oder innerhalb einer Gebietskörperschaft unterschiedliche Kompetenzen betrifft, kann der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes ebenfalls angerufen werden, und hat eine etwaig bestehende Unklarheit mittels Gutachten zu lösen.130 Zuletzt anzumerken ist, dass ebenfalls auf dieser Vereinbarung aus 1992 der in §  3 Abs.  2 FAG 2008131 eingeführte „Regressanspruch“ des Bundes beruht, wonach im Fall der Verurteilung der Republik Österreich im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art.  260 AEUV aufgrund einer verspäteten Richtlinienumsetzung, der Bund diese Kosten von den verursachenden Ländern zurück fordern kann.132 Trotz der Einleitung einiger Vertragsverletzungsverfahren133 wurde ein derartiges Bußgeldurteil gegen Österreich noch nicht verhängt.

 Siehe Börger (Fn.  105), S.  145.   Diese ist an der Ständigen Vertretung Österreichs bei der Europäischen Union neben den Bundesdienststellen angesiedelt. Vgl. https://www.bmeia.gv.at/europa-aussenpolitik/europapolitik/oester reich-in-der-eu/verbindungsbueros-der-bundeslaender/. 127   Mittlerweile sind alle neun Landeshauptleute (vergleichbar mit den Landesministern der deutschen Bundesländer), bisweilen vertreten von ihren Landtagspräsidenten, als Repräsentanten ihrer Bundesländer ebenso Mitglieder des EU-Regionalausschusses, wie drei Vertreter des Österreichischen Gemeinde- und Städtebundes, der im Unterschied zur Landeshauptmännerkonferenz im B-VG verankert ist. Siehe Art.  23c Abs.  4 B-VG. Eingehend Schambeck, Politische und rechtliche Entwicklungstendenzen der europäischen Integration, Vortrag G 363, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, S.  19. 128   Für die besonderen Interessen einzelner Bundesländer unterhalten diese selbst Verbindungsstellen bzw. Informationsbüros in Brüssel. 129   Diese leitet die derzeitige Umsetzung der NIS Richtlinie (EU 2016/1148), die einen Rechtsrahmen für die Prävention gegen Sicherheitsvorfälle, die Netz- und Informationssysteme betreffen, schaffen soll und von den Mitgliedstaaten bis zum Mai 2018 umzusetzen ist. 130   Börger (Fn.  105), S.  143, 147. 131   Finanzausgleichsgesetz 2008. 132  Vgl. Posch/Riedl, in: Mayer/Stöger (Hrsg.) EUV/AEUV, Art 260 (2013), Rn.  113. 133   Zuletzt aufgrund der verzögerten Umsetzung des Richtlinienpaktes über die Konzessionsvergabe und die Vergabe öffentlicher Aufträge (Richtlinie 2014/23/EU und Richtlinie 2014/24/EU). Siehe https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Begut/BEGUT_COO_2026_100_2_1339500/COO_2026_ 100_2_1339518.html. 125

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4.  Möglichkeiten zur rechtzeitigen Umsetzung auf Landesebene Zur Verhinderung einer Staatshaftung aufgrund verspäteter Umsetzung von Richtlinien durch die Länder hat sich der Bund in der Praxis folgender verfassungsrechtlicher Möglichkeiten bedient:

a)  Abschluss einer „Art.  15a B-VG-Vereinbarung“ Art.  15a B-VG ermöglicht den Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge zwischen Bund und Ländern oder zwischen den Ländern untereinander. Diese Vereinbarungen können bestehende Gesetze und Verordnungen nicht per se ändern, sondern nur die gebundene Vertragspartei verpflichten, dies zu tun. Zweck derartiger Vereinbarung ist die freiwillige Koordination zwischen Bund und Ländern in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen. Der Kern der Vereinbarung liegt in der inhaltlichen Determinierung von geplanten Regelungen und der Wahrnehmung gesetzgeberischer Zuständigkeiten bzw. deren Verschiebungen zwischen den beiden Gebietskörperschaften. Ein Beispiel für eine derartige Vereinbarung erging im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2013/33/EU über Normen zur Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen.134

b)  Gebrauch der „Bedarfskompetenz“ gem. Art.  11 Abs.  2 B-VG Für den Fall des Fehlens der expliziten Kompetenzzuweisung einer Materie im B-VG gilt grundsätzlich, dass nach dem inhaltlichen Konnex der Materie der Bundes- oder Landesgesetzgeber der Hauptmaterie für den Erlass von Regelungen zuständig ist.135 Mit Art.  11 Abs.  2 B-VG besteht jedoch eine Ausnahme von dieser Annex-Kompetenzzuweisung dann, wenn ein „Bedürfnis“ nach dem Erlass einheitlicher Vorschriften besteht. In diesem Fall kann der Bund die Kompetenz der Regelung einer Materie an sich ziehen (sog. „Bedarfskompetenz“). Für den Bereich der Abfallwirtschaft, deren gesetzlicher Rahmen Großteils auf EU-Richtlinien136 auf baut, machte der Bund etwa umfangreich von dieser Bedarfskompetenz Gebrauch.137  Vgl. https://www.dossier.at/fileadmin/uploads/asyl/quellen/Richtlinie%20Mindesstandards% 20Nov.%202013.pdf. 135   Beispielsweise gab es bis 1988 keinen Kompetenztatbestand für die „Abfallwirtschaft“, weshalb je nach dem, ob die Regelung eine Verbindung zum Gewerbe-, Wasser- oder Naturschutzrecht aufwies, der zuständige Landes- oder Bundesgesetzgeber aktiv werden musste. 136   Vgl. Industrieemissionsrichtlinie 2010/75/EU, die IVU-Richtlinie 2008/1/EG, die EU-Abfall Richtlinie 2008/98/EG, sowie Richtlinie 2014/955/EU und Richtlinie 2015/1127. 137   Die umfassendste Inanspruchnahme erfolgte mit BGBl. I Nr.  102/2002 zum Erlass des Abfallwirtschaftsgesetz (AWG) 2002. Im AWG wurden erstmals auch nicht gefährliche Abfälle bundes­ einheitlichen Regeln unterworfen und somit der Regelungskompetenz der Länder entzogen. Bei der Umsetzung von Umweltangelegenheiten dagegen wurde der föderale Weg der Adaption zahlreicher Materiengesetze auf Bundes- und Landesebene gewählt. Daneben wurde auf Bundesebene das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 auf Basis der Richtlinie 2001/35/EG, der Richtlinie 2011/92/ EU und der Richtlinie 2014/52/EU erlassen. 134

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c)  Kompetenzverschiebungen per Verfassungsbestimmung Beim Erlass von Ausführungsgesetzen europäischer Richtlinien wird zur Vermeidung innerstaatlicher Kompetenzkonflikte oftmals die Kompetenz des Bundesgesetzgebers per Verfassungsbestimmung normiert. Da eine explizite Kompetenzzuweisung außerhalb des B-VG eine Bestimmung im Verfassungsrang erfordert, sind hierfür die erhöhten Präsens- und Konsens-Quoren notwendig.138

V. Zwischenergebnis Die Untersuchungen zur Rechtslage in Deutschland, Italien, Spanien und Österreich konnten zeigen, dass Schwierigkeiten bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in allen vier Mitgliedstaaten ein Dauerthema sind. Was ihre Lösung anbelangt, so fällt zunächst die Heterogenität der Instrumente auf, die auf der begrifflichen Ebene beginnt – „Bundeszwang“, „Ergänzungsklauseln, „Ersetzungsbefugnis“, „Art.  15a B-VG-Vereinbarung“ usw. – und sich bei den Arten und der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Mechanismen fortsetzt. So konzentriert sich die Diskussion in Deutschland auf eine Lösung der primär im Umweltrecht beheimateten Umsetzungsprobleme über eine Reform der Kompetenzregeln des GG zu Gunsten des Bundes, während der Bundesstaat Österreich eine weitaus differenziertere Umsetzungstechnik entwickelt hat, die auf eine flexible Abstimmung von Bund und Ländern sowie der Länder untereinander abzielt. In Italien und Spanien gilt die Eingriffsbefugnis des Mitgliedstaates im Fall inadäquater Rechtssetzung der Regionen bzw. der Autonomen Gemeinschaften als der zentrale Mechanismus bei Umsetzungsproblemen, wobei in Italien die Besonderheit besteht, dass dort auch die Regionen eine Untätigkeit des Mitgliedstaates kompensieren könnten, indem sie an seiner Stelle Richtlinien umsetzen (sog. umgekehrte Nachgiebigkeit). Ungeachtet dieses ersten Eindrucks der Heterogenität mitgliedstaatlicher Lösungsangebote soll im nächsten Teil der Untersuchung danach gefragt werden, ob sich in den nationalen Rechtsordnungen gemeinsame Regelungsstrukturen ausmachen lassen, um die Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten zu verbessern.

B.  Die Instrumente Auf der Basis der Erfahrungsberichte sollen die bestehenden Instrumente der Mitgliedstaaten nach ihrer Wirkungsweise analysiert und hierfür in drei Kategorien ­unterteilt werden: Die erste Kategorie bilden die normativen Instrumente, zu der die Untergruppen Kompetenzordnung (I.) und Ersatzvornahme (II.) zählen. Diese Instrumente gehen das Umsetzungsproblem typisch rechtlich, d.h. über eine Aufgabenverteilung bzw. über Zwang an. Die zweite Kategorie der weichen Instrumente (III.) 138   Vgl. §  1 EeFFG. Erforderlich sind eine Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Nationalrats­ abgeordneten und der Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit.

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umfasst informelle und kooperative Mechanismen. Zuletzt sind ökonomische Instrumente zu nennen, zu der der Regressanspruch (IV.) zählt; dieser ist zwar gesetzlich verankert und insofern normativer Art, jedoch zeichnet er sich dadurch aus, dass er die fehlende Umsetzungswilligkeit der Glieder durch eine negative ökonomische Anreizsetzung in den Griff zu bekommen versucht. Die einzelnen nationalen Ausprägungen dieser drei Kategorien von Umsetzungsinstrumenten sind nur zum Teil, wie etwa die Ersetzungsbefugnis in Italien oder der deutsche Regressanspruch nach Art.  104a Abs.  6 S.  1 GG, Instrumente, die ausschließlich dazu konzipiert sind, die Umsetzungsdefizite des Mitgliedstaats zu bewältigen. Häufig betreffen die Instrumente hingegen auch kompetenzrechtliche Konstellationen ohne Unionsrechtsbezug. Die formelle Frage, ob das jeweilige Instrument Umsetzungsdefiziten vorbehalten ist, spielt jedoch keine entscheidende Rolle für die Untersuchung. Ausgehend vom Ziel des Beitrags, der Identifizierung gemeinsamer Instrumente zur Gewährleistung effektiver Richtlinienumsetzung, sollen sämtliche Mechanismen in den nationalen Rechtsordnungen einbezogen werden, die von den Mitgliedstaaten hierzu eingesetzt werden oder lediglich einen solchen Effekt haben. Neben der Systematisierungsleistung geht es in diesem zweiten Teil auch darum, das Instrumentarium im Hinblick auf seine Eignung für die Umsetzung von Europarecht, aber auch in Hinblick auf die Rücksichtnahme auf die staatlichen Untergliederungen zu bewerten.

I. Kompetenzordnung Der Blick in die Mitgliedstaaten lässt drei Grundmodelle erkennen, mittels einer Kompetenzverteilung die Richtlinienumsetzung zu verbessern:

1. Hochzonung Mängel bei der raschen Richtlinienumsetzung werden zum einen dadurch gelöst, dass man die Gesetzgebungskompetenzen des Mitgliedstaates zu Lasten der Untergliederungen stärkt. Denn dadurch geht man komplexen Koordinationsfragen von vornherein aus dem Weg. Eine solche Hochzonung war der Fall bei der Föderalismusreform I in Deutschland, die besonders die Zuständigkeiten des Bundes im Bereich des Umweltrechts stärkte. In Österreich ist es die Bedarfskompetenz des Bundes,139 die auf eine solche Hochzonung zielt. In Spanien spielt der Zentralstaat traditionell die Hauptrolle bei der Richtlinienumsetzung. Dafür stützt er sich regelmäßig auf Kompetenztitel, deren Anwendungsbereich sehr weit ausgelegt wird. Am häufigsten stützt sich der zentralstaatliche Gesetzgeber auf seine ausschließliche Kompetenz im Bereich der Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftsplanung nach 139   Art.  11 Abs.  2 B-VG: „Soweit ein Bedürfnis nach Erlassung einheitlicher Vorschriften als vorhanden erachtet wird, werden das Verwaltungsverfahren, die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes, das Verwaltungsstrafverfahren und die Verwaltungsvollstreckung auch in den Angelegenheiten, in denen die Gesetzgebung den Ländern zusteht, durch Bundesgesetz geregelt.“ (Betonung hinzugefügt).

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Art.  149 Abs.  1 S.  13 der spanischen Verfassung. Daher kann man in Spanien von einer indirekten oder faktischen Hochzonung sprechen.140 Das Problem dieser ersten kompetenziellen Lösung ist, dass sie – gerade wegen der zunehmenden Europäisierung – die Gesetzgebungskompetenzen der Untergliederungen auszuhöhlen droht. Das ist jedenfalls die Wahrnehmung in Bundesstaaten. Dort werden dementsprechend Kompetenzausübungsschranken, wie das Erfordernis eines Bedürfnisses oder – wie seit der Föderalismusreform I in Deutschland – Abweichungsbefugnisse der Glieder, zugelassen. Diese Schranken der Hochzonung können allerdings Konfliktherde schaffen, die die zügige Richtlinienumsetzung hemmen. Aber auch in nicht-bundesstaatlich organisierten Mitgliedstaaten steht man der Hochzonung teils skeptisch gegenüber: Für Italien wäre eine Hochzonung ein Rückschritt, da die gegenwärtige Beteiligung der italienischen Regionen in der ansteigenden sowie absteigenden Phase des europäischen Rechtssetzungsprozesses das Produkt eines langen Entwicklungsprozesses ist. Ganz anders ist die Situation in Spanien. Denn die autonomen Gemeinschaften wirken der Kompetenzverteilung zu Gunsten der Zentrale nicht aktiv entgegen. Hintergrund dieser Haltung der autonomen Gemeinschaften ist, dass der Detailgrad europäischer Richtlinien fast keine Gestaltungsfreiheit für innerstaatliche Behörden lässt und die Wahrnehmung von deren Integration in das autonome Recht der Gemeinschaften somit nicht von großer Bedeutung ist.

2. Kooperation In Österreich gibt es mit Art.  15a B-VG die Möglichkeit öffentlich-rechtliche Verträge zwischen Bund und Ländern abzuschließen, mittels derer auch Kompetenzen verteilt bzw. verschoben werden können. In Deutschland wurde dieses Kooperationsmodell nur in der Wissenschaft diskutiert.141 Auch Spanien und Italien kennen das Kooperationsmodell nicht. Die Effektivität dieser zweiten kompetenziellen Lösung scheint auch auf den ersten Blick fragwürdig, vor allem im Hinblick auf Uneinigkeiten zur konkreten Zuständigkeit der Umsetzung.142 Bei Untergliederungen, bei denen nicht der mangelnde Wille zur Umsetzung, sondern die fehlende Fähigkeit hierzu der Grund für Umsetzungsdefizite ist, kann die Möglichkeit der kooperativen Kompetenzverteilung aber eine adäquate Option sein, um die Richtlinienumsetzung zu optimieren.

3. Flexibilisierung Das dritte kompetentielle Modell, die Flexibilisierung der Kompetenzordnung, bedeutet, dass der Mitgliedstaat im Einzelfall – und nicht generell wie bei der Hochzo140   Vgl. in diesem Sinne den Bericht des Spanischen Staatsrats (Consejo de Estado) vom 15.12.2010, S.  9 0 ff.; abruf bar unter http://www.consejo-estado.es/pdf/derecho%20comunitario.pdf. 141   Rehbinder/Wahl (Fn.  6), S.  28: „freiwillige Lösung per verfassungsrechtlicher Ermächtigungsklausel“. 142   Zum Risiko des Scheiterns ebenda, die aber auf Lernprozesse setzen.

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nung – sowie einseitig – im Unterschied zum zweiseitigen Kooperationsmodell – seine Umsetzungskompetenz zu Lasten der Untergliederungen begründen kann. In diesem Sinne sieht Österreich mit dem Instrument der Kompetenzverschiebung per Verfassungsbestimmung außerhalb des B-VG eine weitere kompetenzielle Lösung für das Umsetzungsproblem vor. Danach kann bei Erlass von Umsetzungsgesetzen die Kompetenz des Bundesgesetzgebers in jenem Gesetz per Verfassungsbestimmung begründet werden. Hintergrund für diese Lösung ist, dass in Österreich Verfassungsbestimmungen auch außerhalb des B-VG möglich sind, soweit die erforderlichen Präsenz- und Konsens-Quoren eingehalten sind.143 Das ermöglicht dem Mitgliedstaat einerseits auf absehbare Widerstände oder Umsetzungsschwierigkeiten auf Ebene der Untergliederungen flexibel zu reagieren. Andererseits sind die Untergliederungen über die erhöhten prozeduralen Voraussetzungen vor voreiligen Übergriffen in ihre Kernzuständigkeiten geschützt. In Italien verwirklicht sich eine derartige Flexibilisierung durch die im ersten Teil beschriebenen „nachgiebigen Vorschriften“, die zugleich dem Instrument der Ersatzvornahme zugerechnet werden können und daher dort näher beschrieben werden.144 Spanien und Deutschland kennen eine Flexibilisierung im engeren Sinne zwar nicht. Allerdings sind die Übergänge des Modells der Flexibilisierung zum Modell der Hochzonung fließend, wenn es – wie in Spanien oder in Deutschland vor der Föderalismusreform I – zugelassen wird, dass die Kompetenztitel des Mitgliedstaates weit ausgelegt werden, um akuten Umsetzungsbedürfnissen Rechnung zu tragen, denn dann kann der Mitgliedstaat ebenfalls im Einzelfall einseitig eine Kompetenz zur Richtlinienumsetzung für sich begründen.

II. Ersatzvornahme In allen vier Mitgliedstaaten finden sich hierarchische Mechanismen, die eine fehlende Umsetzungswilligkeit durch die Ausübung von Zwangsgewalt überwinden sollen. In Anlehnung an die allgemeine Zwangsmittelmitteldogmatik soll diese Kategorie mit dem Begriff der Ersatzvornahme bezeichnet werden, da sie eine Pflichtverletzung voraussetzt, die dann eine Eintrittsbefugnis, in Form des Erlasses von Gesetzen begründet. Die landesspezifischen Bezeichnungen für die Ersatzvornahme sind variantenreich: In Deutschland spricht man von Bundeszwang, in Italien von Ersetzungsbefugnis, in Spanien von der Ergänzungsklausel und in Österreich von Devolutionszuständigkeit. Ein weiterer Unterschied zwischen den nationalstaatlichen Ausprägungen liegt darin, dass der deutsche Bundeszwang und die spanische Ergänzungsklausel allgemein Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Ebene bei Pflichtverletzungen durch die Untergliederungen erlaubt, während sich die italienische Ersetzungsbefugnis und die österreichische Devolutionszuständigkeit speziell auf die – hier interessierenden – Umsetzungsdefizite beziehen. Da der deutsche Bundeszwang und die spanische 143   Erforderlich sind nach Art.  4 4 B-VG die Anwesenheit von zumindest der Hälfte der Abgeordneten und zumindest 2/3 Zustimmung der faktisch Abstimmenden. 144   Siehe dazu sogleich unter II.

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Ergänzungsklausel jedoch auch eine Ersatzvornahme der mitgliedstaatlichen Ebene durch den Erlass von Gesetzen vorsehen,145 d.h. auch eine spezielle Umsetzungsaufsicht erfassen, stellen auch sie eine Form der Ersatzvornahme dar.

1.  Nationale Eigenheiten Während die Ersatzvornahme danach regelmäßig zu Gunsten des Mitgliedstaates besteht, ist die Situation in Italien insofern bemerkenswert, als dem Verfassungsgericht zufolge146 auch die Regionen die staatliche Umsetzung des Europarechts vorverlegen und das Prinzip der Nachgiebigkeit umkehren können. Trotzdem ist der theoretisch mögliche Gebrauch der regionalen Nachgiebigkeitsklauseln praktisch irrelevant und auf jeden Fall problematisch, da die Rechtssicherheit hinsichtlich des finalen Charakters von Durchführungsvorschriften des Europarechts beeinträchtigt werden kann.

2.  Grenzen der Ersatzvornahme Die Geeignetheit der Ersatzvornahme als Instrument für die Richtlinienumsetzung wird in den vier Mitgliedstaaten aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen meist skeptisch betrachtet: – In Deutschland, das durch starke Bundesländer und ein antagonistisches politisches Mächteverhältnis auf Bundes- und Landesebene gekennzeichnet ist, birgt die Ausübung des Bundeszwangs einen großen Konfliktherd und ist daher für eine rasche Richtlinienumsetzung nicht adäquat. In der deutschen Bundesrepublik kommt hinzu, dass man Streitigkeiten lieber durch die dritte Gewalt entscheiden lässt; der Bundeszwang wird daher als antiquiert aufgefasst und in der Praxis durch den „Gang nach Karlsruhe“ ersetzt. – Auch in Spanien wird der sog. Zentralstaatszwang gemäß Art.  155 der Verfassung147 als ungeeignete Abhilfemaßnahme bei Nichterfüllung der Umsetzungspflicht der Autonomen Gemeinschaften betrachtet. Seine Verwendung sei im Prinzip nur in Extremfällen vorstellbar, so etwa wenn eine Autonome Gemeinschaft keine besonderen Hindernisse für die Richtlinienumsetzung zu erwarten hätte und trotzdem ihrer kompetenziellen Umsetzungspflicht nicht nachkommt.   Für Deutschland Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  37 Rn.  85.   Corte costituzionale, Urteil 238/2006. 147   „(1) Wenn eine Autonome Gemeinschaft die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, dass ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt, so kann die Regierung nach vorheriger Aufforderung an den Präsidenten der Autonomen Gemeinschaft und, im Falle von deren Nichtbefolgung, mit der Billigung der absoluten Mehrheit des Senats die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Gemeinschaft zur zwangsweisen Erfüllung dieser Verpflichtungen anzuhalten oder um das erwähnte Interesse der Allgemeinheit zu schützen. (2) Zur Durchführung der in Abs.  1 vorgesehenen Maßnahmen kann die Regierung allen Behörden der Autonomen Gemeinschaften Weisungen erteilen.“ 145

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Es geht um einen Mechanismus, der nur als ultima ratio verwendet werden kann.148 Tatsächlich wurde er bisher nur im gegenwärtigen Kontext der politischen Krise Kataloniens benutzt, um die Mitglieder der katalanischen Regierung zu entlassen und Wahlen in dieser Autonomen Gemeinschaft auszurufen.149 – In Österreich ist die Situation vergleichbar mit jener in Deutschland und Spanien. Da eine Devolutionszuständigkeit gemäß Art.  23d Abs.  5 des B-VG nur nach einer entsprechenden Entscheidung des EuGH erfolgen kann, ist sie die seltene Ausnahme. Da in der österreichischen Praxis zur Klärung der Umsetzungszuständigkeit am Beginn das Bundeskanzleramt steht, das alle Ministerien sowie die Länder über neu erschienene Richtlinien informiert,150 soll dieser Mechanismus nur bei dezidierten Uneinigkeiten zwischen Bund und Ländern heranzuziehen sein.151 – In Italien wird dagegen die Ersetzungsbefugnis des Zentralstaates in Fällen der Untätigkeit der Regionen für die Anwendung und Durchführung von Rechtsakten der EU regelmäßig als notwendig betrachtet. Die explizite Anerkennung der zentralstaatlichen Ersetzungsbefugnis sowohl durch die Verfassungsgerichtsrechtsprechung als auch durch den Verfassungsgesetzgeber unterstreicht das. Weil die Ersatzvornahme in den Mitgliedstaaten als eine einschneidende Maßnahme bewertet wird, wird sie von Schutzgarantien flankiert. Derartige Garantien zielen darauf ab, den Kompetenzbereich der Untergliederungen aufrechtzuerhalten, können allerdings die zügige Umsetzung von Richtlinien hemmen. – In Italien untergliedert man diese Schutzgarantien in solche zeitlicher, materieller, formeller sowie technischer Art: Zeitlich treten die Ersatzvorschriften des Zentralstaats erst nach Ablauf der für die Durchführung europäischer Vorschriften für die Regionen festgesetzten Frist in Kraft. Materiell verlieren die zentralstaatlichen Vorschriften ihre Wirksamkeit, soweit die Regionen und autonomen Provinzen eigene Durchführungsbestimmungen erlassen und sich ihrer Kompetenz somit wieder aneignen. Formell müssen Staatsvorschriften eine Kennzeichnung ihrer Ersetzungsnatur aufweisen und damit ihren nachgiebigen Charakter verdeutlichen. In technischer Hinsicht werden die Regionen über die Notwendigkeit einer Anpassung ihrer Gesetze an europäische Vorgaben informiert und erhalten eine Frist, um für deren Umsetzung zu sorgen. Außerdem unterstehen die Ersetzungsvorschriften des Staates einer präventiven Stellungnahme der erwähnten permanenten Konferenz, die die kompetenziellen Verhältnisse zwischen Staat, den Regionen und den autonomen Provinzen abgleicht. – Obgleich das spanische Verfassungsgericht in seinen Beschlüssen Nr.  130/2013 und 135/2015 keine verfahrensrechtlichen Garantien zur Verwendung der Ergän148   So hat sich der Spanische Staatsrat (Consejo de Estado) in seinem Bericht zur Gewährleistung für die Erfüllung vom Europarecht v. 15.12.2010 geäußert, S.  127. Der Staatsrat betont auch, dass eine gesetzliche Regelung des Mechanismus, die in der Spanischen Rechtsordnung noch fehlt, notwendig ist, S.  253. 149   Nach der Erklärung der Unabhängigkeit Kataloniens durch das regionale Parlament wurde die spanische Regierung vom nationalen Senat ermächtigt, die obengenannten Maßnahmen zu treffen; siehe dazu das Dekret Nr.  944/2017 und das Dekret Nr.  946/2017 unter https://www.boe.es/boe/ dias/2017/10/28/index.php?d=261. 150  Siehe Börger (Fn.  105), S.  148. 151  Vgl. Ranacher, in: Hummer/Oberwexer (Hrsg.), 10 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, 2006, S.  256.

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zungsklausel traf, ist ein gewisser Einfluss des italienischen Modells auszumachen. So schlug der Staatsrat noch vor diesen verfassungsrechtlichen Beschlüssen vor, die Ergänzungsklausel ebenfalls mit Berücksichtigung zeitlicher, materieller und formeller Garantien unter expliziter Erwähnung des italienischen Modells anzuwenden. Dementsprechend forderte der Staatsrat die Ergänzungsklausel solle dem Zentralstaat nur dann erlauben Umsetzungsvorschriften zu erlassen, wenn die zuständigen Autonomen Gemeinschaften keine Maßnahme zur effektiven Richtlinienumsetzung getroffen hätten. Die Existenz einer gültigen Rechtsvorschrift der Autonomen Gemeinschaft verbiete nach dieser Ansicht die zusätzliche Anwendbarkeit zentralstaatlichen Rechts.152 – In Deutschland setzt die Anwendung des Bundeszwangs die Zustimmung des Bundesrates voraus, Art.  37 Abs.  1 GG. – In Österreich ist Voraussetzung die Verurteilung durch den EuGH im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens, weswegen die Devolutionszuständigkeit vom Bund noch nie wahrgenommen wurde.153

III.  Weiche Instrumente Weiche Instrumente zielen darauf ab, die Koordination der Untergliederungen bei der Richtlinienumsetzung zu optimieren und Konflikte informell zu lösen. Sie haben gewisse Gemeinsamkeiten mit dem kooperativen Kompetenzmodell (s.o. I.2.). Im Unterschied zu diesem zielen sie nicht auf eine Änderung des Kompetenztitels ab, aber sie komplementieren das Umsetzungssystem dadurch, dass sie eine rasche Richtlinienumsetzung ebenfalls auf eine konsensorientierte Weise und damit ohne politische oder finanzielle Erzwingung ermöglichen sollen. Dementsprechend nehmen sie regelmäßig die Form von Gremien oder ähnlichen Ebenen übergreifenden Regelungsstrukturen an. Besonders ausgeprägt sind die weichen Instrumente in Österreich. Zu nennen ist hier etwa die Umsetzungskommission des österreichischen Bundeskanzleramtes, die zur Klärung der Umsetzungszuständigkeit jeweils am Beginn des nationalen Prozesses steht und alle Ministerien sowie die Länder über neu erschienene Richtlinien informiert. In jedem Ministerium bzw. in den Ländern gibt es dafür eigene Umsetzungsbeauftragte, die die Richtlinienumsetzung koordinieren und sich jährlich im Rahmen dieser Kommission treffen. In weiterer Folge prüfen die jeweiligen Ministerien oder zuständigen Länderstellen ihre Zuständigkeiten inklusive der konkret zu ändernden Materien und Gesetze sowie den jeweiligen Zeitrahmen und schaffen unter dem Vorsitz des Bundeskanzleramtes bei Bedarf Arbeitsgruppen zur Koordi152   Bericht zur Gewährleistung für die Erfüllung vom Europarecht v. 15.12.2010, S.  113 und 233 ff. Ein solches Verständnis der verfassungsrechtlichen Disziplin wurde auch in der Rechtslehre plädiert, vgl. Rodríguez Portugués (Fn.  91), 1680 ff. Allerdings wurde sie in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Rsp. in der Praxis noch nicht umgesetzt. 153  Vgl. Börger (Fn.  105), S.  145. Grund sind auch die anderen bereits beschriebenen Mechanismen, wie der „Art 15a-Vereinbarung“, dem Gebrauch der Bedarfskompetenz (Art.  11 Abs.  2 B-VG), sowie der Koordinierung im Rahmen des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramts (wo auch über den Erlass möglicher eigener Verfassungsbestimmungen zur Richtlinienumsetzung beraten wird).

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nierung der Umsetzung. Hierbei wird zeitnah nach Erlass von Richtlinien für alle relevanten Stellen ersichtlich, wer für eine Umsetzung zuständig erachtet wird bzw. inwiefern es hier noch Abstimmungsbedarf gibt, etwa wenn einige Länder eine Zuständigkeit beanspruchen, andere hingegen nicht. Die österreichischen Bundesländer haben mit der Verbindungsstelle der Länder sowie der regelmäßigen Länderkonferenzen untereinander noch eine zusätzliche Abstimmung eingefügt und übermitteln sich hier wechselseitig die Ergebnisse ihrer Zuständigkeitsprüfungen. Darüber hinaus bearbeitet die Verbindungsstelle Themen, die von länderübergreifendem Interesse sind. Besteht eine gleichzeitige Kompetenz von Bundes- oder Landesstellen, so werden bei Bedarf wiederum gemeinsame Arbeitsgruppen gebildet oder unabhängige Koordinationseinrichtungen der jeweils betroffenen Materien genutzt, etwa die interministerielle Arbeitsgruppe, welche sich mit der derzeitigen Verfassung des Bundesgesetzes Cyber Sicherheit (Arbeitstitel) befasst. Bei einer teils vorkommenden „doppelten Inkongruenz“, nämlich wenn einer Richtlinie sowohl Bundes- als auch Landeszuständigkeiten erfasst oder innerhalb einer Gebietskörperschaft unterschiedliche Kompetenzen betrifft, kann der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes ebenfalls angerufen werden und hat eine etwaig bestehende Unklarheit mittels Gutachten zu lösen. In Deutschland erfolgt die Koordination zwischen Bund und Ländern über die formalen Gremien und v.a. informellen Netzwerke des Bundesrates, der Bund-Länder-Fachministerkonferenzen, der Bund-Länder-Arbeitsgruppen und der eigens eingerichteten Lenkungsgruppen.154 Im Umweltbereich etwa erfolgt die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf verschiedenen Ebenen.155 Oberstes Entscheidungsgremium für alle Umweltbereiche ist die 1973 eingerichtete Umweltministerkonferenz (UMK). Die UMK hat verschiedene Arbeitsgremien (Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaften und Länderausschüsse), in denen sich regelmäßig Vertreter der Fachverwaltungen von Bund und Ländern treffen, um einen einheitlichen Verwaltungsvollzug vorzubereiten und die Aufträge zu bearbeiten. In Italien besteht mit der Ständigen Konferenz für die Beziehungen zwischen Staat, Regionen und den Autonomen Provinzen von Trient und Bozen ebenfalls ein weiches Instrument. In dessen Informationsverfahren unterrichten der Ministerpräsident und der Minister für Europa-Angelegenheiten alle sechs Monate die Kammern des Parlaments über den Stand der Umsetzung der europäischen Richtlinien aus den Regionen und den Autonomen Provinzen in den Sachgebieten ihrer Kompetenz.156 Zu diesem Zweck beruft das Präsidium des Ministerrats jährlich die Regionen und Autonomen Provinzen im Rahmen der Ständigen Konferenz zur „europäischen Sitzung“ ein, die mit der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs des sog. europä­ ischen Bevollmächtigungsgesetzes und des sog.europäischen Gesetzes gemäß Artikel 29 befasst ist.157 154   Börzel, in: Schmidt/Zohlnhöfer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, 2006, S.  491, 502; Derpa, in: Scheller/Schmid (Hrsg.), Föderale Politikverflechtung im deutschen Bundesstaat, 2008, S.  148, 157 f. 155   Allgemein BT-Drs. 16/4690, S.  98 f. 156   Vgl. Art.  4 0 Abs.  1 und 5 des Gesetzes Nr.  234/2012. 157  Außerdem werden die Ersatzvorschriften des Staates der präventiven Überprüfung durch die

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In Spanien besteht ein Ausschuss zu europäischen Angelegenheiten, dessen Rolle allerdings in erster Linie darin besteht, die Teilnahme der Autonomen Gemeinschaften an der europäischen Rechtssetzung zu garantieren, und nicht – wie das bei den weichen Instrumenten der Fall ist – die Richtlinienumsetzung. Allerdings werden in diesem Rahmen bisweilen auch Informationen bezüglich Umsetzungsschwierigkeiten ausgetauscht, so dass man den spanischen Ausschuss zu europäischen Angelegenheiten als ein weiches Instrument in einem weiten Sinne bezeichnen kann.

IV. Regress Ein ökonomisches Instrument, das sich in allen vier Mitgliedstaaten findet, sind Regressansprüche zu Gunsten des Mitgliedstaates, mit denen er den Schaden, der ihm durch Umsetzungsdefizite in Form von Strafzahlungen entstanden ist und für den er gegenüber der Union einstehen muss, an die verantwortlichen Untergliederungen weitergeben kann. Allerdings haben Regressansprüche die Förderung der raschen Richtlinienumsetzung nur mittelbar zum Ziel. Zunächst geht es um die Frage der Kostentragung. Da die Aussicht auf eine ökonomische Sanktion die Untergliederungen dazu anhalten kann, Richtlinien rechtzeitig umzusetzen, wirken sie dennoch auch präventiv. Die Effektivität dieses Instruments hängt stark von der Ausgestaltung des Regressanspruchs und seinen Durchsetzungsbedingungen ab. Ist die Chance des Mitgliedstaates gering, seinen Schaden erstattet zu bekommen, sinkt auch das Risiko der Untergliederungen, in Anspruch genommen zu werden. Dann kann der Regressanspruch nicht mehr präventiv wirken. In diesem Sinne war die unklare rechtliche Situation in Deutschland der Anlass dafür, den Regressanspruch in Art.  104a Abs.  6 GG explizit zu normieren;158 zudem ist der deutsche Regressanspruch auf das Verursacherprinzip159 und nicht das strengere Verschuldensprinzip gestützt. Der aufgezeigte Zusammenhang zwischen den Durchsetzungsbedingungen und der präventiven Wirkung des Regressanspruchs verdeutlicht auch die Situation in Italien. Dort erweist sich der Regressanspruch als nicht besonders wirksam. Denn der italienische Staat zeigt aus politischen Gründen eine gewisse Zurückhaltung, auf dieses Instrument zurückzugreifen. Der Regressanspruch wurde bis jetzt nur in seltenen Fällen gegen Gemeinde nach Verurteilungen des EGMR benutzt. Die präventive Wirkung des Regressanspruchs ist v.a. dann bedeutsam, wenn andere Umsetzungsinstrumente versagen oder als ungenügend betrachtet werden. Umgekehrt heißt das, dass seine Rolle gering ist, wenn andere Instrumente als funktionstüchtig betrachtet werden: So ist der Regressanspruch in Spanien bei der NichStändige Konferenz für die Beziehungen zwischen Staat, Regionen und den Autonomen Provinzen von Trient und Bozen unterstellt, vgl. Artikel 41 Abs.  1 des Gesetzes Nr.  234/2012. 158   Erfasst sind alle Fälle staatlichen Fehlverhaltens, gleich ob durch Gesetzgeber, Verwaltung oder Rechtsprechung. 159   Vgl. BT-Drs. 16/913, 19 sowie §  1 Abs.  2 LastentragungsG. Der Verursachungsbeitrag geht dabei mit der Möglichkeit einer gesetzlichen Weiterübertragung innerhalb des jeweiligen föderalen Verbandes einher, etwa auf Träger der mittelbaren Stadtverwaltung, vgl. Heintzen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, 2012, §  104a, Rn.  62.

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tumsetzung von Richtlinien durch Autonome Gemeinschaften noch nie zur Anwendung gekommen. Zu vermuten ist, dass das damit zusammenhängt, dass der spanische Staat eine starke kompetenzielle Stellung innehat. Auch in Österreich hat der Bund bislang noch nicht auf seine Regressmöglichkeit, die er nach §  3 Abs.  2 FAG 2008 innehat,160 zurückgegriffen. Der Hintergrund dafür ist, dass es bislang noch keine Bußgeldurteile gegen Österreich gab. Die kompetentiellen Instrumente zur Richtlinienumsetzung scheinen in Österreich gut zu funktionieren.

C.  Unionsrechtliche Perspektive Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob die im zweiten Teil beschriebenen Instrumente, die eine effektive Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten sicherstellen sollen, auch auf europäischer Ebene relevant werden könnten. In rechtstechnischer Hinsicht kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht, um den Instrumenten eine solche Unionsrechtsrelevanz zu verleihen: Die EU könnte zum einen das nationale Recht harmonisieren, indem sie sachbereichsspezifisch, etwa in umweltrechtlichen Richtlinien, die Mitgliedstaaten ausdrücklich verpflichtet, bestimmte Instrumente zu ergreifen. Zum anderen könnte sie die nationalen Rechtsordnungen mittelbar und einzelfallbezogen beeinflussen, indem sie über das europäische Rechtsschutzsystem darauf hinwirkt, dass die Mitgliedstaaten solche Instrumente ergreifen bzw. die bestehenden Instrumente effektiver ausgestalten. Ob und in welchem Umfang die EU dezentralisierte Mitgliedstaaten dazu anhalten kann, von dem beschriebenen Instrumentarium Gebrauch zu machen, ist eine Frage des primären Unionsrechts. Dabei ist zu sehen, dass die Union im Fall einer Einführung der Instrumente nicht nur Vorgaben für die nationale Verwaltungsorganisation und das Verwaltungsverfahren machen würde, die allein die sog. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten161 tangierten, die mehr eine empirische Beschreibung,162 jedenfalls keine absolute rechtliche Grenze für Ingerenzen seitens der EU darstellt.163 Vielmehr griffe die EU in das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht ein, da die Instrumente das Gefüge zwischen Mitgliedstaat und Untergliederungen betreffen. Die Vorgaben des Primärrechts sollen daher zunächst ausgelotet werden (I.), bevor in einem weiteren Schritt die einzelnen Optionen der EU näher untersucht werden (II., III.).

  Finanzausgleichsgesetz 2008, BGBl. I Nr.  103/2007; i.d.F. BGBl. I Nr.  4 0/2014.  Dazu Krönke, Verfahrensautonomie, 2013. 162  So Classen, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 60. Ergänungslieferung 2016, Art.  197 AEUV Rn.  12. 163   Zu den Schranken der Verfahrensautonomie Rodríguez Iglesias, EuGRZ 1997, S.  289 ff. 160 161

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I.  Primärrechtliche Analyse 1.  Sperrwirkung des Art.  260 Abs.  3 AEUV? Durch den Vertrag von Lissabon wurde in Art.  260 Abs.  3 AEUV ein neues Sanktionsverfahren eingeführt. Danach ist bereits ohne Vorverurteilung eine Sanktionsverhängung durch den Gerichtshof in den Fällen erlaubt, in denen ein Mitgliedstaat gegen seine Pflicht zur Mitteilung von Maßnahmen zur Umsetzung von Richtlinien verstoßen hat, soweit letztere in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden. Alle dieser Ausnahmevorschrift könnte der Schluss gezogen werden, dass sonstige Maßnahmen der EU zur Stimulierung der Richtlinienumsetzung säumiger Mitgliedstaaten ausgeschlossen sind. Neben den bereits vor dem Vertrag von Lissabon anerkannten Durchsetzungsmechanismen der EU wie der unionsrechtlichen Staatshaftung und der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien wäre die EU nach der derzeitigen primärrechtlichen Lage daher auf die Finanzsanktionen des Art.  260 Abs.  3 AEUV beschränkt, um auf Umsetzungsdefizite ihrer Mitgliedstaaten zu reagieren. Für eine solche Interpretation spricht neben der Gesetzessystematik, dass es das ausdrücklich mit Art.  260 Abs.  3 AEUV verfolgte Ziel war, den Druck auf die Mitgliedstaaten zu erhöhen, wenn sie Richtlinien nicht fristgemäß umsetzen.164 Es geht mithin gerade nicht um eine reine Sanktionierung, sondern die Zielrichtung ist auch präventiver Art, da sie die Richtlinienumsetzung in der Sache fördern soll.165 Da die im zweiten Teil genannten Instrumente auf eine solche präventive Druckausübung abzielen, könnten sie demnach in den Anwendungsbereich der Norm fallen und in der Folge könnten unionsrechtliche Initiativen zu ihrer Einführung gesperrt sein. Gegen ein solches Verständnis spricht allerdings, dass das Verfahren nach Art.  260 Abs.  3 AEUV sich potentiell an alle Mitgliedstaaten richtet und nach dem Wortlaut der Norm an die unterlassene Mitteilung von Maßnahmen zur Richtlinienumsetzung angeknüpft wird. Bei den hier thematisierten Instrumenten geht es aber nicht um die ungenügende Richtlinienumsetzung, sondern auf einer vorgelagerten Ebene um strukturelle Umsetzungsdefizite von dezentralisierten Mitgliedstaaten. Derartige Probleme im innerstaatlichen Bereich lassen sich mit finanziellen Mitteln der EU allein nicht lösen, sondern bedürfen vielmehr einer Ausgestaltung des (quasi-)föderalen Gefüges. Wegen dieser spezifischen Zielsetzung der hier behandelten Instrumente besteht keine direkte Konkurrenzsituation mit dem Sanktionsverfahren nach Art.  260 Abs.  3 AEUV. Daher ist eine Sperrwirkung dieser Norm insofern zu verneinen.

  Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn.  162), Art.  260 AEUV Rn.  57.   Rn.  7 der Mitteilung der Kommission – Anwendung von Art.  260 Abs.  3 AEUV, SEK(2010)1371 endg. 164 165

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2.  Verfassungsidentität als Grenze Die Pflicht zur richtlinienkonformen Umsetzung erfordert dem EuGH zufolge eine aktive Transformation.166 Richtlinienumsetzung bedeutet demnach die vollständige Erreichung des Richtlinienziels, nicht nur im Sinne einer formellen wörtlichen Übernahme, sondern dessen Verwirklichung in der nationalen Praxis.167 Primärrechtlich ist dies im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaaten nach Art 4 Abs.  3 EUV zu verorten. Aus Art.  4 Abs.  3 EUV folgt die Pflicht des nationalen Gesetzgebers, sein Recht so zu ändern, aufzuheben, zu erlassen oder zu ergänzen, dass die unionsrechtlichen Vorgaben ihre volle praktische Wirksamkeit (effet utile) entfalten können.168 Dies wäre ein Anknüpfungspunkt für eine unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, ihr Verfassungsrecht so einzurichten, dass trotz Dezentralisierung eine effektive Umsetzung möglich ist. Art.  4 Abs.  3 EUV beinhaltet allerdings auch die Pflicht der Union zur Rücksichtnahme auf die elementaren Interessen der Mitgliedstaaten.169 Auf Basis des Rücksichtnahmegebots von Art.  4 Abs.  3 EUV hat die Union bei der Ausarbeitung von Rechtsakten – im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren – auf tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten Bedacht zu nehmen.170 Von der Pflicht der EU zur Rücksichtnahme auf grundlegende nationale Verfassungsstrukturen werden alle identitätsprägenden Verfassungsnormen – wie etwa Art.  79 Abs.  3 GG171 – erfasst.172 Dem entspricht wiederum auf Unionsebene der Grundsatz des Art.  4 Abs.  2 EUV, wonach die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten und ihre grundlegenden Staatsfunktionen achtet.173 166   EuGH, Rs. 102/79, Slg. 1980, I-01473, Rn.  10. So verlangt laut EuGH die Umsetzung einer RL zwar nicht notwendig ein Tätigwerden des Gesetzgebers, „es ist jedoch unerlässlich, dass das fragliche nationale Recht tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen Behörden gewährleistet, dass die sich aus diesem Recht ergebende Rechtslage hinreichend bestimmt und klar ist und dass die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen“, EuGH, Rs. C-144/99, Slg. 2001, I-03541, Rn.  17; Rs. C-70/03, Slg. 2004, I-07999, Rn.  15. 167   Vgl. EuGH, Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Rn.  26 ff.; Ruffert weist darauf hin, dass dies bei mehrstufigen Umsetzungsprogrammen, wie im Fall der FFH-RL zu Problemen führt, wenn Umsetzungsschritte auf Verwaltungsebene nach der normativen Umsetzung unterbleiben., siehe Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art.  288 AEUV Rn.  27. 168   Dieses Gebot bezieht sich in erster Linie auf die Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht, die sich nach Art.  4 Abs.  3 UAbs 3 EUV i.V.m. Art 288 Abs.  3 AEUV bestimmt. Ruffert (Fn.  167), Art.  4 EUV, Rn.  54. 169   Vgl. BVerfGE 89, 155, 184 – Maastricht [1993]; Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn.  167), Art.  4 EUV Rn.  105. 170  Siehe Kahl (Fn.  169), Art.  4 EUV, Rn.  105. 171   Nach dieser hier relevanten Bestimmung ist eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art.  1 und 20 GG niedergelgten Grundsätze berührt werden, unzulässig. 172   Ress, EuGRZ 1986, S.  549, 550; Calliess in: Hrbek (Hrsg.), Europapolitik und Bundesstaatsprinzip, 2000, S.  13, 21; ähnlich Blanke DVBl. 1993, S.  819, 826. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine Berücksichtigungspflicht, vgl. Epiney, EuR 1994, S.  301, 314, insofern zitiert v. Kahl (Fn.  169), Art.  4 EUV, Rn.  106. 173  Vgl. von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn.  162), Art 4 EUV, Rn.  1; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S.  235; Haratsch, Europarecht 2017, S.  131 ff. Diese „Identitätsklausel“ oder „Staatsfunktionengarantie“, nunmehr durch Art.  4 Abs.  2 EUV

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Die im zweiten Teil genannten Instrumente, zu denen eine kompetentielle Hochzonung und die Ersatzvornahme des Mitgliedstaates gegenüber den Untergliederungen gehören, tangieren die (quasi-)föderale Ordnung in den Mitgliedstaaten, so dass die Frage einer Verletzung der Verfassungsidentität durch unionsrechtliche Vorstöße aufgeworfen ist. Damit rücken v.a. die konstituierenden Elemente der Bundesstaatlichkeit in den Blick.174 Da der Begriff der nationalen Identität mit den „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ umschrieben wird, ist dieser aber nicht auf Bundesstaaten beschränkt, sondern umfasst allgemein die Ausgestaltung der innerstaatlichen Verfassungsstruktur und Kompetenzverteilung zwischen dem Mitgliedstaat und dessen Untergliederungen.175 Da nur die grundlegenden Strukturen geschützt sind, sind verfassungsrelevante Vorgaben aber auch nicht von vornherein unionsrechtlich unzulässig. Die entscheidende Frage ist vielmehr, in welchem Umfang die Achtung der Verfassungsidentität (quasi-)föderale Elemente der Mitgliedstaaten vor effektivitätssteigernden Maßnahmen der EU schützt. Der Begriff der nationalen Identität in Art.  4 Abs.  2 EUV ist ein unionsrechtlicher Begriff und somit grundsätzlich autonom gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Allerdings ist der Begriff aufgrund seiner Schutzintention durch das nationale Verfassungsrecht zu konturieren.176 So wird für Deutschland betont, dass wegen Art.  79 Abs.  3 1. Var. GG die europäische Integration nicht so weit gehen dürfe, dass die Länder zu bloßen Verwaltungseinheiten herabgestuft werden.177 Insofern ist auch die Wertung des Art.  37 Abs.  1 GG zu sehen. Da der Bundeszwang mit dem zwingenden Zustimmungserfordernis des Bundesrates hohe Hürden für hierarchische Instrumente des Bundes setzt, spricht dies dafür, dass für eine weitergehende Ersatzvornahme in Deutschland kein Raum besteht. Unabhängig von der deutschen Verfassungssituation ist zudem der folgende Gesichtspunkt zu sehen: Geht man davon aus, dass die Verfassungsidentität eine Frage ist, die unter Berücksichtigung der Situation in jeden Mitgliedstaat gesondert zu bestimmen ist, scheint es schwierig zu sein, bei Harmonisierungsmaßnahmen das Verfassungsrecht aller dezentralisierten Mitgliedstaaten hinreichend zu achten. Eine entsprechende EU-Bestimmung müsste daher sehr allgemein gehalten sein. Solche pauschalen Vorgaben werfen aber die Frage nach der Geeignetheit zur Förderung der Richtlinienumsetzung auf. Darüber hinaus ergeben sich unabhängig von den mitgliedstaatlichen Verfassungen aus dem EU-Recht Anhaltspunkte für identitätsprägenden Strukturentscheidungen im Sinn von Art.  4 Abs.  2 EUV, die für alle EU-Mitgliedstaaten gelten: Da Art 4 Abs.  2 EUV explizit auf die „regionale und kommunakodifiziert, regelt dabei nur einen Ausschnitt des umfassenden Rücksichtnahmegebotes gem. Art.  4 Abs.  3 EUV, nämlich die Rücksichtnahme auf die nationale Identität und die grundlegenden Funktionen des Staates, sodass Ar. 4 Abs.  3 EUV daneben seine eigenständige (umfassendere) Bedeutung behält. Siehe Kahl (Fn.  169), Rn.  105 m.w.N. 174   Kadelbach (Fn.  173), 235. 175   Für dieses Achtungsgebot der grundlegenden Verwaltungsstrukturen und Funktionsweisen mitgliedstaatlicher Rechtssysteme ist wie erwähnt Art.  4 Abs.  2 S.  1 EUV die Spezialvorschrift. Diese Pflicht ergab sich wohlgemerkt bereits vor Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags aus Art.  10 EGV, siehe Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, S.  924, 931 ff. 176   von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn.  162), Art.  4 EUV, Rn.  22. 177   Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  79 Rn.  96.

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le Selbstverwaltung“ rekurriert, die auch die Bundesstaatlichkeit umfassen soll,178 wird man davon ausgehen müssen, dass auf Unionsebene die Vorteile dezentraler Verwaltung und Rechtsdurchsetzung eine besondere Anerkennung genießen179 und daher unionsrechtliche Ingerenzen besonderen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass der Identitätsschutz des Art.  4 Abs.  2 und Abs.  3 EUV Maßnahmen der EU zur Förderung der Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten nicht prinzipiell entgegensteht, d.h. vorausgesetzt, dass sie so ausgestaltet sind, dass sie die Eigenständigkeit der Untergliederungen nicht aushöhlen, etwa über eine Einhegung der Ersatzvornahme durch Schutzgarantien, wie sie im zweiten Teil beschrieben wurden. Allerdings kann die notwendige Ausbalancierung von Effektivität und Identitätsschutz nur schwer über allgemeinen Harmonisierungsmaßnahmen der EU bewerkstelligt werden. Das Spannungsverhältnis lässt sich besser auf den Einzelfall bezogen auflösen. Dies kann insbesondere dadurch geschehen, dass man die bereits vorhandenen nationalen Vorschriften im Sinne einer Effektivität der Umsetzung auslegt und auf dieser Grundlage schonend modifiziert. Die Möglichkeiten der EU auf die Instrumente zur effektiven Richtlinienumsetzung einzuwirken, sind daher in erster Linie im Rahmen des Rechtsschutzsystems der EU zu suchen. Dessen Reichweite ist in den folgenden zwei Abschnitten auszuloten.

II. Vertragsverletzungsverfahren Ist die EU danach darauf verwiesen, im Rahmen ihres Rechtsschutzsystems auf die Umsetzungsprobleme dezentralisierter Mitgliedstaaten zu reagieren, ist zunächst an das Vertragsverletzungsverfahren nach Art.  258 ff. AEUV zu denken. Der Mitgliedstaat kann sich im Vertragsverletzungsverfahren zu seiner Verteidigung zwar nicht auf interne Probleme berufen, aber er kann sich damit verteidigen, dass er sich auf seine bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Instrumente zur Richtlinienumsetzung beruft und behauptet, mit diesen genüge er seiner Umsetzungsverpflichtung. An diesem Punkt wird die Frage nach deren Effektivität auf EU-Ebene relevant. Das Vertragsverletzungsverfahren bildet somit einen Mechanismus, die bestehenden Instrumente auf den unionsrechtlichen Prüfstand zu stellen. Gleichzeitig wird die Verfassungsidentität als Grenze für unionsrechtliche Ingerenzen nicht berührt, denn die jeweilige Rechtslage in dem Mitgliedstaat bildet die Basis sowohl für die Beurteilung im Vertragsverletzungsverfahren als auch für die Umsetzung dieser Beurteilung. Gibt sich der EuGH mit dem Vorbringen des Mitgliedstaates zur Reichweite des Instruments nicht zufrieden und verurteilt diesen, wird Druck auf diesen ausgeübt, seine verfassungsrechtlichen Instrumente landesspezifisch auszubauen. Wie dies dann konkret geschieht, ist dem jeweiligen Mitgliedstaat überlassen. Diese mittelbare und damit verfassungsidentitätsschonende Art und Weise der EU, die Umsetzung   von Bogdandy/Schill (Fn.  176), Rn.  17.   Zieht man das Subsidiaritätsprinzip (Art.  5 Abs.  1 und 3 EUV) und die unionalen Kompetenzgrenzen für Materien hinzu, so ist die Problematik der Ländertreue auf Ebene der Union bei der Grundsatzgesetzgebung zumindest entschärt. Ähnlich für die Bereiche der Ländergesetzgebung Kadelbach (Fn.  173), S.  236. 178

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in dezentralisierten Mitgliedstaaten zu beeinflussen, kann die Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2013 zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinien durch Spa­ nien180 verdeutlichen:181 Das Königreich hatte nur für die Flusseinzugsgebiete, die sich auf das Gebiet mehrerer Autonomer Gemeinschaften erstrecken, eine Verordnung erlassen, um die Bewirtschaftungsziele der Wasserrahmenrichtlinie182 (Art.  4) umzusetzen, während für die innergemeinschaftlichen Einzugsgebiete, deren Regelung Sache der Autonomen Gemeinschaften blieb, mit Ausnahme von Katalonien keine hinreichenden Regelungen vorlagen. Spanien hatte sich im Verfahren zu seiner Verteidigung darauf berufen, dass die Umsetzung durch die Ergänzungsklausel in Art.  149 Abs.  3 letzter Satz der Verfassung garantiert sei. In der Folge sei die Verordnung des Königreichs auch auf die innergemeinschaftlichen Einzugsgebiete anzuwenden, da die Autonomen Gemeinschaften ihre Gesetzgebungsbefugnis zur Umsetzung der Richtlinie 2000/60 nicht ausgeübt hätten. Der EuGH monierte „Unsicherheit in Bezug auf die Tragweite der Ergänzungsklausel als Instrument zur Gewährleistung der Umsetzung des Unionrechts“.183 Insbesondere scheine nach der “Rechtsprechung des Tribunal Constitucional Art.  149 Abs.  3 letzter Satz der Verfassung mangels einer Regelung durch die Autonomen Gemeinschaften nicht die ergänzende Anwendung staatlicher Vorschriften, sondern nur das Füllen festgestellter Lücken zu erlauben”,184 während in dem Fall die Autonomen Gemeinschaften bis auf Katalonien eine Umsetzung gänzlich unterlassen hatten. Da die Richtlinienumsetzung daher den Transparenzanforderungen nicht genügte, wurde Spanien verurteilt. Das Vertragsverletzungsverfahren führte jedoch dazu, dass das Spanische Verfassungsgericht noch während des laufendenden Verfahrens die Reichweite der Ergänzungsklausel für die Umsetzung von Richtlinien dergestalt erweiterte bzw. – je nach Perspektive – klarstellte, dass sie auch bei der Nichterfüllung unionsrechtlicher Verpflichtungen durch die Autonomen Gemeinschaften gilt.185

III.  Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch Einen weiteren Aspekt des europäischen Rechtsschutzes bildet das Haftungsrecht. Die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber ihren Bürgern für Schäden, die diesen aus der Verletzung von Unionsrecht entstehen, bildet ein etabliertes Element des Systems der innerstaatlichen Durchsetzung von Unionsrecht.186 Über die Haftung hat die EU weitergehende Möglichkeiten als im Vertragsverletzungsverfahren auf die Umsetzungsverzögerungen dezentralisierter Mitgliedstaaten zu reagieren:   EuGH, Urteil vom 24.10.2013, Rs. C-151/12; siehe dazu zudem oben A., III.1.  Dazu Gärditz, EurUP 2014, S.  141 ff. 182   Richtlinie 2000/60/EG, Abl. 2000 L 327, S.  1. 183   EuGH (Fn.  180), Rn.  34. 184   EuGH (Fn.  180), Rn.  35. 185   Urteil des Spanischen Verfassungsgerichts v. 4.6.2013 (130/2013) und 6.6.2013 (135/2013), abruf bar unter http://hj.tribunalconstitucional.es/. 186   Kadelbach (Fn.  173), S.  162. Auch dieser Anspruch liegt in der Konsequenz der Pflichten, die den Mitgliedstaaten nach den Verträgen obliegen. 180 181

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Die Haftungsursache kann zunächst darin gesehen werden, dass ein dezentralisierter Mitgliedstaat entweder keine oder keine ausreichenden Instrumente in seinem Verfassungsrecht geschaffen hat, die eine effektive Richtlinienumsetzung gewährleisten. Ob diese Haftungskonstellation der unzulänglichen Umsetzung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber vom Staatshaftungsanspruch erfasst ist, wurde, soweit ersichtlich, bislang noch nicht entschieden.187 Zwar wird legislatives Unrecht erfasst, dabei handelt es sich aber allein um den Fall, dass eine Richtlinie gar nicht, nicht ordnungsgemäß oder nicht rechtzeitig in einfaches Recht umgesetzt wird. Der EuGH ist allerdings in Bezug auf potentielle Haftungskonstellationen großzügig und wendet den Grundsatz der Staatshaftung auf jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaates gegen Unionsrecht an, unabhängig davon welches Organ den Verstoß begangen hat.188 Zudem ist zu sehen, dass sich das Problem einer Verletzung der Verfassungsidentität in diesem Verfahren trotzdem nicht stellt, da vorrangig die nationalen Gerichte, gegebenenfalls nach einem Vorabentscheidungsverfahren, eine Pflichtverletzung feststellen und damit die Effektivität und die nationalen Schutzinteressen in Einklang bringen können. Wendet man das Staatshaftungsrecht danach auf die hier diskutierte (quasi-)föderale Konstellation an, dann könnte dieser Rechtsschutzmechanismus im Unterschied zum Vertragsverletzungsverfahren der EU nicht nur die Möglichkeit bieten, bestehende Instrumente zur Richtlinienumsetzung zu optimieren, sondern das Haftungsrecht kann darüber hinaus auf deren erstmalige Einführung hinwirken. Neben dieser Frage, ob überhaupt hinreichende Instrumente auf nationaler Ebene bestehen, kann zudem deren effektiver Gebrauch einen haftungsrechtlichen Anknüpfungspunkt darstellen. Allerdings können sich bei dezentralisierten Mitgliedstaaten in dieser Konstellation schwierige rechtliche Folgeprobleme ergeben, da das Verhalten mehrerer innerstaatlicher Akteure zu beurteilen ist. Das betrifft v.a. den Fall, dass der Gebrauch des Instruments der Ersatzvornahme im Rahmen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs zur Debatte steht. Dann wird nämlich die Frage der verantwortlichen Stelle virulent. Wenn bei einer unzulänglichen Umsetzung durch die Untergliederungen der Mitgliedstaat nämlich selbst einschreiten kann, dies aber nicht tut, stellt sich die Frage, gegen wen sich der Staatshaftungsanspruch richtet: gegen die säumigen Untergliederungen, gegen den nicht hinreichend Aufsicht führenden Mitgliedstaat oder gar gegen beide als Gesamtschuldner. Das hängt vorrangig davon ab, ob das Gebrauchmachen von der Ersatzvornahme eine Amtspflicht ist, die bezweckt dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Gegen eine solche individualschützende Interpretation spricht, dass es sich bei der Ersatzvornahme um eine aufsichtsrechtliche, d.h. im Gemeinwohlinteresse liegende Maßnahme handelt. Zudem soll der EuGH keine grundsätzliche Garantiehaftung des Mitgliedstaates verlangen.189 Wie die vergleichbare Konstellation im deutschen Bau- und Kommunalrecht verdeutlicht, ist es aber auch nicht grundsätzlich ausge187   Zu den gängigen Haftungskonstellationen Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6.  Aufl. 2013, S.  601 ff. 188   EuGH, Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1131, Rn.  32; auch EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239. 189  So Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15.  Aufl. 2017, §  28 Rn.  1315 mit Verweis auf EuGH, Slg. 1999, I-3099, Rn.  63 f.

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schlossen, dem Gebrauchmachen von der Ersatzvornahmebefugnis trotz der aufsichtsrechtlichen Natur eine individualschützende Schutzrichtung zuzusprechen.190 Entscheidend bei der Frage nach dem individuellen Schutzzweck ist nicht, ob das Recht durch die verletzte Norm schon verliehen worden ist, sondern es genügt, wenn die Norm auf die Verleihung gerichtet ist.191 Aus diesem Grund kann man dann, wenn die unzulänglich umgesetzte Richtlinie Individualrechte begründet, auch annehmen, dass der Aufsicht führende Mitgliedstaat Individualrechte verletzt, wenn er von der Ersatzvornahme keinen Gebrauch macht. Denn er vereitelt, dass der Einzelne in den vollen Genuss seiner Rechte aus der Richtlinie kommt. Für eine solche Auslegung spricht auch die unionsrechtliche Perspektive. Wenn der Mitgliedstaat nämlich verantwortlich ist, wird der Druck erhöht, sich mit seinen Umsetzungsproblemen auseinanderzusetzen. Bejaht man demnach eine Amtspflichtverletzung, wenn von der Ersatzvornahme kein Gebrauch gemacht wird, dann stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, was das für einen Staatshaftungsanspruch gegen die nicht ordnungsgemäß umsetzenden Untergliederungen bedeutet. An diesem Punkt wird man die deutsche Rechtsprechung zur Staatshaftung der Gemeinde, die rechtswidrig ihr Einvernehmen nicht erteilt, nicht übertragen können. Diese Rechtsprechung möchte eine Amtspflichtverletzung der Gemeinde gegenüber dem Bauherrn dann ablehnen, wenn die Baugenehmigungsbehörde das Einvernehmen ersetzen kann, da die Baugenehmigungsbehörde in diesem Fall nicht an das Einvernehmen gebunden sei.192 Im Unterschied zu dieser kommunal- und baurechtlichen Konstellation hat eine unzulängliche Richtlinienumsetzung durch die Glieder keine Bindungswirkung für den Mitgliedstaat. Erst wenn die Untergliederungen der Umsetzungspflicht nachkommen, hat dies Auswirkungen auf die Ersatzvornahmemaßnahmen des Mitgliedstaates, wie das italienische Beispiel der „umgekehrten Nachgiebigkeit“ verdeutlicht. Daher wird man für die Konstellation, dass der Mitgliedstaat nicht gegen die unzureichend umsetzenden Untergliederungen einschreitet, von einer gesamtschuldnerischen Haftung von Mitgliedstaat und Untergliederungen ausgehen müssen.

D. Fazit Die rechtsvergleichende Analyse von Deutschland, Italien, Spanien und Österreich hat einerseits gezeigt, dass sich gemeinsame Regelungsstrukturen finden lassen, die die Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten fördern. Andererseits wurde deutlich, dass die einzelstaatlichen Mechanismen insofern defizitär sind, als sie teils unvollkommen entwickelt sind oder unzureichend angewandt werden; ein weiteres Manko ist, dass sich die einzelnen Mitgliedstaaten jeweils auf bestimmte In­ strumente forcieren und in der Folge Potential zur effektiven Richtlinienumsetzung innerstaatlich ungenutzt bleibt. Die EU sollte vor diesem Hintergrund ihre „Lan  Zur parallelen Situation der Haftung der Gemeinde bei rechtswidriger Versagung des Einvernehmens nach §  36 BauGB jetzt BGHZ 187, 51 (Rn.  21). 191  M.w.N. Ossenbühl/Cornils (Fn.  187), S.  607. 192   BGHZ 187, 51 (Rn.  17). 190

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des-Blindheit“ endgültig hinter sich lassen, indem sie über ihr Rechtsschutzsystem Einfluss auf die Ausgestaltung der Instrumente zur Richtlinienumsetzung in dezentralisierten Mitgliedstaaten nimmt. Grundsätzliche rechtliche Bedenken bestehen in dieser Hinsicht nicht. Denn das Primärrecht verweist die EU nicht auf das Sank­ tionsverfahren des Art.  260 Abs.  3 AEUV; auch der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten kann im Rahmen von Rechtsschutzverfahren, in denen der EuGH die Effektivität des Instrumentariums zur Richtlinienumsetzung beurteilt, hinreichend Rechnung getragen werden.

Abhandlungen und Aufsätze

Der Missbrauch der Menschenwürde als Schranke der Meinungsfreiheit von

Prof. Dr. Thomas Groß, Universität Osnabrück* Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 II. Die Schranken der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Typen von Schrankenklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Die Privilegierung der Äußerung über öffentliche Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III. Die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Die verfassungsrechtliche Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Menschenwürde als Grundprinzip und als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Menschenwürde als ungeschriebenes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Die Schutzobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Individuen oder Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 b) Öffentliche Interessen und staatliche Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 IV. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

I. Einführung Kontroversen über die Schranken der Meinungsfreiheit finden sich schon im antiken Griechenland. Auf der einen Seite wurde die Freiheit der Rede schon damals als notwendiges Element der Demokratie anerkannt, während sie auf der anderen Seite als gefährliches Instrument der rhetorischen Verführung des Volkes gefürchtet wurde.1 In Platos Dialog Gorgias weist Sokrates darauf hin, dass es in Athen mehr Rede*   Erweiterte Fassung eines Vortrages bei der Jahrestagung der European Group of Public Law in Legraina/Griechenland am 8. September 2017; die englische Version erscheint in der European Public Law Review. 1   Sluiter/Rosen, General Introduction, in: Sluiter/Rosen (Hrsg.), Free Speech in Classical Antiquity, Leiden/Boston 2004, S.  1–20 (4–8); Balot, Free Speech, Courage, and Democratic Deliberation, ebenda, S.  233–259.

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freiheit als irgendwo anders in Griechenland gebe.2 Der Historiker Robert Wallace vertritt deshalb die Auffassung, dass im klassischen Athen das Recht aller Bürger, vor der Versammlung zu sprechen, ein wichtiges demokratisches Prinzip war.3 Aber schon damals war auch anerkannt, dass die freie Rede in der Versammlung mit der Pflicht verbunden ist, das Recht zu beachten.4 Ein sehr prominentes Beispiel für die Grenzen der Meinungsfreiheit ist die Exekution des Sokrates. Obwohl er zweifellos nicht die Anwendung von Gewalt propagiert hatte, wurde seine Verurteilung mit dem Schutz der Jugend und mit Blasphemie gerechtfertigt. In modernen Worten könnte man also sagen, dass seine Bestrafung eine außergewöhnliche Maßnahme war, um die öffentliche Ordnung Athens vor ernsthaftem Schaden zu schützen, weil er die traditionellen Autoritäten der Stadt herausforderte.5 In seiner Schrift Nomoi befürwortete Plato auch die Zensur: „Dies, daß der Dichter nichts anderes, als was dem vom Staate als gesetzlich, gerecht, schön und gut Anerkannten entspricht, in seine Dichtungen aufnehmen und daß es ihm nicht gestattet sein soll dieselben irgend einem Privatmann früher mitzuteilen, als bevor sie den eigens zu diesem Zwecke eingesetzten Richtern und Gesetzverwesern mitgeteilt sind und ihre Billigung erhalten haben.“6 Der Grund für dieses Erfordernis der richterlichen Genehmigung lag offensichtlich darin, dass Schauspiele damals ein sehr großes Publikum erreichten und damit politisch sehr einflussreich waren.7 Dieser kurze und oberflächliche Blick in die alte Geschichte verdeutlicht, dass die Entstehung der Meinungsfreiheit und die Notwendigkeit, ihr Grenzen zu setzen, eng miteinander verknüpft waren. Auch im modernen Europa sind die Schranken der Meinungsfreiheit alles andere als unumstritten. Besonders aktuell sind in vielen Ländern die Auseinandersetzungen darüber, wie auf Hassrede reagiert werden soll, also etwa sexistische, rassistische, antisemitische oder antimuslimische Propaganda. Gerade in diesem Problemfeld findet sich sowohl in der Gesetzgebung wie in der Rechtsprechung häufig das Argument, dass Beschränkungen der freien Äußerung von Meinungen notwendig sind, um die Menschenwürde der Opfer zu schützen. Die erstaunliche Ubiquität dieses Begründungsansatzes in vielen europäischen Ländern mit sehr unterschiedlichen Verfassungsordnungen wirft die Frage nach einer Erklärung auf. 2  Vgl. van Raalte, Socratic Parrhesia and its Afterlife in Plato’s Laws, in: Sluiter/Rosen (Hrsg.), Free Speech in Classical Antiquity, Leiden/Boston 2004, S.  279–312 (281). 3   Wallace, Revolutions and a New Order in Colonial Athens and Archaic Greece, in: Raaflaub/ Ober/Wallace, Origins of Democracy in Ancient Greece, Berkeley/Los Angeles/London 2007, S.  49– 82 (65); Zweifel bei Lewis, Isegoria at Athens: When did it begin?, Historia 20 (1971), 129–140. 4   Carter, Citizen Attribute, Negative Right: A Conceptual Difference between Ancient and Modern Ideas of Freedom of Speech, in: Sluiter/Rosen (Hrsg.), Free Speech in Classical Antiquity, Leiden/ Boston 2004, S.  197–220 (218–219). 5   Wallace, The Power to Speak –and not to Listen– in Ancient Athens, in: Sluiter/Rosen (Hrsg.), Free Speech in Classical Antiquity, Leiden/Boston 2004, S.  221–232 (231). 6   Plato, Nomoi, 7. Buch, 801c (Übersetzung Susemihl); weitere Beispiele bei Sluiter/Rosen, in: Sluiter/Rosen (Hrsg.), Free Speech in Classical Antiquity, Leiden/Boston 2004, S.  1–20 (11–13); zur Zensur im römischen Reich Cancik-Lindemaier/Cancik, Zensur und Gedächtnis, in: Cancik-Lindemaier, Von Atheismus bis Zensur, Würzburg 2006, S.  343–364 (354–364). 7   Sommerstein, Harassing the Satirist: The Alleged Attempts to Prosecute Aristophanes, in: Sluiter/ Rosen (Hrsg.), Free Speech in Classical Antiquity, Leiden/Boston 2004, S.  145–174 (166).

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Das Ziel dieses Beitrages ist ein rechtsvergleichender Überblick über die einschlägigen Regelungen in den Verfassungstexten in Europa sowie einige Beispiele ihrer Anwendung in der Rechtsprechung insbesondere der Verfassungsgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Angesichts der Vielzahl der Facetten ist eine auch nur annähernd vollständige Behandlung des Themas nicht möglich, sondern es geht darum, einen problematischen Trend herauszuarbeiten. Insbesondere werden Sonderformen der Meinungsfreiheit in Bezug auf bestimmte Medien (Presse, Rundfunk, Internet etc.) oder Ausdrucksarten (Kunst, Wissenschaft etc.) nicht eigens berücksichtigt.

II.  Die Schranken der Meinungsfreiheit Während es heute in Europa einen Konsens gibt, dass die Meinungsfreiheit als Grundrecht geschützt werden muss, sind ihre Schranken sehr unterschiedlich geregelt. In allen Rechtsordnungen ist zwar anerkannt, dass die Ausübung dieser Freiheit „mit Pflichten und Verantwortung verbunden“ ist, wie es Art.  10 Abs.  2 EMRK heißt, aber ihre Definition ist kontrovers. Die vergleichende Analyse beginnt mit einer Kategorisierung der Schrankenklauseln in den nationalen Verfassungen8 (1.). Wegen des Zusammenhangs mit der demokratischen Funktion der Meinungsfreiheit wird der Privilegierung von Äußerungen über öffentliche Angelegenheiten besondere Aufmerksamkeit gewidmet (2.).

1.  Typen von Schrankenklauseln Eine Analyse der Schrankenklauseln zeigt, dass es in Europa vier Grundtypen gibt. Ausdrücklich geregelte Schranken können entweder allgemein oder enumerativ formuliert sein. Daneben gibt es ungeschriebene Schranken sowie allgemeine Missbrauchsklauseln. Einige nationale Verfassungen enthalten nur eine allgemeine Schrankenklausel. Das älteste Beispiel für diese Regelungstechnik ist Art.  11 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus dem Jahr 1789, wonach die Meinungsfreiheit „unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen“ steht. In diese Kategorie fällt auch Art.  5 Abs.  2 GG. Obwohl dort auch der Schutz der Jugend und des Rechts der persönlichen Ehre erwähnt werden, handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich um zwei Beispiele für die Schranken, die das Grundrecht in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze findet.9 Nach der bekannten Formel sind allgemein nur solche Gesetze, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu   Die deutsche Übersetzung der Verfassungen ist jeweils entnommen bei www.verfassungen.eu.   BVerfGE 124, 300 (327) – Wunsiedel [2009]; ebenso z.B. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.  1, 3.  Aufl., Tübingen 2013, Art.  5 I, II Rn.  151; Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  V II, 3.  Aufl., Heidelberg 2009, §  162 Rn.  61; krit. z.B. Wendt, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 6.  Aufl., München 2012, Art.  5 Rn.  83. 8 9

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schützenden Rechtsguts dienen.10 Allgemeine Gesetzesvorbehalte finden sich auch in den Verfassungen der Länder Griechenland von 1975 (Art.  14 Abs.  1), Spanien von 1978 (Art.  20 Abs.  4 ) und Polen von 1997 (Art.  49), sowie für alle Grundrechte in Art.  36 der Schweizer Bundesverfassung von 1999. Mit dieser Regelungstechnik wird dem Gesetzgeber das Recht eingeräumt, selbst die Ziele zu definieren, mit denen Beschränkungen der Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden können. In einem zweiten Typus von Regelungen werden die begrenzenden Rechtsgüter im Text der Verfassung aufgezählt. Ein prominentes Beispiel auf gesamteuropäischer Ebene ist Art.  10 Abs.  2 EMRK, wonach gesetzliche Beschränkungen möglich sind „für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“. Diese Liste legitimer Ziele ist länger als in allen anderen Schrankenklauseln der EMRK, um die besonderen Probleme im Umgang mit der Meinungsfreiheit erfassen zu können.11 Eine kürzere Aufzählung von spezifischen Schranken findet sich z.B. in Kapitel 2 §  23 Abs.  1 der schwedischen Verfassung von 197412 und in Art.  17 Abs.  4 der Charta der Grundrechte und Freiheiten der Tschechischen Republik von 1991/9213. In eine dritte Kategorie fallen die Verfassungen mit ungeschriebenen Schrankenklauseln. Art.  21 Abs.  6 der italienischen Verfassung von 1946 verbietet gedruckte Veröffentlichungen, Aufführungen und alle anderen Veranstaltungen, die gegen die guten Sitten („buon costume“) verstoßen. Weil der Verfassungsgerichtshof diese Klausel nur auf obszöne Äußerungen anwendet,14 musste er weitere ungeschriebene Schranken akzeptieren.15 Die Ziele für Einschränkungen der Meinungsfreiheit dürfen nach dieser Rechtsprechung vom Gesetzgeber definiert werden, doch bedürfen sie einer Basis in der Verfassung.16   Erstmals BVerfGE 7, 198 (209 f.) – Lüth [1958].   Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Commentary, München 2013, Art.  10 Rn.  25. 12   „Die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit können mit Rücksicht auf die Sicherheit des Reiches, die Versorgung des Volkes, die öffentliche Ordnung und Sicherheit, das Ansehen des einzelnen, die Unverletzlichkeit des Privatlebens oder die Vorbeugung und gerichtliche Verfolgung von Straftaten eingeschränkt werden. Ferner kann die Freiheit der Meinungsäußerung im gewerblichen Bereich eingeschränkt werden. Im übrigen sind Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit nur zulässig, wenn besonders wichtige Gründe vorliegen.“ 13   „Die Freiheit der Meinungsäußerung und das Recht, Informationen aufzusuchen und zu verbreiten, kann durch das Gesetz eingeschränkt werden, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Personen, zur Sicherheit des Staates, öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Moral unentbehrlich sind.“ 14  Dazu Pace, Constitutional Protection of Freedom of Expression in Italy, REDP/ERPL 1990, 71–113 (83); Allegri, Informazione e comunicazione nell’ordinamento.giuridico italiano, Torino 2012, S.  15–17. 15  Corte costituzionale, 87/1966, 6.7.1966; zur Rechtsprechung ausführlich Nicastro, Libertà di mani­festazione del pensiero e tutela della personalità nella giurisprudenza della Corte Costituzionale, 2015, abruf bar unter http://www.cortecostituzionale.it/documenti/convegni_seminari/stu_284.pdf (22.8.2017). 16   Pace, REDP/ERPL 1990, 71–113 (74–75). 10 11

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In einer sehr kontroversen Entscheidung hat auch das Bundesverfassungsgericht eine ungeschriebene Schranke in Bezug auf Art.  5 GG bejaht, um die Bestrafung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu rechtfertigen. Die im Jahr 2005 in §  130 Abs.  4 StGB eingefügte neue Strafnorm zielt auf den Schutz der „Würde der Opfer“. Als diese Klausel genutzt wurde, um eine rechtsextreme Versammlung zu verbieten, betrachtete das Bundesverwaltungsgericht diese Einschränkung als allgemeines Gesetz im Sinne von Art.  5 Abs.  2 GG, weil die Bestimmung darauf ziele, den öffentlichen Frieden und die Menschenwürde der Opfer zu schützen, die der Meinungsfreiheit eine absolute Grenze ziehe.17 Das Bundesverfassungsgericht folgte dieser Auslegung jedoch nicht, da die Vorschrift ersichtlich gegen eine bestimmte Meinung gerichtet war. Um dennoch ihre Verfassungswidrigkeit zu vermeiden, erfand es eine Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis aufgrund der Einzigartigkeit der Verbrechen der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft.18 Dagegen findet sich in seinem Urteil keine Bezugnahme auf die Menschenwürde nach Art.  1 GG. Dieser Fall führt uns zu einer vierten Technik, um die Reichweite der Meinungsfreiheit zu begrenzen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat mehrmals das allgemeine Missbrauchsverbot in Art.  17 EMRK genutzt, um Äußerungen von dem Schutz durch Art.  10 ERMK auszunehmen, welche den Holocaust leugnen, eine Nazipolitik rechtfertigen, alle Muslime mit einer terroristischen Tat in Verbindung bringen oder Juden als Ursprung allen Übels in Russland bezeichnen.19 Die Anwendung dieser Klausel führt dazu, dass eine Abwägung zwischen dem Grundrecht und beschränkenden Rechtsgütern von vornherein ausgeschlossen ist. Diese radikale Lösung findet sich in nationalen Verfassungen aber nur selten, z.B. im allerdings praktisch bedeutungslosen Art.  18 GG20 oder in Art.  25 Abs.  3 der griechischen Verfassung. Die gleiche Wirkung hat auch die Technik des Bundesverfassungsgerichts, „Schmähkritik“ aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszunehmen, was aber so eng interpretiert wird, dass es in Praxis kaum relevant ist, insbesondere bei öffentlichkeitsrelevanten Äußerungen.21

2.  Die Privilegierung der Äußerung über öffentliche Angelegenheiten Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wie auch das Bundesverfassungsgericht haben anerkannt, dass die Meinungsfreiheit eine doppelte Funktion erfüllt. Zum einen dient sie als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit, zum an-

  BVerwGE 131, 216 (220–222) – Rudolf Heß-Gedenkmarsch [2008].  BVerfGE 124, 300 (327–331) – Wunsiedel [2009]; zur Kritik z.B. Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.  I V, Heidelberg 2011, §  102 Rn.  62–68; Fohrbeck, Wunsiedel: Billigung, Verherrlichung, Rechtfertigung, Berlin 2015, S.  9 0–153. 19   EGMR, Delfi AS/Estland, 64569/09, 16.6.2015, NJW 2015, 2863 (2866), mit Nachweisen der früheren Entscheidungen; Überblick auch bei Mensching, Hassrede im Internet, Berlin 2014, S.  64–76. 20  Dazu Fohrbeck, Wunsiedel: Billigung, Verherrlichung, Rechtfertigung, Berlin 2015, S.  39–43. 21   BVerfGE 82, 272 (283 f.) – Postmortale Schmähkritik [1990]; 93, 266 (294) – Soldaten sind Mörder [1995]. 17

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deren ist sie ein Instrument der Demokratie.22 Die demokratische Funktion der Meinungsfreiheit ist allerdings wichtiger, weshalb der EGMR klar festgestellt hat: „Art.  10 II EMRK lässt danach wenig Raum für Einschränkungen der freien Meinungsäußerung bei politischen Diskussionen oder bei Fragen öffentlichen Interesses.“23 Diese Privilegierung politischer Äußerungen in einem weiteren Sinn wird von einigen Verfassungsgerichten 24 und Teilen der wissenschaftlichen Literatur25 geteilt, von anderen aber kritisiert.26 In Kapitel 2 §  23 Abs.  2 der schwedischen Verfassung ist sogar ausdrücklich vorgesehen, dass bei der Beurteilung von Einschränkungen der Meinungsfreiheit „die Bedeutung einer möglichst weitgehenden Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in politischen, religiösen, gewerkschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Belangen besonders zu beachten“ ist. Dieser Streitpunkt ist in unserem Kontext relevant für die Frage, ob der Schutz der Würde von Einzelpersonen oder gesellschaftlichen Gruppen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigen kann (s.u. III.2). Wenn die Debatte über öffentliche Angelegenheiten ein besonderes Gewicht hat, dann müssen Personen mit öffentlichen Funktionen weniger schutzwürdig sein als Privatpersonen. Politiker setzen sich unvermeidlich und wissentlich der eingehenden Kontrolle aller ihrer Worte und Taten durch die Presse und die allgemeine Öffentlichkeit aus und müssen daher ein größeres Maß von Toleranz zeigen, verlangt wiederum der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.27 In merkwürdigem Kontrast dazu schützt §  188 StGB Personen des politischen Lebens in stärkerem Umfang vor Beleidigungen als andere. Diese im Jahr 1931 eingeführte Vorschrift wurde im Jahr 1955 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsmäßig erklärt, weil die Ehre solcher Personen stärker gefährdet sei und die Vorschrift damit dem inneren politischen Frieden diene.28 Obwohl sie bis heute in Kraft ist, wird sie praktisch nicht mehr angewendet.29 Immerhin geht es hier um die Ehre von Einzelpersonen, während Gruppen wie z.B. die Soldaten insgesamt weniger schützenswert sind, weil der Ehrschutz nicht genutzt werden darf, um die öffentliche Kritik an staatlichen Institutionen zu unterdrücken.30 In ähnlicher Weise hat der   EGMR, Lingens/Österreich, 9815/82, 8.7.1986, NJW 1987, 2143 (2144); BVerfGE 7, 198 (208).   EGMR, Axel Springer/Deutschland (Nr.  2 ), 48311/10, 10.7.2014, NJW 2015, 1501 (1503); ausführlich dazu Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2.  Aufl., Tübingen 2013, Bd.  1, Kap.  18‚ Rn.  106–127. 24   BVerfGE 61, 1 (11) – Polemik im Wahlkampf [1982]; 82, 272 (281) – Postmortale Schmähkritik [1990]; 120, 180 (205) – Caroline III [2010]; für Frankreich Conseil Constitutionnel, 2010 – 3 QPC, 28.5.2010, cons. 6; für Spanien Tribunal Constitucional, Sentencia 107/1988, 8.6.1988, FJ 2. 25  Z.B. Barendt, Freedom of Speech, 2.  Aufl., Oxford 2005, S.  155–162; Oberdorff, Droits de l’homme et libertés fondamentales, 5.  Aufl., Issy-les-Moulineaux 2015, S.  497; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.  1, 3.  Aufl., Tübingen 2013, Art.  5 I, II Rn.  162; Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg (Lsbl.), Art.  5 Abs.  1 und 2 Rn.  60 (Stand 2017). 26   Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6.  Aufl., München 2010, Art.  5 Abs.  1, 2 Rn.  224; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.  Aufl., München 2014, Art.  5 Rn.  23. 27   EGMR, Lingens/Österreich, 9815/82, 8.7.1986, NJW 1987, 2143 (2144). 28   BVerfGE 4, 352 (356–357) – Ehrschutz für Politiker [1955]; zur späteren Rechtsprechung Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, Berlin etc. 1992, S.  234–248. 29   Regge/Pegel, in: Joecks/Mübach (Hrsg.), Münchner Kommentar zum StGB, Bd.  2 , 2.  Aufl., München 2012, §  188 StGB Rn.  3. 30   BVerfGE 93, 266 (293). 22

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spanische Verfassungsgerichtshof im Jahr 1989 entschieden, dass der Schutz der Ehre der Armee geringer ist als der Schutz von Personen mit öffentlicher Bedeutung.31

III.  Die Menschenwürde Einige der jüngeren Verfassungen, die nach 1989 in den früheren sozialistischen Staaten verabschiedet wurden, nennen die Menschenwürde explizit als Schranke der Meinungsfreiheit. Nach Art.  30 Abs.  6 der Verfassung von Rumänien von 1991 darf die freie Meinungsäußerung weder die Würde, die Ehre, das Privatleben der Person noch das Recht am eigenen Bild schädigen. Art.  25 Abs.  3 der Verfassung Litauens von 1992 sieht vor, dass die Freiheit, Überzeugungen zu äußern und Informationen zu erlangen und zu verbreiten, nicht anders als durch ein Gesetz beschränkt werden darf, sofern dies unerlässlich ist, um die Gesundheit, die Ehre und Würde, das Privatleben oder die Sittlichkeit eines Menschen zu schützen oder die verfassungsmäßige Ordnung zu verteidigen. Besonders weitreichend sind die Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die durch die Novelle 2013 in Art. IX des Grundgesetzes Ungarns aufgenommen wurden. Danach darf die Meinungsfreiheit nicht genutzt werden, um die Menschenwürde anderer, die Würde der ungarischen Nation oder nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Minderheiten zu verletzen.32 Aber auch dann, wenn die Menschenwürde nicht ausdrücklich als Schranke der Meinungsfreiheit erwähnt wird, spielt sie in der einschlägigen Gesetzgebung und der Rechtsprechung vieler Länder eine Rolle. Deshalb ist es zunächst sinnvoll, einen Blick auf ihre jeweilige verfassungsrechtliche Verankerung zu werfen (1.). Es folgt eine Kategorisierung der Schutzobjekte, da diese Unterscheidung für die Legitimation von Grenzen der Meinungsfreiheit sehr wichtig ist (2.).

1.  Die verfassungsrechtliche Verankerung Wie bei der Meinungsfreiheit liegen die Wurzeln der Menschenwürde in der europäischen Antike. Das Konzept findet sich erstmals in der stoischen Anthropologie, es wurde insbesondere von Cicero ausformuliert, der sich bereits ausdrücklich auf die Gleichheit aller Menschen bezogen hat.33 Die internationale Diskussion während und nach dem Zweiten Weltkrieg kulminierte in der Anrufung der Menschenwürde in der Präambel und in Art.  1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die   Tribunal Constitucional, Sentencia 51/1989, 22.2.1989, FJ 2.   „(4) The right to freedom of speech may not be exercised with the aim of violating the human dignity of others. (5) The right to freedom of speech may not be exercised with the aim of violating the dignity of the Hungarian nation or of any national, ethnic, racial or religious community. Persons belonging to such communities are entitled to enforce their claims in court against the expression of an opinion which violates the community, invoking the violation of their human dignity, as provided for by an Act.“ Englische Version veröffentlicht auf http://www.servat.unibe.ch/icl/hu01000_.html (2.8.2017). 33  Dazu Cancik, ‚Dignity of Man‘ and ‚Persona‘ in Stoic Anthropology, in: Cancik, Europa – Antike – Humanismus, Bielefeld 2011, S.  327–353. 31

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1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde.34 Obwohl heute die Menschenwürde in fast allen Mitgliedstaaten der EU verfassungsrechtlich grundsätzlich anerkannt ist,35 besteht keine Einigkeit darüber, wie sie zu verstehen ist.36 Dies gilt nicht nur für die Kontroversen über ihr inhaltliches Verständnis, sondern auch für ihren rechtlichen Status. Wenn man den Text und die Struktur der Verfassungen berücksichtigt, wird die Menschenwürde entweder als grundlegendes Prinzip oder als ein Grundrecht unter anderen verstanden37 (a). Oft wird sie ausdrücklich genannt, in manchen Ländern wird sie dagegen aus anderen Vorschriften abgeleitet (b).

a)  Menschenwürde als Grundprinzip und als Grundrecht Die prominente Proklamation der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art.  1 Abs.  1, der ersten Vorschrift des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes, ist nicht die früheste verfassungsrechtliche Regelung in Europa. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg, nämlich im Jahr 1937, wurde in die Präambel der Verfassung der Republik Irland als Zielbestimmung aufgenommen: „… auf dass die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet … werde“.38 In der irischen Rechtsprechung wird Würde v.a. als Grundwert verstanden, der zur Auslegung der einzelnen Grundrechte genutzt wird, in einzelnen Fällen aber auch als eigenständiges Recht.39 Ebenfalls älter ist Art.  3 Abs.  1 der italienischen Verfassung aus dem Jahr 1946, wonach alle Staatsbürger „die gleiche gesellschaftliche Würde“ haben. Diese Regelung wird als Grundwert der Verfassung verstanden.40 Besonders deutlich wird der Charakter als Grundsatz in   Dazu näher Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 3.  Aufl., Berlin 2012, S.  10–28; Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, Berlin 2016, S.  42–57; zu anderen internationalen Rechtstexten ­McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, European Journal of International Law 19 (2008), 655–724 (665–672). 35   Vgl. den Überblick bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4.  Aufl., Baden-Baden 2014, Art.  1 Rn.  2 , 2a; ein kurzer globaler Überblick bei Daly, Dignity Rights, Philadelphia 2013, S.  11–25. 36   Feldman, Human Dignity as a Legal Value, Public Law 1999, 682–702 (699); Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, in: Marauhn (Hrsg.), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, Tübingen 2003, S.  55–73; Lécuyer, Liberté d’expression et responsabilité, Paris 2006, S.  459; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, Göttingen 2010, S.  75; Carozza, Human Dignity in constitutional adjudication, in: Ginsburg/Dixon (Hrsg.) Comparative Constitutional Law, Cheltenham/Northampton 2011, S.  459–472 (460); Dupré, Dignity, Democracy, Civilisation, Liverpool Law Review 33 (2012), 263–280 (276); Brownsword, Human dignity form a legal perspective, in: Düwell/Brarvig/Brownsword/Mieth (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, Cambridge 2014, S.  1–22 (7); Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, Tübingen 2016, S.  201. 37   O’Mahoney, There is no such thing as a right to dignity, International Journal of Constitutional Law 10 (2012), 551–574 (559–565). 38   Zu ihrem Hintergrund in der katholischen Soziallehre Moyn, The Secret History of Constitutional Dignity, Yale Human Rights and Development Journal 17 (2014), 39–73. 39   Hughes, Human dignity and fundamental rights in South Africa and Ireland, Pretoria 2014, S.  375–482. 40   Corte Costituzionale, 293/2000, 11.7.2000, cons. dir. 3. 34

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der spanischen Verfassung. Art.  10, der in Abs.  1 die Würde des Menschen neben den unverletzlichen Rechten, die ihr innewohnen, der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Achtung des Gesetzes und der Rechte anderer als Grundlage der politischen Ordnung und des sozialen Friedens definiert, wird nicht in Art.  53 bei den Rechten genannt, die vor den allgemeinen Gerichten und durch Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können.41 Ebenso nennt Art.  13 Abs.  1 der portugiesischen Verfassung von 1976 die „gleiche gesellschaftliche Würde“ unter den allgemeinen Grundsätzen des Teils über Grundrechte und Grundpflichten. Auch in §  10 des Grundgesetzes der Republik Estland von 1992, der vor der Aufzählung der einzelnen Grundrechte steht, ist von einem Grundsatz der Menschenwürde die Rede. Das Bundesverfassungsgericht hat die Menschenwürde nicht nur als grundlegendes Verfassungsprinzip, sondern auch als individuelles Grundrecht anerkannt, das eigenständig im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.42 Gegen diese Auslegung sprechen allerdings gravierende Einwände, da damit das differenzierte System der Einzelgrundrechte, die ihrerseits als Ausformungen der Menschenwürde verstanden werden können, ausgehebelt werden kann.43 Art.  30 der polnischen Verfassung nennt die ungeborene und unveräußerliche Menschenwürde als ersten der allgemeinen Grundsätze im Kapitel über Freiheiten, Recht und Pflichten des Menschen und des Staatsbürgers. In Art.  233 Abs.  1 wird geregelt, dass sie, anders als etwa die Meinungsfreiheit, auch in Zeiten eines Kriegszustandes oder eines Notstands nicht eingeschränkt werden darf. Der polnische Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass Art.  30 der Verfassung unmittelbar anwendbar ist und sowohl als Wert wie auch als ein Persönlichkeitsrecht verstanden werden kann.44 Dagegen haben viele der neuen Verfassungen, die nach 1989 erlassen wurden, der Menschenwürde keinen prominenten Status eingeräumt, sondern nennen sie als ein Grundrecht unter anderen. In mehreren Verfassungen wird sie im Zusammenhang mit der Ehre erwähnt (Art.  35 Verfassung Kroatiens von 199045; Art.  32 Abs.  1 Verfassung Bulgariens von 199146 ; Art.  10 Abs.  1 der tschechischen Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten47; Art.  19 Abs.  1 Verfassung der Slowakischen Republik

41   Zur Rechtsprechung Oehling de los Reyes, El concepto constitucional de dignidad de la persona, Revista Española de Derecho Constitucional 2011, 135–178 (170–172). 42   BVerfGE 109, 133 (151) – Sicherungsverwahrung [2004]; 125, 175 (222) – Hartz IV [2010]; dazu ausführlich Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, Berlin 2016, S.  104–135. 43   So z.B. Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), BerlK-GG, Berlin (Lsbl.), Art.  1 Rn.  63–66 (Stand 2005); Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.  1, 3.  Aufl., Tübingen 2013, Art.  1 I Rn.  121–127 m.w.N. 44   Trybunał Konstytucyjny, K 28.05, 7.3.2007; englische Fassung abruf bar unter http://trybunal. gov.pl/fileadmin/content/omowienia/K_28_05_GB.pdf (7.8.2017). 45   „Jedem werden Achtung und rechtlicher Schutz seines Privat- und Familienlebens, seiner Würde, seines Ansehens und seiner Ehre gewährleistet.“ 46   „Das Privatleben der Bürger ist unantastbar. Jeder hat ein Recht auf Schutz gegen rechtswidrige Einmischung in sein Privat- und in sein Familienleben und gegen Angriffen auf seine Ehre, seine Würde und seinen guten Ruf.“ 47   „Jedermann hat das Recht auf Erhaltung seiner Menschenwürde, seiner persönlichen Ehre, seines guten Rufes und auf den Schutz seines Namens.“

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von 199248 ). In Art.  21 der Verfassung Litauens49 und in Art.  95 der Verfassung von Lettland aus dem Jahr 1922 mit Änderungen von 199850 wird die Menschenwürde gemeinsam mit dem Folterverbot geregelt. In Art.  34 der Verfassung der Republik Slowenien von 1991 finden wir die Menschenwürde neben dem Recht auf Sicherheit.51 Im Jahr 1994 wurde durch eine Änderung von Art.  23 der belgischen Verfassung das Recht eingeführt, ein menschenwürdiges Leben zu führen, das durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nach näherer Bestimmung des Gesetzgebers konkretisiert wird.

b)  Menschenwürde als ungeschriebenes Verfassungsrecht In einigen Ländern, deren Verfassungen keine ausdrückliche Garantie der Menschenwürde enthalten, wird ihr Schutz aus anderen Bestimmungen abgeleitet. Der französische Verfassungsrat hat hierzu Bezug auf die Präambel der Verfassung von 1946 genommen, die auch Bestandteil der Verfassung der Fünften Republik von 1958 ist. Dort verkündet das französische Volk, „dass jedes menschliche Wesen ohne Unterschied der Rasse, der Religion oder des Glaubens unveräußerliche und heilige Rechte besitzt.“ Daraus hat der Verfassungsrat geschlossen, dass die Menschenwürde ein Grundsatz mit Verfassungswert ist.52 Die praktische Bedeutung ist allerdings eher gering.53 Ohne Bezugnahme auf eine konkrete Norm, sondern unter Verweis auf eine Stimme in der Literatur, hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof anerkannt, dass die Menschenwürde einen allgemeinen Wertungsgrundsatz der österreichischen Rechtsordnung darstellt.54 Spätere Entscheidungen nehmen Bezug auf Art.  3 EMRK.55 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus Art.  3 EMRK über den engeren Kontext des Folterverbots hinaus in mehreren Konstellationen eine Pflicht 48   „Jeder hat das Recht auf Achtung der Menschenwürde, der persönlichen Ehre, seines guten Rufes und auf Schutz des Namens.“ 49   „Die Persönlichkeit des Menschen ist unantastbar. Die Würde des Menschen ist gesetzlich geschützt. Es ist verboten, Menschen zu foltern, körperlich zu verletzen, ihre Würde herabzusetzen, grausam mit ihnen umzugehen sowie Strafen solcher Art zu verhängen. Mit einem Menschen dürfen ohne seine Kenntnis und sein freies Einverständnis keine wissenschaftlichen oder medizinischen Versuche durchgeführt werden.“ 50   „Der Staat schützt Ehre und Würde des Menschen. Folter sowie sonstige grausame oder die Würde herabsetzende Behandlung gegen einen Menschen sind verboten. Niemand darf einer grausamen oder die Menschenwürde verletzenden Strafe unterzogen werden.“ 51   „Jedermann hat das Recht auf persönliche Würde und Sicherheit.“ 52   Conseil Constitutionnel, 94–343–344; 27.7.1994, cons. 2: „… la sauvegarde de la dignité de la personne … est un principe à valeur constitutionnel“; s.a. Oberdorff, Droits de l’homme et libertés fondamentales, 5.  Aufl., Issy-les-Moulineaux 2015, S.  4 46–455. 53  Dazu Cossalter, La dignité humaine en droit public français: l’ultime recours, Revue générale du droit (www.revuegeneraledudroit.eu), Etudes et réflexions 2014, numéro 4. 54   Verfassungsgerichtshof, B3367/96, 23.2.1998, VfSlg. 15.068/1998; dazu Burger, Das Verfassungsprinzip der Menschenwürde in Österreich, Frankfurt/Main etc. 2002, S.  55–142. 55  Zuletzt Verfassungsgerichtshof, U2131/2012, 06.03.2014, VfSlg. 19856/2014; s. a. Berka, Die Grundrechte, Wien/New York 1999, S.  216–222.

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zum Schutz der Menschenwürde abgeleitet.56 So kann etwa eine erniedrigende Misshandlung vorliegen, wenn das Leid durch eine körperliche oder seelische Krankheit verschlimmert wird,57 wenn eine Person nicht vor unzumutbaren und gesundheitsgefährdenden Lebensumständen geschützt wird58 oder wenn Angeklagte im Gerichtssaal in einen Metallkäfig eingesperrt werden.59 Diese Auslegung von Art.  3 EMRK wurde in einem Urteil des britischen House of Lords aufgegriffen.60 Von einem eigenständigen Grundsatz der britischen Rechtsordnung wird man aber nicht sprechen können.

2.  Die Schutzobjekte David Feldman hat eine hilfreiche Unterscheidung zwischen verschiedenen Schutzobjekten der Menschenwürde eingeführt: individuelle Menschen, Gruppen oder die Menschheit.61 Die Würde der Menschheit ist in erster Linie bei den schwierigen Fragen der humanen Reproduktions- und Gentechnologie betroffen, die aber für unser Thema nicht relevant sind. Für die Analyse der Fallkonstellationen in Bezug auf die Grenzen der Meinungsfreiheit ist dagegen die Frage, ob sie dem Schutz von konkreten Individuen oder von gesellschaftlichen Gruppen dienen, sehr nützlich. Ein ausdrücklicher Bezug auf die Würde von Gruppen findet sich nur in der bereits zitierten ungarischen Verfassung.62 Vergleichbare Fälle finden sich aber auch in anderen Verfassungsordnungen. Eine weitere Kategorie, die Feldman nicht im Blick hatte, bildet der Rekurs auf die Menschenwürde, um staatliche Institutionen zu legitimieren.

a)  Individuen oder Gruppen Die Nützlichkeit der Unterscheidung zwischen dem Schutz von Individuen und Gruppen wird exemplarisch am PETA-Fall deutlich, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2012 entschieden hat. Die deutsche Repräsentanz der Tierschutzorganisation PETA plante eine Werbekampagne mit dem Titel „Der Holocaust auf Ihrem Teller“. Dabei sollten Plakate gezeigt werden, auf denen jeweils KZ-Insassen und in Massentierhaltung gehaltene Tiere abgebildet waren, zusammen 56  Ausführlich Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, Berlin 2016, S.  204–243. 57   EGMR, Pretty/Vereinigtes Königreich, 2346/02, 29.4.2002, NJW 2002, 2851 (2853); Hristozov u.a./Bulgarien, 47039/11, 358/12, 13.11.2012, NJW 2014, 447 (449). 58   EGMR, Moldovan/Rumänien, 41138/98, 12.7.2005, Rn.  111; M.S.S./Belgien und Griechenland, 30696/09, 21.1.2011, NVwZ 2011, 413 (416). 59  EGMR, Svinarenko u. Slyadnev/Russland, 32541/08, 43441/08, 17.7.2014, NJW 2015, 3423 (3424–3426). 60   House of Lords, R (Limbuela) v Secretary of State for the Home Department u.a., 3.11.2005, [2005] UKHL 66, Lady Hale para. 76: „… It reflects the fundamental values of a decent society, which respects the dignity of each individual human being, no matter how unpopular or unworthy she may be.“; weitere britische Rechtsprechung bei Dupré, Dignity, Democracy, Civilisation, Liverpool Law Review 33 (2012), 263–280 (268–273). 61   Feldman, Public Law 1999, 682–702 (684). 62   S.o. Fn.  32.

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mit einem kurzen Text. Um dies zu verhindern, beantragten drei Personen, die den Holocaust als Kinder überlebten und nun in Leitungspositionen des Zentralrats der Juden in Deutschland tätig waren, eine zivilrechtliche Unterlassungsverfügung. Sie wurde vom Landgericht Berlin erlassen, weil die Kampagne eine Beleidigung der Kläger als Opfer des Holocausts darstelle, mit der in ihre Menschenwürde aus Art.  1 Abs.  1 GG eingegriffen werde. Das dagegen von PETA angerufene Bundesverfassungsgericht äußerte zwar Zweifel, ob in diesem Fall die Menschenwürde betroffen sei, es wies die Verfassungsbeschwerde aber dennoch ab, weil der Eingriff in die Meinungsfreiheit durch den Schutz der Persönlichkeitsrechte der in Deutschland lebenden Juden gerechtfertigt sei.63 Dem schloss sich der Straßburger Gerichtshof an, wobei die Mehrheit sich auf die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts stützte und zusätzlich auf die besondere deutsche Geschichte verwies.64 Dieses Argument wurde in der zustimmenden Meinung der Richter Zupancˇ icˇ und Spielmann kritisiert, die sich dafür aussprachen, eine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen, die unabhängig vom kulturellen Kontext vorliege. Unabhängig von der Begründung ist in diesem Fall klar, dass die drei Kläger nicht als Individuen von PETA angegriffen wurden, sondern dass es um den Schutz der Gruppe der Holocaustopfer ging. Um die gleiche Gruppe geht es auch bei §  130 Abs.  4 StGB, der ausdrücklich den Schutz ihrer Menschenwürde als Strafzweck nennt. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung nicht auf Art.  1 GG rekurriert, wie bereits dargestellt.65 Eine ähnliche Strafvorschrift wurde im Jahr 1995 in Belgien erlassen, durch die das Leugnen, Banalisieren, Rechtfertigen oder Befürworten des Genozids, der vom deutschen nationalsozialistischen Regime während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde, verboten wurde. Der belgische Verfassungsgerichthof entschied, dass es sich dabei nicht um eine diskriminierende Beschränkung der Meinungsfreiheit handele. Er akzeptierte die Begründung des Gesetzgebers, wonach zum einen die Demokratie vor Rassismus geschützt werden müsse, und zum anderen die Äußerung solcher Auffassungen entehrend und beleidigend für das Gedächtnis der Opfer des Völkermordes, für ihre Hinterbliebenen und insbesondere für das jüdische Volk selbst sei.66 Ein Bezug auf die Menschenwürde fehlt auch in dieser Begründung. Auch im Benetton-Fall verweigerte das Bundesverfassungsgericht eine Einschränkung der Meinungsfreiheit durch eine Mobilisierung der Menschenwürde. Eine Verbraucherschutzorganisation hatte beantragt, die Veröffentlichung einer Anzeige eines Textilunternehmens zu untersagen, in der das Foto eines nackten Gesäßes mit dem Stempel „H.I.V. POSITIVE“ gezeigt werden sollte. Der Bundesgerichtshof hatte hierin ein sittenwidriges Verhalten gesehen, da die Anzeige in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde von HIV-Positiven verstoße.67 Das Bundesverfassungsgericht verwarf diese Argumentation und entschied vielmehr,   BVerfG, NJW 2009, 3089 = BVerfGK 15, 93.   EGMR, PETA/Deutschland, 43481/09, 8.11.2012, NJW 2014, 137 (139). 65   BVerfGE 124, 300; ebenso aus strafrechtlicher Sicht Wehinger, Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung, Baden-Baden 1994, S.  88–95; anders z.B. Cremer, Verbreitung rassistischer Positionen – Meinungsfreiheit hat Grenzen, ZRP 2017, 151 (152). 66   Verfassungsgerichtshof Belgien, 45/96, 12.7.1996; deutsche Fassung abruf bar unter http://www. const-court.be/de/common/home.html (8.8.2017). 67   BGH, NJW 1995, 2492 (2493). 63

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dass auch eine Werbeanzeige gesellschaftliche Probleme thematisieren dürfe, so dass eine Verletzung der Meinungsfreiheit bejaht wurde.68 Hier ist besonders deutlich, dass es nicht um den Schutz der Würde der fotografierten Person oder einzelner Kranker ging, sondern um ein ganz anderes Ziel, die Verhinderung der Vermischung kommerzieller Werbung und politischer Kommunikation. Einen explizit individualbezogenen Ansatz wählte der belgische Verfassungsgerichtshof bei der Beurteilung einer Vorschrift gegen sexistische Diskriminierung aus dem Jahr 2014. Dadurch wurde in Belgien „jede Geste oder jedes Verhalten, die … augenscheinlich zum Ziel haben, einer anderen Person gegenüber Geringschätzung wegen ihres Geschlechts zum Ausdruck zu bringen oder sie aus demselben Grund als minderwertig anzusehen oder auf ihre geschlechtliche Dimension zu reduzieren, und die eine ernsthafte Verletzung der Würde dieser Person zur Folge haben“, unter Strafe gestellt. Der Gerichtshof hielt diese Einschränkung der Meinungsfreiheit ohne Rekurs auf die Menschenwürde durch die Garantie der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau für gerechtfertigt. Er betonte allerdings, dass der Gesetzgeber die Strafvorschrift auf solche Fälle begrenzt habe, in denen sich der Ausdruck der Miss­ achtung auf bestimmte Personen beziehe und gerade nicht auf abstrakte Gruppen.69 Es ist nicht überraschend, dass die Menschenwürde inzwischen auch mobilisiert wurde, um Einschränkungen der Meinungsfreiheit zum Schutz vor der Kritik an Religionen zu rechtfertigen. Europaweite Aufmerksamkeit hatte diese Frage im Zusammenhang mit den Mohammed-kritischen Karikaturen eines dänischen Zeichners im Jahr 2005 gefunden. Gerichtsverfahren gegen ihren Abdruck waren nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern erfolglos.70 Das Delikt der Blasphemie wurde in Frankreich schon im Jahr 1791 abgeschafft.71 Dagegen steht in Deutschland nach §  166 StGB die Beschimpfung eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses oder einer Kirche oder anderen Religionsoder Weltanschauungsgemeinschaft nach wie vor unter Strafe, wenn sie geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.72 Diese Bestimmung wird in der Literatur damit gerechtfertigt, dass sie die individuelle Identität der Gläubigen schütze.73 Mit diesem Argument ist der Bezug zur Menschenwürde naheliegend, denn die persönliche Identität ist als eines ihrer Elemente anerkannt.74 Folglich verwundert es nicht, dass eine Religionskritik jedenfalls dann als Angriff auf die Menschenwürde angesehen 68   BVerfGE 102, 347 (359–369) – Benetton I [2000]; krit. z.B. Hochhuth, Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, Tübingen 2007, S.  314–324. 69  Verfassungsgerichtshof Belgien, 72/2016, 25.5.2016; deutsche Fassung abruf bar unter http:// www.const-court.be/de/common/home.html (8.8.2017); krit. Charruau, Le ‚sexism‘: une interdiction générale qui nous manqué ?, Revue du Droit Public 2017, 765–794 (782–786). 70   Überblick bei Langer, Law, Religious Offence and Human Rights, Zürich 2013, S.  79–93. 71   de Saint-Victor, Blasphème, Paris 2016, S.  58. 72  Zur historischen Entwicklung knapp Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, Tübingen 2012, S.  16–24. 73   Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, in: Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung, Berlin 2007, S.  31–62 (48–51); Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag, München 2010, S.  163; krit. Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, Tübingen 2012, S.  81–189; Hörnle, Bekenntnisbeschimpfung (§  166 StGB): Auf heben oder Ausweiten?, JZ 2015, 293–297 (296). 74   Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7.  Aufl., München 2014, Art.  1 Rn.  37.

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wird, wenn eine Person damit als unterwertiges Wesen behandelt werde.75 In einem versammlungsrechtlichen Kontext wurde allerdings auch in Deutschland das öffentliche Zeigen der Mohammed-Karikaturen nicht sanktioniert, da es sich unter Berücksichtigung der Kunstfreiheit nicht um eine „Beschimpfung“ handele.76 Dass man die Menschenwürde sogar nutzen kann, um Diskriminierungen zu rechtfertigen, zeigt ein aktueller Fall des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In Russland haben mehrere Regionen Gesetze erlassen, welche die öffentliche Propaganda für Homosexualität unter Minderjährigen verbieten. Um dagegen zu protestieren, hatten mehrere Personen vor Schulen und einer Kinderbibliothek Plakate gezeigt, in denen Homosexualität als normal bezeichnet wird. Der russische Richter Dedov rechtfertigte das Verbot damit, dass es die ungestörte Entwicklung der Kinder und damit ihre Würde und Integrität schütze. Dagegen wurde die Bestrafung von der Mehrheit der Kammer als Verstoß gegen Art.  10 EMRK qualifiziert, da die Diskriminierung der Homosexuellen nicht mit Moralvorstellungen gerechtfertigt werden könne und sich niemand in das Privatleben einzelner Jugendlicher eingemischt habe. Allenfalls der Schutz konkreter Personen, nicht aber der Jugendlichen als Gruppe, könnte also Einschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigen. Zusammenfassend kann folglich festgehalten werden, dass das Gewicht der Argumentation mit dem Schutz der Menschenwürde davon abhängt, wer geschützt wird. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit ist allenfalls gerechtfertigt, wenn sie zum Schutz konkreter Individuen vor gravierenden Beeinträchtigungen notwendig ist. Dagegen ist es sehr fragwürdig, in kritischen Äußerungen gegenüber Gruppen der Bevölkerung einen Verstoß gegen die Menschenwürde zu sehen. Wie ist es mit der Wurzel der Menschenwürde in der Gleichheit aller Menschen vereinbar, wenn einzelnen gesellschaftlichen Gruppen eine besonders schützenswerte Würde zuerkannt wird, anderen aber nicht? Solche Fälle der Diskriminierung können über andere Rechtsgüter wie den öffentlichen Frieden gelöst werden.77

b)  Öffentliche Interessen und staatliche Institutionen Neben individuellen Rechten können auch öffentliche Interessen und staatliche Institutionen als Schutzgüter für die Beschränkung der Meinungsfreiheit herangezogen werden. Besonders umfangreich ist die Aufzählung in Art.  10 Abs.  2 EMRK. Trotz der nicht nur dort zu findenden Unterscheidung zwischen öffentlichen Interessen und privaten Rechten bei der Rechtfertigung einer Grundrechtsbeschränkung gibt es erstaunlich viele Konstellationen, in denen die Menschenwürde herangezogen wird, um den Schutz überindividueller Rechtsgüter oder staatlicher Institutionen zu begründen. Der französische Staatsrat hat zur Rechtfertigung eines Verbotes der eigenartigen Sportart des „Zwergenweitwurfs“ entschieden, dass es zum Schutz der öffentlichen Ordnung erforderlich sei, die auch die Menschenwür75   Steinberg, Charlie Hebdo: Ist Blasphemie schützenswert? – Meinungsfreiheit und der Schutz religiöser Gefühle in westlichen Verfassungsstaaten –, DVBl. 2016, 1281–1289 (1286). 76   OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2012, 3116 (3117). 77   Brugger, Hassrede, Beleidigung, Volksverhetzung, JA 2006, 687 (691), anders Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 3.  Aufl., Berlin 2012, S.  380–382.

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de umfasse.78 Da die menschlichen Wurfobjekte mit dem Sport einverstanden waren, kommt hier die Menschenwürde nicht als subjektives Recht, sondern als rein objektiver Wert zur Geltung. Der italienische Verfassungsgerichtshof hatte einen Fall zu entscheiden, in dem die Veröffentlichung des Fotos einer Person, die bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen war, als Verstoß gegen die Moral auf der Grundlage des Pressegesetzes bestraft werden sollte. Da die Leiche selbst nicht Träger von eigenen Rechten ist, musste hierfür ein öffentliches Gut zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Pressefreiheit gefunden werden. Das Verfassungsgericht sah es in einer Verletzung der guten Sitten gemäß Art.  21 Abs.  6 der Verfassung, da dadurch nichts anderes als das fundamentale Rechtsgut der Menschenwürde geschützt werde.79 Auch im Zusammenhang mit Militär und Polizei wurde die Würde mobilisiert. Nach der bereits erwähnten Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts ist es ein Zweck der Vorschrift, die eine Beleidigung der Armee unter Strafe stellt, deren Würde zu schützen.80 Allerdings wurde auch klargestellt, dass dieses Rechtsgut nicht in den Grundrechten verankert werden könne und geringeres Gewicht als die Meinungsfreiheit aufweise. Es handelt sich um eine andere Art von Würde als bei Menschen. Dagegen wurde in der Diskussion über den Satz „Soldaten sind Mörder“ und Kollektivbeleidigungen von Polizisten, die vom Bundesverfassungsgericht als von der Meinungsfreiheit geschützt angesehen werden,81 geltend gemacht, die Menschenwürde der Mitglieder der Bundeswehr wie auch der Polizei betreffe nicht nur deren individuelle Grundrechte, sondern auch den notwendigen Schutz der Institutionen und damit die Grundlagen der Sicherung des demokratischen Rechtsstaats.82 In dieser Argumentationslinie ist es nur folgerichtig, wenn auch die Maßnahmen der Terrorismusabwehr mit dem Schutz der Menschenwürde begründet werden.83 Weil islamistische Terroristen ihre Opfer meist willkürlich auswählen, würden sie von ihnen wie Objekte behandelt, so dass mit der Dürig‘schen Formel84 eine Würdeverletzung vorliege und somit die Schutzpflicht aus Art.  1 Abs.  1 GG eingreife. In der Konsequenz können mehr oder weniger alle staatlichen Maßnahmen gegen Terrorismus gerechtfertigt werden, auch Einschränkungen der Meinungsfreiheit, so dass es letztlich sogar zu einer Abwägung zwischen der Menschenwürde der Überwachten und der Menschenwürde der Geschützten kommen müsse.85   Conseil d’Etat, 136727, 27.10.1995, Commune de Morsang-sur-Orge: „le respect de la dignité de la personne humaine est une des composantes de l’ordre public“; ebenso VG Neustadt, NVwZ 1993, 98; krit. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.  1, 3.  Aufl., Tübingen 2013, Art.  1 I Rn.  154, m.w.N. 79   Corte Costituzionale, 293/2000, 11.7.2000, cons. dir. 3: „bene fondamentale della dignità umana“; ähnlich bereits 368/1992, 9.7.1992, cons. dir. 2. 80  Vgl. Fn.  31; zur Frage eines Ehrschutzes der Armee auch EGMR, Grigoriades/Griechenland, 24348/94, 25.11.1997. 81   BVerfGE 93, 266 (289–305); BVerfG, NJW 2015, 2022; NJW 2016, 2643. 82   Rüthers, Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurteilen – Zur Zulässigkeit von Pauschalbeleidigungen, NJW 2016, 3337 (3341). 83   Frenz, Terrorismus und Menschenwürde, DÖV 2015, 305–309 (306); s.a. McCrudden, European Journal of International Law 19 (2008), 655–724 (702). 84   Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117–157 (127). 85   Frenz, DÖV 2015, 305–309 (309). 78

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Die Konsequenz einer solchen Abwägung haben bisher allerdings sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wie auch das Bundesverfassungsgericht vermieden. Der EGMR hat im Gäfgen-Fall sehr deutlich gemacht, dass Art.  3 EMRK in keinem Fall eingeschränkt werden könne, selbst wenn das Ziel der Schutz von Leben sei.86 Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung über das Flugsicherheitsgesetz zwar anerkannt, dass die Menschenwürde und der Schutz des Lebens eng verknüpft sind. Auch mit dem Schutz anderer unbeteiligter Personen könne aber nicht gerechtfertigt werden, dass die unbeteiligten Personen im abzuschießenden Flugzeug getötet werden, weil sie damit als bloße Objekte einer Rettungsaktion zum Schutz anderer behandelt würden.87

IV. Schlussfolgerungen Es besteht kein Zweifel, dass Meinungsäußerungen individuelle Rechte und öffentliche Interessen verletzen können. Deshalb sind Einschränkungen der Meinungsfreiheit notwendig und von allen demokratischen Verfassungsordnungen anerkannt. Einige der Schrankenklauseln in nationalen Verfassungstexten beziehen sich ausdrücklich auf die Menschenwürde. Auch in anderen Rechtsordnungen haben Gesetzgeber und Gerichte dieses Rechtsgut genutzt, um der Meinungsfreiheit Grenzen zu ziehen. Es ist offensichtlich, dass die Anrufung der Menschenwürde regelmäßig dazu dient, dem konfligierenden Recht bzw. Wert ein höheres Gewicht zu geben.88 Sie wird als eine Art Jokerkarte genutzt, um mehr und mehr Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu rechtfertigen. Wenn die Menschenwürde als eine „Norm der Superlative“ verstanden wird,89 die zudem einen nahezu unbeschränkten Anwendungsbereich hat,90 kann sie genutzt werden, um alle anderen Grundrechte zu übertrumpfen. Diese Konsequenz hat auch das Bundesverfassungsgericht klar formuliert: „Die Meinungsfreiheit muss jedoch stets zurücktreten, wenn die Äußerung einer Meinung die Menschenwürde eines anderen antastet.“91 Diese Problematik kann man auch anhand der eingangs geschilderten Diskussion in der griechischen Antike verdeutlichen. Wenn die Begründung für die Verurteilung von Sokrates durch den Athener Gerichtshof heute geschrieben würde, wäre es nicht überraschend, wenn dort das Argument benutzt würde, dass seine blasphemi  EGMR, Gäfgen/Deutschland, 22978/05, 1.6.2010, NJW 2010, 3145 (3146, Rn.  107: „Der philosophische Kerngedanke, der hinter dem absoluten Charakter des von Art.  3 EMRK garantierten Rechts steht, lässt keine Ausnahme zu, keinen Rechtfertigungsgrund und keine Interessenabwägung, was immer der Betroffene getan hat und welcher Art immer die Straftat ist, die man ihm vorwerfen könnte.“; zur deutschen Debatte statt aller Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, Berlin 2016, S.  206–218. 87   BVerfGE 115, 118 (151–160) – Luftsicherheitsgesetz [2006]. 88   Carozza, in: Ginsburg/Dixon (Hrsg.) Comparative Constitutional Law, Cheltenham/Northampton 2011, S.  459–472 ( 466–467). 89   Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, Berlin 2016, S.  11, der allerdings eine restriktive Auslegung befürwortet (S.  260–264). 90   Dreier, Human Dignity in German law, in: Düwell/Brarvig/Brownsword/Mieth (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity, Cambridge 2014, S.  375–385 (378). 91  BVerfG, NJW 2010, 2193 (2194–2195); ebenso Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, München (Lsbl.), Art.  5 Rn.  158 (Stand 2013). 86

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schen Äußerungen die Würde aller gläubigen Anhänger der griechischen Götter verletzt haben. Wie könnte auch das Recht auf freie Meinungsäußerung eines trotzigen Außenseiters höheres Gewicht haben als die Menschenwürde der großen Mehrheit der Bürger? Der immer häufiger werdende Verweis auf die Würde in verfassungsrechtlichen Argumentationen dient aber nicht dazu, die rechtlichen Probleme zu klären, sondern verdunkelt sie. Der Verfassungsvergleich hat gezeigt, dass die Texte der Schrankenklauseln und die Rechtsprechung sehr vielfältige Rechtsgüter nennen. Welche Schranken mit welchem Gewicht anerkannt werden, ist in einem gewissen Umfang kontingent und abhängig von den historischen, kulturellen und politischen Traditionen der Länder, nicht nur in Europa.92 Auch der EGMR erkennt hier Spielräume an, insbesondere wenn es nicht um politische Äußerungen geht.93 Deshalb ist es durchaus relevant, wenn eine Beschränkung dazu dient, die Menschenwürde zu schützen, aber damit ist die Auseinandersetzung mit den konfligierenden Rechten bzw. Rechtsgütern nicht per se beendet. Insbesondere muss auch berücksichtigt werden, dass die Menschenwürde selbst die Grundlage für Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit ist und nicht nur für ihre Begrenzung.94 Insbesondere darf auch die demokratische Funktion der freien Rede, wie sie bereits im antiken Griechenland anerkannt war, nicht vernachlässigt werden, wenn die Menschenwürde mobilisiert wird. Deshalb gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, um einen Konflikt zwischen der Meinungsfreiheit und der Menschenwürde aufzulösen. Wenn die Menschenwürde als absolutes, nicht einschränkbares Recht verstanden wird, wie es insbesondere für die Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht gilt,95 muss sie sehr zurückhaltend angewendet werden. Wenn man den historischen Hintergrund dieser Garantie in den Untaten des nationalsozialistischen Regimes, einschließlich der rechtlichen Ausgrenzung und später auch physischen Vernichtung von Minderheiten in Erinnerung ruft, daß wird offensichtlich, dass bloß verbale Äußerungen von Missachtung durch Privatpersonen nicht die gleiche Schwere haben können. Richtigerweise hat deshalb das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung besonders streng sind.96 Bis heute hat es alle konkreten Fälle gelöst, ohne auf Art.  1 GG zurückzugreifen.97 Vielmehr stehen 92   Carozza, in: Ginsburg/Dixon (Hrsg.) Comparative Constitutional Law, Cheltenham/Northampton 2011, S.  459–472 (465); McCrudden, European Journal of International Law 19 (2008), 655–724 (697–710); O’Mahoney, International Journal of Constitutional Law 10 (2012), 551–574 (557–559). 93   Nachweise bei Daiber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, 4.  Aufl., Baden-Baden 2017, Art.  10 Rn.  33; s.a. Spielmann/Schuster, Anstößige Meinungen – ein Blick auf neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde, Tübingen 2013, S.  165–173. 94   BVerfGE 107, 275 (284) – Benetton II [2003]; Korinek, Der Schutz der Menschenwürde im Verfassungsrecht und im internationalen Recht, in: Harrer/Honsell/Mader (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Theodor Mayer-Maly, Wien 2011, S.  257–268 (259–260); Daly, Dignity Rights, Philadelphia 2013, S.  95; sehr ausführlich Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 3.  Aufl., Berlin 2012, S.  329–451. 95  Nach McCrudden, European Journal of International Law 19 (2008), 655–724 (711), ist dieser Ansatz international einmalig. 96   BVerfGE 124, 300 (344). 97   Vgl. allerdings zur Kunstfreiheit BVerfGE 75, 369 ff. – Strauß-Karikatur [1987]; krit. Würkner, Wie frei ist die Kunst?, NJW 1988, 317 (318).

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mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte,98 der Verhinderung von Diskriminierung aus rassistischen, sexistischen oder anderen Gründen wie auch mit dem Schutz öffentlicher Interessen Rechtsgüter zur Verfügung, mit denen Einschränkungen der Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden können, ohne dass die Menschenwürde bemüht werden muss.99 Die zweite Lösung bietet sich in allen Verfassungsordnungen an, in denen die Menschenwürde nicht als oberster Wert, sondern als ein Grundrecht unter anderen verstanden wird. In diesem Fall spricht nichts dagegen, die Würde mit anderen Rechten unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falles abzuwägen,100 weil sie nicht per se ein höheres Gewicht hat und damit auch nicht die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausschließt. Diese Lösung könnte auch auf Deutschland übertragen werden, wenn man die Schutzfunktion von Art.  1 Abs.  1 GG gegenüber Beeinträchtigungen durch Private weniger streng handhabt als die Abwehrfunktion gegenüber staatlichen Eingriffen, die weiterhin absolut verboten bleiben.101 Dies entspricht der generellen Doktrin, dass bei der Erfüllung von Schutzpflichten, die aus Grundrechten abgeleitet werden, ein größerer Spielraum des Gesetzgebers besteht als bei Eingriffen.102 Gerade wenn man berücksichtigt, dass verbale Attacken ein geringeres Gewicht haben als Folter oder die staatliche Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen, kann in diesen Fällen ein Abwägungsspielraum mit anderen Grundrechten eröffnet werden, ohne einer generellen Relativierung der Menschenwürde die Tür zu öffnen. Es ist also durchaus nicht auszuschließen, dass der Schutz der Menschenwürde Einschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigen kann. Dies ist aber nur dann anzuerkennen, wenn es sich um gravierende Angriffe auf konkrete Individuen handelt, mit denen ihr Wert als gleichberechtigte Personen bestritten wird.103 Dagegen ist die Annahme einer Menschenwürde von Personengruppen oder gar ihre Heranziehung zur Legitimation von staatlichen Institutionen sehr problematisch und missbrauchsanfällig, zumal hier viel eher eine Beeinträchtigung der freien öffentlichen Diskussion zu befürchten ist. Aktuelle Entwicklungen in vielen europäischen Ländern erinnern uns daran, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass Regierungen das Recht auf freie politische Debatten respektieren. Es wäre fatal, wenn das allseits anerkannte Schutzgut der Menschenwürde genutzt würde, um die Grundlagen der freiheitlichen Demokratie zu unterhöhlen.

98  So etwa für Religionshetze v. Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung?, in: Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung, Berlin 2007, S.  63–104 (79 f.). 99  Ebenso Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6.  Aufl., München 2010, Art.  5 Abs.  1, 2 Rn.  193; speziell zum Jugendschutz Groß, Selbstregulierung im medienrechtlichen Jugendschutz am Beispiel der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen, NVwZ 2004, 1393–1399 (1396–1397). 100   So explizit Conseil Constitutionnel, 94–343–344, 27.7.1994, cons. 3. 101  Angedeutet bei Kingreen/Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 32.   Aufl., Heidelberg 2016, Rn.  398; dagegen Linke, JuS 2010, 888 (893). 102   BVerfGE 125, 39 (78) – Sonn- und Feiertagsruhe [2009]; 142, 313 (337) – Einwilligung des Betreuers in ärztliche Zwangsmaßnahme [2016]; zur Diskussion z.B. Volkmann, Staatrecht II, Grundrechte, 2.  Aufl., München 2011, §  5 Rn.  55–64; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.  1, 3.  Aufl., Tübingen 2013, Vorb. Rn.  103 m.w.N. 103   Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, München (Lsbl.), Art.  5 Rn.  158 (Stand 2013).

Die Freiheit der Person: Grundrecht und Grundrechtsvoraussetzung von

Dr. David Kuch, Universität Würzburg Inhalt I. Differenzierte Eingriffsdogmatik, ungewisser Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Eingriffslastige Auslegung des Grundrechtstatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Rückschluss vom Eingriff auf das Schutzgut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Begrenzte Aussagekraft der Habeas-Corpus-Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 aa) Bloße Reformulierung der Schutzbereichsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 bb) Konkurrenz von anderen Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Untauglichkeit des Eingriffszwecks zur Schutzbereichsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 aa) Zirkelschluss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 bb) Begrifflich-systematische Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3. Die praktische Relevanz der Schutzbereichsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Mannig fache Anwendungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Zwischenfazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Die Freiheit der Person und die Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Die „Freiheit der Person“ als Freiheitsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG nicht Garantie einer Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Die Freiheit der Person als „Voraussetzung“ von Handlungsfreiheit(en) . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Freiheitsvoraussetzungen und Grundrechtsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Die Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 b) Grundrechtsschutz von Grundrechtsvoraussetzungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 III. Die Freiheit der Person als Grundrechtsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Rekonstruktion der Schutzgehalte von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Bewegungsfreiheit als Voraussetzung extrovertierter Freiheitsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Personale Freiheit als Wirksamkeitsvoraussetzung aller Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Fazit zu den Schutzgehalten von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Rekonstruktion der Eingriffstypologie von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 a) Entzug von Grundrechtsausübungsvoraussetzungen durch Strafhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 b) Wegbewegungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 c) Hinbewegungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 d) Wegbewegungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

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e) Hinbewegungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 f) Rechtsdurchsetzung, insbesondere Zwangsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 g) Fazit zur Eingriffstypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3. Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 IV. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Die Freiheit der Person, in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG als „unverletzlich“ bezeichnet, genießt „unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderen Rang“1. Doch lassen solche Zuschreibungen den Leser ein Stück weit im Unklaren: Über das Schutzgut dieses Rechts – also darüber, was genau hier in so hohem Maße Schutz verdient2 – ist bei näherem Hinsehen erstaunlich wenig bekannt. Dieser Umstand ist allein in Anbetracht der langen Geschichte der Verbürgung aller Aufmerksamkeit wert. Die praktische Notwendigkeit, ihm durch weitere Auf hellung der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts entgegenzuwirken, folgt nicht zuletzt aus dem aktuellen Trend zur Ausweitung präventiver Freiheitseingriffe.3 Der vorliegende Beitrag unternimmt im Anschluss an eine kurze Problemexposition (I.) den Versuch, dem nach wie vor recht konturlosen Schutzbereich von Art.  2 Abs.  2 S.  2 unter Heranziehung allgemeiner Grundrechtslehren näher zu kommen (II., III.). Ohne den Anspruch einer die Materie erschöpfenden Darstellung verfolgt er vor allem das Ziel, der Suche nach dem Schutzgut neue Wege zu erschließen.

I.  Differenzierte Eingriffsdogmatik, ungewisser Schutzbereich Das belastbare Wissen über Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG verteilt sich ungleichmäßig über die grundrechtsdogmatischen Strukturelemente dieses Jedermannsrechts. Einerseits ist man sich über die Beschreibung des sog. Grundrechtstatbestands, zumindest was dessen „Kernbereich“ anbelangt, nach allgemeinem Bekunden einig:4 Staatliche Maßnahmen, die sich als „Festhaltung, zwangsweise Vorführung, Fesselung und Einsperrung“ darstellen, werden seit jeher an dieser Vorschrift i.V.m. Art.  104 GG gemes-

1   BVerfGE 104, 220 (234) – Abschiebungshaft [2001]; s. auch E 105, 239 (247) – Richtervorbehalt [2002]; 117, 71 (95) – Strafrestaussetzung [2006]; 128, 326 (372 f.) – Sicherungsverwahrung IV [2011]. 2   Allg. zum Schutzgut K. Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S.  622 ff.; zum Verständnis der Rechtsprechung S. Löffler, Rechtsgut als Verfassungsbegriff ? Der Rekurs auf Güter im Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2017, S.  212 f. 3   Wie in Bayern durch die zum 1.8.2017 in Kraft getretene Änderung des BayPAG durch das „Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen“ v. 24.7.2017 (GVBl. Nr.  13/2017, S.  388) mit der Möglichkeit sukzessiver Gewahrsamsverlängerung ohne Höchstgrenze (Art.  20 Nr.  3 S.  3 BayPAG n.F.) und einer ständigen Aufenthaltsüberwachung per elektronische Fußfessel (Art.  32a n.F. auch i.V.m. Art.  11 Abs.  3 n.F. BayPAG); aus ähnlichen Motiven räumte der Bundesgesetzgeber den Ausländerbehörden qua Änderung des AufenthG mit Wirkung zum 29.7.2017 durch das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ v. 20.7.2017 (BGBl. I, S.  2780) neue Befugnisse ein: etwa §  56 Abs.  1 S.  2 n.F. AufenthG (zusätzliche Ermächtigung zur Erteilung von Meldeauflagen), §  56a n.F. (elektronische Fußfessel) sowie §  62 Abs.  3 S.  4 und Abs.  4 S.  3 n.F. (Verlängerungen der Abschiebungshaft) und §  62b Abs.  1 S.  1 n.F. AufenthG (Verlängerung des Ausreisegewahrsams). 4  Vgl. D. Murswiek, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 7.  Aufl. 2014, Art.  2 Rn.  229.

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sen.5 Andererseits konnte diese Gewissheit zur Auf klärung des Schutzbereichs kaum beitragen, wie die nachfolgende Bestandsaufnahme ergibt.

1.  Eingriffslastige Auslegung des Grundrechtstatbestands Dass die konsentierten Gehalte von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG zum „Grundrechtstatbestand“ als Konjunktion von Schutzbereich und Eingriff,6 nicht aber speziell zum Schutzbereich gehören, ist die grundrechtstheoretische Übersetzung der für dieses Recht etablierten Umschreibungen. Die allgemeine Auffassung, wonach sich sein „Schutzbereich erst in der Zusammenordnung mit den abzuwehrenden staatlichen Freiheitseingriffen“7 erschließe, sowie die Rede von der „eingriffsspezifischen Schutzbereichsformulierung“8 setzen Schutzbereich und Eingriff in normfunktionale Abhängigkeit voneinander. Sie bringen eine Auslegung dieses Abwehrrechts zum Ausdruck, der zufolge es – vorbehaltlich einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung – ein Verbot bestimmter Eingriffe ausspricht, die Art.  104 GG in unterschiedlichem Maße konkretisiert (Freiheitsbeschränkung und -entziehung, Gewahrsam, Festnahme und Haft). Infolge der Einigkeit darüber, welche paradigmatischen Eingriffe unter den Verbotstatbestand fallen, wird das Gesamtverständnis des Grundrechtstatbestands eingriffslastig: Zwang, Fesselung und Einsperrung einer Person sind im Lichte der Art.  2 Abs.  2 S.  2, 104 GG zu rechtfertigen. Die Schutzbereichsauslegung bleibt demgegenüber unspezifisch; die nahezu einhellige Beschreibung der Freiheit der Person als „körperliche Bewegungsfreiheit“9 erfasst augenscheinlich jedes beliebige Verhalten natürlicher10 Personen (weil sie einen Körper besitzen) und deckt sich, so wie sie steht, zu weiten Teilen mit der vorherrschenden Deutung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Alles Nähere ist umstritten. Im allgemeinen Erkenntnisstand über Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG macht sich eine Verwerfung bemerkbar: Auf dem Boden gesicherter dogmatischer Befunde steht einer recht präzisen Eingriffstypologie ein vergleichsweise unscharfes Schutzbereichsverständnis gegenüber.11 Das ist wohlgemerkt nicht für sich genommen problematisch, nur eben charakteristisch für den Umgang mit diesem Grundrecht. Er wiederum wurzelt in historischen Auslegungserwägungen, die vor allem die ideelle Verbindung dieser Rechte mit der Habeas-Corpus-Tradition reflektieren, deren Geschichte bis ins Hochmittelalter zurückreicht.12 Der Konnex zwischen dieser sehr frühen (sehr 5   E. Kern, Schutz des Lebens, der Freiheit und des Heims, in: F.L. Neumann/H.C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd.  2 , 1954, S.  51 (66). 6  Vgl. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S.  273 ff., 276. 7   D. Lorenz, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art.  2 Abs.  2 S.  2 (2015), Rn.  683 m.w.N. (Hv. i. Orig.). 8   U. Di Fabio, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art.  2 II 2 (2009), Rn.  26. 9   M. Sachs, in: K. Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, S.  1087; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  1, 3.  Aufl. 2013, Art.  2 II Rn.  98; Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  16. 10   Juristische Personen können sich nicht fortbewegen: Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  100. 11   Paralleler Befund bei M. Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, 2014, S.  36. 12  Vgl. Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  2 ff., 8, 22.

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unterschiedlich gedeuteten) Verbürgung von Verhaftungsschutz13 und dem Grundrecht in Art.  2 Abs.  2 S.  2 i.V.m. Art.  104 GG kann als gesichert gelten, zumal er dem Parlamentarischen Rat bei den Beratungen über die Vorschrift vor Augen stand.14 Die ihrerseits schon traditionelle Dominanz15 dieser Interpretationsweise liefert zumindest eine plausible Erklärung für die Entstehung der mittlerweile durchaus elaborierten Dogmatik des Freiheitsentzugs16 als des am weitesten durchdrungenen Elements des Grundrechtstatbestandes, hinter der die Schutzbereichsdogmatik aber deutlich zurückbleibt.

2.  Rückschluss vom Eingriff auf das Schutzgut? Bevorzugt nahm und nimmt man sich des Tatbestands von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG also von der Eingriffsseite her an, nicht mittels separater Schutzbereichsspezifikation. Mag das zwar für viele rechtspraktische Zwecke genügen,17 bringt man die dogmatische Frage nach dem Schutzgut damit nicht zum Verschwinden. Konsequenterweise möchte man sie durch eine Rückschlussmethode beantworten: Die relativ genaue Abgrenzung paradigmatischer Eingriffshandlungen scheint die Möglichkeit zu eröffnen, das betroffene Gut des Grundrechtsträgers ex negativo weiter einzukreisen. Beispielsweise folgert Eberhard Grabitz aus den in Art.  104 GG geregelten Eingriffstypen in die Freiheit der Person („Ergreifen“, „Festnahme“, „Festhalten“, „In-Gewahrsam-Halten“) als Formen „der physischen Beschränkung“, dass die gemeinte Freiheit im physischen Sinne zu verstehen sei.18 Im Folgenden werden die beiden wichtigsten, aber letztlich nicht weiterführenden Spielarten dieses Ansatzes untersucht (a, b).

a)  Begrenzte Aussagekraft der Habeas-Corpus-Tradition Zunächst liegt der Versuch nahe, die Auslegung anhand der Verbindungslinie zu den Habeas-Corpus-Garantien fortzuführen und zu vertiefen, um so dem Schutzgut in13   Kurzinformation bei I. Ebert, Art. Habeas Corpus, in: A. Cordes u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 2.  Aufl., Bd.  2 , 2012, Sp.  643 f. m.w.N.; E. Riedel, Die Habeas CorpusAk­te, in: EuGRZ 1980, 192 ff. 14   Vgl. den Hinweis von Schmid in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 23.9.1948: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd.  5/I, bearb. v. E. Pikart/W. Werner, 1993, S.  82. 15   Vgl. bereits zur textidentischen Vorgängernorm in Art.  114 WRV Mannheim, Art.  114 und 115. Freiheitsschutz und Wohnungsschutz. Nach der Seite der Justiz, in: H.C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd.  1, 1929, S.  316 (316 f.). 16  Definierte Fälle der Freiheitsentziehung stellen unter anderem dar: verschiedene Formen von Haft (etwa Straf haft, Untersuchungshaft, Ersatzzwangshaft, Beugehaft, Abschiebehaft), Sicherungsverwahrung, Polizeigewahrsam, Unterbringung. Übersichtlich C. Gusy, Freiheit der Person, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  4, 2011, §  93 Rn.  12 ff.; ausführliche Untersuchung durch P. Hantel, Der Begriff der Freiheitsentziehung in Art.  104 Abs.  2 GG, 1988. 17   S. aber unten I.3a). 18   E. Grabitz, Freiheit der Person, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  V I, 1.  Aufl. 1989, §  130 Rn.  5.

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direkt näher zu kommen. Dabei treten jedoch zwei Probleme auf: ein Rezeptionsproblem in Bezug auf Habeas Corpus (aa) und eine genuin ideengeschichtliche Komplikation (bb). aa)  Bloße Reformulierung der Schutzbereichsfrage Bei aller rechtshistorischen Durchdringung der Habeas-Corpus-Rechte vermag der erreichte Informationsstand zur Schutzbereichsfrage bei Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG nur wenig beizutragen. Am Ende führt die historische Betrachtung eher zur Reformulierung als zur Beantwortung der Frage: Die kraft historischer Verbindungslinie als paradigmatische Verletzungshandlungen identifizierten Eingriffe (s.o.) empfingen ihre Anerkennung als solche (auch) gerade nicht unter Bezugnahme auf bestimmte davon berührte Handlungen oder Interessen des Eingriffsadressaten,19 die über das unspezifische Interesse an der ‚Freiheit überhaupt‘ hinausgehen.20 An Erkenntnis über das Schutzobjekt des Art.  2 Abs.  2 S.  2 lässt sich dem historischen Konnex im Wesentlichen entnehmen, dass die „Freiheit der Person“ als Nichtbetroffensein von willkürlicher Verhaftung gedeutet werden kann. Dann fehlt aber nach wie vor eine positive Umschreibung dessen, was genau eine (willkürliche) Verhaftung der betroffenen Person eigentlich wegnimmt. Und sie ist in diesem Fall, in dem es ja nicht um eine bereichsweise, sondern eine sehr umfassende Entziehung von „Freiheit“ geht, mit besonderen Schwierigkeiten behaftet. Denn um von diesem Eingriff auf sein spezifisches Objekt zu schließen, muss die (uns heute geläufige) Fülle an Freiheiten, Gütern, Interessen und Rechten einer Person, die durch deren willkürliche Verhaftung verletzt sind,21 auf das für Art.  2 Abs.  2 S.  2 Wesentliche reduziert werden. Ist dieses Grundrecht aber Teil eines lückenlosen und ausdifferenzierten Grundrechts19   Man vergleiche die hier vorfindliche Situation mit derjenigen beim Eingriff „Zensur“: Zensur unterdrückt einigermaßen spezifische Handlungen bzw. substantielle Interessen des Betroffenen. Das Zensurverbot lässt sich deshalb als deren Schutz begreifen, nämlich insbesondere als Schutz der freien schriftlichen Meinungsäußerung und -verbreitung als „Kern der Pressefreiheit“, vgl. U. Karpen, Art. Zensur, in: Staatslexikon, hrsgg. von der Görres-Gesellschaft, Bd.  5, 1989, Sp.  1149 f. (1149). 20  Vgl. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6.  Aufl. 2003, S.  112, der die „persönliche Freiheit“ als „Mutter aller Grundrechte“, „Wurzel der Freiheit“ und „Ur-Grundrecht“ beschreibt und im selben Kontext von der „Menschenwürde“ handelt. – Geläufige Konkurrenten der „Freiheit der Person“ bilden auf dieser Ebene die allgemeine Handlungsfreiheit („Muttergrundrecht“ nach H.C. Nipperdey, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: K.A. Bettermann/H.C. Nipperdey [Hrsg.], Die Grundrechte, Bd.  I V/2, 1962, S.  741 [759]) und die religiöse Freiheit als Georg Jellineks „Urrecht“ (ders., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1895, S.  43 ff. [50]). 21   Vom allgemeinen Willkürverbot über Persönlichkeitsrechte, möglicherweise die Menschenwürde, Freizügigkeit, diverse Verfahrensgarantien (wie rechtliches Gehör) bis hin zur allgemeinen Handlungsfreiheit. Zur Vielfalt an Rechten, die allein durch die nicht-willkürliche, rechtsstaatliche Form der Haft betroffen sind, K. Jünemann, Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland, 2012, S.  383. – Methodisch ist zu beachten: Wie aus der Rechtsgeschichte bekannt, darf „anderen Epochen … nicht einfach unser Grundrechtsverständnis zugrunde gelegt werden“ (A. Kukk, Verfassungsgeschichtliche Aspekte zum Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit [Art.  2 Abs.  1 GG], 2000, S.  16); vorliegend geht es um die gegenläufige Blickrichtung: Unserem Freiheitsbegriff kann nicht einfach derjenige der Magna Carta zugrunde gelegt werden (dazu knapp Riedel, Habeas Corpus [Fn.  13], 193 f.). In beiden Fällen bestehen spezifische Übertragungsschwierigkeiten, die im Wege methodenbewusster Rezeption zu überwinden sind.

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schutzsystems, so ist sein besonderes Schutzgut – die normative „Freiheit von willkürlicher Verhaftung“ – als von den anderen, daneben betroffenen Rechten verschiedene Position zu identifizieren. Hierzu bedarf es eines Sinnfilters, der die Freiheit der Person im besonderen Kontext der beschriebenen Gefährdungslage aus ihrem Zusammenhang mit verwandten Gehalten löst. Das wiederum setzt (anderweitig zu gewinnendes) Wissen über diesen Zusammenhang22 voraus. In dessen Ermangelung gelangt man gerade auch auf Grundlage der Habeas-Corpus-Tradition – erblickt man darin im Kern die Formulierung eines Verbotstatbestands – nur wieder zurück zur Frage nach dem Schutzgut. Das Gesamtbild erinnert an das Problem der „Negativdefinition“ bei der Menschenwürdeinterpretation.23 bb)  Konkurrenz von anderen Traditionslinien Zu diesem rezeptionsgeschichtlichen Problem tritt hinzu, dass die „Freiheit der Person“ in ihrer Genese zunehmend auch mit anderen wirkmächtigen normativen Konzepten in Verbindung gebracht wird, die in der ideengeschichtlichen Perspektive mit Habeas Corpus konkurrieren. Überzeugende Gründe sprechen dafür, „ihren nicht minder gewichtigen zweiten ‚Sitz im Leben‘ … im Kampf gegen die Leibeigenschaft“24 zu verorten. Auf Ebene des europäischen Menschenrechtsschutzes, wo Sklaverei und Leibeigenschaft (Art.  4 Abs.  1 EMRK) als „besonders schwerwiegende Form der Freiheitsbeschränkung“25 gelten, ist das bereits in die gerichtliche Spruchpraxis eingeflossen. Hiermit wäre also eine weitere überkommene Form der (möglichen) Beeinträchtigung der gesuchten, nun in Kontrast zur persönlichen „Unfreiheit“ tretenden Freiheit benannt, die sich erheblich von der Beeinträchtigung durch willkürliche Verhaftung unterscheidet. Dieser Befund untergräbt die Gewissheit über ‚Festhaltung, zwangsweise Vorführung, Fesselung und Einsperrung‘ als die überkommenen Eingriffsparadigmen und zwingt zu weiteren rechtshistorischen Untersuchungen. Je mehr sich aber die Frage nach den für die Freiheit der Person typischen Verletzungshandlungen, ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden bei näherer Betrachtung als 22   Ein Vorschlag hierzu unter II.2., III. Natürlich ist auch insoweit die Rezeption ideengeschichtlicher Aspekte denkbar. Besonders die in die Zeit zwischen Petition of Right (1628) und Bill of Rights (1689) fallende Debatte über den liber homo im Sinne der Magna Carta dürfte Material liefern, vgl. etwa Q. Skinner, Freiheit und Pflicht. Thomas Hobbes’ politische Theorie, 2008, S.  45 ff., 58 ff., 97 ff. 23   Hierzu nur H. Dreier, in: ders., Grundgesetz I (Fn.  9 ), Art.  1 I Rn.  53 f. 24   F. Wittreck, Freiheit der Person, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  7, 3.  Aufl. 2009, §  151 Rn.  5 m.w.N.; auch Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  3 a.E. – Dezidiert entgegengesetzt einst R. Thoma, Kritische Würdigung des vom Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates beschlossenen und veröffentlichten Grundrechtskatalogs (1948), in: H. Dreier (Hrsg.), Richard Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, 2008, S.  4 43 (448): „offenbar nicht der Status der Freiheit im Gegensatz zur Hörigkeit, Leibeigenschaft oder Sklaverei gemeint“ (kurze Erläuterung bei Stern/Sachs [Fn.  9 ], S.  1080; in Thomas Stellungnahme mag sich die wohl überwiegende Deutung des Art.  114 WRV niedergeschlagen haben, vgl. J. Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, S.  292 f., 462); tendenziell ähnlich wie Thoma Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  22. 25   EGMR, Urt. v. 11.10.2012, C.N. u. V. gegen FRA, Nr.  67724/09, Rz.  89; C. Grabenwarter/K. Pabel, EMRK, 6.  Aufl. 2016, §  20 Rn.  89.

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offen erweist, desto weniger verlässlich kann auf das von den Eingriffen berührte Gut geschlossen werden. Möchte man sich dem Schutzbereich von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG demnach von der Eingriffsseite her annähern, dürfte die historische Perspektive das Vorhaben unterm Strich sogar eher erschweren als erleichtern.

b)  Untauglichkeit des Eingriffszwecks zur Schutzbereichsbestimmung Ein zweiter Ansatz zur indirekten Präzisierung des Schutzguts von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG stellt auf den Eingriffszweck ab. Dietrich Murswiek beschreibt dieses Vorgehen so: „Nur solche Maßnahmen sind als Eingriffe in die Freiheit der körperlichen Fortbewegung zu qualifizieren, die die Beschränkung dieser Freiheit bezwecken und nicht lediglich (notwendige oder in Kauf genommene) Folge der Verfolgung eines anderen Primärzwecks sind.“26 Allerdings bestehen auch in Bezug auf die Erfolgsaussichten dieses Programms erhebliche Zweifel. aa) Zirkelschluss? Zunächst birgt es eine gewisse Gefahr der Zirkularität.27 Sollte der Eingriffszweck nämlich als vorrangiges Mittel der Schutzbereichseingrenzung dienen, läge eine petitio principii vor. Denn im Ausgangspunkt bestimmt nicht der Zweck einer staatlichen Maßnahme den an sie anzulegenden rechtlichen Maßstab, sondern der Inhalt der Maßnahme.28 Bei dieser Eingrenzung spielt der Eingriffszweck zwar eine Rolle; sie liegt jedoch in seiner Funktion als Anknüpfungspunkt der (teleologischen) Auslegung der Maßnahme und gerade nicht (der Auslegung) der Maßstabsnorm. Deshalb lässt er sich auf eine bestimmte Maßstabsnorm (wie Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG) erst sinnvoll beziehen, nachdem sie als einschlägig erkannt wurde, der Schutzbereich also eröffnet, mithin die gefragte Eingrenzungsleistung bereits erbracht ist. Indes würde man der zweckorientierten Lehre auf diese Weise Unrecht tun: Allem Anschein nach erblickt sie im Eingriffszweck nämlich nicht das einzige oder das Hauptinstrument der Schutzbereichseingrenzung, sondern eher einen zusätzlichen Anhalt, der neben weiteren, insbesondere der historisch informierten Identifikation typischer Eingriffsmuster, zum Tragen kommt.29 Praktisch heißt das: Anknüpfend an vom Eingriffszweck unabhängige Gründe für oder gegen eine Schutzbereichseröffnung des Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG soll der Eingriffszweck dem Interpreten die Entscheidung für die eine oder andere Richtung zusätzlich erleichtern. Zirkulär ist dieses

26   Murswiek (Fn.  4 ), Art.  2 Rn.  233, wohl in der Folge von C. Gusy, Freiheitsentziehung und Grundgesetz, in: NJW 1992, 457 (459 f.); s. auch Gusy, Freiheit (Fn.  16), Rn.  10. 27  Vgl. Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  8. 28   Als solcherart Maßnahmen kommen in Bezug auf Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG in Anbetracht des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts (hierzu C. Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: J. Isensee/P. Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  9, 3.  Aufl. 2011, §  201 Rn.  27) zuallererst formellgesetzliche Schrankenbestimmungen gem. Art.  104 Abs.  1 S.  1 GG in Betracht. 29   Vgl. etwa die Darstellung bei Gusy, Freiheit (Fn.  16), Rn.  5 f., 10.

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Vorgehen demnach nicht. Dennoch sieht es sich in zweierlei Hinsicht grundrechtsdogmatischen Bedenken ausgesetzt: bb)  Begrifflich-systematische Schwierigkeiten Auf der Hand liegt einmal ein begrifflicher Einwand, der sich direkt am obigen Zitat Murswieks entzündet. So stellt sich die Überlegung, die Qualität von staatlichen Maßnahmen als Grundrechtseingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG hänge davon ab, ob sie ‚die Beschränkung dieser Freiheit bezwecken‘, doch eher als Andeutung einer bereichsspezifischen Eingriffstheorie dar denn als Mittel der Schutzbereichsbegrenzung. Denn im Kern bringt sie das Kriterium der Finalität zum Ausdruck, worin neben dem der Unmittelbarkeit das Hauptmerkmal des klassischen Eingriffsbegriffs liegt: „Der ‚Eingriff ‘ hat die Beeinflussung der freien Selbstbestimmung des Bürgers zum Zweck“30. Das Zweckkriterium scheint dementsprechend unabhängig von der Schutzbereichsfrage die Eingriffsebene zu betreffen, indem es nämlich den Eingriffsbegriff im Falle des Art.  2 Abs.  2 S.  2 auf das klassische Verständnis hin verengt. Ob hier jedoch, auf Eingriffsebene, nicht-finalen Maßnahmen die Eingriffsqualität abzusprechen ist oder nicht, stellt wieder ein eigenes Thema dar, wobei die Begründungslast vor dem Hintergrund der neueren Eingriffslehren auf Seiten der Befürworter solch einer Restriktion liegen dürfte.31 Nach alledem eignet sich der Ansatz jedenfalls weniger als Beitrag zur Diskussion über den Schutzbereich als zur Beantwortung der Eingriffsfrage. Die Annahme, staatliche Maßnahmen mit besagtem Zweck (‚Beschränkung der körperlichen Fortbewegung‘) ließen Rückschlüsse auf den Schutzbereich zu, ist noch aus einem anderen, systematischen Grund problematisch. Im Rahmen der abwehrrechtlichen Wirkung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG – und allein um diese „Grundrechtsdimension“32 soll es gehen – hat der Maßnahmezweck seinen eigentlichen Platz ja nicht auf der Tatbestands-, sondern auf der Rechtsfolgenseite, d.h. der Schrankenebene. Er wird insbesondere in die Verhältnismäßigkeitsprüfung unter dem Blickwinkel seiner Legitimität und seines Gewichts im Verhältnis zum Gewicht der beschränkten Freiheit eingespeist.33 Seine verfassungsrechtliche Legitimation und seine Bedeutung im konkreten Fall konkurrieren mit dem Freiheitsanspruch. Das heißt aber auch, dass der Maßnahmezweck vom Schutzgehalt des mit der Maßnahme kollidierenden Freiheitsrechts unabhängig genug sein muss, um damit in Spannung zu treten. Kann der Eingriffszweck dann aber wirklich in der Beschränkung eines bestimmten Freiheitsrechts bestehen? Worin läge der diesem Recht gegenüberliegende   E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S.  29.  Für die Einbeziehung von „ungezieltem staatlichen Handeln, dessen Gewicht einem Eingriff gleichkommt“ etwa Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  103, der sich damit ganz in Einklang mit allgemeineren Lehren befindet (s. zu deren Wandel ausführlich D. Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen und Kritik als Grundrechtseingriffe, in: DVBl. 1997, 1021 [insb. 1024 f. zur Finalität bzw. zu „Finalitätsäquivalenten“]). 32  Allg. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), in: ders., Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaats, 2014, S.  185 (207 ff.). 33   H. Dreier, in: ders., Grundgesetz I (Fn.  9 ), Vorb. Rn.  146. 30 31

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Beschränkungszweck, der bei Erwägung des Abwehranspruchs als Gegengewicht in Betracht käme? Die sich einstellende Aporie34 spricht dafür, im Zweck einer Freiheitsbeschränkung entgegen der untersuchten Lehre einen „immer außerhalb ihrer selbst liegenden“35 Aspekt zu erblicken. Als dementsprechend untauglich erweist er sich zur Eingrenzung des Schutzbereichs. Dieses Ergebnis erhärtet sich mit Blick auf die konsentierten Anwendungsfälle des Rechts aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 : „jede Beschränkung der Bewegungsfreiheit [verfolgt] einen anderen Primärzweck“36. Beispielsweise gibt es an die persönliche Schuld einer Person anknüpfende repressive Eingriffe (wie die Freiheitsstrafe), dann solche präventiver Art, deren Zwecke in der Abwehr einer Fremd- oder Selbstgefährdung liegen (wie die Unterbringung oder der polizeiliche Sicherungsgewahrsam), weiter Maßnahmen, die die Durchführung anderer Verfahren schützen sollen (wie die Untersuchungshaft). Die Reihe ließe sich fortsetzen und ausdifferenzieren.37 In diesem Zusammenhang ist das aber entbehrlich. Illustriert werden sollte nur, dass die Zwecke einer Beschränkung des Rechts aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 in (sehr verschiedenen) Belangen außerhalb seiner selbst liegen. Den Schutzbereich können sie folglich nicht spezifizieren.

3.  Die praktische Relevanz der Schutzbereichsfrage In Anbetracht der bescheidenen Resultate der kurzen Bestandsaufnahme zum Schutzgehalt der „Freiheit der Person“ liegt die Frage nahe, ob die sich abzeichnende Lücke womöglich eine gewisse Berechtigung besitzt. Stützt die Einigkeit über den Kernbereich des Grundrechtstatbestands (s.o. 1.) nicht wenigstens ein rechtspraktisches Argument gegen allzu vertiefte Beschäftigung mit der Schutzbereichsfrage? Für die Belange der Praxis mag es doch genügen, den Anwendungsbereich von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG als Verbotstatbestand sicher genug abstecken zu können, um staatlichen Eingriffen die besonderen Rechtfertigungsanforderungen dieses Grundrechts verlässlich zuzuordnen; und je genauer etwaige Eingriffsakte identifiziert werden können, desto weniger „rechtspraktisch signifikante Konsequenzen“38 scheint die Spezifikation des Schutzbereichs zu zeitigen. Weil die Eingriffsdogmatik aber ein hohes Maß an Differenziertheit aufweist, ist – so könnte man meinen – die Schutzbereichsfrage für die Rechtspraxis von untergeordneter Bedeutung. Demgegenüber belegen jedoch die vielen Unsicherheiten bei der juristischen Beurteilung diverser staatlicher Maßnahmen, die die Freiheit der Person zumindest potentiell berühren, dass sich die Schutzbereichsfrage auch in der Praxis keineswegs umgehen lässt (a).

34  Dass „eingriffsnahe Zwecke, die den Eingriff einschließen“, diesen per se nicht rechtfertigen können, zeigt B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd.  2 , S.  4 45 (450). 35   Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  693. 36   Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  104. 37  Hierzu Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  19; ihm folgend auch die obige Auflistung. 38   Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  679.

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a)  Mannig fache Anwendungsprobleme Dafür bietet zunächst das Polizeirecht reichlich Anschauungsmaterial: Ob bzw. inwiefern so alltägliche Vorgänge wie das Anhalten durch die Polizei, die Sistierung, der sog. Verbringungsgewahrsam, die Meldeauflage, die Platz- oder auch die Wohnungsverweisung die „Freiheit der Person“ tangieren, ist unter führenden Interpreten umstritten.39 Dasselbe gilt für die Frage möglicher staatlicher Eingriffe durch die Auferlegung verschiedenster Anwesenheitspflichten, vom Nachsitzen in der Schule bis zur Einberufung zum Wehrdienst.40 Dass das Bundesverfassungsgericht eine Zutrittsverweigerung (wie etwa im Rahmen des sog. Flughafenverfahrens gem. §  18a AsylG) an Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG prinzipiell nur misst, wenn der Zielort dem Betroffenen „rechtlich zugänglich“41 ist, hält man im Schrifttum vielerorts für nicht sachgerecht.42 Auch angesichts neuerer Gefahrenabwehrmaßnahmen, wie der Überwachung von Personen mittels elektronischer Fußfessel, fällt das Bild uneinheitlich aus.43 Die tatbestandlichen Eingrenzungsschwierigkeiten sind also beträchtlich. Und wer sich bei der Zuordnung einmal sicher ist, wird schnell an neue Grenzen stoßen: An die Feststellung der Anwendbarkeit von Art.  2 Abs.  2 S.  2 schließt sich häufig die infolge gravierender verfahrensrechtlicher Konsequenzen rechtspraktisch wichtige Frage der Abgrenzung einer bloßen Freiheitsbeschränkung von einer Freiheitsentziehung an (Art.  104 Abs.  1 S.  1 bzw. Abs.  2 S.  1 GG). Die Anmutung ihrer Lösungsresistenz44 trägt ihren Teil zur Ungewissheit bei, was nun eigentlich der genaue Gegenstand des je nach seiner Intensität unterschiedlich zu beurteilenden Eingriffs in die „Freiheit der Person“ ist. Entsprechend große rechtspraktische Bedeutung besitzt daher die Schutzbereichsfrage. Lediglich eine geradezu ergebnisfixierte Erwägung mag noch die gegenteilige Annahme stützen: Unter der richtigen Prämisse, dass auch jedes andere Grundrecht (und sei es die allgemeine Handlungsfreiheit) genauso ernst zu nehmen ist wie das Recht von ‚besonderem‘ Rang aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG, lassen sich Grundrechtsbetroffenheiten ganz generell wertungsmäßig akzeptabel bewältigen. Und unter rein „abwägungspragmatischer“45 Hinsicht mag in der Tat gleichgültig sein, welches 39   Umfangreiche Kasuistik mit Nachweisen bei Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  688 ff., 705; zu Meldeauflagen und Platzverweisen unten III.2b – d. 40   Zum Nachsitzen einerseits P. Hantel, Das Grundrecht der Freiheit der Person nach Art.  2 II 2, 104 GG, in: JuS 1990, 865 (869 für Eingriff ), andererseits Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  27 (dagegen); zum Wehrdienst einerseits Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  23 (für Eingriff ), andererseits Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  105 (dagegen; ebd. zugleich weitere Einzelfälle). 41   BVerfGE 94, 166 (198) – Flughafenverfahren [1996]; näher hierzu unten III.2c. 42   Speziell zum Flughafenverfahren G. Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996, in: DVBl. 1996, 825 (837). 43   Hinweise bei M. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd.  2 , 2010, S.  189 Fn.  39 und C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd.  1, 6.  Aufl. 2010, Art.  2 Rn.  197; weiterführend zur wieder aktuellen Problematik der elektronischen Aufenthaltsüberwachung (vgl. o. Fn.  3 ) bereits M. Niedzwicki, Elektronische Fußfesseln – Freiheitsbeschränkung nach Art.  2 II 2 GG oder Freiheitsentziehung nach Art.  104 GG, in: NdsVBl. 2005, 257; eher en passant zu Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG in diesem Kontext J.-F. Lindner/A. Bast, Die „elektronische Fußfessel“ als Instrument des Polizeirechts?, in: DVBl. 2017, 290 (291). 44  Vgl. Gusy, Freiheit (Fn.  16), Rn.  16 ff.; auch Hantel, Grundrecht (Fn.  4 0), 869 f. 45   Zu solchen Ansätzen T. Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheorie – eine Alterna-

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Grundrecht die Lösung jeweils stützt. Ebendiese Frage steht aber doch am Ausgangspunkt unseres dogmatischen Problems.

b)  Zwischenfazit und Ausblick Nach dem Gesagten wird man Suggestionen einer ergebnissicheren46 Handhabe des Rechts aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG eher Skepsis entgegenbringen müssen. Zugleich zeigte sich, dass die „Freiheit der Person“ nach wie vor hochinteressante Fragen aufwirft, allen voran die nach ihrer spezifischen Positivität: Auf welchem Weg lässt sich das Schutzgut dieses Rechts identifizieren und genauer spezifizieren? Wie verhält es sich zu denen der anderen Freiheiten? Wie ist seine Beziehung zu Gleichheitsgarantien? Auch im zweiten Teil dieses Beitrags wird im Wesentlichen eine mit allgemeinen Grundrechtslehren angereicherte Bestandsaufnahme und weniger eine umfassende Beantwortung jener Fragen angestrebt. Ging es bislang um Aspekte der Interpretation von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG, die sich im Lichte allgemeinerer Lehren als problematisch erweisen, stehen im nachfolgenden, konstruktiven Abschnitt Elemente des Schutzbereichs im Zentrum, die für allgemeinere Lehren anschlussfähig sind.

II.  Die Freiheit der Person und die Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen Der vorige Abschnitt lässt keineswegs nur Ernüchterung zurück, sondern vor allem eine interessante Problemstellung. Die Suche nach Kriterien zur Identifikation des Schutzgehalts der „Freiheit der Person“ als von den Schutzgütern anderer Freiheitsrechte verschiedene Position hat sich in inhaltlicher, aber gerade auch methodischer Hinsicht als schwieriges Unterfangen herausgestellt. Der Weg über die Eingriffsdogmatik entpuppte sich als wenig aufschlussreich. Als Gegenvorschlag hierzu kommen nun genuin der Schutzbereichsdogmatik entstammende Topoi zur Betrachtung, die – wie sich zeigen soll – für eine schutzbereichsautonome Auslegung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG fruchtbar gemacht werden können.

1.  Die „Freiheit der Person“ als Freiheitsvoraussetzung Die in Bezug auf das Wesen der in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG genannten „Freiheit“ mehrheitsfähigen Stellungnahmen bewegen sich auf ziemlich allgemeiner Ebene. In der Gesamtschau kristallisieren sich zwei relativ stabile Aussagen über das Schutzgut dietive zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, in: Der Staat 41 (2002), 73 (75 f.). 46   Zu optimistisch wohl Gusy, Freiheit (Fn.  16), Rn.  6, 11; ‚ergebnissicher‘ meint hier bloß, dass speziell dieses Grundrecht zur Herleitung eines insofern ‚sicheren‘ Ergebnisses dienen kann, als die Bewertung staatlicher Maßnahmen wenigstens als Eingriffe in den Schutzbereich des Grundrechts mehrheitsfähig ist.

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ses Rechts heraus. Zum einen kann in negativer Hinsicht festgehalten werden, dass die geschützte Freiheit keine Handlungsfreiheit im eigentlichen Sinne darstellt (a); hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Freiheitsrechten, die in allgemeiner (etwa Art.  2 Abs.  1 GG) oder spezieller Weise (etwa Art.  12 Abs.  1) benannte oder unbenannte Handlungen vor staatlichen Eingriffen schützen. Zugleich kann in positiver Hinsicht die Interpretation des Art.  2 Abs.  2 S.  2 als „Voraussetzung“ von Freiheit (b) als gefestigt gelten; sie gibt Anlass zu weiteren Untersuchungen (2., III.).

a)  Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG nicht Garantie einer Handlungsfreiheit Die Grundrechte des Grundgesetzes verleihen ihrem Träger typischerweise ein staatsadressiertes Abwehrrecht.47 Gerade beim Grundrecht auf „Freiheit der Person“ besteht Konsens über seine in erster Linie negatorische Funktionsweise.48 Dementsprechend versetzt das Grundrecht aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG seinen Träger rechtlich in die Position, vom Staat das Unterlassen bestimmter Beeinträchtigungen zu verlangen.49 Welche Eingriffshandlungen insoweit paradigmatisch sind, wurde bereits im Seitenblick auf deren Formen und Zwecke50 deutlich. Eine ausdifferenzierte Nomenklatur gängiger Eingriffsformen existiert vor allem im Recht der Freiheitsentziehung. Wendet man sich nun aber der Frage zu, nach welchen Kriterien die Abwehrposition aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG ihrem Subjekt als Träger speziell der „Freiheit der Person“ zuzuordnen ist, trifft man nicht auf vergleichbar unterscheidungskräftige Handlungsbeschreibungen. Im Gegenteil wird hervorgehoben, dieses Recht schütze „nicht positiv einen Freiheitsraum oder ein Handlungsrecht“, sondern die „natürlich vorgegebene körperliche Freiheit“51, also sozusagen eines der Vorzeichen, unter denen die Wahlfreiheit von Personen steht, nicht erst die Wahlfreiheit selbst. Detlef Merten verleiht dem negativen Befund Nachdruck, wenn er die „Freiheit der Person“ dem „Handlungs- oder Darf-Recht“ gegenüberstellt und aufgrund ihres Kontrasts der gut eingeführten Deutung des Schutzbereichs von Art.  2 Abs.  2 S.  2 als ‚Bewegungsfreiheit‘ mangelnde sprachliche Präzision attestiert.52 Die Mahnung zur Schärfung der Ausdrucksweise ist gerade in diesem Fall eine berechtigte Aufforderung zur Schärfung des Bewusstseins für das in Rede stehende Phänomen. Denn in der Tat scheinen die gängigsten positiven Umschreibungen, die zunächst – wie die Rede von der „Freiheit, einen Ort zu verlassen oder aufzusuchen“53 bzw. der „liberté   Dreier (Fn.  33), Vorb. Rn.  82.   D. Merten, Bewegungsfreiheit, in: ders./Papier, HGR IV (Fn.  16), §  95 Rn.  6. 49  Allg. Alexy, Theorie (Fn.  6 ), S.  163 f., 174 ff. 50   Zu zentralen Formen vgl. o. Fn.  16; zu typischen Zwecken s. Text bei Fn.  37. 51   Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  683. 52   Merten, Bewegungsfreiheit (Fn.  48), §  95 Rn.  6; ein Vorschlag zur Artikulation des dahinter­ stehenden Gedankens unten III.1a. – Tendenziell anders, was die Verortung der Freiheit der Person zur Handlungsfreiheit anbelangt, C. Bumke/A. Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 7.  Aufl. 2015, Rn.  436. 53   Gusy, Freiheitsentziehung (Fn.  26), 458; P. Kunig, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  1, 6.  Aufl. 2012, Art.  2 Rn.  74; Hantel, Begriff (Fn.  16), S.  19 f. 47

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d’aller et de venir“54 – eigentlich ein Handlungsrecht nahelegen, schon nach dem Verständnis der jeweiligen Interpreten selbst nicht recht zum Kern der Sache vorzudringen, da sie praktisch einhellig der jeweiligen Umschreibung umgehend die Frage nach tauglichen Einschränkungs- und Abgrenzungskriterien folgen lassen. Indem man die Antwort dann nicht auf der Schutzbereichs-, sondern auf der Eingriffsebene sucht (s.o. I.), überspringt man nur einen denkbaren Zwischenschritt. Darum, wie dieser aussehen könnte, geht es hier. Nicht weiterführen wird die weitere Ausdifferenzierung der Handlungssphäre des Grundrechtsträgers. Den Anknüpfungspunkt wird vielmehr eine, wenngleich fast schemenhafte positive Umschreibung des Schutzguts liefern, die aber doch erahnen lässt, worum es bei der „Freiheit der Person“ geht, wenn schon nicht um eine Handlungsfreiheit:

b)  Die Freiheit der Person als „Voraussetzung“ von Handlungsfreiheit(en) Ansätze zu einer positiven Umschreibung der „Freiheit der Person“ lassen sich Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG im Wege der systematischen Auslegung abgewinnen. Bedeutsam ist vor allem der unmittelbare Zusammenhang mit dem vom ersten Satz derselben Vorschrift geschützten „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, der die Freiheit der Person auf dieselbe existenzielle Ebene hebt wie das menschliche Leben und die Unversehrtheit des menschlichen Körpers.55 Diese elementare Schutzfunktion ist die Kehrseite der Annahme, man habe es bei der Freiheit der Person nicht mit einem Handlungsrecht zu tun; denn sie platziert die Freiheit der Person nicht gleichsam horizontal neben die Handlungsrechte, sondern unter diese: „das Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit sichert, zusammen mit den Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die physische Existenz und grundsätzliche soziale Handlungsfähigkeit des Menschen als Voraussetzung für seine konkrete personale Existenz, als Basis für alle sonstigen frei gewählten Verhaltensweisen“56. Dass das Recht auf Freiheit der Person eine ‚Voraussetzung‘ des Freiheitsgebrauchs (durch Wahrnehmung anderer Freiheitsrechte) schütze, ist mit genau diesem oder jedenfalls synonymem Wortgebrauch eine echte Konstante der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Art.  2 Abs.  2 S.  2.57 In Anbetracht der überaus tragfähigen Stütze dieser Deutung besonders in der Normsystematik rechnet sie zum Kernbestand der gesicherten Erkenntnisse über dieses Recht. Der Freiheit der Person kommt demzufolge   Grabitz, Freiheit (Fn.  18), §  130 Rn.  4.  Vgl. Grabitz, Freiheit (Fn.  18), §  130 Rn.  1. 56   Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  16 (Hervorh. nicht i.Orig.); vgl. BVerfGE 36, 264 (269) – Untersuchungshaft [1973]: „Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers“. 57  Insbesondere Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  668 („Voraussetzung [von] grundrechtlichen Entfaltungsmöglichkeiten“), 674 a.E. („grundrechtliche Basis des Freiheitsschutzes“), auch 728, 731; Schulze-Fielitz (Fn.  9), Art.  2 II Rn.  24 („Grundvoraussetzung jeglicher Inanspruchnahme von Freiheitsrechten“); Murswiek (Fn.  4 ), Rn.  8 („faktische Voraussetzungen vieler Arten möglicher Freiheitsbetätigungen“); Gusy, Freiheit (Fn.  16), Rn.  6 („Voraussetzung für die Ausübung zahlreicher anderer Grundrechte“); ebenso zugleich mit Blick auf die EMRK O. Dörr, in: ders./R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd.  1, 2.  Aufl. 2013, Kap.  13 Rn.  1; alle m.w.N. – Aus der Judikatur z.B. BVerfGE 109, 133 (157) – Sicherungsverwahrung I [2004]: „Grundlage und Voraussetzung der Entfaltungsmöglichkeiten des Bürgers“. 54 55

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„im Verhältnis zu den übrigen Grundrechten eine Fundierungs- und Ermöglichungsfunktion zu“58. – Gewiss bewegt man sich mit solchen Formulierungen auf noch sehr allgemeiner Ebene, und der große Präzisierungs- und Konkretisierungsbedarf ist nicht zu leugnen. Ihnen wohnt aber doch einiges Potenzial inne, um das Recht aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 aus der freiheitsrechtlichen Gemengelage herauszulösen, in der es steckt, solange man es vorwiegend aus der Eingriffsperspektive betrachtet. Denn die referierte Deutung birgt bei all ihrer Vagheit eine weiterführende Aussage über das Verhältnis der Freiheit der Person zu den Betätigungsfreiheiten, seien sie benannt oder unbenannt: Die gesuchte (Singular-)Freiheit59 gehört nicht zur Gruppe der (Plural-)Freiheiten, die ein individuelles Dürfen beinhalten, demgegenüber hoheitliche Eingriffe zu rechtfertigen sind; sie liegt ihnen vielmehr dergestalt voraus, dass von einer Fundierungs- oder Ermöglichungsbeziehung gesprochen werden kann. Im Verhältnis zu ihnen scheint sie einer tieferen Ebene des Freiheitsschutzes anzugehören, auf der nicht spezielle Aktivitäten rangieren – die wiederum die Folgeebene bilden –, sondern die grundsätzliche Möglichkeit hierzu eine subjektivrecht­liche Sicherung erfährt. Die sich abzeichnende Funktion eines im Weiteren zu substantiierenden Basisschutzes durch Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG ist grundrechtsdogmatisch noch nicht näher ausgearbeitet worden, obgleich die Ressourcen hierfür vorhanden sind. Denn wer, wie alle führenden Interpreten, die Freiheit der Person wesensmäßig als Teil der Vor­ aussetzungen des Gebrauchs anderer Freiheiten begreift, wie vor allem Handlungsoder Darf-Rechte als „Freiheitsrechte im engeren Sinne“60 sie gewährleisten, bewegt sich im Einzugsbereich der von Josef Isensee und Paul Kirchof entfalteten Lehre von den „Grundrechtsvoraussetzungen“. Nachfolgend wird diese Theorie herangezogen, um Kernelemente jenes Basisschutzes durch Art.  2 Abs.  2 S.  2 herauszuarbeiten.

2.  Freiheitsvoraussetzungen und Grundrechtsvoraussetzungen Zwischen den allgemeinen Lehren der Verfassungstheorie und konkreten Aussagen über geltendes Verfassungsrecht (wie Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG) besteht ein altbekanntes Vermittlungsproblem. Josef Isensee hat die Absichten und Ambitionen des Verfassungstheoretikers von denen des Verfassungsjuristen folgendermaßen abgegrenzt: „Ihm geht es nicht – wie dem Verfassungsjuristen – um das, was rechtens sein soll. Vielmehr untersucht er die metajuristischen Bedingungen und Strukturen der Sollensordnung. Verfassungstheoretische Erkenntnisse lassen sich nicht unmittelbar in verfassungsrechtliche Gebote ummünzen.“61 Zwar hat auch die hier zu betrachtende Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen eine eher metajuristische Tendenz, indem sie das positive Verfassungsrecht „transzendiert“62. Trotzdem dürfte sie zumin  Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  6.   Zu diesem Aspekt unten III.1b. 60  So R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S.  373. 61   J. Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, in: NJW 1977, 545 (551, Hv. i. Orig.). 62   J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./Kirchhof, HStR 3 IX (Fn.  28), §  190 Rn.  51 insoweit anknüpfend an H. Krüger, Verfas58 59

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dest in Bezug auf die Freiheit der Person kaum spezifische, vorab auszuräumende Übersetzungsschwierigkeiten aufwerfen. Denn zum einen bewegt sich das Schutzbereichsverständnis von Art.  2 Abs.  2 S.  2 seinerseits in so abstrakten Bahnen, dass von dieser Seite her kaum Spannungen mit der Sphäre der reinen Theorie zu befürchten sind. Zum anderen findet sich eine inhaltliche Beziehung der Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen mit dem Schutzgehalt dieses Rechts bereits bei einem ihrer Hauptvertreter vorgezeichnet.63 Um die Ausfüllung dieser Beziehung soll es im Folgenden gehen. Dazu werden zuerst einschlägige Kernaussagen der allgemeinen Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen dargestellt, um sie im Anschluss zur Auslegung des Schutzbereichs von Art.  2 Abs.  2 S.  2 zu nutzen.

a)  Die Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen Ihre wichtigsten Referenzen findet die Theorie der Grundrechtsvoraussetzungen in drei Handbuchaufsätzen aus der Feder von Josef Isensee und Paul Kirchhof, verfasst zwischen 1992 und 2011.64 Für die hiesigen Zwecke kommt es auf einzelne Diskontinuitäten im Verlaufe der Entwicklung der Lehre65 ebenso wenig an wie auf die Frage ihrer Überzeugungskraft jenseits ihres sich hier abzeichnenden Nutzens als Verständnishilfe für die Beziehung zwischen der Freiheit der Person und den Handlungsfreiheiten.66 Isensee definiert die „Grundrechtsvoraussetzungen“ als „Faktoren rechtlicher oder realer Art, von denen die effektive Geltung der Grundrechtsnormen oder die Möglichkeit ihrer praktischen Wahrnehmung abhängt“ bzw. kantianisierend als „die Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß der Geltungsanspruch der Grundrechtsnormen zur Wirksamkeit gelangt und daß die Grundrechtsberechtigten tatsächlich erhalten, was ihnen die Grundrechtsnormen an Freiheit und Leistung versprechen“67. Er unterscheidet damit „Wirksamkeits- und Ausübungsvoraussetzungen“ als Subkategorien der Grundrechtsvoraussetzungen, die einmal die Bedingungen für die sungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: H. Ehmke u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S.  285 (286 ff.); ein weites Bedeutungsfeld für den Begriff der Verfassungsvoraussetzung erschließen die Beiträge in M. Anderheiden u. a. (Hrsg.), Verfassungsvoraussetzungen. Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013. 63   P. Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: D. Merten/H.J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  21 Rn.  18 m. Fn.  57. 64  Chronologisch: J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  5, 1.  Aufl. 1992, §  115; Kirchhof, Grundrechtsinhalte (Fn.  63), §  21 (2004); Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 (2011). 65   Insbesondere wurde der Begriff der „Geltungsvoraussetzungen“ in Isensee 1992 (Fn.  64), Rn.  16, 18 u.ö. fallen gelassen (s. dens., Grundrechtsvoraussetzungen [Fn.  62], §  190 Rn.  70; von der „Geltungsbedingung“ handelt kurz Kirchhof, Grundrechtsinhalte [Fn.  63], §  21 Rn.  7 ). 66  Im Rahmen einer weiter ausgreifenden Thematik kritisch zur allgemeinen Lehre der Verfassungsvoraussetzungen (vgl. Krüger, o. Fn.  62) C. Möllers, Staat als Argument, 2.  Aufl. 2011, S.  256 ff.; diese Kritik spricht indes nicht gegen den hier unternommenen Versuch, die Theoriebestände zur partiellen Klärung der beschriebenen grundrechtlichen Voraussetzungsbeziehung als heuristisches Mittel heranzuziehen. 67   Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  49.

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„praktische Erfüllung“ meinen (Wirksamkeitsvoraussetzungen), einmal die Bedingungen für die reale Ausübbarkeit der Grundrechte „ohne sonderliche Erschwer­ nisse“ (Ausübungsvoraussetzungen).68 Das entspricht weitestgehend dem Kirchhofschen Verständnis von Grundrechtsvoraussetzungen.69 Die Abgrenzung der beiden Formen von Grundrechtsvoraussetzungen ist weniger eine Sach- als eine Perspektivenfrage: „Die Wirksamkeitsvoraussetzung bestimmt sich objektiv aus der Sicht der Verfassungsordnung, die Ausübungsvoraussetzung subjektiv aus der Sicht des Grundrechtsträgers.“70 Es empfiehlt sich also, von zwei Hinsichten zu sprechen, unter denen sich Grundrechtsvoraussetzungen in einer der beiden Gestalten zeigen, statt von zwei substantiell verschiedenen Arten solcher Voraussetzungen.71 – Als Wirksamkeitsvoraussetzungen für Grundrechte erscheinen danach solche Faktoren, die es Grundrechtsträgern abstrakt-generell ermöglichen, die im Grundrechtskatalog verbürgten Freiheiten auszuleben. Anschaulich ist das Beispiel der in Art.  6 Abs.  1 GG unter Grundrechtsschutz gestellten Ehe: Dieser Schutz hat zur Voraussetzung, „daß die Ehe als Rechtsinstitut des Zivilrechts ausgestaltet und als die reguläre Form der Geschlechts- und Lebensgemeinschaft in der Gesellschaft praktisch akzeptiert ist“72. Wirksamkeitsvoraussetzungen findet also, wer „das objektive, von der Person des Grundrechtsberechtigten unabhängige Umfeld eines Grundrechts“73 untersucht. Demgegenüber lassen sich die Ausübungsvoraussetzungen der Grundrechte nicht von der Person ihres Trägers und „der gegebenen Lage“74 lösen. Sie zeigen sich beim Blick auf die „Bedingungen in der Person des Grundrechtsberechtigten, die ihm erst die Wahrnehmung seines Grundrechts ermöglichen“75. Wer beispielsweise die Ehe eingegangen ist, findet im Eherecht des BGB diejenigen Rechtsstrukturen vor, welche ihm die konkrete Realisierung seiner grundrechtlich in Art.  6 Abs.  1 GG gewährleisteten Position ermöglichen.76

b)  Grundrechtsschutz von Grundrechtsvoraussetzungen? Bevor zur Rekonstruktion der Schutzbereichsdogmatik von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG anhand der Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen übergegangen wird (sogleich III.), muss noch ein vermeintliches Transferhindernis beseitigt werden. So ließe sich aus dem Umstand, dass Grundrechtsvoraussetzungen „nicht Bestandteil der   Alle Zitate Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  70.   Siehe den Hinweis bei Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  70 m. Fn.  97 und vgl. Kirchhof, Grundrechtsinhalte (Fn.  63), §  21 Rn.  7 bzw. 8. – Die nachfolgende Terminologie richtet sich nach derjenigen Isensees. 70   Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  73. 71   Vgl. das Beispiel von Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  73: „Physische Sicherheit“ einerseits als Wirksamkeits-, andererseits – und zugleich – als Ausübungsvoraussetzung von „Bewegungsfreiheit“. 72   Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  71; ähnlich Kirchhof, Grundrechtsinhalte (Fn.  63), §  21 Rn.  7. 73   Kirchhof, Grundrechtsinhalte (Fn.  63), §  21 Rn.  8. 74   Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  160. 75   Kirchhof, Grundrechtsinhalte (Fn.  63), §  21 Rn.  8. 76   Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  163. 68 69

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Grundrechtsnormen“, sondern „normakzessorisch“77 sind, folgern, dass Grundrechtsvoraussetzungen ihrer Art nach generell nicht Inhalt von Grundrechten sein können. Dann ergäbe es von vornherein keinen Sinn, Art.  2 Abs.  2 S.  2 als Grundrechtsgarantie der Grundrechtsvoraussetzung „Freiheit der Person“ in Betracht zu ziehen. Das wäre jedoch ein Missverständnis. Tatsächlich können Grundrechtsvoraussetzungen nur nicht zugleich Inhalt derselben Grundrechte sein, denen gegenüber sie akzessorisch sind, wohingegen sie als Grundrechtsgehalte die Voraussetzungen anderer Grundrechte sehr wohl schützen können.78 Letztlich steht die Akzessorietätsbeziehung der im Folgenden unternommenen Indienstnahme der Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen zur Interpretation von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG nicht nur nicht entgegen; sie trägt sogar ihren Teil zur Klärung der Verhältnisse bei, indem sie dieses Grundrecht schon im Ansatz zu jenen Grundrechten, deren Voraussetzungen es schützt, in eine bestimmte Relation bringt. Diese bedingt den prinzipiellen Ausschluss inhaltlicher Überlappungen zwischen der Freiheit der Person und ihren Folgefreiheiten. Bei der Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche wird das zu berücksichtigen sein.

III.  Die Freiheit der Person als Grundrechtsvoraussetzung Nicht selten leidet die Schutzbereichsinterpretation von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG unter der Prämisse des (vermeintlich) einheitlichen Eingriffsverständnisses: Die Betroffenheit des Rechts wird nur nach Maßgabe der Ähnlichkeit des jeweils in Rede ste­ henden Eingriffs zur kanonisierten Eingriffsform der willkürlichen Verhaftung ­beurteilt.79 Der drohenden Verkümmerung der Schutzbereichsdogmatik kann ein eingriffsunabhängiger Auslegungsansatz nach Art des hier vorgeschlagenen entgegenwirken. Sein Ausgangspunkt ist die weithin anerkannte These von der Freiheit der Person als ‚Voraussetzung‘ anderer Freiheiten. Wenn diese aber ihrerseits Gegenstand von Grundrechten sind, dann wird die Freiheit der Person zur Grundrechtsvoraussetzung. Die Einordnung als eine solche und die daran anknüpfende Dogmatik soll dementsprechend Kriterien zur Identifikation der Schutzgehalte von Art.  2 Abs.  2 S.  2 liefern, anstatt diesen Schritt zu überspringen und sogleich zur Eingriffsfrage überzugehen. Die damit verbundene Abkehr von der ‚eingriffsspezifischen Schutzbereichsformulierung‘ soll aber wiederum nicht deren Erträge – soweit sie tatsächlich den Schutzbereich betreffen – für die (eingriffsunabhängige) Schutzbereichsdogmatik disqualifizieren. Im Gegenteil besteht das Hauptanliegen vorliegender Untersuchung darin, den Beständen mithilfe der Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen eine festere Struktur zu verleihen, um sie differenzierter betrachten und präziser vergleichen zu können. Das geschieht hier folgendermaßen: Zunächst werden die beiden wichtigsten allgemeinen Ausprägungen der eingriffsfokussierten Perspektive mithilfe der Lehre von   Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Fn.  62), §  190 Rn.  56.   Kirchhof, Grundrechtsinhalte (Fn.  63), §  21 Rn.  18 stellt denn auch fest, dass „der Inhalt einer grundrechtlichen Bestandsgarantie Wirkungsvoraussetzung für ein anderes Grundrecht“ sein kann. 79   Dahin etwa Kloepfer, Verfassungsrecht II (Fn.  43), §  58 Rn.  2 ff. (insb. 6). 77 78

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den Grundrechtsvoraussetzungen auf ihre Bedeutung für die Schutzbereichsinterpretation hin befragt (1.). Nach der Orientierung über das Schutzgut der Freiheit der Person folgt eine kritische Rekonstruktion der gängigen Eingriffsformen (2.).

1.  Rekonstruktion der Schutzgehalte von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG Innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion über Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG lassen sich idealtypisch80 zwei Hauptlinien anhand ihrer jeweiligen Eingriffsparadigmen voneinander abgrenzen: Die eine (a) rückt die Verbindung zur Habeas-Corpus-Tradition und den Bezug zu Art.  104 GG so sehr in den Fokus, dass der Verhaftungsschutz zum Hauptbezugspunkt der Interpretation wird mit den entsprechenden Folgen für die Schutzbereichsbestimmung.81 Die andere (b) legt zugrunde, dass die durch Leibeigenschaft oder Sklaverei bedingte Unfreiheit nicht weniger eine Beeinträchtigung der Freiheit der Person bedeute als die haftbedingte; 82 die Schutzbereichsbestimmung muss dann allgemein genug sein, um beide Bedrohungslagen zu integrieren.

a)  Bewegungsfreiheit als Voraussetzung extrovertierter Freiheitsausübung Interpretationen, in deren Zentrum die Habeas-Corpus-Tradition steht, betonen typischerweise die faktisch-körperliche Seite der durch Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG abwehrrechtlich bewehrten Freiheit als „Freiheit der Person im physischen Sinne“83. In dieser Auslegung steckt bereits eine durchaus nicht geringe Herausforderung an den grundrechtlichen Freiheitsbegriff.84 Das wird deutlich, sobald man sie repräsentativen Schutzbereichsbeschreibungen des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art.   2 Abs.  1 GG gegenüberstellt. Dessen Schutzgehalt charakterisiert Udo Di Fabio auf der Linie der Elfes-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „jedes Tun und Lassen nach dem eigenen Willen“85. Die Freiheit hierzu ist aber, jedenfalls in erster Linie, keine Freiheit ‚im physischen Sinne‘: Es ist eine Freiheit, die auf den ‚eigenen Willen‘ verweist und damit auf ein Phänomen, das – was immer es genau sein mag – unter eben dieser Beschreibung gerade keine Kategorie des Physischen darstellt. Dennoch richtet sich der Wille selbstverständlich (auch aus der Perspektive der ersten Person) unter anderem auf physische Zusammenhänge, darunter die körperliche Fortbewegung, etwa zum Zwecke der Ortsveränderung; sie bleiben ihm aber ir80   Die Rede von den „Idealtypen“ besagt, dass die vorfindlichen Positionen meist zwischen diesen Hauptlinien einzuordnen sind, denen sie mehr oder weniger gleichen. 81   Sehr ausgeprägt bei Grabitz, Freiheit (Fn.  18), §  130 Rn.  5 ff.; Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  2 f.: „Seine eigentliche Kontur als Grundrecht … gewinnt die Freiheit der Person durch die Typologie einer ganz bestimmten Eingriffslage: der Haft.“ (Rn.  3 ). 82  Insbesondere Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  4 f., 9 (vgl. o. bei und in Fn.  24 f.). 83  So Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  25; H.D. Jarass, in: ders./B. Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 13.  Aufl. 2014, Art.  2 Rn.  112; Grabitz, Freiheit (Fn.  18), §  130 Rn.  5 ; vorsichtig Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  99. 84   Zu seinen „Dimensionen“ Grabitz, Verfassungsrecht (Fn.  30), S.  243 ff. 85   Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  12; vgl. BVerfGE 6, 32 (36) – Elfes [1957]: „Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne“.

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gendwie äußerlich – was nach dem bislang Gesagten auch gar nicht verwundert. Denn die Freiheit der Person wirkt in nun näher zu präzisierender Weise als ‚Voraussetzung‘ der für die grundrechtliche Freiheit vielleicht prototypischen Handlungsfreiheit im Sinne des Art.  2 Abs.  1 GG.86 Die erwünschte Präzisierung sollte sich also durch die Anwendung der Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen auf diese spezielle Voraussetzungsbeziehung (zwischen der Freiheit der Person und den Handlungsfreiheiten) erzielen lassen: Denkbar ist zunächst, in der Freiheit der Person, verstanden als Freiheit von Eingriffen in die körperliche Bewegungsfreiheit, eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die übrigen Freiheitsrechte zu erblicken. Sie tritt dann neben gleichartige Grundrechtsvoraussetzungen, wie beispielsweise das zivilrechtliche Institut der Ehe als objektive Voraussetzung des auf dieses Institut gerichteten verfassungsrechtlichen Eheschutzes. Allerdings lässt sich der Einordnung der Freiheit der Person als Wirksamkeitsvoraussetzung nicht viel abgewinnen, wenn man darunter die Freiheit zur körperlichen Fortbewegung versteht. Denn die Fähigkeit zur körperlichen Fortbewegung stellt sich in generell-abstrakter Betrachtungsweise, anders als das artifizielle Rechtsinstitut der Zivilehe, als natürliche, jedem Träger von Handlungsfreiheit, also jedermann, vom Recht ganz selbstverständlich zuerkannte Eigenschaft dar: Sie ist in der Vorstellung einer allgemeinen Handlungsfreiheit ebenso automatisch mitgedacht wie in der Vorstellung all jener besonderen Freiheiten, zu deren Erfüllung es allgemein eines bewegungsfähigen Körpers bedarf.87 Kurzum: Die körperliche Bewegungsfreiheit des Menschen ist eine objektive Voraussetzung der Freiheit, zu tun, was man will – nur eben eine triviale. Interessant ist aber die Einordnung der Freiheit der Person (in Habeas-Corpus-Lesart) als Grundrechtsausübungsvoraussetzung. Denn kraft dadurch bedingter Perspektivensubjektivierung tritt hervor, dass ja nicht alle Grundrechtsträger gleichermaßen und in gleicher Weise Gebrauch von ihren Handlungsfreiheiten machen (wollen), welche allein körperliche Bewegungsfreiheit voraussetzen. Der von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG gewährte Voraussetzungsschutz gilt, wie von diesem Standpunkt deutlich zu sehen, speziell dem handlungsförmigen Freiheitsgebrauch, sozusagen der extrovertierten, raumgreifenden Grundrechtsausübung im Gegensatz etwa zum sprichwörtlichen „Leberecht-Hühnchen-Dasein in Schlafrock und Pantoffeln“88. Für das aktive In-Erscheinung-Treten normiert Art.  2 Abs.  2 S.  2 eine Sicherungsvorkehrung, die selbst, wie die Handlungsfreiheit(en), deren Voraussetzung sie schützt, Grundrechtsstatus genießt, auf die man sich also eigens berufen89 kann. Dadurch gewinnt die Schutzgutbeschreibung der Freiheit der Person als ‚körperliche Bewegungsfreiheit‘ 86  So Grabitz, Verfassungsrecht (Fn.  30), S.  251 („Prototyp der Grundrechte“); zur Freiheit der Person als Voraussetzung von Handlungsfreiheit s.o. in und bei Fn.  56 ff. 87  Hierzu zählen dann nicht solche Grundrechtsgehalte, die sich auf innere Vorgänge beziehen, beispielsweise Glaubensvorstellungen und Gewissensbildung im forum internum (Art.  4 Abs.  1 GG). 88   R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3.  Aufl. 1994, S.  309 (314) in einer Volte gegen die abwehrrechtlich-liberale Grundrechtstheorie als bourgeoise und unpolitische; indes wirft die „Freiheit der Person“ durchaus ein anderes Licht auf die Abwehrrechte, deren Ausübungsvoraussetzungen sie schützt: es sind gerade auch die Rechte des aktiven, politischen Bürgers (dazu weiter im Text). 89   Gemäß Art.  19 Abs.  4 bzw. 104 Abs.  2 S.  1 und Abs.  3 GG; zum Verhältnis der Verfahrensgarantien Heidebach, Verfahren (Fn.  11), S.  160 ff.

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an Profil: Gut am „Leben ‚auf freiem Fuße‘“90 ist nach Art.  2 Abs.  2 S.  2 die Freiheit zur aktiven, nach außen gewandten, schöpferischen und damit gerade auch interaktiven, kommunikativen und öffentlichen91 Betätigung. Stellen es die Grundrechte in jedermanns Belieben, ihnen den je für ihn „spezifischen Sinn zu geben“92, so lädt Art.  2 Abs.  2 S.  2 dazu ein, diese individuelle Gestaltungsfreiheit nach außen zu kehren: Der Einzelne hat das Recht, zur Ausübung seiner Freiheiten „in die Welt [zu] gehen“93 ; er selbst, und nicht der Staat, bestimmt, wo der Radius seiner Freiheitssphäre endet. Im Unterschied zu den Handlungsfreiheiten knüpft Art.  2 Abs.  2 S.  2 seinen Schutz nicht an bestimmte Handlungen und Unternehmungen, sondern an das Interesse jeder Person, ihre Freiheiten gerade auch in für andere sichtbarer Weise auszuleben und mit ihnen räumlich in Kontakt zu treten. „Körperliche Bewegungsfreiheit“ ist also eine Chiffre dafür, dass grundrechtliche Freiheit sich nicht etwa biedermeierlich im Privaten abspielen, sondern vielmehr niemand daran gehindert sein soll, sie in den sozialen Raum hineinzutragen.

b)  Personale Freiheit als Wirksamkeitsvoraussetzung aller Grundrechte Diejenigen Interpreten, die persönliche Unfreiheit, wie etwa die eines Sklaven, der Freiheit der Person entgegensetzen, fügen dem Verständnis von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG weitere Facetten hinzu, die in der Deutung als ‚körperliche Bewegungsfreiheit‘ fehlen. Zunächst stellt sich die gesuchte Art von Freiheit nach dieser Lesart weniger als körperliche denn als abstrakte oder ideelle Größe dar: Freiheit als „Unverfügbarkeit für andere“94. Indem diese Interpreten mit Leibeigenschaft und Sklaverei die denkbar gravierendsten Formen der Negation der Gleichheit aller Menschen zum zweiten Eingriffsparadigma erklären, lenken sie den Blick zugleich auf eine wenig beschriebene egalitäre Sinnschicht dieses Grundrechts. Beide Aspekte, d.h. die abstrakte und die egalitäre Seite der Freiheit der Person, lassen sich konturieren, indem man sie (in ihrer Verbindung) als Wirksamkeitsvoraussetzung von Grundrechten in Betracht zieht. Anlass hierfür gibt zum einen die Singularnennung „der“ Freiheit in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG, zum anderen der Mantelbegriff der „Person“95 als designiertes Freiheitssubjekt: Darin spiegelt sich, dass grundrechtliche Freiheit, die schlicht an das all ihren Trägern gemeinsame Mensch  Merten, Bewegungsfreiheit (Fn.  48), §  95 Rn.  5 (zit.) u. 7; das Zitat im Zitat stammt von B. Eckstein, Die Freiheit der Person (Art.  114 WRV), 1922. 91   Diesen Aspekt trifft Heidebach, Verfahren (Fn.  11), S.  60 ff. in eingriffsorientierter Betrachtung, die er insbesondere mit Blick auf die nationalsozialistische Praxis der sog. Schutzhaft (Inhaftierung oft politisch Missliebiger durch das Regime auf Basis von Gewohnheitsrecht) entwickelt: demgegenüber solle der Freiheitsschutz verhindern, dass jemand „aus der Öffentlichkeit ‚verschwindet‘“ (ebd., S.  64). Entstehungsgeschichtlicher Hinweis auf diese Praxis: Abg. Zinn, in: Der Parlamentarische Rat 1948– 1949. Akten und Protokolle, Bd.  14/II, bearb. v. M.F. Feldkamp, 2009, S.  1305. 92   H. Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung (2010), in: ders., Idee (Fn.  32), S.  459 (470). 93   Di Fabio (Fn.  8 ), Art.  2 II 2 Rn.  3. 94   Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  9. 95   Zu seiner übergreifenden Bedeutung für die Grundrechtsinterpretation des BVerfG U. Palm, Die Person als ethische Rechtsgrundlage der Verfassungsordnung, in: Der Staat 47 (2008), 41 (48 ff.). 90

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sein anknüpft, im Ausgangspunkt an ein einheitliches, relationales Ordnungsprinzip gebunden ist, dem die Forderung der Allgemeinheit des Gesetzes korrespondiert 96. Die am Ausgangspunkt gleiche rechtliche Freiheit aller Menschen bildet einerseits die genaue Antithese von Erscheinungen wie Sklaverei und Leibeigenschaft als Fällen paradigmatischer Verletzungen der Freiheit der Person.97 Sie bildet andererseits, positiv gewendet, eine fundamentale Wirksamkeitsvoraussetzung für alle Grundrechte. Diese setzen objektiv eine Verfassungsnorm der allseits gleichen rechtlichen Freiheit voraus. Denn der ‚spezifische Sinn‘, den der Einzelne seinem freien Handeln gibt, erhält seine Spezifikation als besonderer grundrechtlicher Freiheitsgebrauch gerade dadurch, dass er auf die allgemeine Norm der gleichen Freiheit aller verweist. Von der ihnen durch diese Norm eingeräumten Ausgangsposition aus können die Grundrechtssubjekte ihrer Freiheitssphäre ein individuelles Profil verleihen. Demgegenüber wird man einem Staatswesen, das Phänomene wie Leibeigenschaft und Sklaverei duldet, nicht bloß schwerste Rechtsverstöße vorhalten, sondern ihm weitergehend attestieren, dass in ihm noch nicht einmal die Voraussetzungen für grundrechtliche Freiheit bestehen. Als weniger ergiebig erweist sich die relationale Deutung der Freiheit der Person als ‚Unverfügbarkeit für andere‘, wenn man darin nicht eine Wirksamkeits-, sondern eine Ausübungsvoraussetzung für Grundrechte erblickt. Das führt nämlich zu einem ähnlich trivialen Ergebnis wie der obige Versuch, in der Bewegungsfreiheit eine Wirksamkeitsvoraussetzung für Grundrechte zu sehen (a). An dieser Stelle rührt die Trivialität daher, dass in der Deutung der Freiheit der Person (im Gegensatz zur persönlichen Unfreiheit) als Ausübungsvoraussetzung anderer Grundrechte bereits ebendiese Freiheit unterstellt werden muss. Denn würde sie und mit ihr die Norm der gleichen Freiheit aller nicht unterstellt, dann wäre die Perspektive des Grundrechtsträgers, d.h. die Perspektive der Grundrechtsausübung, infolge genereller Unwirksamkeit der Grundrechte gar nicht eröffnet. Aufgrund dieser Zusammenhänge ist die besagte Deutung der Freiheit der Person eine Grundrechtsausübungsvoraussetzung in rein begrifflicher Hinsicht.

c)  Fazit zu den Schutzgehalten von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG Die untersuchten Interpretationsansätze verleihen der Freiheit der Person in unterschiedlicher Weise Relevanz als Grundrechtsvoraussetzung. Die an der Funktion der Art.  2 Abs.  2 S.  2 und 104 GG als Verhaftungsschutz anknüpfende Linie profiliert dieses Grundrecht vor allem als Ausübungsvoraussetzung  Vgl. W. Heun, Freiheit und Gleichheit, in: D. Merten/H.J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  2 , 2006, §  34 Rn.  20 bzw. Rn.  10 u. 15 mit Hinweis auf Kant und die republikanische Konzeption als naheliegende ideengeschichtliche Bezugspunkte; Veranschaulichung anhand der hergebrachten Vorstellung eines Übergangs vom Zustand natürlicher, vorstaatlicher in den Zustand rechtlich geordneter Freiheit bei H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S.  530. Siehe bei I. Kant insb. Die Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre, zit. nach der Akademie Textausgabe, Bd.  6, ND 1968, § C; weiterführend hierzu J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4.  Aufl. 1994, S.  153 ff. 97   Aus verfassungs- und ideengeschichtlicher Perspektive Kriele, Staatslehre (Fn.  20), S.  120 f. 96

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jener anderen Grundrechte, die Handlungsfreiheiten schützen. In dieser Hinsicht garantiert die Freiheit der Person den Grundrechtsträgern das Recht, die besondere Art und Weise, auf die jeder Einzelne von ihnen seinen Handlungsfreiheiten Gestalt verleihen möchte, gerade auch ungehindert in den sozialen Raum zu tragen. Die Auslegung, die der Freiheit der Person nicht nur das Unrecht willkürlicher Verhaftung, sondern zugleich auch den Zustand der Leibeigenschaft entgegensetzt, weist auf eine tiefgehende Wirksamkeitsvoraussetzung der Grundrechte hin. In ihr artikuliert sich deutlich die Singularform der Freiheit in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG als eine Eigenart grundrechtlicher Freiheit überhaupt. Denn der Umstand, dass Grundrechte nur wirksam sind, wenn das Prinzip der gleichen Freiheit aller gilt, erklärt, warum Praktiken wie Leibeigenschaft und willkürliche Verhaftung Einzelner sich weniger als Grundrechtseingriffe denn als Negationen ihres gesamten Status als Grundrechtsträger darstellen.

2.  Rekonstruktion der Eingriffstypologie von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG Die Befunde zum Schutzbereich von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG, der bestimmte Grundrechtsvoraussetzungen grundrechtlich schützt, lassen eine bestimmte Eingriffstypik erwarten: Nach klassischem Verständnis liegt ein Eingriff in die Freiheit der Person vor, wenn der Staat gezielt diejenigen Voraussetzungen für die Ausübung anderer Grundrechte beeinträchtigt, welche Art.  2 Abs.  2 S.  2 schützt. Der Staat kommt konkreten Freiheitsansprüchen gewissermaßen zuvor, indem er den Bewegungsradius des Freiheitssubjekts limitiert und so auf die Ebene der Voraussetzungen seines Freiheitsgebrauchs durchgreift. Aktuell dürften Eingriffe in dieses Recht, weil mit so fundamentalen Verstößen wie Leibeigenschaft und Sklaverei nicht zu rechnen ist,98 im Zugriff auf die Ausübungsvoraussetzungen anderer Freiheitsrechte liegen. Sie liegen dann weiterhin nicht darin, bestimmte (ihrerseits grundrechtlich bewehrte) Handlungen zu verbieten, sondern darin, ihnen vorzugreifen. Exemplarisch hierfür ist die Haft:

a)  Entzug von Grundrechtsausübungsvoraussetzungen durch Strafhaft Dem Gefangenen sind nicht etwa die grundrechtlichen Handlungsfreiheiten entzogen, weil er innerhalb der abgeschlossenen Einrichtung nach Maßgabe des (verfassungsmäßigen) Vollzugsrechts frei nach eigenem Willen handeln darf.99 Ihm ist aber 98  Diese Aussage ist rein abwehrrechtlich gemeint. Auf die Schutzpflichtendimension des Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG kann vorliegend nicht eingegangen werden. Diesbezüglich ist nicht von der Hand zu weisen, dass den Staat auch aktuell große Verantwortlichkeiten treffen, man denke etwa an den Schutz vor sog. Menschenhandel (human trafficking), der auf Ebene des europäischen Menschenrechtsschutzes seit dem Urteil des EGMR v. 7.1. 2010, Rantsev gegen CYP u. RUS, Nr.  25965/04, dem Anwendungsbereich des Art.  4 EMRK zugeordnet wird (EGMR NJW 2010, 3003 [3005 ff., insb. 3006 f. zur Schutzpflicht der Staaten, zu erfüllen u.a. durch strafrechtliche Vorkehrungen]; zur Verbindung von Art.  4 EMRK mit der Freiheit der Person s.o. bei und in Fn.  25). 99   Weil sich der Gefangene nicht etwa in einem besonderen Gewaltverhältnis (verstanden als Ausnahme vom grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt) befindet, muss er im Vollzug nur diejenigen Frei-

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die Freiheit entzogen, selbst über den Radius seines Handelns zu bestimmen, insbesondere seine Handlungsfreiheiten in die Öffentlichkeit zu tragen.100 Dieser Freiheitsentzug betrifft somit nicht bestimmte Handlungen (wie z.B. einen Verwandtenbesuch), sondern deren Voraussetzungen: Freies Tun und Lassen nach dem eigenen Willen ist für den Inhaftierten grundrechtlich nur noch in dem Maße gestattet, wie der (verfassungsrechtlich gerechtfertigte) Freiheitsentzug diesbezüglich die Ausübungsvoraussetzungen bestehen lässt. Wer sich nicht in die Öffentlichkeit begeben darf, der hat – ohne dass darin zusätzliche Einschränkungen liegen würden – nicht das Recht, eine öffentliche Veranstaltung zu besuchen, seinen Wohnsitz frei zu wählen, eine Reise anzutreten, zum Demonstrieren auf die Straße zu gehen101 usw. Aus seiner Rechtsstellung ist ein breites Spektrum von Handlungsmöglichkeiten, die ihm ansonsten freistehen und erlaubt sein würden, gewissermaßen ausgeklammert.102 Diesem Ergebnis entspricht die Zitierpraxis der meisten Strafvollzugsgesetze, die (wie z.B. Art.  207 BayStVollzG103) dem Zitiergebot aus Art.  19 Abs.  1 S.  2 GG dadurch Rechnung tragen, dass sie die besonderen Handlungsfreiheiten, für die Art.  19 Abs.  1 S.  2 zwar gilt, deren Ausübungsvoraussetzungen aber durch den Eingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG entzogen sind, nicht eigens anführen. Somit bestätigt die Deutung der Freiheit der Person als Grundrechtsausübungsvoraussetzung (wohlgemerkt ohne Rekurs auf das Eingriffsparadigma), dass die Inhaftierung einer Person in der Tat das Paradebeispiel für den Eingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG darstellt. Im Folgenden werden weitere allgemeine Eingriffstypen104 anhand der obigen Schutzbereichsbestimmung auf ihre Relevanz für die Freiheit der Person hin untersucht.

heitseinschränkungen hinnehmen, die sich aus verfassungskonformen gesetzlichen Schranken ergeben, vgl. BVerfGE 33, 1 (10 f.) – Strafgefangene [1972]. Soweit sie sich aus den besonderen Umständen der Straf haft rechtfertigen, sind sie in den Strafvollzugsgesetzen niedergelegt, vgl. allgemein J.-M. Jehle, in: H.-D. Schwind u.a. (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz – Bund und Länder, 6.  Aufl. 2013, §  4 Rn.  27. 100  Von R.-P. Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974, S.  158 treffend als Entzug „von gesellschaftlichen Partizipationschancen“ beschrieben. 101   F. Neubacher, in: K. Laubenthal u.a. (Hrsg.), Strafvollzugsgesetze, 12.  Aufl. 2015, B Rn.  97 spricht insoweit, in Einklang mit der hier vorgeschlagenen Schutzbereichsdogmatik, von „Folgegrundrechten“, die die Freiheit der Person „voraussetzen“ und daher durch deren Entzug mit „erfasst“ seien. Vgl. auch K. Laubenthal, Strafvollzug, 7.  Aufl. 2015, Rn.  244 a.E., der aus der Perspektive der Ausübungsbeschränkung solcher Folgegrundrechte von „Annexwirkungen“ des Eingriffs in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG spricht, der „faktisch … die Möglichkeiten einer ungestörten Realisierung anderer Grundrechte“ beschneide. 102   Auf „kompensatorische Rechte“ (vgl. M. Walter, Strafvollzug, 2.  Aufl. 1999, Rn.  353, 356), die diesem Minus partiell ausgleichend entgegenwirken, kann vorliegend nicht eingegangen werden. 103   Zusammenschau einiger Zitierklauseln bei Neubacher (Fn.  101), B nach Rn.  116. 104   Sie ergeben sich aus der schlichten Kombination der beiden Arten, auf die sich körperliche Bewegung natürlicherweise beschreiben lässt (Hinbewegen und Wegbewegen), mit den Regelungsmodalitäten Ge- und Verbot (b – e). Die Sekundärebene der Rechtsdurchsetzung wird gesondert betrachtet (f ).

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b) Wegbewegungsverbot Nicht zuletzt mit Blick auf das Eingriffsmuster Haft steht die allgemeine Kennzeichnung der Freiheit der Person als Wegbewegungsfreiheit auf solidem Grund, der zufolge „Art.  2 II 2 GG davor schützen will, in seiner räumlichen Entfaltung gegen seinen Willen auf einen relativ begrenzten Raum beschränkt zu sein“105. Sieht man in der Freiheit der Person eine Ausübungsvoraussetzung der Handlungsfreiheiten, gelangt man zum selben Schluss. Beschränkungen, die – wie die Haft – die freie Ortsverlagerung auf einen sehr kleinen Raum begrenzen, sind klare Eingriffe in dieses Recht. Interessanter ist nun aber die Frage, ob sich aus der hier vorgeschlagenen Auslegung Argumente für die Behandlung solcher Eingriffe in die Wegbewegungsfreiheit entwickeln lassen, deren Zuordnung zu Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG umstrittener ist. Hierzu gehört die Erteilung von Meldeauflagen, wie sie im Polizeirecht und im Strafprozessrecht vorkommen.106 Denn solche Maßnahmen bewirken, ähnlich wie die Haft, zwar nicht den Entzug sämtlicher Bewegungsfreiheit, aber deren Begrenzung auf einen bestimmten Radius, der bei der Meldeauflage nur eben viel weiter reicht als bei der Haft: Durch die Meldeauflage wird angeordnet, dass sich eine Person an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten bei einer (meist) staatlichen Stelle einzufinden hat; handelt es sich um eine polizeirechtliche Meldeauflage, soll auf diese Weise ein potenzieller Störer daran gehindert werden, einen Ort aufzusuchen, an dem er aller Voraussicht nach Straftaten begehen wird (vgl. §  12a POG Rh.-Pfz.), während die Meldeauflage nach §  116 Abs.  1 S.  2 Nr.  1 StPO als milderes Surrogat der Untersuchungshaft verhindern soll, dass sich ein Tatverdächtiger dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch Flucht entzieht.107 In beiden Regelungsbereichen geht es dem Maßnahmezweck entsprechend weniger darum, dem Adressaten Erscheinenspflichten (bei der ihm genannten Stelle) aufzuerlegen, als darum, sicherzustellen, dass er nicht ein bestimmtes Gebiet verlässt und sich in der Folge das rechtlich abzuwendende Risiko realisiert. Die regelmäßigen Meldepflichten sind nur ein Mittel zu diesem Primärzweck.108   Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  98 m.w.N.   Vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf diese beiden Fälle, die sich in ihrer präventiven Zielrichtung ähneln. Insbesondere Meldeauflagen gem. §  56c Abs.  2 Nr.  2 StGB bleiben außer Betracht. Die polizeirechtliche Maßnahme wird meist auf die Generalklausel der Polizei- und Sicherheitsrechte gestützt (Ausnahme §  12a POG Rh.-Pfz.), was vor dem Hintergrund der Wesentlichkeitsdoktrin mitunter auf Kritik stößt, siehe etwa B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel, Polizei und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, 8.  Aufl. 2014, §  7 Rn.  20 f. Die strafprozessrechtliche Ermächtigungsgrundlage ist §  116 Abs.  1 S.  2 Nr.  1 StPO. 107  Vgl. K.-H. Posthoff, in: B. Gercke u.a. (Hrsg.), Strafprozessordnung, 5.  Aufl. 2012, §  116 Rn.  1. 108   Deutlich wird das etwa in §  116 Abs.  1 S.  2 StPO: Alle dort geregelten Haftsurrogate verfolgen denselben Primärzweck, nämlich den Haftgrund Fluchtgefahr zu beseitigen. Einzig die Meldeauflage verfolgt ihn durch Auferlegung von Erscheinenspflichten. – Nicht selten wird die Meldeauflage im Schrifttum zu Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG dennoch der Fallgruppe Erscheinens- oder „Anwesenheitspflichten“ (dieser Terminus erscheint doppeldeutig) zugeordnet (z.B. von Lorenz [Fn.  7], Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  694). Das kollidiert allerdings damit, dass ebensolche Maßnahmen im Kontext einer (möglichen) Betroffenheit von Art.  11 Abs.  1 GG gemeinhin nicht etwa als Pflichten zum Ortswechsel angesehen werden, sondern vielmehr als Maßnahmen, „die den Ortswechsel verhindern“ (mithin als Wegbewegungsverbot), so F. Wollenschläger, in: Dreier, Grundgesetz I (Fn.  9 ), Art.  11 Rn.  46. Diese dem Ein105

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Ob durch eine Meldeauflage aber speziell in die Freiheit der Person eingegriffen wird, ist umstritten. Während man sich im verfassungs- und polizeirechtlichen Schrifttum wohl mehrheitlich dagegen ausspricht,109 tendiert die strafverfahrensrechtliche Literatur zur positiven Annahme.110 Die Rechtsprechung präsentiert sich in ähnlicher Weise bereichsgeteilt.111 – Im Lichte der hiesigen Untersuchung ist bei einer Meldeauflage grundsätzlich von einem Eingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG auszugehen, wobei die konkrete Ausgestaltung im Einzelfall zu einem anderen Ergebnis führen kann. Doch im Allgemeinen schließen Meldeauflagen gezielt und in unbestimmtem Maß die Ausübungsvoraussetzungen von Handlungsfreiheiten aus: So stößt während ihrer Wirkungsdauer der gesamte Bewegungsradius des Adressaten an staatlicherseits gezogene Grenzen; er darf seinen Handlungsfreiheiten temporär nur einen Sinn geben, der keine Grenzübertretung beinhaltet. Die Auflage entfernt also Grundrechtsausübungsvoraussetzungen durch Schaffung eines Rechtszustands, der die Wahrnehmung beliebiger Handlungsfreiheiten insoweit erschwert, als er sie nurmehr innerhalb der gezogenen Grenzen zulässt. Beispielsweise besitzt der Adressat einer Auflage, sich täglich bei der örtlichen Polizeidienststelle zu melden, nicht die Freiheit, eine Fernreise anzutreten, infolge derer er seiner Meldepflicht nicht nachkommen könnte.112 Das Gesamtbild gleicht der Haft darin, dass der Entfaltungsraum des Betroffenen jeweils auf eine limitierte Zone beschränkt wird; der Unterschied liegt dann in der Enge der Begrenzung. Gewiss mag bei der Meldeauflage der verbleibende Freiraum des Betroffenen aufgrund der konkreten Ausgestaltung der Maßnahme groß genug bleiben, um mit der ungehinderten Realisierung der allermeisten Freiheiten nicht zu kollidieren. Die Maßnahme kann mitunter so zugeschnitten werden, dass sie seinem Freiheitsgebrauch nicht weiter zuvorkommt als in Anbetracht des konkreten Anlasses ihrer Erteilung erforderlich. Während in diesen Fällen nicht von einem Eingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 auszugehen ist, wird eine Meldeauflage dennoch typischerweise einen solchen darstellen. Denn sie steht ihrer Art nach in Konflikt griffszweck nähere Deutung sollte auch der Auseinandersetzung mit Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG zugrunde gelegt werden. Zu Erscheinenspflichten s. unten e. 109   Aus dem Verfassungsrecht Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  694; Stern/Sachs (Fn.  9 ), S.  1098; dafür aber Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  10, 23. Aus dem Polizeirecht insb. C. Schucht, Die polizei- und ordnungsrechtliche Meldeauflage: Standortbestimmung und dogmatische Neuausrichtung, in: NVwZ 2011, 709 (711). 110  Etwa H.-U. Paeffgen, in: J. Wolters (Hrsg.), SK-StPO, Bd.  II, 5.  Aufl. 2016, §  116 Rn.  2 ; D. Herrmann, in: H. Satzger/W. Schluckebier/G. Widmaier (Hrsg.), StPO, 2.  Aufl. 2016, §  116 Rn.  5 m.w.N. 111   Für das Polizeirecht etwa BVerwGE 129, 142 (150) – Meldeauflage G 8 [2007], wonach eine sieben Tage andauernde tägliche Meldepflicht „an Intensität nicht mit einem Freiheitsentzug i.S.v. Art.  104 GG zu vergleichen“ ist; anders in Bezug auf eine knapp mehr als einmonatige Meldepflicht ( jeweils zweimal täglich) etwa VG Ansbach, Beschl. v. 9.6.2006 – AN 5 S 06.02003, juris, Rz.  14 (Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG zwar nicht verletzt, aber „tangiert“). Für das Strafverfahrensrecht BVerfGE 53, 152 (161) – Aufrechterhaltung Haftbefehl [1980] über die mehrjährige „Verpflichtung zur wöchentlichen Meldung bei der Polizei“ als Beschränkung „der persönlichen Freiheit des Betroffenen“; gleichsinnig etwa BVerfG NJW 2006, 668 (669). 112   In Bezug auf das Aufsuchen des für ihn „verbotenen Orts“ (für den Hooligan etwa ein Fußballstadion) wird allerdings keine Grundrechtsausübungsvoraussetzung entfernt, weil in Bezug auf das Aufsuchen dieses Orts die Grundrechtsausübung eingeschränkt ist. Insoweit ist Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG nicht betroffen, sondern nur das Grundrecht, welches das Aufsuchen jenes Orts schützt. Zu diesem Zusammenhang sogleich (c und d).

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mit dem Grundsatz, dass es auch zu den Handlungsfreiheiten gehört, über ihre äußere Reichweite, ihre räumliche Ausdehnung, frei zu verfügen.113

c) Hinbewegungsverbot Prinzipiell uneins ist man sich weiterhin darüber, ob die Freiheit der Person (alias ‚liberté d’aller et de venir‘) vor Verboten schützt, sich an einen Ort zu begeben.114 Das Bundesverfassungsgericht praktiziert eine restriktive Linie. Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG gewähre dem Subjekt „von vornherein nicht eine Befugnis, sich unbegrenzt überall auf halten und überall hin bewegen zu dürfen“, sondern er erstrecke sich nur darauf, „einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich oder rechtlich) zugänglich ist“115. Danach wird die Freiheit der Person durch ein Betretungsverbot also nur eingeschränkt, sofern der Ort, den der Adressat des Verbots aufsuchen möchte, ihm gerade auch rechtlich zugänglich ist. Kritiker dieser Auffassung erblicken darin einen unzulässigen, weil „im Verfassungstext nicht vorgesehenen Vorbehalt der einfachgesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung“116. Der Einwand lässt sich zuspitzen: Wird die einfachgesetzlich geregelte Zugänglichkeit nicht im ersten Schritt an Art.  2 Abs.  2 S.  2 gemessen, sondern dessen Maßstab ‚von vornherein‘ auf das einfachgesetzliche Schutzniveau beschränkt, könnte darin ein gem. Art.  1 Abs.  3 GG systemwidriger Vorrang einfachen Rechts vor der Verfassung liegen. Indes harmoniert die Karlsruher Lesart zumindest im Ergebnis mit der hiesigen Auslegung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG als Recht auf gewisse Grundrechtsausübungsvoraussetzungen. Die Freiheit, einen Ort aufzusuchen, ist unzweifelhaft Gegenstand der Handlungsfreiheiten gewährenden Grundrechte, wie etwa Art.  8 Abs.  1 oder Art.  2 Abs.  1 GG. Sind daher Verbote, einen Ort aufzusuchen, jedenfalls an diesen Grundrechten vollumfänglich (d.h. ohne Rekurs auf das Kriterium rechtlicher Zugänglichkeit) zu messen, droht kein Verstoß gegen den Vorrang der Verfassung. Dass nun speziell Art.  2 Abs.  2 S.  2 nicht zu den Rechten gehört, die bei der Überprüfung eines Betretungsverbots anhand der Grundrechte maßstäblich sind, lässt sich folgendermaßen erklären: Solch ein Verbot richtet sich auf bestimmte Handlungen. Es bezieht sich auf die konkrete Gestalt, die ein Grundrechtssubjekt seiner Freiheitsausübung verleihen kann und greift darum gerade nicht auf deren Voraussetzungen durch, wie sich im Vergleich zum Wegbewegungsverbot (b) zeigt. Während dieses 113   Dieses Recht genießen allerdings erst volljährige Personen; vorher steht den Eltern gem. Art.  6 Abs.  2 S.  1 GG und §  1631 Abs.  1 a.E. BGB das Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf ihre Kinder zu, vgl. C. Correll, in: E. Denninger u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.  2 II (2001), Art.  2 Abs.  2 Rn.  147. Dieser Umstand wäre etwa bei der Behandlung der Schulpflicht unter dem Blickwinkel der Freiheit der Person zu beachten (die Pflicht dient vielen Autoren zurecht meist als Gegenbeispiel für einen Eingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG, etwa Murswiek [Fn.  4 ], Rn.  232 f., 239). 114   Lorenz (Fn.  7 ), Art.  2 Abs.  2 S.  2 Rn.  687. 115  BVerfGE 94, 166 (198); 96, 10 (21) – Räumliche Aufenthaltsbeschränkung [1997]; 105, 239 (248); BVerfG NVwZ 2011, 743 (Ls. 2, 744). 116   Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  8 a.E. (m.w.N.); die Einschränkung „jedenfalls im Ergebnis“ befürwortend Stern/Sachs (Fn.  9 ), S.  1091, ebenfalls m.w.N.

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nämlich einer unbestimmten Vielzahl möglicher besonderer Handlungsweisen gewissermaßen zuvorkommen soll, indem es das Subjekt von vornherein, d.h. unabhängig von dessen Absichten, auf einen künstlich begrenzten Radius festlegt, erschöpft sich das Hinbewegungsverbot in einem punktuellen Eingriff mit Relevanz zwar für die betroffene Handlungsfreiheit, jedoch ohne Relevanz für die Voraussetzungen weder dieser noch einer anderen Grundrechtsausübung.117 Die Frage der rechtlichen Zugänglichkeit eines Orts ist somit nicht anhand von Art.  2 Abs.  2 S.  2 zu beantworten. Letztlich ist sogar – rechtliche Zugänglichkeit hin oder her – insgesamt zweifelhaft, ob der Freiheit der Person eigenständige Bedeutung als Hinbewegungsfreiheit erwachsen kann. Denn stellt sich die Ausübung dieser Freiheit als Wechsel von Wohnsitz oder Aufenthaltsort dar, steht mit Art.  11 Abs.  1 GG ein möglicherweise sachnäheres Grundrecht zur Verfügung.118 Der diesbezüglich von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG gewährleistete Voraussetzungsschutz entspräche dann wiederum nur dem Recht, den bisherigen Wohnsitz oder Aufenthaltsort verlassen zu dürfen, also der Wegbewegungsfreiheit (b).

d) Wegbewegungsgebot Beispielhaft für die auf das Verlassen eines Orts gerichtete Maßnahme ist der polizeiliche Platzverweis, dessen Zuordnung zum Grundrechtstatbestand von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG umstritten ist.119 Das Gebot, einen Ort zu verlassen, und das Verbot, einen Ort zu betreten (c) stimmen weit genug überein, dass die Sicherheitsrechte sie beide nebeneinander als Varianten des Platzverweises vorsehen.120 In beiden Fällen ist dem Adressaten die Anwesenheit an einem bestimmten Ort (zu einer bestimmten Zeit) untersagt und steht es ihm zugleich frei, welchen anderen, nicht verbotenen Ort er aufsuchen möchte. Nach dem hier zugrunde gelegten Schutzbereichsverständnis greift die staatliche Aufforderung zum Verlassen eines Orts ebenso wenig in die Freiheit der Person ein 117   Mit Blick auf den Eingriffszweck lässt sich der Unterschied zwischen Hinbewegungs- und Wegbewegungsverbot so verdeutlichen: Der Zweck des ersteren nimmt Bezug auf einen Handlungszweck des Adressaten (diesen oder jenen Ort aufzusuchen); der Zweck des letzteren ist gegenüber den Handlungszwecken des Adressaten insofern indifferent, als er den Ausschluss beliebiger Handlungszwecke intendiert, sobald sie das Verlassen der vom Wegbewegungsverbot umgrenzten Sphäre einschließen. 118   Das entspricht jedenfalls dem öfters geäußerten Anliegen einer „engen“ Auslegung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG (vgl. Wittreck, Freiheit [Fn.  24], §  151 Rn.  8 ). Differenziert zum Verhältnis zwischen den Artikeln 11 Abs.  1, 2 Abs.  2 S.  2 und 2 Abs.  1 GG Merten, Bewegungsfreiheit (Fn.  48), §  95 Rn.  2 , 15 ff. Im hier eröffneten Rahmen kann das Verhältnis nicht eingehender untersucht werden. 119  Aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum dafür: Schulze-Fielitz (Fn.   9), Art.   2 II Rn.   104 m.w.N.; dagegen Wittreck, Freiheit (Fn.  24), §  151 Rn.  26. In der polizeirechtlichen Literatur pro Eingriff etwa W. Schmidbauer, in: ders./U. Steiner (Hrsg.), BayPAG und BayPOG, 4.  Aufl. 2014, Art.  16 Rn.  38; Pieroth/Schlink/Kniesel, POR (Fn.  106), §  16 Rn.  4 m.w.N.; dagegen aber F. Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15.  Aufl. 2013, S.  125 ff. (Rn.  276, 278: Art.  2 Abs.  1 GG betroffen) und aus der Judikatur etwa BayVGH NVwZ 2000, 454 (455 f.) sowie BayVGH, Beschl. v. 23.4.1999 – 24 CS 98.3551, juris, Rz.  23. 120   Z.B. Art.  16 S.  1 BayPAG; §  27a PolG BW; §  21 S.  1 SächsPolG; alle insoweit übereinstimmend mit dem MEPolG von 1976 (§  12).

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wie das Betretungsverbot: Sie ist allein an dem Freiheitsrecht zu messen, dem zufolge das Verbleiben an dem jeweiligen Ort erlaubt ist, z.B. an Art.  8 GG. Diesbezüglich entfaltet Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG als Ausübungsvoraussetzung nämlich keine eigenständige Bedeutung, möchte man nicht die rechtswidrige Grundrechtsausübung (z.B. der Versammlungsfreiheit) unter Schutz stellen. Und in Bezug auf jede andere Art von Freiheitsausübung (außer dem Verbleib am momentanen Aufenthaltsort) ist der Platzverweis indifferent, sodass er nach dieser Seite keine weitere Reibungsfläche für Art.  2 Abs.  2 S.  2 bietet.

e) Hinbewegungsgebot Umstritten ist schließlich die Einordnung von Präsenzpflichten. Hier ist zu differenzieren: Es kann sich dabei um ein Bleibegebot, mit anderen Worten ein Wegbewegungsverbot, handeln, für welches das oben Gesagte (b) gilt. An dieser Stelle ist aber allein die Erscheinenspflicht gemeint. Schulbeispiel für eine solche ist die behördliche Vorladung zum Verkehrsunterricht (momentan gem. §  48 StVO), die das Bundesverfassungsgericht nicht an Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG messen wollte121 und die für breite Teile der Literatur die Freiheit der Person ebenfalls nicht berührt.122 Hierüber lohnt es sich zu streiten, erkennt man an, dass dieses Grundrecht die Möglichkeit beliebiger Ortsveränderung als Ausübungsvoraussetzung aller Handlungsfreiheiten schützt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die (grundrechtliche) Situation beim Erscheinensgebot folgendermaßen dar: Ohne weitere Qualifikation greift es nur in die (zumindest) von Art.  2 Abs.  1 GG gedeckte Freiheit des Adressaten ein, das Erscheinen zu unterlassen. Insoweit liegt kein Eingriff in die Freiheit der Person vor, da von diesem Eingriff in die Handlungsfreiheit nicht zugleich Voraussetzungen anderweitiger Freiheitsausübung betroffen sind. Denn in derart isolierter Betrachtungsweise bleibt es dem Adressaten der Erscheinenspflicht selbst überlassen, wann er ihr nachkommt, er kann die Pflicht in den selbstgesteckten Bewegungsradius ohne wesentliche ‚Netto-Freiheitseinbußen‘ integrieren. Allerdings dürfte diese isolierte Betrachtungsweise nicht den Standardfall der Erscheinenspflicht abbilden, die schon aus Praktikabilitätserwägungen typischerweise mit einer terminlichen Bindung des Adressaten an einen Erfüllungszeitpunkt einhergehen dürfte.123 In diesem Fall wird der Freiheitsradius des Adressaten zumindest für diesen Zeitpunkt begrenzt, sodass er nicht mehr nur seiner Handlungspflicht nachkommen muss, sondern zugleich in seinem Grundrecht eingeschränkt ist, seine Freiheitssphäre um diesen Zeitpunkt herum (wie jeder andere auch) ohne staatliches Dazwischentreten selbst zu gestalten. Zumindest die damit verbundene Einbuße an   E 22, 21 (26) – Vorladung Verkehrsunterricht [1967]; auch BVerwGE 6, 354 (355).   Vgl. etwa Starck (Fn.  43), Art.  2 Rn.  196; auch Kunig (Fn.  53), Art.  2 Rn.  76 m.w.N.; a.A. etwa Correll (Fn.  113), Art.  2 Abs.  2 Rn.  154, 159. Zurecht differenzierend zwischen Konstellationen ohne und mit terminlicher Bindung (s. sogleich) T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 32.   Aufl. 2016, Rn.  465 f. 123   Vgl. zur Vorladung zum Verkehrsunterricht aus der Praxis VG München, Beschl. v. 8.5.2017 – M 23 S 17.1136, juris, Rz.  5. 121

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Bewegungsfreiheit ist ein Durchgriff auf Freiheitsausübungsvoraussetzungen, der neben die Handlungspflicht selbst tritt.

f)  Rechtsdurchsetzung, insbesondere Zwangsanwendung Verbreitet wird staatliche „Zwangsanwendung“ als Eingriff in die Freiheit der Person angesehen.124 Dieser Aspekt ist unter Berücksichtigung des Rechtsdurchsetzungsrechts näher einzugrenzen; zu beachten ist insbesondere, dass die Vollstreckung von Rechtspflichten in ihrer Rechtfertigung typischerweise unabhängig von der Rechtfertigung der Primärpflicht ist125 und deshalb eine eigene Fallgruppe bildet.126 Welche Formen von zwangsweiser Rechtsdurchsetzung greifen also unabhängig von der Grundrechtsrelevanz der Primärpflicht auf die Ausübungsvoraussetzungen von Handlungsfreiheiten durch? Nicht ersichtlich ist solch ein Durchgriff bei vollstreckungsrechtlichen Maßnahmen, die sich – obgleich dem Zwangsvollstreckungsrecht zuzuordnen – als „zwangsvermeidend“127 darstellen, wie in der Verwaltungsvollstreckung beispielsweise die Ersatzvornahme und die Zwangsgeldandrohung. Anders verhält es sich aber bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs.128 Der körperliche Zugriff auf den Pflichtigen, etwa durch Fesselung, führt zumindest punktuell zum Totalverlust der Bewegungsfreiheit als Voraussetzung grundrechtlicher Freiheitsausübung. Insoweit liegt die wichtige Funktion des Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG im Rechtsdurchsetzungsrecht darin, die Mittel, die dem Staat zur Vollstreckung von (definitiven) rechtlichen Pflichten zur Verfügung stehen, zu begrenzen: Weil unmittelbarer Zwang in die Freiheit der Person129 eingreift, ist er ultima ratio (vgl. §  12 Alt.  1 VwVG), d.h. sind ihm gegenüber die anderen Beugemittel vorrangig.

g)  Fazit zur Eingriffstypologie Eingriffe in den Schutzgehalt als Grundrechtsausübungsvoraussetzung sind die Hauptanwendungsfälle des Abwehrrechts aus Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG. Als solche kommen schwerpunktmäßig staatliche Maßnahmen in Betracht, die eine Person am Verlassen eines Orts oder Raums hindern wollen. Auch die Pflicht, an einem Ort zu   Correll (Fn.  113), Art.  2 Abs.  2 Rn.  157 m.w.N.  Hier gilt ein Trennungsprinzip; näher H.-D. Lemke, in: M. Fehling/B. Kastner/R. Störmer (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 4.  Aufl. 2016, §  6 VwVG Rn.  24 ff.; BVerfG NVwZ 1999, 290 (292). 126   Freilich wird diese Fallgruppe nicht allein durch den Umstand der formellen Zuordnung einer Vorschrift zum Vollstreckungsrecht hinlänglich konturiert. Beispielsweise findet sich mit §  890 Abs.  1 ZPO (Ordnungsgeld und -haft) im Zwangsvollstreckungsrecht der ZPO ein Tatbestand, der, indem er eine Unrechtsfolge setzt, in der Sache eine ausgeprägt strafrechtliche Tendenz aufweist (vgl. BVerfGE 20, 323 [332 ff.] – Nulla poena sine culpa [1966]). 127   So schon treffend A. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht (1927), ND Wien 1999, S.  285. 128   Schulze-Fielitz (Fn.  9 ), Art.  2 II Rn.  102; Jarass (Fn.  83), Art.  2 Rn.  114. 129   In bestimmten Fällen der Zwangsausübung erscheint insoweit das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG) gegenüber der Freiheit der Person spezieller, insb. beim polizeilichen Waffengebrauch gegen Personen, etwa nach §  10 UZwG. 124

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erscheinen, dürfte meist an Art.  2 Abs.  2 S.  2 zu messen sein. Hingegen sind Maßnahmen, die das Aufsuchen oder Betreten eines Orts unterbinden oder den Adressaten zum Verlassen eines Orts bewegen sollen, typischerweise keine Eingriffe in Art.  2 Abs.  2 S.  2. Einen eigenständigen Bereich mit Relevanz für dieses Grundrecht bildet das Rechtsdurchsetzungsrecht; unmittelbarer Zwang ist ungeachtet aller staatlichen Befugnis zur Rechtsdurchsetzung ein Eingriff in die Freiheit der Person. Leitend für diese Abgrenzung ist nicht der hergebrachte, auf die Habeas-CorpusTra­d ition gegründete Eingriffskanon, sondern die Auslegung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG als Grundrechtsgarantie, die die äußere Bewegungsfreiheit als Ausübungsvoraussetzung der Handlungsfreiheiten schützt. Der Voraussetzungsschutz wird nicht aktiviert, soweit eine staatliche Maßnahme zwar eine bestimmte Freiheitsausübung einschränkt, dabei aber weder auf deren Voraussetzungen noch auf die Voraussetzungen anderer Handlungsfreiheiten durchgreift. Bedeutung erlangt er vor allem in Bezug auf Eingriffe, die der Ausübung solcher Freiheiten zuvorkommen wollen, besonders indem sie den Bewegungsradius einer Person rechtlich oder (auf rechtlicher Grundlage) faktisch verengen.

3.  Ergebnis und Ausblick Die vorstehenden Ausführungen entwerfen ein weiter zu vervollständigendes Bild von den Konsequenzen, die sich ergeben, verfolgt man die verbreitete Vorstellung von der Freiheit der Person als Voraussetzung anderer grundrechtlicher Freiheiten – also als Grundrechtsvoraussetzung – weiter. Gewonnen ist bis hierhin vor allem zweierlei: In dogmatischer Hinsicht tritt ein beträchtlicher Entzerrungseffekt ein. Ohne die Amalgamierung von Schutzbereich und Eingriff, die die Gefahr einer zirkulären Begrenzung des Anwendungsbereichs des Grundrechts birgt, wahren seine Tatbestandselemente bei all ihrer funktionalen Abhängigkeit zumindest inhaltlich eine relative Unabhängigkeit voneinander, wie sie auch für andere Grundrechte prägend ist. Dadurch kann Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG differenzierter wissenschaftlicher Bearbeitung zugeführt werden, die nicht latent auf vorgegebene, jedoch ihrerseits nicht hinreichend ausgewiesene Eingriffsparadigmen angewiesen bleibt. Die weitere dogmatische Durchdringung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG erleichtert in rechtspraktischer Hinsicht die Anwendung des Grundrechts. Die vorgeschlagene Deutung hält besonders für Fragen der Grundrechtskonkurrenz neue Argumente bereit. Denn hiernach verhält sich das Schutzgut der Freiheit der Person als Grundrechts­ voraussetzung von Handlungsfreiheiten zu diesen akzessorisch. Wie der dadurch bedingte Ausschluss inhaltlicher Überschneidungen im Wege konkretisierender ­ Auslegung zu leisten ist, sollte die obige Rekonstruktion der hergebrachten Eingriffstypologie vorzeichnen.

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IV.  Zusammenfassung in Thesen 1. Die Standardauslegung von Art.  2 Abs.  2 S.  2 GG beschreibt den Grundrechtstatbestand als Verbot bestimmter Eingriffsformen, insbesondere ‚Festhalten, zwangsweise Vorführung, Fesselung und Einsperrung‘. Wegen der Eingriffslastigkeit dieser Auslegung steht einer bereichsweise sehr klaren Eingriffstypologie ein unscharfes Schutzbereichsverständnis – die Freiheit der Person als ‚körperliche Bewegungsfreiheit‘ – gegenüber. 2. Zur Erhellung des Schutzbereichs trägt die Fokussierung der Interpretation auf die Habeas-Corpus-Tradition wenig bei. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Dominanz dieser Deutung ideengeschichtlich zu rechtfertigen ist. Auch die am Eingriffszweck orientierte Lesart lässt keine verlässlichen Rückschlüsse auf das Schutzgut jenes Grundrechts zu. 3. Rechtspraktisches Symptom der Unbestimmtheit des Schutzbereichs ist eine beträchtliche Rechtsunsicherheit. In sämtlichen Konstellationen, die sich nicht in den Eingriffskanon fügen, fehlt es an überzeugenden Argumenten für bzw. gegen die Betroffenheit von Art.  2 Abs.  2 S.  2 im Einzelfall. 4. Ein Neuansatz zur Auslegung dieses Grundrechts muss sich dem Schutzbereich gesondert zuwenden. Er kann sich auf zwei sehr allgemeine Aussagen stützen: Zum einen ist in Art.  2 Abs.  2 S.  2 kein klassisches Handlungsrecht gewährleistet; zum anderen hängt er aber in Erfüllung einer ‚Fundierungs- und Ermöglichungsfunk­ tion‘ mit den Grundrechten zusammen, die Handlungsfreiheiten garantieren. 5. Der Schutzbereich des Art.  2 Abs.  2 S.  2 kann daher als Grundrechtsvoraussetzung verstanden werden. Die Lehre von den Grundrechtsvoraussetzungen unterscheidet zwischen Wirksamkeits- und Ausübungsvoraussetzungen von Grundrechten. Bei ersteren handelt es sich um Grundrechtsvoraussetzungen in objektivierender, bei letzteren um solche in subjektivierender Betrachtung. 6. Die Deutung der Freiheit der Person als Grundrechtsvoraussetzung führt zu zwei Haupterkenntnissen: Als Grundrechtsausübungsvoraussetzung schützt sie das allgemeine Recht, die Handlungsfreiheiten, d.h. die besondere Art und Weise, auf die ihnen jeder Einzelne je individuell Gestalt verleihen möchte, für andere wahrnehmbar nach außen zu tragen. Als Wirksamkeitsvoraussetzung für Grundrechte schützt sie den Status der gleichen rechtlichen Freiheit des einzelnen Grundrechtsträgers im Verhältnis zu allen anderen. 7. Objekt staatlicher Eingriffe ist vorwiegend der Schutzgehalt als Grundrechtsausübungsvoraussetzung. Dabei stellt sich die Haft als besonders weitgehender Entzug solcher Voraussetzungen dar, weil der Gefangene die ihm gleichwohl zustehenden Grundrechte zeitweise überhaupt nicht mehr frei nach außen tragen kann und darf. 8. Als Eingriffe demgegenüber geringerer Intensität stellen sich Maßnahmen dar, die zwar gleichfalls darauf abzielen, eine Person in ihrer Freiheit zum Verlassen eines Orts einzuschränken, dabei den Radius aber so weit ziehen, dass der Maßnahme­ adressat zumindest nicht umfassend vom sozialen Freiheitsgebrauch ferngehalten wird, wie z.B. bei einer Meldeauflage. Entsprechendes gilt für terminlich festgelegte Erscheinenspflichten.

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9. Im Rechtsdurchsetzungsrecht begrenzt die Freiheit der Person die Mittel, die der Staat zur Erzwingung von (auf der Primärebene gerechtfertigten) Rechtspflichten einsetzen darf. Weil unmittelbarer Zwang einen Eingriff in Art.  2 Abs.  2 S.  2 darstellt, ist er gegenüber Maßnahmen, die dieses Grundrecht nicht berühren, subsidiär. 10. Nicht als Eingriffe in die Freiheit der Person anzusehen sind staatliche Maßnahmen, die einer Person das Betreten eines Orts verbieten oder das Verlassen eines Orts aufgeben. Sie sind an den Grundrechten zu messen, die die jeweils betroffene Handlungsfreiheit schützen. Deren Ausübungsvoraussetzungen garantiert Art.   2 Abs.  2 S.  2 nur insoweit, als kein verfassungsrechtlich gerechtfertigtes Handlungsoder Unterlassungsverbot vorliegt.

Überstaatlichkeit als Kontinuität und Identitätszumutung Eine historisch-dogmatische Grundlegung von

Ferdinand Weber, Göttingen* Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 I. Vermessung des Neuen mit dem Alten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 II. Erster Teil: Einordnung und Erscheinungsformen des Überstaatlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. Analytische Verwandschaft und Differenz der überstaatlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . 242 a) Föderalismusforschung, juristische Föderalismustheorie, Bundeslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 b) Probleme und konzeptionelle Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 c) Gemeinsamkeiten und Abweichungen der überstaatlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Überstaatlichkeit in der deutschen Verfassungsgeschichte und -dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Das Alte Reich als extrakategoriale Grenzlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) Die Wiener Kongressakte als Einrichtung mehrstufiger Überstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 254 c) Staatsrecht, Bundes-Recht und permeables Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 d) Zwischenfazit: Identitätszumutungen offener und verdeckter Überstaatlichkeit . . . . . . . . . . . 263 e) Das Bismarckreich als Kontaktunterbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 f) Die Weimarer Republik als Nichtzugelassene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 g) NS-Staat: Negation konstruktiver und Theorie regressiver Überstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . 273 h) Bundesrepublik: Souveränität durch Überstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 3. Zwischenergebnis: Merkmale überstaatlicher Ordnungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 III. Zweiter Teil: Die Europäische Union als überstaatliche Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Kontinuität von Beschreibungsangeboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Kontinuität von Identitätszumutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3. Kontinuität der Notwendigkeit politischer Verantwortungszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4. Desiderat: Ausgleichsmechanismen bei Dysfunktionalitäten supranationalisierter Identitätspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 5. Zwischenergebnis: Dialektik des Überstaatlichen zwischen Staat und Union . . . . . . . . . . . . . . 293 IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295   Der Autor war wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht am Institut für Völkerrecht und Europarecht der Universität Göttingen und ist derzeit Referendar im Bezirk des OLG Braunschweig. Er dankt Frank Schorkopf und Christoph Schönberger für kritische und hilfreiche Anmerkungen zu früheren Fassungen dieses Textes. *

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Einführung Das auf offene Staatlichkeit ausgerichtete Staats- und Verfassungsverständnis trat nach 1945 als Gegenentwurf einer Perspektive in die Welt, deren Kategorien Macht, Autarkie und Beherrschung waren. Doch, so die These, stimmt das nur für die politische Mentalitätsgeschichte, die regelmäßig in rechtswissenschaftliche Arbeitsprämissen Eingang findet und so durch mangelnde Distanz wissenschaftliche Beschreibungsverluste erzeugt. Die bis 1945 schnell aufeinander folgenden politischen und rechtlichen Umbrüche haben bedeutende Verbindungslinien für Staatsrechtswissenschaft und Herrschaftstheorie verschüttet, die weit zurückreichen. Der Beitrag zeigt mit einer Entfaltung der analytischen Kategorie des Überstaatlichen, dass nicht nur zwischen-, sondern dezidiert überstaatliche Rechtskonstruktionen eine Kontinuitätslinie des organisierten Europas bilden. An diesen verfassungsgeschichtlich und -dogmatisch zu unterfütternden Befund schließt sich die These an, dass die unreflektierte Internalisierung politischer Zielvorstellungen die Analyse überstaatlicher Bindungen im europäischen Integrationsprozess der Gegenwart ähnlich behindert, wie es jene heute klar als von solchen Zielvorstellungen ergriffene Staatsrechtslehre in früheren Herrschaftskontexten tat. Beim Staat als mit seiner Verfassungsdogmatik ernstzunehmendem Ausgangspunkt des Überstaatlichen selbst anzusetzen, seine auf Kooperation ausgelegte Programmierung ernst zu nehmen, ermöglicht der Staatsrechts- und Europarechtswissenschaft dagegen eine Scharfstellung des nicht selten durch überschießende Interdisziplinarität eingetrübten Blicks auf maßstabsbildende Faktoren überstaatlicher Bindung. Insbesondere die Sichtbarmachung und -haltung politischer Verantwortung verdient angesichts des Umfangs und der Praxis supranationalisierter Politikbereiche mehr Beachtung als zentrale Gelingensbedingung stabiler überstaatlicher Bindungen.

I.  Vermessung des Neuen mit dem Alten Kurz nach Inkrafttreten der Römischen Verträge befasste sich Hartwig Bülck auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht mit der „Systematik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften“. Das Referat datiert einige Jahre vor dem Fusionsvertrag, der richterrechtlichen Konstitutionalisierung des Gemeinschaftsrechts und dem Beginn des prätorischen Grundrechtsschutzes. Die EWG erschien dem Speyrer Staatsrechtslehrer1 im Jahr 1959 wie eine natürliche Fortentwicklung des internationalen Rechts. Als zeit- und raumspezifische Erscheinung ordnete er die Gemeinschaften in seit Mitte des 18. Jahrhunderts beginnende Wirtschaftszyklen ein und schloss sie rechtssystematisch an Arbeiten Lorenz von Steins und Robert von Mohls an. Die beiden Juristen unterschieden das „reine Völkerrecht“ vom „internationalen Verwaltungsrecht“: Ersteres meinte die mehr kommentier- als systematisch durchdringbare Machtpolitik und Diplomatie im interdynastischen ius publicum europaeum, letzteres eine systematisierungsfähige zwischenstaatliche Kooperation im wirt1   Für biographische Hintergründe der Europarechtler der „ersten Stunde“ Anna Katharina Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011, 243–248; zu Bülck ist nichts verzeichnet.

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schafts- und fremdenrechtlichen Bereich. Die EWG erschien Bülck über einhundert Jahre später auf dieser Grundlage als „Durchdringung zwischenstaatlicher und zwischenindividueller Rechtsformen“, ein hybrider Musterfall der ohnehin allgemein beobachtbaren wechselseitigen Annäherung des internationalen Privatrechts und des Völkerrechts. Die Rückanknüpfung, mit der bei aller Neuartigkeit des Gebildes eine strukturelle historische Kontinuität markiert werden soll, erleichterte Bülck offenbar den Umgang mit einer hybriden Rechtsgestalt. Da es also „nur“ um eine Fortbildung des internationalen Rechts gehe, riet Bülck, den Terminus „supranationales Recht“ nicht überzubewerten.2 Diese überraschende Relativierung wird in einer langen Fußnote vertieft, in der die Begriffe Supranational, Überstaatlich und Übernational nebeneinander gestellt werden. Demnach sei der Begriff des Supranationalen zwar schillernd, aber nur politisch, nicht rechtlich wertvoll, weil er lediglich den Sinn habe, das Völkerrecht als ein Recht höherer Ordnung zu charakterisieren, als es das Wort „international“ tue.3 Bülck stützt sich hier unter anderem auf eine Arbeit Hugo Krabbes, die ein sich vom egoistischen Staatswillenspositivismus abwendendes Rechtsverständnis einer aus Individuen bestehenden internationalen Gemeinschaft entwickelt, das zur Weltrechtsgemeinschaft mit „supranationalem Recht“ führe.4 Mit dem „ergänzenden Hinweis“ auf die Verwendung der Termini „übernational“ und „überstaatlich“ durch Alfred Verdross5 wird dem heutigen Leser vollends deutlich, dass Bülck sich, abseits vom heutigen Begriffsverständnis, mitten in der Auseinandersetzung zwischen Monisten und Dualisten um die juristische Erfassung der Europäischen Gemeinschaften befand,6 die sich für die deutsche Staatsrechtslehre auch als dreigliedrige Auseinandersetzung begreifen lässt.7 Alle Begriffe werden auf ein neues Rechtsgebilde bezogen, das hier2   Hartwig Bülck, Zur Systematik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften, BDGVR 3 (1959), 66 (108–115). 3   Bülck (Fn.  2 ), 66 (108 Fn.  143). 4   Hugo Krabbe, Die moderne Staats-Idee, 21919 [11915, laut Vorwort vor Kriegsausbruch druckfertig], 278; zu Krabbes Werk ausf. Walter Schiffer, Die Lehre vom Primat des Völkerrechts in der neueren Literatur, 1937, 28–57, insbes. 55 a.E. f.; der Gebrauch des Terminus „supranationales Recht“ ist damit vor 1945 Ausdruck eines monistischen Völkerrechtsverständnisses, in seinen Ausprägungen aber diffus, exemplarisch William Hull, The Primary Sources of International Obligation, Proceedings of the American Society of International Law 5 (1911), 280 (281 f.), der unter „supranational law“ (synonym: „law above nations“) Völkerrecht mit universeller Verbreitung in einer organisch entstehenden internationalen Gemeinschaft fasste, u.a. die Haager Konventionen und Urteile des Ständigen Schiedshofs. 5   Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926, 40: „Aus dem Gesagten folgt, daß das Völkerrecht kein „zwischenstaatliches“, kein „internationales“, sondern ein überstaatliches, ein übernationales Recht ist.“ (Herv. i. Orig., dort mittels Sperrsatz); auch Hans Kelsen sprach 1920 mit Blick auf das Völkerrecht von einer über den Staaten stehenden Rechtsordnung, ohne diese Eigenschaft auf einen Begriff zu bringen, vgl. ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920, 204–206. 6   Ausf. zum Einfluss dieser Auseinandersetzung auf die Verhandlungen um die Römischen Verträge Hauke Delfs, Komplementäre Integration, 2015, 160–169; Heinhard Steiger, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit, 1966, 99–102 zu Stimmen, die noch Mitte der 1960er-Jahre eine indirekte bzw. automatische Transformation von Gemeinschaftsrecht annahmen; vgl. auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band, 2012, 609 f. m. zahlr. Nachw. zu zeitgenössischen Beiträgen. 7   Für den Richtungskampf um Rezeption und dogmatische Einordnung des Rechts von EGKS und EWG m. biographischen Hintergründen und Auswertung von Archivmaterial Bill Davies, Resistance

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durch in einen laufenden Theoriestreit des Völkerrechts hineingezogen wird und dessen Charakter die Monisten durch eine begriffliche Emanzipation vom Koor­ dination markierenden „inter-national“ oder „zwischen-staatlich“ normenhierarchisch aufwerten wollten.8 Im Folgenden wird von diesem Ausschnitt zurückgetreten und am Terminus des Überstaatlichen eine rechtliche Kontinuität herausgearbeitet. Der Begriff der Überstaatlichkeit wird dem Supranationalen als Oberbegriff 9 vorgezogen, weil letzterer trotz seiner politisch motivierten Streichung aus Vertragssprache und -praxis der euro­päischen Integration10 hier seine spezifische zeit- und objektbezogene Festlegung erfahren hat.11 Das Übernationale steht zurück, weil Nationen im deutschen Sprachgebrauch nicht als handelnde Rechtssubjekte, sondern gedachte Gemeinschaften zwar die Entwicklung des Rechts beeinflussen, aber nicht unmittelbar am Rechtsverkehr teilnehmen.12 Für Überstaatlichkeit spricht daneben die Verbreitung des Terminus in der Geschichtswissenschaft, die mit ihm bestimmte Modi der Staatenkooperation umschreibt.13

to European Law and Constitutional Identity in Germany: Herbert Kraus and Solange in its Intellectual Context, ELJ 21 (2015), 434 (441–456), der zwischen „Federal Constitutionalists“ (u.a. Walter Hallstein, Carl-Friedrich Ophüls), Traditionalists (u.a. Hermann Mosler) und Vertretern der „Structural Congruence“ (Herbert Kraus, Hans-Jürgen Schlochauer) differenziert und im neuen Art.  23 Abs.  1 GG die Durchsetzung des letztgenannten Ansatzes verortet. 8   Aus der Zeit Klaus Dieter Schwantes, Die Supranationalität, Diss. Uni Köln 1962, 1: „Es ist wohl nur sehr selten in der Geschichte vorgekommen, daß ein juristischer Ausdruck in so kurzer Zeit ein solches Maß an Popularität erlangt hat, wie dies von dem Begriff ‚Supranationalität‘ gesagt werden kann. Obwohl sich bei näherer Betrachtung ergibt, daß fast jeder, der sich dieses Ausdrucks bedient, streng genommen, etwas anderes darunter versteht […].“, sodann ausf. ebd., 7–12. 9   In der deutschen Fassung des EGKS-Vertrags hieß es in Art.  9 Abs.  6, der Vorschrift über die Hohe Behörde (BGBl. 1952 II, 450): „Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, diesen überstaatlichen Charakter zu achten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Hohen Behörde bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.“; in der frz. und engl. Fassung hieß es „caractère supranational“ bzw. „supranational character“ – heute hat Supranational unstreitig auch im Deutschen einen begrifflichen Selbststand, vgl. zur Übernahme in die deutsche Rechtswissenschaft Hans Peter Ipsen, Über Supranationalität, in: Ehmke u.a. (Hrsg.), FS Scheuner, 1973, 211 (211–213). 10   Art.  9 EGKSV wurde durch Art.  19 des Fusionsvertrags (BGBl. II 1965, 1464) aufgehoben; zur bewusst von der Politik ins Werk gesetzten semantischen Verschiebung Alois Riklin, Die Europäische Gemeinschaft im System der Staatenverbindungen, 1972, 364 f. m. w. Nachw. 11   Matthias Ruffert/Christian Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 22015, Rn.  16: Supranationale Organisationen nicht als eigene Kategorie, sondern „besonders hoch verdichtete Internationale Organisationen“, wobei die Merkmale der Supranationalität bisher nur im Kontext der europäischen Integration nachgewiesen wurden (in Rn.  17 ein Hinweis auf str. supranationale Elemente im WTORecht); eine Rückprojektion des Begriffs nehmen mit einem Fokus auf die Zentralkommission für Rheinschifffahrt Guido Thiemeyer/Isabel Tölle, Supranationalität im 19. Jahrhundert? Die Beispiele der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt und des Octroivertrages 1804–1851, Journal of European Integration History 17 (2011), 177 ff. vor. 12   Vgl. aber mit Blick auf Art.  1 IPbpR und IPwskR nur United Nations, The Right to Self-Determination, Doc. E/CN.4/Sub.2/404/Rev.1, 1981, Ziff.  280: „‚Nations‘ […] are also holders of equal rights and the right of self-determination. Although they are not expressly mentioned in the formulation of this principle in the International Covenants on Human Rights, they are implied, being covered by the term ‚peoples‘.“ 13  Exemplarisch Dieter Langewiesche, Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Versuch einer nationalgeschichtlichen Neubewer-

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Ziel der Untersuchung ist es, Überstaatlichkeit als analytische Kategorie für einen spezifischen normativen Zusammenhang einzuführen. Hierzu gliedern sich die Überlegungen in zwei Teile. Der erste Teil (II.) umfasst eine Definition und eine Einordnung in die Forschungslandschaft (II. 1.), der die verfassungsgeschichtliche und -dogmatische Erschließung überstaatlicher Elemente folgt (II. 2.). Im zweiten Teil wird der neu erschlossene Erfahrungsraum des Überstaatlichen, verstanden als historisch-dogmatisches Reflexionsreservoir, auf die Europäische Union angewandt. Der Blick auf andere Wertungen und die hier entwickelte eigene Einordnung in die Kontinuität des Überstaatlichen knüpft auch an den Diskurs um die Behebung normativer Strukturdefizite der Union an (III.). Die Untersuchung schließt mit einer zusammenfassenden Darstellung des charakteristisch Eigenen des überstaatlichen Blickwinkels im Kontext des europäischen Integrationsprozesses (IV.).

II.  Erster Teil: Einordnung und Erscheinungsformen des Überstaatlichen Unter Überstaatlichkeit wird jene schöpferische Verschränkung zwischen klassischem Völkerrecht und Staatsrecht verstanden, die hybride, diesen zwei Rechtsebenen nicht klar zuordenbare Elemente und Handlungsformen hervorbringt. Es geht um dasjenige, was nicht durch die Grenzen der Einzelstaaten eingehegt, „nicht von den Einzelstaaten absorbiert werden kann, was sich aber auch nicht ohne weiteres in zwischenstaatlichen Beziehungen ausdrücken, durch zwischenstaatliche Abmachungen organisieren lässt.“14 Die normative Innovation des Überstaatlichen ist nicht eine bloße Einzelnorm, sondern ein aus spezifischen Normkomplexen fließender Wirkmechanismus. Überstaatlichkeit kann rechtshistorisch und -dogmatisch aber auch gerade in ihrer betonten Negation in Form einer Gegenbewegung und Verdrängung sichtbar werden. Insoweit besteht die nachfolgend weiter auszuführende Vermutung, dass es dort, wo die Staatsrechtswissenschaft eine kontrollierte Rezeption anmahnt, zugleich um eine Einhegung überstaatlicher Fragmente geht. Dies geschieht für das deutsche Recht, wie zu zeigen sein wird, insbesondere seit der Bundesstaatsgründung. Dadurch wird zugleich deutlich, dass Überstaatlichkeit als außerstaatlicher Handlungsmodus vorkonstitutionellen Ursprungs ist, aber erst mit der Konstitutionalisierung im 19. Jahrhundert sichtbare normative Konturen annahm. Mit der Rechtsbezogenheit wird zugleich eine disziplinäre Grenze zur Geschichtswissenschaft gezogen, deren überstaatliche Perspektive weiter und pragmatischer ist. Sie bezieht als außerrechtliche Beobachterin schon das politisch-diplomatische Zusammenwirken in organisierten Foren und Institutionen im weiteren Sinn ein und setzt konstitutionalisierte rechtliche Mechanismen nicht zwingend für eine Klassifizietung in welthistorischer Perspektive, in: Schindling/Taddey (Hrsg.), 1806 – Souveränität für Baden und Württemberg, Beginn der Modernisierung?, 2007, 27 (51). 14   Werner Näf, Das Überstaatliche in der Geschichte, 1954, 3; der Autor legt in seiner nachfolgenden Konkretisierung allerdings ein mehr transzendent-metaphysisches Verständnis zu Grunde, wenn er dessen Elemente mit der „Verbindlichkeit des Rechts“, aber auch der „Stimme des Gewissens, die Gut und Böse scheidet“, der ethischen Verpflichtung, Kunst und Wissenschaft etc. bezeichnet, vgl. ebd., 16.

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rung als „überstaatlich“ voraus.15 Für die Geschichtswissenschaft ist „Überstaatlichkeit“ damit mehr eine Beschreibung des Ortes der Kooperation, für die Rechtswissenschaft eine spezifische Setzung oder Nichtsetzung von Rechtswirkungen für von außerhalb des Staates stammenden Rechtsakten.16 Der Definitionsansatz ist mit Blick auf methodisch nicht fernstehende Ansätze, insbesondere die interdisziplinäre Föderalismusforschung und die innerhalb der Rechtswissenschaft entwickelte juristische Föderalismustheorie sowie die Bundeslehre hinsichtlich ihres eigenen Beschreibungsgehalts zu konturieren und zu erhärten, indem Gemeinsamkeiten und Abweichungen offengelegt werden.

1.  Analytische Verwandschaft und Differenz der überstaatlichen Perspektive Verbundkonstruktionen und -interaktionen bedeuten zuerst Komplexitätszunahme. Für die rechtswissenschaftliche Forschung tut sich hier eine Weggabelung auf, die – exemplarisch für das Unionsrecht, insbesondere in seiner Verschränkung mit dem Staatsrecht der Mitgliedstaaten und dem Konventionsrecht des Europarats – entweder zu einer Anhebung der Abstraktionshöhe (die für fehlenden Praxisbezug respektive dogmatische Distanz kritisiert wird) oder zu weiterer Spezialisierung drängt (die für das Fehlen übergreifenden Erkenntnisgewinns wissenschaftlich ebenso beklagt wird).17 Die Problematik dieses Spagats ist ein Anliegen der interdisziplinären Föderalismusforschung und der juristischen Föderalismustheorie und Bundeslehre.

a)  Föderalismusforschung, juristische Föderalismustheorie, Bundeslehre Die frühe Erkenntnis, dass sich die Europäischen Gemeinschaften den herkömmlichen Analyserastern der Staats- und Völkerrechtswissenschaft schwerlich zuordnen lassen,18 führte zur Suche nach neuen Erklärungsmodellen, die aufgrund mehr oder weniger mitkommunizierter Vorverständnisse regelmäßig nicht nur ein deskriptiv-wissenschaftliches Beschreibungsmodell bereitstellen, sondern normative Implikationen mittransportieren.19 Nicht nur der deutschen Staatsrechtswissenschaft wird hierbei, insbesondere seit dem Änderungsvertrag von Maastricht, eine zu enge An  Exemplarisch nur Theodor Schieder, Idee und Gestalt des übernationalen Staates seit dem 19. Jahrhundert, in: ders., Nationalismus und Nationalstaat, (hrsgg. v. Dann/Wehler), 1991, 38 (39 ff.). 16   Für die Politikwissenschaft das weite Verständnis bei Thiemeyer/Tölle (Fn.  11), 177 (178): „Supranational sind in diesem Sinne alle Organisationen, die über den Nationalstaaten stehende Strukturen entwickeln.“ 17   Andreas Voßkuhle, Europa als Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion – eine thematische Annäherung in 12 Thesen, in: Claudio Franzius u.a. (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, 2010, 37 (37): „Entweder weiß man immer mehr über immer weniger oder immer weniger über immer mehr.“ 18  Exemplarisch Riklin (Fn.10), 357, der anmerkt, dass „die herkömmliche Lehre der Staatenverbindungen aufgrund des neuen Sachverhalts der Europäischen Gemeinschaft ergänzt werden muss.“ 19   Übersicht über ältere Begriffsbildungen bei Riklin (Fn.  10), 358 f., zu neueren, speziell der deutschen Rechtswissenschaft Ferdinand Weber, Formen Europas, Rechtsdeutung, Sinnfrage und Narrativ im Rechtsdiskurs um die Gestalt der Europäischen Union, Der Staat 55 (2016), 151 (156–177). 15

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lehnung an die Staatenbund-Bundesstaat-Dichotomie und eine zu große Staatszentriertheit im analytischen Blick attestiert.20 Diese Verengung möchte die allgemeine interdisziplinäre Föderalismusforschung lockern, die juristische Föderalismustheorie und Bundeslehre für die Rechtswissenschaft überwinden. Die Föderalismusforschung erkennt bereits in den Federalist-Artikeln nicht nur eine politiktheoretische Abhandlung, sondern „eine zentrale diskursive Intervention zur Diskreditierung des Konföderalen“ zugunsten eines engen Bundesstaatsbegriffs, der „die immense Varianz dessen, was als föderal verstanden werden kann“ zudeckt und Denkkategorien anderer „Bundesarrangements“ samt ihres beträchtlichen theoretischen Potenzials analytisch von vornherein ausscheidet.21 Auch wenn Verlauf und Stand gerade der amerikanischen Verfassungsdiskussion derart eindeutige Wirkungen von sich weisen,22 soll jedenfalls mit Hilfe eines empirisch informierten Blickwinkels auf großräumige politische Dynamiken die Erkenntnis, dass das Föderale nicht notwendig staatlich verfasst sein muss, neu gehoben und abgesichert werden.23 Die Auffächerungen sind derart ausgeprägt, dass von einem einheitlichen Ansatz nicht gesprochen werden kann. Das betrifft insbesondere die Frage nach dem Grad politischer Einheitsbildung. So geht es manchen auf dieser Grundlage um den Vorteil einer „nicht-reduktionistischen Wahrnehmung multipler Ebenen und sich überlagernder Zuständigkeiten in komplexen Systemen, die dennoch den Anspruch auf politische Einheit erheben“ – allerdings im spezifischen Sinn einer „begrifflichen Grundlagenforschung“ zu einer „Theorie des überstaatlichen föderalen Konstitutionalismus“, der nicht verbundene Kollektivsubjekte beschreibt, sondern nach poststaatlicher verfassunggebender Gewalt in individualistischer Lesart fragt.24 Diese politikwissenschaftliche Verknüpfung mit dem Konstitutionalisierungsdiskurs wird im Folgenden zugunsten eines Blicks auf die rechtswissenschaftlichen Ausarbeitungen – an die der interdisziplinäre Diskurs ersichtlich anknüpft – nicht weiterverfolgt. Die juristische Föderalismustheorie und die Bundeslehre deuten bereits in ihrer Abgrenzungssemantik auf eine bis dahin festgefahrene Kategorisierungsleistung innerhalb der Staats- und Europarechtswissenschaft hin.25 Das positive Anliegen ist  Für die allgemeine Föderalismusforschung Murray Forsyth, Unions of States, The Theory and Practice of Confederation, 1981, 4; für die französische Rechtswissenschaft Olivier Beaud, Plädoyer für eine Föderationstheorie, in: Masing/Jouanjan (Hrsg.), Terrorismusbekämpfung, Menschenrechte und Föderation, 2008, 115 (133); für die deutsche Rechtswissenschaft Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), 81 (88–94); angesichts dessen übertrieben Oeter, Die föderale Gestalt der Europäischen Union – Vergleichende Überlegungen im Blick auf das Kaiserreich und die Donaumonarchie, in: Ambrosius u.a. (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive Bd.  2 , 2015, 299 (318), der meint, die „Staatszentriertheit deutschen Verfassungsdenkens“ könne man auch als „ausgeprägten ‚methodologischen Nationalismus‘“ beschreiben. 21   Eva Marlene Hausteiner, Föderalismus als internationale politische Theorie, in: dies. (Hrsg.), Föderalismen, 2016, 11 (14–18), Zitate von dort. 22   Dazu plastisch, Äußerungen James Madisons im Kontext des Nullifikationsstreits zitierend, Juri Auderset, Transatlantischer Föderalismus, 2016, 2–4. 23   Hausteiner (Fn.  21), 11 (15, 18). 24   So der Ansatz von Peter Niesen, Der Pouvoir Constituant Mixte als Theorie der Föderation, in: Hausteiner (Fn.  21), 209 (211 f., 219 f., 230 f.). 25  Exemplarisch Schönberger (Fn.  20) 81 (92): „Beim Staatenbundbegriff der klassischen Lehre fehlt vielmehr jeglicher Realitätsbezug.“; ders., Föderale Bürgerschaft, Was kann man für die europäische Bürgerschaft aus der föderalen Verfassungsgeschichte lernen?, in: Thomas Bruha (Hrsg.), Europäischer 20

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jenseits der begrifflichen Negation der binären Kategoriefestlegung auf ein theoretisches Gerüst zur Erfassung bündischer Formen gerichtet, das verfassungs­h istorischempirisch informiert ist.26 Hierarchisch-staatsbezogene Kategorien (Souveränität) verfehlen dann nicht nur die Charakteristika des Typus Föderation oder Bund. Sie sind schon keine adäquaten Beschreibungsmittel ihrer normativen Struktur.27 Es geht um die Entwicklung eines allgemeinen Verfassungsrechts föderaler Ordnungen.28 Insbesondere die Erfassung der Struktur der Europäischen Union als bündisches Gebilde eigener Art vermeidet den deformierten Blick, gemeint ist das Hereinzwängen derselben in die Kategorien Staaten(ver)bund oder Bundesstaat, und betont stattdessen die Prozessdimension des Mehrebenenverbundes29 im Sinne eines „dauerhaften Zwischen“30. Blickt man allerdings hinter die Arbeiten Carl Schmitts und Ernst Rudolf Hubers31 auf die wissenschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts – der offenen Diskussion zu Beginn des Norddeutschen Bundes32, vor allem aber auf vorbundesstaatliche, sich Föderalismus im Lichte der Verfassungsgeschichte, 2011, 193 (198): Weder dogmatisch verhüllte Hinwendung zu „unkritisch-europhiler Europarechtswissenschaft“ noch zu „introvertiert-etatistischer Staatsrechtswissenschaft“, sondern „Sichtbarmachung auch rechtlich verantworteter primärer politischer Gestaltungsverantwortung“; Oeter, Europäischer Föderalismus-Streit: Eine Unionsverfassung jenseits von Bundesstaat und Staatenbund?, in: Christian Joerges u.a. (Hrsg.), „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit“ und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas, 2008, 185: Staatenverbund als „klar in den Kategorien eines traditionellen ‚Etatismus‘ gedacht“ (185), es bedürfe eines „intellektuellen Befreiungsschlages“ gegenüber den „intellektuellen Verkrampfungen“ (194) der „klassisch etatistischer Staatslehre“ folgenden „Denkverboten“ (195); versöhnlicher offenbar ders., Bundesstaat, Föderation, Staatenverbund – Trennlinien und Gemeinsamkeiten föderaler Systeme, ZaöRV 75 (2015), 733 (735 f.); Beaud, Föderalismus und Souveränität, Bausteine zu einer verfassungsrechtlichen Lehre der Föderation, Der Staat 35 (1996), 45 (49): Föderation als „Verneinung der Unterscheidung zwischen Staatenbund und Bundesstaat“; ders., Plädoyer (Fn.  20), 115 (116 f.) bezeichnet seine Föderationstheorie als Reaktion auf juristische Lehren, die beim Verstehen der Architektur Europas keine befriedigenden Antworten bereithielten. 26   Thomas Bruha/Emilia Breuss, Europäische Integration als föderaler Prozess: Grundfragen und kleinstaatliche Herausforderungen, in: Bruha (Fn.  25), 27 (43 f.); Beaud, Föderalismus und Souveränität (Fn.  25), 45 (49). 27  Treffend Beaud, Föderalismus und Souveränität (Fn.  25), 45 (56): „Wenn der Bund und die Mitgliedstaaten eine spezifische politische Existenz haben, so ist die Souveränität im Bund anwesend. […] Aber in bezug auf die Beziehung zwischen Bund und Mitgliedstaaten ist die Souveränität abwesend.“ 28   Schönberger (Fn.  20) 81 (84 f.). 29  Vgl. Oeter, „Föderation“ oder „Bund“ als Oberbegriff: Erscheinungsformen des Föderalen jenseits von Bundesstaat und Staatenbund, in: Hausteiner (Fn.  21), 235 (236 f.) und ebd., 255 a.E. f.: „Theorie des europäischen Föderalismus“ als „vergleichende Analyse im Sinne der Verfassungsvergleichung, aber auch als historisch vergleichende Analyse im Blick auf die vielfältigen Formen „bündischer“ Gemeinwesen föderaler Prägung.“ 30   Für diese Formulierung insbesondere Schönberger (Fn.  20), 81 (87): „Theorie des Prekären, des Schwebenden, der Zwischenlage“ und ebd.: „Die Theorie des Bundes ist deswegen die Theorie des dauerhaften Zwischen. Es handelt sich um ein Zwischen voller Labilität und Dynamik.“; ebd., 98: „Die Theorie des Bundes erlaubt vielmehr die Herausbildung anderer, adäquaterer Kategorien zur Erfassung föderaler Zusammenschlüsse von Staaten jenseits der untauglichen Staatenbund-Bundesstaat-Unterscheidung.“ 31   Schmitts Lehre vom Bund (ders., Verfassungslehre, 31957, 361–391) und Hubers Anknüpfung an dieselbe mit Blick auf den Deutschen Bund (ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Bd.  I, Nachdr. 1961, 658–670) sind wiederkehrende Anknüpfungspunkte, vgl. z.B. Beaud, Plädoyer (Fn.  25), 115 (124 f.); Schönberger (Fn.  20), 81 (99 f. und öfter). 32   Heiko Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867–1933), 2002, 118–120; Stefan Oeter,

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vom Pütterschen Modell des zusammengesetzten Staates langsam lösenden Diskus­ sionsstränge33 – erscheint der Vorstoß der Bundeslehre mehr als systematische Wiederanknüpfung an ein verlorenes Komplexitätsniveau denn als notwendiger Befreiungsschlag von einer versteinerten Staatsrechtswissenschaft. Die Hinwendung der älteren Staatsrechtslehre zur Bundesstaat-Staatenbund-Dichotomie markierte aus dem Blickwinkel der Komplexitätsreduktion und -ordnung erst einmal keine Retardierung, sondern ein Streben nach Formenklarheit. Die Verabschiedung älterer, sich diffus haltender Modelle lieferte einen wissenschaftlichen Beschreibungsgewinn und war offenbar (auch) eine wissenschaftssoziologische Generationenfrage.34 Dies lässt sich am deutlichsten in der Biographie35 und den Äußerungen Johann Ludwig Klübers nachweisen.36 Eine natürlich nicht zwingend dualistische Formenklarheit generiert Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäsischen Union, ZaöRV 55 (1995), 659 (664–670). 33   Johann Ludwig Klüber, Staatsrecht des Rheinbundes, 1808: Der Rheinbund sei wegen der Souveränität der Glieder kein abhängiger oder halbsouveräner („états mi-souverains“) Staat (5 m. Anm. b), sondern ein „System vereinigter Staaten, Staatenbündnis, System civitatum foederatum seu achaicarum“ (96 m. Annm. b), wohingegen das Alte Reich eine „zusammengesetzte, sehr eingeschränkte Wahlmonarchie“ gewesen sei (27) – der Abschnitt ab Seite 95 läuft dennoch unter dem Abschnitt „Bundesstaatsrecht“; Klüber wiederholt hier mit Sieg fried Brie, Der Bundesstaat, 1874, 34 Fn.  6 noch die Lehrmodelle der alten Pütterschen Schule ( Johann Stephan Pütter, Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte, 1777, 20–31), ohne sich mit klassifikatorischen Unterschieden zu befassen. 34   Paul Achatius Pfizer, Ueber die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes, 1835, 40, spricht mit Blick auf die „vorhandene Vielheit“ bis 1815 von der Notwendigkeit einer Revision des gesamten deutschen Staats- und Verfassungsrechts und unterscheidet im Anschluss zwischen einem „Völkerbündnis“ (synonym „Staatenbündnis“) als loser Verbindung mit unbedingter Austrittsmöglichkeit sowie dem Begriffspaar Staatenbund und Bundesstaat (41–43); ebenso ist zu berücksichtigen, inwiefern Formfestlegungen politische Positionierungen – die in jener Zeit stets mitschwangen und erhebliche persönliche Konsequenzen haben konnten (Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  2 , 1992, 104; Reinhart Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Brunner u.a. [Hrsg.], Geschichtliche Grundbegriffe Bd.  1, 2004, 582 [649–651]) – bedeuteten, vgl. z.B. die Beschreibung des „stets zerrütteten“ Zustands zwischen Bundesstaat und Staatenbund, die allein monarchische Herrschaft einen und zusammenhalten könne bei Friedrich Schleiermacher, Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen [1814], in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Dritte Abtheilung. Zur Philosophie, Zweiter Band, 1838, 246 (276 f.). 35   Hier nur August Ritter von Eisenhart, „Klüber, Johann Ludwig“ in: Allgemeine Deutsche Biographie 16 (1882), S.  235–247 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/gnd118930583. html#adbcontent: „Die Zeit der staatsrechtlichen Ausbildung Klüber’s gehört der Periode des Reichsrechtes an, das er noch aus eigener Anschauung kannte, und mit dessen Litteratur er durch Fortsetzung des Pütter’schen Litteraturwerkes gründlich vertraut wurde; die folgenden Rheinbundstage durchlebte er als gereifter Mann; das neue Bundesrecht aber entstand gewissermaßen unter seinen Augen.“ 36   Einerseits nennt Klüber, Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation mit eigenhändigen Anmerkungen von Johann Ludwig Klüber aus dessen Papieren mitgetheilt und erläutert von Carl Welcker, 21845, 35 als Synonyme für Bundesstaat den zusammengesetzten Staat, Staatenstaat und Oberstaat gegenüber dem Staatenbund; später heißt es aber, man müsse eine Form wählen und diese „ganz und rein und consequent durchführen“ (43) und schließlich: „Nichts ist seichter und praktisch verderblicher als die Halbheit, als die Schwäche mancher Staatsmänner und Theoretiker, die sich damit trösten, daß man Mischungen zwischen Staatenbund und Bundesstaat, zwischen staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Natur rechtfertigen könne.“ (43) mit der Anschlussfrage: „Könnten wohl vollends nach solcher Theorie geformte Bundeseinrichtungen ihr widernatürlich zusammengesetztes Dasein dauernd behaupten?“ (44); früh bereits der (auch rechtswissenschaftlich ausgebildete) Philosoph Jakob Friedrich Fries, Von deutschem Bund und deutscher Staatsverfassung, Allgemeine staatsrechtliche Ansichten, 1816, 165: „Für diese kräftige Einigkeit Deutschlands wünschen wir also nicht nur einen

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eine nicht zu unterschätzende Ermöglichungsfunktion präziser wissenschaftlicher Beschreibung, inklusive der Zuordnung unterschiedlicher Rechtsfolgen, mit denen das öffentliche Recht arbeiten muss und an denen sich Politik orientiert.37 Das deutsche Beschreibungsangebot Staatenbund-Bundesstaat erwies sich als erfolgreich genug, um bereits 1830 wörtlich Eingang in französische Lexika zu finden38 und stellt sich bei näherem Hinsehen auch konzeptionell als Produkt einer grenzüberschreitend kommunizierenden Rechtswissenschaft heraus.39 Dass die dualistischen Idealtypen nicht immer zur Realität passen, dachten Interpreten, die der neuen Unterscheidung wissenschaftlich gleichwohl folgten, durchaus mit.40 Auch Teilen der Kritik geht es

schlaffen Staatenbund, sondern einen fest vereinigten Bundesstaat, jedoch so, daß unsre Verfassung mit getrennten Provinzalstaaten beybehalten werde.“, sodann mit präzisen Gedanken zur Kompetenzverteilung (168–171). 37  Deshalb mag die Anmerkung, die klassischen Kategorien des Staats- und Völkerrechts seien „kaum geeignet, die spezifische Struktur des [Deutschen] Zollvereins zu beschreiben“ (Marko Kreutzmann, Föderalismus und zwischenstaatliche Integration im Deutschen Zollverein (1834–1867), in: Ambrosius u.a. [Fn.  20], 13 [14]) theoretisch richtig sein; sie ist nur mit Blick auf andere Gebilde nichts Neues, so dass aus operativer (scil. politischer, herrschaftstheoretischer) Sicht eine Zuordnung vorzugswürdig ist (so im klassischen Schema Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.  II, 31988, 303–305: „Zoll-Bundesstaat oder Zoll-Staatenbund?“). 38  Hierzu Auderset (Fn.  22), 103. 39  Aufschlussreich Auderset (Fn.  22), 107 f., 113 ff. sowie 369–373 zu Verbindungen Robert von Mohls und Karl Joseph Anton Mittermaiers zur französischen und amerikanischen Rechtswissenschaft, insbes. aber 117–125, wonach die „Reduktion“ auf Staatenbund und Bundesstaat auf die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Verfassungsrecht zurückzuführen ist und die Konzentration auf den Bundesstaat als Modellantipoden des monarchischen Staatenbundes, d.h. des Deutschen Bundes, demokratiepolitisch motiviert war. 40   Mit Blick auf die Wirklichkeit politischer Formen Brockhaus, Bd.  2 , 71827, 299 (Bundesstaat): „Aber die Abstufungen zwischen den beiden Formen des Bundesstaates und Staatenbundes, welche in vollkommener Reinheit kaum vorkommen können, sind von der größten Mannigfaltigkeit.“ und gleichwohl mit der Mühe um begriffliche Präzision Brockhaus, Bd.  4, 71827, 167 (Föderativsystem): „Föderativsystem, Staatenbund, und Föderativstaat, Bundesstaat, sind verschiedene, oft nicht scharf genug getrennte Begriffe.“; zum Deutschen Bund Heinrich Albert Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Dritte Abtheilung, 1845, 210 m. Anm.  1: „Die bekannten theoretischen Gegensätze von Bundesstaat u. Staatenbund können zwar auch zur Erläuterung der rechtlichen Natur des deutschen Bundes gebraucht werden. Nur muss man sich davor hüten, die aus solchen Schulbegriffen gezogenen Consequenzen an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen und das aus dem Bedürfnis hervorgegangene, stets in seiner eigenthümlichen Gestaltung aufzufassende, Bundesverhältnis in der Form eines solchen Schulbegriffs hineinzuzwängen.“; ebenso Pfizer (Fn.  34), 63 (weder Staatenbund noch Bundesstaat), 162 (dazwischen schwankend); für die Phase verdichteter Zusammenarbeit vor dem Ersten Weltkrieg sah Franz von Liszt, Das Wesen des völkerrechtlichen Staatenverbundes und der internationale Prisenhof, in: Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Otto Gierke zum Doktor-Jubiläum 21. August 1910, Dritter Band, 1910, 19, dass sich neue völkerrechtliche Kooperationsformen kaum unter die „begrifflichen Schablonen“ Bundesstaat und Staatenbund zwingen lassen (27 f.), die Deduktionen aus gegebenen Begriffen helfe nicht, sondern könne sogar „schaden, indem sie uns den freien Ausblick trübt“ (29 f.) und diagnostiziert auf Grundlage von Kompetenzen der Fluss- und Sanitätskommissionen sowie dem geplanten Abkommen über den internationalen Prisenhof eine „Verschiebung der Grundlagen des Völkerrechts“ (das nie in Kraft getretene Haager Abkommen über den Internationalen Prisenhof von 1907 sah u.a. eine Individualbeschwerdemöglichkeit als Appellationsinstanz gegen Entscheidungen nationaler Prisenhöfe vor, vgl. Anne Peters, Jenseits der Menschenrechte, Die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht, 2014, 20).

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insofern nicht um eine Eliminierung etablierter Denkkategorien, sondern eine Beseitigung durch sie erzeugter analytischer Verengungen.41 Insofern stellt sich die neuere Föderalismustheorie und Bundeslehre erstens als berechtigte und notwendige Erinnerung der Staatsrechts- und Europarechtswissenschaft über das Potenzial geordneter Kategoerieerweiterungen jenseits des überkommenen Dualismus heraus. Zweitens versucht sich der Ansatz als ein solcher Ordnungsversuch des vielfältigen „Dazwischen“. Dies ist allerdings nicht ohne kritische Nachfragen geblieben.

b)  Probleme und konzeptionelle Anfragen Die auf transnationalen Verfassungs(geschichts)vergleich gründende Suche nach einer allgemeinen föderalen Verfassungstheorie begegnet durch das Zusammenziehen verschiedener Vergleichsobjekte vor eine theoretische Klammer ungelösten Vorfragen. Dazu zählt die Frage, inwiefern ein föderaler Vergleich distinkter Rechtssysteme überhaupt erkenntnisstiftend sein kann – jenseits soziologischer Notizen.42 Die Frage, inwiefern die Vergleiche „universell“ handhabbare Theorieelemente ergeben oder für die Europäische Union über eine Betonung ihrer Zwischenlage hinausgehende Einsichten stiften, ist bis heute unbeantwortet geblieben und muss es womöglich auch, um nicht doch zu einer mittransportierten Normativität zu gelangen. Letzteres ist ein zentrales Problem jeder Theoriebildung und wird auf Umwegen auch hier virulent. So setzt sich die juristische Föderalismustheorie ausdrücklich vom Staatenbund-Bundesstaat-Schema ab und verneint die Operationalisierbarkeit des Souveränitätsbegriffs.43 Der Bundeslehre soll es nicht um (normative) Bewertung, sondern um (deskriptive) Erkenntnisse aus föderalen Kontexten gehen.44 Doch kommt nicht nur die Festlegung mit ihren Negationsentscheidungen als Beitrag im 41   Das wird u.a. deutlich beim Ansatz von Murray Forsyth, The Political Theory of Federalism, The Relevance of Classical Approaches, in: Hesse/Wright (Eds.), Federalizing Europe?, 1996, 25 (32): „The distinction between confederation and federation was invented in the nineteenth century to try to discriminate precisely between strong and weak forms of union, and is still used widely today. Unfortunately this distinction, which began as a useful instrument, has tended to become frozen into a rigid antithesis, and it is widely assumed that with the help of a few simple criteria all federal systems can be popped into two separate pigeon-holes.“ 42   So begegnet Beaud, Plädoyer (Fn.  25), 115 (134) dem Fehlen einer „Metatheorie“, die die beiden Welten des common law und des kontinentaleuropäischen Rechts in einem analytischen Rahmen zusammenführen könnte – vor dem Hintergrund, dass die Beziehung zwischen Recht und Macht in beiden grundsätzlich anders konzipiert werde – mit dem Hinweis, dass es sich bei seiner Föderationstheorie um einen Entwurf „aus der Sicht eines französischen Juristen“ handele (Hervorhebung weggelassen); zum Fehler der Gleichsetzung diverser Föderalismusbegriffe verschiedener Sprachen aufgrund abweichender Vorverständnisse Auderset (Fn.  22), 50–52. 43   Beaud, Plädoyer (Fn.  25), 115 (118, 126); Schönberger (Fn.  20), 81 (105 f.); Oeter (Fn.  29), 235 (236). 44   Schönberger, Bundeslehre und Europäische Union, in: Claudio Franzius u.a (Fn.  17), 87 (94 f.); so offenbar auch die Kritik bei Ingolf Pernice, Verfassungsverbund, in: ebd., 102 (116 f.): Die Theorie des Bundes „beschreibe“ nur eine politische Ordnung, keine verfassungsrechtlichen Folgen. – das ist jedoch beabsichtigt, will doch die Theorie des Bundes gerade die „deutschen Sonderperspektiven“, die mit Formeln wie Staaten- oder Verfassungsverbund einhergehen, vermeiden (Schönberger [Fn.  20], 81 [118]).

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wissenschaftlichen Diskurs selbst mit normativem Subtext daher.45 Mehr noch: Wenn es richtig ist, dass die begriffliche Verengung auf die Staatenbund-Bundesstaat-Dichotomie den Blick auf die Prozessdimension von Mehrebenenverbünden deformiert, weil sie eine bestimmte polare Finalität unterlegt,46 mit anderen Worten, wenn an einer Entscheidung für einen (vermeintlichen) Deskriptionstypus ein normativer Deutungsimpetus haftet, fragt sich, inwiefern für die juristische Föderalismustheorie und Bundeslehre etwas anderes gelten kann und sie allein die Eigenschaft einer neutrum descriptio erlangt, weil ein politisch offener Schwebezustand angenommen wird. Dies zeigt sich insbesondere an der oft wiederholten Aussage, eine der Schlussfolgerungen sei die Akzeptanz der (andernorts aufgrund der dichotomischen Festlegungen vermeintlich nicht akzeptierten) politischen Entwicklungsoffenheit des föderalen Projekts Europäische Union.47 Hier ist erstens fraglich, ob dies einen Beschreibungsgewinn bedeutet, kann doch eine solche Theorie des dauerhaften Zwischen keine Antwort auf die Frage geben, wie es um die dauerhafte Funktionsfähigkeit der föderalen Ordnung bestellt ist.48 Die Betonung demokratischer Kontingenz zieht, auch mit ihrem Verzicht auf das orientierungsstiftende Staatenbund-Bundesstat-Schema, eine Konturenlosigkeit mit sich, die durch ihren weiten Bund- oder Föderationsbegriff sogar die Herleitung eines föderalen Normaltypus ausschließen könnte.49 Womöglich übersieht der auf Carl Schmitt zurückgreifende Ansatz auch, dass dieser die Frage der Letztentscheidungskompetenz gerade deshalb offenlassen konnte, weil er seiner Bundeslehre für die beteiligten staatlichen Ordnungen gerade ein gesellschaftlich-substanzielles Homogenitätsgebot zugrunde legte und in die bündische Organisation hinein spiegelte.50 Diese Annahme bildet heute aber keine zugrunde gelegte Entwurfsprämisse mehr. Zweitens ist ein „choosing sides“, dessen Vereinbarkeit mit dem theoretischen Entwurf fraglich ist und implizite Folgen für die Balance des Bundes hat, durchaus auszumachen. So werden konträre Selbstzuschreibungen der im Bund (verfassungstheoretisch untauglichen) Souveränität nicht ausgeschlossen, ja dieselben in Form von   Dies bejaht auch Oeter (Fn.  25), 185 (202).  So Oeter (Fn.  29), 235 (237). 47  Wobei eine „Verbundesstaatlichung“ überwiegend für unwahrscheinlich gehalten wird, vgl. Schönberger, Föderale Bürgerschaft (Fn.  25), 193 (205); ders., Bundeslehre (Fn.  4 4), 87 (89); Oeter, Europäischer Föderalismus-Streit (Fn.  25), 185 (200): Vorteil, der offen hält, wie politische Einheitsbildung mit Bewahrung politisch-kultureller Vielfalt zu vereinbaren ist und ders., (Fn.  20), 299 (318): „Der Prozess ist in seiner Zielrichtung offen für politische Entscheidung; der Versuch, ihm eine inhärente Teleologie einzuschreiben, ist immer eine soziale Konstruktion, Zuschreibung von Bedeutung durch Akteursgruppen oder Betrachter.“ 48   Jana Osterkamp, Föderale Schwebelage – Die Habsburgermonarchie als politisches Mehrebenensystem, in: Ambrosius u.a. (Fn.  20), 197 (215); insofern zu Kritik an der Bundeslehre auch die Nachw. bei Weber (Fn.  19), 151 (172). 49   Christoph Möllers, Ein Kommentar zu Olivier Beaud, in: Masing/Jouanjan (Fn.  20), 141 (143–145), der anstelle des Anspruchs, Maßstäbe für die Weiterentwicklung föderaler Gebilde zu liefern, zur Reduzierung auf ein rein verfassungshistorisches Projekt rät (145), wobei fraglich ist, ob dies überhaupt generell beabsichtigt ist. 50  So Osterkamp (Fn.  48), 197 (215); dies bestätigen die Ausführungen in Schmitt (Fn.  31), 377–379 und die Kritik am Völkerbund, dem er aufgrund der fehlenden Homogenität den Untergang voraussagte (Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, 1926, zsf. 80–82); vgl. auch Huber (Fn.  31), 661. 45

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Grundsatzurteilen der beteiligten Höchstgerichte als heutiger Normalfall von innerbündischen Souveränitätszuschreibungen ausgemacht.51 Aber gerade deshalb liefert die Bundeslehre als historisch-vergleichende föderale Verfassungstheorie im Werden kein normatives Argument dafür, dass die bundesverfassungsgerichtliche Vorstellung von konsequenter Stimmwertgleichheit, nur weil sie im Vergleich ungewöhnlich sei,52 aufzugeben wäre, oder warum die Formulierung einer – im strengen Sinn ebenso textfreien wie die richterrechtlichen Kreationen des Europäischen Gerichtshofs in Sachen unmittelbarer Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang – partikularen Verfassungsidentität als „deutscher Sonderweg“ abzulehnen wäre,53 wenn es gerade die Bundeslehre ist, die eine von Diversität und konträren Souveränitätszuschreibungen gekennzeichnete Schwebelage als verfassungstheoretischen Normalzustand preist. Der Umstand, dass ältere Kritik an den Entscheidungen des EuGH der heutigen an der bundesverfassungsgerichtlichen Konstruktion verblüffend ähnlich ist54 und prominente Wirkungseinordnungen55 die Dynamik der Unitarisierung in Richtung 51   Schönberger (Fn.   20), 81 (106–108), insbes.: judikativ-normative Ursprungshypothesen „sind nichts anderes als Souveränitätsformeln“ (108) und ebd., 109: „[…] ja wahrscheinlich ist es sogar ein Indiz für das Fortbestehen eines Bundes, daß Mitgliedstaaten und Bund sich noch mit derartigen unvereinbaren Entweder-Oder-Formeln selbst beschreiben.“ (109); vgl. auch Möllers, Fragmentierung als Demokratieproblem?, in: Claudio Franzius (Fn.  17), 150 (158): „Zur Normalität ungeklärter Grundlagen einer rechtlichen Ordnung gehört eine Abfolge sich widersprechender Geltungsansprüche etwa durch die Gerichte verschiedener hoheitlicher Ebenen, ohne dass man einen Zeitpunkt definieren könnte, von dem man aus eine dieser Entscheidungen als richtig oder falsch bewerten könnte.“ 52   Oeter (Fn.  29), 235 (243 f.); berechtigte Kritik betrifft die Ausflaggung eines Rechtssatzes partikularer Verfassungsdogmatik als universeller Standard, der rechtsvergleichender Absicherung bedürfte (Schönberger, Verfassungsvergleichung heute: Der schwierige Abschied vom ptolemäischen Weltbild, VRÜ 43 [2010], 6 [17]). 53   Schönberger, Identitäterä – Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR N.F. 63 (2015), 41 (55). 54  Exemplarisch Schönberger (Fn.  53), 41 (58): keine Textgrundlage im GG, blendet Integrationsnormen der Verfassung aus, sakralisiert den status quo; spiegelbildlich Andreas Hamann/Helmut Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 31970, 106 f.: „Der Rechtsanwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts beruht auf einem supranationalen Postulat, nicht auf einem Rechtssatz.“ Die These des EuGH sei „frei erfunden. Soweit das lapidare Urteil Ansätze juristischer Beweisführung zeigt, wird aus einer hypostasierten „Gemeinschaftsrechtsordnung“ deduziert, die es in den Vertragsnormen nicht gibt. […] Insgesamt nimmt der Gerichtshof die Regeln einer vollintegrierten bundesstaatlichen Ordnung für die gegenwärtige präföderale Phase des Gemeinschaftsrechts vorweg.“; Theo Öhlinger, Institutionelle Grundlagen der österreichischen Integrationspolitik in rechtlicher Sicht, in: ders. u.a. (Hrsg.), Institutionelle Aspekte der österreichischen Integrationspolitik, 1976, 10 (81): „Wenn es dabei dem Gerichtshof vor allem um die Garantie der gleichmässigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten und damit um die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gemeinschaftsrechts […] geht, so liegt darin sicherlich einiges an „rechtspolitischem Wollen“, etwas von dem, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf “ (– ein Satz, dem im Recht eben mehr Sinn zukommt, als der Spott dieser Formulierung trifft).“ (Nachw. weggelassen); Robert Lecourt verfasste während seiner Zeit als Präsident am Europäischen Gerichtshof einen Gastbeitrag in einer Beilage zu Le Monde vom 24.3.1970 mit dem Titel „Le droit communautaire n’est pas appliqué partout avec la meme diligence“ in dem er der französischen Rechtsprechung empfahl, im nationalen französischen und im Gemeinschaftsinteresse dem deutschen Beispiel zu folgen – gemeint ist die Tendenz in deutscher Rechtsprechung und Literatur, den gemeinschaftsrechtlich postulierten Vorrang zu akzeptieren (vgl. die Stelle bei Heribert Franz Köck, Der Gesamtakt in der deutschen Integrationslehre, 1978, 138 Fn.  17). 55   Koen Lenaerts, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians, University of Chicago Legal Forum 1 (1992), 93 (94 f.) zur Rechtsprechung des EuGH: „[…] rulings that helped turn a public-international-law construction into a truly novel legal order […] containing the essene of a

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Bund betont, lassen partikulare Gegenkonstruktionen dann eher als Ausgleich der Waage des dauerhaften Dazwischen erscheinen als eine problematische Unwucht.56 Die auf Erhaltung und Gewährleistung des demokratischen Prozesses gerichtete Funktion dieser Rechtsprechung lässt sich auch nicht mit der Behauptung auf einen dem Demokratieprinzip vorgehenden (bündischen) Integrationsbefehl überzeugend verfassungsdogmatisch verdrängen.57 Die Einpassung des gesamten Rechtsebenenverbundes in eine bündische Verfassungstheorie, die mit Carl Schmitt eine fundamentale Statusänderung der partikularen Rechtsordnung durch Abschluss des Bundesvertrag als zentrales Deutungsangebot behauptet, ist als verfassungstheoretische Perspektive eine mögliche Gegenposition zum Rezeptionsmechanismus partikularen Verfassungsrechts, wie es die von unionsrichterrechtlicher Seite behauptete Weite der Vorrangansprüche aus Effektivitätsgesichtspunkten ist.58 Beide nicht streng auf den Wortlaut gestützten Deduktionen bilden mithin das prekäre Gleichgewicht in abstracto,59 auf dessen Grundlage Entscheidungen im Einzelfall getroffen werden können. Insgesamt erscheint die bundesverfassungsgerichtliche Verfassungsidentität damit als Bestandteil des prekären Gleichgewichts der Judikativorgane im Bund, für deren normative Kritik die Bundeslehre schon ihrer Anlage nach keine Instrumente bereithalten kann, ohne eine Seite im Schwebezustand zu privilegieren.

federal system. […] judicial moves to safeguard the core of the European integration agenda set out in the Treaties, when the political actions that should have been taken were not pursued, and the legislation that should have been adopted was, in fact, not passed.“ (eig. Herv.). 56   Zur bestätigten Dialogbereitschaft in diesem Kontext nun BVerfG, Beschl. v. 18.7.2017, 2 BvR 859/15, Rn.  58: „Die Pflicht zur vorherigen Vorlage gilt nicht nur im Rahmen der Ultra-vires-Kon­ trolle, sondern auch vor der Feststellung der Unanwendbarkeit einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union in Deutschland wegen einer Berührung der durch Art.  79 Abs.  3 in Verbindung mit Art.  1 und 20 GG geschützten Verfassungsidentität […].“ 57   Zur Betonung dieser Funktion BVerfGE 123, 267 (357 f.) – Lissabon [2009]; E 129, 124 (169–170) – ESF [2011]; E 134, 366 (381) – OMT-Beschluss; Urt. v. 21.6.2016, 2 BvR 2728/13, Rn.  126 – OMT-Urteil; an das Lissabon-Urteil anknüpfend Dieter Grimm, Souveränität, 2009, 110: „Souveränität hat hier die Aufgabe des Demokratieschutzes, an dem auch das Bundesverfassungsgericht als Demokratiegarant partizipiert.“ Frank Schorkopf, Nationale Verfassungsidentität und europäische Solidarität: Die Perspektive des Grundgesetzes, in: Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität, 2013, 99 (109): „Schutz der unverzichtbaren Integrationsleistung eines politischen Primärraumes“; mit Blick auf Art.  20 Abs.  2 GG und Art.  79 Abs.  3 GG Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 424: Schutz der „Bedingung der Möglichkeit demokratischer Selbstbestimmung, die Einrichtung eines Repräsentationsorgans, das nach Kriterien gleicher Freiheit durch die Staatsbürger kreiert wird.“; konsequent zur Verteidigung eines menschenwürdebasierten Rechts auf demokratische Selbstbestimmung auch gegen repräsentativ-institutionalisierte demokratische Mehrheiten Klaus Ferdinand Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2012), 49 (121 Fn.  237). 58   Zu letzteren Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014, 68. 59   Dies wird auch deutlich bei der Gegenüberstellung von Grimm (Fn.  57), 110 f. zum BVerfG: „Mit der judikativen Kompetenz-Kompetenz bleibt die Souveränitätsbehauptung in sich geschlossen und ist nur durch Bestreiten ihrer Prämissen angreif bar.“ und zum EuGH: „Der Gerichtshof versucht diese Hürde aber zu nehmen, indem er durch die Mitgliedstaaten als Vertragspartner hindurchgreift und die Verträge auf die Völker zurückführt, um ihnen so eine von den Staaten unabhängige normative Autorität zu verschaffen. Auch dieses System erscheint nur von seinen Prämissen her angreif bar.“

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c)  Gemeinsamkeiten und Abweichungen der überstaatlichen Perspektive Der überstaatliche Blickwinkel teilt mit der Föderalismusforschung und der juristischen Föderalismustheorie und Bundeslehre im Ansatz eine gewisse Abstraktionshöhe bei gleichzeitiger historischer Rückbindung. Im Gegensatz zu jenen steht hier der Staat als nicht nur historischer, sondern auch normativer Ausgangspunkt im Zentrum. Die oft anzutreffende Etikettierung einer wissenschaftlichen Position als etatistisch wird ihrer Funktion gemäß als Hohlformel eingeordnet, die jenseits semantisch-modischer Suggestion für manche keinerlei normativ relevante Argumente liefert.60 Überstaatlichkeit ist damit im Gegensatz zu den föderalen Analysemodellen weder auf einen vergleichenden Blick festgelegt noch auf die Entwicklung einer allgemeinen Theorie gerichtet. Im Mittelpunkt stehen schlicht dogmatische Verarbeitungsmechanismen von mehr oder weniger institutionalisierten Verbindungen aus dem Staat heraus. Gegenstände eines verfassungshistorischen Beobachtungsrasters sollen nicht in föderalismustheoretische Schlussfolgerungen übersetzt werden, sondern – plakativ, mit mehr dogmatischer Bodenhaftung angereichert61 – analysiert werden. Ziel dieses Vorgehens ist dann eine Kenntlichmachung, wie frühere Konstellationen von Überstaatlichkeit normativ strukturiert waren, wie sie wissenschaftlich eingeordnet wurden und warum sie gescheitert sind. Dies führt mit Blick auf die Euro­ päische Union nicht zu normativen Lösungen für Gegenwartsprobleme, kann aber den Blick für Fehlkonstruktionen schärfen, die politische Probleme anbahnen oder vertiefen. Die von der Föderalismusforschung und Bundeslehre in den Blick genommenen Gebilde bieten sich insofern auch für die überstaatliche Perspektive an. Hierunter fällt exemplarisch der Schweizer Bundesvertrag von 1815 und in dessen Kontext (unter anderem) das Konkordatsrecht als halb bündisch, halb völkerrechtliches Ne60   Josef Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HbdStR II, 32004, §  15 Rn.  6 Fn.  13: „Verfassungsinterpreten, für die Staat ein rechtliches Argument bedeutet, werden […] als „Etatisten“ qualifiziert, diejenigen, die den Staat ausblenden, als „konstitutionell“ bewertet: hier das Lager des Fortschritts, dort das der vordemokratischen Tradition […].“ und hierher übertragbar Möllers (Fn.  51), 150 (156): „[…] dass sich die Rechtswissenschaften sehr gerne zu Anwälten oder Kritikern der Phänomene erklären, die sie wissenschaftlich beschreiben sollen: Gerade im Europarecht ist dies ein häufig zu beobachtendes Phänomen.“; dass die Etikettierung soziologisch eine Reaktion auf frühere Verengungen gewesen sein mag, ändert nichts an ihrer Leere als wissenschaftlicher Begriff, vgl. auch allg. Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, 220: „Wer sich jedoch nur kritisch-ablehnend mit dem Neuen einläßt, um an der traditionellen Erzählung festhalten zu können, droht, das Etikett des Rückwärtsgewandten zu erhalten, ist in seiner Argumentation mit einer Hypothek belastet.“ 61   Insoweit übertragbar Michael Stolleis, Verfassungs(ge)schichten, 2017, 30: „Aussagekräftige theoretische Aussagen über menschliche Sozialität, öffentliche Herrschaft, Staatsbildung oder Government-Strukturen müssen also um genügend Bodenhaftung im historischen Material bemüht sein.“ und ebd.: „Mittellage zwischen historischer Konkretion und Abstraktion“; vgl. auch Hausteiner (Fn.  21), 11 (16 Fn.  9 ), wonach „gelungene Typisierungen etwa von politischen Ordnungen eine Balance finden müssen zwischen Abstraktion und dem Versuch, eine möglichst signifikante Anzahl realer politischer Phänomene zumindest teilweise erfassen zu können – und dass jeweils entschieden werden muss, wie transhistorisch gültig eine Typisierung ausfallen soll.“; Kritik an älteren Positionierungen als „Hypertheorie“ im Sinne einer Theorie ohne Praxis auf der einen und einer „Hypotheorie“ als einer Praxis ohne Theorie auf der anderen Seite auf der Suche nach einem Mittelweg schon Beaud, Plädoyer (Fn.  25), 115 (119 f.).

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benrecht in seiner staatsrechtlichen Verarbeitung, dazu rechtliche Mechanismen und zeitgenössische Analysen der Intervention der Tagsatzung zur Durchsetzung einer von auswärtigen Experten redigierten Verfassung für Tessin, weil die dortigen Versuche als zu liberal galten (auch im Gegensatz zum monarchisch organisierten Neuenburg).62 Die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten bietet ein weites Feld, darunter die Rechte des Continental Congress gegenüber den (späteren) Ex-Kolo­ nien zwischen 1775 und 1781,63 der schiedsgerichtliche Streitschlichtungsmechanismus aus Art. IX §  2 der Articles of Confederation 1781,64 aber auch die juristische Verarbeitung der föderalen Verfassungskonflikte in der Zeit nach 1787.65 Dabei ginge es aus überstaatlicher Sicht weniger um den Vergleich als jeweils um einen tieferen Einstieg in die juristischen Mechanismen der beteiligten Ebenen, ihren politischen (Durchsetzungs-)Kontext sowie Bewertungen und Potenzial­ zu­ schreibungen durch an der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Diskussion Beteiligte. Dies wird im Folgenden beispielhaft für die deutsche Verfassungsgeschichte versucht.

2.  Überstaatlichkeit in der deutschen Verfassungsgeschichte und -dogmatik Im Folgenden wird zuerst überstaatlichen Strukturen im dynastischen Konstitutionalismus analytisch nachgegangen. Daran schließt sich einerseits die Beobachtung der Fortwirkung überstaatlicher Fragmente im deutschen Bundesstaatsrecht an, andererseits werden jüngere, auf politische Umbrüche reagierende Konstruktionsversuche betrachtet.

a)  Das Alte Reich als extrakategoriale Grenzlinie Vertreter der Geschichtswissenschaft können dem Alten Reich Überstaatlichkeit zuschreiben, aber es, je nach Blickwinkel, auch als komplementären Staat begreifen.66 Dem kann sich die Rechtswissenschaft nicht anschließen. Zwar wirkt das Alte Reich aufgrund seines übergeordneten Koordinations- und Streitschlichtungsmechanismus und den zwischen Ständen und Kaiser ausgehandelten Wahlkapitulationen, verstanden als Verfassungen auf Zeit, ansatzweise konstitutionalisiert („Protokonstitutiona62  Dazu Ulrich Zelger, Föderale Verfassungsräume und -kulturen in historischer Perspektive: Das Beispiel Schweiz, in: Bruha (Fn.  25), 59 (69, 74–76). 63   Forsyth (Fn.  20), 54. 64   Oliver Diggelmann, Supranationalität in geschichtlicher Perspektive: Die „Articles of Confedera­ tion“ (1781–1789), in: Bruha (Fn.  25), 117 (134); zu Zweifeln an der Souveränität der Einzelstaaten mit Blick auf die Kongresskompetenzen zwischen 1781 und 1787 Forsyth (Fn.  20), 56 f. 65   Robert Schütze, Die Verfassung der „Vereinigten Staaten von Amerika“ von 1787, Föderalismus als (Inter)nationale Ordnung, in: Bruha (Fn.  25), 83 (101–113); für die Diskussion um den Sitz der Souveränität bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg nur Forsyth (Fn.  20), 60–72. 66   Für eine Einordnung als überstaatliche Kooperationsform Langewiesche (Fn.  66), ebd.; für einen komplementären Staat Georg Schmidt, Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative Nation, HZ 273 (2001), 371 (371 ff.).

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lismus“) 67. Seine andere Rechts- und Herrschaftsstruktur verhindert aber eine Subsumtion unter die oben definierte Überstaatlichkeit. Das institutionelle Nebeneinander von Reich und Lehensreich, die ständische Gliederung mit ihrer Mediatisierung der Einzelnen, die Gleichzeitigkeit von Lehnsherrschaften, Landesherrschaften, Stadtrechten und das sich in den Wahlkapitulationen spiegelnde Ringen um die Verdrängung kaiserlicher Reservatrechte zugunsten der rechtlich vom Kaiser belehnten68 Landeshoheit machen deutlich, dass es „das“ Staatsrecht als Bezugs- und Ausgangspunkt territorial radizierter Rechtsordnungen, das mit anderen Ebenen interagierte, nicht gab.69 Diese Elemente markieren kategoriale Unterschiede zu den sich konstitutionalisierenden Staaten nach 180670 und entziehen sich der hier zugrunde gelegten Ausgangsperspektive einer einheitlichen staatsrechtlichen Ebene.71 Die über die Jahrhunderte wechselnden Klassifizierungen des Reichs unterstützen die These seiner Natur „sui generis“ und seines Ausscheidens aus einem spezifisch modernen, juristi  Wolfgang Burgdorf, Protokonstitutionalismus, Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792, 2015, 155 ff.; zur Vorsicht bei der Rückprojizierung des Konstitutionalismusbegriffs in diesem Kontext Heinz Mohnhaupt, „Protokonstitutionalismus“ als eine neue Phase in der Geschichte der Verfassung des Alten Reiches?, Rg 25 (2017), 368 (370 f.). 68   Treffend zur Möglichkeit schwindender Legitimität rechtlicher Setzungen durch die Zeit Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, 139: „Das Wesen des Lehensstaates ist treffend dahin charakterisirt worden, dass in ihm staatliche Hoheitsrechte in privatrechtlicher Weise an Individuen übertragen sind. Insoferne diese Übertragung die Folge hat, dass die Hoheitsrechte unwiderruflich und uncontrolirbar bei ihrem Inhaber verbleiben, indem die ursprünglich persönlichen Rechte in dingliche, auf dem Territorium haftende verwandelt werden, verwandelt sich der Privatbesitz von Hoheitsrechten in eine eigene Staatsgewalt, welche nunmehr entweder direct oder wieder indirect durch andere Vasallen auf die Unterthanen wirkt.“ 69   Statt vieler Barbara Stollberg-Rilinger, Das Reich als Lehnssystem, in: Heinz Schilling u.a. (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806, Band 2, Essays, 2006, 55 (55), insbes.: „Es charakterisiert dieses komplexe politische Gebilde gerade, dass sich verschiedene ältere und jüngere historische Schichten überlagerten, was durchaus zu inneren Widersprüchen führte, so dass konkurrierende Rechtsansprüche dauerhaft unausgetragen nebeneinander existierten. […] Die ältere Lehnsverfassung und die jüngeren Institutionen der Reichsverfassung lassen sich […] nicht gegeneinander ausspielen, sondern müssen in ihrer spannungsvollen Verbindung beschrieben werden.“ – diese Beschreibung ist zwar auch aus bündischer wie überstaatlicher Perspektive reizvoll, ändert aber nichts an der grundlegend abweichenden sozialen, gesellschaftlichen und rechtlichen Herrschaftsstruktur. 70  Dazu Robert von Mohl, Bemerkungen über die neuesten Bearbeitungen des allgemeinen deutschen Staatsrechts, Zeitschrift für deutsches Staatsrecht und deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 354 (373): „Von den politischen Zuständen der Reichszeit besteht gar nichts mehr, die Continuität ist vollständig abgebrochen; und dieß zwar nicht etwa nur was die Zustände Gesammtdeutschlands betrifft, sondern eben so hinsichtlich des einzelnen Staates. Dieser ist jetzt ein souveräner Staat, und kein Reichsterritorium mehr. Die jetzige Staatsgewalt ist nicht blos dem Umfange, sondern dem rechtlichen Wesen nach etwas anderes, als die Landeshoheit; jene ist ein das ganze Staatsleben beherrschendes Princip, diese war ein zufälliges Aggregat von Vorrechten. Die jetzt bestehenden allgemeinen staatsbürgerlichen Rechtsverhältnisse waren zu Reichszeiten selbst dem Gedanken nach noch nicht vorhanden.“ 71   Zur komplexen Lage und einer Charakterisierung des Alten Reiches mit dem Begriff des „Mehr­ ebenenstaates“ Georg Schmidt, Der Westfälische Frieden – Ein multilateraler Reichsgrundgesetzvertrag?, Der Staat, Beiheft 23 (2015), 11 (14 f., 24 a.E. f.); ablehnend zum Föderativcharakter aufgrund fortbestehender lehnsrechtlicher Bindungen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich, eine Föderation?, in: Weber/Dauser (Hrsg.), FS Burkhardt, 2008, 15 (16, 18, 24–26); abzulehnen ist demnach die Bezeichnung der Rechtsordnung des Alten Reiches als „supranational“, nur um jene von der des Nationalstaates abzugrenzen (so bei Hans-Jürgen Becker, Umbruch in Mitteleuropa, Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, in: Peter Schmid/Klemens Unger (Hrsg.), 1803, Wende in Europas Mitte, 2003, 17 [17]). 67

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schen Staatsbegriff, dem die Attribute der Souveränität, Allzuständigkeit und Gleichheit im Staatenverkehr kumulativ zu eigen sind.72 Doch wirkte sein Erlöschen mit der Entlassung der Territorien in das allgemeine Völkerrecht, ihrer Wandlung zu souveränen Staaten und der inneren Egalisierung der Rechts- und Sozialstruktur – d.h. der herrschaftspolitisch erstmalig effektiven Durchgriffsmöglichkeit auf den Einzelnen in der Breite mittels Auf hebung autonomer intermediärer Gewalten (Herrschaftskonzentration und „Mediatisierung“)73 – als Geburtshelfer juristischer Überstaatlichkeit. Vor 1806 soll deshalb aus juristischer Perspektive nicht von Überstaatlichkeit gesprochen werden.74

b)  Die Wiener Kongressakte als Einrichtung mehrstufiger Überstaatlichkeit Mit dem Untergang des Rheinbundes75 wich der französische Hegemonialanspruch der Frage nach einer friedenswahrenden Neuordnung Europas, die nach zermürbenden militärischen Auseinandersetzungen nur im multilateralen Zusammenwirken denkbar war. Die Beschreibung passt ebenso auf die Lage um 1945 – und tatsächlich brachten beide Zäsuren Gebilde hervor, deren rechtliche Einordnung bis heute Schwierigkeiten bereitet. Die Verhandlungen in Wien 1814/15 führten zur Neuorganisierung „Deutschlands“ im Deutschen Bund. Dieses Gebilde muss entgegen seinem Namen im europäischen Zusammenhang gelesen werden. Der Bund wurde und wird auch in der 72   Georg Meyer, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes, 41895, 56–58 zählt die staatsrechtlichen Konkretisierungsversuche über die Jahrhunderte auf: Einheitsstaat in Form einer durch Stände beschränkten Monarchie (vor Entstehung der Landeshoheit), gemischt monarchisch-aristokratisches Gebilde (erste Hälfte des 17. Jhds.), unregelmäßiger Staatenbund („irregulare aliquod corpus et monstro simile“ – Pufendorf ), zusammengesetzter Staat in Form einer beschränkten Monarchie (Pütter), Staatenstaat (G. Jellinek); interessant ist gleichwohl die Frage, inwiefern das Alte Reich die amerikanische Verfassungsstruktur beeinflusst hat, vgl. dazu, ausgehend von einem Besuch Benjamin Franklins bei Johann Stephan Pütter und Gottfried Achenwall in Göttingen im Jahr 1766 Jürgen Overhoff, Benjamin Franklin, Student of the Holy Roman Empire: His Summer Journey to Germany in 1766 and His Interest in the Empire’s Federal Constitution, German Studies Review 34 (2011), 277 (281–284). 73   Nach 1806 wurden Lehnsbeziehungen unmissverständlich der einheitlichen Staatsgewalt untergeordnet und vor 1806 ehedem autonome Träger politischer Herrschaft mit eigenen Untertanen, die den sich zu Souveränen proklamierten Herrschern im alten Rechtssystem noch ebenbürtig und gleichen Standes waren, unterworfen („subjicirt“) – zur sog. „Mediatisierung“ vgl. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren, 21964, 46–162. 74   Für den mittels externer Garantien über Reichsgrenzen hinausgehenden Westfälischen Frieden Schmidt (Fn.  71), 11 (24 f.): „Diese notwendige, jedem Souveränitätsprinzip jedoch hohnsprechende Regelung verdeutlicht einmal mehr, wie wenig moderne staats- und völkerrechtliche Kategorien zum Verstehen des Westfälischen Friedens beitragen. […] Die fremden Mächte fochten weder für eine staatliche noch eine überstaatliche Ordnung, sondern für oder gegen die Habsburger und die ihnen unterstellten universalmonarchischen, in der Praxis eher hegemonialen Ambitionen.“; ausf. zur Bedeutung für das Völkerrecht Rainer Grote, Das „Westfälische System“ des Völkerrechts: Faktum oder Mythos?, in: Andreas von Arnauld (Hrsg.), Völkerrechtsgeschichte(n), 2017, 21 (30–38). 75   Napoléon suchte den Rheinbund vom militärischen Materialreservoir unter französischer Hegemonie zu einem engeren Staatenbund auszubauen, u.a. durch die Errichtung eines dem Reichskammergericht ähnlichen Bundesgerichts; das Vorhaben scheiterte insbesondere an Bayern, Württemberg und Baden, die an ihrer erst errungenen, „vollen“ Souveränität festhielten, vgl. Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht, 1983, 14 sowie 156 Fn.  4.

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Rechtswissenschaft zu wenig beachtet, weil die preußisch-nationalstaatliche Historiographie hier eine bis heute nachwirkende Phase der Schwäche zeichnete. Das mag aus jener Perspektive politisch zutreffen, für die Rechtswissenschaft ergibt sich aber in mehrfacher Hinsicht überstaatliches Anschauungsmaterial. Die beteiligten europäischen Großmächte hatten strategische und machtpolitische Interessen an einem föderalen deutschen Verband, der nicht den Weg zum Einheitsoder Bundesstaat beschritt.76 Damit setzte sich die seit 1648 bestehende Garantie des mitteleuropäischen Föderativsystems fort.77 Europäische Regenten waren zugleich Mitglieder des Bundes – der König von England als König von Hannover, der König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg und der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg und Herzog von Limburg. Die (Organisations-)„Verfassung“ des Bundes, die Deutsche Bundesakte, stand so in einem gesamteuropäischen Zusammenhang. Sie war vertraglich in die Wiener Kongressakte inkorporiert (Art.  53–64)78. Nach ihrer Präambel sollte aus der „Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands“ auch „die Ruhe und das Gleichgewicht Europas hervorgehen“79. Das Wissen um diese Verschränkungen ließ Carl Bilfinger, der dem Bund einen „doppelt internationalen Charakter“ bei gleichzeitigen „Ansätzen bundesstaatsrechtlicher Bildung“ zuschrieb80 angesichts des nationalstaatlichen Trennungsversuchs 1849 jubeln.81 Ein Blick auf die interdynastische Staatenpraxis und Diplomatie bestätigt die Bedeutung der vertragsrechtlichen Inkorporation: Sie eröffnete den Garantiemächten jenseits der Aufrechterhaltung der bündischen Konstruktion im Ganzen eine umstrittene Interventionsmöglichkeit in solche Bundesangelegenheiten, die nach ihrem Urteil das europäische Gleichgewicht berührten. Die Vorfälle, die zum Teil in unmittelbarem Zusammenhang mit den vom Bund unterdrückten innerdeutschen Freiheitsbestrebungen standen, zeigen Verschränkung und Fragilität eines mehr diplomatisch als rechtlich abgesicherten europäischen Gleichgewichts auf. Semantisch fanden die Interventionen dennoch unter steter Berufung auf einen völkerrechtli-

  Art.  6 Satz  2 des Ersten Pariser Friedens v. 30.5.1814 bestimmte: „Les états de l’Allemagne seront indépendans et unis par un lien fédératif.“; vgl. auch Brendan Simms, Kampf um Vorherrschaft, Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute, 2014, 278 f.; M. Rainer Lepsius, Der europäische Nationalstaat: Erbe und Zukunft, in: ders., Interessen, Ideen, Institutionen, 1990, 256 (258). 77   Kurzer Überblick zu französischen und schwedischen Interventionen im Alten Reich seit 1648 unter Berufung auf den Rechtstitel der Garantiemacht bei Nikolaus Dommermuth, Das angebliche europäische Garantierecht über den Deutschen Bund von 1815 bis 1866, 1928, 2; ausf. zur Motivation der Garantieklausel im Westfälischen Frieden, die noch auf die Verhinderung einer habsburgischen Universalmonarchie gerichtet war und deshalb auch von den Reichsständen selbst gewollt war Schmidt (Fn.  71), 11 (18 f., 21); zum Missbrauch der Garantierechte zwecks Einmischung in die Reichspolitik Grote (Fn.  74), 21 (35). 78   Abgedr. in: Der Deutsche Bund, Eine Zeitschrift für das öffentliche Recht Deutschlands und der gesammten deutschen Länder, Erster Band, Drittes Heft, 1815, 102–119. 79   Präambel der Deutschen Bundesakte, abgedr. in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, 1978, Nr.  30 (84 f.). 80   Carl Bilfinger, Völkerrecht und Staatsrecht in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1941, 9. 81   Ebd., 11: „Eine klare Absage an das völkerrechtlich-pluralistische System von 1648 und ein klares Bekenntnis zum deutschen Nationalstaat: das ist das unvergängliche Verdienst der Verfassung von 1849.“ 76

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chen Rechtstitel statt, der jedes Mal die Frage nach Selbststand und Rechtsnatur des Deutschen Bundes im Kontext der europäischen Staatengemeinschaft auf brachte.82 Ein Einzelfall sei zur Veranschaulichung herausgegriffen. 1851 gingen Frankreich und Großbritannien mittels diplomatischer Noten beim Präsidium der Bundesversammlung gegen die angedachten Beitritte Gesamtpreußens und Gesamtösterreichs zum Deutschen Bund vor. Die nicht unerheblichen territorialen Erweiterungen des Bundesgebiets intensivierten wegen der reziproken militärischen Beistandspflicht bei Angriffen auf selbiges (Art. XI Deutsche Bundesakte, Art. XXXVI Wiener Schluss­ akte) die Möglichkeiten der Eröffnung militärischer Konfliktherde in Regionen, in denen beide Staaten darüber hinaus nationalen Befreiungsbewegungen (Polen, Magyaren) entgegentraten.83 Frankreich und England sahen deshalb „das allgemeine Gleichgewicht der Macht“ verschoben und „in aller Wahrscheinlichkeit Folgen von so ernsthafter Natur […], daß sie die Interessen von Europa im Allgemeinen beeinträchtigen“ würden. Die Bundesversammlung erkannte „eine fremde Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Deutschen Bundes“, die „niemals zugestanden werden“ könne.84 Über Notenwechsel ging der Konflikt nicht hinaus; doch ist gerade dies ein überstaatliches Rechtsfragment, weil die beteiligten Staaten um eine normativ begründete Verhaltenssteuerung rangen. Interventen wie Präsidium der Bundesversammlung stritten um Vorschriften der Bundesakte und Schlussakte sowie die Bedeutung ihrer Einbindung in die gesamteuropäische Wiener Kongressakte – ein Rechtsauslegungsstreit um eine behauptete mehrstufige überstaatliche Bindung.85 Der normativ schwach abgesicherte Interventionstitel konnte zwar rechtshistorisch messbare, aber keine erheblichen Wirkungen entfalten.86 Er stellt des Weiteren nur 82   Eine ganze, sehr lesenswerte Dissertation widmet der These des Nichtbestehens der Garantierechte mit einem tiefen Blick in das Geschehen Dommermuth (Fn.  77), passim, insbes. 16–24 (Ringen um die Aufnahme einer Garantieklausel während der Wiener Verhandlungen), 30–38 (zeitgenössische Analysen), 42–72 (Darstellung und Argumente von Interventen und ihrer Zurückweisung durch den Bund – insbesondere die Rolle Bayerns und des „Dritten Deutschland“ belegt die Bedeutung des juristischen Streits um den Rechtstitel). 83  Die Staaten waren in ihrer Bundesmitgliedschaft eigentlich auf ihr vormals zum Alten Reich gehörendes Territorium, d.h. ohne die „nichtdeutschen Besitzungen“, beschränkt (Art. I Deutsche Bundesakte); zum Kontext näher Nikolaus Dommermuth (Fn.  77), 67–72. 84  Die diplomatischen Noten samt Antwort des Präsidiums der Bundesversammlung sind abgedruckt in: Protokolle der Bundesversammlung 1851, 16. Sitzung v. 17. Juli 1851, §  79 (167–175). 85   Erhellende geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion des politischen Kontextes (Schwarzenberg-Plan) mit dem Ergebnis, dass die Protestnoten mehr Nachspiel als tatsächlich ernster Interventionsversuch waren, bei Jürgen Angelow, Deutscher Bund, europäische Ordnung und deutsche Frage. Zum historischen Ort der Dresdener Konferenz, in Flöter/Wertenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz 1850/51, Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, 2002, 19 (35–39); andere Einschätzung bei Reiner Marcowitz, Der deutsche Dualismus und die europäische Pentarchie, Die Stellung der Großmächte zur Dresdener Konferenz 1850/51, in ebd., 129 (137–145), der die durchgehend rechtliche Argumentation belegt. 86  Russland beanspruchte aufgrund der Wiener Kongressakte noch 1867 die Einberufung eines Staatenkongresses aller Signatarstaaten, da ihnen ein Mitspracherecht bei der Neugestaltung Deutschlands zukomme; Bismarck konnte dies u.a. dadurch vermeiden, dass er auf eine geplante preußische Annexion des nördlichen Teils des Großherzogtums Hessen verzichtete (Zar Alexander II. war ein Schwager vom hess. Großherzog Ludwig III.); zum Ganzen Dommermuth (Fn.  77), 75–77; zuvor ordnete Russland bereits die preußischen Bundesstaatspläne 1849/50 (Erfurter Union) als Völkerrechtsverstoß gegen die in der Wiener Kongressakte niedergelegte und von den europäischen Großmächten

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eine Näherung an unseren Maßstab dar, weil es weniger um eine Einwirkung auf Staatsrecht als um eine solche äußerer Staaten auf den Bestand eines Staatenbundes ging. Erst im Verhältnis zwischen Bund und Bundes-Staaten treten überstaatliche Elemente auch verfassungsrechtlich zu Tage.

c)  Staatsrecht, Bundes-Recht und permeables Verfassungsrecht Der Deutsche Bund weist in seiner dogmatisch-kategorialen Unbestimmbarkeit eine verblüffende Parallele zur Europäischen Union auf. Die ältere deutsche Staatsrechtslehre ordnete das „Bundes-Recht“ allen denkbaren Rechtsebenen zu,87 während der Bund dieselbe mit seiner Wandlung zum monarchischen Bollwerk gegen die sich politisierende Nation ausdrücklich ignorierte.88 Trotz der Verpflichtung zur Errichtung landständischer Verfassungen (Art. XIII Deutsche Bundesakte) verharrten viele Staaten Jahrzehnte in einem verfassungslosen Zustand. Die Wiener Schlussakte beschränkte das monarchische Prinzip zwar selbst für Änderungen derselben auf verfassungsgemäße Handlungsformen (Art. LVI Wiener Schlussakte), stellte aber keine Voraussetzungen für ihre Entstehung auf (Oktroyierung, Aushandlungen mit Ständen oder Volksvertretern?). Der Deutsche Bund ist im Ergebnis zu Recht als ein herkömmliche zwischenstaatliche Maßstäbe übersteigender Staatenbund beschrieben worden.89 Das bestätigt ein Blick in seine „Verfassung“. Das Bundesrecht enthielt eine klare Vorrangklausel vor partikularem (Staatsverfassungs)Recht (Art. LVIII Wiener Schlussakte) 90. Adressat der Bundesbeschlüsse waren die monarchischen Regierungen; im Fall der Nichtumsetzung konnten sie aber auch gegen diese und erst Recht gegen aufständische Bevölkerung durchgesetzt werden (Art. XXXII i.V.m. Art. XXVI Wiener Schlussakte).91 garantierte Verfassung des Deutschen Bundes ein (hierzu Anselm Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz, 1991, 123 a.E. f. und 147). 87   Ernst von Moy, Lehrbuch des bayerischen Staatsrechts, 1. Theil, Verfassungsrecht, 1. Abtheilung, 1840, §  47 (S.  148 f.): Völkerrechtlich vereinbarte Beschränkung einzelner Staatskompetenzen (insbes. Kriegs- und Vertragsrecht); Friedrich Christoph Karl Schunck, Staatsrecht des Königreichs Baiern, Erster Band, 1824, §  29 (S.  139 f.): Besondere Quelle des eigenen Staatsrechts im Gegensatz zu gewöhnlichen völkerrechtlichen Übereinkünften; Carl von Kaltenborn, Geschichte der Deutschen Bundesverhältnisse und Einheitsbestrebungen von 1806 bis 1856, Erster Band, 1857, 282–284: Völkerrechtliche und bundesstaatliche Entwicklungsmomente bei deutlich schwächerer Ausprägung letzterer; dagegen konnte Hans-Werner Hahn, Der Deutsche Bund, Zukunftslose Vorstufe des kleindeutschen Nationalstaats oder entwicklungsfähige föderative Alternative?, Der Staat Beiheft 16 (2006), 41 (48) für die spätere Staatsrechtslehre feststellen, dass ihre feste Staatenbund-Bundesstaat-Dichotomie Erkenntnisse zu den einheitsstiftenden Elementen des Bundes lange blockierte. 88   XXVI. Erklärter Vorsatz der Bundesversammlung vom 11. Dezember 1823, „dass sie neuen Bundeslehren und falschen Theorien von Schriftstellern, keine auf Bundesbeschlüsse einwirkende Autorität gestatten, und keiner Berufung auf solche bei ihren Verhandlungen Raum geben wolle.“, zit. nach Johann Ludwig Klüber, Quellen-Sammlung zu dem Öffentlichen Recht des Teutschen Bundes, 1830, 309. 89  Vgl. nur Grimm (Fn.   57), 60; auch Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, Deutschland 1806–1871, 1995, 324 -326 spricht (zu Recht) von einer Mischung aus Einheit und Vielfalt mit zunehmenden bundesstaatlichen Zügen. 90   „Die im Bunde vereinten souverainen Fürsten dürfen durch keine Landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer bundesmäßigen Verpflichtungen gehindert oder beschränkt werden.“ 91   Art. XXXII Satz  1 Wiener Schlussakte: „Da jede Bundes-Regierung die Obliegenheit hat, auf

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Dem Bund standen mithin bundesstaatsgleiche Zwangsmittel92 zur Seite, die über die normativen Möglichkeiten der Rechtsgemeinschaft Europäische Union (Vertragsverletzungsverfahren) weit hinausreichten. Ebenso wichtig ist der hinter diesem Recht stehende historische Telos: Die Schaffung einer Ebene über den Staaten zur Konservierung des Friedens, verwaltet von einer nach dem monarchischen Prinzip modellierten politischen Herrschaft. In seinem nun souveränen Territorium musste der Monarch mal mehr, mal weniger auf das auf Partizipation drängende Volk zugehen. Auf der Bundesebene gab es dagegen mit der Bundesversammlung nur ein monarchisch besetztes Organ, das ganz obrigkeitlicher Herrschaftsrationalität folgen konnte.93 Der Hinweis, hier walte ein Verband, der „sehr viel stärker durch Elitenkommunikation als durch übergreifende Volkstümlichkeit zusammengehalten“ wird, dürfte ebenso geschichtswissenschaftliche Banalität wie in seiner Übertragung auf die Europäische Union erfrischende Irritation sein.94 Man kann die Parallelen zur Union demokratieskeptisch zuspitzen: Die sich auf demokratische Selbstbestimmung berufende Bevölkerung sah sich einer Elitenherrschaft unterstellt, die politisch unerreichbar schien und in ihrer sachrationalen Alternativlosigkeit kaum responsiv war.95 Ob dieser Eindruck sich für den Deutschen Bund bestätigt, wird ein exemplarischer Blick in das (konstitutionalisierte) Sachsen und Preußen zeigen. Partikulares Verfassungsrecht und Staatsrechtslehre waren aufgrund der referierten Herrschaftsstruktur die rechtswissenschaftlichen Adressen, in denen Liberalisierungs- und Demokratisierungsbewegungen ihre Wirkstätte fanden und dem überstaatlichen Recht jedenfalls theoretisch etwas entgegensetzen konnten. Und tatsächlich wiesen die Partikularverfassungen Öffnungsklauseln auf, deren Handhabung und Interpretation beispielhaft für die (fehlende) Ausbalancierung der überstaatlichen Konstellation ist. Vorauszuschicken ist der Hinweis, dass sich die Gewaltentrennung im modernen Sinn in den Verfassungen nur zum Teil wiederfand. Vollziehung der Bundes-Beschlüsse zu halten, der Bundes-Versammlung aber eine unmittelbare Einwirkung auf die innere Verwaltung der Bundesstaaten nicht zusteht, so kann in der Regel nur gegen die Regierung ein Executions-Verfahren Statt finden.“ (sodann eine Ausnahmebestimmung bei Volksaufständen). 92   Hans Kelsen, General Theory of Law and State, 1949, 320 verbindet die Möglichkeit der Bundesexekution klar mit der Form des Bundesstaates. 93   Als geschichts- wie rechtswissenschaftliche Notiz wird des Öfteren vermerkt, dass mit dem Wiener Kongress eine mit Blick auf die weitere europäische Geschichte relativ lange und stabile, jedenfalls zwischenstaatliche Friedensperiode anbrach, die beinahe einhundert Jahre hielt – von diesem Faktum aus wird durchaus vor einer möglichen Störung der heutigen Brüsseler Verhandlungsrationalität durch überschießende Demokratisierung gewarnt, vgl. Christoph Schönberger, Hegemon wider Willen, Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union, Merkur 752 (2012), 1 (6): „Die immer intensiver formulierten demokratischen Ideale lassen indes den Sinn dafür schwinden, dass die Brüsseler Verhandlungsmaschinerie die heutige Form jenes alteuropäischen diplomatischen Konzerts ist, das immer wieder den friedlichen Ausgleich der europäischen Mächte ermöglicht oder doch erstrebt hat.“; ähnliche Einschätzung bei Desmond Dian, Europe Recast, 22014, 358. 94   Und gerade deshalb weiterführend: Albrecht Koschorke, Hegel und wir, 2015, 197–199: „eine Art Prototyp der Europäischen Union“ (199). 95   Früher Sarkasmus bei Joseph Görres, Teutschland und die Revolution, 1819, 19: „Eine reine Demokratie, deren Demos aus Höfen der verschiedensten Gesinnungen, Interessen und Machtverhältnissen sich zusammensetzt […].“

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Die sächsische Verfassung von 183196 sprach schon innerstaatlich allein dem König das Gesetzesinitiativrecht zu (§  85), band den Erlass aber an die Zustimmung der beiden Ständekammern (§  86).97 Änderungen im Haushalt konnten, außer im Notfall, nicht ohne Zustimmung der Stände erfolgen (§  96). Diese Voraussetzungen galten mangels speziellerer Normen auch für die Umsetzung von völkervertraglichen Verpflichtungen.98 Diese verfassungsrechtliche Grundstruktur wird durch die Integrationsnorm des §  89 für das überstaatliche Bundesrecht modifiziert: Bundesbeschlüsse traten sofort mit der vom König verfügten Publikation in Kraft, bedurften keiner ständischen Zustimmung und ermächtigten im Falle ihrer Finanzwirksamkeit zur Auf bringung der erforderlichen Mittel. Nur hinsichtlich der Bestimmung der Art und Weise des Auf bringens wurde die Volksvertretung beteiligt.99 Die dünne Literatur zum sächsischen Staatsrecht wollte hier gar keine mögliche Kollision zwischen monarchischer Exekutive/Bundesrecht und Rechten der Volksvertretung aus der Staatsverfassung erkennen.100 In der Reaktionsära fiel die Hürde der landständischen Beteiligung im Ganzen fort.101 Nach Gründung des Norddeutschen Bundes wurde §  89 schließlich wegen Funktionslosigkeit aufgehoben.102 Sachsen war nun Adressat der Gesetze eines Bundesstaates mit klarer verfassungsrechtlicher Normenhierarchie (Art.  2 Abs.  1 Satz  1 BV 1867)103, nicht mehr von Bundesbeschlüssen eines hybriden Gebildes mit undurchsichtiger Kompetenzverteilung.104 96   Sächsische Gesetzsammlung 1831, 241; die Verfassung war nicht oktroyiert, sondern wurde im Gefolge der französischen Julirevolution von König und (altem) Landtag gemeinsam ausgearbeitet. 97   Die Stände repräsentierten das gesamte Volk, vgl. §  78 sächs. Verf.: „Die Stände sind das gesetzmäßige Organ der Gesammtheit der Staatsbürger und Unterthanen […].“ 98   Dabei blieb dem König aus der alten staatsrechtlichen Auffassung von dessen „Repräsentativgewalt“ hinsichtlich jener zwischenstaatlichen Verträge, die weder Gesetzgebung notwendig machten, noch Freiheitsrechte berührten, das Recht, diese mittels einfacher Publikation als Verordnung „bekannt zu machen“; kurze Darstellung bei Otto Mayer, Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, 1909, 189 f. 99   §  89: „In Ausführung der vom Bundestage gefaßten Beschlüsse kann die Regierung durch die ermangelnde Zustimmung der Stände nicht gehindert werden. Sie treten sofort mit der vom Könige verfügten Publication in Kraft. Es müssen daher auch die zur Ausführung derselben erweislich erforderlichen Mittel aufgebracht werden, wobei jedoch die Mitwirkung der Stände in Ansehung der Art und Weise der Auf bringung dieser Mittel, insoweit dieselbe verfassungsmäßig begründet ist, nicht ausgeschlossen wird.“ 100  Vgl. Johann Grünler, Staatsrecht des Königreichs Sachsen (Auswärtiges Staatsrecht), 1838, §  47 (68 f.), was in diesem Fall auch damit zusammenhängen dürfte, dass der Verf. Königlich Sächsischer Legationsrat im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten war; der von Friedrich Milhauser, Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen mit Einschluß des Privatfürstenrechts und der völkerrechtlichen Verhältnisse, Erster Band, 1839 angekündigte zweite Band, der sich mit Völker- und Bundesrecht beschäftigen sollte, erschien aufgrund des Todes des Verfassers (1840) nicht mehr. 101   Vgl. die Änderung des Wortlauts durch Änderungsgesetz v. 5.5.1851, Sächsische Gesetzsammlung 1851, 123, im Vergleich zur Urfassung (o. Fn.  96). 102   Änderungsgesetz v. 3.12.1868, Sächsische Gesetzsammlung 1868, 1368; zu beiden Änderungen auch Mayer (Fn.  98), 191 mit Fn.  12. 103   BGBl. 1867, 2; im Wortlaut: „Innerhalb dieses Bundes übt der Bund das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Bundesgesetze den Landesgesetzen vorgehen.“; zum Streit, ob das Deutsche Kaiserreich Rechtsnachfolger des Norddeutschen Bundes (Identitätstheorie) oder eigenständige Neugründung (Nachfolgetheorie) war Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte Bd.  III, 1978, 760–765. 104   Zur Unmöglichkeit einer genauen Abgrenzung der Verbandskompetenzen des Deutschen Bundes durch Auslegung Bernd Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1995, 230.

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Die preußische Verfassung von 1848/50105 sah zwar ein Gesetzesinitiativrecht der Volksvertretung vor (Art.  64 Abs.  1), jedoch auch ein absolutes Vetorecht des Königs (Art.  62 Abs.  2 ).106 Hinsichtlich der Bestimmungen über Einnahmen und Ausgaben entsprachen die Rechte der preußischen jener der sächsischen Volksvertretung (vgl. Art.  99 f., 104). Dem König stand weiterhin das Recht zum völkerrechtlichen Vertragsschluss zu; zur innerstaatlichen Gültigkeit war jedoch im Fall ihrer Finanzwirksamkeit, bei Handelsverträgen oder Staatsbürger verpflichtenden Normen die Zustimmung der Volksvertretung notwendig (Art.  48). Zur Umsetzung und Rechtswirkung von Bundesbeschlüssen schwieg die Verfassung. Damit war der preußischen Staatsrechtslehre, anders als in Sachsen, ein interpretatorischer Raum gegeben, der zugleich eine politische Positionierung bedeutete.107 Insbesondere Ludwig von Rönne, der „Vater des konstitutionell preußischen Staatsrechts“108 und langjähriges Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses sowie des Reichstags, zeigt, dass sich in einer völlig anderen historischen Konstellation gleichlautende überstaatliche Rechtsfragen stellten und dieses Wissen in Vergessenheit geraten ist. In seiner umfangreichen Darstellung und Materialsammlung zum preußischen Staatsrecht109 stellte der Altliberale und Parlamentarier sich der Kollisions- und Vorrangfrage – und traf damit zugleich eine Entscheidung, welchem Prinzip er höhere Legitimität beimaß und rechtlichen Vorrang zuschrieb. Laut v. Rönne könne es grundsätzlich nicht sein, dass die bundesrechtliche Verpflichtung der Exekutive zur Ausführung von Bundesbeschlüssen es erlaube, sich über verfassungsrechtliche Bin  Für die Fassung v. 5.12.1848: Preußische-Gesetz-Sammlung 1848, 375; für die revidierte Fassung v. 31.1.1850 vgl. Preußische-Gesetz-Sammlung 1850, 17; nachfolgend wird auf die revidierte Verfassung Bezug genommen. 106  Im vom König abgelehnten Verfassungsentwurf der Verfassungskommission der preußischen Nationalversammlung („Charte Waldeck“) war noch vorgesehen, dem königlichen Veto lediglich einen Suspensiveffekt zuzusprechen, das die Volksvertretung überstimmen konnte, vgl. Ulrike Müßig, Die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts, 2008, 129 f. 107   Dem ist hinzuzufügen, dass die Verfassung zudem das monarchische Prinzip in einer Art. LVII WSA vergleichbaren Weise nicht ausdrücklich kodifizierte, was die liberale Opposition zu der politischen Deutung veranlasste, die Verfassung legitimiere den König als Staatsoberhaupt im Ganzen und schließe monarchische Residualzuständigkeiten aus; dazu Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, 49 Fn.  161. 108  Näher Manfred Friedrich, „Rönne, Ludwig von“ in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), 729 [Onlinefassung]; https://www.deutsche-biographie.de/gnd115549390.html#ndbcontent. 109  Ein Seitenblick auf die kollegiale Wahrnehmung der Staatsrechtslehrergenerationen zeigt die Verschränkung wissenschaftlicher und politischer Positionen: Philip Zorn, der selbst Rönnes Werk in fünfter Auflage fortführte, urteilte (ders., Die Entwicklung der Staatsrechts-Wissenschaft seit 1866, JöR 1 [1907], 47 [49]): „[…] Rönne trug in dickleibigen Bänden mit einer fast rührenden Sorgfalt alle parlamentarischen Materialien des preussischen Staatslebens seit 1850 in krausem Durcheinander und in vollendeter Systemlosigkeit, doch mit grosser Vollständigkeit zusammen.“, während Conrad Bornhak zur Zorn’schen Fortführung befand: „Der alte Rönne war wissenschaftlich wertlos aber zuverlässig, der neue hat an wissenschaftlichem Werte gewonnen, an Zuverlässigkeit verloren.“ (zit. n. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, 301 Fn.  145); zu Zorn wiederum Rudolf Smend, Deutsche Staatsrechtswissenschaft vor hundert Jahren – und heute, in: Ehmke/ Abendroth (Hrsg.), FS Adolf Arndt, 1969, 451 (459): „Vierzig Jahre nach Aegidis Zeitschrift proklamiert abschließend, an repräsentativer Stelle des Eröffnungsbandes des Jahrbuchs des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Philipp Zorn 1907 mit endgültigem Anspruch die nunmehrige Herrschaft des positivistischen Formalismus. […] Es ist wohl bezeichnend, daß gerade für diese Aussage an diesem Ort der Vertreter eines besonders naiven Wilhelminismus gewählt wurde.“ 105

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dungen hinwegzusetzen.110 Im Kollisionsfall schrieb er den in der Verfassung verankerten Rechten der Volksvertretung den Vorrang vor der monarchisch besetzten Bundesversammlung zu. Verweigerte die Volksvertretung trotz Umsetzungsverpflichtung des Königs ihre notwendige Zustimmung, befinde dieser sich zwar als Adressat von sich widersprechenden bundes- und staatsverfassungsrechtlichen Bindungen in einer Pflichtenkollision – die Auflösung selbiger müsse aber zugunsten der Verfassung ausgehen.111 Damit stellte sich v. Rönne der überstaatlichen Vorrangkonstruktion des monarchischen Prinzips klar zugunsten der Volkssouveränität entgegen, obwohl, anders als in der Europäischen Union, die Legitimationswege sehr viel unklarer waren – 1814/15 war das monarchische Prinzip noch keiner rechtlich abgebildeten legitimationstheoretischen Konkurrenz ausgesetzt, auch wurden viele Territorien oder Staaten erst während der Wiener Verhandlungen wiedererrichtet. Wenn Georg Jellinek einige Jahre später meint, „selbst wenn die Durchsetzung des Bundesbeschlusses mit Gewalt, durch eine Bundesexekution erzwungen werden sollte, widerfährt dem Staate nur sein eigener Wille“112, ist das positivistisch so unbestreitbar richtig wie legitimitätsblind. Auch andere Partikularverfassungen mussten den rechtlichen Status überstaat­ lichen Rechts einordnen.113 In Bayern bedurften Bundesbeschlüsse grundsätzlich der Transformation in ein Landesgesetz unter ständischer Beteiligung.114 Die badische Verfassung bezeichnete Bundesbeschlüsse als Bestandteile des badischen Staatsrechts (!), die zu ihrer Wirksamkeit dennoch – und zugleich: nur – der Verkündung durch den Großherzog bedurften (§  2 )115. Das badische Oberhofgericht hatte 1845 bezüglich des „Bundespreßgesetzes“, eines im Rahmen der Karlsbader Beschlüsse von 1819 ergangenen Bundesbeschlusses zur Zensur oppositioneller Presse,116 Gele-

  Ludwig von Rönne, Das Staats-Recht der Preußischen Monarchie, Erster Band, Zweite Abtheilung, Verfassungsrecht, 21864, §  209, 563. 111  Vgl. Ludwig von Rönne (Fn.  110), §  219, 566 Fn.  4, insbes.: „Denn unmöglich kann mit Grunde Rechtens behauptet werden, daß die Preuß. Verfassung die Rechte der Bundes-Versammlung als über ihr stehend salvirt habe.“ (Herv. i. Orig.) – genau das aber tat zumindest das „Bundes-Verfassungsrecht“ (vgl. o Fn.  9 0 f. mit Begleittext), dem der König als Bundesfürst zustimmte, wie er auch die Verfassung 1848/50 oktroyierte (!). Rönnes Positionierung ist damit herrschaftspolitisch besehen geradezu kontrafaktisch. 112   Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1892, 176. 113   Otto Mayer (Fn.  98), 190 Fn.  12 verweist auf ähnliche Bestimmungen in Baden, Württemberg und (Großherzogtum) Hessen. 114   Joseph Pözl, Bayerisches Staats-Verfassungs-Recht, 1847, §  15 (23): Bundesbeschlüsse gelten nicht unmittelbar, sondern nur als Landesgesetze nach Zustimmung der Volksvertretung oder, wo diese nicht notwendig ist, nach königlicher Verordnungsgebung. 115   Regierungsblatt für das Großherzogthum Baden 1818, 101; der Wortlaut des §  2 lautet: „Alle organischen Beschlüsse der Bundes-Versammlung, welche die verfassungsmäßigen Verhältnisse Deutschlands oder die Verhältnisse deutscher Staatsbürger im Allgemeinen betreffen, machen einen Theil des badischen Staatsrechts aus, und werden für alle Classen von Landesangehörigen verbindlich, nachdem sie von dem Staatsoberhaupt verkündet worden sind.“ 116   Das liberale Baden erließ im Gefolge der französischen Julirevolution nach 1830 ein freisinnigeres Pressegesetz, der Deutsche Bund (politisch genauer: Österreich und Preußen) erreichte jedoch kurze Zeit später eine Rücknahme desselben, weil es nicht mit dem Bundespreßgesetz von 1819, mithin überstaatlichem Bundesrecht, vereinbar war, vgl. Richard Kohnen, Pressepolitik des Deutschen Bundes, 1995, 58. 110

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genheit, zur Normenhierarchie Stellung zu nehmen.117 Eine Literaturstimme diskutierte sogar im Ansatz auf theoretischer Ebene, wann der Bundeskompetenz nicht zugehörige Materien, die ein Bundesfürst ihr zur Entscheidung anträgt, sich wegen in der Partikularverfassung verankerter Mitbestimmungsrechte der Volksvertretung als verfassungswidrige Hoheitsrechtsübertragung herausstellen.118 Selbst im „Zentralereignis der innerdeutschen Geschichte“119 des 19. Jahrhunderts, dem zwischen preußischer Krone und Abgeordnetenhaus ausgetragenen Konflikt um die Letztentscheidung über die Staatsausgaben und die oft analysierte „Lückentheorie“ stand dem partikularverfassungsrechtlichen Patt eine klare überstaatliche Überwölbung gegenüber. Die Bundesversammlung war schon 1832 der Ansicht, eine parlamentarische Verweigerung der erforderlichen Mittel widerspreche den vorrangigen bundesrechtlichen Rechten und Pflichten der Regierungen und öffne die Tür zur Bundesintervention.120 Aus heutiger Perspektive, mit Blick auf Art.  2 und 7 EUV, zeigt sich ein überstaatlich verankerter Wertsicherungsmechanismus zugunsten des monarchischen Prinzips. Die überstaatliche Antwort auf die innerstaatliche Budget- und Machtfrage konnte die Auseinandersetzung zwischen dynastischer und erstarkender demokratischer Legitimität gleichwohl nicht befrieden.121 Der Konstitutionalismus hielt somit „permeables Verfassungsrecht“122 für eine vom allgemeinen Völkerrecht zu unterscheidende Ebene bereit, für die sich vertraute Fragen stellten und Probleme ergaben: Transformation und unmittelbare An117   Großherzoglich Badisches Oberhofgericht, Jahrbücher des Großherzoglich Badischen Oberhofgerichts, N.F. Jg. 9 = Jg. 16 (1845/46), 1847, 263 (264) – Staatsanwalt gegen v. Struve (undatiert): „Es steht daher in dieser Beziehung die Bundesgesetzgebung über der Landesgesetzgebung, und der im §  64 u. 65 [der Verfassung Badens, d. Verf.] ausgesprochene Grundsatz, daß Landesgesetze ohne Zustimmung der beiden Kammern weder neu gegeben noch abgeändert werden können, ist auf solche Beschlüsse nicht anwendbar, welche vom Bundestag innerhalb der Grenzen seiner verfassungsmäßigen Wirksamkeit und also namentlich in Bezug auf die Handhabung der Presse erlassen worden sind.“ – der Sachverhalt (ebd., 266) ist ebenso interessant: Nach polizeilicher Beschlagnahme der Schrift des ehemaligen Diplomaten Gustav von Struve, in der dieser die Karlsbader Beschlüsse als Hochverrat bezeichnete und damit der auf Bundesebene an der Zensur mitwirkenden badischen Regierung ein Verbrechen vorwarf, verlangte der Angeklagte u.a. die Zulassung der Öffentlichkeit zum Prozess nach altem badischem Recht, welche das aus den Karlsbader Beschlüssen hervorgehende „Bundespreßgesetz“ aber gerade für Strafverfahren die Presse betreffend untersagte; handelt es sich um ein frühes Beispiel für einen im liberalen Süddeutschland angestrengten Musterprozess, womöglich in der Hoffnung eines richterlichen Auffindens einer (liberalen) badischen Verfassungsidentität, die dem überstaatlichen Recht die Anwendung versagt? Das Oberhofgericht stellte den Vorrang des Bundesrechts jedenfalls deutlich heraus und erhielt die unterinstanzlichen Strafurteile aufrecht. 118   Georg von Weiler, Das Staatsrecht der deutschen Bundesstaaten insbesondere des Großherzogthums Baden im Verhältnisse zum deutschen Bunde, 1833, 15 f. 119   Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches – Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934, 10. 120   Protokolle der Bundesversammlung 1832, 22. Sitzung v. 28.6.1832, 856 Ziff.  1) bis 3) zum Vorrang des Bundesrechts, 857 (Art. II): „[…] werden Fälle, in welchen ständische Versammlungen die Bewilligung der zur Führung der Regierung erforderlichen Steuern auf eine mittelbare oder unmittelbare Weise durch die Durchsetzung anderweiter Wünsche und Anträge bedingen wollte, unter die­ jenigen Fälle zu zählen seyn, auf welche die Art.  25 und 26 der Schlußacte in Anwendung gebracht werden müßten.“ 121   Vgl. nur Hans-Christof Kraus, Ursprung und Genese der „Lückentheorie“ im preussischen Verfassungskonflikt, Der Staat 29 (1990), 209 (212 f.). 122   Bezeichnung von Matthias Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2010.

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wendbarkeit, Mitwirkungsrechte der Volksvertretung, Rang- und Kollisionsfragen und das Problem des „Über die Bande“-Spielens, wie es am Beispiel Baden für die liberalen süddeutschen Staaten deutlich wurde.

d)  Zwischenfazit: Identitätszumutungen offener und verdeckter Überstaatlichkeit Die Beispiele zeigen, dass Überstaatlichkeit eine abstrakte Identitätszumutung mittransportiert, weil sie das theoretisch gedachte, geschlossen-souveräne staatliche Grundmodell123 dauerhaft auf bricht und fremdem Recht Anwendung und gegebenenfalls Vorrang eröffnet. Mit der Überwölbung verschiedener politischer Räume wird zwar ein personales und materielles „Näherkommen“ begünstigt, das Kooperation und Verflechtungsstrukturen intensivieren kann, aber in seiner grenzüberschreitenden Dimension auch identitätsgefährdend erscheinen kann.124 Die Rechts- und Herrschaftsstruktur wird jedenfalls aufgrund ihrer Mehrstufigkeit und Abstraktheit normativ fragil „geboren“: Trotz ihrer Legalität ist sie anfälliger für politisch verursachte wie behauptete Legitimitätsdefizite. Das kann durch ihre systematisch-planmäßige Nutzung zu politischer und rechtlicher Ausgrenzung geschehen, wie die Überstaatlichkeit im deutschen Konstitutionalismus zeigt. Sie war für die zeitgenössische Staatsrechtswissenschaft deutlich sichtbar, mit erheblichen Machtmitteln ausgestattet und bewusst Demokratieabstinent. Der Deutsche Bund zerstörte sich (neben dem destruktiven Gegensatz des preußisch-österreichischen Dualismus) legtimitätstheoretisch auch durch die Nichtzulassung eines institutionellen volksvertretenden Antipoden auf Bundesebene.125 Bevor der Blick auf die Europäische Union gerichtet wird, soll dem weiteren Schicksal überstaatlicher Konstruktionselemente nachgegangen werden. Die Geschichte der Ablösung multinationaler Dynastien durch den (werdenden) Nationalstaat erzählt nicht nur von der unbestrittenen Modernität und Kraft der Nation126,  Dazu Schorkopf (Fn.  60), 3.   Mit Blick auf die Europäische Union Hermann Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994, 63. 125  Die Überlegung einiger Mittelstaaten nach 1848/49, die Bundesverfassung unter Einsetzung eines Bundesgerichts und einer Volksvertretung auf Bundesebene zu reformieren, wurde von Österreich und Preußen auf der Dresdener Konferenz 1850/51 verworfen; näher Jürgen Müller, „… das dringendste Bedürfniß für Deutschland“, Die neue Bundesexekutive und ihre Kompetenzen, in: Flöter/ Wertenberg (Fn.  85), 161 (166 f.); Manfred Botzenhart, Reform des Bundes oder Rückkehr zur alten „Polizei-Anstalt“?, Das Problem der Nationalvertretung beim Deutschen Bund, in: Flöter/Wertenberg (Fn.  85), 177 (177–191); in der Instruktion des bayerischen Königs Maximilian II. an seinen Ministerpräsidenten Ludwig von der Pfordten zur Konferenz äußerte dieser: „Was die Volksvertretung beym Bund betrifft, so begreife ich, daß Sie dieselbe beantragen mußten, um Gottes Willen aber betreiben Sie diese nicht zu eifrig, weder bey den Mittel- noch den Großmächten, ich halte sie für sehr gefährlich, man mag sie in was immer für heilsame Schranken eindämmen, sie werden nicht haltbar sich erweisen.“ – zit. n. Jonas Flöter, Staatenbund oder Bundesstaat, Die deutschlandpolitischen Zielperspektiven der mittelstaatlichen Königreiche 1849/50, in: Flöter/Wertenberg (Fn.  85), 83 (114 a.E., Herv. i. Orig.). 126   Zur Unterscheidung von Nationalismus als Universalisierungsleistung und moderner Erscheinung kultureller Integration im Gegensatz zu ethnischem Partikularismus Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus, 2001, 106: „Der echte Nationalismus ist kein Rückfall in historisch-organische Verbindungen, sondern gehört dem Auf klärungsdenken des späten 18. Jahrhunderts an und geht mit der Egalisierung aller Staatsangehörigen einher.“; Gerd Roellecke, Herrschaft und Nation, Zur Entstehung des Nationalismus, in: Orsi u.a. (Hrsg.), Nation, Nationalstaat, Nationalismus, 1994, 16 (31): „Insofern 123 124

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sondern auch ihres destruktiven Potenzials beim Zugriff auf staatlich organisierte Ressourcen und Machtmittel unter Leitung einer auf Beherrschung und Ausgrenzung ausgerichteten Machtpolitik. Überstaatliche Fragmente wichen hier einer Schließung oder wurden aufgrund ihrer diskriminierenden Bedingungen nicht akzeptiert. Doch zeigt dieser kurze Überblick auch: Versucht wurde ihre Platzierung immer, sowohl mit dem Motiv des guten Willens wie politischem Kalkül.

e)  Das Bismarckreich als Kontaktunterbrecher Das Deutsche Kaiserreich ist ein Beleg für juristische Trennungsversuche der Überstaatlichkeit vom Staatsrecht, die retrospektiv durch dessen Einordnung als Bundesstaat leicht übersehen werden. Dabei war es durchsetzt von monarchischer Geheimdiplomatie127 und nach der Auffassung der Verfassunggeber und ihres „Gründers“ ein persönlicher Fürstenbund mit einem Parlament ihrer Gnaden, das jederzeit durch eine Ersetzung des Bündnisses ohne Reichstag neu gegründet werden könne.128 Diese Auffassung deckte nicht nur der Wortlaut der Präambel der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der späteren Reichsverfassung, sondern auch der historische Entstehungsprozess,129 dem die Staatsrechtslehre kontrafaktisch und zur semantischen Abgrenzung zwischen Völkerrecht und Staatsrecht eine „Tat der Nation“ gegenüberstellte.130 Die Diskrepanz zwischen Entstehungsgeschichte und normativer Grundlehaben Individualisierung und Gleichheit den Nationalstaat erzwungen.“; zutreffende Einordnung des politischen Konzepts der Nation bei Herfried Münkler/Marina Münkler, Die neuen Deutschen, 32016, 290: „Zweifellos kann man die Auffassung vertreten, die Vorstellung der Nation sei in der Welt des 21. Jahrhunderts antiquiert, und deswegen dafür optieren, den Nationsbegriff völlig aufzugeben und nur mit dem Begriffspaar Staat und Gesellschaft zu operieren. Das hat aber zwei bedenkenswerte Konsequenzen: Erstens überlässt man dann das stark emotional besetzte Nationskonzept anderen, die es politisch nutzen; zweitens verzichtet man auf eine politische Kategorie, die wie kaum eine andere in der Lage ist, Solidarität und gegenseitige Hilfsbereitschaft zu mobilisieren.“ 127   Näher dazu sogleich mit einem Beispiel. 128   Egmont Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II., 1929, 42–47; Bismarck verwies darauf, Gründungssubjekte des Reichs seien gemäß der Präambel der Verfassung nicht die Staaten, sondern die Fürsten – abweichenden Meinungen von „Privatgelehrten“ (Paul Laband wird wörtlich genannt), die versuchen die Verfassung authentisch auszulegen, sei entgegenzutreten, vgl. Preußisches Staatsministerium, Protokoll der Ministerratssitzung v. 2. März 1890, abgedr. bei Zechlin, ebd., 178 (180); vgl. auch ebd., 25: „Die Leute vergessen, dass dem jetzt bestehenden Bunde dasselbe passieren kann, was dem Frankfurter Bunde 1866 passiert ist: die Fürsten können von ihm zurücktreten und einen neuen bilden ohne den Reichstag.“; instruktiv dazu, welche Rolle die Zusammensetzung des Reichstags für die fürstliche Politik spielte John C.G. Röhl, Staatsstreichplan oder Staatsstreichbereitschaft?, Bismarcks Politik in der Entlassungskrise, HZ 203 (1966), 610–624. 129   Die Präambel der Norddeutschen Bundesverfassung enthält die Formulierungen (BGBl. 1867, 2): „Seine Majestät [Aufzählung der Monarchen und Senate der freien Städte] schließen einen ewigen Bund […]. […] Dieser Bund wird den Namen des Norddeutschen Bundes führen und wird nachstehende Verfassung haben.“ (eig. Herv.); die spätere Reichsverfassung enthält entsprechende Formulierungen; deutlich hierzu Reiner Marcowitz, Der deutsche Dualismus und die europäische Pentarchie, Die Stellung der Großmächte zur Dresdener Konferenz 1850/51, in Flöter/Wertenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz 1850/51, Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, 2002, 129 (157). 130  Vgl. Jochen von Bernstorff, Innen und Außen in der Staats- und Völkerrechtswissenschaft des deutschen Kaiserreiches, Der Staat, Beiheft 23 (2015), 137 (139); mit dem Blick der Geschichtswissenschaft

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gung mag mit Blick auf die Grundgesetzentstehung kein Novum sein. Sie muss hier aber betont werden, weil der oberflächliche Blick auf die Staatsstruktur sonst den Blick darauf verstellt, dass praktisch auch nach 1871 kein voll konstitutionalisierter Bundesstaat vorlag. So führte anfangs der Bundesrat als legislativ-gestalterisches Hauptorgan die monarchische Prärogative der Bundesversammlung fort. Hinter der föderalen Funktion desselben verbarg sich eine institutionelle Sicherung parlamentarisch nicht verantwortlicher dynastischer Gestaltungsmacht, die erst in der späteren Staatspraxis faktisch an Bedeutung verlor.131 Die Verfassung des Norddeutschen Bundes übertrug dem Bundesrat als institutionellem Erben der Bundesversammlung ausdrücklich deren Stimmenverteilung (Art.  6 BV 1867).132 Bis zum Ausbau des Reichsgerichtswesens nahm er auch die zuvor der Bundesversammlung anvertrauten zwischenstaatlichen Streitschlichtungsfunktionen wahr (Austrägalgerichtsbarkeit).133 Die Einzelstaaten waren zudem in recht erheblichem Umfang weiter zu selbständigem Auftreten im Völkerrechtsverkehr berechtigt134 und konnten ihren Staatsangehörigen in Sachbereichen, in denen das Reich nicht kompetent war, sogar weiter diplomatischen Schutz gegenüber anderen Gliedstaaten gewähren.135 Ebenso waren völkerrechtliche Übereinkünfte zwischen Reich und Einzelstaaten neben der Verfassung weiter zulässig.136 Der Wechsel von exklusiv-monarchischer Politikgestaltung zu parlamentarischer Mitgestaltung gestaltete sich zudem fragil und brauchte Zeit.137 Noch wähwird deutlich, dass es sich um einen „Geschichtsbruch“ handelt, in dem Nation und Monarchie sich gegenseitig stabilisierten, vgl. Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas, Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert, 2013, 14: „Das Überleben der Fürstenstaaten half hinweg über den Geschichtsbruch, den dieser Zentralstaat bedeutet. Die Fürsten verbanden mit einer Vergangenheit, gegen die das Neue geschaffen wurde; sie trugen dazu bei, die jahrhundertelange deutsche Tradition der Vielstaatlichkeit, die nun endet, in den föderalen Nationalstaat zu überführen.“ 131  Hierzu Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, 259–263; Stefan Oeter, Integration und Subidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, 30; dazu, dass der Bedeutungsschwund des Bundesrates keine Abnahme föderaler Entscheidungsstrukturen, die sich informell konstituierten, nach sich zog Christian Heinrich-Franke, Wandlungen föderalen Regierens im Deutschen Kaiserreich. Die Entscheidungsfindung im Fall der Sozialgesetzgebung, HZ 293 (2011) 373 (374, 379 a.E.-382) und Gerhard Lehmbruch, Der Entwicklungspfad des deutschen Bundesstaats: Weichenstellungen und Krisen, in: Ambrosius u.a. (Fn.  20), 327 (343 f.). 132   BGBl. 1867, 2; hierzu Max von Seydel, Der deutsche Bundesrath, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 3 (1879), 1 (10). 133  Näher Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Erster Band, 1876, 268–270. 134   Dazu, dass auch das einheitliche Auftreten nach Außen in Staatspraxis und Rechtsdogmatik Zeit brauchte und den Einzelstaaten weiter erhebliche Rechte zustanden Frank Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, 2017, §  10 Rn.  14, 17 f. m. w. Nachw.; zu Herkommen und (gescheitertem) Reaktivierungsversuch der Austrägalgerichtsbarkeit durch Paul Laband und Wilhelm II. im Lip­ pischen Erbfolgestreit erhellend Jakob Zollmann, Austrägalgerichtsbarkeit – Interstate Dispute Settlement in a Confederate Arrangement, 1815 to 1866, Rg 24 (2016), 74 (93–98). 135   Laband (Fn.  133), 157 f. 136   Karl Windisch, Die völkerrechtliche Stellung der deutschen Einzelstaaten, 1912, 78 f. (79 Fn.  1 mit Beispielen) und Adolf Arndt, Verfassung des Deutschen Reichs, 51913, Art.  11 RV 1871 Anm.  5 (132) jew. m. w. Nachw. 137   Zur „schleichenden Parlamentarisierung“ Stolleis Bd.  2 (Fn.  109), 455, 457 f.; Wolfgang J. Mommsen bezeichnete die Verfassung des deutschen Kaiserreichs legitimatorisch als „dilatorischen Herrschaftskompromiß zwischen den traditionellen Herrschaftseliten und dem aufsteigenden Bürgertum“, der sich mit der politischen Mobilisierung neuer Sozialschichten als zunehmend brüchig erwies, vgl.

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rend der Gesetzesberatungen zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 (RuStAG) schaffte es die „Reichsleitung“, sich gegen das von der Mehrheit des Reichstags getragene Verlangen, ius soli-Elemente in ein reformiertes Staatsangehörigkeitsrecht aufzunehmen, durchzusetzen, indem mit dem Abbruch des gesamten Gesetzgebungsverfahrens, verfassungsdogmatisch mit der Nichtzustimmung des Bundesrats (Art.  5 Abs.  1 RV 1871), gedroht wurde.138 Den Verhandlungen des Friedens von Brest-Litowsk wohnte 1918 neben der Reichsdelegation ein eigener bayerischer Gesandter bei, was auf ein unveröffentlichtes Abkommen zwischen Bayern und Preußen (nicht: dem Reich) aus Zeiten des Beitritts Bayerns zum Norddeutschen Bund139 entgegen der Reichsverfassung vereinbart wurde. Viktor Bruns kam in einer kleinen Monographie zum Ergebnis der Verfassungs- und Völkerrechtswidrigkeit dieser letzten Reste monarchischer Geheimdiplomatie.140 Hieraus einen für die Europäische Union letztlich holprigen, aber linearen Pfad zu gelingender Bundesstaatlichkeit zu deduzieren, übersähe die erheblichen sprachlichen, kulturellen und religiösen Differenzen, die schon im Kaiserreich nicht gering waren.141 Aus dem Blickwinkel ehemaliger monarchischer Überstaatlichkeit, die mit der Reichsverfassung behutsam abgetragen wurde, lassen sich aber vergleichende institutions- und rechtssoziologische Parallelen zum heutigen organisierten Europa ziehen.142 Denn auch hier musste mit der Gemeinschaftsgründung eine „effektive Partnerschaft ohne Souveränitätsverlust“ verwirklicht werden, die „für Bismarck wie für Jean Monnet ähnlich“ aussah: Eine gemeinsam organisierte Entscheidungsfindung und Gewährleistung der Effektivität unter Belassung des Delegatars in einer Abhängigkeitsstellung zu den Delegierenden.143 Paul Laband sah den spezifischen Kontrakders., Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskompromiß, in: Otto Pflanze (Hrsg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, 1983, 195 (212 f.); Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung, HZ 272 (2001), 623 (640 ff., insbes. 649–651 u. ff.) arbeitet die Blockade der Parlamentarisierung der Reichsleitung durch die sie überholende Demokratisierung heraus und zeigt die Begrenztheit der tatsächlichen Auswirkungen der Parlamentarisierung auf („labiles Konsensgefüge“, 659). 138  Näher Ferdinand Weber, Staatsangehörigkeit und Status, Statik und Dynamik politischer Gemeinschaftsbildung, 2018, 111–114 (Diss. Göttingen 2017, i.V.). 139  Zum Kontinuitätsstreit zwischen Norddeutschem Bund und Deutschem Kaiserreich oben Fn.  103. 140   Viktor Bruns, Sondervertretung deutscher Bundesstaaten bei den Friedensverhandlungen, 1918, 1 f., 64–68. 141   Hier wären die polnische und dänische Minderheitenpolitik („Germanisierung“) oder der religiöse Kulturkampf anzuführen, doch auch die Bevölkerungszusammensetzung und Spracheinheit insgesamt: Eine Volkszählung ergab 1910 neben 58,952 Mio. deutschsprachigen 5,859 Mio. Menschen, die belgisch, dänisch, niederländisch, polnisch und tschechisch sprachen, davon waren 1,260 Mio. Ausländer und 4,699 Mio. deutsche Staatsangehörige, wobei von letzteren nur 250.000 (auch) deutsch sprechen konnten (!), vgl. die Angaben bei Erich Röper, Staatsangehörigkeit – Staatsbürgerschaft, KJ 1999, 543 (546). 142   M. Rainer Lepsius, Der europäische Nationalstaat: Erbe und Zukunft, in: ders., Interessen, Ideen, Institutionen, 1990, 256 (265): „[…] die Souveränität liegt bei den vertragschließenden Staaten, nicht beim Volk, dennoch wählt das Volk ein Parlament, das auf Vorschläge und Haushaltsrechte beschränkt ist. Das Reich hatte eine sachlich eingeschränkte Kompetenz und war von den Finanzbeiträgen der Länder abhängig, es bildete aber eine Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft. Dem Deutschen Reich standen darüber hinaus noch weitere Funktionen in der Militär- und Außenpolitik zu, die die Europäische Gemeinschaft noch nicht hat.“ 143  Erhellend Karl Eckart Heinz, Das Bismarck-Reich als Staatengemeinschaft – ein Beitrag zu den

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tualismus dieses Gebildes aus der Nähe nüchtern: „Der Kaiser (Reichskanzler) und der Reichstag verhandeln über die Reichsgesetze wie die Kontrahenten eines Vertrages, wie zwei Mächte.“144 Setzt man die bundesstaatliche Brille ab, wird die erst noch einzuhegende, fortgetragene überstaatliche Dimension deutlich. Der Übergang zum Bundesstaat war weniger abrupter Formwechsel, als vertraglich begonnener und durch Staatspraxis und Rechtsdogmatik begleiteter Prozess. So spielte exemplarisch – vor Erlass harmonisierender Reichsgesetzgebung – die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit und der Reichweite des Gleichstellungbefehls aus dem verfassungsrechtlich verankerten gemeinsamen Indigenat (Art.  3 Abs.  1 BV 1867/RV 1871) im gliedstaatlichen Recht eine ähnlich umstrittene Rolle in Literatur und Staatspraxis145 wie es heute die Auslegung des Gewährleistungsumfangs der Unionsbürgerschaft aus Art.  20 AEUV im Staatsrecht der Mitgliedstaaten jenseits sekundärrechtlicher Konkretisierungen tut. Damit erhält zugleich die heute vermehrt kritisch, da als Abschließung aufgefasste These Heinrich Triepels vom klassischen Dualismus146 eine neue Tiefe. Triepels Konzept ist aus dem Blickwinkel der Globalisierungsgeschichte als Abgrenzungsreaktion auf ökonomische Globalisierungsprozesse und die Notwendigkeit zunehmender völkerrechtlicher Koordination beschrieben worden, als Anliegen einer Strömung der Staatsrechtslehre, diese Prozesse rechtlich kontrollierbar und ordnungsfähig zu machen. Ihr Blickwinkel ist damit auf zunehmende Interdependenz im allgemeinen Völkerrechtsverkehr gerichtet.147 Aus der hier entwickelten Perspektive ist es zuLehren von Bundesstaat und Staatengemeinschaft, StWStP 1994, 77 (86): „Die Lösung des Problems, effektive Partnerschaft ohne Souveränitätsverlust zu verwirklichen, konnte deshalb für Bismarck wie für Jean Monnet ähnlich aussehen: Vereinbarung eines Kollektivs mit organisierter Entscheidungsfindung – hierdurch Gewährleistung der Effektivität, im Bismarck-Reich durch die Konkurrenz von Bundesrat und Reichstag, in den Europäischen Gemeinschaften zumeist durch die Konkurrenz von Kommission und Rat – und eine Gemeinsamkeit der Ausübung staatlicher Kompetenzen, ohne daß staatliche Aufgaben und Befugnisse etwa an das Kollektiv abgetreten werden. Letzteres ist möglich im Wege der Delegation von Zuständigkeiten, wenn der Delegatar in einer Abhängigkeitsstellung zu dem Delegierenden steht; dies ist typischerweise in Organisationszusammenhängen der Fall, trifft aber auch auf Gemeinschaftsverhältnisse zu, wenn die Delegierenden zugleich die Begründer des Kollektivs und dessen Mitglieder sind, in deren Hand das Schicksal des Kollektivs – ungeachtet vertraglicher „Ewigkeits“-Verpflichtungen – liegt und hierdurch eine Kontroll- und Zwangsmöglichkeit gegenüber dem Delegatar gegeben ist.“ 144   Paul Laband, Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, JöR 1 (1907), 1 (28); zur tatsächlichen Konzentration administrativer Macht im Kontrast zum Text der RV 1871 Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Stürmer (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland, 1970, 119 (124 f.); Haltern, Europarecht Bd.  I, 32017, Rn.  743 m. Fn.  223 vergleicht den Reichstag insofern mit dem Europäischen Parlament, als dieses sich wie jener nach wie vor als institutionelle Opposition zum Exekutivföderalismus begreife. 145   Weber (Fn.  138), 98 f. m. w. Nachw. 146   Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, 111. 147   Zwischen der Niederlage Napoleons 1814 und dem Ersten Weltkrieg vervierzigfachte sich das europäische Handelsvolumen, während es sich im Jahrhundert zuvor lediglich verdoppelte, vgl. Richard E. Baldwin/Philippe Martin, Two Waves of Globalization: Superficial Similarities, Fundamental Differences, in: Horst Siebert (Hrsg.), Globalization and Labour, 1999, 5 (22); aus europäischer Perspektive verließen im 19. Jahrhundert (bis zum Ersten Weltkrieg) 45 Millionen Menschen den europäischen Kontinent, zumeist in die Vereinigten Staaten, der Großteil aus Großbritannien, Irland und Deutschland – die innereuropäischen Wanderungsbewegungen eingerechnet, waren 85 Prozent der Bevölkerung Teil einer globalen Migrationsbewegung, vgl. die Angaben bei Reinhard Marx, Kommentar zum

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gleich der rechtsdogmatische Versuch, überkommene monarchische Übungen aus der Zeit des Deutschen Bundes – Bundesbeschlüsse und diplomatische Verständigungen durch Anweisungen und „Edikte“ direkt an die monarchische Administration ohne parlamentarischen Beteiligungs- und Transformationsakt anzuwenden – abzustellen.148 Die angesprochenen (oben, II. 2. c.), überstaatlich ausgerichteten Verfassungsnormen aus der Zeit des Deutschen Bundes begriff Triepel ausdrücklich als dogmatisch „unmöglichen Inhalt“ einer Verfassung, weil eine klare Ebenentrennung fehle.149 Gerade bei einer zunehmenden gesetzesersetzenden Funktion von Völkervertragsrecht aufgrund steigenden zwischenstaatlichen Regulierungsbedarfs ist der Triepel’sche Dualismus damit auch gegen eine überkommene monarchische Übung gerichtet. Triepel kritisierte die im Kaiserreich immer noch bestehende, von Preußen ausgehende Publikationspraxis und die Annahme des Reichsgerichts, die Völkerrechtsnormen können unmittelbar angewandt werden, deutlich.150 Damit zielte die dualistische Auffassung ihrer Wirkung nach auch auf eine Aktivierung des neben Kaiser und Bundesrat eingerichteten Verfassungsorgans, des Reichstags, weil ihre Konsequenz, die gesetzliche Transformation der Verträge, zu einem Mehr gegenüber den in der Reichsverfassung vorgesehenen Mitwirkungsrechten des Reichstags führte.151 Dahinter stand zwar gerade kein durchaus denkbares parlamentsfreundliches Motiv,152 sondern nur eines der Ebenen- und Formenklarheit, der kontrollierten Rezeption. Das bedeutete aber auch den Ausschluss überstaatlicher Mechanismen. Den stark monarchisch gesinnten Staatsrechtslehrern ging es ohnehin nicht um eine Staatsangehörigkeitsrecht, 1997, Vorbem. zu §  1 RuStAG, Rn.  28; vgl. auch v. Bernstorff (Fn.  130), 137 (137 f.). 148   Vgl. auch Bardo Fassbender, Heinrich Triepel und die Anfänge der dualistischen Sicht von „Völkerrecht und Landesrecht“ im späten 19. Jahrhundert, in: Gschwend u.a. (Hrsg.), Festgabe Schweizerischer Juristentag 2015 in St. Gallen, 2015, 449 (462 a.E. f.). 149   Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, 22 mit Fn.  2 , dort u.a. mit dem Verweis auf das „Landesgrundgesetz“ des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen aus dem Jahr 1857, dessen §  3 bestimmte: „Das Verhältnis des Fürstenthums zum deutschen Bunde bildet einen Theil seiner Verfassung.“ 150   Triepel (Fn.  149), 389 f. m. Nachw. zu weiterer Kritik aus der Lit.; v. Bernstorff (Fn.  130), 137 (142 f.). 151   Art.  11 Abs.  3 RV 1871 beschränkte die Beteiligung des Reichstags bei Gegenständen, die sich auf die Reichsgesetzgebung beziehen auf die „Genehmigung“ des völkerrechtlich abgeschlossenen Vertrags zur Herbeiführung seiner staatsrechtlichen Geltung, wogegen die „Zustimmung“ des Bundesrates nach einigen Stimmen schon die völkerrechtliche Wirksamkeit betreffen sollte; die Norm regelte jedenfalls nur die partielle Bindung des Kaisers an den Willen anderer Staatsorgane, nicht die Form dieser Willensäußerungen; zu diesem in der Lit. durchaus str. Bereich Adolf Arndt, Verfassung des Deutschen Reichs, 51913, Art.  11 RV 1871 Anm.  12 f. (135 f.) m. w. Nachw.; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Zweiter Band, 1878, 170 Fn.  1; zu praktischen Problemen anschaulich Paul Heilborn, Der Staatsvertrag als Staatsgesetz, AöR 12 (1897), 141 (169 f.); in den Verfassungsberatungen kam ein Änderungsantrag auf, wonach betreffende Verträge „auch den Formen der Gesetzgebung unterliegen sollen“ – eine starke Ähnlichkeit zu Art.  59 Abs.  2 Satz  1 GG, der finale Wortlaut war jedoch der abgeschwächte oben dargestellte, vgl. die kurze Erwähnung zur Genese bei Heilborn, ebd., 141 (159 f.) und Laband, ebd., 164 Fn.  1, 175–179. 152   Triepel selbst hielt eine weitergehende inhaltliche Beteiligung des Reichstags an der völkerrechtlichen Vertragspraxis für eine zu starke Behinderung der Exekutive; zu einer möglichen demokratischen Implikation vgl. die Diskussion zwischen Werner Heun und Jochen von Bernstorff bei v. Bernstorff (Fn.  130), 137 (153 f., Aussprache); damit ist keine Aussage über den demokratischen Mehrwert eines (gemäßigt) dualistischen Völkerrechtsverständnisses in einer parlamentarischen Demokratie getroffen.

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rechtsdogmatisch angeschobene Stütze für die Demokratisierung der auswärtigen Gewalt.153 Der „neue Fürstenbund“ geriet schließlich zu einer Nationalstaatsbildung, die politische Massenmobilisierung und eine Kappung überstaatlicher monarchischer Fragmente durch verfassungsrechtliche Vorgaben und rechtswissenschaftliche Begleitung nach sich zog. Diese Reduktion des monarchischen Modus überstaatlichen Regierens ist eine positive Folge der Nationalstaatsbildung und des wachsenden Partizipationsverlangens der Bürger. Damit trifft der Befund, dass der Nationalismus um 1900 aufgrund der internationalen Verkehrsströme, Kommunikation und Finanzen bereits ein wieder schwindendes gesellschaftliches Bindemittel war, die Sache nicht.154 Die Nation ist unstreitig ein Produkt, das aus technischem Fortschritt und der Möglichkeit verallgemeinerter Kommunikation erst erwuchs.155 Dass sich dieser Zusammenhang bei einer Zunahme anders gelagerter grenzüberschreitender Verflechtung auflöst, erscheint auf den ersten Blick nicht unplausibel, entspricht aber schon nicht seiner Genese und übersieht, dass die Auflösung kleinteiliger dynastischer Grenzen sich vor dem Hintergrund eines sprachlich und kulturell relativ homogenen Raums abspielte. Naheliegender dürfte eine Steigerung des semantischen Kompensationsakts sein, um durch Abgrenzung und Identitätsbildung politische Orientierung zu verstetigen156 – ob man von Nation, partikularer/staatlicher Gesellschaft oder politischer Gemeinschaft spricht, ist dann eine Frage des Geschmacks. Dass der Maßstab der monarchischen Exekutive im Kontext nicht mehr dynastischer, sondern nationalstaatlicher Koordination und Konkurrenz nicht mehr auf bloße Besitzerweiterungen des einen oder anderen Herrscherhauses, sondern breitere Machtpolitik ausgerichtet war, unterstützt diesen Befund,157 auch wenn innerstaatlich-dynastische Ausgleichszwänge bis zum 153  Nach Philipp Zorn, Das Deutsche Staatsrecht, Erster Band: Das Verfassungsrecht, 21895, 495, 497–499 haben zwischenstaatliche Verträge keinen juristischen, sondern nur moralischen Charakter, ersteren erhalten sie erst durch den Transformationsakt in staatliches Recht; nach Außen handelt dabei ausschließlich die monarchische Exekutive. Der Auffassung vom „äußeren Staatsrecht“ ging es im Ergebnis weder um Demokratisierung noch eine völkerrechtsfreundliche Rechtshaltung, sondern die Stabilisierung monarchischer Herrschaft. 154   So die These von Stolleis Bd.  2 (Fn.  109), 458. 155  Treffend Dieter Langewiesche, ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: ders./Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation, Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, 2000, 9 (29): „Nation als gesellschaftlich umfassender Kommunikationsprozeß, in dem politische und gesellschaftliche Werte verallgemeinert werden können, und Nation als Emotionsgemeinschaft der Vielen wird erst seit dem 19. Jahrhundert sozialgeschichtlich möglich.“ 156   So verstanden bei Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, 2006, 20–22, 26 f., 65; Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, 2016, 33; anders dann auch z.T. Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, 50: Die zunehmend zum internationalen Vergleich drängende Industrialisierung stärkte auch den Nationalismus (nicht: den Nationalstaat!). 157   Exemplarisch aus dem Jahr 1905: Reichskanzler Bernhard von Bülow bekundete angesichts eines möglichen Zerfalls Österreich-Ungarns in einem an den deutschen Botschafter in Washington gerichteten Brief, das Deutsche Reich habe aufgrund der überwiegend katholischen Bevölkerung kein Interesse an einer Einverleibung der deutschen Gebiete der Habsburgermonarchie (Brief des Reichskanzlers Graf von Bülow an den Botschafter in Washington Freiherrn Speck von Sternberg vom 14. April 1905, Polit.  A rchiv des Auswärtigen Amts: Akte betr. die allgemeine österreichische Politik, auch im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung Österreich-Ungarns, Österreich, Nr.  103, Geheim, Bd.  1, zit. nach

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Ende des Kaiserreichs nicht vollständig auzuräumen waren, wie Aufteilungsplänen im Rahmen siegreicher deutscher Nachkriegsüberlegungen darlegen158.

f)  Die Weimarer Republik als Nichtzugelassene Mit dem politischen Zusammenbruch der kollidierenden Machtansprüche im Ersten Weltkrieg und dem Untergang monarchischer Herrschaft in Deutschland stellte sich für die Staatengemeinschaft, wie 1814/15, die Frage nach einer institutionalisierten Sicherung des Friedens.159 Versailler Vertrag und Völkerbund eröffnen hier interessante Perspektiven nicht nur zwischen- sondern überstaatlicher Absicherung, die an ihrer politischen Ungleichgewichtung scheiterten. Dabei ist weniger die erstmalige Einrichtung einer völkerrechtlichen Öffnungsklausel (Art.  4 WRV) von Interesse. Art.  4 WRV betraf mehr eine unilaterale staatliche Rezeptionsentscheidung.160 Hier soll der verfassungsrechtliche Zusammenhang zwischen Weimarer Reichsverfassung und Völkerbund – von dem das Deutsche Reich zunächst ausgeschlossen war (Teil 1, Art.  1 Versailler Vertrag mit Anlage161) und dem es erst 1926 beitrat – in den Vordergrund treten. Denn an dieser zentralen verfassungsrechtlichen Programmierung des Vorrangs fremden Rechts waren (wieder) andere Staaten neben der deutschen verfassunggebenden Gewalt beteiligt. Artikel 178 Abs.  2 Satz  2 WRV ließ die aus dem Versailler Vertrag eingegangenen Verpflichtungen mit Blick auf Verfassungsrecht unberührt.162 Die Norm etablierte somit einen Vorrang für einen spezifischen völkerrechtlichen Vertrag. Diese externe Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, 1961, 91–93): „Wir erhielten dadurch einen Zuwachs von etwa 15 Millionen Katholiken. Der Protestantismus käme also in die Minderheit. Schon heute ist im Reichstag das katholische Zentrum in vielen Fällen die ausschlaggebende Partei. […] Die Rückkehr zu ähnlichen Zuständen wie die des österreichisch-deutschen Bundes von 1815–1866 ist ein abschreckender Gedanke. Während jenes Zeitabschnitts war Deutschland ein politisch bedeutungsloser geographischer Begriff und lieferte damit den Beweis, daß für die Machtstellung eines Staatswesens weder die Bevölkerungszahl noch die Spracheinheit ausschlaggebend ist, sondern die Übereinstimmung oder Divergenz der nationalen Bestrebungen und Ziele.“; zum fortbestehenden Machtdenken in der Formel des „europäischen Gleichgewichts“ mit Blick auf diplomatische Kommunikation vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs Rainer F. Schmidt, „Revanche pour Sedan“ – Frankreich und der Schlieffenplan, HZ 303 (2016), 393 (402–406). 158   Dies zeigt die erhellende Abhandlung von Herfried Münkler, Fürstenbund und Bundesstaat. Der Erste Weltkrieg als (letzter) Reichseinigungskrieg, in: Hausteiner (Fn.  21), 181 (190–198), wonach sich die Kriegsbegeisterung 1914 unter Hinzuziehung der normativen Herrschaftsstruktur und dem sozialgeschichtlichen Kontext plausibel als Machtkampf zwischen monarchischem Administrativstaat und partizipationswilligem Bürgertum begreifen lässt (202–204). 159   Für den 1914 vorgelegten Entwurf Franz von Liszts für einen regional-europäischen Staatenverband, der sich auch rechtlich vom allgemeinen Völkerrecht abheben sollte vgl. Schorkopf (Fn.  134), §  10 Rn.  25 (wobei v. Liszt vom Erreichen deutscher Kriegsziele ausging). 160   Zum Entstehungskontext und Rezeption von Art.  4 WRV ausf. Schorkopf (Fn.  134), §  10 Rn.  32– 34. 161   RGBl. 1919, 701 (717 und 747). 162   RGBl. 1919, 1383; Art.  178 Abs.  2 WRV: „Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrags werden durch die Verfassung nicht berührt.“; ausf. Herbert Bursche, Die Bedeutung des Artikels 178 Absatz 2 Satz  2 der Reichsverfassung für das Verhältnis des Versailler Vertrages zur Reichsverfassung, 1932, passim, insbes. 11 f., 32 f.

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Setzung führte zu heftigen diplomatischen, rechtlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen, weil eine einseitige überstaatliche Bindung des deutschen Verfassungsrechts politisch nicht akzeptiert wurde. Der konkrete Anlass ergab sich aus der Kollision mit Art.  61 Abs.  2 WRV163. Auslöser ist der Wegfall der monarchischen, preußisch-protestantisch imprägnierten politischen Herrschaft auf der einen und das Ende der österreichisch-katholischen Monarchie sowie ihr territorialer Zerfall auf der anderen Seite. Diese politischen Umbrüche lösten anhaltende Zusammenschlussbestrebungen aus, die 1848/49 und 1866 noch an politisch-konfessionellen Gegensätzen scheiterten.164 Der Versailler Vertrag statuierte aus strategischen Gründen („europäisches Gleichgewicht“) ein Zusammenschlussverbot (Art.  80 VV)165, das über Art.  178 Abs.  2 Satz  2 WRV normativ Vorrang vor Art.  61 Abs.  2 WRV beanspruchte. Diesen überstaatlichen Kontext verstärkt der Umstand, dass die Versailler Friedensverhandlungen und die Beratungen der verfassungsgebenden Nationalversammlung parallel stattfanden.166 Das oben beschriebene verfassungsrechtliche Patt veranlasste die Entente unter dem Vorsitz von Georges Clemenceau zu einem Notenwechsel mit der deutschen Delegation in Versailles unter dem Vorsitz von Kurt Freiherr von Lersner, in dem sie die Unterzeichnung eines Protokolls forderte, mit dem die deutsche Regierung erklären sollte, dass Art.  61 Abs.  2 WRV ungültig sei. Nach anfänglicher Weigerung wurde für den Fall der Nichtbefolgung eine Ausdehnung der Besetzung des rechten Rheinufers angekündigt.167 Die verfassunggebende Nationalversammlung billigte schließlich ein entsprechendes Protokoll mittels Beschluss vom 19. Dezember 1919.168 Allerdings veröffentlichte die deutsche Regierung den Beschluss nie im Reichsgesetzblatt, weshalb die Staatsrechtslehre der Auffassung war, dass Art.  61 Abs.  2 WRV weiter Geltung beanspruchte.169 Die über vier Notenwechsel reichende Korrespondenz dokumentiert so nicht nur einen juristischen Auslegungsstreit zwischen Diplomaten und Regierungsvertretern über das Verhältnis von Verfassungsbestimmungen und friedensvertraglichen Normen des Völkerrechts, sondern 163   Art.  61 Abs.  2 WRV im Wortlaut: „Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme.“ 164   Noch 1932 wurde dem österreichischen Kanzler Dollfuß von den Alliierten ein Sanierungskredit über 300 Millionen Schilling nur nach Abnahme des Versprechens gewährt, das Betreiben des Zusammenschlusses weitere zehn Jahre zu unterlassen, vgl. Stolleis Bd.  3 (Fn.  156), 147. 165   Art.  80 VV: „Deutschland erkennt die Unabhängigkeit Österreichs innerhalb der durch Vertrag zwischen diesem Staate und den alliierten und assoziierten Hauptmächten festzusetzenden Grenzen an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten; es erkennt an, daß diese Unabhängigkeit unabänderlich ist, es sei denn, daß der Rat des Völkerbunds einer Abänderung zustimmt.“; Österreich wurde durch eine gleichlautende Vorschrift in Art.  88 des Vertrags von Saint-Germain verpflichtet. 166   Die Pariser Friedenskonferenz fand vom 18. Januar 1919 bis zum 21. Januar 1920 statt, die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919, die WRV wurde dann seit dem 6. Februar 1919 verhandelt und am 31. Juli 1919 beschlossen. 167   Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (VerhWRV), Stenographische Berichte, Band 6, Nr.  1502–1800, Nr.  1793 (Protokoll nebst diplomatischem Notenwechsel). 168   VerhWRV, Band 331, Stenographische Berichte, 133. Sitzung v. 18. Dezember 1919, 4152 (D) bis 4153 (A). 169   Rudolf Laun, Volk und Nation, Selbstbestimmung; nationale Minderheiten, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1930, §  21 (252); Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 21921, 121.

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auch den externen Einhegungsversuch des im Rahmen der Nachkriegszeit proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Völker durch eine überstaatliche Rechtskon­ struktion. Das setzte sich in der zwischen Deutschland und Österreich geplanten Zollunion fort, die der Völkerbundrat mit Blick auf die friedensvertragsrechtlichen Normen ebenfalls für unzulässig hielt. Der Ständige Internationale Gerichtshof, dem die Frage vorgelegt wurde, bestätigte diese Auffassung mit 8:7 Stimmen in einer handwerklich und hinsichtlich der juristischen Begründungskraft kritisch rezipierten Entscheidung.170 Die Bindung Deutschlands an das Recht des Völkerbundes war so bis 1926 aufgrund der referierten Rechtsbindungen trotz fehlender formaler Mitgliedschaft auf eine diffuse Weise vorhanden. In der Literatur thematisierte Julius Hatschek diese Konstellation, indem er anmerkte, Deutschland sei zumindest aus soziologischer Perspektive „Klient“ des Völkerbundes, da es dessen Recht durch Unterzeichnung des Versailler Vertrags anerkannt habe.171 Zu diesem Befund passt die zeitgenössische Diskussion in der Literatur um den Völkerbund als Universalität anstrebende „Sondervölkerrechtsgemeinschaft“172, die ebenso vielfältige begriffliche Facetten173 aufwies wie die gegenwärtige um die Europäische Union und aufgrund der politischen Mehrheitskonstellationen in seinen Organen sehr kritisch geführt wurde.174 Das Betonen dieser problematischen politischen Hintergrundkonstellation war keine Spezialität der deutschen Staatsrechtslehre und hat den Ausbau des Völkerbundes zu einem gleichberechtigten überstaatlichen Forum der Verständigung verschlossen.175  PCIJ, Series A/B Nr.  41, 1931; vgl. Carl Bilfinger, Der Streit um die deutsch-österreichische Zollunion, ZaöRV 3 (1933), 163 (164, 172); zum Mehrheitsvotum James Leslie Brierly, The Advisory Opinion of the Permanent Court of International Justice on the Customs Regime between Germany and Austria, ZaöRV 3 (1933), 68 (71): „But again the argument, instead of proceeding why or in what respect the customs régime would violate these special undertakings, breaks off so abruptly that the reader is almost left to wonder whether by a printer’s error something may not have fallen out from the record of the opinion.“; vgl. zur Sache auch die frühe Schrift von Alfred Verdross zu seiner Zeit als Gesandter der deutsch-österreichischen Republik in Berlin, ders., Deutsch-Österreich in Groß-Deutschland, Der Auf bau, Siebtes Heft, 1919, 19 f., 31 f. 171   Julius Hatschek, Völkerrecht, Als System rechtlich bedeutsamer Staatsakte, 1923, 141, 143. 172  So Josef Kunz, Die Staatenverbindungen, in: Stier-Somlo (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts, Zweiter Band, Vierte Abteilung, 1929, 489, 491; Schorkopf (Fn.  134), §  10 Rn.  36 m. Nachw. zu Stimmen, die sogar eine staatsrechtliche Bindung sahen, „da nur so das Problem der Organisation der Welt gelöst werden könne.“ 173  Nach Hatschek (Fn.  171), ebd. war der Völkerbund bloß ein Verwaltungsverein mit Völkerrechtssubjektivität, kein Staatenbund; w. Nachw. zu diversen Klassifizierungsversuchen (Bundesstaat, Allianz, internationale Verwaltungsunion, Staatenverbindung sui generis, Gemeinschaft zur gesamten Hand, Staatenbund) bei Kunz (Fn.  172), 498–504. 174   Hermann Jahrreiss, Völkerbundsmitgliedschaft und Reichsverfassung, 1926 (Leipziger Antrittsvorlesung), 3 spricht von „einer Mitgliedschaft, die man uns einst sittenrichterlich vorenthielt, dann in einer bankerott-ähnlichen Nervosität dringlich nahelegte“, und warnt vor den Majorisierungsmöglichkeiten in existenziellen Fragen (7), sieht aber im Beitritt auch die Tendenz einer weiteren Loslösung vom Versailler Vertrag (20); durchweg negativ Heinrich Pohl, Völkerrecht und Außenpolitik in der Reichsverfassung, 1929, 28: „Nur in den Grenzen und im Rahmen der vielen völkerrechtlichen Bindungen durch die Oberverfassung läßt sich das Maß von Bewegungsfreiheit bestimmen, das ihnen [den Mitgliedstaaten, d. Verf.] in der Pflege der außenpolitischen Beziehungen verblieben ist.“. 175  Exemplarisch Alfred Verdross, Völkerrecht, 1937, 160 f.: „Vielmehr lebt im VB die Scheidung zwischen Siegern und Besiegten tatsächlich fort, wofür der Allianzvertrag zwischen Frankreich und den Staaten der Kleinen Entente Zeugnis ablegt. Durch die Aufnahme der Sowjetunion in den VB und das 170

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g)  NS-Staat: Negation konstruktiver und Theorie regressiver Überstaatlichkeit Im auf Machtkonzentration und Negation jeder Gewaltenteilung ausgerichteten NSStaat konnte aufgrund des normativ unsteuerbaren Maßstabs und Rezeptionsfilters des „Führerwillens“ folgerichtig eine quasi-monistische Völkerrechtsrezeption angelegt werden. Sie bezog nach Ernst Rudolf Huber selbst völkerrechtliche Verträge in Art.  4 WRV mit ein, machte damit Transformationsakte obsolet und konstruierte eine unmittelbare „innervölkische Verbindlichkeit“.176 Die rasseideologisch angelegten Völkerrechtskonzepte machen deutlich, dass auch im NS-Staat Überstaatlichkeit nur als einspuriges politisches Machtinstrument gedacht werden konnte. Das universelle Koordinationsvölkerrecht177 sollte mittels Begrenzung der Kommunikation auf rasseverwandte Völker beseitigt werden.178 Mit der Ausgrenzung ganzer Erdteile vom gleichberechtigten Völkerrechtsverkehr war dann rassenideologisch sogar ein engerer Bund einer besonderen Rechtsgemeinschaft denkbar.179 Diese Ideen blieben ebenso unverwirklicht wie Gedankenspiele um wirtschaftliche und politische Neuordnungspläne für Europa, deren personelle und strukturelle Verbindungslinien für den Anfang des europäischen Integrationsprozesses einen näheren Blick wert sind,180 hier aber ausgeklammert bleiben.

h)  Bundesrepublik: Souveränität durch Überstaatlichkeit Die Öffnungsklauseln des Grundgesetzes und die dieses Mal durch alle beteiligten politischen Kräfte angestrebte Einbindung der Bundesrepublik in zwischen- und sich entwickelnde supranationale Foren markieren vor dem Hintergrund des historischen Rückblicks einen Konstruktionswechsel von Überstaatlichkeit. Neben nachvollziehbaren Motiven wie der gemeinschaftlichen Bindung deutschen Schwerindustriepotenzials war die Bundesrepublik dieses Mal aktiver Teilnehmer und Mitgestalter der französisch-russische Bündnis vom 2. Mai 1935 wurde diese Tendenz noch verstärkt, da damit der Block gegen die europäische Mitte wiederhergestellt wird.“ 176   Ernst Rudolf Huber, Das Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 21939, 265 f. 177   Zum Gehalt der Begriffe Koordinations- und Kooperationsvölkerrecht Peter-Tobias Stoll, Koordination, Kooperation und Konstitutionalisierung im Völkerrecht, in: Heun/Schorkopf (Hrsg.), Wendepunkte der Rechtswissenschaft, 2014, 273 (275–288). 178   Schorkopf (Fn.  134), §  10 Rn.  45, dort auch zur Schmitt’schen Großraumtheorie, die für die hier entwickelte Perspektive weniger überstaatliche Konstruktion als Rechtfertigungsversuch für die Absicherung eines besetzten Raums gegen äußere Interventionsversuche ist. 179   Helmut Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, Grundzüge einer nationalsozialistischen Rechtsphilosophie, 1932, 44 f.: „Es [allgemeines Völkerrecht und universelles Völkerbundsystem, d. Verf.] muß notwendig unentwickelt bleiben, wird einige Völker, wie die Australneger oder Buschmänner, vermutlich gar nicht ergreifen und im übrigen einen so geringen Inhalt haben, daß es kaum mehr faßbar sein wird. Eine engere Staaten- und Völkergemeinschaft ist nur möglich bei den germanischen Völkern. […] Es läßt sich durchaus vorstellen, daß diese Staaten einen engeren ‚Völkerbund‘ bilden und sich aus dieser Vereinigung ein bestimmteres Recht bildet, als es der jetzige Völkerbund aller Völker der Welt zu tun vermag.“ 180   Hinweise bei Weber (Fn.  19), 151 (159 f. und 162 Fn.  49).

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überstaatlichen Zusammenarbeit.181 Ohne den Gang der Entwicklungen nachzuzeichnen, lässt sich dem Befund beitreten, dass gerade die alte Bundesrepublik mit ihrer demonstrativen Hinwendung zur Internationalität nicht nur instrumentelle Gründe bewegten, sondern mit der Strategie des „Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht“182 auch ein modernes Souveränitätsverständnis Eingang in die politische Praxis fand. Die bundesrepublikanische Hinwendung zu überstaatlicher Einbindung wussten bereits zeitgenössische Beobachter besser einzuordnen183 als Hallstein’schen Bundesstaatsvisionen anhängende Projektionen unitarisierungsaffiner Staats- und Europarechtswissenschaft nach 1990, die nicht nur ein unterkomplexes Bild divergierender politischer Interessen der Mitgliedstaaten vermitteln, sondern dazu tendieren, diese auszublenden.184 Angesichts dieser Entwicklung ist die periodisch wiederkehrende Ausrufung eines kontinuierlichen Souveränitätsverlusts durch (zunehmende) überstaatliche Kooperation bereits dogmatisch schwer nachvollziehbar.185 Sie setzt vermeintliche Zäsuren, macht fortlaufend singuläre Prozesse aus und bemerkt so ihre eigene fortschrittstheologische Antiquiertheit nicht, nämlich ihre Einreihung in einen Kanon, der seit über einem Jahrhundert ohne Erfolg das Verschwinden der Organisationsform Staat besingt.186 Dieser Kanon legt selbst ein nicht näher offengelegtes, aber doch substanz181   Vgl. nur Peter Graf Kielmansegg, Deutschland und Europa: Aspekte einer schwieriger gewordenen Beziehung, ZSE 15 (2017), 486 (488): „Gerade in seinen Anfängen wird sichtbar, wie sehr das europäische Projekt eine Antithese zum Versailler Frieden von 1919 war.“ 182   Analyse dieser (erfolgreichen) Strategie: Schorkopf (Fn.  134), §  10 Rn.  70–76. 183  Exemplarisch Riklin (Fn.  10), 387: „Die Überstaatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft wirkt sich eher zugunsten der Kleinstaaten aus. Bezeichnenderweise sind vor allem die Kleinstaaten an der Wahrung und am Ausbau der Überstaatlichkeit interessiert, während sich Frankreich und Grossbritannien der Überstaatlichkeit gegenüber skeptisch bis ablehnend verhalten. Die Bundesrepublik Deutschland war zur Zeit der Schwäche ein überzeugter Anhänger der Überstaatlichkeit; mit dem Aufstieg zur wirtschaftlich stärksten Macht der Europäischen Gemeinschaft ist ihr Interesse an Überstaatlichkeit zunehmend gesunken.“ 184   Statt vieler hier nur Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVStRL 60 (2001), 148 (171 ff.); ders., Theorie und Praxis des Europäischen Verfassungsverbundes, in: Christian Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, Beiträge der Ersten Göttinger Gespräche zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht vom 15. Juni bis 17. Juni 2006, 2007, 61 (74 f.). 185   Zur Differenz von Hoheitsrechtsübertragungen als Ausdruck von Souveränität und dem Begriff der Souveränität selbst, die in der Rechtswissenschaft teils aufgrund von Begriffsverwechslungen und unreflektierten Importen politikwissenschaftlicher wie sozialphilosophischer Beobachtungen, die diesen anders gebrauchen, vergessen wird ausf. Schorkopf (Fn.  134), §  9 Rn.  6 –10 und knapp Grimm (Fn.  57), 108: „Mitgliedschaft in einer politischen Union wie der EU bedeutet gemeinsame Ausübung öffentlicher Gewalt, nicht geteilte Souveränität.“; vgl. auch Björn Schiffbauer, Über Hoheitsrechte und deren „Übertragbarkeit“, AöR 141 (2016), 551 (560–563); deshalb kann die Annahme, von der immensen Rechtserzeugungsleistung der Union auf eine Infragestellung ihres vermittelt-mitgliedstaatlichen Geltungsgrundes zu schließen (Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, 303) nicht überzeugen, weil sie ohne Weiteres aus empirisch-soziologischen Quantitäten zu qualitativen legitimationstheoretischen Umdeutungen gelangt; vgl. auch Möllers, Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ARSP Beiheft 113 (2008), 223 (240 f. m. Fn.  73); zutreffend Christian Hillgruber, Jellineks „Lehre von den Staatenverbindungen“ und der Streit um die Souveränitätsverständnisse, in: Brugger u.a. (Hrsg.), Faktizität und Normativität, Georg Jellineks freiheitliche Verfassungslehre, 2016, 237 (256 f.). 186   Beispiele seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bei Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd.  1, 1970, 11–15; eindrucksvolle staatstheoretische Einordnung auf der Abstraktionsebene des Ord-

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haftes wie antikontingentes Staatsverständnis an den Tag, obwohl über den Gehalt und die Historizität der Entität „Staat“ gar keine Einigkeit besteht.187 Für die Rechtswissenschaft verdient die Differenzsetzung zwischen Souveränität und aus dieser heraus gewährter, abgeleiteter und begrenzter Autonomie mehr Beachtung.188 Obwohl dogmatisch seit jeher geläufig,189 schwindet diese grundlegende Differenzierung in großen rechtswissenschaftlichen Entwürfen regelmäßig. Das mag mit dem Import soziologischer oder politikwissenschaftlicher Verlustbeschreibungen zusammenhängen,190 bei denen unerkannt das abweichende disziplinfremde Erkenntnisinteresse mitgetragen und sodann unrichtig als normativer Vorgang im Rechtssinn ausgeflaggt wird. Hierzu befand bereits Hermann Heller, wissend, dass eine Gleichsetzung von Souveränität und faktischer Allmacht ein rechtssoziologischer Kurzschluss ist: „Alle soziale Interdependenz der Staaten hebt an sich ihre juristische Independenz nicht auf.“191 Mit anderen Worten: Eine bewusste und selbstbestimmte – synonym demokratisch legitimierte – Bindung setzt Souveränität voraus.192 Sollte die These zutreffen, nungsdenkens und zugleich Reaktion auf eine versuchte rechtsdogmatische Verabschiedung des Staates durch, um sich dem „progressiven“ Sprachniveau anzupassen, verfassungsaffine Anti-Etatisten: Stefan Haack, L’état – qu’est-ce que c’est?, Der Staat 49 (2010), 107–129; ders., Primitive Staatstheorie, Der Staat 51 (2012), 57–89. 187   Vgl. nur den Rückblick von Michael Gal, Der Staat in historischer Sicht, Zum Problem der Staatlichkeit in der frühen Neuzeit, Der Staat 54 (2015), 241 (241 ff.); zutreffend Gunnar Folke Schuppert, Einige Bemerkungen zur allgemeinen Staatsverwirrung – ist er gegangen, kommt er zurück oder wird er nur neu gesehen?, in: Bach (Hrsg.), Der entmachtete Leviathan, 2013, 29 (34): „Staat als Prozess zu verstehen, immunisiert zunächst einmal dagegen, die beobachteten Veränderungen von Staatlichkeit zu dramatisieren, sei es, dass der Untergang des Abendlandes ausgerufen, sei es, dass mit der Formel „Der Staat ist zurück“ der Zusammenbruch von 20 Jahren (neo)liberaler Meinungsführerschaft gefeiert wird […].“ (Nachw. weggelassen). 188   Beispielhaft im Zuge der Diskussionen um die Rechtsnatur der EGKS und den Folgen für die Staaten Herbert Kraus, Betrachtungen über die rechtliche Struktur der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1951, 9–13 mit einer klaren Unterscheidung zwischen Souveränität und Hoheitsrechtsübertragung (12 f.). 189   Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014, 61–73, insbesondere 64 zur regelmäßig unreflektierten Gleichsetzung von Autonomie und Originarität der Unionsrechtsordnung; Cédric Chapuis, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen, 1993, 79 f. und rechtsvergleichend 81–87; Norbert Lorenz, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften, 1990, 330–332, 338–342 und rechtsvergleichend 334 f.; Schwantes (Fn.  8 ), 12–20, 39 und 196 zur Bezeichnung der Verträge als „Verfassungsrecht der Gemeinschaften“. 190   Exemplarisch für eine politikwissenschaftliche Nutzung des Terminus Souveränität mit Blick auf die Europäische Union Stephen D. Krasner, The Persistence of State Sovereignty, in: Fioretos u.a. (Eds.), The Oxford Handbook of Historical Institutionalism, 2016, 520 (527–530). 191   Hermann Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts [1927], in: ders., Gesammelte Schriften Bd.  2 , 1971 (hrsgg. v. Martin Drath und Christoph Müller), 31 (185); vgl. auch Thomas Giegerich, Die Souveränität als Grund- und Grenzbegriff des Staats-, Völker- und Europarechts, in: Schliesky u.a. (Hrsg.), FS Schmidt-Jortzig, 2011, 603 (610): Verlust der Handlungsfreiheit auch bei „unkündbaren“ völkerrechtlichen Verträgen nur mit obligatorischer, nicht mit dinglicher Wirkung. 192   Andreas L. Paulus, Grenzüberschreitungen: 10 Thesen zu Recht und Politik jenseits des Staates, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.), Grenzen der europäischen Integration, 2014, 117 (117); mit Blick auf Motivation und Ertragshoffnung Giegerich, Souveränität (Fn.  191), 603 (615): „Vor diesem Hintergrund mindert die Eingliederung eines Staates in die EU zwar die eigene politische Handlungsfreiheit gegenüber den europäischen Partnern, macht seine Handlungsfreiheit gegenüber der Außenwelt im Verein mit diesen Partnern aber erst praktisch wirksam.“

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dass durch den reflexionstheoretischen Diskurs um den Wandel von Staatlichkeit in Staats- wie Verfassungstheorie und Europarechtswissenschaft eigentlich der seit dem 19. Jahrhundert nicht beendete Streit um das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft ausgetragen wird,193 sind auf eine Untauglichkeit oder Verpuffung von Souveränität abstellende Beschreibungsversuche mit dem hier gesammelten verfassungshistorischen und -dogmatischen Erfahrungen als unterkomplex abzulehnen. Dies gilt gerade, wenn Souveränität nicht eine obrigkeitliche machtpolitische Handlungsgrundlage, ein „Danaergeschenk Napoleons“ am Volk vorbei meint,194 sondern die Grundlage sich selbst bindender, nicht durch diffus behauptete Globalisierungspostulate vorfestgelegter politischer Selbstbestimmung bezeichnet.195 Nicht nur als überholt, sondern von Grund auf juristisch verfehlt stellt sich damit die Zugrundelegung eines Souveränitätsverständnisses dar, dass freiwillige zwischen- und überstaatliche Einbindung als Verlust beschreibt, obwohl die Entscheidung über den Grad der Öffnung und Kooperationsdichte markanter Ausdruck von Souveränität ist.196 Bei jeder Hoheitsrechtsübertragung ein Ende der Souveränität anzunehmen, verkennt die Kernfunktion demokratischer Selbstbestimmung: Reversibilität. Die leichtfertige Anpassung an das Narrativ der Unmöglichkeit selbstbestimmten staatlichen Handelns als Wandel von einer überidealisiert-autarken staatlichen Gemeinschaft zur Getriebenen von Entwicklungen als Folge von Globalisierungsprozessen197 gewänne mehr Einsichten im kritischen Hinterfragen der Motive   So die plausible These der Untersuchung von Martin Schulte, Staatlichkeit im Wandel, 2017, 43.   Hahn (Fn.  87), 41 (43) mit dem Hinweis, dass die Souveränitätsverortung allein beim Fürsten bzw. Einzelstaat für viele Zeitgenossen zu Recht schon aufgrund des fehlenden Rechtsschutzes durch das der anderen Ebene angehörende Reichskammergericht als „Rückfall hinter die komplementäre Staatlichkeit des Reiches“ aufgenommen wurde (61). 195   Wenn die Präponderanz der Monarchen über den Bundesrat bzw. Kaiser/Reichskanzler gegenüber dem Reichstag im Deutschen Kaiserreich mit der Präponderanz nationaler Regierungen in Rat und Europäischem Rat gegenüber dem Europäischen Parlament verglichen wird (Oeter [Fn.  20], 299 [309 f.]) ist hier gerade das umgekehrte Gewicht demokratischer Legitimationsvermittlung mitzudenken; Grimm (Fn.  57), 123: „Im Schutz der demokratischen Selbstbestimmung einer politisch geeinten Gesellschaft über die ihr gemäße Ordnung findet die Souveränität heute ihre wichtigste Funktion.“ 196   Florian Becker, Gebiets- und Personalhoheit des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band XI, 32013, §  230 Rn.  118 m. w. Nachw.; zutreffend mit Blick auf die Europäischen Gemeinschaften schon Riklin (Fn.  10), 378 m. Fn.  89: „Die überstaatliche Staatenverbindung unterscheidet sich von der staatsrechtlichen Staatenverbindung durch die Souveränität der Gliedstaaten, von der zwischenstaatlichen Staatenverbindung durch die Befehlsabhängigkeit der Gliedstaaten.“, mit der Anmerkung: „Souveränität ist nicht identisch mit Befehlsunabhängigkeit.“; BVerfGE 31, 145 (174) – Milchpulver [1971]: „Art.  24 Abs.  1 GG besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, daß die Hoheitsakte ihrer Organe, wie hier das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind.“ 197  Exemplarisch Felix Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008, 80, der der Auffassung vom Staat als rechtlichem Gestalter von Globalisierungsprozessen nicht nur das Emblem des strukturellen Konservatismus verleiht, sondern jene Prozesse seinerseits als etwas Vorgegebenes ontologisiert, auf das Recht nur reagieren könne – zur Begründung dieser Argumentation wird auf eine soziologische Theorie des Rechts verwiesen (ebd., 80 Fn.  260), womit einerseits (nur) eine beschränkte Arbeitsprämisse offenbart wird, aber auch der entscheidende disziplinäre Unterschied zwischen außerrechtlicher Beobachtung des Rechts als Gesellschaftstechnik und der Bedeutung dieser Prozesse für das Recht als (nur) handlungsleitende Motive nicht gesehen wird; berechtigte herrschaftstheoretische Kritik in diesem Kontext auch bei Andreas Niederberger, De193

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dies propagierender politischer Theorien und dem Fehlen einer Antwort, warum eine Hochskalierung gerade auf die Europäische Union dann ausreichen soll.198 Dies schließt die politische Notwendigkeit grenzüberschreitender Kooperation nicht aus, weist aber die Behauptung einer schleichenden irreversiblen Verschiebung der Möglichkeit politischer Selbstbestimmung auf andere Ebenen zurück. Mit dem Verfassungsauftrag politischer Gestaltung und der Verfassungsgeschichte – die man plausibel so zeichnen kann, dass es nicht-interdependentes Staatshandeln im europäischen Raum nie gab – hat dieser Befund ohnehin nichts zu tun. Die Verwechslung von soziologisch und politikwissenschaftlich beobachtbaren Handlungsmotiven und rechtlicher Entscheidungsfreiheit zeigt, dass dieser Perspektive eine kontrollierte Rezeption disziplinfremder Beobachtungen misslingt und die Verabschiedung sinnvoller rechtlicher Konzepte irrigerweise als verfehlter Ausdruck von Fortschritt begriffen wird.199 Die normative Aufgabe eigenverantwortlicher Gestaltungskraft zugunsten nicht mehr fassbarer „Prozesse“ folgt keiner dogmatischen Struktur mehr, sondern einer demokratieaversen Erzählung moralischer oder sachrationaler Milieus der politischen Theorie und verliert sich in trivialisierender Interdisziplinarität.200 Das nach Verabschiedung der Monarchie ausgegebene Mantra Gerhard Anschützs – der Staat: das sind wir 201 – scheint in diesem Umfeld, das sich auf einseitige Überzeichnungen komplexer mehrdimensionaler Rechtsebenen-Konstruktionen beschränkt, nicht mehr zu tragen.202 Das Grundgesetz führt hingegen eine auf den Menschen mokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft?, 2009, 320; solche Befunde sind auch das problematische Ergebnis selbstgenügsamer Theorien, die den Kontakt zur Verfassungsdogmatik verloren haben, dazu allg. Schulte (Fn.  193), 57. 198   Hier treffen sich übersteigerte Rationalitätserwartungen mit Teilen des Menschenrechtsdiskurses und ademokratischen (gleichwohl als demokratischen deklinierte) Theorien, treffend Haltern (Fn.  144), Rn.  189: „Regieren abseits der Transparenz-, Begründungs- und Legitimationsnotwendigkeiten der Demokratie ist einfacher, schneller und effizienter. Zugleich aber wissen wir auch, dass einfaches, schnelles und effizientes Regieren eine Eigenschaft von demokratisch unterentwickelten Organisationen ist, und dass Demokratie nun einmal mit einem Rucksack voller Schwerfälligkeiten daherkommt, die sich aus den häufig zähen politischen Debatten und der gleichfalls demokratisch notwendigen Bürokratisierung zusammensetzen. Man zahlt eben einen Preis für demokratische Einflussnahme und Mitsprache. Wer sich darüber beklagt, muss sich fragen lassen, ob er nicht Demokratie mit der Herrschaft von Philosophenkönigen verwechselt.“ 199  Zur Unterscheidung von handlungsleitenden Motiven und rechtlicher Entscheidungsfreiheit Schorkopf (Fn.  134), §  9 Rn.  4; zur fortbestehenden, bisher durch kein neues Konzept substituierten Funktion der Souveränität als Struktur der Verantwortungszurechnung und Maßstab, wann verbindliche Entscheidungen demokratisch legitimationsbedürftig werden Markus Patberg, Souveränität als Kompetenzdistribution, in: Volk/Kuntz (Hrsg.), Der Begriff der Souveränität in der transnationalen Konstellation, 2014, 81 (84, 95). 200   Zu diesem Phänomen insbesondere Johanna Braun, Leitbilder im Recht, 2015, 95–100, 161 ff., insbes. 167 f. (Gefahr „trivialisierender Interdisziplinarität“), 175 f., 199–201; erhellend auch Josef Franz Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, 2017, 23, 84, 110, 133–138 und 175–177. 201   Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 141933, 32 (Kommentierung der Präambel, im Original: „Das Reich ist nichts anderes als das unter der von ihm selbst gegebenen Verfassung rechtlich geeinte deutsche Volk. Das Reich: das sind wir.“ [Herv. i. Orig.]); nun Quentin Skinner, Thomas Hobbes und die Person des Staates, 2017, 60: „Der Staat ist, zu guter letzt, nichts anderes als wir selbst. Wenn wir Staaten gründen, fügen wir der Welt nichts hinzu; wir reorganisieren und individualisieren uns nur auf eine neue Weise.“ 202   Für die schlichte Adaption politischer Souveränitätspostulate auf die Europäische Union und „aufgrund unserer heutigen globalisierten Lebenswirklichkeit“ von „Exponaten“ aus dem „Museum für

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ausgerichtete Ordnung kollektiver Selbstbestimmung von Beginn an mit Akteuren jenseits seines Geltungsbereichs zusammen.203

3.  Zwischenergebnis: Merkmale überstaatlicher Ordnungsversuche Der historische Rückblick lässt die Formulierung staats- und herrschaftstheoretischer Thesen zu. Überstaatlichkeit war und ist nicht ohne sie tragende Staatlichkeit zu haben.204 Beide verbindet die paradoxe Dialektik einer friedens- und ordnungsstiftenden Innen/Außen-Dichotomie, die sich durch überstaatliche Einbindung in Teilen konditional auf hebt und so ihren Interaktionsradius potenziert. Der Blick auf den Deutschen Bund, den Völkerbund oder die Europäische Union muss nicht zu Verlegenheit führen, wenn die Analyse zu einer hybriden Form im Sinne einer sui generis-Kategorisierung führt.205 Der Staat wird heute trotz Abgabe der Währungshoheit und (den Versuchen) überstaatlicher Haushaltsdisziplinierung weiter als Staat gedacht und bleibt, jenseits theoriepolitischer Zielvorstellungen, maßgeblicher Ausgangspunkt als ordnungsgestaltender politischer Primärraum.206 Die hinter den Begriffen stehenden Konzepte sozialer Organisation unterliegen Transformationsprozessen, ohne deshalb durch fortschrittstheologische Vernunftpräskriptionen vorfestgelegt zu sein.207 Wenn es denn um Theoriebildung gehen soll, dürfte ein verfassungsgeStaatstheorie“ sprechend Franz C. Mayer, Der europäische Sisyphos: ein Kommentar zu Europa-Rede Emmanuel Macrons in der Sorbonne, Verf Blog, 2017/9/27, http://verfassungsblog.de/der-europae ische-sisyphos-ein-kommentar-zur-europa-rede-emmanuel-macrons-in-der-sorbonne; hiergegen zutreffend Grimm, Ein souveränes Europa?, FAZ v. 15.11.2017, Nr.  265,9 und Heinrich August Winkler, Europas falsche Freunde, Der Spiegel 43/2017, 88 f. 203  Zutreffend Gärditz (Fn.  57), 49 (155 Fn.  358) der davon spricht „demokratische Standards von Zurechnung und Verantwortung im Interesse individueller wie demokratischer Selbstbestimmung gegen globale Entgrenzungsprozesse, gegen politische Mobilität und gegen Netzwerkgesellschaften zu setzen, statt deren Handlungsrationalitäten kritiklos zu adaptieren, also politische Steuerungsverluste Naturgesetzlichkeiten gleich hinzunehmen, statt durch Reformalisierung und Politisierung praktische Gestaltungschancen zurückzugewinnen.“; vgl. auch Martin Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017, 36: „Erst die Änderbarkeit bzw. Auf hebbarkeit des Gesetzes macht den Gebrauch der demokratischen Entscheidungsbefugnis erträglich.“ – als gestaltende, nicht bloß nachvollziehende Befugnis eines konstruierten extrakonstitutionellen Gemeinwohls. 204   Steiger (Fn.  6 ), 44 f.; in moderner Begriffsdiktion aus anderem Blickwinkel Andreas Haratsch, Nationale Identität aus europarechtlicher Sicht, EuR 2016, 131 (145): „Supranationalität ist ohne Nationalität aber nicht denkbar.“ 205  Plädoyer für die Europäische Union bei Weber (Fn.  19), 151 (175 f.); eine Abbildung der Jellinek’schen Lehre von den Staatenverbindungen auf die Europäische Union unternimmt Hillgruber (Fn.  185), 237 (251–257). 206   Von der Einrichtung der Konventsmethode darauf zu schließen, die Bezeichnung der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge sei nunmehr eine bloße „façon de parler“, aber keine ernstzunehmende politische Kategorie mehr (Oeter [Fn.  20], 299 [304]; Oeter [Fn.  29], 235 [243]), mag mit politischen Vorstellungen mancher Unionsorgane zusammenlaufen, hat aber mit der rechtlichen Verfügungsstruktur über die Grundlagen der Union nichts zu tun, wie schon aus Art.  48 Abs.  3 UAbs.  2 und Abs.  4 EUV hervorgeht. 207   Dies ist der Kern einer ernstgenommenen demokratiepolitischen Kontingenz: Sie schließt Reversibilität in keine Richtung aus, damit aber eben auch keine normative Entscheidung über notwendige Elemente von Staatlichkeit in ihrer spezifischen Situation, da andernfalls das nur oberflächlich verstandene Argument der Kontingenz und Zeitgebundenheit zur Unmöglichkeit selbstbestimmter recht-

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schichtlich in der Tiefe rückgebundener Ansatz, der sich auf die Wandelbarkeit der Form Staat konzentriert, nach den bisherigen Beobachtungen mehr Erkenntnisse zu überstaatlichen Bindungsformen versprechen als Theoriekonstrukte, die bei jedem ins Licht tretenden Gebilde stets erneut grundlegende Verschiebungen rechtlicher Interaktion diagnostizieren, tatsächlich aber nur (unbewusst) ihre eigene Musealisierung betreiben. Die rein historische Erkenntnis ist gleichsam wichtig: Eine Zeit, in der überstaatliche Konstruktionselemente nicht auf der Tagesordnung von Staatspraxis oder Rechtswissenschaft standen, gibt es nicht. Das Theorem vom Staat als Herrschaftsmonopolisten, der sich zum Herrschaftsmanager wandelt,208 löst sich vor einer breiteren verfassungshistorischen und -dogmatischen Skala ins Nichts auf, die den Staat als stets eingebundene und doch souveräne politische Herrschaftsstruktur erkennt. Das kann besonders als Radikalisierungsprophylaxe politischer Wünsche und rechtlicher Agenden nach der Rückkehr zu einer Zeit geschlossener (National)Staaten fruchtbar gemacht werden. Eine solche Epoche idealisierter autarker Gemeinschaftlichkeit gab es rechtlich nicht und, soweit sie von der politischen Herrschaft semantisch artikuliert wurde, vermochte sie gerade nicht gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Frieden zu stiften. Hier ansetzende progressive Überwindungsnarrative perpetuieren aber diese falschen Semantiken mehr, als zu ihrer richtigen Erfassung beizutragen. Im Ergebnis ist der Souveränitätsbegriff als Marker normativer politischer Selbstbestimmung über Bindung und Nicht-Bindung nicht nur zu revitalisieren. Er erlangt seinen brauchbarsten Beschreibungswert erst in dieser Gegenwart, nämlich in einem verstetigten Verbund demokratisch legitimierter Staaten, die selbstbestimmt Hoheitsrechte auf einer überstaatlichen Ebene in einer autonomen, nicht souveränen, Instanz zusammenführen. Gelitten hat das Konzept durch die Epochen der Staatlichkeit nach 1806 allein an seiner Instrumentalisierung durch politische Interessen. Das monarchische Prinzip musste seine spezifisch programmierte Überstaatlichkeit nach 1867 schrittweise aufgeben und wurde im Bundesstaat dogmatisch zurückgefahren. Die externe Einflussnahme auf die Verfassungsgebung 1919 und die Ausgestaltung des Völkerbunds verhinderte aufgrund der durchsichtigen, einseitigen politischen Struktur eine Entfaltung des neuen institutionellen Potenzials. Überstaatlichkeit erweist sich mithin als politisch äußerst fragil. Ihre praktische Akzeptanz und Wirksamkeit lebt von einer Balance, die starke Identitätszumutungen zurückhaltend angeht. Das veranschaulicht der Zustand der gegenwärtigen europäischen Überstaatlichkeit.

III.  Zweiter Teil: Die Europäische Union als überstaatliche Form Die Europäische Union steht für die modernste überstaatliche Kooperationsform der europäischen Staatengemeinschaft. Sie hat es vermocht, den Ausgleich agonaler policher Ordnung führen würde und außer einem unproduktiven Dekonstruktionsargument nichts anzubieten hätte. 208   Nachw. zu diesem verkürzten Befund (weil es um graduelle Bewegungen innerhalb eines stabilen Musters geht: juridisches Herrschaftsmonopol bei politischer Herrschaftskooperation) bei Schulte (Fn.  193), 13 und 22.

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litischer Interessen relativ stabil in einem Institutionensetting zu verstetigen, das selbst nicht festgelegt, sondern auf Veränderung ausgelegt ist. Gemessen an ihrer Mitgliederzahl, der in ihrem Forum verhandelten Politiken und ihrer institutionellen Dichte gilt sie zu Recht als historische Innovation, die kriegerischen durch kommunikativen Politikausgleich, wie kontrovers er auch sein mag, ausgetauscht hat.209 Doch bestand in der deutschen Rechtswissenschaft ob dieser Leistung schon immer eine Kluft zwischen akademischen Projektionen jenseits des geltenden Rechts und ihrem tatsächlichen politischen Zustand.210 Das Problem einer auf Integrationsoptimismus ausgerichteten politischen Kultur, die sowohl eine ehrliche Risikobetrachtung ihrer Projekte verdrängt als auch Grenzen kollektiven Handelns auf überstaatlicher Ebene ignoriert,211 ist inzwischen durch sich überschneidende und verstärkende politische Konfliktlinien 212 auch jenseits des Fachdiskurses in der Breite der demokratischen Resonanzräume sichtbar geworden. Der Entwicklungsstand und die politische Fragilität der Union wirft die Frage nach den Bedingungen ihrer Kontinuität und Stabilität auf. Im Folgenden geht es um einen Blick auf aktuelle Problemlagen europäischer Überstaatlichkeit. Hierbei werden Kontinuitäten berücksichtigt, aber auch tiefere Differenzen herausgestellt. Der Überkomplexität einiger Problemlagen steht die Notwendigkeit der Sichtbarmachung und -haltung politischer Verantwortungsstränge gegenüber. Von der Warte der hier entwickelten analytischen Perspektive geht es um eine weiterhin nachvollziehbare Dialektik von Staatlichkeit und Überstaatlichkeit.

1.  Kontinuität von Beschreibungsangeboten Die deutsche Rechtswissenschaft hat sich aus ihrem verfassungsgeschichtlich-föderalen Herkommen und ihrer Erfahrung mit hybriden Rechtsformen durchgehend an orientierungsstiftenden Beschreibungsversuchen des Integrationsprozesses versucht. Jeder für sich lässt mittransportierte politische Zielvorstellungen wenn nicht direkt erkennen, so doch vermuten und zuordnen.213 209   Vgl. nur Schönberger (Fn.  93) und Stefan Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), 118 (151) m.w.N. 210   Hierzu treffend Martin Nettesheim, Die Einheit des Unionsrechts – ein überholtes Paradigma?, EuR Beiheft 2013, 7 (12 f. und öfter); vgl. auch dens., Wie weit kann die Vergemeinschaftung der Legitimierung der EU vorauseilen?, EuZW 2013, 161 f. 211  Hierzu Giandomenico Majone, The deeper Euro-Crisis or: The Collapse of the EU Political Culture of Total Optimism, EUI Working Paper Law 2015/10, 2–7; mit einer Gegenperspektive zur Konstitutionalisierungsthese unter Einordnung der Union als „extension of administrative governance on the national level“ Peter Lindseth, Supranational Organizations, in: Cogan u.a. (Eds.), The Oxford Handbook of International Organizations, 2016, 152 (168–171). 212   Erwähnt seien nur die der geografischen Semantik folgenden Konfliktlinien des Ost-West-Gegensatzes (zuletzt insbesondere in der Migrationskrise, vgl. Ivan Krastev, Europadämmerung, 2017, 53–71) und des Nord-Süd-Gegensatzes (in der Staatsschulden- oder Eurokrise); übergreifend lassen sich auch andere Konfliktlinien ziehen, so ähnlich dem Deutschen Bund eine Kollision sachbezogener Rationalitätsinteressen (und institutioneller Eigeninteressen) der überstaatlichen Ebene gegenüber partikularen Interessen der betreffenden demokratischen Staaten. 213   Siehe nur zu Bülcks Einordnungen und die politische Ersetzung des Terminus Supranationalität durch (Rechts)Gemeinschaft die Nachw. unter oben I.; zu den angebotenen Begriffen Reich, Groß-

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Ein Merkmal europäischer Überstaatlichkeit ist damit zweifellos die Kontinuität von Beschreibungsangeboten, auf die sich verschiedene Fraktionen der Staats- und Europarechtswissenschaft verteilen, sie ihren Ausarbeitungen zu Grunde legen und um normative Leitvorstellungen ringen. Ihre Plausibilität kann im weiteren Integrationsverlauf untergehen, aber auch zunehmen. So haben aufgrund der erweiterungsbedingten Pluralisierung politischer Akteure diverse, abweichende Europavorstellungen Eingang in den Integrationsprozess gefunden und erschweren eine einheitliche, homogene Integration in die Tiefe. Der Erfolg der Erweiterungen zieht den Preis „der nachlassenden Kohäsionskraft „Europas“ als Projekt der Identitätsstiftung“ mit sich; die politische Heterogenität lässt so bundesstaatliche, aber auch allgemein „immer engere“ Perspektiven verblassen.214 Eine europäische Bundesstaatswerdung, selbst auf „inkrementalem Weg“, erscheint inzwischen als wenig plausible Prognose.215 Zugleich wird die Tauglichkeit der Beschreibung des Integrationsprozesses als Konstitutionalisierungsprozess in Frage gestellt, soweit hiermit mehr gemeint ist als ein Synonym für die institutionell abgesicherte Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen.216 Begrifflich gesprochen erscheint manch erfahrenem Beobachter der Integrationsprozess wieder näher beim Vielfalt abbildenden Kirchhoff ’schen Staatenverbund als der (normativen) Einheitskonstruktion des Pernice’schen Verfassungsverbunds.217 Der jüngste juristisch fundierte Begriffsvorschlag vom „europäischen Rechtsraum“ lässt sich neben der schon konzeptionell offenen Bundeslehre218 als jüngster Ausdruck der Diversitätszunahme begreifen. Er soll sich von föderalen und völkerraum, Zweckgemeinschaft funktioneller Integration, Staatenverbund, Verfassungsverbund, Bund und dem Ansatz der reziprok-horizontalen Organteilung Weber (Fn.  19), 151 (156–175). 214  Plastisch Dominik Geppert, Die Europäische Union in historischer Perspektive, in: G. Kirchhof u.a. (Hrsg.), Von Ursprung und Ziel der Europäischen Union, 2016, 29 (34–37); Warnungen in diesem Kontext schon bei Thomas Schmitz, Integration in der supranationalen Union, 2001, 316–318. 215   So aber Horst Dreier, Die Europäische Union au dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa?, in: Atkinson u.a. (Hrsg.), Liber Amicorum für Jens Joachim Hesse, 2016, 79 (85); eine „vom Operationsmodus her“ bereits in der Primärrechtsstruktur seit dem Änderungsvertrag von Lissabon angelegte Bundesstaatlichkeit, die nur politisch aktiviert werden müsse, sieht Oeter (Fn.  25), 733 (748). 216  Vgl. Schorkopf (Fn.  60), 209 a.E. f.; zur Kritik an der Konstitutionalisierungsthese nur Peter Lindseth, Between the ‚Real‘ and the ‚Right‘: Explorations along the Institutional-Constitutional Frontier, in: Adams u.a. (Eds.), Constitutionalism and the Rule of Law, Bridging Idealism and Realism, 2017, 60 (82–84, 87–93); Oeter, Global Constitutionalism: Fundamental Norms, Contestation and the Emergence of Constitutional Quality, in: Justenhoven/O’Connell (Eds.), Peace Through, 2016, 83 (86 f.): „There is neither a clear definition nor a robust consensus of what constitutes in detail ‚constitutionalisation‘. […] ‚Constitutionalisation‘ mostly is used where a claim might legitimately be made that law is liberated from the dominance of politics, gains a systemic autonomy that allows it to put limits to political practice.“; Möllers, (Fn.  51), 150 (168): „Bestehende Formen der Fragmentierung bringen den Stand der politischen Union zum Ausdruck, und sie sollten auch nicht durch bloß semantische Konstitutionalisierungsmechanismen unsichtbar gemacht werden. Organisatorische Fragmentierung soll politische Fragmentierung zum Ausdruck bringen.“; Nettesheim (Fn.  210), 7 (13): „Der Integrationsprozess war nie die Realisierung eines allgemeinen oder großen Plans. Er war vielmehr immer das mehr oder weniger gelungene Ergebnis von politischem Druck, von intergouvernementalen Scharmützeln, von Verweigerung und Drohung.“ 217   Thomas Oppermann, Die Grenzen der Europäischen Union, in: Stumpf u.a. (Hrsg.), FS Müller-Graff, 2015, 1052 (1055); in der Sache ebenso Joachim Jens Hesse, Abschied von der ever closer Union: Wege zu einer besseren und realitätsnäheren Europäischen Union, ZSE 15 (2017), 173 (183–185, 199). 218   Oben, II. 1. a. und b.

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rechtlichen Deutungen gleichermaßen distanzieren und ein neues Ganzes beschreiben, innerhalb dessen sich dennoch konfligierende Ansprüche verschiedener Rechtsordnungen (Staats-, Völker, Unions- und Konventionsrecht), die aber stabile Beziehungen auf bauen, im Sinne eines dialogischen Pluralismus gegenüberstehen.219 Dem Konzept war zu Beginn noch eine deutlich vernehmbare normative Positionierung eingeschrieben, die ihre Anschlussfähigkeit verkürzte.220 In jüngsten Auffrischungen ist davon nichts mehr zu hören. Stattdessen wird die Ersetzung des Programmtelos einer immer engeren Integration (Art.  1 UAbs.  2 EUV) als staats- und europarechtswissenschaftlichem Leitgedanken durch einen normativ zu konsolidierenden Raum, in dem der Pluralismus der beteiligten Rechtsordnungen und ihre divergierenden Autonomieansprüche betont werden, unterstrichen.221 Der Ansatz gibt sich deutlich deskriptiver und damit offener: Der Begriff des europäischen Rechtsraums soll zwar inhaltliche Konsistenz und die Idee der Einheit anzeigen, aber zum Beispiel die normative Konstruktion des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gerade nicht in eine Richtung präjudizieren.222 Die semantische Wucht des Begriffs der Rechtsgemeinschaft soll angesichts der kompetenzerweiterungsbedingten Politisierung in der EU der (noch) 28 ausdrücklich reduziert werden, um überschießende Erwartungen an die Normativität des Unionsrechts zu mindern und daran anschließende Desintegrationstendenzen zu bremsen.223

219   Armin v. Bogdandy, Das deutsche öffentliche Recht im europäischen Rechtsraum, in: Ivo Appel u.a. (Hrsg.), FS Wahl, 2011, 651 (655): „Der Singular zeigt an, dass es um ein Ganzes geht, welches das bisherige, die einzelnen Nationalstaaten, transzendiert.“; ebenso ders., Deutsche Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum, JZ 66 (2011), 1 (2); ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR XI, 32013, §  232 Rn.  5 und 55 a.E.; als „european legal space“ ders., The Transformation of European Law: The reformed concept and its quest for comparison, MPIL Research Paper Series No.  2016-14, 9 und 13. 220   v. Bogdandy, Das deutsche öffentliche Recht (Fn.  219), 651 (660): „Es verlangt, die mitgliedstaatliche Rechtsordnung stets auch aus einer Perspektive der Gestaltung des europäischen Rechtsraums zu konzipieren. Die Perspektive des Autonomieschutzes des mitgliedstaatlichen Rechtsraums ist dem nachzuordnen.“; hierfür wurde der Maßstab des Kant’schen Verallgemeinerungsprinzips postuliert, d.h. „stets nur so zu handeln, wie es sich zur allgemeinen Regel für alle [!] Mitgliedstaaten eignet, ohne dass die EU Schaden nimmt“ (ebd., 660 f.), damit Deutschland nicht zu einem verfassungsdogmatischen „Sonderfall“ der EU werde – der Maßstab dieser Ägide bleibt ebenso unklar wie das Schicksal produktiver und konfrontativ-kritischer wissenschaftlicher Auseinandersetzung, wenn als jedenfalls untaugliche Diskursbeiträge solche des „methodischen Nationalismus“ eingeordnet werden, mithin ( jenseits unleugbarer Evidenz) ein gerade nicht verallgemeinerbares, sondern subjektiv konfigurierbares Ausschlusskriterium verwandt wird; zum Vorrang demokratischer Verfahren vor rationalen normativen Konstruktionen Haltern (Fn.  144), Rn.  1254–1256. 221   v. Bogdandy, The Transformation (Fn.  219), 10 a.E. f.; ders., Was ist Europarecht?, JZ 72 (2017), 589 (594). 222   v. Bogdandy, Was ist Europarecht? (Fn.  221), 589 (596 a.E. f.); ebenso ders., Von der technokratischen Rechtsgemeinschaft zum politischen Rechtsraum, MPIL Research Paper Series No.  2017-12, 15 und ebd.: Rechtsraum „artikuliert so das Ergebnis eines Prozesses, des Prozesses der Europäisierung des mitgliedstaatlichen Rechts“, ebd., 17: „gemeinsame territoriale Ordnung ist kooperativ zu konzipieren und zu verwirklichen“, Rechtsraum als „Grundbegriff einer verstehenden, sinnstiftenden, konstruktiven Rechtswissenschaft“. 223   v. Bogdandy, Von der technokratischen Rechtsgemeinschaft (Fn.  222), 7 a.E.: „Hallsteins Rechtsgemeinschaft legt nahe, prinzipiell jeden unionalen Rechtsakt als zivilisatorische Errungenschaft zu feiern. Das überzeugt heute niemanden mehr.“; vgl. auch dens., Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, EuR 2017, 487 (492).

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Der inhaltliche Wandel des Beschreibungsangebots unterstreicht die Schwierigkeit, dem fluiden Integrationsprozess einen Begriff mit offenem, aber greif barem Gehalt zugleich gegenüberzustellen.224 Wäre er flexibel und zugleich konturiert genug, um ein primärrechtlich und institutionell stärker abgebildetes Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten zu erfassen? 225 Beträfe die Wirkung eines möglichen Beitritts der Türkei eine – kategorial gesprochen – staatenbündische Lockerung der dialogischen Verschränkungen im europäischen Rechtsraum oder eine Spaltung der Europäischen Union, ein Auseinanderbrechen des Raumes?

2.  Kontinuität von Identitätszumutungen Bereits die schlicht „andere“ Normativität des Unionsrechts, das gesteigerte Politische seiner Entstehungsbedingungen wie Umsetzungschancen, transportiert für die deutsche Perspektive auf die überstaatlichen Institutionen eine kontinuierliche Identitätszumutung. Trotz oder gerade aufgrund der – im Gegensatz zum Deutschen Bund – Abwesenheit klassischer Zwangsmechanismen speist sich die überstaatliche Ordnung aus einer einzigen Ressource: der Rechtsbindung und ihrer inhärenten Vollzugserwartung.226 Hier ist zu differenzieren. Die Prognose, dass das Vertrauen in die Unionsrechtsordnung erst untergraben wird, wenn Verletzungen zur Normalität werden oder von hoher Symbolkraft sind,227 hat viel für sich. Darüber hinaus mahnen die unterschiedlichen Vorverständnisse der Funktion von Recht in den Mitgliedstaaten bei einer „Krisenevaluation“ zur Vorsicht. Zwischen gewichtigen politischen Kräften liegen diese weit auseinander und schlagen entsprechend hinderlich bis auf die normative Verständigung (gerade betreffend Krisenreaktionen) durch.228 Insofern spiegeln manche in institutio224  Zur Wirkung von Raumbeschreibungen skeptisch Kirsten Schmalenbach, Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, VVDStRL 76 (2017), 254 (256): „Virtuelle soziale Räume sind konstruierbar, leben kann man darin nicht.“ 225  Nach Haltern (Fn.  144), Rn.  261, ist die „variable Geometrie“ ohnehin längst Realität. 226   Manfred Zuleeg, Diskussionsbemerkung, VVDStRL 60 (2001), 363 (363): „Der Mitgliedstaat hat die Nation als eine zusätzliche Möglichkeit, Zusammenhalt zu erzielen. Umso wichtiger ist dann der rechtliche Zusammenhalt in der Europäischen Union.“; mit Blick auf die systemischen Mängel des europäischen Asylsystems Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 71 (2016), 753 (758): „In Zeiten der krisenhaften Zuspitzung wird deutlich, wie sehr die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft von der Bindungswirkung supranationaler Regeln abhängt.“; Haltern (Fn.  144), Rn.  4 4, sieht keine Addition von Einzelkrisen, sondern durchaus Infragestellungen normativer Strukturgrundlagen. 227   v. Bogdandy, Jenseits der Rechtsgemeinschaft (Fn.  223), 487 (506 a.E.); abzulehnen ist die Annahme vertikaler Zwangsmechanismen (ders., Von der technokratischen Rechtsgemeinschaft [Fn.  222], 6: „Vor allem die europarechtlichen Reaktionen auf die Finanz- und Staatsschuldenkrise führten zu empfindlichen Zwangsinstrumenten gegenüber Mitgliedstaaten.“) dort, wo Selbstverpflichtungen für finanziell nicht-obligatorische Hilfsleistungen vereinbart wurden; eine politisch motivierte Einordnung als „Kredite gegen Fremdbestimmung“ ändert nichts an der konsensualen Einrichtung und vermengen die Ebenen (wie auch die ebd. verbundene Fn.  30 zeigt: „Dass das nicht zu dem gewünschten Rechtsgehorsam führt, steht auf einem anderen Blatt.“). 228   Luuk van Middelaar, Europas neue Kraft, Die Zeit v. 20.10.2016, Nr.  4 4, 8: „Die deutsche und die französische Haltung zu bestimmten politischen Grundbegriffen divergieren fundamental; das führt zu permanenten Missverständnissen, die konstitutiv sind für die europäische Politik. Nehmen wir zum

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nellen Arrangements sichtbare Politikblockaden gerade Herrschaftskompromisse („Zonen des gewollten Stillstands“229 ). Auch kann der politisch gebilligte Nichtvollzug von Unionsrecht sogar eine „Gelingensvoraussetzung der europäischen Integration“ sein, um weitere destruktive Konflikte zu vermeiden.230 Doch kann der Hinweis nur so lange tragen, wie die generelle Erwartung an das Funktionieren des Unionsrechts insgesamt nicht beschädigt wird. Ein normativer Maßstab zur Bestimmung eines solchen „Umkippens“ existiert aber nicht und wäre auch außerstande, politische Dysfunktionalitäten abzustellen. Die Integrationsgeschichte zeigt sogar, dass selbst anhaltender Nichtvollzug von Unionsrecht – erwähnt sei der jahrelange Streit um die Arbeitszeitrichtlinie und die Ignorierung der verbundenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs231 – kein neues Phänomen ist und diese Prozesse für die nationalen Öffentlichkeiten keine wichtige Notiz bedeuten müssen. Etwas anderes ist aber struktureller Dissens und die tatsächliche institutionelle Unfähigkeit, geltendes überstaatliches Recht anzuwenden, soweit Politikbereiche betroffen sind, die Kernbereichen staatlicher Selbstbestimmung zuzurechnen sind. Hier setzt die von kontingenten Faktoren (Migrationszahlen, Höhe der Staatsverschuldung und Marktreaktionen) abhängige Aufmerksamkeit nationaler Diskursräume mit erheblichen Konsequenzen ein. Der These, angesichts der Heterogenität der Union und der „Versteinerung“ des Primärrechts sei wie im amerikanischen Verfassungsrecht und dessen Geschichte vermehrt mit dem Institut des (richterrechtlichen und institutionellen) Verfassungswandels zu rechnen,232 steht die Möglichkeit einer echten Verfassungskrise und Erosion des Rechts entgegen.233 Beispiel Regeln. In Deutschland stehen Regeln für Gerechtigkeit, Ordnung und Ehrlichkeit. In Frankreich stehen Regeln für Einschränkung und Unfreiheit. Im europäischen Kontext führt dies zu gegenseitigem Argwohn.“; allg. zu unterschiedlichen politischen und rechtlichen Dynamiken im nationalen und europäischen Kontext Haltern (Fn.  144), Rn.  27; sehr gut zu den wirtschaftspolitischen Differenzen Deutschlands und Frankreichs Markus K. Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre Landau, The Euro and the Battle of Ideas, 2016, S.  4 0–82. 229   Dies betont Oeter (Fn.  20), 299 (319) mit Blick auf den Unionshaushalt, die Agrarpolitik und die GASP; vgl. prognostisch auch ders. (Fn.  25), 733 (751): „Es gibt – mit anderen Worten – wohl keine Alternative zur stoischen Suche nach Kompromissen, den föderalen Existenzmodus des Lebens in institutionell erzwungenen Halbheiten.“ 230   Schorkopf, Wertesicherung in der Europäischen Union: Prävention, Quarantäne und Aufsicht als Bausteine eines Rechts der Verfassungskrise? EuR 2016, 147 (162). 231   Der Vorgang ist zugleich ein Beispiel für eine institutionelle Blockade zwischen Rat und Parlament, der die extensive Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht abhelfen konnte; zum Ganzen ausf. Dorte Sindbjerg Martinsen, An Ever More Powerful Court?, The Political Constraints of Legal Integration in the European Union, 2015, 121–131, insbes. 127: „The judicial decisions from 2000 onwards did not result in subsequent legislation. They were neither codified, modified nor overturned. Instead, the Commission’s proposal on how to respond to the case law of the Court was not adopted. Inter-institutional interaction was unable to change the positions of the involved parties. Despite almost ten years of negotiations, the European legislators and the social partners did not manage to establish a solution. […] Judicial decisions have ‚established rules nobody follows‘.“ (Nachw. weggelassen). 232   So die These von Oeter (Fn.  25), 733 (746); vgl. auch Ronan McCrea, Forward or Back: The Future of European Integration and the Impossibility of the Status Quo, European Law Journal 23 (2017), 66 (90). 233   Die erwähnte Fallstudie von Martinsen (oben Fn.  231) zeigt insofern, dass der EuGH das Unionsrecht bei „Versteinerung“ aufgrund politischer Blockade bereits in nicht hochpolitischen oder „identi-

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Richterrechtlicher Verfassungswandel mag in einem technokratischeren Integrationskontext funktioniert und, jenseits von Fachzirkeln, nicht weiter interessiert haben.234 Im Kernbereich divergenter staatlicher Selbstbestimmung – darunter Einwanderung, Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben – kommt eine Neuauflage richterlichen „Entscheidungssupranationalismus“ zur Korrektur eines blockierten „Entscheidungsintergouvernementalismus“235 legitimationstheoretisch dagegen als fragwürdige Identitätszumutung daher. Dies gilt besonders, wenn die Organstruktur der Union eine konstruktiv-streitige Auseinandersetzung über verschiedene Politikkonzepte (möglicherweise ex natura) nicht bieten kann und darüber hinaus keine Instrumente bereitstehen, um auf kontroverse judikative Entscheidungen reagieren zu können.236 Möglicherweise hat die Rechtswissenschaft die Verschiebung der Rahmenbedingungen überstaatlichen Handelns zu wenig beachtet und zu positivistisch gedacht. Dazu zählt insbesondere das Bewusstsein, dass der Eiserne Vorhang mit der Abtrennung des Ostens eine Integration des relativ homogenen Westens erleichterte, ja mittelbar die in dieser Tiefe supranational angeleitete sektorielle Integration als erfolgreichen Prozess erst ermöglichte, nun mit der multidimensionalen Diversität durch die (politisch zweifellos drängenden) Erweiterungen aber nicht nur, rational besehen, die Notwendigkeit des Mehrheitsprinzips im Rat ansteigen ließ, sondern zugleich paradoxerweise auch die Bedingungen zur Anwendung und Ak-

tätspolitischen“ Fragen keinesfalls akzeptiert fortschreiben kann, sondern diese Richtung geeignet ist, eine steigende Nichtbefolgung von EuGH-Urteilen mit allen institutionellen Folgen auszulösen. 234   Hans Peter Ipsen argumentierte 1983 institutionell, wenn er zur Berechtigung des EuGH, durch richterliche Rechtsfortbildung funktional Verfassungswandel (oder -änderung?) zu betreiben sagte, diese ergebe sich auch „angesichts des gemeinschaftspolitisch und rechtlich erheblichen Umstandes, daß normierte Verfassungsänderungen im Wege der Vertragsänderung […] schwieriger zu bewirken sein dürften als Verfassungsänderungen in den Mitgliedstaaten […].“ (ders., Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, in: Jürgen Schwarze [Hrsg.], Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, 29 [49]) – in der damaligen EWG der 10. 235   Für diese konzeptionelle Gegenüberstellung vgl. Haltern (Fn.  144), Rn.  33; normative Zielvorstellungen sah offenbar der heutige EuGH-Präsident schon zu seiner Zeit als Richter am EuG, vgl. Lenaerts (Fn.  55), 93 (95), wenn er einen Strang der EuGH-Rechtsprechung beschrieb als „judicial moves to safeguard the core of the European integration agenda set out in the Treaties, when the political actions that should have been taken were not pursued, and the legislation that should have been adopted was, in fact, not passed.“ 236  Hierzu Mark Dawson, The political face of judicial activism: Europe’s law-politics imbalance, in: ders. u.a. (Eds.), Judicial Activism at the European Court of Justice, 2013, 11 (11 ff.) und 13: „ECJ judgments often constain notoriously poor or under-developed reasoning, depriving the legislature of a legal and argumentative basis upon which a conversation with the legislature could be based.“; Marcus Höreth, The least dangerous branch of European governance? The European Court of Justice under the checks and balances doctrine, in: ebd., 31 (31–34 und passim); zum fehlenden Resonanzraum und einem fehlenden „Kommunikations-Gegenüber“ im Sinne einer Unionsrechtslehre Matthias Jestaedt, Luxemburger Richterrecht – Kognitive Dissonanzen im Diskurs über Selbstverständnis und Praxis des EuGH -, in: Christian Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, 2014, 21 (39); vgl. aber mit dem Beispiel des Rechtsprechungswandels zum Zugang von Unionsbürgern zu Sozialleistungen und des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta Rudolf Streinz, Richterrecht in der europäischen Integration – Die Rolle der Verfassungsvergleichung, in: Herzig u.a. (Hrsg.), Europarecht und Rechtstheorie, 2017, 47 (50 f. m. Fn.  18, 66) mit der Anmerkung, der EuGH sei durchaus bereit, „ausufernden Folgen seiner Rechtsprechung“, die bei einer Verallgemeinerung problematisch würden, entgegenzuwirken.

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zeptanz des Mehrheitsprinzips in einigen Feldern des supranationalen aquis communautaire strukturell erschwerte.237 Mit anderen Worten kollidiert eine erst in Krisen voll sichtbar werdende politische Heterogenität innerhalb der überstaatlichen Institutionen mit relativ hohen Erwartungen an einen dichten supranationalen Politikvollzug im Sinne von „output“, über den sich auch eine institutionell denkende Rechtswissenschaft Gedanken machen muss. Nach der hier vertretenen Auffassung wäre es wichtig, dort responsiver zu werden, wo es institutionell und einem überkommenen Selbstverständnis nach wehtut. Dazu gehört, den Willen kleinerer Einheiten zu respektieren, anstatt bei unerwünschten Ergebnissen Abstimmungen entweder nicht mehr abzuhalten oder sie kurz darauf zu wiederholen.238 Wichtiger ist aber die Handhabung bereits supranationalisierter Politiken. Ist ein Politikbereich strukturell nicht gemeinsam gestaltbar, sollte er in den staatlichen Primärraum zurückfallen. Es gibt schon kein supranationales Gemeinwohl, dass sich nur durch seine Erträge legitimiert.239 Noch weniger können kollektiv ungestaltbare Politikbereiche um der Supranationalität Willen auf der Unionsebene eingefroren werden oder in Kernfragen staatlicher Selbstbestimmung bei ersichtlich dünnem supranationalem Normbestand und starken politischen Differenzen mit Hilfe abstrakter Prinzipien (z.B. Solidarität) und einem schlichten Positivismus erfolgreich entwickelt werden.240 Der Solidaritätsbegriff ist ein treffendes Beispiel für das formale Argument einer Positivierung, die aufgrund ihres Nicht-Gehalts gleich  So die These von Peter Graf Kielmansegg, Immer enger?, Überlegungen zum Wandel einer Erfolgsgeschichte, Vortrag an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vom 19.9.2017; vgl. schon 1995 zu einer vollen Parlamentarisierung der unionalen Hoheitsgewalt in der EU der 15 Oeter (Fn.  32), 659 (697): „Die Heterogenität der in der EU vereinigten Nationen und Gesellschaften ist unbestritten zu groß, als daß das Mehrheitsprinzip alleine zu allseits als legitim akzeptierten Entscheidungen führen könnte.“ 238   Johann Braun, Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen, Rechtstheorie 46 (2015), 151 (172 mit Fn.  67) mit einer Aufzählung seit 1992 wiederholter Referenden zu den Änderungsverträgen von Maastricht, Nizza, dem Verfassungsvertrag und dem Vertrag von Lissabon; ähnl. Majone (Fn.  211), 6; zu denkwürdigen Reaktionen nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags Haltern (Fn.  144), Rn.  199 f. 239   Zum Ansatz der Output-Legitimation statt vieler Sebastian Müller-Franken, Die demokratische Legitimation öffentlicher Gewalt in den Zeiten der Globalisierung, AöR 134 (2009), 542 (552–555). 240   Zu EuGH (Große Kammer), Urt. v. 6.9.2017, Rs. C-643/15 und C-647/15, ECLI:EU:C:2017:631, Rn.  291 Martin Nettesheim, Das Fehlurteil zu Flüchtlingsquoten, FAZ Nr.  214 v. 14.9.2017, 8: „Ein gemeinsamer – gar konstitutionell klar verankerter – Wille der Mitgliedstaaten, Fragen der Umsiedlung auf supranationaler Ebene entscheiden zu lassen, ist jedenfalls nicht zu erkennen. Dem westlichen Liberalismus mag es anrüchig erscheinen, wenn sich ein EU-Mitgliedstaat auf seine souveräne Autonomie beruft, um seine Idee homogenen Zusammenlebens abzusichern. Wenn dem EuGH hierzu nichts einfällt, als dass solche Argumente dem Ziel der Umsiedlung entgegenstünden und deshalb unstatthaft seien, ist dies ein Armutszeugnis. In der Sache zwingen die Argumente Ungarns zur Beschäftigung mit der Frage, inwieweit sich die EU-Institutionen in Kernfragen des staatlichen Selbstverständnisses über das partikulare Selbstverständnis eines Mitgliedstaats hinwegsetzen können. […] Der Europäische Rat hatte im Sommer 2015 mehrfach betont, die Probleme einer solidarischen Verteilung der Folgen der Flüchtlingskrise konsensual zu behandeln. Insofern reibt es sich mit Loyalitäts- und Vertrauensaspekten, wenn dieser Anspruch im September 2015 dann kurzfristig fallengelassen und majoritär entschieden wurde. […] Erzwungene ‚Solidarität‘ ist keine Solidarität, sondern Zwang.“; zum Politikvorbehalt i.R.v. Art.  80 AEUV auch Thym, Die Flüchtlingskrise als Herausforderung für das Konzept einer supranationalen „Integration durch Recht“, in: Iliopoulos-Strangas u.a. (Eds.), Migration-Migration-Migrations, 2017, 77 (87 und 98 f.). 237

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wohl ungeeignet ist, politische Richtungsentscheidungen zu juridifizieren.241 Die Erweiterungen haben die Einheitsvorstellung einer erwarteten Transformation der Aushandlung divergenter Partikularinteressen zur Formulierung eines eigenständigen Gemeinwohls des Gesamtsubjekts Union 242 in die Ferne gerückt. Führt politische Heterogenität zu anhaltendem supranationalen Gestaltungsausfall, muss sich gerade in sensiblen Bereichen eine subsidiäre Kompetenz der entscheidungsfähigen Ebene öffnen.243 Mit einem uferlosen Verständnis von der Bedeutung supranationaler Besitzstände wird dauerhaft ein freies politisches Kräftespiel importiert, das das gern aufgegriffene Integrationsargument nur noch nutzt, um auf einer diplomatischen Ebene, weitgehend von rechtlicher Einrahmung befreit, situativ Politik zu betreiben.244 Ist das noch der Modus einer Rechtsgemeinschaft? Wenn selbstbestimmte Rechtsbindung und die Übertragung von Hoheitsrechten zu Recht als Ausdruck von Souveränität verstanden wird, kann die Union sogar funktional Souveränität durch Rücktransfer oder eine staatliche Ausfallzuständigkeit im Sinne eines umgekehrten Subsidiaritätsprinzips (Was rational „besser“ oben zu gestalten wäre, aber politisch nicht zu gestalten ist, fällt an die kleinere Einheit.) zeigen.245 Wenn dem Bundesstaat ein Geben und Nehmen von Kompetenzbereichen nicht fremd ist (Föderalismusreform), sollte es auch für die Union erwogen werden.246 Die derzeiti241   In diesem Sinn Peter Hilpold, Europa am Scheideweg: Brexit, Internationale Handelsbeziehungen, Wirtschafts- und Währungsunion, Flüchtlingskrise – Eine riskante Neupositionierung Regierungen Europas nach innen und nach außen, in: ders. (Hrsg.), Europa im Umbruch (Europarecht Beiheft 1/2017), 7 (16, 21); desw. Hans Michael Heinig, Solidarität im föderalen Verbund, in: Christian Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität, 2013, 143 (149 a.E. f.): „In dem Maße, wie die EU von den Bürgern selbst als „Schicksalsgemeinschaft“ gedeutet wird, können sich verdichtete transnationale Solidaritätsformen ausbilden. Ohne hinreichende Schonung herkömmlicher Solidaritätsformen droht somit gegenwärtig immer auch die Gefahr einer destruktiven Entsolidarisierungsspirale infolge überspannter technokratischer Solidaritätszumutungen.“; zu national verfassten politischen Gemeinschaften in der Union Peter Lindseth, The Perils of ‚As If ‘ European Constitutionalism, European Law Review 22 (2016), 696 (708): „The collective ‚self ‘ that these constitutions assert is not just a random assemblage of individuals united by the abstract category of legal ‚citizenship‘ rights.“ und Haltern (Fn.  144), Rn.  270: „Es gab und gibt nach wie vor keinen belastbaren Vorstellungsraum, in dem sich kollektive Identität als europäisch definiert und das entscheidende politische ‚Wir‘ die Unionsbürgerschaft ist.“ 242   Zu dieser Notwendigkeit im Jahr 1995 Oeter (Fn.  32), 659 (699 a.E. f.). 243   Exemplarisch für den Grenzschutz Michael Brenner, Die Bedeutung von Staatsgrenzen im Kontext der Flüchtlingskrise, in: Martina Haedrich (Hrsg.), Flucht, Asyl und Integration aus rechtlicher Perspektive, 2017, 19 (23 f.). 244  Ein Beispiel bildet die Notwendigkeit der Klärung, ob die praktisch bedeutsame, medial als „EU-Türkei Abkommen“ bezeichnete Verständigung überhaupt ein völkerrechtlicher Rechtsakt ist (bejahend Rainer Hofmann/Adela Schmidt, Die Erklärung der EU-Türkei vom 18.3.2016 aus rechtlicher Perspektive, NVwZ – Extra 11/2016, 1 [1 ff.]). 245   Für die Rückübertragung „veritabler Aufgabenfelder“ Rainer Wahl, Die „immer engere Union“, Zur Krise der EU, Merkur 812 (2017), 21 (30 f.); nicht eine kompetenzielle, sondern eine institutionelle Reaktion in Form der vollen Einbindung nationaler Gesetzgebungskörperschaften in Rechtsetzungsprozesse auf Unionsebene über den Rat schlägt demgegenüber Thomas Jaeger, Alle Macht dem Volk?, EuZW 2017, 127 (129) vor. 246   Eine Kompetenzrückverlagerung für sinnvoll hält auch Oeter (Fn.  25), 733 (750), wobei diese auch durch konsentierte Nichtausübung oder Rückgängigmachung durch Sekundärrechtsauf hebung von statten gehen könne; das ist eine Möglichkeit, die aber in ihrer intendierten Wirkung einer tatsächlichen Rückgabe nicht gleichkäme.

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ge Lage wird auch ein „flexibles“ Rechtsverständnis schwerlich unter sich subsumieren können, mag der Binnenmarkt noch so geschäftig im Hintergrund brummen.

3.  Kontinuität der Notwendigkeit politischer Verantwortungszurechnung Ein Nachdenken über institutionelle Gewichtungen und Kompetenzverteilung bedeutet keine Privilegierung der Staatlichkeit, im Gegenteil. Sie ist auf eine Stabilisierung der überstaatlichen Struktur gerichtet, weil sie die Gewährleistungsverantwortung handlungsfähiger Staaten normativ klarstellt, damit das sensiblere überstaatliche Institutionenarrangement entlastet wird und Handlungsblockaden auf supranationaler Ebene nicht ins desintegrative Nichts führen. Es geht gerade um eine rechtlich ausgedrückte Akzentuierung staatlicher Eigenverantwortung, damit Abweichungen von institutionell in sich durchdachtem Recht nicht zur Normalität werden.247 Dazu gehört eine nachvollziehbare Verantwortungszurechnung, vor der die aktuelle Unionsstruktur regelmäßig Unterschlupf bietet.248 Das Problem ist der Rechtswissenschaft schon länger und auch für andere Gebilde bekannt, hat aber gleichwohl zu wenig Aufmerksamkeit gefunden.249 Die historische Rückschau hat gezeigt, dass sogar machtvolle überstaatliche Gebilde mit Zwangsgewalt nicht dauerhaft ohne politischen Rückhalt funktionieren. Eine wie auch immer konstruierte Verlagerung echter Durchsetzungsgewalt auf die Europäische Union muss weiterhin einen politischen Konsens und Befolgungswillen hierüber imaginieren, der gerade nicht mittels bloßem Normbefehl herstellbar ist.250 Dies zeigt sich deutlich im Versuch der Bestimmung über Grundlagen einer partikularen Ordnung, gegenüber der die überstaatliche Struktur durch ihre Organe spezifische Homogenitätsansprüche erhebt.251 247   Vgl. in diese Richtung auch Di Fabio, Die Europäische Union in der Populismusfalle?, in: Rüttgers/Decker (Hrsg.), Europas Ende, Europas Anfang, 2017, 49 (56). 248   Treffend zum europäisierten Migrationsrecht Möllers, Krisenzurechnung und Legitimationsproblematik in der Europäischen Union, Leviathan 43 (2015), 339 (353 f.): „Ausländerrechtlich verläuft die Außengrenze der Bundesrepublik Deutschland heute durch das Mittelmeer. […] Die EU dient hier – wie nicht selten – als eine Agentur der geplanten Verantwortungsdiffusion nationaler Politik.“; allgemein Hilpold (Fn.  241), 7 (7): „Der Informationsraum in den MS wird weitgehend von den Regierungen ausgefüllt und diese verfolgen geschickt eine Strategie der asymmetrischen Zuschreibung von politischen Erfolgen und Rückschlägen […].“ 249   Vgl. nur, mit Blick auf Analysen Max Webers zum Deutschen Kaiserreich, in der Union Bereiche organisierter Verantwortungslosigkeit ausmachend und „klare Zurechnungsstränge politischer Verantwortung“ fordernd Oeter (Fn.  32), 659 (694–697, 703). 250  Für einen normativen Verlagerungsversuch politischer Legitimität zuletzt exemplarisch Mark Dawson/Floris deWitte, From Balance to Conflict: A New Constitution for the EU, ELJ 22 (2016), 204 (217–221). 251   Selbst bei einem in der Breite angenommenen Konflikt wie mit der derzeitigen polnischen Regierung gelingt kein überstaatlicher Zwang. Hier liegt die These Thomas Schmids nahe, dass eine überstaatliche Wertegemeinschaft eine Willensgemeinschaft voraussetzt und in einer heterogenen Staatengemeinschaft eine bloße Interessengemeinschaft ein stabileres Fundament ist, weil die Erzwingung einer Wertehomogenität in Definition wie Vollzug prekär bleibt (Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen am 18.9.2017); vgl. auch allg. Möllers (Fn.  49), 141 (206), nach dem die Grenze „zwischen der Sicherung vor extremistischer Politik und der bloßen Umgehung demokratischer Politik durch europäische Stellen“ fließend bleibt.

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Auch in Unionsrecht gegossene politische Kompromisse, die zu krisenhaften Entwicklungen geführt haben, machen deutlich, dass diese trotz ihrer dem politischen Ort nach „exogenen“ Entstehung (nämlich staatlicher Vollzugsverweigerung oder ebensolchem -versagen) dem Subjekt Europäische Union zugerechnet werden: Von der Staatschulden- zur Eurokrise,252 von der Migrationskrise zur Krise des DublinSystems253 und ihrer wiederum systemischen Überformung durch zahlreiche Testate der Menschenrechtswidrigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.254 Der dem Unionsrecht inhärente Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung findet angesichts des Zustands einiger Mitgliedstaaten in wesentlichen Politikbereichen dauerhaft keine Anwendung, das Recht des Europäischen Haftbefehls bildet die jüngste Entwicklung.255 Zudem werden in der großen Zahl der zwar normativ ausbuchstabierten, praktisch aber vollzugsdefekten Bereiche auch kaum Instrumente aktiviert, um den Achtungsanspruch des Unionsrechts durchzusetzen.256 Eine „institutionelle Überdehnung“ durch den Unionsgesetzgeber wie judikative Extension durch den EuGH sind zu gleichen Teilen beobachtbar257 und weisen auf eine Überkomplexität und Überfrachtung der überstaatlichen Ebene hin.258   Guter Überblick: Ulrich Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 52016, Art.  119 AEUV Rn.  16– 20; zu Möglichkeiten und Grenzen judikativer Kontrolle in diesem Bereich Armin Steinbach, Die EZB-Krisenpolitik nach dem OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 71 (2016), 1045 (1046– 1048). 253  Zu den Konsequenzen des unionsrechtlichen Defekts in Verbindung mit nationalem Recht ­Weber, Statusentscheidungen Deutschlands in der Migrationskrise – Von selbstbezogenem Universalismus zu grenzüberschreitendem Partikularismus, DVBl. 2017, 17–24. 254   Beginnend mit EGMR (Große Kammer), Urt. v. 21.1.2011, Nr.  30696/09 – M.S.S. ./. Belgien und Griechenland, Rn.  352, 366, dies rezipierend EuGH (Große Kammer), Urt. v. 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 – N.S./M.E. u.a., Rn.  78–108; zur Wirkung im deutschen Recht vgl. §  60 Abs.  5 AufenthG i.V.m. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats v. 8.5.2017, 2 BvR 157/17, Rn.  16. 255   BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 = NJW 2016, 1149 einerseits, EuGH (Große Kammer), Urt. v. 5.4.2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU – Aranyosi/Ca˘ lda˘raru; dazu Helmut Satzger, Grund- und menschenrechtliche Grenzen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls? – „Verfassungsgerichtliche Identitätskontrolle“ durch das BVerfG vs. Vollstreckungaufschub bei „außergewöhnlichen Umständen“ nach dem EuGH, NStZ 2016, 514–522; zu den Problemen zuletzt Helene Bubrowski, Ausgeliefert, FAZ v. 21.9.2017, Nr.  220, 8. 256   Allerdings hat die Kommission inzwischen das im Dezember 2015 gegen Ungarn eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren aufgrund der Handhabung sekundärrechtlicher Asylrechtsnormen vorangetrieben (Pressemitteilung IP/17/1285 v. 17.5.2017), zudem hat die Weigerung Polens, Ungarns und Tschechiens, an der vom Rat mit Mehrheit beschlossenen Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen mitzuwirken, im Juni 2017 zur Einleitung weiterer Vertragsverletzungsverfahren geführt (Pressemitteilung IP/17/1607 v. 14.6.2017). 257  Kurz und treffend Martin Nettesheim, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 424 (426); auf die Differenz zwischen Kompetenzen und fehlendem politischen Angehörigkeitswillen der Einzelnen zur EU abstellend Rainer Wahl, Die „immer engere Union“, Zur Krise der EU, Merkur 812 (2017), 21 (27 f.). 258  Kritisch Majone (Fn.  211), 5 und krit. 7: „It is therefore rather suprising that the intrinsic limits of collective action have been generally ignored by political scientists, legal scholars and even by economists writing about the EU.“; zum Konvent zur Ausarbeitung des Verfassungsvertrags Hesse (Fn.  217), 173 (193): „Es fehlte an belastbaren Untersuchungen zu den Vor- und Nachteilen mitgliedstaatlich oder europäisch wahrgenommener Aufgaben/Kompetenzen, funktionale Erwägungen traten hinter eher normative (und/oder wunschgesteuerte) Analysen zurück.“ 252

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Damit stellt sich die Frage, wie lange die Union in zentralen Politikbereichen in einem dysfunktionalen Schwebezustand verharren kann. Das überstaatliche Essentiale einer reversiblen Ausbalancierung der politischen Räume wird zu wenig berücksichtigt. Kompetenzrückbau an einer Stelle bedeutet nicht radikalen Nationalismus, sondern möglicherweise nur die Erkenntnis über den richtigen Ort politischer Verantwortung, die effektive Aufgabenwahrnehmung und Rechtsvollzug gewährleistet. Prozess und Debatte um den „Brexit“ bieten ein anschauliches Beispiel für einen politischen und rechtlichen Versuch, der, mag er auch stilistisch kritisiert werden, den Umfang überstaatlicher Problemlösung kompetenziell neu zu verhandeln und auch in der politischen Semantik neu auszurichten.259 Die Reformverhandlungen konnten die Austrittsentscheidung des britischen Volkes nicht nur aufgrund eines intensiv geführten „Wahlkampfes“ nicht verhindern, sondern auch aufgrund des uneinsichtigen Festhaltens an vermeintlich sakralen supranationalen Besitzständen 260 und der Einordnung einer Rückführung von Kompetenz- oder Politikbereichen als rückwärtsgewandtem Nationalismus eines irregeleiteten Wahlvolks.261 Nach der demokratischen 262 Entscheidung, die ökonomisch dem Austritt der zwanzig kleinsten Mitgliedstaaten gleichkommt263 und zu Auseinandersetzungen neuer Qualität führen dürfte, probieren sich vereinzelt selbst Unionsorgane an differenzierten Überlegungen, wenn auch teilweise die Ernsthaftigkeit fraglich ist.264 Es bleibt abzuwarten, ob 259   Analyse der Austrittsmodalitäten bei Alexander Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, 281 (281–288 und 291 a.E.-304); zum Klima nach dem Brexit-Votum exemplarisch Buchsteiner, Nestbeschmutzer, FAS v. 14.5.2017, Nr.  19, 9. 260   Das gilt zum Beispiel für die die Ausgestaltung der Personenfreizügigkeit, die normativ schon immer Beschränkungen unterlag und für die gute Gründe angeführt werden, neu über ihren Umfang nachzudenken: Ludger Schuknecht, Fehlanreize für EU-Zuwanderer, FAZ v. 22.11.2016, Nr.  273, 20; Christoph Franz, Kernbestand Freizügigkeit?, FAZ v. 29.10.2016, Nr.  253, 22; Ulrich van Suntum, Die EU sollte die Personenfreizügigkeit überprüfen, FAZ v. 11.8.2016, Nr.  186, 21; die Politik rüstet sie indes unbeirrt zu einem politischen Dogma auf, obwohl das Argument naturgleich ansteigender Migration als Folge der Globalisierung bereits als leere politische Rhetorik erkannt wurde, weil nachweisbar ist, dass steigende Handels- und Kapitalströme eine Alternative zur Mobilität von Menschen sind und gerade nicht einen Anstieg von Wanderungsbewegungen nach sich ziehen müssen (Paul Collier, Exodus, 2013, 42, 58). 261  Vgl. Luuk van Middelaar, Vom Kontinent zur Union, Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, 2016, 12: „Das Ergebnis des Referendums widerspricht einem uralten Axiom der europäischen Politik. Seit den Kohle-und-Stahl-Tagen von Schuman und Adenauer setzt man auf die sorgfältige Verflechtung wirtschaftlicher Interessen als Garantie für Frieden und Wohlstand. Ökonomische Interdependenz, so die Idee, werde unwiderruflich zu besseren Beziehungen zwischen dankbaren Völkern führen. Die britischen Wähler straften dieses Integrationsaxiom Lügen. Die Aversion gegenüber Immigranten war stärker als die Angst vor Wohlstandsverlust; Identitätspolitik siegte über wirtschaftliche Interessen. In der Logik der Gründerväter war eine solche Entscheidung undenkbar.“ 262   Das Votum mit Blick auf das Abstimmungsverhalten jüngerer Menschen (gegen den Austritt) und älterer Menschen (für den Austritt) in einen fortschrittlich-innovationsgerichteten und einen rückwärtsgewandten („kürzerer Planungshorizont“ älterer Bevölkerungsteile) aufzuspalten, wie es Hilpold (Fn.  241), 7 (12) tut, überzeugt schon angesichts der Verteilung der Wahlbeteiligung nach Alterskohorten nicht (64 % der 18–24 Jährigen gegen 74 % der über 55 Jährigen und 90 % der über 65 Jährigen, vgl. http://www.ecrep.org/wp-content/uploads/2015/03/Did-young-people-bother-to-vote-in-the-EUreferendum.docx, zuletzt besucht am 19.7.2017), hätte sich bei konsequentem zu Ende denken des Arguments doch wenigstens die Wahlbeteiligung der noch länger planenden Jungwähler jene der älteren klar übertreffen müssen, nicht umgekehrt. 263   Krastev (Fn.  212), 8. 264   Zum Weißbuch zur Zukunft Europas der Europäischen Kommission Schorkopf, 60 Jahre Römi-

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der Europäische Rat, von dem letztlich immer die entscheidenden Krisenlösungsimpulse in der Integrationsgeschichte ausgingen,265 in seiner jetzigen Zusammensetzung in der Lage ist, substanzielle Impulse nicht nur zu beschließen, sondern auch tatsächlich anzustoßen. Die Kommission liefert mit dem Weißbuch dem Selbstverständnis nach jedenfalls keine vorstrukturierten Pfade, sondern eher einen Baukasten, aus dem sich die im Europäischen Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten bedienen sollen.266

4.  Desiderat: Ausgleichsmechanismen bei Dysfunktionalitäten supranationalisierter Identitätspolitik Vielleicht ist die Einsicht in eine Neuausrichtung des Verhältnisses von Staatlichkeit und Überstaatlichkeit besser von außen erkennbar.267 Gewachsene Erwartungen wiegen nicht nur politisch, sondern auch disziplinär schwer. Das gilt bereits für Abhilfeideen, die sich im normativen Rahmen des Unionsrechts halten: So wird der Vorschlag Dieter Grimms, eine Politisierung durch die Herunterstufung von primärrechtlich verankerten Normbeständen in das Sekundärrecht zu erreichen,268 schon in recht technokratischen Bereichen zurückgewiesen, zuvörderst aufgrund sich bewährter, gewachsener Rationalitätsstrukturen.269 Die vermeintlich rhetorische Frage wäre, wie chaotisch es erst bei einer kompetenziellen Rückverlagerung in den Raum sche Verträge – Dezennien feiern, Krisen nutzen, Zukunft haben, ZSE 15 (2017), 16 (25–29), insbes. 27: „Indem die Kommission die Strukturszenarien von den Inhalten trennt, versucht sie gleichwohl, das Änderungspotenzial deutlich zu begrenzen und die Frage der europäischen Kernkompetenzen zu umgehen.“; das utopische Gegenstück liefert (in sich treu bleibender Kontinuität) das Europäische Parlament, vgl. dass., Mögliche Entwicklungen und Anpassungen der derzeitigen institutionellen Struktur der Europäischen Union, Dok. P8_TA-PROV(2017)0048 v. 16.2.2017 in Ziff.  50 und 62 mit bundesstaatlichen Reformvorstellungen, bezeichnend die Äußerung in Ziff.  69, in der es heißt, das EP „stellt fest, dass der Wortlaut des AEUV in manchen Fällen von Praxis und Geist [!] des Vertrags abweicht; ist der Ansicht, dass diese Inkohärenzen entsprechend den Grundsätzen der Demokratie und der Transparenz korrigiert werden müssen.“ 265   Zu diesem Ergebnis kommt Dian (Fn.  93), 337 mit der Anmerkung, dass dies auch seinem außervertraglichen Gründungszweck entsprach – insofern zeigt schon die Geschichte des Europäischen Rates, dass die Union auf extra-unionale Lösungsmechanismen angewiesen sein könnte. 266   Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas, COM(2017) 2025 v. 1.3.2017, 15 a.E.: „Das Endergebnis wird zweifellos anders aussehen als die hier dargestellten Szenarien. Die EU der 27 wird gemeinsam entscheiden, welche Kombination aus den verschiedenen Elementen der fünf Szenarien aus ihrer Sicht am besten geeignet ist, um unser Projekt im Sinne unserer Bürgerinnen und Bürger voranzubringen.“ 267   Jakob Grygiel, The Return of Europe’s Nation-States, The Upside to the EU’s Crisis, Foreign Affairs September/October 2016, zugänglich unter: https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/ return-europe-s-nation-states (zuletzt besucht am 21.9.2017): „Yet a Europe of newly assertive nation-states would be preferable to the disjointed, ineffectual and unpopular EU of today. […] Just as supranationalism does not guarantee harmony, sovereignty does not require hostility among nations.“ 268   Eine Auseinandersetzung mit den Thesen erfolgte vor dem Hintergrund des krisenhaften Zustands der Union zuletzt in Editorial Comments, Common Market Law Review 54 (2017), 1 (1–10). 269   Vgl. die andere Lösungswege suchende Diskussion zwischen Markus Ludwigs, Demokratieferne Gestaltung der europäischen Beihilfeausicht, EuZW 2017, 41 (41 f.) und Johannes Laitenberger, Beihilfeaufsicht: Die Versöhnung von unabhängiger Rechtsdurchsetzung mit direkter Wirkung und demokratiegesteuerter Ermessensausübung, EuZW 2017, 281 (281 f.).

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klassischen Bi- und Multilateralismus zuginge. Auch intensiviert der Zustand zwischen unionalem, völkerrechtlichem und hybridem Handeln gerade die Verschränkung von Verantwortungslinien. Die hier vertretene Gegenposition lautet, dass erst die deutliche Adressierung staatlicher Verantwortung politischen Gestaltungswillen revitalisiert und multilaterales Handeln jenseits des Zwangskorsetts der immer engeren Union für sich mit entsprechendem Willen verbindende Staaten ermöglicht und, bei erfolgreicher Kooperation, schnell weitere vom Zusammenwirken überzeugen könnte – ohne dass die innerunionale Praxis der „package deals“270 direkt durchschlagen und zur Verwässerung der Bewältigung eines spezifischen politischen Projekts führen kann. Dies gilt besonders für die hochpolitischen Bereiche, in denen die politische Diversität bereits die Schaffung neuer Rechtsstrukturen im institutionellen Setting der Unionsgesetzgebung unterbindet. Das rein auf formal übertragene Kompetenzen blickende Postulat einer institutionellen Überwindung mitgliedstaatlicher Gestaltungsvorbehalte (als unionale Gesetzgebungsbremse) übersieht das Politische und baut fehlende Akzeptanz mit einem nichtkommunizierten Impetus suchrationaler Politikgestaltung zu.271 Insofern muss es darum gehen, ein klares Regime für Differenzierungen zu schaffen, um politische Verantwortung zurechenbarer und sichtbarer zu machen.272 Ein indirektes Argument für diese Position ist die überholten supranationalen Absolutheitsansprüchen 273 entgegengesetzte Deutung, welche die Zunahme intergouvernementalen Handelns als demokratischen Fortschritt begreift, der nicht zu einer Renationalisierung der europäischen Politik, sondern zu einer Europäisierung der nationalen Politik führt und die Union als Ganzes stärkt.274 Auch hier bleibt indes das 270   Burkard Steppacher, Package Deal, in: Jan Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 52015: „Methode der Entscheidungsfindung, speziell in politischen Gremien, um durch „Paketlösungen“ verschiedene, ursprünglich getrennte Fragen miteinander zu verknüpfen und durch gegenseitige Konzessionen im Rahmen eines Interessenausgleichs – ggf aber auch durch Überwälzung des Problems auf Dritte – einen Kompromiss zu erreichen. Die Beteiligten nehmen dabei Nachteile in einem Teil der Bereiche in Kauf, da diese durch Vorteile in anderen Bereichen ausgeglichen werden. Durch ein solches Schnüren von Verhandlungspaketen („Gesamteinigungen“) konnte in der EU wiederholt eine drohende Stagnation überwunden werden. Langfristig können sich aber die im Rahmen des „package deals“ gegenseitig in Kauf genommenen Nachteile auch als Sprengsätze der Integration erweisen.“; exemplarisch für eine Verquickung von Staatsschulden- und Migrationskrise die Schilderung bilateraler Gespräche bei Robin Alexander, Die Getriebenen, 2017, 97 f. 271  Exemplarisch hierfür steht McCrea (Fn.  232), 66 (68 f.); zu derartigen Ideen Alexander Somek, Gesundbeten und Krankreden, oder: Wie man die EU besser nicht unterstützen sollte, Verf Blog, 2017/11/28, http://verfassungsblog.de/gesundbeten-und-krankreden-oder-wie-man-die-eu-bessernicht-unterstuetzen-sollte. 272   Zu Recht kritisch zum „unübersichtlichen Wildwuchs an Ausnahmen, Opt-ins, Opt-outs, Verstärkter Zusammenarbeit und anderen Kooperationsformen“ Jaeger (Fn.  245), 127 (129), dessen origineller Vorschlag einer stärkeren institutionellen Inkorporation der nationalen Parlamente in unionalen Gesetzgebungsprozessen über den Rat hier allerdings aufgrund der weiteren Verschränkungswirkung zugunsten einer Lösung über die Kompetenzverteilung zurückgestellt wird. 273   Exemplarisch hierfür schon auf methodischer Ebene Frank Hoffmeister, Vom Ziel der Europäischen Union, Eine politische Perspektive aus Brüssel, in: G. Kirchhof/Kube/Schmidt, Von Ursprung und Ziel der Europäischen Union, 2016, 113 (130), der sich klar gegen einen Formenpluralismus ausspricht und der Integration besser „durch einen – ja orthodoxen [!] – Vorrang der Gemeinschaftsmethode“ gedient sieht. 274   v. Middelaar, (Fn.  228), ebd.; ders., Vom Kontinent zur Union, Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, 2016, 11–24; zum schon immer existenten Zusammenspiel von Supranationalität und

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Problem des nicht mehr zur politischen Heterogenität passenden dichten institutionellen Rahmens und der angeschlossenen Erwartungen.275 Eine politisch und kompetenziell überdehnte Überstaatlichkeit büßt letztlich ihre nicht allein auf Legalität gründenden Legitimitätsressourcen zur Einwirkung in die staatlichen Räume ein.276 Ihr Zustand wird in zentralen Politikbereichen, die sie nur durch Recht, nicht durch Zwang ansprechen kann, als krisenhaft wahrgenommen. Damit droht die eifersüchtige Wahrung des acquis communautaire samt Ausbaureflex ihren eigenen radikalen Rückbau nicht nur einzuleiten, sondern zu legitimieren. Trotz der klaren Mitverantwortung der staatlichen Akteure gilt: Demokratie unterliegt keinem vermeintlichen (oder gar „alternativlosem“) Rationalitätsgebot überstaatlicher Politikorganisation und einspuriger -integration.277

5.  Zwischenergebnis: Dialektik des Überstaatlichen zwischen Staat und Union Ob die Union oder ihre Mitgliedstaaten „der richtige Ort“ für eine spezifische Kompetenzwahrnehmung sind, ist keine Frage, die eine rechtswissenschaftliche Analyse zeitbeständig beantworten kann. Im Gegenteil kann das Hoheitsrecht je nach Entwicklungsstand des überstaatlichen Verbands den Ort wechseln. Diese Möglichkeit muss von ihrem in Art.  1 UAbs.  2 EUV verrechtlichtem Integrationstelos befreit und als reversibler Mechanismus in beide Richtungen begriffen und ernst genommen werden.278 Supranationalisierte Politikfelder, die an partikulare Identitätspolitik angeschlossen sind, lassen sich nicht verwalten wie Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht. Eine – auch formal positivierte – Integrationslogik kommuniziert am anders gelagerten politischen Element des Überstaatlichen vorbei und muss in einer EU der (noch) 28 anders gelesen werden als in einer EU der Sechs. Die Union ist eine Ordnung, in der die Mitgliedstaaten die Letztverantwortung für die Gestaltung der Lebensverhältnisse bewusst weder in der politischen Praxis noch nach ihren normativen Grundlagen abgegeben haben.279 Dies bestätigt unter anderem das Festhalten an Intergouvernementalität in der Entwicklung der europäischen Integration, die in keinem Gegensatz-, sondern einem Ergänzungsverhältnis standen und stehen Hauke Delfs, Komplementäre Integration, 2015, 48–51, 156 f., 362 f., 393–395. 275  Nach v. Middelaar (Fn.  261), 11–24 bergen die krisenhaften Ereignisse die Chance, die Staaten auf der Suche nach Antworten näher zusammenzubringen, als es Regelungen aus Brüssel normativ antizipieren können – vorausgesetzt die Politik reagiere (richtig); genau diese Möglichkeit wird hier aufgrund der Natur der politischen Konflikte und der hohen institutionellen Hürden neuer Unionsrechtsgestaltung angezweifelt. 276   Hierzu auch van Middelaar (Fn.  261), 14 f.; allg. Martin Lipset, Political Man, 1963, 67 f.: „On the other hand, a breakdown of effectiveness, repeatedly or for a long period, will endanger a legitimate systems stability.“ – zit. n. Majone (Fn.  211), 9. 277   Allgemein hierzu Josef Isensee, Die Rationalität des Staates und die Irrationalität des Menschen, Prämissen der Demokratie, AöR 140, 169 (184–186). 278   Dies lässt sich mit Art.  48 Abs.  2 EUV primärrechtlich abstützen, der von einer „Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten“ spricht. 279   Nettesheim (Fn.  257), 424 (425); mit Blick auf das Migrationsgeschehen Markus Möstl, Verfassungsfragen der Flüchtlingskrise 2015/16, AöR 142 (2017), 175 (219 f.); scharfe allg. Kritik bei Jürgen Neyer, Wider die Vereinigten Staaten von Europa, Europas demokratische Rechtfertigung, Leviathan 39 (2011), 479 (483 f.): „Integration gilt nicht als ein pragmatisch einzusetzendes Instrument zur Lö-

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Kompetenzbereichen mit erheblicher sozialpolitischer Wirkung nach Innen als auch an solchen nach Außen, die zentrale Bedeutung für den Grad der völkerrechtlichen Mediatisierung der Mitgliedstaaten haben.280 Erweist sich ein Politikbereich als strukturell nicht gemeinsam gestaltbar, muss eine Rückübertragung oder, genereller, eine voraussetzungsreiche, primärrechtlich kodifizierte Kompetenzwahrnehmungsklausel angedacht werden, die sich an empirischen Eckdaten wie Dauer, Schwere und Konsequenzen eines supranationalen Gestaltungs- und Vollzugsausfalls orientiert. So würde demokratische Verantwortung wieder sichtbar und deutlich zuordenbar, zugleich ein praktisch bereits eingeübtes Hin- und Herschieben von Verantwortung in Schwebelagen beendet. Hierbei wird keinesfalls übersehen, dass die Vollzugsverantwortung und damit krisenbegründende Vollzugsdefekte zu einem guten Teil bei den Mitgliedstaaten zu verorten sind. Doch ist die Verantwortungsfreistellung der Union gerade das Problem, wenn die Politik bewusst dysfunktional verortete Kompetenzen durch ein freies politisches Kräftespiel ersetzt und die Union strukturell am Erhalt dieser Kompetenzen bei ihr, in der Hoffnung auf baldige Anwendung des Geltenden, interessiert ist. Die Mitgliedstaaten müssen in einem solchen Fall auch kompetenziell und politisch sichtbar wieder in die eigentlich der Union obliegende Ausübungsverantwortung einrücken, um den Handlungsdruck zu erhöhen.281 Die plausibel zu unterscheidende Konzeptverantwortung der Mitgliedstaaten für die Union und die Kooperationsverantwortung der Union für den politischen Prozess282 können hier an inhärente Grenzen geraten, die Interessenkonstellation der beteiligten Akteure letztlich das Integrationsprojekt als Ganzes und ihre Verantwortlichkeit aus dem Blick verlieren. Deshalb muss neu über die demokratisch verankerte staatliche Letztverantwortung nachgedacht werden. Über ihre tatbestandliche Aktivierung wäre vorzugsweise weiter vom Primärrechtsgeber, also auf Verbundebene, zu beraten.283 So würde auch deutlich, dass Supranationalität kein Selbstzweck ist, sondern es um politische Gestaltung geht, wo sie möglich ist.284 Natürlich dürfen sung grenzüberschreitender Probleme, sondern als Selbstzweck, als logische Fortentwicklung der Demokratie, gegen die nur noch Vorgestrige und strukturell Uneinsichtige Bedenken anmelden.“ 280   Die Außenperspektive der internationalen Gemeinschaft auf die völkerrechtliche Mediatisierung wird jenseits theoretischer Ansätze zu Recht als entscheidender Marker für die Formbestimmung der Union ausgemacht und findet kaum Beachtung, vgl. nur mit Blick auf das Schwergewicht der auswärtigen Beziehungen und der Völkerrechtspraxis Schorkopf, Der Europäische Weg, 22015, 205 a.E. f.; Oeter (Fn.  25), 733 (740); das Bundesverfassungsgericht hat die „Sichtbarkeit“ des Staates als Völkerrechtssubjekt deshalb nicht grundlos betont, vgl. BVerfGE 123, 267 (419 f.) – Lissabon, zuletzt die Andeutung in BVerfG, Urt. v. 13.10.2016, 2 BvR 1368/16, Rn.  58 – Eilanträge CETA. 281  In diese Richtung kann auch die mehrfache Betonung in EuGH (Große Kammer), Urt. v. 7.3.2017, Rs. C-638/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:173 – X und X/État belge, Rn.  4 4 und 51 a.E. gelesen werden, die Erteilung humanitärer Visa und Aufenthaltstitel unterfalle, entgegen den weitreichenden Schlussanträgen von Generalanwalt Mengozzi, „allein dem nationalen Recht“; zu dieser Lesart der jüngeren Asylrechtsprechung vgl. Weber, Gestaltung und Verantwortung − Asyl-Entscheidungen des EuGH als Rückspiel an die Politik?, Verf Blog v. 27.7.2017, http://verfassungsblog.de/gestaltungund-verantwortung- % e2 %88 %92-asyl-entscheidungen-des-eugh-als-rueckspiel-an-die-politik/, DOI: https://dx.doi.org/10.17176/20170727-082147. 282   Für diese Unterscheidung vgl. Udo Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, 95. 283   Näherungsweise Vorschläge bei Hesse (Fn.  217), 173 (193): Bedarfsnähe, nachgewiesene Problemlösungskompetenz, Qualifikation des handelnden Personals, bürgerschaftliche Unterstützung. 284   Insoweit ähnlich Jaeger (Fn.  245) 127 (130).

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Staaten und Staatengruppen es nicht in der Hand haben, den Besitzstand der Union durch absichtliche Treuwidrigkeit zu entleeren. Das ist aber bereits normativ abgesichert (Rechtsstaatlichkeit, Art.  2 EUV und Unionstreue, Art.  4 Abs.  3 EUV). Bei dauerndem Gestaltungsausfall kann einer solchen primärrechtlichen Klarstellung nicht mit einem paralysierten Einfrieren elementarer Politikbereiche begegnet werden,285 soll die politische und, ihr nachfolgend, rechtliche Desintegration als Folge supranationaler Stagnation nicht zunehmen und die Rechtsgemeinschaft als Ganzes gefährden. Eine formal beschlossene und komplexe Konstruktion wie das Dublin-System sollte den Anspruch haben, mehr als nur im Amtsblatt zu stehen oder von Ausnahmen zu leben, andernfalls ersetzt zu werden.286 Zugleich ist der Politikbereich selbst zu wichtig, um bei anhaltendem Dissens in einen Zustand zu geraten, in dem es zu einer eigenen Aufgabe wird, herauszufinden, ob Unionsrecht politisch noch gilt und, bejahendenfalls, wann es (wo) noch (in welchem Regel- und Ausnahmeverhältnis) angewandt wird. Die Mitgliedstaaten sind die tragenden Subjekte der überstaatlichen Struktur. Um letztere zu erhalten, sollte deshalb auch eine einzelstaatliche Wahrnehmung, idealiter in einer wieder langsam wachsenden Gruppe, möglich sein. Das ist angesichts der abgeleiteten Existenz der Union ebenso legitimationstheoretisch tragfähig wie differenzierte und gestufte Integration bereits allgegenwärtig ist. Im Euroraum ist sie institutionalisiert, in der Migrationskrise womöglich bereits im Gang.287

IV. Schluss Überstaatlichkeit ist eine rechtshistorische Kontinuität europäischer Ordnungsversuche mit einer seit 1945 stark zunehmenden institutionellen Verdichtung. Die föderale deutsche Verfassungsgeschichte in sich, als auch in ihren Verschränkungen mit europäischen und universellen Ordnungsversuchen gibt zahlreiche Beispiele für ihre Erscheinungsformen ab. Überstaatlichkeit ist zudem besonders politiksensibel. Damit ist eine Übertragung staatlichen Rechtsgeltungs- und Vollzugsdenkens ebenso zu relativieren wie eine normativ deregulierte Privilegierung des Politischen, soweit man am Anspruch einer 285   Exemplarisch für einen Rückfall der Zuständigkeit über den Aufenthalt von schutzsuchenden Drittstaatsangehörigen aufgrund der Dysfunktionalität des GEAS Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen und Aspekte zur Bewältigung der Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, 157 (164). 286   Hailbronner/Thym (Fn.  226), 753 (760): Errichtung des europäischen Asylrechts mit komplexen Verfahren, die selbst leistungsfähige Verwaltungen nur schwer umsetzen können „in einer Phase des ‚schönen Wetters‘“; Hailbronner, Obergrenzen einmal anders, FAZ v. 29.9.2016, Nr.  228, 6, betont zutreffend, dass ein punktuelles sekundärrechtliches Selbsteintrittsrecht nicht ein im Ganzen dysfunktionales System aufrecht erhalten kann; zur Anwendung Bundeskanzlerin Merkel im Europäischen Parlament (EP Press Release v. 7.10.2015, François Hollande and Angela Merkel face MEPs): „The Dublin process, in its current form, is obsolete.“ 287   Hailbronner/Thym (Fn.  226), 753 (762 f.) sehen i.R.d. Migrationskrise bei supranationalem Gestaltungsausfall eine primärrechtliche Gestattung für einzelstaatliches Tätigwerden in Art.  72 AEUV; hierzu auch Möstl (Fn.  279), 175 (201–216); nach der hier vertretenen Auffassung bedarf es angesichts anhaltender Dysfunktionalitäten in verschiedenen überstaatlichen Politikbereichen einer generellen primärrechtlichen Regelung.

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Ferdinand Weber

organisierten Rechtsgemeinschaft festhalten will. Das Denken über die Europäische Union muss das Fortschrittsnarrativ einer immer engeren Union und einer orthodoxen Integrationslogik aufgeben.288 Fragt man beim derzeitigen Mitgliederbestand nach der Finalität des Integrationsprozesses, spricht viel dafür, Überstaatlichkeit nicht als Zwischenstadium zur Überwindung vorhandener, sondern als Ergänzung und Vitalisierung kooperativer, offener Staatlichkeit zu sehen.289 Ihre rechtlichen Mechanismen unterliegen komplexen politischen Verständigungsprozessen, die schwerfälliger als jene der Staatlichkeit sind, aber dem Anspruch genügen müssen, nicht zur Entrechtlichung der Rechtsgemeinschaft zu führen. Damit ist die Gelingensbedingung von Überstaatlichkeit einfach auf den Punkt zu bringen. Sie entspricht ihrer intendierten Funktion: der besonders abgesicherten, verrechtlichten grenzüberschreitenden Verständigung. Die Rechtsstruktur dafür existiert und muss grundsätzlich nur politischen Verständigungswillen wiedergewinnen. Wo das nicht geht, sollte die vertikale Kompetenzverlagerung in beide Richtungen auf einen revitalisierenden Austausch eingerichtet werden. Bundesstaatliche Erfahrungen zeigen, dass Kompetenzverlagerungen nicht irreversible Einbahnstraßen sind, sondern dem geeigneten politischen Raum zufallen sollten (und auch hier hart dafür verhandelt werden muss). Insofern benötigt die Europäische Union keine politischen Debatten über unspezifizierte Strukturoptionen, sondern eine harte kompetenzgerichtete „Föderalismusreform“, die in keine Richtung als Einbahnstraße gedacht werden darf. Es geht um effektive und konsensfähige Politik, die den politischen Gemeinschaften dient. Sie sind aus überstaatlicher Sicht zur gesamten Hand Schöpfer und Adressaten eines potenziell aktivierbaren grenzüberschreitenden Gemeinwohls. Überstaatlichkeit, die sich nicht als Selbstzweck begreift, weiß um ihre dienende Funktion. Offenheit, Unsicherheit und Unschärfe sind überstaatliche Normalität – doch inzwischen mit einem demokratisch fundierten Funktionsanspruch und staatlichem Primat versehen. Für die Europäische Union gilt besonders, dass linearer Fortschritt sich nur in schlechten Geschichtsbüchern 290 und (rechts)wissenschaftlichen Wunschvorstellungen findet, die das Politische vergessen. Die Informationsmöglichkeiten und Rechtsakteurspluralisierung des 21. Jahrhunderts mag metaphorisch eine Vielfalt zu beackernder Rechtsschrebergärten erschlossen haben,291 die manche zur Relativierung, andere zur Bekräftigung gewachsener Partikularität be288   Oben Fn.  273 und zuletzt mit dem überkommenen Narrativ die sehr viel differenziertere Vertragsstruktur überdeckend McCrea (Fn.  232), 66 (68): „Neither the newer forms of integration attempted nor ‚standing still‘, that is, simply maintaining current levels of integration, are sustainable options because current EU legal principles and dicision-making-structures are based on the assumption that they are merely transitional arrangements that apply pending the realisation of a more supranational and less intergovernmental future.“ 289   Seinerzeit noch weitergehend und dennoch in der Sache ähnlich Steiger (Fn.  6 ), 7: „Vielmehr geht diese Untersuchung davon aus, daß das Prinzip der Überstaatlichkeit, wie es sich in den Gemeinschaften zu verwirklichen beginnt, für die Erhaltung der nationalen Staatlichkeit notwendig ist.“ (Vorwort). 290   Krastev (Fn.  212), 132. 291   Schönberger (Fn.  52), 6 (6, 10 f.) spricht davon, dass die „Pflege eines rein national verstandenen Rechtsschrebergartens“ ihrem Ende entgegen gehe, es aber „nicht um einen vorschnellen Universalismus oder wohlfeile Konvergenzeuphorie“ gehen kann, „wie sie in der Rechtsvergleichung seit jeher häufig anzutreffen ist“ und erinnert an die starke Rechtsvergleichung im sich industrialisierenden und globalisierenden 19. Jahrhundert.

Überstaatlichkeit als Kontinuität und Identitätszumutung

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wegt. Für europäische Überstaatlichkeit in staatlicher und rechtswissenschaftlicher Vielfalt ist dann das – seinerzeit herrschafts- und legitimationstheoretisch gemünzte – Bonmot Heinrich Albert Zachariäs weiter gültig: Ueber Europa’s Zukunft? – Eine Aufgabe von unermesslichem Umfange! eine Aufgabe, welche eine Menge Seiten darbietet und, von welcher Seite man sie auch betrachte, in das Gebiet der eben so unsicheren als verrufenen Kunst, die Zukunft vorherzusagen, gehört! 292

292   Heinrich Albert Zachariä, Ueber Europa’s Zukunft, Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes 4 (1832), 305 (305).

Der Amtshaftungsanspruch und Auslandseinsätze der Bundeswehr Eine verfassungsrechtliche und rechtsvergleichende Betrachtung aus Anlass des Kunduz-Urteils des Bundesgerichtshofs von

Dr. Paulina Starski, LL.B., Hamburg/Heidelberg/New York und Leander Beinlich, Heidelberg Inhalt I. Haftungsproblematik aus der Perspektive des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Völkerrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Haftung für Handlungen im Rahmen militärischer Auslandseinsätze innerhalb bewaffneter Konflikte – Ein verfassungsrechtliches Gebot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 II. Verfassungsrechtlich gebotene Berücksichtigung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 III. Rechtsvergleichende Betrachtung der Staatshaftung im Rahmen militärischer Auslandseinsätze . . . . . 316 1. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2. Vereinigte Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 3. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 4. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 5. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 6. Herausarbeitung und Evaluierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden . . . . . . . . . . . . . . 332 IV. Schlussbetrachtung – Die Justiziabilität des Krieges und der Amtshaftungsanspruch in Gestalt des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Die Kunduz-Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu der Frage, ob zivile Opfer von Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen bewaffneter Konflikte im Ausland die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz verklagen können,1 hat viel Aufsehen erregt und die Debatte rund um den Anwendungsbereich des deutschen Staatshaftungsrechts – hier insbesondere des Amtshaftungsanspruchs – neu angestoßen. Sie zu   BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656.

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führen, stellt mehr denn je eine Notwendigkeit dar: Zurzeit ist die Bundeswehr mit über 3700 Soldaten in 16 Missionen aktiv.2 In seiner Revisionsentscheidung zum im Jahre 2009 in Kunduz erfolgten Luftangriff hat der III. Zivilsenat des BGH die Vorinstanzen im Ergebnis bestätigt und Ansprüche auf Schadensersatz in concreto verneint. Während der Ausgang des Urteils absehbar war, überraschte dessen ratio decidendi: Der BGH schränkt den sachlichen Anwendungsbereich des Amtshaftungsanspruchs dahingehend ein, dass dieser bei Handlungen im Rahmen militärischer Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht zum Tragen kommt 3 – eine Frage, die er (wie die Instanzgerichte4 zuvor) in Vorgängerurteilen wie Distomo5 und Varvarin6 jedenfalls für die Zeit nach 1949 offengelassen hatte. Hiermit setzt sich der Gerichtshof auch vom Bundesverfassungsgericht ab, das in der Sache Varvarin die Frage des Anwendungsbereichs des Amtshaftungsanspruchs zwar ebenfalls nicht endgültig klärte, sich aber doch intensiv und detailliert mit der Anwendung des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB durch die Instanzgerichte auseinandersetzte.7 Der Sprengkraft und Angreif barkeit seines Urteils ist sich der BGH wohl bewusst: So sichert er sein Ergebnis mittels einer „selbst wenn, dann“-Argumentation ab, indem er das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung in concreto bei unterstellter Anwendbarkeit des Amtshaftungsregimes verneint.8 Jenseits einer kritischen Evaluierung dieses Einzelurteils soll die in dessen Zentrum stehende komplexe Kernproblematik – eingeschränkter sachlicher Anwendungsbereich des Amtshaftungsanspruch bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen von bewaffneten Konflikten –, die an die Schnittstelle von Verfassungs- und Völkerrecht rührt, näher beleuchtet werden. Sämtliche Ansichten, die von einem eingeschränkten sachlichen Anwendungsbereich des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB ausgehen, fußen in unterschiedlichem Ausmaß auf dem Narrativ, der Amtshaftungsanspruch beschränke sich auf gewöhnliches Verwaltungshandeln9 – eine Kategorie, die militärische Einsätze im Rahmen bewaffneter Konflikte sprengten. Um den zahlreichen Dimensionen dieser Problematik, die eng mit der Frage nach der Justiziabilität von Kriegshandeln verknüpft ist, gerecht zu werden, soll eine genuin verfassungsrechtliche Analyse [I.] unter Einbeziehung einschlägiger EGMRRechtsprechung [II.] durch rechtsvergleichende Erkenntnisse komplementiert werden [III.].10 Dabei werden sich die Ausführungen zum deutschen Staatshaftungs­ regime auf den Amtshaftungsanspruch fokussieren, der im Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzungen steht. 2  http://www.bundeswehr.de/portal/poc/bwde?uri=ci:bw.bwde.einsaetze.ueberblick.zahlen (zuletzt aufgerufen am 22.11.2017). 3   BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3658). 4   LG Bonn, Kunduz, JZ 2014, S.  411; OLG Köln, Kunduz, NJW 2015, S.  392. 5   BGH, Distomo, BGHZ 155, 279 [2003]. 6   BGH, Varvarin, BGHZ 169, 348 [2006]. 7   BVerfG, Varvarin, EuGRZ 2013, S.  563, Rn.  52, 53 ff. 8   BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3661 ff.). 9  Vgl. jedenfalls hinsichtlich des Aufopferungsanspruchs Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6.  Aufl., 2013, S.  43. 10   Zur Bedeutung dieser „fünften Auslegungsmethode“ im Verfassungsrecht, Häberle, Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis, 2016, S.  23.

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I.  Haftungsproblematik aus der Perspektive des Grundgesetzes Dem Wortlaut des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB kann keine Beschränkung seines Anwendungsbereichs auf hoheitliches Handeln außerhalb von militärischen Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Rahmen bewaffneter Konflikte entnommen werden.11 Eine solche muss im Wege einer teleologischen Reduktion12 der betreffenden Norm hergeleitet werden. Eine derartige Einschränkung des Anwendungsbereichs, die von einigen Literaturstimmen unterstützt wird,13 wirft in vielerlei Hinsicht Fragen auf. Ein erstes Problem stellt sich bereits bei der Frage, welche konkreten Konstellationen dem restriktiven Ansatz folgend vom sachlichen Anwendungsbereich ausgenommen sein sollten: jegliche Aktivitäten im Rahmen von militärischen Auslandseinsätzen, solche im Rahmen oder auch nur anlässlich von Einsätzen im Rahmen bewaffneter Konflikte14 oder nur echte Kampf handlungen? In dieser Frage lassen die Gerichte und die Literatur nicht hinreichend Präzision walten, obwohl es sich hierbei um ein wesentliches Moment handelt.15 Sicherlich wird wohl kaum jemand jeglichem Auslandshandeln der Bundeswehr einen haftungsrechtlichen „Freifahrtschein“ erteilen wollen. Doch auch jenseits dieser Ungenauigkeiten erscheint zweifelhaft, ob die Argumente, die für einen beschränkten Anwendungsbereich angeführt werden, überzeugen und die verfassungsrechtlichen Aspekte, die im Gegenteil gegen eine solche Einschränkung streiten, entkräften können. Dies soll hier in der gebotenen Kürze im Anschluss an eine Skizzierung des völkerrechtlichen Rahmens der Problematik [1.] näher betrachtet werden [2.]. Dabei ist die bestehende Argumentationslast zu berücksichtigen: Angesichts des Wortlauts des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB ist die teleologische Reduktion rechtfertigungsbedürftig und nicht umgekehrt die Annahme, Handeln im Rahmen von Auslandseinsätzen im Kontext bewaffneter Konflikte werde vom Amtshaftungsanspruch erfasst.

  Dies hat auch der BGH im Kunduz-Fall eingestanden: BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3659).   Zur teleologischen Reduktion im Allgemeinen vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4.  Aufl., 1979, S.  377 ff.; vgl. hinsichtlich des Normzwecks des §  839 BGB: Schmahl, Keine Amtshaftung für schuldhafte Völkerrechtsverstöße in bewaffneten Auseinandersetzungen?, NJW 2017, S.  128 (130). 13   Raap, Staatshaftungsansprüche im Auslandseinsatz der Bundeswehr, NVwZ 2013, S.  552 (554) ( jedenfalls eine gesetzgeberische Entscheidung dahingehend fordernd); kritisch ebenso Papier/Shirvani, in: MüKoBGB, 7.  Aufl., 2016, §  839 Rn.  187a. Noch deutlicher in der VorAufl. vgl. Papier, in: MüKoBGB, 5.  Aufl., 2009, §  839 Rn.  187a. 14   Zum Begriff des bewaffneten Konflikts siehe etwa Bothe, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6.  Aufl., 2013, 8. Abschnitt, II. Rn.  62 ff. 15   An einer Stelle spricht der BGH davon, dass das „nationale (deutsche) Amtshaftungsrecht […] auf Schäden keine Anwendung“ fände, „die bei dem bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte ausländischen Bürgern zugefügt werden.“, BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3658). In Rn.  21 spricht er von „Kampfeinsätzen deutscher Soldaten im Ausland“, in Rn.  27 von Auslandseinsätzen „deutscher Streitkräfte im Rahmen bewaffneter Konflikte“, in Rn.  34 wiederum von „Kampf handlungen deutscher Streitkräfte“. 11

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1.  Völkerrechtlicher Rahmen Handeln deutscher Staatsorgane im Rahmen bewaffneter Konflikte unterliegt dem humanitären Völkerrecht,16 dessen Verletzung völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit nach sich zieht.17 Diese ist zwischenstaatlicher Natur. Zwar berechtigen einige Normen des humanitären Völkerrechts unmittelbar das Individuum,18 auf sekundärer Ebene ist diese Individualisierung jedoch prima facie noch nicht nachvollzogen worden.19 Etwaige individuelle Rechtsverletzungen können nach traditioneller staatszentristischer und insbesondere vom BVerfG geteilter Auffassung20 allein auf zwischenstaatlicher Ebene im Wege des diplomatischen Schutzes durch die Heimatstaaten der Verletzten geltend gemacht werden.21 Hieran hat de lege lata das zunehmende Auf brechen der Mediatisierung des Individuums durch seinen Heimatstaat auf völkerrechtlicher Ebene22 wohl nach wie vor (noch) nichts geändert.23 Es ist dennoch verfehlt anzunehmen, dass das ius in bello-Regime Fragen der Kriegsentschädigung abschließend regelt und somit für individuelle nationale Schadensersatzansprüche kein Raum verbleibt (so aber die sogenannte Exklusivitätsthese).24 Auf Ebene des Völkerrechts lässt sich gerade keine Regel identifizieren, die besagt, dass eine Kompensation von Schäden, die in kriegerischem Kontext seitens Staatsangehöriger dritter Staaten erlitten wurden, allein nach völkerrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen hätte. Staaten sind frei darin, über das Völkerrecht hinausgehende Entschädigungsansprüche in ihrer Rechtsordnung vorzusehen und so geschädigte Individuen  Vgl. Brenner, Amtshaftung und Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: FS Papier, 2013, S.  467.   V. Woedtke, Die Verantwortlichkeit Deutschlands für seine Streitkräfte im Auslandseinsatz und die sich daraus ergebenden Schadensersatzansprüche von Einzelpersonen als Opfer deutscher Militärhandlungen, 2010, S.  73. 18  Vgl. Schmahl, Amtshaftung für Kriegsschäden, ZaöRV 2006, S.  699 (713 ff.). Allgemein siehe ferner Kleffner, Scope of Application of International Humanitarian Law, in: Fleck (Hrsg.), Handbook of International Humanitarian Law, 3.  Aufl., 2013, Rn.  211. 19   Ebenso unter Heranziehung umfassender späterer Staatenpraxis v. Woedtke (Fn.  17), S.  293. Zu möglichen gegenläufigen Tendenzen etwa in der niederländischen Rechtsprechung siehe unter III. 5. Zur berechtigenden Wirkung von Menschenrechten ferner mehr unter II. 20   BVerfG, Varvarin, EuGRZ 2013, S.  563, Rn.  4 0 ff. 21   Brenner (Fn.  16), S.  468; vgl. auch Dutta, Amtshaftung bei bewaffneten Auslandseinsätzen, AöR 133 (2008), S.  190 (198). 22   Zum Individuum als primärem Völkerrechtssubjekt eindrücklich Peters, Jenseits der Menschenrechte, 2014; vgl. auch zum „Aufweichen der souveränitätsbewehrten Hülle des Staates“, v. Arnauld, Völkerrecht, 3.  Aufl., 2016, Rn.  52. 23   BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3657); auch BVerfG in der Sache Varvarin, BVerfG, EuGRZ 2013, S.  563, Rn.  43. 24   Zu dieser Féaux de la Croix, Schadensersatzansprüche ausländischer Zwangsarbeiter im Lichte des Londoner Schuldenabkommens, NJW 1960, S.  2268 (2269). Zur Einordnung und zur Person des Autors sei hinzugefügt, dass Ernst Féaux de la Croix von 1934 bis 1945 im Reichsjustizministerium tätig und nach Kriegsende in leitender Funktion im Bundesfinanzministerium für Wiedergutmachung und Entschädigung von NS-Unrecht zuständig war. Siehe dazu Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2016, S.  145. Für eine Exklusivität ebenfalls Kempen, Der Fall Distomo: griechische Repara­ tionsforderungen gegen die Bundesrepublik Deutschland, in: FS Helmut Steinberger, 2002, S.  179 (187 f.); Gurski, Kriegsforderungen, AWD 1961, S.  12 (14 f.) sowie LG Bonn, NJW 2004, S.  525; wohl auch Raap (Fn.  13), S.  554. Die Exklusivitätsthese wird jedoch von der überwiegenden Mehrheit der Literatur abgelehnt. Vgl. Schmahl (Fn.  12), S.  130 und Schwager, Ius bello durante et bello confecto, 2008, S.  194 ff., m.w.N. 16 17

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gegenüber dem völkerrechtlichen Kompensationsregime potentiell „besserzustellen“.25 Ihnen kommt dahingehend „Regelungsautonomie“ zu. Gleichzeitig ist richtig, dass das Völkerrecht nicht zur Einräumung nationaler Entschädigungsansprüche für völkerrechtswidriges Handeln verpflichtet. Lehnt man die Exklusivitätsthese ab, so kann auch kaum überzeugen, ein lex specialis-Verhältnis zwischen völkerrechtlichem und nationalstaatlichem Haftungsregime anzunehmen.26 Dies folgt bereits daraus, dass beide sich ihrer Natur nach wesentlich unterscheiden.27 Zudem würde die gegenteilige Annahme die Anspruchsparallelität von Völkerrecht und nationalem Recht, die gerade Folge einer Ablehnung der Exklusivitätsthese ist, zu einer „inhaltsleeren Hülle“ verkommen lassen.28 Kernbestimmung des deutschen Haftungsregimes ist der Amtshaftungsanspruch des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB. Diesbezüglich ist bis dato weitgehend unstrittig gewesen, dass Verletzungen des humanitären Völkerrechts (jedenfalls solcher Normen, die sich auf den Individualschutz fokussieren) die Verletzung drittbezogener Amtspflichten – eines zentralen Tatbestandsmerkmals des Amtshaftungsanspruchs – konstituieren können.29 Insofern verschränken sich im Amtshaftungsanspruch die völkerrechtliche- und die verfassungsrechtliche Ebene.

2. Haftung für Handlungen im Rahmen militärischer Auslandseinsätze innerhalb bewaffneter Konflikte – Ein verfassungsrechtliches Gebot? Obwohl eine Haftung für Staatshandeln im Rahmen militärischer Auslandeinsätze durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Belange tangiert, vermögen im Ergebnis weder der Wille des Gesetzgebers [a)] noch die gefürchteten Konsequenzen einer Anwendbarkeit des Amtshaftungsregimes im Rahmen bewaffneter Konflikte [d)] eine teleologische Reduktion des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB zu tragen. So sprechen – was besonders gewichtig ist – eine grundrechtliche [b)] sowie völkerrechtsfreundliche Lesart des Amtshaftungsanspruchs [c)] gegen eine solche. Dabei werden die Gebote der EMRK zunächst ausgeblendet und separat unter II. behandelt. a) Der Einwand, seit Geltung des Grundgesetzes habe der Gesetzgeber bis dato niemals entschieden, den Anwendungsbereich des Art.  34 i.V.m. §  839 BGB auszuweiten, trägt nicht weit, da er bereits im Ansatz verfehlt ist: Angesichts des Wortlauts des Art.  34 i.V.m. §  839 BGB, der militärische Kampf handlungen nicht vom Anwendungsbereich der betreffenden Normen ausnimmt, besteht – wie bereits erwähnt – eher Anlass dafür, nach einer expliziten Entscheidung des Gesetzgebers zu suchen, den Anwendungsbereich der Art.  34 i.V.m. §  839 BGB einschränken zu wollen.

25  Dies hat auch der BGH in der Kunduz-Entscheidung anerkannt, BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3658) und entspricht ständiger Rechtsprechung des BVerfG und des BGH. Vgl. BVerfG, Zwangsarbeiter, BVerfGE 94, 315 (329 ff.) [1996]; BVerfG, Italienische Militärinternierte, NJW 2004, S.  3257 (3258); BGH, Distomo, BGHZ 155, 279 (293 f.) [2003]. Ebenso Schmahl (Fn.  12), S.  130. 26   BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3660). 27  Vgl. Schmahl (Fn.  12), S.  131. 28   OLG Köln, Varvarin, NJW 2005, S.  2860 (2863). 29   Dutta (Fn.  21), S.  222.

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Nur unzureichend lässt sich eine teleologische Reduktion aus dem Willen des historischen Gesetzgebers konstruieren.30 Dem Gesetzgeber wird bei der Schaffung des §  839 BGB im Jahre 1900 eine mögliche Amtshaftung für Geschehnisse im Rahmen von Kampf handlungen wohl nicht vor Augen geschwebt haben31 – zumal damals eine Auffassung vom Krieg als eines allgemeinen Ausnahmezustandes vorherrschte,32 der rechtliche Normalkategorien außer Kraft setzt, und eine rein zwischenstaatliche Konzeption des Völkerrechts dominierte.33 Entscheidend ist jedoch, dass seit Inkrafttreten des Grundgesetzes die Bestimmungen des BGB in einen völlig anderen normativen Rahmen gebettet sind, der die Bedeutung des historischen Gesetzgeberwillens relativiert.34 Das Argument, auch der Parlamentarische Rat habe bei Verabschiedung des Art.  34 GG keine militärischen Auslandseinsätze vor Augen gehabt, da das internationale militärische Engagement der Bundeswehr nach jetzigem Gepräge insgesamt nicht vorhersehbar gewesen ist,35 geht fehl. Es liegt in der ab­ strakt-generellen Natur von Normen begründet, dass sie sich mit ihrem Inkrafttreten vom notwendigerweise beschränkten Verständnishorizont des Gesetzgebers emanzipieren und eine Eigendynamik entfalten. Dies belegt auch der Auslegungskanon, bei dem der historische Wille nur eine – und keineswegs die entscheidende – Determinante zur Identifikation des Norminhalts darstellt.36 Gerade dies ermöglicht es, dass Normen im Zuge politisch-sozialer und rechtlicher Weiterentwicklungen nicht an Effektivität einbüßen und mit diesen Veränderungen wachsen. Zudem lässt sich einigen Normen durchaus entnehmen, dass weder der gesetzgeberische Wille dahin geht, Haftungsansprüche in den hier interessierenden Konstellationen auszuschließen, noch, dass die Legislative annähme, Haftungsansprüche bestünden per se nicht: §  7 RBHG (Reichsbeamtenhaftungsgesetz) n.F.37 lautet nach Neufassung durch das Auslandsverwendungsgesetz von 1993 nunmehr so, dass die Bundesregierung durch Rechtsverordnung zur Herstellung der Gegenseitigkeit bestimmen kann, dass Ausländern Ansprüche aus diesem Gesetz nicht zustehen, wenn Deutschen bei vergleichbaren Schäden kein Ausgleich nach dem dortigen nationalen Recht zukommt. Im Gegensatz zu §  7 RBHG a.F.38 gilt also die Übernahme der   So aber der BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3659).  Ausführlich zur Geschichte des §  839 BGB, welche zu der genannten Konstellation schweigt: Wurm, in Staudinger BGB, Neubearbeitung 2007, §  839 BGB, Rn.  1 ff. 32   Vgl. BGH, Distomo, BGHZ 155, 279 [2003], Rn.  58. 33   Zu dieser Konzeption und ihrer Entwicklung Ipsen, in Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 6.  Aufl., 2014, S.  46 ff. 34  Vgl. etwa zur Auslegung der vor-grundgesetzlichen Normen der WRV, Korioth, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  140, Rn.  9. 35   So aber der BGH in BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3659). 36   Zur Bedeutung der historischen Auslegung im Allgemeinen Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.  Aufl., 1991, S.  328 ff. und im Hinblick auf die Verfassungsauslegung Badura, Staatsrechts, 5.  Aufl., 2015, S.  25. 37   RGBl. S.  798, geändert durch Art.  6 Auslandsverwendungsgesetz vom 28.7.1993, BGBl. I S.  1394. 38   §  7 a.F.: Amtshaftungsansprüche standen Ausländern nur zu insoweit zu als „als nach einer im Reichsgesetzblatt enthaltenen Bekanntmachung des Reichskanzlers [ jetzt: des nach der Geschäftsverteilung der Bundesregierung zuständigen Ministers – Art.  129 Abs.  1] durch die Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die Gegenseitigkeit verbürgt ist“. Diese Regelung ist seitens des BVerfG als verfassungskonform und insbesondere mit dem Gleichheitssatz als vereinbar eingeordnet worden, BVerfG, Gegenseitigkeitsverbürgung, NVwZ 1983, S.  89. 30 31

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Haftung als Regel. Die Aussagekraft dieser Normen für die hiesige Fragestellung wird von vielen in Zweifel gezogen.39 Durch das Auslandsverwendungsgesetz40 habe der Tatsache, dass Deutschland sich vermehrt an humanitären Einsätzen mit unterstützenden Maßnahmen beteiligt, Rechnung getragen werden wollen.41 Auch wenn sich die Bezugnahme auf humanitäre Einsätze in der Gesetzesbegründung in der Tat nachweisen lässt, so ist wesentlich, dass der Gesetzgeber – was die Novellierung des §  7 des RBHG zeigt – durchaus gesehen hat, dass sich die Aktivitäten der deutschen Staatsgewalt auf das Ausland erstrecken, und anerkannt hat, dass sich in diesem Zusammenhang haftungsrelevante Tatbestände ergeben können. Humanitäre Einsätze stellen keinen Fall „alltäglicher“ Verwaltungstätigkeit dar, von möglicher Haftung geht der Gesetzgeber aber aus.42 Zudem weist der BGH vorschnell von der Hand, dass §  8 des Bundesentschädigungsgesetzes43 und §  16 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“44 konkurrierende (Staatshaftungs-)Ansprüche ausschließen und somit deren grundsätzliches Gegebensein voraussetzen.45 Selbst wenn man dem Gesetzgeber lediglich Untätigkeit attestieren könnte, so wird man aus dieser jedenfalls „ableiten können, dass er offensichtlich von   Dem BGH zufolge kann dies nicht als Argument dafür herangezogen werden, dass der Anwendungsbereich des Amtshaftungsanspruchs Auslandseinsätze im Rahmen von bewaffneten Konflikten erfasst – eine Argumentation, die mit seinem Distomo-Urteil durchaus in einem Spannungsverhältnis steht. Hier bejahte er eine Relevanz des RBHG für Fragen der Haftung, siehe BGH, Distomo, NJW 2003, S.  3488 (3492 f.). 40   Vom 28.7.1993, BGBl. I S.  1394. 41   In der Tat lautet es in der Begründung zum Gesetzesentwurf zum Auslandsverwendungsgesetz (das u.a. §  7 RBHG modifizierte): „Für Deutschland ergibt sich vermehrt die Notwendigkeit der Beteiligung von Soldaten und Beamten an humanitären und unterstützenden Maßnahmen im Ausland.“ (BT-Drs. 12/4989, 19.5.1993, S.  1). 42   Siehe Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss), BT-Drs. 12/5142, 16.6.1993, S.  15: „Mit der Verordnungsermächtigung in Artikel 6 wird eine notwendige staatshaftungsrechtliche Regelung der Gegenseitigkeitsfrage getroffen, die voraussichtlich im Vergleich zur bestehenden Rechtslage keine spürbaren finanziellen Auswirkungen haben wird, weil in den problematischen Fällen auch bisher der Bund im Innenverhältnis gegenüber dem unmittelbar in Anspruch genommenen Amtswalter zur Erstattung bereit war. Ohne eine ausdrückliche Regelung bliebe eben dieser Amtswalter jedoch zunächst dem Zugriff ausgesetzt.“. 43   §  8 Abs.  2 : „Ansprüche gegen andere Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts oder gegen Personen des privaten Rechts werden durch dieses Gesetz nicht berührt. Sie gehen, soweit nach diesem Gesetz Entschädigung geleistet ist, auf das leistende Land über. Der Übergang kann nicht zum Nachteil des Berechtigten geltend gemacht werden.“ 44  §  16: „(1) Leistungen aus Mitteln der öffentlichen Hand einschließlich der Sozialversicherung sowie deutscher Unternehmen für erlittenes nationalsozialistisches Unrecht im Sinne von §  11 können nur nach diesem Gesetz beantragt werden. Etwaige weitergehende Ansprüche im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht sind ausgeschlossen. Das gilt auch, soweit etwaige Ansprüche kraft Gesetzes, kraft Überleitung oder durch Rechtsgeschäft auf einen Dritten übertragen worden sind. (2) Jeder Leistungsberechtigte gibt im Antragsverfahren eine Erklärung ab, dass er vorbehaltlich der Sätze 3 bis 5 mit Erhalt einer Leistung nach diesem Gesetz auf jede darüber hinausgehende Geltendmachung von Forderungen gegen die öffentliche Hand für Zwangsarbeit und für Vermögensschäden auf alle Ansprüche gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht sowie auf gegen die Republik Österreich oder österreichische Unternehmen gerichtete Ansprüche wegen Zwangsarbeit unwiderruflich verzichtet. […] (3) Weitergehende Wiedergutmachungs- und Kriegsfolgenregelungen gegen die öffentliche Hand bleiben hiervon unberührt.“ 45   Siehe die sehr knappe Rn.  32, BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3660). 39

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einer dynamischen Anpassung der relevanten Normen an die Gegebenheiten der Gegenwart ausgeht“.46 b) Art.  34 GG selbst ist weder als „Grundrecht“ noch als „grundrechtsgleiches Recht“ i.S.d Art.  93 Abs.  1 Nr.  4a GG zu qualifizieren.47 Überwiegend wird Art.  34 GG als haftungsüberleitende Norm auf den Dienstherren und insofern verfassungsrechtlich verbürgte befreiende Schuldübernahme,48 die das Grundprinzip der mittelbaren Staatshaftung verkörpert,49 aufgefasst. Als institutionelle Garantie der Staatshaftung,50 deren einfach-gesetzliche Ausgestaltung bzw. Einschränkung unter einem Parlamentsvorbehalt steht,51 ergänzt und konkretisiert Art.  34 GG den primären Rechtschutz nach Art.  19 Abs.  4 GG52 und steht mit den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie des Vorrangs der Verfassung in unmittelbarer Wechselwirkung.53 Staatshaftung ist Gebot des Rechtsstaates und prägt wie die Grundrechte sein Wesen.54 Seine Ratio ist der Schutz des durch eine Amtspflichtverletzung Geschädigten,55 insofern steht Art.   34 GG auch im Dienste der Grundrechte.56 Wenngleich Art.  34 GG nicht zwingend als eine Anspruchsnorm – was einige jedoch behaupten57 – zu verstehen ist, so verlangt er jedenfalls, dass das durch rechtswidrig ausgeübte Staatsgewalt verletzte Individuum nicht ohne angemessenen Schadensausgleich bleiben darf.58 Aus Art.  34 GG selbst folgt, dass Haftungsausschlüsse einer formell-gesetzlichen Grundlage bedürfen. Terwiesche bejaht insofern die Anwendbarkeit des Amtshaftungsregimes auf militärisches Auslandshandeln bereits mit der Notwendigkeit einer formell-gesetzlichen Basis für Haftungsausschlüsse – eine Anforderung, der richterlich konstruierte teleologische Reduktionen nicht genügten.59 Bei oberflächlicher   Schmahl (Fn.  12), S.  131.   BVerfG, Armenanwalt, BVerfGE 2, 336 (338) [1953]; Papier, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  34, Rn.  13. 48   Ossenbühl/Cornils (Fn.  9 ), S.  11. 49   Ebd., S.  12. 50   Papier, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  34, Rn.  240, 241. 51   Ebd., Rn.  87, 242; zum ungeschriebener Gesetzesvorbehalt, a.a.O., Rn.  237 ff. 52   Bonk/Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.  Aufl., 2014, Art.  34, Rn.  5. 53  Vgl. dazu Papier, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  34, Rn.  82 ff. 54   Ossenbühl/Cornils (Fn.  9 ), S.  13. 55   BVerfG, Staatshaftungsgesetz, BVerfGE 61, 149 (199) [1982]: „Art.  34 GG spricht nur davon, daß die Verantwortlichkeit für eine Amtspflichtverletzung grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft trifft, in deren Dienst der Amtsträger steht. Die Vorschrift will zwar am überkommenen Rechtszustand nichts ändern, die Konstruktion der Amtshaftung aber auch nicht ‚versteinern‘ […]. Sie gibt also einer andersartigen und weitergehenden Haftung keine Stütze, behindert sie aber auch nicht. Denn Art.  34 GG will den durch eine Amtspflichtverletzung Geschädigten schützen, nicht aber den Staat gegen weitergehende Konsequenzen seiner Fehler abschirmen. Eine Ausweitung des Rechts der Entschädigung ist deshalb verfassungsgesetzlich nicht blockiert […]. Art.  34 GG enthält nur eine ‚Mindestgarantie‘, die der zuständige Gesetzgeber zwar nicht unterschreiben, über die er aber hinausgehen darf […]. Die Einführung einer unmittelbaren Staatshaftung entbindet den Gesetzgeber indessen nicht von der Pflicht, sich hierfür mit einer Kompetenz auszuweisen.“. 56   Papier, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  34, Rn.  84. 57   Bonk/Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.   Aufl., 2014, Art.   34, Rn.   5; Bettermann, Rechtsgrund und Rechtsnatur der Staatshaftung, DÖV 1954, S.  299 ff. 58   Bonk/Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.  Aufl., 2014, Art.  34, Rn.  5. 59   Terwiesche, Kriegsschäden und Haftung der Bundesrepublik Deutschland, NVwZ 2004, S.  1324 46 47

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Betrachtung ließe sich hiergegen sicherlich einwenden, dass es der Sache nach bei dem vom BGH in der Kunduz-Entscheidung verfolgten Ansatz nicht um einen Haftungsausschluss geht, sondern um die Herleitung eines dem Art.  34 GG per se inhärenten eingeschränkten sachlichen Anwendungsbereichs. Da sich dieser jedoch dem Wortlaut nicht entnehmen lässt, kann nicht in Abrede gestellt werden, dass eine teleologische Reduktion der Vorschrift faktisch einem Haftungsausschluss gleichkommt und insofern an ähnlichen Maßstäben zu messen ist. Zwar sind Ausnahmen von der Staatshaftung nach Art.  34 S.  1 GG möglich („grundsätzlich“). Allerdings dürfen derartige Ausnahmen nur dann angenommen werden, wenn dies aus gewichtigen sachlichen Gründen des Allgemeinwohls angezeigt ist und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geachtet wird, was insbesondere voraussetzt, dass sie dem Betroffenen zumutbar sind.60 Der Kern der Staatshaftung muss unangetastet bleiben.61 Vor dem Hintergrund seiner Grundrechtswesentlichkeit und der Gebotenheit eines effektiven Rechtsschutzes des Individuums erscheint es problematisch, den Amtshaftungsanspruch nur auf „gewöhnliche Verwaltungstätigkeiten“ zu beschränken,62 auch wenn ein derartiges Verständnis im Hinblick auf den Aufopferungsanspruchs vom BVerfG in der Tat im Beschluss zum Distomo-Verfahren abgesegnet wurde.63 Gerade in Ausnahmesituationen bestehen indes gesteigerte Schädigungsgefahren. Die besondere Schadensneigung von Handlungen als Argument anzuführen, um die Anwendbarkeit sekundärer Ansprüche zu verneinen, widerspricht dem Kerntelos der Staatshaftung. Nicht die Frage, ob Tätigkeiten gewöhnlich oder ungewöhnlich sind – eine Kategorisierung, die sich einer gewissen Willkürlichkeit nicht erwehren kann –, muss entscheidend sein, sondern die Frage, inwiefern staatliches Handeln (potentiell) rechtsbeeinträchtigend ist.64 Und insofern weist kaum ein Bereich eine größere Grundrechtsrelevanz auf als Handlungen im Rahmen von bewaffneten Konflikten. Dass es sich hierbei um eine Extremsituation handelt, suspendiert nicht die Grundrechtsverpflichtung der deutschen Staatsgewalt. Diese ist an die Grundrechte auch bei einem Tätigwerden im Ausland gebunden wie die unbedingte Formulierung des

(1326). Ebenfalls für die Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs Hess, Kriegsentschädigung aus kollisionsrechtlicher und rechtsvergleichender Sicht, BerDGVR 40 (2003), S.  107 (114 f.); Kämmerer, Kriegsrepressalie oder Kriegsverbrechen?, AVR 37 (1999), S.  283 (310); Paech, Wehrmachtsverbrechen in Griechenland, KJ 1999, S.  380 (386). Im Ergebnis auch Majer, Die Frage der Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter in völkerrechtlicher Sicht, AVR 29 (1991), S.  1 (25). 60   Papier, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.  34, Rn.  240. 61   Bonk/Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.  Aufl., 2014, Art.  34, Rn.  88. 62  So BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3660). Siehe auch OLG Köln, Varvarin, NJW 2005, S.  2860 (2862). Dies wird auch im Hinblick auf den allgemeinen Aufopferungsanspruch vertreten, Ossenbühl/Cornils (Fn.  9 ), S.  127. 63   BVerfG, Distomo, NJW 2006, S.  2542 (2544): „Die Entstehungsgeschichte beider Institute zeigt, dass der in den §§  74, 75 EinlALR zum Ausdruck kommende Aufopferungsgedanke für Sachverhalte des alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt wurde. Die Anspruchsgrundlage kann nach der maßgeblichen deutschen Rechtsordnung auf Kriegsschäden nicht angewendet werden […]. Die sich aus der kriegerischen Besetzung eines anderen Staates ergebenden Schäden sind nicht Ausdruck ‚echter‘ verwaltungsrechtlicher Tätigkeit, sondern die Folge eines nach dem Völkerrecht zu beurteilenden Zustands. Art.  14 GG verlangt demgegenüber nicht, dass für jede denkbare Form staatlichen Handelns, aus dem sich ein Unrecht ergeben kann, Entschädigungsansprüche bereitgestellt werden.“ 64  Ähnlich v. Woedtke (Fn.  17), S.  320.

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Art.  1 Abs.  3 GG widerspiegelt.65 Grundrechte schränken die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt durch die Bundeswehr ebenfalls im Rahmen von bewaffneten Konflikten ein – unabhängig davon, ob ihr Tätigwerden innerhalb multilateraler, womöglich institutionell umhegter Einsätze erfolgt oder nicht. Weder wird die Werteordnung des Grundgesetzes selbst im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen suspendiert, noch büßen Grundrechte ihre fundamentale subjektiv-rechtliche Berechtigungswirkung ein.66 Deutlich wird dies insbesondere durch Art.  115c Abs.  2 GG, welcher anordnet, dass nur bestimmte Grundrechte im Verteidigungsfall eingeschränkt werden können, was deren grundsätzliche Fortgeltung im Falle eines Verteidigungskrieges indiziert. Anführen lassen sich ferner Art.  12a Abs.  3 –6 GG, die die Schutzgehalte des Art.  12 GG für den Verteidigungsfall modifizieren.67 Hier wird allzu offenbar, dass das Grundgesetz „überkommenen Notstandskonzeptionen“ eine Absage erteilt.68 Allerdings verdeutlicht Art.  115a GG, indem er von der Möglichkeit eines Verteidigungskrieges ausgeht, dass sich das Grundgesetz hiermit verbundenen Tötungshandlungen nicht ausnahmslos in den Weg stellt. Insofern indiziert die Verfassung selbst, dass der substantielle Gehalt der Grundrechte im Kontext bewaffneter Konflikte wohl ein anderer sein muss als bei Sachverhalten, die sich innerhalb Deutschlands in Friedenszeiten – wenn man so will im „Normalfall“ – ereignen.69 An dieser Stelle wird ein zuhöchst unsicheres dogmatisches Terrain betreten: So sind die Wechselwirkungen zwischen Grundrechten und dem humanitären Völkerrecht seit langem Gegenstand von wissenschaftlichen Kontroversen und bis dato höchstrichterlich nicht abschließend geklärt.70 Das humanitäre Völkerrecht verdrängt jedenfalls nicht als lex specialis die grundrechtlichen Verbürgungen, da es dem Grund­ gesetz normhierarchisch untergeordnet ist.71 Insofern besteht vielmehr eine Verpflichtung seitens der Gerichte, das ius in bello verfassungskonform im Rahmen der deutschen Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen.72 Die meisten Stimmen scheinen sich für eine systemische Integration dahingehend auszusprechen, dass das Recht auf Leben aus Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG im Rahmen von bewaffneten Konflikten   Werner, Die Grundrechtsbindung der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen, 2006, S.  97 f.; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band XI, §  241 Rn.  1. Allgemein gegen die Tendenz, Bereiche, die in die Sphäre auswärtiger Beziehungen bzw. auswärtiger Gewalt fallen, ­einem Narrativ des „exceptionalism“ zu unterstellen, aus der Perspektive des „global constitutional­ ism“-Ansatzes argumentierend: Peters, Foreign Relations Law and Global Constitutionalism, 111 AJIL Unbound 2017, S.  311 ff. 66   Schmahl (Fn.  18), S.  712. 67  Dazu Schwarz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 79. EL Dezember 2016, Art.   12a, Rn.  57 ff., 83 f. 68   Grote, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), 5.  Aufl., 2005, Art.  115c, Rn.  4 ; auch Dutta (Fn.  21), S.  218. 69  Vgl. Sodan, Grundgesetzkommentar, 3.  Aufl., 2015, Art.  115c, Rn.  4 (größeres Gewicht von Allgemeinwohlinteressen bei der Abwägung annehmend). 70   Vgl. dazu etwa Walter/v. Ungern-Sternberg, Piratenbekämpfung vor Somalia, DÖV 2012, S.  861 (864 f.). 71  Zur normenhierarchischen Einordnung völkerrechtlicher Verträge, Kunig, in Graf Vitzthum/ Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6.  Aufl., 2013, 2. Abschnitt, IV. Rn.  115 ff. 72  Zur völkerrechtskonformen Auslegung: BVerfG, Kriegsfolgelasten II, BVerfGE 23, 288 (316) [1968]. 65

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dann nicht verletzt ist, wenn die in Frage stehende Handlung im Einklang mit ­humanitärem Völkerrecht steht.73 Dem humanitären Völkerrecht kommt insofern eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich des geänderten grundrechtlichen Schutzgehalts zu (sei es auf Ebene des Schutzbereichs, sei es auf Rechtfertigungsebene).74 Besondere Schwierigkeiten bereitet jedoch der absolute Schutz der Menschenwürde, wie ihn Art.  1 Abs.  1 GG vorsieht – ein Problem, das man über die Formel zu lösen sucht, absoluten Schutz genieße allein der nach den Umständen des Sachverhalts konkretisierte Gehalt der Menschenwürde.75 Mag man auch an dieser kontextualen Interpretation der Menschenwürde Zweifel hegen, so ist doch allein entscheidend, dass die Menschenwürdegarantie im bewaffneten Konflikt an sich nicht suspendiert ist, ebenso wenig ihre Konkretisierungen – die Grundrechte. Verstärkt wird diese Lesart ferner noch durch die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonven­ tion, deren Verpflichtungswirkung im Falle bewaffneter Konflikte nicht außer Kraft gesetzt ist, wie Art.  15 EMRK verdeutlicht.76 Entscheidend ist also, dass sich Ver­ stöße gegen das ius in bello als Grundrechtsverletzungen begreifen lassen, die Amtspflichtverletzungen konstituieren können. Betrachtet man den allgemeinen Amtshaftungsanspruch in dieser grundrechtlichen Lesart, so erscheint der generelle ­Ausschluss von Handlungen im Rahmen von bewaffneten Konflikten aus dessen Anwendungsbereich nur schwer haltbar. Grundrechte müssen die Auslegung des Art.  34 GG maßgeblich determinieren. Auch bei der Auslegung von Verfassungsnormen (Art.  34 GG) ist die Tragweite der Grundrechte zu berücksichtigen (praktische Konkordanz).77 In der Tat sprechen gewichtige Gründe dagegen, Grundrechtsverletzungen an sich begründeten Entschädigungsansprüche.78 Auch das LG Bonn verneinte in der Sache Varvarin eine unmittelbare Herleitung von Haftungsansprüchen aus Grundrechten.79 Die herrschende Auffassung in der Literatur geht ebenfalls davon aus, dass aus den Grundrechten selbst nur Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche, nicht aber

  Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band XI, §  240 Rn.  81.   Im Wege der Einschränkung des grundrechtlichen Schutzbereichs, vgl. BVerfGE 77, 170; für eine Lösung auf Rechtfertigungsebene etwa Becker (Fn. 73), Rn.  84. 75   Siehe hierzu Robbers, Menschenwürde im Krieg, in: Weingärtner (Hrsg.), Streitkräfte und Menschenrechte, 2008, S.  17 ff.; Eser, Tötung im Krieg: Rückfragen an das Staats- und Völkerrecht, in: Appel/Hermes/Schönberger (Hrsg.), Öffentliches Recht im offenen Staat – Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag, 2011, S.  665 ff. Siehe aber Podlech, in: Denninger (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (AK-00-Loseblattsammlung), Erstkommentierung 1984, Art.  2 II, Rn.  26: „Jede Entscheidung für einen Krieg ist eine Entscheidung für die Tötung von Menschen. Eine gesetzliche Ermächtigung für diese Tötung gibt es nicht und ist vom Grundgesetz nicht vorgesehen“. Nach anderer Auffassung gründet sich zwar der Schutz des Lebens auf Art.  1 I GG, seine konkrete Ausprägung sei aber nach Art.  2 I GG zu bestimmen, siehe BVerfGE 88, 203 (251); Hecker, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz, KJ 2006, S.  179 (190). Vgl. zum sachlichen Anwendungsbereich der Grundrechte beim Handeln deutscher Staatsgewalt mit Auslandsbezug, Becker (Fn. 73), Rn.  28 ff. 76   Hierzu Näheres sogleich unter II. 77   BVerfG, Dienstpflichtverweigerung, BVerfGE 28, 243 (261) [1970]. 78   BVerfG, Distomo-Beschluss, NJW 2006, S.  2542 (2544) (hier bezogen auf Art.  14 GG). Ferner ­BVerfG, NVwZ 1998, S.  271 (272). Kritisch hierzu Grzeszick, Rechte und Ansprüche, 2002, S.  415 ff. 79   LG Bonn, Varvarin, NJW 2004, S.  525 (526). 73 74

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veritable Haftungsansprüche folgen.80 Demgegenüber entnimmt Grzeszick den Grundrechten Verletzungsreaktionsansprüche,81 die in eine monetäre Haftung münden könnten, was Art.  34 GG nicht ausschließe. Grzeszicks Ansicht ließe sich insofern kritisieren, als sie sehr stark im de lege ferenda verankert ist und er letztendlich für eine (noch nicht eingetretene) richterliche Rechtsfortbildung plädiert. Folgte man Grzeszick, wäre die Verneinung jeglicher Haftung in Zusammenhang mit bewaffneten Auslandseinsätzen als ein Grundrechtseingriff einzuordnen. Selbst wenn man annimmt, dass nicht jede Grundrechtsverletzung zur Einräumung von Schadensersatzansprüchen verpflichtet und die Schaffung entsprechender Haftungstatbestände verlangt – so der BGH82 –, bedeutet dies jedoch keineswegs, dass bestehende Haftungsansprüche nicht im Lichte der Grundrechte zu interpretieren sind. Ganz im Gegenteil. Zu berücksichtigen ist insofern insbesondere, dass die Amtshaftung im Falle von bewaffneten Einsätzen das einzige Vehikel darstellt, das die Geltungswirkung der Grundrechte effektiv aufrechtzuerhalten vermag. Der Primärrechtschutz, der auf eine Kassation rechtswidriger Handlungen zielt, wird für potentiell Betroffene regelmäßig nicht erreichbar sein,83 Grundrechte drohen so frustriert zu werden. Der Verweis auf unsicheren diplomatischen Schutz widerspricht dem Menschenbild des GG.84 Eine teleologische Reduktion des Art.  34 GG lässt sich vor diesem Hintergrund als eine „unverhältnismäßige[n] Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit“85 auffassen. Aus Art.  34 GG selbst folgt bereits, dass es dem Staat verwehrt ist, Haftung für hoheitliches Unrecht mit Schadensfolgen insgesamt dem Grunde nach zu verneinen.86 Die Grundrechtsgeltung bei Auslandshandeln in bewaffneten Konflikten verkommt zur leeren Hülse, wenn sie nicht durch sekundäre Haftungsnormen flankiert wird. Wenn die berechtigende Wirkung von Grundrechten nicht auf den staatlichen Normalbetrieb beschränkt ist, kann es ebenso wenig das Staatshaftungsrecht sein. Zudem spricht gerade die Grundrechtswesentlichkeit des Amtshaftungsanspruchs dafür, dass dessen Einschränkung nicht dem Richter, sondern dem Parlament obliegen sollte. Gestützt wird dieses Ergebnis weiterhin durch die Wertung des mit den Grundrechten in unmittelbarer Wechselbezüglichkeit stehenden Art.  19 Abs.  4 GG, deren konkrete Ausprägung das Staatshaftungsregime darstellt.87 c) Ferner gilt es bei einer Auslegung des Art.  34 GG insbesondere den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, den das BVerfG seit langem als verfassungsrechtliches Leitprinzip anerkannt hat,88 zu berücksichtigen.89 So ist das 80   Dörr, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2.  Aufl., 2013, Kapitel 33, Rn.  150. 81   Grzeszick (Fn.  78), S.  340 ff.; siehe auch Röder, Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002, S.  199 ff. 82   BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3661). 83   v. Woedtke (Fn.  17), S.  320. 84   OLG Köln, Varvarin, NJW 2005, S.  2860 (2862). 85   BVerfG, Varvarin, EuGRZ 2013, S.  563, Rn.  36. 86   Bonk/Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.  Aufl., 2014, Art.  34, Rn.  5. 87  Vgl. Schmahl (Fn.  12), S.  131. Hierzu des Weiteren Dutta (Fn.  21) S.  211 ff.; Huhn, Amtshaftung im bewaffneten Auslandseinsatz, 2010, S.  63; Schmahl (Fn.  18), S.  712; v. Woedtke (Fn.  17) S.  318 f. In diese Richtung auch BVerfG, Varvarin, EuGRZ 2013, S.  563, Rn.  53 ff. 88   Siehe nur BVerfG, Enteignungen in der SBZ, NVwZ 2005, S.  560 (562). 89  Dies hat der BGH in seiner Kunduz-Entscheidung nicht getan, BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3660).

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humanitäre Völkerrecht in seiner gewohnheitsrechtlichen Ausprägung kraft Art.  25 GG Teil der deutschen Rechtsordnung und hat insofern an dem Rechtsanwendungsbefehl des Art.  20 Abs.  3 GG teil.90 Die Völkerrechtsfreundlichkeit gebietet die innerstaatliche Förderung der Befolgung völkerrechtlicher Gebote und vermittelt insofern einen Auftrag zur effektiven Durchsetzung des Völkerrechts, somit auch des humanitären Völkerrechts.91 Auch wenn dem Völkerrecht individuelle Sekundäransprüche nach dem derzeitigen Stand nicht entnommen werden können,92 ist verfassungsrechtlich allein entscheidend, dass im deutschen Recht ein positivierter Haftungstatbestand existiert, der einer Auslegung zugänglich ist, die dem völkerrechtlichen Individualschutz, den zahlreiche Bestimmungen des ius in bello vermitteln, Effektivität verleiht: Der Amtshaftungsanspruch ist ein wirkungsvolles Instrument, um eine Befolgung der völkerrechtlichen Primärpflichten sicherzustellen. Seinen Anwendungsbereich per se zu verneinen, zeugt regelrecht von einer völkerrechtsunfreundlichen Auslegung. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die im Jahr 2005 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law 93, die in Richtung einer Entschädigungspflicht weisen. d) Ferner gebieten konkurrierende verfassungsrechtliche Belange nicht zwingend eine teleologische Reduktion des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB.94 Haftungsansprüche sind naturgemäß nicht haushaltsneutral. Das Argument, es drohe eine Beeinträchtigung der Budgethoheit des Parlaments und eine exorbitante finanzielle Belastung aufgrund ausufernder Haftung, die die Funktionsfähigkeit des Staates beeinträchtigen würde, was eine teleologische Reduktion erfordere, kann in mehrfacher Hinsicht im Ergebnis nicht überzeugen.95 Zunächst ist anzumerken, dass der BGH es – trotz ihm obliegender Argumentationslast – versäumt, darzulegen, auf welche empirischen Untersuchungen er die Annahme einer „Klagewelle“ stützt. Die Anzahl der Klagen, die in Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr stehen und deutsche Gerichte erreicht haben, ist bis dato überschaubar – und dies, obwohl die Gerichte bis zum Kunduz-Judikat die Frage des Anwendungsbereichs des Amtshaftungsanspruchs in ihrer Judikatur offengehalten haben, potentiellen Klägern also 90   So auch der BGH in seiner Kunduz-Entscheidung, obwohl er im Ergebnis eine Haftung aus Völkergewohnheitsrecht ablehnt, BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3658, 3660). 91  Vgl. Dutta (Fn.  21), S.  203. 92   Siehe oben. 93   Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, Resolution 60/147 der UN-Generalversammlung v. 16.12.2005. Section II (Principle 3) enthält die „obligation to respect, ensure respect for and implement international human rights law and international humanitarian law […]“ der Staaten „inter alia, the duty to: […] (d) Provide effective remedies to victims, including reparation.“ Section VII (Principle 11) lautet: „Remedies for gross violations of international human rights law and serious violations of international humanitarian law include the victim’s right to the following as provided for under international law: (a) Equal and effective access to justice; (b) Adequate, effective and prompt reparation for harm suffered; (c) Access to relevant information concerning violations and reparation mechanisms.“ Siehe u.a. zu deren rechtlichen Status: Peters (Fn.  22), S.  162 f. 94   Siehe aber BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3661). 95   Vgl. insbesondere auch Argumentation von Grzeszick (Fn.  78), S.  4 09 ff.

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nicht a priori die Hoffnung genommen wurde, das deutsche Recht und seine Rechtsfiguren könnten ihnen zum Erfolg verhelfen. Des Weiteren ist das Argument der zu erwartenden „Klagewelle“ insofern problematisch, als in dessen Kern – jedenfalls unter der Hand – die Befürchtung steht, das Handeln deutscher Soldaten im Ausland sei in rechtlicher Hinsicht zumindest heikel. Darüber hinaus kann die rechtsdogmatische „Verarbeitung“ des Einwandes der „drohenden Klagewelle“ seitens des BGH nicht überzeugen: Die „Haushaltsprärogative des Parlaments“, die der BGH hier ins Feld führt, hat als verfassungsrechtlicher Belang insbesondere im Kontext der Judikatur zum Institut des enteignungsgleichen Eingriffs – einer Figur der richterlichen Rechtsfortbildung 96 – und der Staatshaftung für legislatives Unrecht Kontur gewonnen.97 Auf sie in dem hier interessierenden amtshaftungsrechtlichen Zusammenhang zu verweisen, ist nicht abwegig. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass die Annahme eines eingeschränkten Anwendungsbereichs des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB – wie soeben gezeigt – grundrechtswesentlich ist. Grundrechtseingriffe können nicht (und wenn, nur unter strengsten Bedingungen) mit haushaltstechnischen Erwägungen gerechtfertigt werden.98 Unabhängig von der Frage, ob dem Verfassungsrecht ein Grundsatz, wonach die Erfüllung staatlicher Verpflichtungen prinzipiell unter dem Vorbehalt der staatlichen Leistungsfähigkeit steht, entnommen werden kann,99 steht jedenfalls fest, dass das BVerfG der Rücksicht auf fiskalische Interessen, die Grundrechte beschränkt, mit Zurückhaltung begegnet.100 Auch wenn nicht in Abrede gestellt werden kann, dass das BVerfG in Fragen von Kriegsfolgenschäden eher geneigt war,101 fiskalische Interessen zu berücksichtigen, so ist für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art.  34 GG relevant, dass seine „Nichteinschränkung“ nicht zwingend mit einer ausufernden Haftung gleichzusetzen ist. Die grundsätzliche Eröffnung des Amtshaftungsanspruchs für Bundeswehrhandeln im Rahmen von bewaffneten Konflikten wird kaum eine Klagewelle bedingen. So stellen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs noch einige hohe Hürden auf, die jedenfalls in Konstellationen, die mit dem Kunduz-Fall vergleichbar sind, wohl nur in Ausnahmefällen erfüllt sein werden. Dies beweist bereits ein Blick in die bisherige Rechtsprechung: Die meisten einschlägigen Urteile wichen der Frage nach dem Anwendungsbereich aus, indem sie sich eine „selbst wenn, dann“-Argumentation zunutze machten: So scheiterten Haftungsansprüche im Kontext humanitären Völkerrechts an einer fehlenden Amtspflichtverletzung, jedenfalls an einem fehlenden Verschulden.102 Einer ausufernden Haftung kann über eine restriktive Auslegung der Tatbestandsmerkmale begegnet werden. Mit einer strikten Handhabe von Zurechnungskriterien lässt sich ferner die Gefahr bannen, dass Deutschland über §  830 BGB gegebenenfalls für Bündnispartner und andere Beteiligte haften müsste. 96  Die Annahme eines Auslandseinsätze umfassenden Anwendungsbereichs des Art.  34 GG stellt keine richterliche Rechtsfortbildung dar, im Gegenteil: seine telelogische Reduktion ist eine solche. 97   Vgl. nur BGH, Legislatives Unrecht, NJW 1987, S.  1875 (1877). 98   Vgl. BVerfG, Braunkohletagebau, NVwZ 2014, S.  211 (214). 99   Leisner, Leistungsfähigkeit des Staates, 1998, S.  31 ff., 105 ff. 100   BVerfG, Haftentschädigung, BVerfGE 2, 380 (405) [1953]. 101   BVerfG, Rückwirkung Steuergesetze, BVerfGE 13, 274 (284 ff.) [1961]. 102   BGH, Varvarin, BGHZ 169, 348 [2006]; LG Bonn, Kunduz, JZ 2014, 411; OLG Köln, Kunduz, NJ 2015, S.  392; und trotz der Entscheidung zur Anwendbarkeit absichernd erneut BGH, Kunduz, NJW 2016, S.  3656 (3661).

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Ähnliches lässt sich im Hinblick auf weitere von Bedenkenträgern angeführte Interessen wie die Bündnisfähigkeit Deutschlands103 und die Wahrung außenpolitischen Spielraums der Exekutive anführen.104 Derartigen verfassungsrechtlichen Belangen kann nicht per se Vorrang gegenüber mit diesen konfligierenden Leitprinzipien der Verfassung wie der Völkerrechtsfreundlichkeit, die zur Effektivierung völkerrechtlicher Normen verpflichtet, und den Grundrechten eingeräumt werden. Letztendlich ist die Herstellung eines schonenden Ausgleichs zwischen all den betroffenen Verfassungswerten im Wege einer differenzierten Auslegung des Amtshaftungsanspruchs zu suchen. Gefahren können über eine strikte Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB, insbesondere im Rahmen der Anforderungen, die an eine schuldhafte Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht zu stellen sind, gebannt werden. So wäre es sicherlich ein milderes Mittel, tatbestandlich eine qualifizierte oder offensichtliche Verletzung des humanitären Völkerrechts zu verlangen als die Anwendung des Amtshaftungsregimes in Gänze in Abrede zu stellen.

II.  Verfassungsrechtlich gebotene Berücksichtigung der EMRK Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verpflichtet die Gerichte dazu, Grundrechte und andere verfassungsrechtliche Normen im Lichte der Schutzgehalte der EMRK-Garantien auszulegen.105 Blickt man auf die Rechtsprechung des EGMR, so lassen sich einige Urteile identifizieren, die sich mit einem eingeschränkten sachlichen Anwendungsbereich des Art.  34 GG nur schwer vereinbaren lassen. Der Verweis auf die EMRK trägt naturgemäß nur, wenn diese rationae loci, materiae und personae Anwendung findet, was im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr problematisch sein kann. Entscheidend ist diesbezüglich zum einen, ob den Trägern deutscher Hoheitsgewalt (in erster Linie) „effective control“106 über ein bestimmtes Gebiet zukommt und zum anderen, ob eine multinationale organisatorische Einbettung (z.B. ISAF/NATO) eines Einsatzes aus dem Blickwinkel der EMRK-Dogmatik das Zurechnungsband zwischen Deutschland und der Bundeswehr durchschneidet.107 Angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr auch bei multilateralen Einsätzen nicht aus dem Hoheitsbereich Deutschlands entlassen wird und in die „deutschen“ Befehlsstrukturen eingebettet bleibt, wird letzteres grundsätzlich nicht der Fall sein.108 Der im Hinblick auf den Entsendestaat zurechnungsrelativie103   Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung des Erhalts der Bündnisfähigkeit vgl. BVerfG, Operation Pegasus, NVwZ 2015, S.  1593 (1596 f.). 104   Siehe zum außenpolitischen Handlungsspielraum nur die Rudolf-Hess-Entscheidung: BVerfG, NJW 1981, S.  1499. 105   Siehe nur BVerfG, Unschuldsvermutung, NJW 1987, S.  2427. 106   EGMR, Ent. v. 12.12.2001, App. No.  52207/99 (GK), Bankovic´ a.o. v. Belgium a.o, Rn.  71; siehe auch EGMR, Urt. v. 7.7.2011, App. No.  55721/07 (GK), Al-Skeini a.O. v. UK, Rn.  149. Zu extensive­ ren Ansätzen, die Anwendbarkeit der EMRK zu begründen, siehe Fn.  114 sowie begleitenden Text. 107  Hierzu Larsen, Attribution of Conduct in Peace Operations: The „Ultimate Authority and Control“ Test, 19 EJIL (2008), S.  509 ff.; Krieger, A Credibility Gap: The Behrami and Saramati Decision of the European Court of Human Rights, 13 Journal of International Peacekeeping (2009), S.  159 ff. 108  Hierzu Starski, Zurechnungsfragen bei multinationalen militärischen Einsätzen, in: Sohm

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rende „ultimate authority and control test“, der den Urteilen Behrami und Saramati109 und Al-Jedda110 entnommen werden kann, ist abzulehnen. Vielmehr ist nicht zuletzt angesichts der Ratio des Art.  7 der Draft Articles on the Responsibility of International Organizations (DARIO) der International Law Commission111 an dem Maßstab „effektiver Kontrolle“ festzuhalten, der es bei einer Zurechnung zum Entsendestaat und somit eine Konventionsanwendbarkeit ratione personae belässt. Hinsichtlich des Erfordernisses effektiver Gebietskontrolle gilt es anzumerken, dass es von einer gewissen Willkürlichkeit zeugt, anzunehmen, eine Tötung von Individuen unterstelle dann dem Anwendungsbereich der EMRK, wenn sie im Rahmen einer Besatzung erfolgt, aber nicht, wenn eine vergleichbare „generalized exercise of state authority“ nicht gegeben ist.112 Insofern hat sich der EGMR in seiner Rechtsprechung von seinem strikten im Bankovic´-Urteil113 entwickelten Grundsätzen entfernt und maßgeblich auf die „authority and control“ über Personen oder Sachen abgestellt.114 Es spricht viel dafür, bereits dann von einer Anwendbarkeit der Konvention auszugehen, wenn der betreffende Staat einzelne Hoheitsbefugnisse ausübt und Herrschaft über die Umstände hat, die zur Verletzung des betreffenden Rechts führen. Dies kann bereits bei einem geringeren Grad der Institutionalisierung von Gebietskontrolle als im Rahmen einer Besatzung gegeben sein. Kann demnach davon ausgegangen werden, dass sich eine Anwendbarkeit der EMRK in Auslandseinsatzkonstellationen oftmals begründen lassen wird, so müssen auch deren Gebote bei einer Auslegung des Amtshaftungsanspruchs Berücksichtigung finden. Wie aus Art.  15 EMRK folgt, findet die EMRK gerade im Rahmen bewaffneter Konflikte Anwendung, auch wenn es notwenig ist, bei ihrer Auslegung das ius in bello systematisch zu integrieren („systemic integration“).115 Da Art.  41 EMRK impliziert, dass Konventionsstaaten eine Konventionsverletzung nur unvollkommen wiedergutmachen können („partial reparation“) und die Reparationspflicht im Rahmen der EMRK als eine reine Bemühungspflicht konzipiert ist,116 könnte argumentum e contrario gefolgert werden, Konventionsstaaten seien prima facie nicht dazu (Hrsg.) u.a., Tagungsband zur Jahrestagung 2016 der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht e.V., 2017. 109   EGMR, Ent. v. 31.5.2007, App. No.  71412/01, Behrami and Behrami v. France, Rn.  140. 110   EGMR, Urt. v. 7.7.2011, App. No.  27021/08 (GK), Al-Jedda v. UK, Rn.  84. Hier jedoch in relativierter Gestalt. Zu weiteren Folgeurteilen zählten EGMR, Ent. v. 5.7.2007, Kasumaj v. Greece (Nr.  6974/05); EGMR, Ent. v. 28.8.2007, Gajic v. Germany (Nr.  31446/92); EGMR, Ent. v. 16.10.2007, Beric´ et al. v. Bosnia and Herzegovina (Nr.  36357/04 [u.a.]). 111   ILC Report 2011, UN Doc A/66/10, 52. 112   Allgemein zu dieser Problematik insbesondere im Kontext des Bankovic´-Urteils Krieger, Die Verantwortlichkeit Deutschlands nach der EMKR für seine Streitkräfte im Auslandseinsatz, ZaöRV 2002, S.  669 (670 ff.). 113   EGMR, Ent. v. 12.12.2001, App. No.  52207/99 (GK), Bankovic´ a.o. v. Belgium a.o. 114   EGMR, Urt. v.
16.11.2004, App. No.  31821/96 (GK), Issa a.o. v. Turkey, Rn.  71: „[A] state may also be held accountable for violation of the Convention rights and freedoms of persons who are in the territory of another State but who are found to be under the former State’s authority and control through its agents operating – whether lawfully or unlawfully – in the latter State.“ Hierzu Miller, Revisiting Extraterritorial Jurisdiction: A Territorial Justification for Extraterritorial Jurisdiction under the European Convention, 20 EJIL (2009), 1223 (1227 ff.). 115   Siehe nur EGMR, Urt. v. 16.9.2014, App. No.  29750/09 (GK), Hassan v. UK, Rn.  75. 116   Dörr, in: Dörr/Grote/Marauhn (Fn.  80), Kapitel 33, Rn.  2 . Insofern ist ein impliziter Dispens von Reparationspflicht nach völkerrechtlichem Deliktsrecht gegeben.

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verpflichtet, für die Fälle von Konventionsverletzungen ein effektives Staatshaftungsregime vorzusehen.117 Dies ist allerdings nur bedingt richtig: Vorgaben für nationales Haftungsrecht ergeben sich aus der EMRK jedenfalls insoweit, als diese einen Entschädigungs- oder Schadensersatzanspruch auf nationaler Ebene verlangt. Ausdrücklich ist dies nur bei Art.  5 Abs.  5 EMRK und Art.  3 ZP 7 der Fall. Aber der EGMR entnimmt darüber hinaus Art.  13 EMRK das Gebot, für „arguable claims“ im Hinblick auf Verletzungen der Art.  2 und Art.  3 EMRK effektive Entschädigungsinstrument („compensatory mechanisms“) im nationalen Recht vorzusehen.118 Dabei setzt der Anspruch aus Art.  2 bzw. Art.  3 i.V.m. Art.  13 EMRK aufgrund der akzessorischen Natur des letzteren nicht voraus, dass tatsächlich eine Verletzung der mit Art.  13 EMRK kombinierten Norm vorliegt, da deren Verletzung ja gerade Gegenstand des Beschwerdeverfahrens i.S.v. Art.  13 EMRK ist.119 In Z and Others v. United Kingdom (2001) stellte der EGMR fest „[t]here should, however, be available to the victim or the victim’s family a mechanism for establishing any liability of State officials or bodies for acts or omissions involving the breach of their rights under the Convention. Furthermore, in the case of a breach of Articles 2 and 3 of the Convention, which rank as the most fundamental provisions of the Convention, compensation for the non-pecuniary damage flowing from the breach should in principle be part of the range of available remedies“.120 Auf eine ähnliche Argumentationsstruktur trifft man in den Urteilen Kaya v. Turkey,121 Paul and Audrey Edwards v. The United Kingdom,122 Anguelova v. Bulgaria,123 McGlinchey and others v. The United Kingdom124 sowie Isayeva v. Russia.125 Angesichts der Fundamentalität der Art.  2 und 3 EMRK verlange Art.  13 EMRK „in addition to the payment of compensation where appropriate, a thorough and effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible for the deprivation

117  Letztendlich ist Art.  41 lediglich eine Kompetenznorm zugunsten des EGMR und vermittelt dem Einzelnen keinen unmittelbaren Anspruch gegen die Staaten. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass Art.  41 EGMR eine gerechte Entschädigung ermöglicht („just satisfaction“), während etwa Art.  5 Abs.  5 EMRK (worin ausnahmsweise ein materieller Anspruch auf Schadensersatz geregelt ist) den Begriff Schadensersatz („compensation“) verwendet. Dies geht grundsätzlich mit einem Anspruch des Einzelnen einher, dass er diesen Schadensersatz auf Grundlage einer nationalen Haftungsnorm geltend machen kann. 118   Dörr, in: Dörr/Grote/Marauhn (Fn.  80), Kapitel 33, Rn.  7. 119   Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, 4.  Aufl., 2011, Art.  13, Rn.  4. 120   EGMR, Urt. vom 10.5.2001, Application No.  29392/95, Z a.o. v. UK, Rn.  109. 121   EGMR, Urt. vom 19.2.1998, Kaya v. Turkey, Reports 1998-I, Rn.  107. Dieses Urteil stellt wohl das erste Glied dieser Rechtsprechungsreihe dar. 122   EGMR, Urt. vom 14.3.2002, App. No.  46477/99, Paul and Audrey Edwards vs. UK, Rn.  97. 123   EGMR, Urt. vom 13.6.2002, App. No.  38361/97, Anguelova v. Bulgaria, Rn.  161. 124   EGMR, Urt. vom 29.4.2003, App. No.  50390/99, McGlinchey a.o. v. UK, Rn.  63, 66. 125   EGMR Urt. vom 15.11.2007, App. No.  6846/02, Isayeva v. Russia, Rn.  163. Ferner EGMR, Urt. vom 28.10.1998, Assenov and Others, Reports 1998-VIII, S.  3293, §  117; EGMR Urt. vom 24.5.2005, App. No.  25660/94, Süheyla Aydın v. Turkey, Rn.  208; EGMR, Ent. vom 9.5.2006, App. No.  60255/00, Pereira Henriques v. Luxembourg, Rn.  87; EGMR, Urt. vom 12.6.2012, App. No.  22999/06, Poghosyan and Baghdasaryan v. Armenia, Rn.  46; EGMR, Urt. vom 28.1.2014, App. No.  35810/09 (GK), O’Keeffe v. Ireland, Rn.  115 (deutsche Übersetzung in: NVwZ 2014, S.  1641).

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of life and infliction of treatment contrary to Article 3, including effective access for the complainant to the investigation procedure.“126 Verneint man die Anwendbarkeit des Staatshaftungsregimes bzw. des Amtshaftungsanspruchs, so steht Opfern von Verletzungen des Art.  2, 3 EMRK seitens deutscher Soldaten keine effektive Entschädigungsmöglichkeit zur Verfügung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der EGMR die Aussagekraft seiner Judikate dadurch relativiert hat, dass eine Entschädigung „in principle“ bestehen müsse. Bis dato ist diesem Zusatz keine eigenständige Bedeutung zugekommen. Dennoch könnte sich der EGMR diese Lücke zunutze machen, sollte er von seiner grundsätzlichen Forderung im Rahmen bewaffneter Konflikte abweichen wollen. Ein Urteil, dass die Haftungsproblematik im Kontext von bewaffneten Konflikten beleuchtet, lässt sich bisher nicht ausmachen. Insofern ist zu hoffen, dass sich dem EGMR in naher Zukunft die Möglichkeit zur Klarstellung eröffnen wird.

III.  Rechtsvergleichende Betrachtung der Staatshaftung im Rahmen bewaffneter Auslandseinsätze Das Urteil des BGH kann auf Grundlage der obigen Erläuterungen als sehr weitgehend und apodiktisch charakterisiert werden und wird so wohl auch überwiegend wahrgenommen.127 Im Folgenden wird es mit der Rechtspraxis ausgewählter Staaten verglichen, deren Gerichte sich mit ähnlichen Fällen zu befassen hatten. Die Untersuchung erfolgt unter besonderer Berücksichtigung der den Fall Kunduz bestimmenden Charakteristika: Welche Erfolgsaussichten hat ein gerichtliches Vorgehen von Individuen aufgrund einer Schädigung im Rahmen eines extraterritorialen bewaffneten Konfliktes durch Streitkräfte des Verletzerstaates vor Gerichten des Verletzerstaates? Der Fokus liegt dabei auf Haftungsinstituten, die dem deutschen Amtshaftungsanspruch in Bezug auf tatbestandliche Voraussetzungen und Funktion vergleichbar sind. Gleichzeitig werden mögliche Einschränkungen, insbesondere hinsichtlich der Jurisdiktion über und der Justiziabilität von staatlichen Hoheitsakten und Kampf handlungen, in den Blick genommen. So sollen gemeinsame Strukturen und Charakteristika, aber auch historisch und rechtssystematisch bedingte Unterschiede herausgearbeitet werden, um die Entscheidung des BGH rechtsvergleichend   EGMR, Urt. vom 13.6.2002, App. No.  38361/97, Anguelova v. Bulgaria, Rn.  161.   Ackermann, Schadensersatzanspruch gegen Bundesrepublik wegen Luftangriff in Afghanistan, Urteilsanmerkung zu BGH, Urt. v. 6.10.2016 – III ZR 140/15, NVwZ 2017, S.  87 ff.; Hohnerlein/ Schwander, Das Kriegsvölkerrecht – ein zahnloser Tiger?, www.juwiss.de/80-2016/(zuletzt aufgerufen am 22.11.2017) und Schmahl (Fn.  12), S.  128. So auch Starski, Die Geister der Vergangenheit – Eine kritische Reflexion zur Kunduz-Entscheidung des BGH, Verf Blog, 10.11.2016, http://verfassungsblog. de/die-geister-der-vergangenheit-%e2%80%92-eine-kritische-reflexion-zur-kunduz-entscheidungdes-bgh/(zuletzt aufgerufen 22.11.2017); dies., The Kunduz Affair and the German State Liability Regime – The Federal Court of Justice’s Turn to Anachronism, in: EJIL talk! (5.12.2016), https://www. ejiltalk.org/the-kunduz-affair-and-the-german-state-liability-regime-the-federal-court-of-justicesturn-to-anachronism (zuletzt aufgerufen 22.11.2017). Dem BGH beipflichtend dagegen Raap, Keine Amtshaftung bei Kampf handlungen, https://publicus.boorberg.de/keine-amtshaftung-bei-kampf handlungen/(zuletzt aufgerufen am 22.11.2017). 126 127

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in einen internationalen Kontext einzuordnen und aus dieser Perspektive heraus zu evaluieren zu können.

1.  Vereinigtes Königreich Im Vereinigten Königreich ist in den vergangenen Jahren eine kontroverse Debatte über die Rolle der Judikative in Bezug auf Einsätze der britischen Armee entbrannt. Der Autor eines Vorworts fasst den darauffolgenden Bericht des konservativen Londoner Think Tanks Policy Exchange von 2013 wie folgt zusammen: „None have succeeded in defeating the armed forces of the United Kingdom. Napoleon, Falkenhayn and Hitler could not. But where these enemies failed, our own legal institutions threaten to succeed.“128 Tatsächlich kam es insbesondere seit Ende der 1990er Jahre durch die britische Beteiligung an Militäreinsätzen unter anderem in Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak und im Rahmen des „war on terror“ zu einigen Verfahren vor britischen Gerichten. Entschädigungen für rechtswidriges staatliches Handeln können im britischen Rechtssystem in erster Linie unter Rückgriff auf das allgemeinen Deliktsrechts (tort law) geltend gemacht werden. Die Unterwerfung der staatlichen Institutionen unter die deliktische Haftung stellt eine Abkehr von der traditionell geltenden, als crown immunity betitelten Maxime „The King can do no wrong“ dar, die überwiegend durch den 1947 erlassenen und 1987 auf militärische Aktivitäten erweiterten Crown Proceedings Act vollzogen wurde.129 Schadensersatzansprüche für Kriegsopfer können durch den tort of negligence erfasst werden, der die fahrlässige Verletzung einer Sorgfaltspflicht voraussetzt. Die Annahme einer solchen Pflicht muss nach der Leitentscheidung Caparo v. Dickman angemessen (fair, just and reasonable) sein.130 Die prinzipielle Erfassung militärischer Handlungen durch das britische tort law findet ihre Grenze in zahlreichen rechtsdogmatischen Figuren, die die staatliche Haftung auf diesem Gebiet einschränken. Dazu zählen insbesondere die royal prerogative, die act of state-Doktrin und die combat immunity. Sie wurden allesamt bereits von Gerichten angewandt,131 sind von ihrem Anwendungsbereich her sowie terminologisch jedoch nicht scharf voneinander zu trennen. Vereinfachend kann die royal prerogative in ihrer heutigen Bedeutung als Oberbegriff zu act of state und combat immunity beschrieben werden. Sie besagt unter anderem, dass die gerichtliche Kontrolle exekutiven Handelns in bestimmten Bereichen eingeschränkt ist.132 Die act of state-Doktrin kann als spezielle Ausformung der royal prerogative in Bezug auf außenpolitische 128  Abruf bar unter: https://policyexchange.org.uk/wp-content/uploads/2016/09/the-fog-of-law. pdf (zuletzt aufgerufen: 22.11.2017). Der Bericht bezieht sich dabei auch auf Klagen britischer Militärangehöriger, die im Rahmen von Einsätzen geschädigt wurden. 129   Schwager (Fn.  24), S.  225. 130   Caparo Industries plc. v. Dickman, House of Lords, [1990] 1 All E.R. 568. 131   Burmah Oil Company Ltd v. Lord Advocate, House of Lords, [1965] AC 75; Al Jedda v. Secretary of Defence, High Court of Justice, [2009] EWHC 397 (QB), Rn.  77; Mulcahy v. Ministry of Defence, Court of Appeal, [1996] QB 732. 132   Burmah v. Lord Advocate (Fn.  131), 110 ff.; im Einzelnen sehr umstritten, vgl. Alder, Constitutional & Administrative Law, 9.  Aufl., 2013, S.  305 ff.

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Tätigkeiten gesehen werden und somit etwa im Zusammenhang mit Kriegshandlungen Anwendung finden.133 Zunehmend in den Mittelpunkt rückt das dem australischen Recht entliehene Konzept der combat immunity, welches in Bezug auf Kampf handlungen die speziellste der drei angesprochenen Konstrukte zur Begründung einer Nicht-Justiziabilität darstellt und das daher im Folgenden näher betrachtet werden soll.134 Dieser Doktrin zufolge ist es im Rahmen von Kampf handlungen grundsätzlich nicht angemessen, dem Schädiger eine Sorgfaltspflicht gegenüber dem Geschädigten aufzuerlegen, womit ein Anspruch aus einem tort of negligence scheitern muss.135 In dem kürzlich ergangenen Urteil Smith v. Ministry of Defence machte der britische Supreme Court nähere Ausführungen zum Anwendungsbereich der Figur.136 Demnach darf das schadensbegründende Verhalten nicht bloß bei Gelegenheit eines Einsatzes geschehen und muss militärisch notwendig sowie gegen feindliche Stellungen oder Einheiten gerichtet sein, um von der combat immunity privilegiert zu werden.137 Bemerkenswert ist die Entscheidung Bici v. Ministry of Defence des britischen High Courts von 2004, die einen Fall aus dem Kosovo im Jahr 1999 zum Gegenstand hatte. Am Tag der Feierlichkeiten zum Abzugs der jugoslawischen Armee wähnten sich britische KFOR-Soldaten in Pristina unter Beschuss und eröffneten das Feuer auf die (vermeintlichen) Angreifer, wodurch zwei von diesen getötet und die Übrigen schwer verletzt wurden. Die überlebenden Opfer und andere Zeugen widersprachen der Darstellung der britischen Soldaten und verwiesen darauf, dass an diesem Tag in der gesamten Stadt Freudenschüsse abgefeuert worden seien. Das Urteil beschäftigt sich ausführlich mit der combat immunity und charakterisiert diese als restriktiv zu handhabende Ausnahme des Rechtsstaatsprinzips.138 Das Gericht stellte fest, dass die Privilegierung von Kampf handlungen nicht gegenüber Geschädigten in Stellung gebracht werden könne, die gerade Ziel der Kampf handlung darstellten.139 In diesen Fällen der vorsätzlichen Schädigung griffen abschließend die anerkannten Rechtfertigungsregeln wie etwa Notwehr ein.140 Die combat immunity be  Al Jedda v. Secretary of Defence (Fn.  131).   Vom australischen High Court entwickelt in: Shaw Savill and Albion Co. Ltd. v. The Commonwealth, [1943] ALR 264, Rn.  9. Weitere Urteile im Vereinigten Königreich: Mulcahy v. Ministry of Defence (Fn.  131); Multiple Claimants v. Ministry of Defence, High Court of Justice, [2003] EWHC 1134 (QB); Bici v. Ministry of Defence, High Court of Justice, [2004] EWHC 786 (QB). Das Konzept der combat immunity findet auch Anwendung auf Schäden von Angehörigen des britischen Militärs, die im Rahmen von Einsätzen entstanden sind. Die zentralen Aussagen der Doktrin gelten allerdings auch für Klagen von Geschädigten, die nicht britische Militärangehörige sind. 135   Die Rechtsfolge der combat immunity ist bisher jedoch nicht einheitlich beurteilt worden. Ursprünglich und wohl nach der heutigen überwiegenden Ansicht bewirkt sie eine Einschränkung bzw. einen Ausschluss der Sorgfaltspflichten von Soldaten: Shaw Savill and Albion Co. Ltd. v. The Common­ wealth (Fn.  134), Rn.  356, 361; Smith and others v. Ministry of Defence, Supreme Court, [2013] UKSC 41, Rn.  114 ff.; Mulcahy v. Ministry of Defence (Fn.  131), Rn.  748 ff. Andere nehmen dagegen einen Gerichtsbarkeitsausschluss an: Bici v. Ministry of Defence, (Fn.  134), Rn.  84. 136   Smith v. Ministry of Defence (Fn.  135); vgl. dazu Stammler, Der Anspruch von Kriegsopfern auf Schadensersatz, 2009, S.  205 f. 137   Smith v. Ministry of Defence (Fn.  135), Rn.  92 ff. 138   Bici v. Ministry of Defence (Fn.  134), Rn.  113. 139   Ebd., Rn.  101. 140  Ebd. 133

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wirkt dem Urteil in Bici zufolge also keinesfalls einen umfassenden Ausschluss von Ansprüchen. Vielmehr findet sie lediglich auf Fälle Anwendung, in denen Kollateralschäden entstehen, die aufgrund eines zwingenden öffentlichen Bedürfnisses („pressing public need“) in Kauf zu nehmen sind.141 Da das Gericht im Übrigen zu dem Schluss kam, dass die Voraussetzungen eines deliktischen Anspruchs aufgrund des vorsätzlichen und grob unverhältnismäßigen Handelns erfüllt waren, gab es den Klagen in weiten Teilen statt. Das im Eingangszitat skizzierte Bild einer Armee, der durch eine übergriffige Rechtsprechung und Klagefluten derart enge rechtliche Stricke und Fesseln angelegt werden, dass ihre Funktionsfähigkeit bedroht ist, kann anhand der betrachteten Sachverhalte nicht bestätigt werden. Zum einen bleibt festzustellen, dass die Rechtslage und insbesondere die Reichweite der combat immunity noch nicht abschließend geklärt sind. Zum anderen betonen viele Entscheidungen mit Nachdruck, dass es die Besonderheiten von Kampfsituationen zu berücksichtigen gilt.142 Die befürchtete Klagewelle lässt sich anhand des britischen Beispiels keineswegs nachweisen, zumal Verfahren, die zugunsten der Kläger/Klägerinnen entschieden werden, ausgesprochen selten sind.143 Auch das teilweise kritisierte Urteil in der Sache Bici rechtfertigt hier keine andere Bewertung. Zwar wird die Anwendung der combat immunity im Fall vorsätzlicher Schädigungen ausgeschlossen. Andererseits lässt das Urteil deren Anwendung auf Fälle von Kollateralschäden unangetastet, und zwar auch wenn diese rechtswidrig verursacht wurden.144 Für eine Welle (erfolgreicher) Klagen bedürfte es also massenhafter, vorsätzlicher Schädigungen von Zivilisten durch die britische Armee. Die Vorstellung, die britische Justiz stelle sich den Streitkräften ignorant und destruktiv in den Weg, geht daher fehl. Es ergibt sich vielmehr der Eindruck, dass der eingeschlagene Weg der restriktiven Auslegung der combat immunity rechtsdogmatisch und -politisch sinnhaft ist. Militärische Notwendigkeiten im Rahmen von Kampfsituationen können bei der Prüfung der Angemessenheit einer Sorgfaltspflicht mit ausreichend Spielraum berücksichtigt werden. Dies erscheint als geeigneter Mittelweg zwischen einer „judicialisation of war“ und einer kategorischen Ablehnung der Ansprüche von Geschädigten. So kann ferner am ehesten der menschen- und grundrechtlichen Dimension und insbesondere dem Recht auf Rechtschutz Rechnung getragen werden. Aussagen wie diejenige seitens des Think Tanks Policy Ex­change sind in erster Linie als politisch motiviert einzuordnen. Sie sollen eher zu gesetzgeberischen Maßnahmen und Nachjustierungen des Deliktsrechts motivieren145 und entbehren im Hinblick auf die derzeitige Rechtspraxis einer handfesten Grundlage.  Ebd.   Vgl. nur Bici v. Ministry of Defence (Fn.  134), Rn.  113. 143   Dies ergibt sich aus einer Durchsicht der einschlägigen Rechtsprechung der vergangenen Jahre, die nur eine geringe Anzahl an Verfahren zu Tage fördert. Zwar fehlen insofern konkrete Zahlen oder empirische Studien, allerdings bleiben auch die vor einer Klagewelle Warnenden die entsprechenden Belege schuldig. 144   Insofern sehr kritisch: Stammler (Fn.  136), S.  208. 145  In diese Richtung jedenfalls ein neuer Policy Exchange-Bericht von 2015, abruf bar unter: https://policyexchange.org.uk/wp-content/uploads/2016/09/clearing-the-fog-of-law.pdf (zuletzt aufgerufen am 22.11.2017). Dieser Bericht bezieht sich größtenteils auf Klagen von Angehörigen der 141

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2. Vereinigte Staaten In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Diskurs zu individuellen Schadensersatzklagen vor nationalen Gerichten aufgrund von Verstößen gegen das Völkerrecht insbesondere vor der Kulisse der Rechtspraxis der Vereinigten Staaten geführt. Anstoß hierzu gab unter anderem die „Wiederentdeckung“ des 1789 erlassenen Alien Tort Statute (ATS) Ende der 1970er-Jahre, dessen knapper Wortlaut die Berufung auf Normen des Völkerrechts vor US-Gerichten ermöglicht.146 Seitdem ist die Rechtsnatur und die konkrete Regelungswirkung des ATS Gegenstand anhaltender Diskussionen. Bis heute ist umstritten, auf welche völkerrechtlichen Normen sich Kläger in einem ATS-Verfahren berufen können.147 Im Jahr 2004 hat der Supreme Court in der Leitentscheidung Sosa v. Alvarez-Machain klargestellt, dass der ATS – entgegen teilweise vertretener Auffassung – keine eigene Anspruchsgrundlage darstellt, sondern lediglich eine besondere (sachliche) Zuständigkeit der Bundesgerichte für Schadensersatzklagen ausländischer Kläger begründet.148 Haftungsauslösend sollen nach Ansicht des Gerichts diejenigen Völkerrechtsnormen sein, die ebenso verbindlich, bestimmt und universell anerkannt sind wie diejenigen Normen, die der Kongress im Jahr 1789 bei Erlass des ATS erfassen wollte.149 In Bezug auf Normen des humanitären Völkerrechts lehnt ein wohl überwiegender Teil der Gerichte eine anspruchsbegründende Wirkung ab,150 während andere diese – wenn auch teilweise nicht in ATS-Verfahren – durchaus bejaht haben.151 Im Jahr 2006 entschied der Supreme Court selbst, dass sich ein auf Guantánamo Bay inhaftierter Insasse auf Art.  3 des III. Genfer Übereinkommens über die Behandlung britischen Streitkräfte, die im Rahmen eines Einsatzes geschädigt wurden. Die Forderungen betreffen allerdings gleichermaßen ausländische Opfer von extraterritorialen Einsätzen. 146   28 U.S.C. §  1350: „The district courts shall have original jurisdiction of any civil action by an alien for a tort only, committed in violation of the law of nations or a treaty of the United States.“ 147   Uneinheitlich beurteilt wird, wann eine Norm unmittelbar anwendbar und individualberechtigend ist. Im Mittelpunkt der Diskussion steht das Vertragsrecht und die Frage wann eine völkervertragsrechtliche Norm self-executing ist. Vgl. dazu Moore, Medellín, the Alien Tort Statute, and the Domestic Status of International Law, 50 Virginia J. Int. Law 2010, S.  485 (486 ff.) und Bradley, International Law in the U.S. Legal System, 2.  Aufl., 2015, S.  41 ff. 148   Sosa v. Alvarez, Supreme Court, 2004, 542 S.Ct. 692 (714 ff.). Dazu Stephens/Chomsky/Green et al., International Human Rights Litigation in U.S. Courts, 2.  Aufl., 2008, S.  32 ff. 149   Welche völkerrechtlichen Verbotsnormen heute die „Sosa-Kriterien“ erfüllen ist im Einzelnen umstritten. Weitgehende Einigkeit besteht hinsichtlich Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, willkürliche Inhaftierung, außergerichtliche Hinrichtung, Verschwindenlassen, Völkermord, Zwangsarbeit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. S. dazu: Felz, Das Alien Tort Statue, 2017, S.  116 ff. 150   Tel-Oren v. Libyan Arab Republic, Court of Appeals (D.C. Cir.), 1981, 726 F.2d 774 (ablehnend nur das Sondervotum von Richter Bork, 809 f.); Handel v. Artukovic, District Court (California), 1985, 601 F.Supp 1421; Goldstar S.A. v. U.S., Court of Appeals (2nd Cir.), 1992, 967 F.2d 965; Iwanowa v. Ford Motor Company, District Court (New Jersey), 1999, 67 F.Supp.2d 424. 151   Kadic v. Karadzic, Court of Appeals (2nd Cir.), 1995, 70 F.3d 232; Jane Doe I v. Islamic Salvation Front, District Court (D.C.), 1998, 993 F.Supp.  3 ; Re Guantanamo Detainee Cases, District Court (Columbia), 355 F.Supp 2d 4443 (478 f.); Akhmad v. Wigen, Court of Appeals (2d Cir.), 1990, F.2d 1063 (1064 f.). Einige dieser Urteile folgten jedoch der Ansicht, dass der ATS selbst eine Anspruchsgrundlage darstelle, was jedenfalls seit Sosa höchstrichterlich gegenteilig entschieden wurde. Daher treffen diese Urteile in Bezug auf die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit teilweise keine Aussage.

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von Kriegsgefangenen berufen kann,152 woraus teilweise geschlossen wurde, dass dies eine Befürwortung der unmittelbaren Anwendbarkeit der Norm darstellte.153 Diese Vorschrift zog der Supreme Court allerdings lediglich infolge eines innerstaatlichen Anwendungsbefehls – Art.  21 des Uniform Code of Military Justice – heran und lehnte im Übrigen eine unmittelbare Berufung des Klägers auf Art.  3 der III. Genfer Konvention ab.154 Im Ergebnis ist die Rechtsprechung hier weiterhin nicht eindeutig, wobei die Tendenz gegen eine Klagemöglichkeit bei Verletzungen von humanitärem Völkerrecht zu sprechen scheint. Daneben kommt das allgemeine Deliktsrecht als Anspruchsgrundlage in Betracht. Möglich ist dies durch den Federal Tort Claims Act (FTCA, 28 U.S.C. §  2674 ff.) von 1946, der die zuvor grundsätzlich unbegrenzte Immunität des Staates weitgehend aufgehoben hat.155 Gerade im Bereich extraterritorialer Kampf handlungen besteht diese Immunität aber weiterhin fort. Von der Haftung ausgenommen sind demnach extraterritoriales Handeln der US-Regierung (§  2680 (k), foreign country exception), Ermessensentscheidungen, solange due care beachtet wurde (§  2680 (a), discretionary exception), sowie – als Pendant zur britischen combat immunity – sämtliche Kampf handlungen (§   2680 (j), combat exception).156 Im Ergebnis erscheint ein Rückgriff auf das Deliktsrechts hinsichtlich extraterritorialer Kampf handlungen daher aussichtslos. Schließlich eröffnen sich eine Reihe weiterer Möglichkeiten, die teilweise jedoch stark spezialisierte Bereiche betreffen157 oder wie der Foreign Claims Act zwar allgemein gelten, aber ebenfalls keine Anwendung auf Schäden finden, die unmittelbar aus Kampf handlungen resultieren.158 Im Ergebnis muss demnach festgestellt werden, dass für diese Fälle allein Klagen auf Grundlage des ATS in Betracht kommen. Dabei haben sie aber die überaus hohen Anforderungen der Rechtsprechung zu erfüllen. Neben den tatbestandlichen Hürden und anspruchsimmanenten Einschränkungen besteht in den als klägerfreundlich geltenden Vereinigten Staaten ein weiteres Hindernis, das einem effektiven Sekundärrechtsschutz gegen Handlungen des US-Militärs in Auslandseinsätzen entgegensteht: die political question doctrine. Nach dieser schon in Marbury v. Madison etablierten Rechtsfigur sind bestimmte „politische“ Fragen der richterlichen Beurteilung entzogen.159 Hergeleitet unter anderem aus dem Prinzip der Gewaltenteilung oder als Ausdruck richterlicher Selbstbeschränkung 152   Hamdan v. Rumsfeld, Supreme Court, 2006, 126 S. Ct. 2794, Rn.  4d. Auch dieses Verfahren war allerdings keine ATS-Klage, was allerdings für die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit unerheblich ist. 153   Winkelhüsener, Entschädigungsansprüche von Kriegsopfern bei Verletzung des Völkerrechts, 2013, S.  341 f. 154   Hamdan v. Rumsfeld (Fn.  152), Rn.  4d. Dazu Peters (Fn.  22), S.  201 f. und Schwager (Fn.  24) S.  221. 155   Zur geschichtlichen Entwicklung: Niles, „Nothing but Mischief “: The Federal Tort Claims Act and the scope of discretionary immunity, 54 Administrative L. Rev. 2002, S.  1275 (1287 ff.). 156   Vgl. dazu Stammler (Fn.  136), S.  188. 157   So etwa der Torture Victims Protections Act, 28 U.S.C. §  1350 (1991). 158   §  2374 U.S.C.; vgl. Fischer-Lescano, Subjektivierung völkerrechtlicher Sekundärregeln, AVR 45 (2007), S.  299 (364), der auf die paradox anmutende Konsequenz hinweist, dass demnach für Autounfälle, nicht aber für Bombardierungen gehaftet wird. 159   Marbury v. Madison, 1803, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (177). In den USA findet die act of state doctrine dagegen – terminologisch von der Rechtslage in Großbritannien abweichen – in erster Linie im Rahmen von Klagen mit Bezug zu anderen Staaten Anwendung. Vgl. dazu Stephens et al. (Fn.  148), S.  349 ff.

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schlägt sich diese Doktrin teilweise in den angesprochenen Ausnahmen des FTCA nieder.160 Außerhalb dieser Kodifizierung sind die Einzelheiten unklar und sehr umstritten, etwa ab wann eine Frage „politischer“ Natur ist161 oder ob die Rechtsfolge der Doktrin ein Ausschluss der Jurisdiktion oder der Justiziabilität ist.162 Im Bereich militärischer Aktivitäten hat die Doktrin einen ihrer Hauptanwendungsbereiche und – mit wenigen Ausnahmen163 – reihenweise Klageabweisungen bedingt.164 Nach derzeitigem Stand sind demnach militärische Aktivitäten faktisch als nicht justiziabel anzusehen. Zwar kann in den vergangenen Jahren ein deutlicher Rückgang in der Anwendung der Doktrin durch die Rechtsprechung konstatiert werden.165 Dieser Trend erstreckt sich jedoch nicht auf militärische Handlungen. Im Gegenteil wird die Doktrin in diesem Bereich sogar eher ausgedehnt und inzwischen selbst bei Klagen gegen private Sicherheits- und Militärunternehmen in Betracht gezogen und angewendet.166 Insgesamt bieten sich in den USA demnach zahlreiche Klagemöglichkeiten, wobei insbesondere der weltweit einzigartigen Vorschrift des ATS eine große Rolle zukommt. Für Klagen gegen die USA selbst wegen Schäden aufgrund militärischer Aktivitäten gilt dies jedoch nur eingeschränkt. Zum einen zeigen sich die Gerichte zurückhaltend, Normen des humanitären Völkerrechts überhaupt als individualberechtigend einzuordnen. Zum anderen existieren gerade im Falle einer Klage gegen die US-Regierung viele Einschränkungen der Justiziabilität, was auch daran deutlich wird, dass bisher keine der auf eine Verletzung von humanitärem Völkerrecht gegründeten ATS-Klagen im Rahmen der Begründetheitsprüfung entschieden wurde.167 Hinzu kommt ein – rechtspolitisch motivierter – genereller Trend hin zu einem zurückhaltenden Umgang mit dem ATS.168 Somit bleiben die Betroffenen in   Weill, The Role of National Courts in Applying International Humanitarian Law, 2014, S.  73 ff.   Vgl. dazu Henkin, Foreign Affairs and the US Constitution, 1996, S.  143 ff.; auch eine Leitentscheidung des Supreme Courts konnte hier keine endgültige Klärung bringen: Baker v. Carr, Supreme Court, 1962, 369 U.S.  186 (217). Dazu Chemerinsky, Federal Jurisdiction, 6.  Aufl., 2012, S.  151 ff. 162   Stephens et al. (Fn.  148), S.  338. Gleichfalls ist umstritten, ob der Doktrin überhaupt eine Berechtigung zukommt oder ob sie vielmehr aufgegeben werden sollte. Vgl. dazu im Überblick Chemerinsky (Fn.  161), S.  155 ff. 163   Re Agent Orange Product Liability Litigation, District Court (EDNY), 373 F.Supp.  2d 7. 183; dazu Weill (Fn.  160), S.  93 ff. Zudem: Laird v. Tatum, Supreme Court, 1972, 92 S. Ct. 2318 und Koohi v. U.S., Court of Appeals (9th Cir.), 1992, 976 F.2d 1328 (1331 f.), worin die political question doctrine abgelehnt wurde, wenn das in Rede stehende Handeln „in den zivilen Sektor eindringt“. 164   Holtzmann v. Schlesinger, Court of Appeals (2nd Cir.), 1973, 484 F.2d 1307 (1308 f.); Doe I v. Bush, District Court (Mass.), 2003, 257 F.Supp.  2d 436; El Shifa v. U.S., District Court (D.C.), 2009, 585 F.3d 559 (575 ff.); s. Kottmann, Introvertierte Rechtsgemeinschaft, 2014, S.  54 m.w.N. 165   Barkow, The Rise and Fall of the Political Question Doctrine, in: Mourtada-Sabbah/Cain (Hrsg.), The Political Question Doctrine and the Supreme Court of the United States, S.  23 ff.; Kottmann (Fn.  164), S.  52. 166  So Kottmann (Fn.  164), S.  54. S. auch Fickes, Private Warriors and Political Questions: A Critical Analysis of the Political Question Doctrine’s Application to Suits Against Private Military Contractors, 82 Temp. L. Rev. 2009, S.  525 ff. 167   Weill (Fn.  160), S.  89. 168   Begonnen durch das Urteil in Sosa v. Alvarez-Machain, worin der Supreme Court die unterinstanzlichen Gerichte explizit zur Vorsicht im Umgang mit dem ATS und zur Beachtung der praktischen Auswirkungen einer erfolgreichen Klage aufforderte. Vielmehr sollte „vigilant door-keeping“ betrieben werden, Sosa v. Alvarez, U.S. Supreme Court, 2004, 542 S.Ct. 692, 729 und 732 f. Zur jüngeren 160 161

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den USA weitestgehend auf unter Betonung der Freiwilligkeit geleistete sog. ex gratia- oder ex solatia-Zahlungen angewiesen169 und haben kaum Aussichten auf eine gerichtliche Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche.

3. Italien Die italienischen Gerichte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in teilweise spektakulären Verfahren mit Entschädigungsklagen auseinandergesetzt, die von Betroffenen aufgrund von Schädigungen im Rahmen bewaffneter Konflikte erhoben wurden. Ein Großteil richtete sich gegen die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reichs und hatte Schädigungen während des Zweiten Weltkrieges zum Gegenstand.170 Klagen gegen den italienischen Staat dagegen waren deutlich seltener. Das italienische Recht kennt kein autonomes staatshaftungsrechtliches Regime, sondern leitet die staatliche Haftung infolge richterlicher Rechtsfortbildung aus der deliktsrechtlichen Generalklausel der Art.  2043 ff. des codice civile ab.171 Voraussetzung eines Anspruchs wegen unerlaubter Handlung ist demnach ein Schaden, der kausal auf einer dem Staat zurechenbaren, zumindest fahrlässigen Verletzung eines Rechts oder rechtlich relevanten Interesses beruht.172 Unmittelbar aus dem Völkerrecht abgeleitete Ansprüche lehnt die italienische Rechtsprechung mangels Individualberechtigung seit Jahrzehnten ab.173 Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Verletzung von völkerrechtlichen Normen keinerlei Wirkung zukommt: vielmehr können diese das nationale Staatshaftungsrecht beeinflussen.174 Seit dem Urteil der Corte di Cassazione in der Sache Ferrini gegen die Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 2004 ist durch die Rechtsprechung bestätigt, dass entsprechende Ansprüche auf das allgemeine Deliktsrecht gestützt werden können.175 Entwicklung s. Saage-Maaß/Beinlich, Das Ende der Menschenrechtsklagen nach dem Alien Tort Statute? Ein Kommentar zum Kiobel-Urteil und seinen Auswirkungen, KJ 2015, S.  146 ff. 169  Vgl. Fischer-Lescano (Fn.  158), S.  363 ff. Diese Entschädigungspraxis einschließlich dieser freiwilligen Zahlungen untersucht der Bericht „United States Military Compensation to Civilians in Armed Conflict“ des Center for Civilians in Conflict aus dem Jahr 2010, abruf bar unter: https://civiliansin conflict.org/wp-content/uploads/2017/09/CENTER_Condolence_White_Paper_2010.pdf (zuletzt aufgerufen am 22.11.2017). 170   Vgl. dazu Winkelhüsener (Fn.  153), S.  121 ff. 171   Cortese/Magri, Italien, in: Dörr (Hrsg.), Staatshaftung in Europa, 2014, S.  312 (315). 172   Ebd., S.  325. 173   Vgl. u.a. Corte di Cassazione, Soc. Timber et al. v. Ministri Estero e Tesoro, 1951, ILR 18, S.  621 ff.; Corte di Cassazione, Presidenza Consiglio Ministri v. Markovic, 2002, RDI 85, 799, Rn.  2 (englische Übersetzung in: 128 ILR 652 ff.); Stammler (Fn.  136), S.  229. 174   Cortese/Magri (Fn.  171), S.  324. 175   Corte di Cassazione (sez. un.), Luigi Ferrini v. Reppublica Federale di Germania, Urteil Nr.  5.044 Ferrini), RDI 87 (2004), 643 (englische Übersetzung in: ILR 128 (2004), 658), Rn.  7.1. Ebenso: Corte di Cassazione, Milde, Urteil Nr.  1072, RDI 2009, 618 ff., Rn.  2 und Tribunale di Firenze, Duilio Bergamini v. Reppublica Federale di Germania, 6.7.2015, Nr.  2468, Para. 4.2. Dazu Ciampi, The Italian Court of Cassation Asserts Civil Jurisdiction over Germany in a Criminal Case Relating to the Second World War, JICL 7 (2009), 597 (599, 611); Raffeiner, Jenseits der Staatenimmunität im deutsch-italienischen Staatenimmunitäten-Fall: Wege und Hürden nach dem Urteil der Corte Costituzionale, ZaöRV 76 (2016), S.  451 (466).

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Auch die italienische Rechtsordnung kennt jedoch Einschränkungen der staatlichen Haftung für militärische Handlungen. Diesbezüglich erging im Jahr 2002 eine wegweisende Verfügung der Corte di Cassazione im sog. Markovic-Fall.176 Der zugrundeliegende Sachverhalt entspricht der bereits erwähnten Bankovic´-Entscheidung des EGMR: Im Jahr 1999 bombardierte die NATO eine Radiostation in Belgrad. Darauf hin klagten Angehörige der Opfer wegen der jedenfalls logistischen Unterstützung des Einsatzes durch den italienischen Staat vor einem römischen Zivil­gericht auf Schadensersatz, wobei sie sich unter anderem auf nationale und völkerrechtliche Haftungsgrundlagen beriefen. Die beklagte Regierung wertete diese Frage als nicht-justiziabel und beantragte im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahren vor der Corte di Cassazione die Klageabweisung. Dem Antrag wurde stattgegeben.177 Dogmatisch stützte das Gericht seine Entscheidung im Rahmen einer knappen Begründung auf die sog. teoria dell’atto di stato, wonach gubernative und im Kern politische Entscheidungen der Exekutive überlassen und daher der Überprüfung durch die Gerichtsbarkeit entzogen sind.178 Militäreinsätze fallen traditionell in den Anwendungsbereich der Theorie. Erstaunlich ist jedoch, dass die teoria dell’atto di stato, die in erster Linie politischen Entscheidungsspielraum sichern soll, erstmalig in dieser Art in Bezug auf einen konkreten Einzelfall und zudem auf der Sekundärebene der Schadensersatzforderungen angewandt wurde.179 Führt man die Argumentation der Corte di Cassazione fort, bedeutet die Markovic-Entscheidung im Ergebnis, dass alle Klagen, die sich auf Kampf handlungen und daraus resultierende Schäden beziehen, in Zukunft abgewiesen würden. Demgegenüber etablierte sich ausgehend vom Ferrini-Urteil der Corte di Cassazione im Jahr 2004 eine Rechtsprechungslinie, die hinsichtlich der Frage der individuellen Entschädigungen Neuland betrat.180 Diese bezog sich weitgehend auf die sogenannten Italienischen Militärinternierten (IMI), die nach der Besetzung Italiens durch deutsche Truppen im Jahr 1943 deportiert und zur Zwangsarbeit gezwungen wurden ohne bisher Entschädigung erhalten zu haben. In zahlreichen Verfahren versuchten die IMI und andere Opfergruppen die Bundesrepublik unter anderem vor italienischen Gerichten auf Entschädigung zu verklagen. Einer Verurteilung steht nach dem Völkerrecht prinzipiell der Grundsatz der Staatenimmunität im Wege. Allerdings stipulierte das italienische Verfassungsgericht im Jahr 2014 in seiner viel beachteten und umstrittenen Sentenza 238/2014 eine „Ausnahme“ zu diesem Grundsatz in Fällen von Kriegsverbrechen und schwersten Menschenrechtsverletzungen.181 In diesen Fällen sei eine Ablehnung der Gerichtsbarkeit vor dem Hin  Presidenza Consiglio Ministri v. Markovic (Fn.  173).   Damit war das Verfahren gem. Art.  37 der Italienischen Zivilprozessordnung ipso iure beendet. Auch eine Individualbeschwerde zum EGMR blieb erfolglos: EGMR, Urt. vom 14.12.2006, App. No.  1398/03, Markovic et al v. Italy (GK). 178   Presidenza Consiglio Ministri v. Markovic (Fn.  173), Rn.  2 . Vgl. dazu Frulli, When Are States Liable Towards Individuals for Serious Violations of Humanitarian Law? The Markovic Case, 1 J. Int. Criminal Justice 2003, S.  4 06 (410). 179   Frulli (Fn.  178), S.  410 f. 180   Luigi Ferrini v. Repubblica Federale di Germania (Fn.  175), 64; Milde (Fn.  175). 181   Corte Costituzionale, Urteil Nr.  238 vom 22.10.2014, G.U. 1° Serie Speziale, 29.10.2014, Anno 155°, Nr.  45. In ihrem Urteil stimmte die Corte Costituzionale der Corte di Cassazione zwar im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung zu. Wurde in Ferrini noch argumentiert, dass das Völkerrecht 176

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tergrund des Rechts auf effektiven Rechtsschutzes nach Art.  24 der italienischen Verfassung und der Schwere der Rechtsverletzung nicht zu rechtfertigen.182 Das Urteil widersetzte sich damit jedenfalls indirekt einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das die Staatenimmunität der Bundesrepublik bestätigt hatte.183 Eine Übertragung dieser Argumentationslinie auf Verfahren gegen den italienischen Staat erscheint prima facie dogmatisch möglich, gleichzeitig aber gewagt und hinsichtlich einer tatsächlichen Operationalisierung durch die Gerichte wohl utopisch. So beschäftigen sich die genannten Urteile nicht mit der teoria dell’atto di stato, sondern versuchen entgegen dem Grundsatz der Staatenimmunität eine Gerichtsbarkeit zu begründen. In Markovic ging es dagegen darum, die per se gegebene Gerichtsbarkeit auszuschließen. Die dogmatischen Hintergründe der beiden Rechts­ figuren sind also unterschiedlich: zum einen der völkerrechtliche Grundsatz der Staatensouveränität, zum anderen die verfassungsrechtlich begründete Gewaltenteilung bzw. Sicherung des exekutiven Kernbereichs. Nichtsdestotrotz setzt sich das Ferrini-Urteil gegenüber der Entscheidung in Markovic in Widerspruch, wenn ersteres Klagen gegen ausländische Staaten zulässt, während solche gegen den italienischen Staat abgewiesen werden. Nimmt man nämlich die ratio decidendi der Corte Costituzionale – die Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art.  24 der italienischen Verfassung durch Klageabweisung – näher in Betracht, so ließe sich diese Argumentation auch auf die Markovic-Konstellation übertragen. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz ist durch eine Klageabweisung auf Grundlage der teoria dell’atto di stato schließlich ebenso bedroht. Ferner entginge die Corte Costituzionale bei einer Übertragung dem Vorwurf der Doppelmoral, dem sie in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung von Klagen gegen Italien und ausländische Staaten bereits jetzt vereinzelt ausgesetzt ist.184 Ob als Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen der teoria und Art.  24 der italienischen Verfassung im Einzelfall eine Ausnahme von der teoria zuzulassen ist, wäre dann in einem zweiten Schritt zu klären. In diesem Zusammenhang müssen allerdings die besonderen Umstände der Sentenza 238/2014 berücksichtigt werden. Gegenstand waren schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg und damit absolute Ausnahmesituationen. Zudem löste die Corte Costituzionale mit ihrem Urteil große Kritik aus und dürfte bemüht sein, diese nicht durch eine Übertragung auf Klagen gegen den italienischen Staat zu befeuern. Im Ergebnis erweisen sich die italienischen Gerichte nicht als vielversprechendes Forum. Ob sich hieran infolge der durch die Urteile der Corte di Cassazione und der Corte Costituzionale angestoßenen Entwicklung – jedenfalls in Bezug auf schwerste selbst eine entsprechende Ausnahme kenne, stützte Sentenza 238/2014 die Nichtbefolgung des IGHUrteils auf verfassungsrechtliche Gründe, namentlich die Doktrin der contro-limiti. Siehe dazu: Bothe, The Decision of the Italian Constitutional Court concerning the jurisdictional immunites of Germany, IYIL 24 (2015), S.  25 ff. sowie Raffeiner (Fn.  175), S.  451 ff. 182   Corte Costituzionale, Urteil 238/2014 G.U. 1° Serie Speziale, 29.10.2014, Anno 155°, Nr.  45, Rn.  4 ff. 183   IGH, Urt. v. 03.02.2012, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy, Greece Intervening), ICJ Rep.  2012, S.  99. 184   Weill (Fn.  160), S.  162.

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Verletzungen des (humanitären) Völkerrechts – und der doch deutlich geäußerten Kritik185 etwas ändert, bleibt abzuwarten.

4. Frankreich Ähnlich der italienischen Rechtsordnung basiert das französische Staatshaftungsrecht größtenteils auf richterlicher Rechtsschöpfung.186 Anders als das italienische gestaltet sich das französische Staatshaftungsrecht jedoch als autonomes, von der zivilrechtlichen Haftung losgelöstes Regime und ist daher weniger norm- als fallorientiert. Mit einem Unrechtstatbestand (responsabilité pour faute) und einem Gefährdungs- bzw. Aufopferungstatbestand (responsabilité sans faute) bestehen zwei unterschiedliche Haftungsgrundlagen. Zentrale Voraussetzung der responsabilité pour faute ist das unrechtmäßige Handeln, die sog. faute, deren Umfang und Definition bis heute nicht allgemeingültig geklärt ist.187 Eine faute kann etwa im Erlass eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, wobei auch Verletzungen von Unions- und Völkerrecht die Rechtswidrigkeit begründen können, oder in pflichtwidrigen Realakten liegen.188 Nicht jeder Pflichtverletzung kommt haftungsbegründende Wirkung zu. Entscheidend sind richterrechtlich entwickelte Fallgruppen und Leitlinien, in deren Rahmen Billigkeitserwägungen eine große Rolle spielen.189 Fehlt es an einer faute kommt subsidiär eine Gefährdungsoder Aufopferungshaftung nach den Grundsätzen der responsabilité sans faute in Betracht. Hierfür bedarf es eines anormalen und speziellen Schadens, der nur einem kleinen und begrenzten Personenkreis entstanden ist.190 Unmittelbar aus dem Völkerrecht abgeleitete (Entschädigungs-)Ansprüche kennt die französische Rechtspraxis nicht. Neben dem Staatshaftungsrecht existieren zwar fragmentarisch gesetzliche Entschädigungsregime für vergangene Konflikte unter Beteiligung der französischen Streitkräfte. Diese sind aber einerseits nicht wirklich zur Entschädigung von militärischen Schäden genutzt worden und können andererseits nur in Anspruch genommen werden, wenn der Schaden nicht aufgrund einer militärischen Notwendigkeit (necessité opérationelle) entstanden ist,191 sodass sie keine handfeste Alternative bieten. 185   Vgl. nur Frulli (Fn.  178), S.  411 ff.; s. auch die dissenting opinion im Urteil des EGMR, Markovic et al v. Italy (Fn.  177), S.  49 ff. 186   Chrétien/Chifflot/Tourbe, Droit administratif, 2014, S.  645; Marsch, Frankreich, in: Dörr (Fn.  171), S.  196 f. Zwar existieren zunehmend gesetzliche Sonderregelungen für spezielle entschädigungsrelevante Bereiche; aus diesen lässt sich aber mangels Kohärenz keine allgemeingültige dogmatische Grundlage des Staatshaftungsrechts ableiten. 187   „La notion de faute de service est à peu près impossible à definir“, Odent, Contentieux administratif, Bd.  4, 1981, S.  1374. 188  Vgl. Herrmann, Das französische Staatshaftungsrecht zwischen Tradition und Moderne, 2010, S.  146 ff. und Marsch (Fn.  186), S.  202, 207. 189   Marsch (Fn.  186), S.  197; dem Verschulden kommt indessen nicht die Bedeutung einer strikten Haftungsvoraussetzung zu, sondern es fließt in Beurteilung mit ein, ob eine faute vorliegt. 190   Entsprechend der deutschen Figur des „Sonderopfers“. Dazu Chrétien/Chifflot/Tourbe (Fn.  186), S.  666 f. 191   Guillaume, La réparation des dommages causés par les contingents français en ex-Yougoslavie et en Albanie, Annuaire français de droit international 43 (1997), S.  151 (161, 163): 79 % der Fälle betrafen Verkehrsunfälle und 15 % Immobilienstreitigkeiten.

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Die Etablierung eines Staatshaftungsregimes, das die zuvor weitgehend geltende Immunität des Souveräns durchbrach, wurde durch die Rechtsprechung schon früh mit dem Vorbehalt versehen, dass dieses nicht auf eine „allgemeine“ und „absolute“ Haftung des Staates hinauslaufen dürfe.192 Beispielhaft im Hinblick auf militärische Aktivitäten ist der Fall Touax aus dem Jahr 2010. Den französischen Gesellschaften Touax und Touax Rom waren im Rahmen eines durch die französische Luftwaffe durchgeführten NATO-Bombardements im früheren Jugoslawien Schäden in Millionenhöhe entstanden. Die darauf hin eingereichte Schadensersatzklage auf Grundlage des Staatshaftungsrechts scheiterte in allen Instanzen. Der Conseil d’État wies den Revisionsantrag der Kläger letztinstanzlich ab, da militärische Operationen „ihrer Natur nach nicht in der Lage [sind], eine Haftung des Staates auszulösen […] sofern nicht eine gesetzgeberische Entscheidung den Opfern einen Entschädigungsanspruch zuweist.“193 Damit verneinte der Conseil d’État ohne nähergehende Begründung eine Verantwortlichkeit des französischen Staates für sämtliche Schäden, die im Zusammenhang mit militärischen Operationen entstehen. Konsequenz dieses irresponsabilité de la puissance publique genannten Konzeptes ist, dass ein subjektives Recht auf Entschädigung ausgeschlossen ist und die Klage mangels Anspruchsgrundlage in Form eines Sachurteils als unbegründet abgewiesen wird.194 Damit erstreckt sich das staatshaftungsrechtliche Regime bis heute nicht auf militärische Aktivitäten, wodurch die traditionelle Immunitätsmaxime „le roi ne peut mal faire“ jedenfalls im militärischen Bereich weiterhin eine gewisse Geltungskraft entfaltet.195 In diesem Zusammenhang wird häufig ebenfalls die Figur des acte de gouvernement relevant, die sich auf Verwaltungshandeln bezieht, das einen unmittelbaren, untrennbaren Bezug zur Exekutive, zum Parlament, zu den auswärtigen Angelegenheiten oder zu Internationalen Organisationen hat. In Abgrenzung zum Konzept der irresponsabilité führt ein Fall des acte de gouvernement nicht nur zu einer Nichtanwendung des Staatshaftungsrechts, sondern zu einer gänzlichen Unzuständigkeit aufgrund mangelnder Jurisdiktion (irrecevabilité), sodass eine Unterscheidung beider Figuren unerlässlich ist.196 Als actes de gouvernement wurden zwar nach traditioneller Ansicht unter anderem konkrete militärische Operationen gewertet.197 Allerdings ist zu beobachten, dass die Gerichte seit Beginn der 1950er-Jahre zunehmend zurückhaltender mit der Figur des acte de gouvernement umgehen.198 So wird die Frage, ob ein Einsatz der Streitkräfte an sich erfolgen soll, immer noch als acte de gouvernement und damit als nicht-justiziabel angesehen.199 Geht es dagegen um staatshaftungsrechtliche   Tribunal des conflits, Blanco, Lebon, 1er suppl., S.  6.   Conseil d’État, Société Touax, 23.07.2010, (requête n° 328757, Lebon); Übersetzung durch die Verfasser. 194   Sénac, Revue française de droit administratif 2011, S.  1198 (1202, 1204). 195   Sénac (Fn.  194), S.  1207 ff. 196   Herrmann (Fn.  188), S.  258; Kottmann (Fn.  164), S.  41 ff. Dabei ist zu beachten, dass die Gerichte in Einzelfällen auch im Anwendungsbereich der acte de gouvernement-Doktrin Ausführungen zur Begründetheit machen und nicht unmittelbar ihre Gerichtsbarkeit ablehnen. S. dazu Sénac (Fn.  194), S.  1201 f. 197   Kottmann (Fn.  164), S.  41; Sénac (Fn.  194), S.  1201. 198   Vgl. dazu Sénac (Fn.  194), S.  1202. 199   Conseil d’État, Mégret, No.  206303, Actualité Juridique Droit Administratif 2001, 95; Kottmann (Fn.  164), S.  42. 192 193

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Sekundäransprüche wegen konkreter militärischer Aktivitäten nehmen die Gerichte mittlerweile – wie im Fall Touax – ihre Zuständigkeit an und kommen erst auf der Ebene der Begründetheit zu einer Klageabweisung aufgrund der irresponsabilité.200 In einer abschließenden Betrachtung zeigt sich daher, dass ein der vom BGH in der Sache Kunduz entschiedenen vergleichbarer Sachverhalt in Frankreich aufgrund des Konzepts der irresponsabilité de la puissance publique keine Aussicht auf Erfolg hätte. Positiv zu bewerten ist, dass die französischen Gerichte ihre Gerichtsbarkeit nicht mehr pauschal auf Grundlage der Figur des acte de gouvernement ablehnen und somit zu einer materiellen Prüfung der Ansprüche kommen können. Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass das Touax-Urteil möglichen Ansprüchen dezidiert einen materiell-rechtlichen Riegel vorschiebt, indem es militärische Handlungen „par nature“ nicht als geeignet ansah, staatshaftungsrechtliche Ansprüche zu begründen. Dies erscheint sehr absolut und unnötig eng, zumal keine näheren Ausführungen dazu erfolgten, was unter einer „militärischen Handlung“ zu verstehen ist. Dies fügt sich auch nicht in den generellen Trend, Konzepte wie acte de gouvernement und irresponsabilité zunehmend einschränkt anzuwenden und so zurückzudrängen.201 Militärische Aktivitäten erscheinen somit als letzte „Insel“ der irresponsabilité inmitten eines sonst nahezu umfassend anwendbaren Staatshaftungsrechts, was zunehmend als anachronistisch und paradox kritisiert wird.202 Aus der Tatsache dass der Conseil d‘État erst kürzlich mit der Touax-Klage eine derart passende Gelegenheit hat verstreichen lassen, dieser Tendenz im militärischen Bereich zu folgen und jedenfalls den Anwendungsbereich des Staatshaftungsrechts zu eröffnen, lässt sich ableiten, dass eine Rechtsprechungsänderung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Somit bleiben Entschädigungsansprüche von speziellen Entschädigungsregimen abhängig, die zum einen bisher unpassend konstruiert wurden und zum anderen von einem entsprechenden politischen Willen abhängen.

5. Niederlande Die niederländische Rechtsprechung zählt im Hinblick auf Schadensersatzansprüche von Individuen, die aus Staatshandeln im Rahmen militärischer Auslandseinsätze erwachsen, zu den „klägerfreundlichsten“ im internationalen Vergleich.203 Im Einzelnen weichen relevante Urteile in dogmatischen Teilfragen voneinander ab. Mit200   So der Conseil d’État in Société Touax (Fn.  193). Dazu Belrhali-Bernard, L’îlot de l’irresponsabilité de l’Etat du fait des opérations militaires, AJDA 2010, S.  2269. 201   In Bezug auf acte de gouvernement: Brémond, Des actes de gouvernement, Revue du droit publique 5 (1986), S.  23 (37 ff.); Duez, Les actes de gouvernement, 1952, S.  33 ff.; Kottmann (Fn.  164), S.  48. Zur irresponsabilité: Belrhali-Bernard (Fn.  200), S.  2269 f. 202   Deguergue, Regard sur les transformations de la responsabilité administrative, Revue française d’administration publique 147 (2013), S.  575 (586); Sénac (Fn.  194), S.  1207. 203   Zahlreiche Urteile betrafen (auch) Unterlassungsansprüche im Hinblick auf eine Beteiligung der Niederlande an militärischen Aktionen und gerade nicht die Schadensersatzkonstellation. Siehe nur Association of Lawyers for Peace a. o. v. The State of the Netherlands, 6.2.2004, 36 NYIL 2005, S.  509 ff.; Hoge Raad, 1. Kammer, Urteil v. 29.11.2002, Az. C01/027HR, 35 NYIL (2004), S.  522 (536 f.) – Danikovic et al. v. de Staat der Nederlanden. Das zugleich geltend gemachte Schadensersatzbegehren wurde im Fall Danikovic auf Art.  6 :106 des niederländischen Zivilgesetzbuchs gestützt, a.a.O.

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unter trifft man auf eine Vermeidungsstrategie, die der bisherigen Rechtsprechungslinie deutscher Gerichte ähnelt: Fragen zum rechtlichen Fundament von Entschädigungsansprüchen werden nicht abschließend geklärt, man verneint jedoch jedenfalls konkrete Anspruchsvoraussetzungen oder legt aus anderen Gründen dar, wieso zur Frage des Haftungsregimes nicht zu judizieren sei. Unklar verbleibt in den meisten Judikaten – auch wenn in deren Rahmen eine Verletzung völkerrechtlicher Normen, insbesondere des humanitären Völkerrechts, festgestellt wird – nach welcher Rechtsordnung sich die Konsequenzen dieser ausrichten. Mitunter erscheint auch die Literatur in dieser Hinsicht bei der Analyse einschlägiger Urteile vorschnell zu sein.204 Folgende Beispiele belegen dies plastisch: Zwar schloss der Gerechtshof ’s-Gravenhage angesichts der Sanktionierung von Verstößen des humanitären Völkerrechts im niederländischen Strafrecht nicht aus, dass dieses die Grundlage zivilrechtlicher Klagen bilden könnte (ohne ausdrücklich festzustellen, dass Entschädigungsansprüche aus dem Völkerrecht folgten).205 Er konnte der endgültigen Beantwortung dieser Frage in der betreffenden Entscheidung jedoch entkommen, da er lediglich über Verfahrensfragen entschied.206 Von vielen wird vertreten, dass der Gerechtshof te Amsterdam in seinem Urteil in Rechtssachen Dedovic v. Kok et al. aus dem Jahre 2000 völkerrechtliche Schadensersatzansprüche in Folge der Verletzung von Normen des ius in bello implizit anerkannt habe.207 Tatsächlicher Anknüpfungspunkt war hier die niederländische Beteiligung am NATO-Einsatz in Jugoslawien. Die Kläger konnten mit ihrem Begehren im Ergebnis nicht durchdringen, da der Gerichtshof das Bestehen einer hinreichenden Opfereigenschaft angesichts des „popularklagehaften“ Charakters des Verfahrens nicht anzunehmen vermochte. Den Klägern gelang es nicht substantiiert darzulegen, inwiefern sie persönlich durch die Verletzung humanitären Völkerrechts einen Schaden erlitten hatten.208 Zwar konstatierte er diesbezüglich, ein erfolgreiches Schadensersatzbegehren setze einen „unlawful act committed against them, consisting in an 204   Dass ein Gericht Einzelpersonen eine unmittelbare Berufung auf Normen des Völkerrechts gestattet, bedeutet nicht zugleich, dass es davon ausgeht, dem Völkerrecht entflössen Entschädigungsansprüche. Teilweise wird jedoch aus der Annahme unmittelbarer Anwendbarkeit auf sekundäre Ansprüche geschlossen. 205  Gerechtshof ’s-Gravenhage, Urteil v. 6.3.2003, Az. 2002/754, Rn.  2.3. Siehe hierzu Stammler (Fn.  136), S.  248. 206   Gerechtshof ’s-Gravenhage, Urteil v. 6.3.2003, Az. 2002/754, Rn.  2 .3. 207  Dies annehmend Zegveld, Remedies for Victims of Violations of International Humanitarian Law, 85 IRRC (2003), S.  497 (504); Fischer-Lescano (Fn.  158), S.  370; Stammler (Fn.  136), S.  245. Der Gerichtshof stellte jedoch auch fest, dass niederländisches Recht anwendbar sei, Gerechtshof Amsterdam, Urteil v. 6.7.2000, Az. 759/99 SKG, Rn.  5.1.1, 35 NYIL (2004), S.  508 (516) (englische Übersetzung) – Dedovic v. Kok et al. 208  Siehe Gerechtshof Amsterdam, Urteil v. 6.7.2000, Az. 759/99 SKG, Rn.  5.3.23, 35 NYIL (2004), S.  508 (516) (englische Übersetzung) – Dedovic v. Kok et al.: „But no view need be expressed on the correctness of the allegations of violations. Contrary to what Dedovic et al., have submitted, violations of international humanitarian law in the Federal Republic of Yugoslavia are not sufficient to hold the State of the Netherlands (or Kok et al.) liable to the appellants, even if the violations were disproportionate. The rules and norms of this humanitarian law do not extend, unlike possibly the norms referred to in finding of law 5.3.18, to protection of persons from the tensions or fears which are a consequence of the air strikes as such, nor to protection of persons against whom these rules and norms have not been infringed in practice. It is therefore a question of whether each of the appellants has personally been the victim of an event that must be deemed to be a violation of international humanitarian

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act or omission contrary to the rules or norms of international humanitarian law“ voraus.209 Nicht völlig klar ist jedoch, ob er hiermit tatsächlich anzuerkennen gedachte, dass auch dem Völkerrecht relevante Anspruchsgrundlagen zu entnehmen seien. So folgte das Gericht den Parteien in ihrem Vorbringen, niederländisches Recht fände Anwendung.210 Von besonderer Bedeutung sind die Judikate niederländischer Gerichte zu Versäumnissen der niederländischen Truppen (Dutchbat) in Zusammenhang mit dem Massaker von Srebrenica im Jahre 1995.211 Im Rahmen dieser Verfahren standen Fragen der Zurechnung im Vordergrund, da das niederländische Militär innerhalb einer UN-Friedensmission tätig wurde.212 Gerichte kamen hier in den Fällen Nuhanovic´ v. de Staat der Nederlanden und Mustafic´-Mujic´ et al v. de Staat der Nederlanden über eine Anwendung des niederländischen Internationalen Privatrechts zur Anwendbarkeit bosnisch-herzegowinischen Deliktsrechts, das als einschlägige Rechtsgrundlage möglicher Entschädigungsansprüche fungierte.213 Völkerrechtliche Bestimmungen der EMRK sowie des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte wurden als Rechtmäßigkeitsmaßstab herangezogen, da sie kraft verfassungsrechtlicher Anordnung immanenter Bestandteil der bosnischen Rechtsordnung waren.214 Der Gerechtshof ‘s-Gravenhage stellte sowohl im Mustafic´-Mujic´ et al.- als auch im Nuhanovic´-Urteil – nachdem er konstatierte, dass bosnisches law. However, Dedovic et al., have failed to provide any factual data on this point.“ Vgl. dazu Stammler (Fn.  136), S.  245. 209  Gerechtshof Amsterdam, Urteil v. 6.7.2000, Az. 759/99 SKG, Rn.  5.3.24, 35 NYIL (2004), S.  508 ff. (englische Übersetzung) – Dedovic v. Kok et al. [Fundstelle im Original: „dat appellanten immateriele schade hebben geleden, welke als gevolg van een jegens hen began onrechtmatige daad, bestaande in een handelen of nalaten in strijd met regel of normen van humanitair (oorlogs)recht, voor vergoeding in aanmerkin komt.“]. Hinsichtlich des Schadensersatzbegehrens ging es um eine persönliche Haftung von Regierungsmitgliedern, siehe Rn.  5.3.2. 210  Gerechtshof Amsterdam, Urteil v. 6.7.2000, Az. 759/99 SKG, Rn.  5.1.1., 35 NYIL (2004), S.  508 ff. (englische Übersetzung) – Dedovic v. Kok et al. 211   Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 10.9.2008, Az. 265615/HA ZA 06-1671 (Klage abgewiesen); Gerechtshof ‘s-Gravenhage, Urteil v. 5.7.2011, Az. 200.020.174/01; Hoge Raad, 1. Kammer, Urteil v. 6.9.2013, Az. 12/03324 – Nuhanovic´ v. de Staat der Nederlanden; Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 10.8.2008, Az. 265618/HA ZA 06-1672; Gerechtshof ‘s-Gravenhage, Urteil v. 5.7.2011, Az. 200.020.173/01; Hoge Raad, 1. Kammer, Urteil v. 6.9.2013, Az. 12/03329 – Mustafic´-Mujic´ et al v. de Staat der Nederlanden; Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 16.7.2014, Az. C/09/295247/HA ZA 072973; Rechtbank Den Haag, Urteil v. 16.7.2014, Az. C/09/295247/HA ZA 07-2973; Gerechtshof Den Haag, Urteil v. 27.6.2017, Az. 200.158.313/01 und 200.160.317/01 – Stiching Mothers of Srebrenica v. de Staat der Nederlanden. 212   Diese Verfahren erregten Aufsehen, weil die Gerichte von der Möglichkeit einer doppelten Zurechnung von Verletzungshandlungen („dual attribution“) sowohl an den truppenentsendenden Staat als auch an die UN ausgingen. Hierzu Nollkaemper, Dual Attribution, 9 J. Int. Crim. Justice (2011), S.  1143 ff. 213   Nuhanovic´ verwies auf Art.  154, 172, 173, 174 des Gesetzes über Schuldverhältnisse Bosnien-Herzegowinas – Zakon o obligacionim Odnosima – als Anspruchsgrundlagen, sowie Art.  6 :170 des niederländischen Zivilgesetzbuchs als auch das Völkerrecht, Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 10.9.2008, Az. 265615/HA ZA 06-1671, Rn.  3.2.3, 3.2.6. Das Bezirksgericht fokussierte sich auf die Frage der Zurechnung, ohne sich genau zu der einschlägigen Rechtsgrundlage zu äußern, a.a.O., Rn.  4.5 ff., wobei es feststellte, dass die Frage der Zurechnung an völkerrechtlichen Maßstäben zu messen sei, a.a.O., Rn.  4.6. Der Gerechtshof ‘s-Gravenhage bestätigte in beiden Urteilen, dass bosnisches Recht zur Anwendung käme, Urteile v. 5.7.2011, Az. 200.020.174/01und Az. 200.020.173/01, jeweils Rn.  5.5. 214   Gerechtshof ‘s-Gravenhage, Urteil v. 5.7.2011, Az. 200.020.173/01, Rn.  6.4.

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Recht zur Anwendung käme – fest, dass eine Überprüfung nach völkerrechtlichen Standards nicht „to a substantially different judgment as opposed to an assessment only according to the law of Bosnia and Herzegovina“ führen würde.215 Im Fall Stichting Mothers of Srebrenica v. de Staat der Nederlanden kam das Bezirksgericht Den Haag zur Anwendung niederländischen Deliktsrechts und setzte sich so von den Nuhanovic´/Mustafic´-Mujic´ et al-Urteilen ab,216 wobei es – hier wiederum im Einklang mit vorhergehenden Urteilen – zugleich betonte, dass die Frage, ob niederländisches oder bosnisches Recht zur Anwendung käme, im Ergebnis irrelevant sei und sich erst bei der Festsetzung des immateriellen Schadens bemerkbar machen würde.217 Völkerrechtliche Normen zog es ebenfalls als Rechtmäßigkeitsmaßstab heran.218 Vor kurzem judizierte der Gerechtshof Den Haag als höherinstanzliches Gericht in der gleichen Rechtsache – die Annahme der Vorinstanz hinsichtlich der Anwendbarkeit niederländischen Rechts nicht in Frage stellend 219 – und konstatierte eine Mitschuld der Niederlande am Tod von 350 Männern.220 Den dargestellten Entscheidungen kommt besonders in solchen Bereichen besondere Aussagekraft zu, in denen sie „schweigen“: Augenscheinlich sind dem niederländischen Recht dogmatische Figuren, die die Justiziabilität oder die Jurisdiktion in Bezug auf Militärhandeln ausschließen, nicht zu entnehmen. Auch wenn es mitunter an dogmatischer Klarheit in den rationes decidendi der betreffenden Urteile mangelt, so lässt sich feststellen, dass der Gedanke einer „Haftungsferne“ von Soldatenhandeln im Rahmen bewaffneter Konflikte der niederländischen Rechtsprechung fremd ist. Schwierigkeiten, einschlägige Anspruchsgrundlagen zu finden, haben die betreffenden Gerichte nicht, auch wenn unklar ist, ob diese nach ihrer Auffassung dem Völkerrecht entstammen. Klagebegehren scheitern an einzelnen Voraussetzungen der Haftungsansprüche (z.B. das Fehlen hinreichender Opfereigenschaft),221 am Fehlen eines hinreichenden Zurechnungstatbestandes222 oder am Fehlen einer Verletzung völkerrechtlicher oder nationaler Handlungsgebote und -verbote.223

215   Gerechtshof ‘s-Gravenhage, Urteil v. 5.7.2011, Az. 200.020.174/01, Rn.  5.5; Gerechtshof ‘s-Gravenhage, Urteil v. 5.7.2011, Az. 200.020.173/01, Rn.  5.5. Die Frage des einschlägigen Rechts lag außerhalb des Prüfungsumfangs des Hoge Raad in den Fällen Nuhanovic´ und Mustafic´-Mujic´ et al., siehe Urteil v. 6.9.2013, Az. 12/03324, Rn.  3.15.5. 216   Bezirksgericht Den Haag (Rechtsbank Den Haag), Urteil v. 16.7.2014, Az. C/09/295247/HA ZA 07-2973, Rn.  4.171. 217   Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 16.7.2014, Az. C/09/295247/HA ZA 07-2973, Rn.  4.146, 4.172. 218   Siehe Verweis auf Art.  93 der niederländischen Verfassung, Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 16.7.2014, Az. C/09/295247/HA ZA 07-2973, Rn.  4.148 et seq. 219   Gerechtshof Den Haag, Urteil v. 27.6.2017, Az. 200.158.313/01 und 200.160.317/01, Rn.  33. 220   Ebd., Rn.  73.1 ff. 221   Gerechtshof ’s-Gravenhage, Urteil v. 6.3.2003, Az. 2002/754. 222   Bezirksgericht Den Haag, Urteil v. 10.9.2008, Az. 265615/HA ZA 06-1671, Rn.  4.15. 223   Siehe differenziertes Urteil im Fall Gerechtshof Den Haag, Urteil v. 27.6.2017, Az. C/09/295247/ HA ZA 07-2973 – Stichting Mothers of Srebrenica v. de Staat der Nederlanden.

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6.  Herausarbeitung und Evaluierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ungeachtet des fragmentarischen Charakters der Darstellung lassen sich in den betrachteten Rechtssystemen einige – teilweise gegenläufige – Tendenzen im Umgang mit Klagen aufgrund von in Zusammenhang mit extraterritorialen militärischen Handeln erlittener Schäden ausmachen. Im Allgemeinen scheint der Rückgriff auf Theorien der Nicht-Justiziabilität und Jurisdiktionseinschränkungen abzunehmen. Im Hinblick auf Kampf handlungen dagegen kann dies nur begrenzt bestätigt werden. Diesen kommt auch heutzutage noch weitgehend eine rechtliche Sonderstellung zu. Dennoch wählen die verschiedenen Rechtssysteme unterschiedliche Herangehensweisen. Die Gerichte der Vereinigten Staaten, Italiens sowie Frankreichs weisen Klagen letztlich kategorisch unter Verweis auf die politische bzw. gubernative Natur der in Rede stehenden Sachverhalte ab, wobei sich die Begründung unterscheidet. Die italienischen Gerichte propagieren unter Verweis auf die teoria dell’atto di stato einen umfassenden Ausschluss der Gerichtsbarkeit, während die französischen Gerichte zunehmend bis zur Begründetheitsebene vordringen, um Klagen dann aber pauschal unter Rückgriff auf den Grundsatz der irresponsabilité de la puissance publique abzuweisen. In den USA scheitern Klagen gleichsam aufgrund der political question doctrine, sofern nicht schon die strengen tatbestandlichen bzw. anspruchsimmanenten Anforderungen zu einer Ablehnung der Klage führen. Abgesehen von diesen differierenden Ansätzen ist den genannten Rechtssystemen gemein, dass der Umgang der Gerichte mit Entschädigungsklagen im Bereich militärischer Aktivitäten von traditionellen dogmatischen Figuren wie etwa der political question doctrine geprägt ist, die ursprünglich exekutiven und gubernativen Entscheidungsspielraum sichern sollten und im Bereich der militärischen Aktivitäten bis heute als letzte „Insel“224 der Nicht-Justiziabilität fortleben. Es wird in der Literatur zunehmend als unpassend und anachronistisch empfunden, Fragen wie die rechtswidrige Tötung einer Person im Rahmen von Kampf handlungen und daraus resultierende Schadensersatzansprüche von vorneherein als „politische“ Frage einzuordnen und dadurch Klagen a priori jegliche Erfolgsaussicht zu nehmen. Gleichzeitig verhindert dieser Rekurs auf dogmatische Relikte die Etablierung von Rechtsprechungsgrundätzen, die einen pragmatischen und die Rechte des Individuums effektuierenden Umgang mit Schadensersatzklagen erlaubten. Demgegenüber steht mit den Niederlanden das Beispiel eines Rechtssystems, dem ein derartig pauschaler Umgang mit Klagen unter Rückgriff auf Klagbarkeitseinschränkungen fremd ist. Vielmehr werden entsprechende Klagebegehren auf das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen überprüft – woran diese regelmäßig scheitern. Gewissermaßen einen Mittelweg schlägt derzeit das Rechtssystem des Vereinigten Königreichs ein, das zwar Klagbarkeitseinschränkungen wie die combat immunity kennt. Dennoch lässt sich zunehmend eine Bereitschaft ausmachen, die bestehenden Einschränkungen restriktiver auszulegen und sich materiell mit den Ansprüchen von Opfern zu beschäftigen. Dies scheint jedenfalls insoweit zu gelten, wenn 224  So in Bezug auf die französische Rechtspraxis: Belhrali-Bernard (Fn.  200), S.  2269; Deguergue (Fn.  202), S.  586; Sénac (Fn.  194), S.  1207.

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nicht typische Kollateralschäden militärischer Operationen in Frage stehen. Insofern lässt sich als größtes Unterscheidungsmerkmal der betrachteten Staaten die Frage festhalten, ob ein pauschaler Ausschluss der Jurisdiktion oder Justiziabilität besteht oder ob die Besonderheiten von Kampf handlungen innerhalb des „regulären“ Staatshaftungsrechts gewürdigt und aufgefangen werden. Ein überwiegender Teil der Staaten folgt weiterhin dem traditionellen Weg, (extraterritoriale) Kampf handlungen von der gerichtlichen Beurteilung auszuschließen. Aus rechtsvergleichender Sicht ist das BGH-Urteil – jedenfalls vom Ergebnis her – also keinesfalls ein singulärer Paukenschlag, wäre ein hypothetisches Kunduz-Verfahren vor italienischen, US-amerikanischen und französischen Gerichten ja nicht anders ausgegangen. Im Vereinigten Königreich und den Niederlanden ist dies nicht so eindeutig. Zwar stellte das in Rede stehende Verhalten auch in der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs unzweifelhaft eine Kampf handlung dar, sodass die combat immunity einer erfolgreichen Klage grundsätzlich entgegenstünde. Legt man allerdings die in Bici entwickelten Ausnahmen zugrunde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob eine „Kunduz-Klage“ vor britischen Gerichten ebenfalls gescheitert wäre. Ähnlich erscheint die Lage in den Niederlanden. Abgesehen von einem hypothetischen Ausgang einer „Kunduz-Klage“ erscheint in diesen beiden Rechtsordnungen insbesondere der Ansatz interessant, die Besonderheiten von Kampf handlungen auf tatbestandlicher Ebene zu berücksichtigen und den Anwendungsbereich der grundsätzlich einschlägigen Haftungsregime nicht a priori einzuschränken. An dieser Stelle ergibt sich ein großer Unterschied zum Urteil des Bundesgerichtshofs, der im Gegensatz zu den niederländischen und britischen Gerichten von vorneherein den Anwendungsbereich des Staatshaftungsrechts ausschließt. Die Herangehensweise des BGH unterscheidet sich allerdings ebenfalls von der der französischen, italienischen und US-amerikanischen Gerichte: Die vom BGH eigens im Kunduz-Urteil entwickelte Argumentationsstruktur engt den Anwendungsbereich des Staatshaftungsrechts ein, ohne dass dies zwingende Folge der Existenz einer positivrechtlichen Norm oder Rechtsfigur des deutschen Rechts ist. Das deutsche Rechtssystem kennt ja gerade keine political question doctrine. Im Ergebnis zeichnet die rechtsvergleichende Untersuchung ein gemischtes Bild. Der vorstehenden Einordnung des BGH-Urteils in die internationale Rechtsprechungslandschaft lassen sich jedoch – gerade hinsichtlich rechtspolitischer Fragen – einige Impulse und Vergleichspunkte entnehmen, die in der folgenden abschließenden Stellungnahme aufgegriffen werden sollen.

IV.  Schlussbetrachtung – Die Justiziabilität des Krieges und der Amtshaftungsanspruch in Gestalt des deutschen Rechts Anhand der verfassungsrechtlichen und rechtsvergleichenden Erkenntnisse lassen sich in Bezug auf die im Kunduz-Verfahren zum Ausdruck gebrachte Überzeugung des BGH, dass der Anwendungsbereich des Amtshaftungsanspruchs in Bezug auf extraterritoriale Kampf handlungen nicht eröffnet sei, folgende Ergebnisse formulieren:

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Die rechtsvergleichende Untersuchung hat zu Tage befördert, dass eine Erstreckung des Haftungsregimes auf Auslandseinsätze im Rahmen bewaffneter Konflikte im internationalen Vergleich keineswegs einzigartig wäre. Dies belegen Rechtsprechungsbeispiele aus den Niederlanden sowie insbesondere das britische Bici-Judikat. Zwar reiht sich der BGH – vom Ergebnis her – durchaus in die Rechtsprechung anderer Staaten wie die Frankreichs, Italiens und der USA ein. Allerdings existiert im deutschen Verfassungsrecht eben keine rechtsdogmatische Figur, die die gerichtliche Beschäftigung mit Kampf handlungen und Auslandseinsätzen ausschließt. Der BGH hatte dementsprechend ausreichend Freiraum, sich ergebnisoffen mit der Frage zu beschäftigen, wie und unter welchen Voraussetzung eine staatshaftungsrechtliche Entschädigung für Opfer von Kampf handlungen geleistet werden kann und muss. Diesen Freiraum hat der BGH indes nicht genutzt, was aus rechtlicher wie rechtspolitischer Sicht zu kritisieren ist: Zunächst ist die Entscheidung methodisch zweifelhaft, das Bemühen des BGH um eine teleologische Reduktion unsauber. Sie würdigt die Wechselbezüglichkeit zwischen der Staatshaftung und den Grundrechten nicht zu Genüge und ist nahezu von einer Völkerrechtsunfreundlichkeit geprägt. Mit seinem Urteil stellt sich der BGH der Möglichkeit, dass deutsche Gerichte dem humanitären Völkerrecht in konkreten Einzelfällen Effektivität verleihen und ihm zur Durchsetzung verhelfen, in den Weg. Es erscheint sowohl verfassungsrechtlich als auch aus der Perspektive der EMRK äußerst zweifelhaft, ob eine Ablehnung jeglicher Staatshaftung mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz zu vereinbaren ist. Der Beitrag hat zudem dargelegt, dass aus der Warte des deutschen Verfassungsrechts von der Anwendbarkeit des Amtshaftungsregimes auszugehen ist, wofür ebenfalls die EMRK streitet. Das BGH-Urteil erging daher letztlich nicht im Einklang mit geltendem Recht. Entscheidend ist zudem, dass die Ablehnung der Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs rechtspolitisch nicht erforderlich ist. Die prinzipielle Absage an eine Amtshaftung im Kontext bewaffneter Konflikte ist selbst nach der BGH-eigenen Argumentationsstruktur schlicht nicht notwendig: Allen Einwänden und Befürchtungen des BGH, die ihn zur Nichtanwendbarkeit des Staatshaftungsrechts leiten (und nicht allesamt per se von der Hand zu weisen sind), lässt sich auf Tatbestandsebene begegnen. Dies belegen gerade die Rechtsprechungsbeispiele im Vorfeld der Kunduz-Entscheidung des BGH, die der „selbst wenn, dann“-Argumentation folgten und Klagen an tatbestandlichen Voraussetzungen des Art.  34 GG i.V.m. §  839 BGB scheitern ließen. Klagewellen sind nicht zu befürchten, was die Erfahrungswerte aus Staaten, die einer Haftung offener gegenüberstehen (Niederlande sowie Vereinigtes Königreich), unter Beweis stellen. Die Praxis der Niederlande und des Vereinigten Königreichs (beide ja Mitglieder der wichtigsten Militärbündnisse) schwächt ferner das diesbezügliche Argumentationsarsenal der Gegner eines weit verstandenen Anwendungsbereichs des Amtshaftungsanspruchs, die von einer Bedrohung der Bündnisfähigkeit Deutschlands aufgrund der angenommenen Singularität des deutschen Haftungsregimes ausgehen, zusätzlich ab. Schwer wiegt weiterhin, dass das BGH-Urteil den Eindruck der Doppelmoral befördert: So tritt die Bundesrepublik auf internationaler Ebene seit jeher für die Menschenrechte ein, die Effektuierung des Menschenrechtsschutzes und der individualschützenden Komponenten des (humanitären) Völkerrechts im Kontext militä-

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rischer Auslandseinsätze vor den eigenen Gerichten bleibt jedoch aus. Eine „Öffnung“ der deutschen Gerichte für Opfer von Operationen der deutschen Bundeswehr bei entsprechender Modifizierung und Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Amtshaftungsanspruchs wäre vor diesem Hintergrund wichtig und richtig. Vor einer Beeinträchtigung des deutschen Haushalts durch eine Welle von Klagen zu warnen, erscheint gegenüber den Opfern geradezu als zynisch und auch im Hinblick auf die internationale Wahrnehmung und den Ruf der Bundeswehr nicht gerade als vorteilhaft. Der stets reflexartig bemühte Verweis auf eine sich aus möglichen Klagewellen resultierende empfindliche Beeinträchtigung des Haushalts vermittelt unversehens den Eindruck, dass die BRD am laufenden Band schwere Menschenrechtsverletzungen begehe. Das Urteil des BGH ist letztlich auch im Zusammenhang mit der viel debattierten Frage einer judicialisation of war zu sehen.225 Die diesbezüglichen intensiven Diskussionen erstrecken sich sowohl auf die rechtliche als auch die politische Ebene, mitunter neigen die Diskutanten jedoch dazu, zu trennende Aspekte zu vermischen. In Bezug auf Deutschland ist hier zu betonen, dass das deutsche Verfassungsrecht klar stipuliert, dass Staatshandeln im Rahmen bewaffneter Konflikte nicht in einem (verfassungs-)rechtsfreien Raum stattfindet. An dieser Grundwertung rüttelt auch das Kunduz-Urteil des BGH nicht, was – bei aller dargestellter Kritik – zu begrüßen ist. Hier muss ihm im Vergleich zur Rechtsprechungspraxis Frankreichs, Italiens oder der Vereinigten Staaten insofern Fortschrittlichkeit attestiert werden, als sich das Urteil nicht auf dogmatische Konzepte wie die political question doctrine oder die teoria dell’atto di stato beruft. Allerdings lässt ihm das deutsche Verfassungsrecht keinen anderen Ausweg: Ihm widerstrebt eine Nicht-Justiziabilität des Krieges. Dennoch läuft die Herangehensweise des BGH auf ein ähnliches Ergebnis hinaus. Primärrechtsschutz wird für potentielle Opfer regelmäßig nicht erreichbar sein. So droht die verfassungsrechtliche Determinierung von Handeln der Bundeswehr im Rahmen bewaffneter Konflikte aus Opfersicht zu einer Farce zu verkommen, wenn sie nicht durch effektive Haftungsinstitute abgesichert wird und staatshaftungsrechtliche Ansprüche weiterhin pauschal ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es rechtlich und rechtspolitisch geboten, von Bemühungen, den Anwendungsbereich des Amtshaftungsanspruchs teleologisch im Hinblick auf extraterritoriale Kampf handlungen zu reduzieren, Abstand zu nehmen. Die hierfür angeführten Argumente halten einer dogmatischen wie rechtspolitischen Prüfung nicht stand. Vielmehr ist der Amtshaftungsanspuch im Kontext von Auslandseinsätzen der Bundeswehr effektiv zur Geltung zu bringen. Den Gefahren einer „uferlosen Haftung“ kann über eine Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Amtshaftungsanspruchs, die den Besonderheiten bewaffneter Konflikte Rechnung trägt, begegnet werden. Es bleibt zu hoffen, dass der BGH – gegebenenfalls nach einer 225   Diesen Begriff verwendet auch Peters (spezifisch in Zusammenhang mit der parlamentarischen bzw. gerichtlichen Kontrolle militärischer Auslandseinsätze): Peters, The (Non-)Judicialisation of War: German Constitutional Court Judgment on Rescue Operation Pegasus in Libya of 23 September 2015, in: EJIL talk!, https://www.ejiltalk.org/the-non-judicialisation-of-war-german-constitutional-courtjudgment-on-rescue-operation-pegasus-in-libya-of-23-september-2015-part-1/ (zuletzt aufgerufen am 22.11.2017).

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Paulina Starski / Leander Beinlich

Befassung des BVerfG mit der Thematik – von seiner äußerst restriktiven Auffassung wieder Abstand nimmt.

Debatte: Demokratie in Zeiten der Migration

Inklusion in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft Verfassungsrechtliche Eckpunkte von

Dr. Anuscheh Farahat LL.M. (Berkeley), Goethe-Universität Frankfurt a. M. Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 II. Ein Blick zurück nach vorne: Vom Einwanderungsland zur superdiversen Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 1. Stillstand im „Nicht-Einwanderungsland“: Das Vermächtnis der so genannten Gastarbeitermigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 2. Ankunft im Einwanderungsland: Das „neue“ Migrationsrecht nach 2000 als Ausdruck des Prinzips der progressiven Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 a) Politische Einsicht in die Reformbedürftigkeit des Migrations- und Staatsangehörigkeitsrechts . 341 b) Progressive Inklusion als Struktur- und Rechtsprinzip des neuen Migrationsrechts . . . . . . . . . 342 c) Paradigmenwechsel durch drei zentrale Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Abschied von der „Mehrheitsgesellschaft“: Auf dem Weg in die superdiverse Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4. Die Herausforderung: Integration und Inklusion in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft . 346 5. Bestandsaufnahme und offene Baustellen im Migrationsrecht der superdiversen Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 III. Politische Teilhabe und soziale Mobilität als kritische Bausteine der Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Politische Inklusion: Wahlrecht und doppelte Staatangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 a) Verfassungsrechtliche Wegmarken der politischen Inklusion von Nicht-Staatsangehörigen . . . . 353 b) „Volksdemokratie“ oder inklusive Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 c) Zugang zur Staatsangehörigkeit als Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 aa) Reform des Staatsangehörigkeitsrecht: Geburtsortprinzip und Mehrstaatigkeit . . . . . . . . 356 bb) Verfassungsrechtliche Zweifel an der Optionspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 cc) Politische Kämpfe um die Mehrstaatigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 2. Soziale Mobilität: Sprache – Bildung – Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 a) Inklusion und die Bedeutung struktureller Teilhabehindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 b) Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Vermeidung und Beseitigung struktureller Teilhabehindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 aa) Verfassungsrechtliches Verbot von Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

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bb) Gebot der Vermeidung mittelbarer Diskriminierungen nach Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG . . . . 364 cc) Zulässigkeit und Gebotenheit von Fördermaßnahmen zum Abbau struktureller Benachteiligungen Förderpflichten aus Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 IV. Statt eines Ausblicks: Eckpunkte eines Inklusionsrechts in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

I. Einleitung Die Frage nach den Erfolgsbedingungen gesellschaftlicher und politischer Integration von Migrantinnen und Migranten ist ein rechtspolitischer Dauerbrenner. Integration wurde jedoch aufgrund des jahrzehntelang gepflegten Selbstverständnisses als „Nicht-Einwanderungsland“1 erst vergleichsweise spät Gegenstand des Migrationsrechts. Das Vermächtnis der sog. Gastarbeitermigration liegt in der Einsicht, dass die zögerliche politische Anerkennung der Einwanderung verlorene Jahrzehnte für die gesellschaftliche Teilhabe von Migrantinnen und Migranten zur Folge hatte (II.1.). Erst mit der Debatte um das Zuwanderungsgesetz um die Jahrtausendwende setzte eine nachholende Bewegung ein, die zu einer Runderneuerung des Migrationsrechts führte. Wesentliche Weichenstellungen dieser Erneuerung lassen sich als Ausdruck eines teilhabeorientierten Prinzips der progressiven Inklusion rekonstruieren (II.2.). Allerdings haben sich die Charakteristika der Einwanderungsgesellschaft seither erheblich verändert und dynamisiert: Wir leben heute in einer superdiversen Einwanderungsgesellschaft, in der sich eine dominante „Mehrheitsgesellschaft“ praktisch nicht mehr identifizieren lässt und Integrationsprozesse sich aus einem komplexen Zusammenspiel rechtlicher und außerrechtlicher Faktoren ergeben. Die wichtigste Folge davon ist, dass Integration heute zwangsläufig als interaktiver und gesamtgesellschaftlicher Prozess zu denken ist, der allen Akteuren der Gesellschaft Anpassungsleistungen abverlangt (II.3.). Will das Migrationsrecht die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, muss es hierauf reagieren. Dazu möchte der vorliegende Aufsatz einen Beitrag leisten. Er untersucht den aktuellen Bestand verfassungsrechtlicher Anforderungen im Hinblick auf zwei kritische Felder der Integration: politische Partizipation (III.1.) und soziale Mobilität (III.2.). Das Verfassungsrecht wird dabei im Lichte der neuen Dynamiken der Einwanderungsgesellschaft sowohl auf Optionen der Fortentwicklung als auch auf seine Grenzen hin befragt. Abschließend formuliert der Beitrag Eckpunkte für das Recht der Inklusion in einer superdiversen Einwanderungsgesellschaft (IV).

1   Bade/Oltmer, Deutschland, in: Bade/Lucassen/Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2.  Aufl. 2008, S.  141, 161.

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II.  Ein Blick zurück nach vorne: Vom Einwanderungsland zur superdiversen Einwanderungsgesellschaft 1.  Stillstand im „Nicht-Einwanderungsland“: Das Vermächtnis der so genannten Gastarbeitermigration In Folge der sog. Anwerbepolitik nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten zwischen Ende der 1950er Jahre und dem Anwerbestopp 1973 insgesamt rund 3 Millionen Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten dauerhaft in die Bundesrepublik ein.2 Die Mehrzahl von ihnen waren un- bzw. angelernte Arbeitskräfte, zunächst vorwiegend aus Italien, Spanien und Griechenland, später auch aus der Türkei und Jugoslawien,3 die in der industriellen Produktion tätig waren.4 Diese Zuwanderung war Folge einer bewussten politischen Entscheidung vor dem Hintergrund des enormen Wirtschaftswachstums und der Expansion des deutschen Arbeitsmarktes. Gleichwohl hat die deutsche Politik den Umstand, dass das Land in Folge dieser Zuwanderung de facto zum Einwanderungsland wurde, über Jahrzehnte hinweg ignoriert. Die Gründe hierfür sind nicht zuletzt in der politisch-rechtlichen Konzeption der sog. Gastarbeitermigration zu suchen: Sie war konzipiert als zeitlich befristete Ausnahme von der Regel, dass Wohnbevölkerung und Staatsangehörige sich im Wesentlichen decken sollten.5 Dies blieb jedoch eine Illusion. Spätestens nachdem in Folge der Weltwirtschaftskrise 1973 die Möglichkeiten zur Arbeitsmigration nach Deutschland radikal eingeschränkt wurden, entschlossen sich viele Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten dazu, dauerhaft in der Bundesrepublik zu bleiben. Zu groß war die Befürchtung bei einer Rückkehr ins Herkunftsland keine Chance auf eine erneut legale Einreise zu haben.6 Eine zwangsweise Rückführung unterblieb staatlicherseits mit Rücksicht auf wirtschaftspolitische Interessen. Gleichzeitig entwickelte sich die Familienmigration in Folge des sog. Anwerbestopps zum zentralen Pfeiler der weiteren Zuwanderung in die Bundesrepublik. Ein mehrheitsfähiger politischer Wille zur Blockade dieses neuen Zuwanderungskanals fehlte.7 So wurde aus der befristeten Arbeitsmigration faktische Einwanderung, die durch den Familiennachzug noch verstärkt wurde.8 2   Insgesamt wanderten in dieser Zeitspanne 14 Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland. 11 Millionen kehrten wieder zurück, der Rest blieb dauerhaft, Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  159. 3   Den Beginn machte das Anwerbeabkommen mit Italien 1955, gefolgt von Abwerbeabkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Dazu Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  159 f. 4   Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  160. 5   Zu diesem Phänomen: Farahat, Progressive Inklusion, 2014, S.  111 und S.  75 ff. Eine zeitgenössische Diskussion der Formel vom Einwanderungsland und ihren rechtlichen Implikationen findet sich bei Hailbronner, Ausländerrecht, 1984, Rn.  97 ff. (der die politische Entscheidung gegen ein Einwanderungsland betont); Rittstieg, Zur Rechtslage junger Ausländer, ZRP 1979, S.  13, 13–16 (der sich gegen die Wahrnehmung und rechtliche Behandlung von Einwanderern als „Gästen“ ausspricht); Zuleeg, Einwanderungsland Deutschland, JZ 1980, S.  425, 426 f. (der die Notwendigkeit sozialer Mobilität von auf Dauer in Deutschland lebenden Migranten betont). 6   Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  160. 7   Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2010, S.  21. 8   Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  160.

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In der politischen Debatte blieb die Selbstbeschreibung Deutschlands als „Ein­ wanderungsland“ gleichwohl lange ein Tabu.9 Die deutsche Politik beharrte auf der Illusion einer lediglich befristeten Migration mit realer Rückkehrperspektive und kre­ierte damit das Paradox einer „Einwanderungsgesellschaft ohne Einwanderungsland“.10 Dieses Paradox prägte auch das Aufenthaltsrecht über viele Jahre. Para­d ig­ma­ tisch zeigte sich dies daran, dass der unbefristete Aufenthaltstitel (Aufenthaltsberechtigung) nur als Ermessensvorschrift ausgestaltet war (§  8 und 7 Abs.2 AuslG 1965) und nur ausnahmsweise gewährt wurde.11 Die Verfestigung des Aufenthaltsstatus war somit als Ausnahme konzipiert. Dies änderte sich als 1978 die Verwaltungsvorschrift dahin geändert wurde, dass die unbefristete Aufenthaltserlaubnis nunmehr nach fünfjährigem Aufenthalt regelmäßig zu erteilen war und nach acht Jahren in eine unbeschränkte, d.h. nicht mit inhaltlichen Auflagen verbundene, Aufenthaltsberechtigung umgewandelt wurde.12 Im Kontext des parallelen Anwerbestopps ist dies aber wohl vor allem als nachholende Verfestigung des Aufenthaltsstatus der ersten Generation sog. Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zu verstehen. Eine in die Zukunft gerichtete Einwanderungsperspektive war damit nicht verbunden. Zudem stellte die Einbürgerung eine begründungsbedürftige Ausnahme dar, die unter der Bedingung eines öffentlichen Interesses stand.13 Nach dem Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit war die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit hierfür zwingende Voraussetzung.14 Die Staatsangehörigkeit beschrieb somit ein exklusives Angehörigkeitsverhältnis zu einem Staat, das mit Rechten und Pflichten verbunden war, die für fremde Staatsangehörige auch nach langem Aufenthalt nur schwer oder gar nicht zugänglich waren.15 Eine erste Weichenstellung hin zu einer inklusiveren Ausgestaltung erfolgte erst 1990. §  24 AuslG 1990 sah nunmehr einen Anspruch auf Erteilung eines Daueraufenthaltstitels nach fünfjährigem Aufenthalt vor. Allerdings war die Voraussetzung für einen unbefristeten Aufenthaltstitel eine Aufenthaltserlaubnis, die nur erteilt wurde, wenn das Aufenthaltsrecht nicht an einen bestimmten, regelmäßig seiner Natur nach vorübergehenden Zweck geknüpft war (§  15 AuslG 1990).16 Auch im Staatsangehörigkeitsrecht erfolgten signifikante Veränderungen, die als Vorboten späterer Reformen verstanden werden können. 1993 wurden in §§  85 und 86 AuslG erstmals Einbürgerungsansprüche eingeführt. §  87 AulsG legte nun zudem Kriterien

  Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  161.   Bade/Oltmer (Fn.  1), S.  161. 11   Hailbronner (Fn.  5 ), Rn.  195. 12   Verwaltungsvorschrift zum AuslG, Änderung vom 7.7.1978, §  4 Nr.  4, §  8 Nr.  4a, GMBl. 1978, 368. 13   Hailbronner (Fn.  5 ), Rn.  1177. 14   Dazu und zu den jüngeren Entwicklungen in der Staatenpraxis: Hailbronner, Nationality in Public International Law and European Law, in: Bauböck u.a. (Hrsg.), Acquisition and Loss of Nationality, 2006, S.  35, 82 f.; De Hart/Groenendijk, Multiple Nationality: Germany and the Netherlands, in: Cholewinski/MacDonald/Perruchoud (Hrsg.), International Migration Law, 2007, S.  87; Farahat (Fn.  5 ), S.  281–292. 15   Zum Prinzip der statischen Zuordnung Farahat (Fn.  5 ), S.  75 f. 16   §  35 AuslG 1990 sah unter bestimmten Bedingungen aber ein Daueraufenthaltsrecht aus humanitären Gründen vor. 9

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fest, unter denen die Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit möglich war.17 Der Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatigkeit erfuhr also eine erste Aufweichung.

2.  Ankunft im Einwanderungsland: Das „neue“ Migrationsrecht nach 2000 als Ausdruck des Prinzips der progressiven Inklusion a)  Politische Einsicht in die Reformbedürftigkeit des Migrations- und Staatsangehörigkeitsrechts Das Paradox der faktischen Einwanderungsgesellschaft ohne Einwanderungsrecht geriet im Laufe der Zeit politisch immer stärker unter Druck. Ausgelöst durch die Diskussion über einen IT-Fachkräftemangel, begann im Jahr 2000 eine breite Reformdebatte über die künftige Gestaltung der Migrationssteuerung und der Integrationspolitik in Deutschland.18 Die von der Bundesregierung eingesetzte „Unabhängige Kommission Zuwanderung“ unter dem Vorsitz von Rita Süßmuth erarbeitete einen Bericht,19 der mit den Worten „Deutschland braucht Zuwanderinnen und Zuwanderer“ öffnete und festhielt: „Faktisch ist Deutschland seit langem ein Einwanderungsland.“ Im Kontext der tief sitzenden politischen Verweigerung und Skepsis gegenüber dem Label des „Einwanderungslands“ muteten diese Feststellungen fast revolutionär an. Der Bericht betonte zudem die Bedeutung von Integration für das Gelingen der Einwanderung und schlug vor, Integration und Migration auch regelungstechnisch zu verzahnen. Die Runderneuerung des Migrationsrechts erfolgte nach einem hürdenreichen Gesetzgebungsprozess schließlich 2005 durch das Zuwanderungsgesetz, dessen zentrales Regelungswerk das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) war.20 Der hierdurch bewirkte „Paradigmenwechsel“21 wird besonders deutlich in Zusammenschau mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die bereits im Jahr 2000 gelang und auf das Problem reagieren sollte, dass Wohnbevölkerung und Staatsvolk in Folge der faktischen Einwanderung immer weniger übereinstimmten.22

  AuslG 1990 in der durch das Gesetz vom 30.6.1993 geänderten Fassung (BGBl. 1993 I 1062).   Bast, Zehn Jahre Aufenthaltsgesetz: Zwischenbilanz und Trends in der Migrationssteuerung, DÖV 2013, S.  214. Zur Entstehungsgeschichte und den verschiedenen Gesetzesentwürfen: Hohm, in Fritz/Vormeier (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, Entstehungsgeschichte (Vor II), Rn.  7 ff. 19  Unabhängige Kommission Zuwanderung, Bericht „Zuwanderung gestalten – Integration fördern“, Juli 2001. 20   Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet, BGBl. I 162 vom 25.2.2008. Für einen Überblick über die Neuregelungen statt vieler B. Huber, Das Zuwanderungsgesetz, NVwZ 2005, S.  1 ff. 21   So der eindrückliche Titel eines Sammelbandes: Davy/Weber (Hrsg.), Paradigmenwechsel in Einwanderungsfragen? Überlegungen zum neuen Zuwanderungsgesetz, 2006. 22   Die seit 1998 regierende rot-grüne Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatte dieses Gesetzgebungsvorhaben bereits im Koalitionsvertrag verankert. 17

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b)  Progressive Inklusion als Struktur- und Rechtsprinzip des neuen Migrationsrechts Viele der seinerzeit neu eingeführten Regelungen können als Ausdruck einer Annäherung an das Prinzip der progressiven Inklusion verstanden werden.23 Dieses Prinzip besagt, dass sich der Rechtsstatus von Migrantinnen und Migranten über die Zeit kontinuierlich dem Status der Staatsangehörigen annähert. Maßstab für diese Annäherung sind die Bindungen, die zu ihrem Aufenthaltsstaat ent- und bestehen, unabhängig von ihrem Rechtsstatus in anderen Staaten. Inklusion bedeutet dabei die rechtliche Ermächtigung zur Teilhabe an der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung des Aufenthaltsstaates.24 Sie ist nicht identisch mit der faktischen Teilnahme an dieser Ordnung, wie sie im Begriff der Integration regelmäßig zum Ausdruck kommt. Insofern kann man von „Integration durch Rechtsgleichheit“ sprechen.25 Anders als der Begriff der Integration akzentuiert Inklusion die unverzügliche Gewährung von Teilhaberechten an Migrantinnen und Migranten als Bedingung der Ermöglichung von faktischer Teilhabe. Teilhaberechte können nach dieser Logik auch nicht mehr von vorab zu erbringenden Integrationsleistungen abhängig gemacht werden. Zudem impliziert der Begriff der Inklusion die zunehmende Verfestigung und Absicherung des einmal erreichten Aufenthaltsstatus gegen seinen unfreiwilligen Verlust durch Ausreise oder Ausweisung. Progressiv ist diese Inklusion, weil sie schrittweise erfolgt: Auf ein Minimum an unverzüglich zu gewährenden Teilhaberechten werden sukzessive weitere Rechte aufgesattelt, die an eine Vielzahl von Kriterien der Zuordnung (wie familiäre Bindung, wirtschaftliche Aktivität, Aufenthaltsdauer, politische Aktivität etc.) anknüpfen. Um die Vielfalt der individuellen Bindungen adäquat abbilden zu können, nimmt das Prinzip der progressiven Inklusion ausdrücklich auch Mehrfachzuordnungen hin, d.h. die simultane rechtliche Inklusion in mehreren Staaten. Das Prinzip der progressiven Inklusion stellt nicht nur ein Strukturprinzip des Migrationsrechts dar, sondern lässt sich auch als völkerrechtliches Prinzip nachweisen.26 Exemplarisch hierfür stehen zahlreiche Konventionen und Empfehlungen zum Schutz und zur Gleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 27, des Europarates28 und der UNO29 sowie der verstärkte Schutz vor Ausweisung für Migrantinnen und Migranten mit verfestigtem 23   Die Ursprünge dieses Prinzip finden sich bereits in den Grundzügen des universellen Menschenrechtsschutzes. Zur Entwicklungsgeschichte des Prinzips Farahat (Fn.  5 ), S. 8–118. Zu den Anliegen des Prinzips der progressiven Inklusion ebd., S.  76–79. 24   Zur wenig einheitlichen Verwendungsweise des Begriffs in der Migrationsforschung sowie zu den begrifflichen Unterschieden zur Inklusion von Behinderten Pries, Teilhabe in der Migrationsgesellschaft: Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs, IMIS-Beiträge, Heft 47, 2015, S.  11 (Fn.  7 ). 25   Groß, Integration durch Rechtsgleichheit, DVBl. 2014, S.  1217. 26   Zur rechtsquellendogmatischen Verortung Farahat (Fn.  5 ), S.  266 ff. 27   Übereinkommen C 143 Missbräuche bei Wanderungen und die Förderung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern vom 24.6.1975, in Kraft getreten am 9.12.1978. 28  Konvention zum rechtlichen Schutz der Wanderarbeitnehmer CETS Nr.  93, beschlossen am 24.11.1977, in Kraft getreten am 1.5.1983. 29   Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, 2220 UNTS 93, beschlossen am 18.12.1990, in Kraft getreten am 1.7.2003.

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Aufenthalt durch den EGMR.30 Das Völkerrecht reagierte damit bereits lange vor dem nationalen Migrationsrecht auf die menschenrechtlichen Herausforderungen, die die massenhafte Arbeitsmigration der Nachkriegszeit vor allem in Europa hervorgerufen hatte.31 Aus der völkerrechtlichen Qualität des Prinzips der progressiven Inklusion ergibt sich für die Gestaltung des nationalen Rechts eine Mindestberücksichtigungspflicht der mit ihm verbundenen Anliegen.32 Die Reformen des Migrationsrechts spiegeln daher in weiten Teilen auch eine völkerrechtliche Verpflichtung zur teilhabeorientierten Inklusion.

c)  Paradigmenwechsel durch drei zentrale Weichenstellungen Der Paradigmenwechsel des deutschen Migrations- und Staatsangehörigkeitsrechts zeigt sich anhand von drei zentralen Weichenstellungen, die sich jedenfalls teilweise als Annäherung an dieses Prinzip beschreiben lassen: Erstens eröffnen unter dem AufenthG grundsätzlich alle Aufenthaltszwecke (Erwerbstätigkeit, Familiennachzug, humanitärer Schutz und Studium bzw. Ausbildung) eine Einwanderungsperspektive, weil sich die zunächst erteilte Aufenthaltserlaubnis stufenweise verfestigen kann.33 Ein Ausschluss der Verfestigungslogik ist nach §  8 Abs.2 AufenthG nur in eng begrenzten Ausnahmefällen vorgesehen, unter dem AuslG 1990 war dagegen die Verfestigung noch an bestimmte Aufenthaltszwecke geknüpft und damit nicht als allgemeiner Regelfall konzipiert. Insofern kann nun von einem Modell der „Einwanderer im Wartestand“ gesprochen werden.34 Dies entspricht der Idee einer schrittweisen Verfestigung des Aufenthaltsstatus und einer Annäherung an die Rechte der Staatsangehörigen. Zweitens wurde in §  4 Abs.  3 StAG erstmalig das ius soli eingeführt, also das Geburtsortsprinzip beim Staatsangehörigkeitserwerb.35 Hierdurch werden im Sinne des Prinzips der progressiven Inklusion Mehrfachzuordnungen und der unmittelbare Er30   Beginnend mit dem Urteil Berrehab u.a. gegen die Niederlande vom 21.6.1988, Nr.  10730/84, verfügbar unter: http://hudoc.echr.coe.int. Dazu Farahat, Enhancing Constitutional Justice by Using External References: The European Court of Human Rights’ Jurisprudence on the Protection Against Expulsion, Leiden Journal of International Law (LJIL) 28 (2015), S.  303–322. 31   Christian Walter spricht in diesem Zusammenhang von einer „‚Entbündelung‘ der Statusrechte“, Walter, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013), S.  11, 32. 32   Zu diesem Begriff Farahat (Fn.  5 ), S.  364. Diese Mindestberücksichtigungspflicht gilt ungeachtet des Umstands, dass das Prinzip der progressiven Inklusion in Konkurrenz zu einem gleichermaßen zu berücksichtigenden Prinzip der statischen Zuordnung von Personen zu Staaten steht, das auf die Kongruenz von Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk angelegt ist. 33   Bast (Fn.  7 ), S.  220. Farahat (Fn.  5 ), S.  171 ff. Zurückhaltender Thym, Migrationsverwaltungsrecht, 2010, S.  162 ff., der die Gruppe der gering qualifizierten Arbeitnehmer von der Statusverfestigung ausnehmen will. 34   Bast (Fn.  7 ), S.  224 f., der im Anschluss an Hiroshi Motomuras Modell der „citizens in waiting“ (Motomura, Americans in Waiting, 2006, S.  140 ff.) und Thomas Hammars Konzept der „denizenship“ (Hammar, Democracy and the Nation-State, 1990, S.  12 ff.) von „denizens in waiting“ spricht. Vgl. auch Bast, Denizenship als rechtliche Form der Inklusion in eine Einwanderungsgesellschaft, ZAR 2013, S.  353, 354 f. 35   Dazu die Überblicke bei Renner, Was ist neu am neuen Staatsangehörigkeitsrecht, ZAR 1999, S.  154 und Hailbronner, Die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, NVwZ 1999, S.  1273.

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werb der Vollmitgliedschaft ermöglicht. Allerdings wurde die Möglichkeit eines unmittelbaren Staatsangehörigkeitserwerbs durch Geburt im Inland an die sog. Optionspflicht geknüpft, also die Pflicht bis zum 21. Lebensjahr zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der von den Eltern vererbten ausländischen Staatsangehörigkeit(en) zu entscheiden. Seit 201436 entfällt die Optionspflicht jedoch nach §  29 Ia StAG, wenn die optionspflichtige Person auch im Inland aufgewachsen ist. Nach der Legaldefinition ist dies der Fall, wenn sie acht Jahre ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, sechs Jahre im Inland eine Schule besucht hat oder über einen im Inland erworbenen Schulabschluss oder eine im Inland abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Dadurch wurde der Kreis derer, die sich tatsächlich zwischen den verschiedenen Staatsangehörigkeiten entscheiden müssen, erheblich verkleinert. Drittens wird jedoch die neu geschaffene Einwanderungschance mit einer Integrationserwartung verknüpft.37 §  43 Abs.1 AufenthG spricht davon, dass die Integration der rechtmäßig in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten in das „wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland gefördert und gefordert wird“. Verbunden ist dieses Bekenntnis mit der Einführung von Sprach- und Integrationskursangeboten und ‑pflichten in den §§  44, 44a AufenthG, die über §  8 Abs.3 AufenthG bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels relevant werden. Soweit es um Familiennachzug geht, werden Sprachkenntnisse bereits bei der Einreise vorausgesetzt (§§  30 Abs.1 S.  1 Nr.2, 28 Abs.1 S.  5 AufenthG). Darüber hinaus sind einzelne Verfestigungstatbestände ausdrücklich mit konkreten Integrationserwartungen verknüpft.38 Auch für die Einbürgerung sind ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung Voraussetzung; besondere Integrationsleistungen können darüber hinaus nach §  10 Abs.3 StAG die geforderte Aufenthaltsdauer von acht Jahren auf sieben bzw. sechs Jahre verkürzen. Diese Weichenstellung lässt sich nur hinsichtlich des Anspruchs auf Sprachkursteilnahme als Ausdruck des Prinzips progressiver Inklusion verstehen. Im Übrigen entspricht das Integrationsprogramm des Aufenthaltsgesetzes eher der Logik des konkurrierenden Prinzips der statischen Zuordnung, wonach jede Statusverbesserung und speziell der Erwerb der Vollmitgliedschaft als Belohnung vorangegangener Integrationsleistungen verstanden werden.39 Diese drei Weichenstellungen sind charakteristisch für die Reform des deutschen Migrations- und Staatsangehörigkeitsrechts. Die „(unvollständige) Anerkennung der Einwanderungsprozesse“,40 die bereits unter dem AuslG 1990 begonnen hatte, erreichte hier ihren vorläufigen Endpunkt. Inzwischen aber hat sich die Migrationsdynamik in der Einwanderungsgesellschaft weiter verändert und neue Herausforderun-

  Zweites Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 13. November 2014, BGBl. I 1714. 37   Bast (Fn.  7 ), S.  221 bezeichnet dies als „Grundakkord des AufenthG“. Zur Entwicklung der Integrationspolitik Eichenhofer, Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, 2013, S.  31 ff. 38   So etwa §  9 Abs.  2 AufenthG. Eichenhofer (Fn.  37) spricht in ähnlichem Zusammenhang von „Integrationshonorierung“ ( jedoch mit Bezug auf die Verfestigungsoptionen von Geduldeten nach §§  18a, 25a und 104b AufenthG). 39  Dazu Farahat (Fn.  5 ), S.  75 f. 40   Schönwälder, Politikwandel in der Migrationspolitik, in: Davy/Weber (Fn.  21), S.  8, 17 ff. 36

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gen hervorgebracht, die es bei der Analyse der verfassungsrechtlichen Dimension der Inklusion von Migrantinnen und Migranten zu beachten gilt.

3.  Abschied von der „Mehrheitsgesellschaft“: Auf dem Weg in die superdiverse Einwanderungsgesellschaft Für die neue Qualität der Einwanderungsgesellschaften in verschiedenen europäischen Ländern seit der Jahrtausendwende ist der Migrationsforschung der Begriff der Superdiversität vorgeschlagen worden.41 Dieser Begriff bezeichnet zunächst den Umstand, dass beim Prozess der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Integration zahlreiche Faktoren auf komplexe Weise zusammenwirken, ohne dass sich ein Faktor allein als ausschlaggebend identifizieren ließe.42 So spielen neben den medial besonders prominenten Fragen nach Herkunftsland, Religion und Sprachkenntnissen auch das Motiv der Migration, die Erfahrungen auf dem Migrationsweg, der Aufenthaltsstatus, die damit verbundenen Teilhaberechte im politischen und wirtschaftlichen Leben, der Bildungshintergrund, das Geschlecht und der Wohnort sowie die bereits bestehenden privaten oder beruflichen Netzwerke im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle. Die Fokussierung auf einzelne Faktoren, etwa die Religion, wird dieser Komplexität nicht gerecht.43 Das Verständnis vom Zusammenwirken der diversen Faktoren ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer veränderten Struktur von Migration relevant. Im Vergleich zu der ökonomisch und sozial noch relativ homogenen Gruppe der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den 1950er bis 1970er Jahren bringen Migrantinnen und Migranten heute ganz unterschiedliche Bildungshintergründe, kulturelle Selbstverständnisse, ökonomisches Kapital und soziale Netzwerke mit.44 Überdies ist Migration nicht mehr regelmäßig mit einer unidirektionalen und einmaligen Bewegung in ein neues Land verbunden, sondern umfasst auch Pendelbewegungen und transnationale Netzwerke, die zur Aufrechterhaltung dauerhafter Bindungen in mehreren Gesellschaften führen.45 Eng verbunden mit der Erkenntnis der Multi-Variabilität des Integrationsprozesses ist eine zweite Einsicht der Migrationsforschung: Angesichts der Vielfalt sozialer, kultureller, ethnischer, religiöser und wirtschaftlicher Hintergründe innerhalb der

41  Prägend: Vertovec, Super-Diversity and its Implications, Ethnic and Racial Studies 30 (2007), S.  1024 ff. (mit Blick auf Großbritannien, aber mit breiterem Gültigkeitsanspruch). Zur aktuellen Debatte siehe das Sonderheft Ethnic and Racial Studies 38 (2014), Heft Nr.  4, Comparing Super-Diver­sity. 42   Vertovec (Fn.  41), S.  1025 ff. 43   Die Integrationsrelevanz der Religion wird in der öffentlichen Debatte gemeinhin überschätzt, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Viele Götter, ein Staat: Religion und Teilhabe im Einwanderungsland, Jahresgutachten 2016, S.  48, 54 ff. 44   Vertovec (Fn.  41), S.  1042 f. 45   Zum Begriff der transnationalen Migration grundlegend: Basch/Glick-Schiller/Szanton-Blanc, Nations Unbound (1994), S.  4 ; Pries, The Approach of Transnational Social Spaces, in: Ders. (Hrsg.), New Transnational Social Spaces (2001), S.  3, 17 f.; Faist, Grenzen überschreiten, in: Ders. (Hrsg.), Transstaatliche Räume (2000), S.  9, 10, 43 f.; eine Übersicht über die Charakteristika dieses Migrationstyps bei Farahat (Fn.  5 ), S.  20 ff.

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ansässigen Bevölkerung wird es zunehmend unplausibel, eine „Mehrheitsgesellschaft“ zu identifizieren.46 Neu ist vor allem das Ausmaß an Vielfalt und der Umstand, dass der demografische Wandel innerhalb kurzer Zeit dazu beitragen wird, dass Einwanderungsgeschichten und Migrationshintergründe speziell in den Ballungszentren eher die Regel denn die Ausnahme sein werden.47 Schon heute leben in Deutschland Menschen aus über 180 verschiedenen Staaten,48 und der Anteil von Menschen mit sog. Migrationshintergrund liegt in vielen Großstädten und Ballungsgebieten zwischen 30 und 40 %.49 Wenn sich aber die Mehrheit in der Diversität auflöst, hat das massive Folgen für unsere Vorstellung von Integration, die in ihrer rechtlichen Konzeption bislang davon ausgeht, dass sie geglückt ist, wenn die Zugewanderten sich in Lebensstil und -standard ebendieser „Mehrheitsgesellschaft“ angepasst haben.50

4. Die Herausforderung: Integration und Inklusion in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft Die Kritik an der Imagination einer homogenen Mehrheitsgesellschaft und dem gängigen Begriff der Integration ist nicht neu.51 Vielmehr konkurrieren seit Jahrzehnten unterschiedliche Perspektiven und Leitbilder in der Integrationspolitik und Migrationsforschung.52 Ein speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Migrationsforschung dominantes, aber bis heute einflussreiches Verständnis konzipiert Integration als Assimilation, d.h. als einseitige Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft unter Aufgabe der sozialen Bezüge in der Herkunftsgesellschaft.53 Dieses 46   Schneider/Crul/Lelie, Generation Mix: Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen, 2015, S.  17 ff., deren Thesen auf der TIES-Studie (The Integration of the European Second Generation) auf bauen für die über 10.000 junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 35 Jahren in fünfzehn europäischen Städten befragt wurden. Die Studie konzentrierte sich auf Nachkommen von Einwanderern aus der Türkei, aus Marokko und dem ehemaligen Jugoslawien, http://www.tiesproject. eu/. 47   Schneider/Crul/Lelie (Fn.  46), S.  19. 48   Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Ausländische Bevölkerung 2016, S.  4 4 ff. 49   Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Ausländische Bevölkerung 2016, S.  4 4 ff. Nachweise zum Migrationshintergrund finden sich in: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2.2., Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Bevölkerung mit Migrationshintergrund 2016, S.  37 ff. Eine Person hat nach der dort verwendeten Definition einen „Migrationshintergrund“ wenn „sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“ (Ebd., S.  4 ). Wenn im Folgenden zwischen Migrationserfahrung und Migrationshintergrund unterschieden wird, bezeichnet „Migrationserfahrung“ diejenigen Personen, die selbst zugewandert sind. 50   Pries (Fn.  24), S.  7, 10 ff.; Bade/Bommes, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Migration – Integration – Bildung. Grundfragen und Problembereiche, IMIS-Beiträge, Heft 23, 2004, S.  7, 11. 51   Lübbe-Wolff, Homogenes Volk: Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, S.  121, insb. 126 f. Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008, S.  21 ff. 52   Zur historischen Entwicklung des Integrationsbegriffs: Eichenhofer (Fn.  37), S.  31 ff. zu den verschiedenen soziologischen Ansätzen Ebd., S.  195 ff. 53  Klassisch: Esser, Inklusion, Integration und ethnische Schichtung, Journal of Conflict and Vio­

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Verständnis prägt bis heute die Integrationsforschung und die Messung von Integrationserfolgen, ohne das Assimilation dabei affirmativ in Bezug genommen wird.54 Im Anschluss an strukturfunktionalistische Ansätze wird in der Integrationsforschung regelmäßig zwischen auf das Individuum bezogener sozialer Integration einerseits und Systemintegration andererseits unterschieden.55 Angesichts des Verschwindens einer sog. Mehrheitsgesellschaft und superdiverser Zugehörigkeiten erscheint das auf Assimilation gerichtete Modell kaum mehr plausibel. Denn es setzt voraus, „dass das Sozialsystem, in das hinein integriert werden soll, tatsächlich ein in sich weitgehend stabiles, geschlossenes und homogenes Funktionssystem ist“,56 und geht damit in normativ aufgeladener Weise von der Illusion einer homogenen Mehrheitsgesellschaft aus.57 Diese Homogenität aber ist nicht erst unter den Bedingungen der superdiversen Einwanderungsgesellschaft eine Illusion. Dem Assimilationsmodell wird in der soziologischen Literatur heute ein „interaktionistisches und teilhabeorientiertes Integrationskonzept“ gegenübergestellt.58 Danach wird Integration als wechselseitiger, interaktiver Prozess konzipiert, der nicht allein „die Migrantinnen und Migranten“ adressiert, sondern umfassend auf alle gesellschaftlichen Akteure bezogen wird.59 Integration erfordert also auch staatliche Maßnahmen zum Abbau struktureller Teilhabehindernisse und verlangt auch den Menschen ohne Migrationshintergrund Anpassungsleistungen ab. Für eine superdiverse Einwanderungsgesellschaft erscheint ein solcher Integrationsbegriff leistungsfähiger, weil er die Diversität und Inhomogenität der Aufnahmegesellschaft refleklence Research 1 (1999), S.  5, 21 f.; Ders., Pluralisierung oder Assimilation? Effekte der multiplen Inklusion auf die Integration von Migranten, Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S.  358, 359 ff. 54   Pries (Fn.  24), S.  15 m.w.N. 55   Diese Unterscheidung geht zurück auf Lockwood, Soziale Integration und Systemintegration, in: Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 1970, S.  124, 125. Diese Unterscheidung ist in der rechtswissenschaftlichen Integrationsforschung auch dort verbreitet, wo sie explizit nicht mit einem Assimilationsmodell verbunden ist; so etwa die Rekonstruktion des Integrationsrechts bei Eichenhofer (Fn.  37), S.  273 ff. und 288 ff. sowie Eichenhofer, Integrationsgesetzgebung, ZAR 2016, S.  251, 252; ähnlich Böhm, „Fördern und Fordern“ als Integrationskonzept – Anwendungsbereich. Systematik. Verfassungsrechtlicher Rahmen, ZAR 2017. S.  208. 56   Pries (Fn.  24), S.  16. 57  Statt vieler: Lübbe-Wolff (Fn.  51). Kritisch zu einer starren Konzeption der „Mehrheitsgesellschaft“ auch: Thym, Migrationsfolgenrecht, VVDStRL 76 (2017), S.  169, 197–202. 58   Pries (Fn.  24), S.  27. Das zeitweilig prominente Gegenkonzept des Multikulturalismus, das auf die Bewahrung gruppenspezifischer kultureller Unterschiede setzt, hat sich dagegen nicht durchsetzen können. Dazu und zur Kritik an diesem Konzept Bade/Bommes (Fn.  50), S.  11 ff. und Eichenhofer (Fn.  37), S.  237 ff. ( jeweils m.w.N.). 59   Pries (Fn.  24), S.  27. Für ein wechselseitiges Verständnis von Integration argumentiert auch Thym (Fn.  57), S.  202 (auf der Basis eines verfassungspatriotischen Verständnisses). Für Integration als „gesamtgesellschaftliche Herausforderung“, die auch soziale Inklusion voraussetzt Gärditz, Die demokratische Gestaltungsverantwortung durch Rechte in einer Einwanderungsgesellschaft, EuGRZ 44 (2017), S.  497, 519 ff. Der Einwand, dass jede Eingliederung in die Lebensverhältnisse der Aufnahmegesellschaft eine strukturelle Assimilation im Sinne der realen Eingliederung in die Lebensverhältnisse der Aufnahmegesellschaft voraussetzt (so Esser, Integration und „Multikulturalität“, in: Luft/Schimany (Hrsg.), Integration von Zuwanderern, 2010, S.  277, 289 und Kluth, Ziele und Bedingungen von Integration, in: A. Uhle (Hrsg.), Migration und Integration, 2017, S.  89, 99 f.) entkräftet das auf Wechselseitigkeit und Interaktion gerichtete Integrationsverständnis nicht, denn auch der Idee struktureller Assimilation unterliegt letztlich die Vorstellung eines weitgehend einseitigen und gerade nicht interaktiven Anpassungsprozesses.

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tiert und die Möglichkeit multipler Inklusion und Integration in verschiedenen sozio-kulturellen Gruppen und Staaten anerkennt. In der politischen Debatte ist derzeit jedoch eher der Versuch zu beobachten, der unausweichlichen Komplexität und Diversität der Einwanderungsgesellschaft gewissermaßen durch bewahrende Beschwörung einer vermeintlich homogenen „Leitkultur“ Herr zu werden.60 Vor diesem Hintergrund plädieren einige besonders vehemente Kritiker für die Aufgabe des Integrationsbegriffes insgesamt.61 Eine vollständige Aufgabe des Begriffes erscheint jedoch überzogen. Zum einen vermag die begriffliche Abkehr von der Integration nichts daran zu ändern, dass Praktiken der Inklusion und der Exklusion und der damit verbundenen Gruppenbildung jeder Gesellschaft immanent sind. Zum anderen erschwert die Tabuisierung begrifflicher Instrumente zur Beschreibung der Inklusion auch die Benennung struktureller Ausschlusspraktiken.62 Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass mit der Gleichsetzung von Integration und einseitig adressierter Integrationserwartung in der sozialen und politischen Praxis Fremd- und Schuldzuschreibungen einhergehen, die reale Hindernisse für das gesellschaftliche Zusammenleben produzieren und die gesellschaftliche Realität der superdiversen Einwanderungsgesellschaft unzureichend abbilden. Nicht nur aus diesem Grund ist es hilfreich bei der Konturierung eines interaktionistischen und teilhabeorientierten Integrationsbegriffs auf das Prinzip der progressiven Inklusion zurückzugreifen. Dieses Prinzip akzentuiert die teilhabeorientierte Ausrichtung des Integrationsbegriffs, indem es den Auftrag zur rechtlichen Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe formuliert. Integration als übergreifender Begriff umfasst dagegen neben der rechtlichen Inklusion auch die tatsächliche Verwirklichung von Teilhabe in der Aufenthaltsgesellschaft und die wechselseitigen Anpassungsprozesse verschiedener gesellschaftlicher Akteure. Integration in der superdiversen Gesellschaft kann nur gelingen, wenn auch faktische und soziale Teilhabehindernisse abgebaut werden. Zum Abbau struktureller Teilhabehindernisse müssen alle gesellschaftlichen und staatlichen Akteure in die Pflicht genommen werden.63 Um die rechtlichen Bedingungen hierfür zu schaffen, darf das Prinzip der progressiven Inklusion nicht auf die Gewähr von Teilhaberechten reduziert werden, sondern muss auch rechtliche Instrumente zur Beseitigung struktureller Teilhabehindernisse umfassen. 60  Zuletzt: De Maizière, Leitkultur für Deutschland – Was ist das eigentlich?, Gastbeitrag in Zeit online am 30.5.2017, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziere-innenminister-leitkultur/seite-2. Zum Begriff: Heckmann, Integration von Migranten, 2015, S.  176 ff. 61   Hess/Moser, Einleitung: Jenseits der Integration, in: Dies. (Hrsg.), No Integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, 2009, S.  11, 20 f.; aus dem politischen Raum: Aufruf „Demokratie statt Integration“, www.demokratie-statt-integration.kritnet.org, (Veröffentlichung: 1.10.2010). 62   Pries (Fn.  24), S.  20 f. mit Verweis auf die Erfahrungen mit der ausdrücklichen Nichtthematisierung von Religionszugehörigkeiten und ethnischer Zugehörigkeit in den Niederlanden und Frankreich. 63  Dies betonen auch die Überlegungen zur Entwicklung eines „Integrationsverwaltungsrechts“ oder eines „Migrationsfolgenrechts“. Burgi, Das werdende Integrationsverwaltungsrecht und die Rolle der Kommunen, DVBl. 2016, S.  1015, 1017 (der im Ergebnis aber vielfach zu einer anderen Bewertung des bestehenden Integrationsrechts und insbesondere des Bayerischen Integrationsgesetzes kommt); Kluth, Grundlagen und Strukturen eines Migrationsfolgenrechts, DVBl. 2016, S.  1081, 1083 f.

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5.  Bestandsaufnahme und offene Baustellen im Migrationsrecht der superdiversen Einwanderungsgesellschaft Vor dem Hintergrund des skizzierten teilhabeorientierten Integrationsbegriffs lassen sich die Grundstrukturen des heutigen Migrationsrechts bewerten: Mit der grundlegenden Umstellung auf die Einwanderungschance durch Statusverfestigung und der zunehmenden Anerkennung multipler Zugehörigkeiten entspricht das Migrationsrecht vielen Anliegen des Prinzips der progressiven Inklusion. Hinzu kommt seit 2016 eine weitere Verbesserung der ökonomischen Teilhaberechte von Migranten durch den erleichterten Arbeitsmarktzugang von Asylbe­ werberinnen und Asylbewerbern. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass auch Flüchtlinge und andere humanitär Schutzberechtigte trotz der ursprünglich vorübergehenden Schutzperspektive oft auf lange Sicht im Land bleiben und damit zu ­Einwanderinnen und Einwanderern werden. Konkret hat der Gesetzgeber im Rahmen des Integrationsgesetzes und der anschließenden Änderung der Beschäftigungsverordnung 64 für Asylbewerberinnen und Asylbewerber „mit guter Bleibeperspek­ tive“ und Geduldete, die nicht aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen, den Arbeitsmarkt nach dreimonatigem Aufenthalt geöffnet.65 Für drei Jahre ist die Vorrangprüfung für diese Asylbewerberinnen und Asylbewerber in der überwiegenden Zahl der Bezirke der Bundesagentur für Arbeit nunmehr ausgesetzt. Es wird also nicht mehr geprüft, ob für die Stelle gleichqualifizierte Inländer oder Unionsbürger zur Verfügung stehen. Nach 15 Monaten entfällt die Vorrangprüfung generell für alle Asylbewerberinnen und Asylbewerber und Geduldete. Auch der Zugang zur Berufsausbildung ist nun leichter möglich, für Geduldete sofort und für Asylbewerberinnen und Asylbewerber ab dem 4. Monat, sofern sie nicht aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ kommen. Dies umfasst auch den Anspruch auf Ausbildungsförderungsleistungen nach dem SGB III. Schutzsuchende,66 die noch während des Verfahrens einen Ausbildungsplatz erhalten, haben zudem Anspruch auf eine Duldung, die für die gesamte Ausbildungsdauer erteilt werden soll, um eine sichere Perspektive für Arbeitgeber und Auszubildende zu schaffen. Dies gilt ungeachtet praktischer Probleme bei der Umsetzung durch die einzelnen Ausländerbehörden.67 Im Anschluss an eine erfolgreiche Ausbildung besteht dann bei erfolgreicher Jobsuche nach §  18a Abs.  1a AufenthG ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit. Diese Änderungen stellen deutliche Verbesserungen des Zugangs zur Erwerbstätigkeit dar. Unklar bleibt aus der Perspektive teilhabeorientierter Integration, warum die Vorrangprüfung nur befristet ausgesetzt wurde und statt der Duldung nicht bei Antritt einer Berufsausbildung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, die mehr 64   Integrationsgesetz vom 31.7.2016, BGBl. I 1939 vom 5.8.2016; Vierte Verordnung zur Änderung der Beschäftigungsverordnung vom 31.7.2016, BGBl. I-1953 vom 5.8.2016. 65  Dazu: Allenberg/Markard, Die neuen Bleiberechtsregelungen: Perspektiven für Auszubildende und junge Menschen, Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB) 2016, S.  56 ff. 66   §  132 SGB III n.F. 67   Bidder, Bayern schiebt Azubis ab, Spiegel online vom 21.01.2017, http://www.spiegel.de/wirt schaft/soziales/fluechtlinge-bayern-schiebt-azubis-ab-unternehmer-vertreter-protestieren-a-1130697. html.

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Rechtssicherheit und -klarheit schaffen würde. Überhaupt sollte angesichts der großen Zahl von Asylbewerberinnen und Asylbewerber und der weiter bestehenden Nachfrage auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch über ein generelles Modell des „Spurwechsels“ nachgedacht werden, bei dem abgelehnte Asylbewerberinnen und Asylbewerber eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit oder Ausbildung erhalten, wenn sie im Inland einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommen.68 Die ohnehin schwierige Unterscheidung zwischen Schutzsuchenden mit guter und schlechter Bleibeperspektive (sog. „sichere Herkunftsländer“) würde sich damit erübrigen. In diese Richtung ist nur ein erster Schritt getan.69 Staatliche Inklusionspflichten kommen dagegen bislang nur punktuell in den Blick. Erste Ansätze für die Einführung von Inklusionspflichten auf staatlicher Seite lassen sich in den Integrationsgesetzen der Länder Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg erkennen,70 die auf eine interkulturelle Diversifizierung der Verwaltung71 setzen, Integration als „gesamtgesellschaftlichen Prozess“ begreifen,72 stärkere Beteiligungsmöglichkeiten für Migrantinnen und Migranten vorsehen73 und konkrete Landesaufgaben beschreiben.74 Im Gegensatz dazu bleibt das Bayerische Integrationsgesetz mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf die Pflicht zur im Rahmen des „Gast- und Aufenthaltsstatus unabdingbare[n] Achtung der Leitkultur“75 ganz dem assimilationsorientierten Denken verhaftet, das multiple Identitäten und Zuordnungen kaum für möglich oder wünschenswert hält.76 Trotz der Normierung einiger konkreter Maßnahmen der Integrationsförderung durchzieht das BayIntG durchgehend der einseitige Duktus der Eingliederung und Assimilation in der Mehrheitsgesellschaft. Auf der Landesebene zeigen sich somit erste rechtliche Entwicklungen, die zumindest teilweise Ideen anbieten, wie sich interaktionistische und teilhabeorientierte Integration besser realisieren ließe. Tatsächliche Teilhabehindernisse hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse77 vom Dezember 2011 abzubauen versucht. Damit wurde ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Arbeitsmarktzugangs von Migrantinnen und Migranten unternommen, die  Dazu: Parusel, Spurwechsel im Migrationsprozess – Erfahrungen aus Schweden, ZAR 2014, S.  115.  Optimistischer: Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S.  241, 251 f., der hierin bereits einen „echten ‚Spurwechsel‘“ sieht. 70   Dazu der Überblick bei Eichenhofer (Fn.  55), S.  254 ff. 71   Vgl. insb. §  4 Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG) vom 15.12.2010 und §  6 Partizipations- und Integrationsgesetz Baden-Württemberg (PartIntG BW) vom 1.12.2015, §  6 Teil­ habe- und Integrationsgesetz NRW (TIG) vom 14.02.2012. Zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Realisierung „interkultureller Verwaltung“: Ziekow, Möglichkeiten und Grenzen der Verbesserung der Chancen von Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst, DÖV 2014, S.  765, 766 ff. 72   §  1II PartIntG, §  3 I Nr.  1 PartIntG BW, ähnlich §  1 I TIG. 73   So etwa der Landesbeirat für Migrations- und Integrationsfragen in §  6 PartIntG oder die kommunalen Integrationsbeiräte und Integrationsausschüsse in §  10 TIG und der Landesbeirat für Integration in §  7 PartIntG BW. 74   §  5 PartIntG BW und §  9 TIG. 75   §  1 Bayerisches Integrationsgesetz (BayIntG) vom 13.12.2016. 76   Eine ausführliche Analyse dieser Präambel bietet Rottenwaller, Die Präambel des neuen Bayerischen Integrationsgesetzes – über den kleinlichen Schutz staatlicher Scheinidentität, KJ 2017, S.  364 ff. 77   BGBl. I 2515 vom 12.12.2011. 68 69

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ihren Berufsabschluss im Ausland erworben haben. Durch die Neuregelung werden zum einen die für EU-Mitgliedstaaten bereits geltenden Regelungen hinsichtlich der im Fachrecht reglementierten Berufe auf Drittstaatsangehörige ausgeweitet. Für die Ausbildungsberufe im dualen System wurde zudem ein Anspruch auf Überprüfung und Feststellung der Gleichwertigkeit des Berufsabschlusses geschaffen.78 Überdies werden einheitliche Anerkennungskriterien festgelegt, die vor allem danach fragen, ob „wesentliche Unterschiede“ in der Qualifikation bestehen. Ebenfalls in den Bereich des Abbaus tatsächlicher Teilhabehindernisse fällt die Neuregelung der Integrationskursteilnahme und Sprachförderung. So wurden 201579 in §  45a AufenthG Maßnahmen zur gezielten berufsbezogenen Deutschsprachförderung eingeführt. Zudem können auch Schutzsuchende und Geduldete nun nach §  44 Abs.  4, S.  2 AufenthG im Rahmen der verfügbaren Plätze an einem Integrationskurs teilnehmen, wenn sie nicht aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ kommen. Sie sind hierzu nach §  44a Abs.  1 Nr.  4 AufenthG sogar verpflichtet, wenn sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen. In diesem Fall können ihnen nunmehr nach §  5b Abs.  2 AsylbLG auch Sozialleistungen gestrichen werden, wenn sie einer entsprechenden Aufforderung zur Teilnahme nicht nachkommen. Die sinnvolle Ausweitung der Förderung des Spracherwerbs wird also gezielt mit Sanktionen im Bereich des Sozialleistungsbezugs verknüpft. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Kürzung ist angesetzt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz fraglich.80 Selbst wenn man die Kürzungen aber für verfassungsmäßig erachtet,81 darf man aber den teilhaberechtlichen Sinn eines sozio-kulturellen Existenzminimums bezweifeln, das letztlich vom Wohlverhalten der Betroffenen abhängt. Die Bestandsaufnahme ergibt somit ein gemischtes Bild: Einerseits sind erste Ansätze für staatliche Inklusionspflichten und punktuelle Maßnahmen zum Abbau tatsächlicher Teilhabehindernisse zu beobachten. Andererseits scheint in vielen Regelungen weiterhin eine relativ einseitige Migrationserwartung gegenüber Migrantinnen und Migranten durch. Vollkommen ausgeblendet bleibt die Frage nach der politischen Partizipation von Migrantinnen und Migranten und damit verbunden die Ausgestaltung der Mehrstaatigkeit. Die politische und verfassungsrechtliche Debatte um diese Frage stagniert seit Jahren und bedürfte doch angesichts der aktuellen Herausforderungen neuer Impulse. Hinsichtlich der Beseitigung struktureller Benachteiligungen und Teilhabehindernisse lassen sich zwar punktuelle Reformen identifizieren, ein umfassender Ansatz fehlt aber bislang. Auf verfassungsrechtlicher Ebene wird die Frage nach möglichen Pflichten zur Beseitigung struktureller Benachteiligungen von Migrantinnen und Migranten zumeist pauschal verworfen.82   §  4 Abs.  1 Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz (BQFG).   Art.  3 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, BGBl. I 1722 vom 23. Oktober 2015. 80  BVerfGE 132, 134 (173) – Asylbewerberleistungsgesetz [2012]. Diese Zweifel kann auch das jüngste Urteil des Bundessozialgerichts nicht ausräumen, BSG, Urteil v. B 7 AY 1/16 R. Während das BSG die Aufrechterhaltung des „physischen Existenzminimums“ für ausreichend hielt, hat das BVerfG gerade auch das soziokulturelle Existenzminimum für absolut geschützt erachtet. 81   Thym (Fn.  69), S.  245. 82   Englisch, in: Stern/Becker, GG, 2.  Aufl. 2016, Art.  3 Rn.  76; Langenfeld, in: Maunz/Dürig, 74. Lfg. Mai 2015, Art.  3 Abs.  3 GG Rn.  18. 78

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Eine umfassende Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen steht noch aus. Diesen beiden offenen Baustellen widmet sich der zweite Teil dieses Beitrags.

III.  Politische Teilhabe und soziale Mobilität als kritische Bausteine der Inklusion Im Folgenden werden die beiden offenen Baustellen der Inklusion von Migranten aus verfassungsrechtlicher Sicht betrachtet: Zunächst geht es um den verfassungsrechtlichen Rahmen für politische Teilhabe und Mehrstaatigkeit (III.1.). Trotz rechtlicher Möglichkeiten zur (politischen) Teilhabe bestehen in einer Gesellschaft häufig strukturelle Hindernisse für die tatsächliche Teilhabe. Daher wird im zweiten Schritt untersucht, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Beseitigung struktureller Hindernisse bestehen (III.2.).

1.  Politische Inklusion: Wahlrecht und doppelte Staatsangehörigkeit Im Zentrum der Debatte über politische Inklusion von Migrantinnen und Migranten steht seit jeher das Ausländerwahlrecht. Die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten neuen Teilhabeformate in einigen Landesintegrationsgesetzen sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung, können eine gleichberechtigte Teilhabe an der Legitimation öffentlicher Gewalt über Wahlen aber nicht ersetzen. Grundlage der verfassungsrechtlichen Debatte um das Ausländerwahlrecht sind bis heute zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Einführung des Wahlrechts von Nicht-Deutschen bei Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein83 bzw. Hamburg.84 Hinzu kommt ein Urteil des Bremer Staatsgerichtshofs aus dem Jahr 201485 (III.1.a.). Die in diesen Entscheidungen zum Ausdruck kommende Konzeption des Demokratieprinzips ist in der Literatur vielfach kritisiert worden (III.1.b.). Die vom BVerfG vorgeschlagene Sicherstellung demokratischer Inklusion durch Einbürgerung wurde inzwischen durch die erwähnte Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts und insbesondere durch die Einführung des Geburtsortsprinzips erleichtert. Es bleiben aber viele Hindernisse bestehen und insbesondere die Mehrstaatigkeit ist politisch weiterhin umstritten. Der erleichterte Staatsangehörigkeitserwerb ist zudem nur ein notwendiger, aber kein hinreichender Baustein für die politische Inklusion von Migrantinnen und Migranten (III.1.c.).

  BVerfGE 83, 37 – Ausländerwahlrecht Gemeinde- und Kreiswahlen Schleswig-Holstein [1990].   BVerfGE 83, 60 – Ausländerwahlrecht Bezirksversammlungen Hamburg [1990]. 85   Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 31.1.2014, St 1/13. 83

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a)  Verfassungsrechtliche Wegmarken der politischen Inklusion von Nicht-Staatsangehörigen Die verfassungsrechtliche Diskussion um das Ausländerwahlrecht wird bis heute von zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum kommunalen Ausländerwahlrecht aus dem Jahr 1990 bestimmt.86 Das zentrale Argument, mit dem das BVerfG die zugrundeliegenden Regelungen für verfassungswidrig erklärte, war der Begriff des Volkes in Art.  28 Abs.  1 GG. Dieser sei mit dem in Art.  20 Abs.  2, S.  1 GG identisch und beschränke sich daher auf das deutsche Volk und damit auf die Summe aller Deutschen i.S.d. Art.  116 Abs.  1 GG.87 Art.  20 Abs.  2 GG enthalte nicht nur den Grundsatz der Volkssouveränität, sondern bestimme zugleich, dass mit dem Begriff des Volkes das deutsche Staatsvolk gemeint sei. Die Legitimation von Entscheidungen in einem demokratischen Staat müsse daher „die Staatsgewalt, das Volk als eine zur Einheit verbundene Gruppe von Menschen zu ihrem Subjekt haben“.88 Demokratische Teilhabe wird nach dieser Rechtsprechung durch die Staatsangehörigkeit vermittelt. Aus Sicht des BVerfG kommt danach wegen des in Art.  28 Abs.  1, S.  2 GG enthaltenen Homogenitätsgebots auch für die durch Gemeinden ausgeübte Hoheitsgewalt nur das deutsche Staatsvolk als Legitimationssubjekt in Frage.89 Die jüngste Entscheidung des Bremer Staatsgerichtshofs aus dem Jahr 2014 über die geplante Einführung des kommunalen Wahlrechts für bestimmte Drittstaatsangehörige und die Ausweitung des Unionsbürgerwahlrechts auf die Wahlen zur Bremer Bürgerschaft knüpft an diese Rechtsprechungslinie an. Darin bekräftigten die Richter mehrheitlich, dass aus ihrer Sicht die Zugehörigkeit zum Staatsvolk nach dem Grundgesetz an die Staatsangehörigkeit geknüpft ist.90 Das kommunale Wahlrecht für Unionsbürger stelle lediglich eine Ausnahme hiervon dar, die aber keine Rückwirkungen auf das Demokratieverständnis und den Staatsvolkbegriff des Grundgesetzes habe, weil es sich nur um ein ergänzendes Partizipationsrecht handle.91

b) „Volksdemokratie“ 92 oder inklusive Demokratie? Diese Argumentationslinie ist vielfach kritisiert worden.93 Im Kern lassen sich drei zentrale Streitpunkte ausmachen: das Demokratieverständnis, das dem Grundgesetz  Dazu: Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit (1999), S.  102 ff.; Frank, Ausländerwahlrecht und Rechtsstellung der Kommune, KJ 1990, S.  290, 290 ff.; Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, JZ 1989, S.  257. Für Schleswig-Holstein: SH GVBl. v. 21.2.1989, S.  12. Für Hamburg: HH GVBl. I v. 27.2.1989, S.  29. 87   BVerfGE 83, 37 (50). 88   BVerfGE 83, 37 (51). 89   BVerfGE 83, 37 (54 f.). 90   Bremer StGH (Fn.  85), S.  12 f. 91   Bremer StGH (Fn.  85), S.  13 ff. A.A. der Sachverständige U.K. Preuß, Gutachten für die Bremische Bürgerschaft (Drs. 16/731), S.  77 ff. 92   Der Begriff geht zurück auf Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in Staatswissenschaft und Staatspraxis 5 (1994), S.  305 ff. 93   Abweichende Meinung der Richterin Ute Sacksofsky zum Urteil des StGH Bremen, I.; bereits zuvor: Zuleeg, Grundrechte für Ausländer, DVBl. 1974, S.  341, 347 f.; Ders., (Fn.  5 ), S.  429 ff.; Ders., 86

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zugrunde gelegt wird, die Frage nach der vermeintlich unentrinnbaren Verbindung nur der Staatsangehörigen mit dem Schicksal des Staates und die Rückwirkungen des Unionsbürgerwahlrechts auf das Verständnis von Demokratie und Staatsvolk. In den genannten Gerichtsentscheidungen kommt ein Demokratieverständnis zum Ausdruck, das Demokratie im Kern auf die „Herrschaft eines mit der Gesellschaft nicht identischen Kollektivs (‚Deutsches Volk‘)“ reduziert.94 Dieser „demokratische Reduktionismus“95 verschleiert, dass es sich beim Demokratieprinzip um einen normativ offenen Begriff handelt.96 Denkt man Demokratie im freiheitlich-republikanischen Sinne vom Einzelnen her, vor dem sich staatliche Herrschaft rechtfertigen muss, ist es konsequent, die gleichberechtigte Mitbestimmung nicht lediglich auf Staatsangehörige zu beschränken.97 Ein solches Verständnis liegt besonders nahe, wenn man Demokratie auch als Ausdruck der Menschenwürde versteht, die verlangt, eine dauerhafte Rechtsunterworfenheit ohne Mitbestimmung zu verhindern.98 Anders als von Kritikern bisweilen vorgetragen,99 lassen sich auch durchaus plausible rechtliche Kriterien finden, wann von einer dauerhaften Rechtsunterworfenheit auszugehen ist. So ließe sich auf die Niederlassungserlaubnis als dauerhaftes Aufenthaltsrecht oder ein Mindestaufenthaltserfordernis abstellen.100 Gegen das Kriterium der Rechtsunterworfenheit wird die These der Unentrinnbarkeit vorgebracht.101 Sie hat bei näherer Betrachtung wenig Überzeugungskraft: Juristische Streitpunkte zum Kommunalwahlrecht für Ausländer, ZAR 1988, S.  13 ff.; Breer, Die Mitwirkung von Ausländern an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch Gewährung des Wahlrechts, insbesondere des Kommunalwahlrechts, 1982, S.  154 f.; v. Löhneysen, Kommunalwahlrecht für Ausländer, DÖV 1981, S.  330, 332 ff.; Rittstieg, Wahlrecht für Ausländer, 1981, S.  69 ff.; Rittstieg, Juniorwahlrecht für Inländer fremder Staatsangehörigkeit, NJW 1989, S.  1018, 1019; Wallrabenstein, Verfassungsrecht (Fn.  86), S.  112 ff.; Zustimmend dagegen: Schwarz, Gutachten für die Bremische Bürgerschaft (Drs. 16/731), S.  115 ff.; bereits zuvor: Doehring, Die staatsrechtliche Stellung des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL (32) 1974, S.  8, 35 ff.; Isensee, Die staatsrechtliche Stellung des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL (32) 1974, S.  50, 92 ff.; Böckenförde, §  24: Demokratie als Verfassungsprinzip Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3.  Aufl. (2004), Rn.  26 ff. 94   So die kritische Rekonstruktion bei Bryde (Fn.  92), S.  305. 95   Frankenberg, Vorsicht Demokratie! Kritik der juridischen Versicherung einer Gesellschaft gegen die Risiken der Selbstregierung, in: Blanke (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S.  177, 179. 96  Dazu: Frankenberg (Fn.  95), S.  180. Zur notwendigen Offenheit des Demokratieverständnisses auch Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt/Lepsius/Ders./Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S.  281, 336 ff. 97   Hain, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd.  2 , 6.  Aufl. 2010, Art.  79 Rn.  78, 79; Frankenberg (Fn.  95), S.  179; Zuleeg, Zur Verfassungsmäßigkeit der Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer in Nordrhein-Westfalen, KritVj 1987, S.  322, 324. 98   So im Lissabon-Urteil: BVerfGE 123, 267 (341) [2009] sowie im OMT-Beschluss: BVerfGE 134, 366 [2014]. 99  So aber: Isensee, Kommunalwahlecht für Ausländer aus der Sicht der Landesverfassung Nordrhein-Westfalens und der Bundesverfassung, KritVj 1987, S.  300, (304 f.) 100   So bereits: Rittstieg, Kommunales Wahlrecht für Ausländer, KritVj 1987, S.  315, 317 f. 101   Zur Unentrinnbarkeitsthese: Isensee, Die staatsrechtliche Stellung (Fn.  93), S.  91, 92 f.; Isensee, Kommunalwahlecht für Ausländer (Fn.  99); Schink, Kommunalwahlrecht für Ausländer?, DVBl. 1988, S.  417, 422; Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, 1976, S.  64 ff.; Böckenförde, §  24: Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3.  Aufl. 2004, Rn.  26 f.; Doehring, Nationales Kommunalwahlrecht für europäische Ausländer?, in: Grewe/Rupp/Schneider (Hrsg.), FS Hans Kutscher, 1981, S.  109, 115 ff.; Rupp, Wahlrecht für Ausländer?, ZRP 1989, S.  363, 365.

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Zum einen betreffen gerade Entscheidungen auf kommunaler Ebene, wie etwa die Schaffung von Kindergärten oder die Bauplanung, deutsche und nicht-deutsche Einwohner in gleicher Weise.102 „Entrinnen“ können hier alle Einwohner relativ unkompliziert durch Umzug in eine andere Gemeinde.103 Zum anderen besteht auch für deutsche Staatsangehörige ein im Völkerrecht104 garantiertes Recht zur Ausreise.105 Die Migration in andere Länder ist für deutsche Staatsangehörige auch ohne ein korrespondierendes Recht auf Einreise praktisch in den meisten Fällen möglich.106 Demgegenüber können viele Migranten, vor allem humanitär Schutzberechtigte, regelmäßig keinen Gebrauch von ihrem Recht auf Rückkehr in den Herkunftsstaat107 machen.108 Das Argument der Rückkehroption von Migranten geht schließlich auch an der Realität der Verwurzelung zahlreicher Nicht-Deutscher vorbei, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Es reflektiert vielmehr eine überkommene Konzeption von Migration als vorübergehender Ausnahme von der Kongruenz von Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk, die den Charakteristika moderner Migration nicht mehr entspricht.109 Das stärkste dogmatische Argument gegen die Trias von Volk, Staatsangehörigkeit und Mitbestimmung ist die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger und Unionsbürgerinnen in Art.  28 Abs.  1, S.  3 GG im Jahr 1992. Seither ist der strikte Ausschluss Nicht-Deutscher von jeglichen Wahlen nur um den Preis dogmatischer Inkonsistenz weiter aufrechterhalten.110 Das Unionsbürgerwahlrecht als „Ausnahme“111 oder „Sonderproblem“112 zu konzipieren, zeugt von einer gewissen argumentativen Hilflosigkeit. Denn will man das Unionsbürgerwahlrecht mit der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts in Einklang bringen, gibt es nur drei Alternativen: (1) Entweder muss man Unionsbürgerinnen konzeptionell dem „deutschen Volk“ zuschlagen und ihnen in der Folge weitere Partizipationsrechte einräumen oder (2) man muss die „Volks“-Konzeption auf kommunaler Ebene von der auf überkommunaler Ebene trennen, so dass sich kaum mehr Argumente gegen ein kommunales Ausländerwahlrecht finden lassen oder (3) man konzipiert demokrati102   Zuleeg (Fn.  97), S.  326 f.; Zuleeg (Fn.  5), S.  425, 430; Zuleeg, Juristische Streitpunkte (Fn.  93), S.  13, 16; Frank (Fn.  86), S.  297 ff. 103   Zuleeg (Fn.  97), S.  327. 104   Art.  12 IPbürgR, 999 UNTS 171, beschlossen am 16.12.1966, in Kraft getreten am 23.03.1976. 105   Wallrabenstein, Verfassungsrecht (Fn.  86), S.  117. 106   Frank (Fn.  86), S.  298; Gramlich, Wahlrechte für nichtdeutsche Inländer, ZAR 1989, S.  51, 56. Ute Sacksofsky kritisiert das Argument der Unentrinnbarkeit aus demokratietheoretischen Gründen, Sacksofsky, Mehrfache Staatsangehörigkeit – Ein Irregulare?, in: Grawert u.a. (Hrsg.), FS Böckenförde, 1995, S.  317, 329. 107   Art.  12 Abs.  4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbürg). 108   Zuleeg (Fn.  97), S.  326; Hanschmann, Rechtliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (kommunales Ausländerwahlrecht), Innenausschuss A-Drs. 16(4)459 F, S.  24. 109   Dazu und insgesamt zum Ausländerwahlrecht ausführlich Farahat (Fn.  5 ), S.  246–263. 110   Hanschmann (Fn.  108), S.  18; Hanschmann, Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende, ZParl 2009, S.  74, 80 ff. Besonders deutlich: Sacksofsky, (Fn.  85), S.  21 ff. 111  So Schwarz (Fn.   93), S.   113, 127, 129; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd.  2 , 6.  Aufl. 2010, Art.  20 Rn.  155; in der Sache ebenso die Mehrheit der Richter des Bremer Staatsgerichtshofs (Fn.85), S.  13 f. 112   Böckenförde (Fn.  101), Rn.  28.

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sche Mitbestimmung unter dem Grundgesetz unabhängig von der Zugehörigkeit zum „deutschen Volk“ mit der Folge, dass das Ausländerwahlrecht prinzipiell zur politisch möglichen und verfassungsrechtlich zulässigen Option wird.113 Eine vollkommen unveränderte Auslegung des Art.  28 Abs.  1, S.  1 und 2 GG ist im Lichte dieser Argumente aber nicht plausibel.114 Es spricht daher viel für eine verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Ausländerwahlrechts. Eine in diese Richtung weisende Weiterentwicklung des Demokratieprinzips ist im Lichte der Mindestberücksichtigungspflicht des Prinzips der progressiven Inklusion geboten und angesichts der Herausforderungen der superdiversen Einwanderungsgesellschaft auch angemessen.

c)  Zugang zur Staatsangehörigkeit als Alternative? aa)  Reform des Staatsangehörigkeitsrecht: Geburtsortprinzip und Mehrstaatigkeit Das Problem der dauerhaften Exklusion eines Teils der Wohnbevölkerung von der demokratischen Teilhabe lässt sich in der Konzeption des BVerfG nur durch einen großzügigeren Zugang zur Staatsangehörigkeit lösen.115 Lange fand sich jedoch für eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts keine Mehrheit.116 Die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder legte schließlich im Januar 1999 einen umfassenden Reformvorschlag vor,117 der jedoch von den Unionsfraktionen mit einer Kampagne gegen den „Doppelpass“ bekämpft wurde. Die veränderten Machtverhältnisse im Bundesrat erzwangen schließlich eine Kompromissbildung zwischen der rot-grünen Regierung und der FDP, die die Reform schließlich ermöglichte. Bedingung für den Kompromiss war jedoch die Beibehaltung des grundsätzlichen Verbots der Mehrstaatigkeit, die in der Einführung der sog. Optionsplicht zum Ausdruck kam.118 Die Regelungen zum Erwerb der Staatsangehörigkeit wurden in den Folgejahren mehrfach reformiert und dabei auch neue Hürden eingeführt. Im Zuge eines EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes hat der Gesetzgeber im Jahr 2007 beispielsweise die Spracherfordernisse deutlich angehoben und zur echten Einbürgerungsvoraussetzung in §  10 Abs.  1 Nr.  6 StAG erhoben, so dass jeder Einbürgerungsbewerber sich nunmehr auch schriftlich eigenständig in deutscher Sprache ausdrücken können muss.119 Ebenfalls neu eingeführt wurde bei dieser Gelegenheit der Nachweis von Kenntnissen der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der Lebensver  Sacksofsky, abw. Meinung (Fn.  85), S.  22.   Sacksofsky, abw. Meinung (Fn.  85), S.  22 weist insoweit zu Recht auf den begrenzten Wert des subjektiven Willens der an der Gesetzgebung beteiligten Akteure hin. 115   BVerfGE 83, 37 (52) – Ausländerwahlrecht Gemeinde- und Kreiswahlen Schleswig-Holstein [1990]. Zu dieser Option: Quaritsch, §  120: Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3.  Aufl. 2007, Rn.  135 ff. 116  Zu den früheren Reformbemühungen: Renner (Fn.  35), S.  154; Hailbronner, in: Hailbronner/ Renner/Maaßen (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, 5.  Aufl. 2010, Einl. A Rn.  5 –39. 117   Dazu die Berichte in ZAR 1999, S.  50 und 95. 118  Dazu Hailbronner (Fn.  116), Rn.  20. 119   Berlit, in: GK-StAR, §  10, 29. Lfg. Oktober 2014, Rn.  26. 113 114

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hältnisse in Deutschland (§  10 Abs.  1 Nr.  7 StAG), die durch einen Einbürgerungstest nachgewiesen werden (§  10 Abs.  5 StAG).120 Schließlich müssen nunmehr auch Einbürgerungsbewerber vor Vollendung des 23. Lebensjahres nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt auch ohne Bezug von Grundsicherungs- und Sozialhilfeleistungen bestreiten können.121 Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass der Anstieg der tatsächlichen Einbürgerungen moderat geblieben ist. Die Ausschöpfung des Einbürgerungspotentials betrug im Jahr 2016 nur rund 2,2 %.122 Die Einführung des Geburtsortsprinzips durch die Reform des StAG im Jahr 2000 stellt gleichwohl eine Zäsur dar. Über die frühzeitige Gewährung der Vollmitgliedschaft ermöglicht sie die politische Partizipation der sog. zweiten Generation.123 Zugleich wurde auch der Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatigkeit zunehmend gelockert.124 Der Katalog der Ausnahmen von diesem Grundsatz (§  12 StAG) ist inzwischen so sehr ausgeweitet worden, dass die Hinnahme der Mehrstaatigkeit statistisch der Regelfall ist.125 Sogar der personelle Anwendungsbereich der Optionspflicht wurde inzwischen so weit beschnitten, dass diese nur noch einen kleinen Personenkreis betrifft.

bb)  Verfassungsrechtliche Zweifel an der Optionspflicht Allerdings wirft die Optionspflicht weiterhin verfassungsrechtliche Probleme auf. Konkret geht es um die Vereinbarkeit mit Art.  3 Abs.  1 und 3 GG sowie Art.  16 Abs.  1 GG. Zunächst stellt sich die Frage, ob die Pflicht zur Entscheidung zwischen der deutschen und der von den Eltern „vererbten“ Staatsangehörigkeit eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellt. Für einen Verstoß gegen Art.  3 Abs.  3 GG unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung nach der Abstammung spricht die Anknüpfung der Optionspflicht an die Abstammung von Eltern mit ausländischer Staatsangehörigkeit.126 Aber auch dann, wenn man den Grund der in der Optionspflicht liegenden Ungleichbehandlung primär in der Vermeidung von Mehrstaatigkeit oder den unterschiedlichen Integrationserwartungen sieht, wirft die Regelung Zweifel auf. Sie wäre dann an Art.  3 Abs.  1 GG zu messen, der einen sachlichen und verfassungskonformen Rechtfertigungsgrund verlangt.127 Eine solche Rechtfer  Berlit (Fn.  119), Rn.  27.   Berlit (Fn.  119), Rn.  28. 122   Diese Zahl beschreibt wie viele der Ausländer, die die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, sich auch tatsächlich haben einbürgern lassen, Statistische Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2.1., Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Einbürgerungen 2016, S.  7, 16. 123   Dieser Begriff bezeichnet die im Inland geborenen Kinder der Personen mit eigener Migrationserfahrung. 124  Zum allgemeinen Trend in diese Richtung: Hailbronner, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, 5.  Aufl. 2010, Einl. F Rn.  30 ff. 125   Statistisches Bundesamt (Fn.  122), S.  139 ff. 126  Dazu: Wallrabenstein (Fn.  86), S.  223 ff.; Wallrabenstein, in: Huber/Alexy (Hrsg.), Handbuch Ausländer- und Asylrecht, April 2006, §  29 StAG, Rn.  4 ff.; Wallrabenstein, Integration und Staatsangehörigkeit, in: Sahlfeld u.a. (Hrsg.), Integration und Recht, 2003, S.  243, 257 f.; Farahat (Fn.  5 ), S.  345 ff. (allerdings jeweils noch mit Bezug auf das Merkmal der Herkunft). 127   Dreier, in: Ders., GG-Kommentar, Bd.  1, 2.  Aufl. 2004, Art.  3 Rn.  26 ff.; Gubelt, in: Münch/ Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar I, 5.  Aufl. 2001, Art.  3 Rn.  14. Zur Bedeutung von Art.  3 für den Er120 121

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tigung steht aber auf wackeligen Füßen, insbesondere wenn man der Mindestberücksichtigungspflicht hinsichtlich des Prinzips der progressiven Inklusion Rechnung trägt. Dieses verlangt gerade die teilhabeorientierte zügige Inklusion und die Zulässigkeit von Mehrfachzuordnungen. Inklusion soll durch Teilhabe erreicht werden und nicht umgekehrt Teilhabe an Integrationsvoraussetzungen geknüpft werden. Insofern versagt die Rechtfertigung der Optionspflicht über Integrationserwartungen und die Vermeidung der Mehrstaatigkeit einem Kernanliegen dieses Prinzips jedwede Anerkennung. Vor diesem Hintergrund steht auch die Neufassung des §  29 StAG, die ein Entfallen der Optionspflicht bei „Aufwachsen im Inland“ vorsieht, im Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Anforderungen, zumal bei diesem neuen Kriterium eine Diskriminierung aufgrund des Merkmals der Heimat nach Art.  3 Abs.  3 GG naheliegt, der gerade auf die örtliche Herkunft abstellt.128 Überdies ist die faktische Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses im Hinblick auf die Hinnahme der Mehrstaatigkeit ein starkes Argument gegen die fortbestehende rechtliche Verankerung des Vermeidungsgrundsatzes in §  29 StAG.129 Mit Blick auf Art.  16 Abs.  1 GG stellt sich die Frage, ob das Grundgesetz einen auflösend bedingten Staatsangehörigkeitserwerb überhaupt zulässt. Versteht man die Institutsgarantie des Art.  16 Abs.  1 GG als Garantie eines differenzierungsfeindlichen Zugehörigkeitsstatus, ist die Optionspflicht als Staatsangehörigkeitserwerb „unter Bedingungen“ auch in dieser Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich.130 Die grundlegende Idee einer auf gleichberechtigter Zugehörigkeit beruhenden Staatsangehörigkeit wird nämlich unterlaufen, wenn einige Staatsangehörige die Staatsangehörigkeit nur unter der Bedingung erfolgreicher Integration oder der Aufgabe einer anderen Staatsangehörigkeit erwerben. Auch die immer wieder erhobene Forderung nach spezifischen Verlustgründen für eingebürgerte Deutsche, die als „islamistische Gefährder“ gelten,131 stünde im Widerspruch zu Art.  16 Abs.  1 GG.132

werb der Staatsangehörigkeit J. Masing, in: Dreier, GG-Kommentar I, 2.  Aufl. 2004, Art.  3 Rn.  71; Huber/Butzke, Das neue Staatsangehörigkeitsrecht und sein verfassungsrechtliches Fundament, NJW 1999, S.  2769, 2774. 128   Baer/Markard, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd.  1, 7.  Aufl. 2017, Art.  3 Rn.  496 (m.w.N.); allgemein zum Merkmal „Heimat“: Englisch, in: Stern/Becker, GG-Kommentar, 2.  Aufl. 2016, Art.  3 Rn.  81; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 14.  Aufl. 2016, Art.  3 Rn.  124; Heun, in: Dreier, GG-Kommentar I, 3.  Aufl. 2013, Art.  3 Rn.  131. 129   Walter (Fn.  31), S.  35; Göbel-Zimmermann/Eichhorn, Entwicklungen des Staatsangehörigkeitsrechts seit 2000 – eine kritische Bilanz (Teil I), ZAR 2010, S.  293, 296 f. 130   Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54 (2015), S.  1, 20 ff., 27 ff. A.A. Masing, Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, 1999, S.  47 ff. (der keine ausgrenzende Entziehung sieht). Grundlegend für das in Art.  16 Abs.  1 GG liegende Differenzierungsverbot BVerfGE 116, 24 (44) – Einbürgerungsrücknahme [2006]; 135, 48, (61 f.) – Vaterschaftsfeststellung [2013]. 131   So etwa der Vorschlag von Maaßen, Staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen der Terrorismusbekämpfung, ZAR 2011, S.  336, 341. 132   Kießling (Fn.  130), S.  12 ff., 22.

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cc)  Politische Kämpfe um die Mehrstaatigkeit Trotz der zunehmenden rechtlichen Akzeptanz brandet der politische Widerstand gegen die Mehrstaatigkeit immer wieder auf. Zuletzt nahm die CDU in ihr Wahlprogramm 2017 die Forderung auf, dass die „dauerhafte doppelte Staatsbürgerschaft […] immer die Ausnahme bleiben [muss]“.133 Dies soll durch einen Generationenschnitt für Personen mit einer zweiten Staatsangehörigkeit außerhalb EU erreicht werden, d.h. die dauerhafte Weitergabe der zweiten Staatsangehörigkeit soll dadurch verhindert werden, dass ab der dritten Generation die Staatsangehörigkeit des Herkunftslands der Großeltern nicht mehr automatisch weitergegeben wird.134 Dies ließe sich allerdings nur über entsprechende völkerrechtliche Verträge sicherstellen, weil es eine Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts anderer Staaten voraussetzt. Das Wahlprogramm bleibt damit hinter dem weitreichenderen CDU-Parteitagsbeschluss vom Dezember 2014 zurück, in dem die Mehrheit der Delegierten sich für die Rücknahme der seit 2014 vorgesehenen Ausnahmen von der Optionspflicht für im Inland aufgewachsene Personen ausgesprochen hatte. Die Forderung nach einer Begrenzung der mehrfachen Staatsangehörigkeit dürfte vor allem als Reaktion auf die Debatte um die sog. „Doppelwähler“ zu verstehen sein, die insbesondere durch Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland135 und den Aufruf des türkischen Präsidenten Erdog˘ an, bei Bundestagswahl 2017 nicht für CDU/CSU, SPD oder die Grünen zu stimmen,136 angefacht wurde. Die neuen Forderungen nach der Beschränkung der Mehrstaatigkeit sind daher vor dem Hintergrund der seit vielen Jahrzehnten diskutierten Frage zu sehen, ob die doppelte Staatsangehörigkeit Loyalitätskonflikte aufwirft137 oder gar zu einer Besserstellung von Doppelstaatsangehörigen führt, die ja in zwei Staaten zur politischen Teilhabe berechtigt sind.138 Überzeugen können die beiden Einwände jedoch nicht. Eine emotional unterfütterte und politisch artikulierte Zugehörigkeit zu mehr als einem Staat lässt sich angesichts zunehmend transnationaler Migrationsformen und dauerhafter grenzüberschreitender Bindungen, auch bei Untersagung der Mehrstaatigkeit nicht verhindern.139 Eine vermeintliche Besserstellung durch die mehrfache Staatsangehörigkeit wäre rechtlich nur relevant, wenn hierdurch Inhabern nur einer Staatsangehörigkeit   Regierungsprogramm von CDU und CSU für 2017–2021, S.  74 f.   Zu einem solchen Generationenschnitt: SVR Migration und Integration, Positionspapier: Doppelpass mit Generationenschnitt – Perspektiven für ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht, 26.06.2017, https://www.svr-migration.de/publikationen/positionspapier_doppelpass/. 135   Zu den verfassungsrechtlichen Hintergründen: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 08.03.2017, 2 BvR 483/17. 136   FAZ vom 18.08.2017: http://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/erdogan-ruft-tuerken-in-deutschland-zu-wahlboykott-auf-15157235.html. 137   Ziemske, Mehrstaatigkeit und Prinzipien des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, ZRP 1993, S.  334, 336; Mangoldt, Öffentlich-rechtliche und völkerrechtliche Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit aus deutscher Sicht, JZ 1993, S.  965, 968; Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, S.  98, 101; so auch: BVerfGE 37, 217 (255) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen [1974]. 138   Löwer, Abstammungsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, S.  156, 158 f. 139   Walter (Fn.  31), S.  37 unter Verweis auf Hammar, State, Nation and Dual Citizenship, in: Bru­ baker (Hrsg.), Immigration and the Politics of Citizenship in Europe and North America, 1989, S.  81, 89. Skeptisch zu den Integrationserfolgen einer solchen Regelung auch Masing (Fn.  130), S.  37 ff. 133

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ein Nachteil entstünde, was jedoch nicht der Fall ist.140 Zielführender als eine Debatte über die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist daher eine Diskussion über den praktischen Umgang mit ihren Folgen. So könnte etwa über „variable Staatsbürgerschaftsrechte“ nachgedacht werden, die die konkrete Ausübung von Teilhaberechten an Wohnsitzerfordernisse knüpfen oder die Festlegung einer „aktiven“ und einer „ruhenden“ Staatsangehörigkeit verlangen.141 Soweit darauf verwiesen wird, dass auch solche variablen Staatsbürgerrechte eine Identifikation mit dem politischen Gemeinwesen in Deutschland nicht garantieren kann,142 sollte nicht übersehen werden, dass auch der faktische Teilhabeausschluss durch Verweigerung der Vollmitgliedschaft kaum zu einer stärkeren Identifikation beiträgt. Dies verweist auf ein grundsätzlicheres Problem: Der Staatsangehörigkeitserwerb allein und gleiche politische Teilhaberechte allein sichern zwar eine rechtliche Teilhabechance, bekämpfen aber keine faktischen Teilhabehindernisse. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch an den großen Problemen der gesellschaftlichen Inklusion in Staaten, die schon lange über ein inklusiveres Wahlrecht (Niederlande) oder eine großzügigere Handhabung des Geburtsortsprinzips verfügen (Frankreich). Selbst wenn man meint, dass die Verleihung der Staatsangehörigkeit für einen größeren Integrationserfolg besser als „Belohnung“ gelungener Integration konzipiert werden sollte,143 stellt sich daher die Frage wie strukturelle Teilhabehindernisse identifiziert und beseitigt werden können.

2.  Soziale Mobilität: Sprache – Bildung – Erwerbstätigkeit Inklusion in der modernen Einwanderungsgesellschaft ist in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen vor allem eine Frage der Möglichkeit zur sozialen Mobilität. In der Migrations- und Integrationsforschung besteht Einigkeit, dass der tatsächliche Zugang zu Sprache, Bildung und Erwerbstätigkeit eine zentrale Bedingung für die gesellschaftliche Teilhabe und die Identifikation mit den politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Aufenthaltsstaates sind.144 Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der daraus zu ziehenden Konsequenzen.145 Zunächst sollen relevante Teilhabehindernisse identifiziert (III.2.a.) und die jüngsten gesetzgeberischen Akti140   Sacksofsky (Fn.  106), S.  336; Walter (Fn.  31), S.  37. Anders Gärditz (Fn.  59), S.  523 und Ders., Der Bürgerstatus im Licht von Migranten und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013) S.  49, 138 f. 141   Zu diesem Vorschlag Hailbronner, F. Mehrfache Staatsangehörigkeit, in: Ders./Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht (Hrsg.), 5.  Aufl. 2010, Rn.  31 ff. sowie Kluth, Variable Staatsbürgerschaftsrechte – eine Alternative zum Optionsmodell, ZAR 2009, S.  134, 138. 142   Kluth (Fn.  141). 143   So wohl Kluth (Fn.  63), S.  1086. 144   Sauer, Politische und zivilgesellschaftliche Partizipation von Migranten, in: Brinkmann/Sauer (Hrsg.), Einwanderungsgesellschaft Deutschland: Entwicklung und Stand der Integration, 2016, S.  255, 274. Schneider/Crul/Lelie (Fn.  46), S.  73 ff.; Esser, Integration und „Multikulturalität“, in: Luft/Schimany (Hrsg.), Integration von Zuwanderern, 2010, S.  277, 289 (der dies unter den Begriff der „strukturellen Assimilation“ fasst); diese Erkenntnis liegt auch einer vergleichenden Untersuchung zu Integrationspolitiken von Ruud Koopmans zugrunde, der die Ursache mangelnder sozialer Mobilität allerdings in einer zu großzügigen Gewähr von Teilhaberechten sieht Koopmans, Der Zielkonflikt von Gleichheit und Diversität, in: Luft/Schimany (Hrsg.), Integration von Zuwanderern, 2010, S.  55, 73 f. 145   Esser (Fn.  144), S.  278 ff.

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vitäten in diesen Bereichen betrachtet werden (III.2.b.). Danach geht es um die Frage: Wie kann das Verfassungsrecht dazu beitragen, faktische Teilhabehindernisse abzubauen (III.2.c.)?

a)  Inklusion und die Bedeutung struktureller Teilhabehindernisse Betrachtet man die Untersuchungen zur sozialen Mobilität im Hinblick auf die zweite Generation, d.h. die Nachfahren der Personen mit Migrationserfahrung, ergeben sich deutliche Hinweise darauf, dass erstens Sprachkenntnisse und die Bildungsabschlüsse zentrale Stellschrauben für den späteren Erfolg am Arbeitsmarkt sind und dass zweitens Migrantinnen und Migranten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund im gegenwärtigen Bildungssystem strukturell benachteiligt sind und auch zum Arbeitsmarkt keinen gleichberechtigten Zugang erhalten.146 Worauf diese Zugangshindernisse zurückzuführen sind, ist eine empirische Frage. Genannt werden in der Literatur die mangelnde Qualität der Vorqualifikation im Herkunftsland,147 das geringe Bildungsniveau der Eltern sowie Diskriminierungen oder Benachteiligungen im Aufenthaltsstaat.148 Ebenfalls nur empirisch zu klären ist die Frage, ob sich diese Zugangshindernisse durch eine insgesamt auf stärkere soziale Mobilität ausgerichtete Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik beheben lassen.149 An dieser Stelle sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen zu klären, die sich aus den strukturellen Teilhabehindernissen und Benachteiligungen ergeben. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kann zunächst festgehalten werden, dass die konkrete Ausgestaltung der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik letztlich auf politischen Präferenzentscheidungen beruht, die das Verfassungsrecht nicht vorgeben kann. Dies ändert aber nichts daran, dass das Verfassungsrecht Vorschriften bereithält, aus denen sich Gebote zur Reduktion von Zugangshindernissen ergeben.

146  Allgemein Autorengemeinschaft (Fn.  149), S.  250, 266, 268 ff.; Schneider/Crul/Lelie (Fn.  46), S.  48 ff., 52 ff., 78 ff. Speziell für den schulischen Kontext: UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Bildung, Besuch in Deutschland (13.–21.2.2006), UN Doc. A/HRC/4/29/Add.3 v. 9.3.2007, Rn.  63 ff. (mit Fokus auf der Relevanz sozialer Herkunft); Report of the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance, Githu Muigai: Mission to Germany, UN Doc. A/HRC/14/43/Add.2 v. 22.2.2010, Rn.  40 (mit Fokus auf Sprachbarrieren); UN-Antirassismusausschuss, Abschließende Bemerkungen zu Deutschland, UN Doc. CERD/C/ DEU/CO/19–22 v. 30.6.2015, Rn.  13 (ebenfalls mit Fokus auf Sprachbarrieren). 147   Dies betont Esser (Fn.  144), S.  290. 148   Allgemein zu den für die Arbeitsmarktintegration relevanten Faktoren in Deutschland: Kogan, Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern, in: Brinkmann/Sauer (Hrsg.), Einwanderungsgesellschaft Deutschland, 2016, S.  177, 185 ff. 149  Ein starkes Plädoyer für notwendige inklusive und teilhabeorientierte Politik findet sich bei Schneider/Crul/Lelie (Fn.  46), S.  73 ff., aber auch Autorengemeinschaft, Zuwanderung und Arbeitsmarkt, in: Luft/Schimany (Hrsg.), Integration von Zuwanderern, 2010, S.  267 ff.; wesentlich skeptischer dagegen Esser (Fn.  144), S.  294.

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b)  Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Vermeidung und Beseitigung struktureller Teilhabehindernisse Faktische Teilhabehindernisse bedeuten letztlich eine Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten sowie Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber einheimischen deutschen Staatsangehörigen. Als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt drängt sich folglich Art.  3 GG auf.

aa)  Verfassungsrechtliches Verbot von Diskriminierungen Soweit Zugangshindernisse auf staatliches Handeln zurückzuführen sind, verbietet Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG Benachteiligungen aufgrund der dort genannten Merkmale. Im Einzelnen kommen verschiedene Merkmale in Betracht. Das Merkmal der Abstammung erfasst Diskriminierungen wegen des Migrationshintergrunds, wenn an den Umstand angeknüpft wird, dass die Eltern einer Person zugewandert sind oder nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.150 In diesem Fall liegt eine „dicrimination by association“ vor.151 Sofern es tatsächlich um Nachteile geht, die aus dem Migrationsvorgang selbst erwachsen, also aus der eigenen örtlichen Herkunft, ist das Merkmal der Heimat einschlägig.152 Das Merkmal der Rasse ist einschlägig soweit rassistisch motivierte Diskriminierungen vorliegen, die etwa an ethnische, physische oder kulturelle Merkmale oder Zuschreibungen anknüpfen.153 Gerade wegen des engen Bezugs zur Menschenwürde sollte rassistische Diskriminierung nicht zu eng gefasst werden und in Bezug auf faktische Teilhabehindernisse genau geprüft werden, wo eine möglicherweise versteckte, rassistische Diskriminierung vorliegen. Das Merkmal der Sprache schützt im Sinne der identitätsprägenden Funktion von Sprache zunächst vor allem die Möglichkeit, sich in Minderheitensprachen ausdrücken zu können. Allerdings ist es nicht automatisch unzulässig, Sprachkenntnisse zur Bedingung statusrechtlicher oder aufenthaltsrechtlicher Verbesserungen zu machen, so etwa bei der Einbürgerung154 oder beim Familiennachzug.155 Anders als Heimat und Abstammung zielt das Merkmal der Herkunft auf die soziale Herkunft im Sinne des vererbten sozialen Status und der jeweiligen Klas-

  Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG-Kommentar, 13.   Aufl. 2014, Art.   3 Rn.  78; zu diesem Merkmal BVerfGE 9, 124 (128) – Armenrecht [1959] („natürliche Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren“). In der Rechtsprechung des BVerfG hat das Merkmal der „Abstammung“ seither allerdings keine Bedeutung erlangt Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar I, 6.  Aufl. 2012, Art.  3 Rn.  176. 151   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  468. 152   Englisch (Fn.  82), Rn.  81; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 13.   Aufl. 2014, Art.   3 Rn.  124; Heun, in: Dreier, GG-Kommentar I, 3.  Aufl. 2013, Art.  3 Rn.  131; grundlegend zu diesem Merkmal BVerfGE 102, 43 (53) – Kriegsbeschädigtengrundrente [2000]; speziell für den migrationsrechtlichen Kontext Ziekow (Fn.  71), S.  767. 153   Zum Konzept der Begriffe Rasse und Rassismus: Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  472 ff. 154   Jarass (Fn.  152), Rn.  138; Eckertz-Höfer, in: AK-GG I, 3.  Aufl. 2001, Art.  3 Abs.  3 Rn.  118 sieht bei „übersteigerte[n] Anforderungen“ die Möglichkeit einer indirekte Diskriminierung. 155   BVerwGE 136, 231 (225 f.); zust. Langenfeld (Fn.  82), Rn.  52. 150

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sen- oder Schichtzugehörigkeit156 und ist damit im Kontext sozialer Mobilität relevant, etwa hinsichtlich des Zugangs zu Bildungsangeboten oder zum Arbeitsmarkt. Schließlich kann auch das Merkmal der religiösen Anschauung einschlägig sein, etwa bei Bekleidungsvorschriften im öffentlichen Dienst. Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG adressiert somit Ungleichbehandlungen aufgrund „spezifischer Verletzbarkeit“157 und einer sich daraus ergebenden besonderen Gefährdungslage.158 Die Vorschrift nimmt Merkmale in Bezug, die identitätsprägend oder sonst unverfügbar sind159 und an die typischerweise Nachteile anknüpfen.160 Dabei funktioniert die Vorschrift prinzipiell wie ein Abwehrrecht161 und verlangt stets eine Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit.162 Im Einzelfall können sich aus dem Diskriminierungsverbot auch konkrete Schutzpflichten ergeben,163 für die sich insbesondere aufgrund des strukturellen Charakters der Benachteiligung gute Gründe finden lassen164. Knüpft eine staatliche Diskriminierung an eines der genannten Merkmale an, so ist sie nach Art.  3 Abs.  3 GG verboten. Jenseits von Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG sind staatliche Ungleichbehandlungen an Art.  3 Abs.  1 GG zu messen. Soweit sie an die Staatsangehörigkeit oder den Aufenthaltsstatus anknüpfen, unterliegen sie gemäß der „abgestuften Kontrolldichte“ allerdings einer erhöhten Rechtfertigungslast und sind daher ebenfalls regelmäßig am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen.165 Es handelt sich nämlich um Merkmale, die für die Person „kaum verfügbar“ sind und damit den unabänderlichen Merkmalen des Art.  3 Abs.  3 GG strukturell ähneln.166 Die direkte Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ist jedoch eher selten. Häufiger ist die Anknüpfung an einen bestimmten Aufenthaltstitel, so etwa bei Sprachanforderungen oder der arbeitsmarktbezogenen Vorrangprüfung.167 Hinsichtlich der 156   Englisch (Fn.  82177), Rn.  82 („soll soziale Durchlässigkeit und Chancengleichheit garantieren“); Heun (Fn.  152), Rn.  132; Jarass (Fn.  152), Rn.  125; Eckertz-Höfer (Fn.  154), Rn.  120; zu diesem Merkmal BVerfGE 48, 281 (287 f.) – Versagung von Versorgungsansprüchen von im Ausland lebenden Deutschen [1978]. 157   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  387. 158   Sacksofsky, in: Umbach/Clemens, GG-Kommentar I, 2002, Art.  3 Abs.  2 und 3 Rn.  290. Zu den historischen Hintergründen der Auswahl dieser konkreten Merkmale Boysen (Fn.  150), Rn.  116; Baer/ Markard (Fn.  128), Rn.  388. 159   Sacksofsky (Fn.  158), Rn.  291. 160   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  4 04. 161   Langenfeld (Fn.  165), Rn.  14; Boysen (Fn.  150), Rn.  116. 162   BVerfGE 124, 199 (219 f.) – Hinterbliebenenversorgung der eingetragenen Lebenspartnerschaft [2009], st. Rspr. 163   Eckertz-Höfer (Fn.  154), Art.  3 Abs.  2 , 3 Rn.  94 ff.; Krieger (Fn.  154), Rn 12, 14 einschränkender und lediglich mit Bezug auf „besondere soziale Machtpositionen“ Englisch (Fn.  82), Rn.  121 f.; Jarass (Fn.  152), Rn.  132; a.A. Langenfeld (Fn.  82), Rn.  83 ff.; Boysen (Fn.  150), Rn.  152. 164   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  4 06, 425. 165   Langenfeld (Fn.  82), Rn.  41, 58. 166   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  483; Boysen (Fn.  150), Rn.  105 f., 182; BVerfGE 111, 160 (169 f.) – Kindergeld an Ausländer [2004]; 130, 240 (255) – Bayerisches Erziehungsgeld [2012]; Britz, Verfassungsrechtliche Grenzen der Ungleichbehandlung von Migrantenfamilien im Bereich der Familienleistungen, ZAR 2014, S.  56, 58. Vgl. dazu auf völkerrechtlicher Ebene auch: CERD, General Recommendation No.  30: Discrimination against non-citizens, UN Doc. CERD/C/64/Misc.11/rev.3. 167   Ähnliches gilt für die politisch diskutierte, aber nicht umgesetzte Ausnahme vom Mindestlohn für Flüchtlinge.

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Sprach­anforderungen ist besondere Vorsicht geboten. Je nach Kontext können hier – zumindest mittelbar – auch die Kriterien der Sprache, der Heimat, der Abstammung oder der Rasse (bzw. Ethnizität) i.S.d. Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG einschlägig sein. Im Übrigen fällt bei der Anknüpfung an den Aufenthaltstitel der Rechtsfertigungsmaßstab regelmäßig weniger streng aus, weil sich trotz einer gewissen Nähe zu unverfügbaren Merkmalen nicht nur legitime Zwecke der Differenzierung finden lassen, sondern deren Verfolgung oftmals auch als verhältnismäßig zu beurteilen ist, etwa weil die Differenzierung nur vorrübergehend gilt, weil kompensatorische Förderangebote oder Ausnahmeregelungen bestehen. Dennoch muss eine auf teilhabeorientierte Inklusion ausgelegte verfassungsrechtliche Dogmatik die konkreten Rechtfertigungserfordernisse auch in Bezug auf die Differenzierungen aufgrund des Aufenthaltsstatus detailliert herausarbeiten und sollte sich nicht mit dem pauschalen Verweis auf migrationspolitische Gestaltungsspielräume begnügen.

bb)  Gebot der Vermeidung mittelbarer Diskriminierungen nach Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG Darüber hinaus kommt auch ein verfassungsrechtliches Gebot zur Vermeidung mittelbarer Diskriminierungen in Betracht. Ob das spezifische Diskriminierungsverbot des Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG auch faktische bzw. mittelbare Diskriminierungen erfasst168 oder lediglich auf rechtliche Gleichheit abzielt169 ist umstritten. Nach einer lange Zeit dominanten Lesart wird der Vorschrift lediglich ein formales Gleichheitsverständnis unterlegt, demzufolge jede formelle Ungleichbehandlung verboten ist. Mittelbare Diskriminierungen aufgrund der in Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG genannten Merkmale sollen dagegen nur am Maßstab des Art.  3 Abs.  1 GG zu messen sein.170 Dieses Verständnis hat allerdings zur Folge, dass es letztlich den Status quo fördert, der als vermeintlich neutraler Normalzustand vorausgesetzt wird.171 Faktische Benachteiligungen von Personen(gruppen), die dieser Norm nicht entsprechen bleiben so außerhalb des Blickfeldes. Legt man Art.  3 Abs.  3 GG dagegen ein materiales Gleichheitsverständnis zu­ grunde,172 sind auch mittelbare Diskriminierungen verboten, weil sie eine faktische Benachteiligung aufgrund eines der verpönten Merkmale darstellen. Danach ist beispielsweise hinsichtlich des Verbots religiöser Symbole zu folgern, dass die tatsächliche gesellschaftliche, soziale und ökonomische Teilhabe von Angehörigen bestimmter Religionsgruppen hierdurch nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden  So Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  421.  So Langenfeld (Fn.  82), Rn.  19; Boysen (Fn.  150), Rn.  143 ff. 170   Langenfeld (Fn.  82), Rn.  15 ff.; Heun (Fn.  152), Rn.  125; Kischel, in: Beck-OK, GG-Kommentar, Stand Januar 2012, Art.  3 Rn 194; Sachs, HStR VIII, 3.  Aufl., 2010, §  182, Rn.  95; a.A. Jarass (Fn.  152), Rn.  119; eher vermittelnd Englisch (Fn.  82), Rn.  85 ff. m.w.N. 171   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  421. 172  Eingehend zur Unterscheidung zwischen formal-symmetrischer und asymmetrisch-materialer Gleichheit Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  419 ff. Zu materialer Gleichheit im Antidiskriminierungsrecht: Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht: Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der Begegnung von Freien und Gleichen, i.E. (Ms. liegt der Verfasserin vor), S.  5 ff. 168 169

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darf.173 Dies ist zumindest dann naheliegend, wenn der Zugang zu bestimmten Berufszweigen durch entsprechende Verbote faktisch unmöglich wird. Eine an teilhabeorientierter Inklusion orientierte Auslegung sollte entsprechende Verbote einer strengen Prüfung unterziehen, weil diese Maßnahmen typischerweise massive Exklusionseffekte zur Folge haben, die bestehende sozio-ökonomische Nachteile von Migrantinnen und Migranten verstärken.174 Nach dem materialen Gleichheitsverständnis können zudem angemessene Vorkehrungen (reasonable accomodation) zur Vermeidung eines Assimilierungszwangs erforderlich sein.175 Anschaulich zeigt sich dies im Falle des Verbots der Schächtung. Wenn dieses Verbot ausnahmslos gilt, werden Personen, deren Religion das Schächten von Tieren vorschreibt, faktisch benachteiligt bzw. zur Anpassung gezwungen. Es liegt eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Religion vor, die mit Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG nicht vereinbar ist, so dass eine Ausnahmeregelung notwendig ist.176 Ein materiales Gleichheitsverständnis verlangt im Rahmen des Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG also auch, dass angemessene Maßnahmen zur Vermeidung einer mittelbaren Diskriminierung ergriffen werden. Lässt die Vorschrift darüber hinaus aber auch Fördermaßnahmen zur Beseitigung struktureller Benachteiligungen aufgrund der genannten Merkmale zu oder fordert diese gar?

cc)  Zulässigkeit und Gebotenheit von Fördermaßnahmen zum Abbau struktureller Benachteiligungen Förderpflichten aus Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG? Dem formellen Gleichheitsverständnis zufolge ist jede formelle Ungleichbehandlung verboten, die an ein verpöntes Merkmal anknüpft. Dies gilt auch dann, wenn sie aus einer Fördermaßnahme erwächst, die strukturelle und versteckte Ungleichbehandlungen beheben soll.177 Die Herstellung faktischer Gleichheit über Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG wird nach diesem Verständnis überwiegend abgelehnt.178 Förderpolitiken werden lediglich insoweit als zulässig erachtet als die jeweilige Maßnahme nicht unmittelbar die Rechtsstellung von Einzelnen berührt, also ihrerseits nicht diskriminie173   Zur Unzulässigkeit eines pauschalen Kopftuchverbots BVerfGE 138, 296 (346 ff.) − Kopftuch II [2015]. In dem Verfahren über die Einschränkungen im Rechtsreferendariat bei Tragen eines Kopftuches hat das BVerfG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen (Beschluss vom 27. Juni 2017 – 2 BvR 1333/17). Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus. 174   Es sollte aber nicht übersehen werden, dass es sich bei diesem kulturellen Konflikt keineswegs nur um einen Personenkreis handelt, der Migrationserfahrung oder einen Migrationshintergrund hat. Auch deutsche Staatsangehörige ohne Migrationshintergrund können hiervon betroffen sein. 175  Mit Bezug auf das Antidiskriminierungsrecht Mangold (Fn.  172), S.  272 f. unter Verweis auf Schiek, Zwischenruf: Den Pudding an die Wand nageln? Überlegungen zu einer progressiven Agenda des EU-Antidiskriminierungsrechts, KJ 47 (2014), S.  396, 404 f. und Fredman, Discrimination Law, 2.  Aufl., 2011, S.  30 f. 176   BVerfGE 104, 337 (355) – Schächten [2002] (im konkreten Fall lag eine Ausnahmeregelung vor, so dass ein Verstoß gegen Art.  3 Abs.  1 bzw. Abs.  3 S.  1 GG verneint wurde). 177   Englisch (Fn.  82), Rn.  67 ff. m.w.N.; Langenfeld (Fn.  82), Rn.  15 ff.; Heun (Fn.  177), Rn.  119; Sachs (Fn.  170), Rn.  55 ff. 178   Langenfeld (Fn.  82), Rn.  18, 29; Englisch (Fn.  82), Rn.  34 f. (mit Bezug auf Abs.  1); Heun (Fn.  177), Rn.  139; differenzierter Boysen (Fn.  150), Rn.  134 ff. Für die Anerkennung von Schutzpflichten aus Art.  3 Abs.  3 Jarass (Fn.  152), Rn.  132; Eckertz-Höfer (Fn.  154), Art.  3 Abs.  3 Rn.  92.

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rend ist.179 Eine Fördermaßnahme, die direkt an eines der verpönten Merkmale anknüpft, kann jedoch gerechtfertigt sein, etwa um andere Verfassungsrechte und ‑prinzipien im Zusammenspiel mit Art.  3 Abs.  3 GG zu realisieren,180 wie die klassischen Freiheitsrechte (etwa Bildung) oder das Sozialstaatsprinzip.181 Beispielhaft lässt sich die Sprachförderung durch spezifische schulische Angebote, aber auch durch das Integrationskursangebot nennen.182 Legt man dagegen ein materiales Gleichheitsverständnis zugrunde, werden rechtliche Differenzierungen durch Fördermaßnahmen schon tatbestandlich nicht als Diskriminierung erfasst, sofern sie für die Betroffenen keinen Nachteil zur Folge haben. Verboten durch Art.  3 Abs.  3 GG sind nach dieser Interpretation nur Benachteiligungen, d.h. „Schädigungen“, in denen sich eine in den Merkmalen des Abs.  3 benannte „strukturelle gesellschaftliche Ungleichheit aktualisiert.“183 Ebenfalls verboten sind Bevorzugungen im Sinne einer unfairen Privilegierung auf Kosten anderer.184 Fördermaßnahmen zum Ausgleich struktureller Teilhabehindernisse und Ungleichheiten sind somit schon tatbestandlich erlaubt. Aber lässt sich Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG auch eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beseitigung struktureller Benachteiligungen aufgrund der verpönten Merkmale entnehmen? Gerade diese Frage erscheint für die Bestimmung des verfassungsrechtlichen Rahmens sozialer Mobilität zentral. Aus der Perspektive eines materialen Gleichheitsverständnisses lässt sich argumentieren, dass sich strukturelle Ungleichheiten aufgrund der verpönten Merkmale nur dann wirkungsvoll beseitigen lassen, wenn im Notfall ein gesetzgeberisches Eingreifen auch verfassungsrechtlich eingefordert werden kann. Ausnahmeregelungen (reasonable accomodation) sind nicht in allen kritischen Situationen geeignet, um solche Benachteiligungen zu beseitigen. Dies lässt sich am Beispiel der Unterrichtssprache Deutsch gut illustrieren. Diese Regelung bedeutet für Kinder, die mit einer anderen Erstsprache aufgewachsen sind, eine faktische bzw. mittelbare Benachteiligung. Eine Lösung über Ausnahmereglungen erscheint hier weder praktikabel noch integrationspolitisch sinnvoll. In einer solchen Konstellation spricht viel für eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Benachteiligung durch entsprechende aktive Fördermaßnahmen zu beseitigen.185 Lässt sich eine strukturelle Benachteiligung nicht über eine Maßnahme zur Vermeidung des Assimilierungszwangs bearbeiten, ergibt sich aus Art.  3 Abs.  3 S.  1 GG nach materialer Lesart also eine staatliche Pflicht zum Ausgleich der Benachteiligung durch Fördermaßnahmen. Für dieses Ergebnis lassen sich mit Blick auf die menschenrechtlichen Diskriminierungsverbote auch völkerrechtliche Argumente finden. So verpflichtet etwa Art.  2 Abs.  1 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeglicher Form   Englisch (Fn.  82), Rn.  76; Langenfeld (Fn.  82), Rn.  30; Boysen (Fn.  150), Rn.  136; Heun (Fn.  177), Rn.  119. 180   Langenfeld (Fn.  82), Rn.  30. 181   Langenfeld (Fn.  82), Rn.  50 ff. präferiert aber wohl eine Lösung über die einschlägigen Freiheitsrechte. 182   Jarass (Fn.  163), Rn.  138; kritisch Boysen (Fn.  150), Rn.  184. 183   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  420. 184   Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  422; R. Uerpmann-Wittzack, in: HGR V, 2013, §  128, Rn.  7. 185   Für eine Förderpflicht in Einzelfällen auch Baer/Markard (Fn.  128), Rn.  4 06. 179

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der Rassendiskriminierung (ICERD)186 die Vertragsstaaten dazu, „auf sozialem, wirtschaftlichem, kulturellem und sonstigem Gebiet besondere und konkrete Maßnahmen [zu treffen], um die angemessene Entwicklung und einen hinreichenden Schutz bestimmter Rassengruppen oder ihnen angehörender Einzelpersonen sicherzustellen, damit gewährleistet wird, dass sie in vollem Umfang und gleichberechtigt in den Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten gelangen.“ Überdies hat der UN-Menschenrechtsausschuss mit Blick auf das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art.  26 IPbürg187 festgestellt, dass der Gleichheitsgrundsatz von den Staaten mitunter auch das Ergreifen positiver Maßnahmen (affirmative action) verlange, um die Bedingungen zu beseitigen, die dazu beitragen, dass Diskriminierungen entstehen oder sich verfestigen.188 Hierin lässt sich ebenfalls eine Verpflichtung zum Ergreifen von Fördermaßnahmen erkennen,189 wobei den Mitgliedstaaten sowohl bei der Beurteilung der Notwendigkeit als auch der Wahl der Mittel ein weites Ermessen zukommt. Auch dem akzessorischen Diskriminierungsverbot des Art.  14 EMRK i.V.m. Art.  1 des 12. Zusatzprotokolls lässt sich ein Auftrag zur Herstellung „voller und effektiver Gleichheit“190 entnehmen.191 Diese Vorschriften, die zugleich eine wesentliche Grundlage des völkerrechtlichen Prinzips der progressiven Inklusion darstellen, streiten somit für eine Lesart der Diskriminierungsverbote, die im Einzelfall auch die Pflicht zu Fördermaßnahmen umfasst. Zudem muss in ihrem Lichte dieses Prinzip selbst auch um die Dimension des Abbaus von Teilhabehindernissen durch rechtliche Maßnahmen erweitert werden, kann also nicht mehr allein auf Rechtsgleichheit abstellen. Speziell mit Blick auf das Problem sozialer Mobilität kann sich im Falle struktureller Benachteiligungen aufgrund der „Herkunft“ ein Gebot ergeben, den Arbeitsmarktzugang und speziell auch den Zugang zur qualifizierten Positionen einschließlich spezifischer Qualifizierungsmaßnahmen für Personen zu fördern, die in diesem Bereich wegen der sozialen Schichtzugehörigkeit der Eltern faktischen Hindernissen ausgesetzt sind. Dies ist aufgrund der Sozialstruktur früherer Migrationsbewegungen oft bei Personen mit Migrationshintergrund der Fall. Hier wird aber auch deutlich, dass Maßnahmen, die auf die Förderung sozialer Mobilität zielen, auch jenseits des Migrationsphänomens inklusive Effekte auf die Teilhabemöglichkeiten sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen haben werden.

  660 UNTS 195, beschlossen am 07.03.1966, in Kraft getreten am 04.01.1969.   999 UNTS 171, beschlossen am 16.12.1966, in Kraft getreten am 23.03.1976. 188   UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr.  18 vom 10.11.1989, Ziff.  10: „the prin­ ciple of equality sometimes requires States parties to take affirmative action in order to diminish or eliminate conditions which cause or help to perpetuate discrimination prohibited by the Covenant. For example, in a State where the general conditions of a certain part of the population prevent or impair their enjoyment of human rights, the State should take specific action to correct those conditions.“ Noch konkreter in Bezug auf die aus Art.  27 IPbürg folgende Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, die den Gebrauch von Minderheitensprachen ermöglichen („Positive measures of protection are […] required“), UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr.  23 vom 08.04.1994, Ziff.  6.1. und 6.2. Dazu ausführlich Boysen (Fn.  150), Rn.  141. 189  A.A. Langenfeld (Fn.  82), Rn.  32. 190   Dritter Erwägungsgrund des 12. Zusatzprotokolls. 191   Boysen (Fn.  150), Rn.  140. 186 187

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Ein solches materiales Verständnis des Diskriminierungsverbots des Grundgesetzes würde nicht nur dem Prinzip der progressiven Inklusion entsprechen, sondern auch dem interaktiven und gesamtgesellschaftlichen Charakter von Integration und Inklusion Rechnung tragen, der für die wechselseitigen Anpassungsprozesse in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft zentral ist. Abschließend soll nun das Potenzial dieser verfassungsrechtlichen Lösung auch im Lichte der zur Verfügung stehenden Alternativen noch einmal kritisch beleuchtet werden.

IV. Statt eines Ausblicks: Eckpunkte eines Inklusionsrechts in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft Das Grundgesetz bietet mit einer inklusionsfreundlicheren Interpretation des Demokratieprinzips sowie einer auf einem materialen Gleichheitsverständnis fußenden Interpretation des Art.3 Abs.  3 S.  1 GG und Art.  3 Abs.  1 GG ausreichend Anknüpfungspunkte, um den Herausforderungen einer superdiversen Einwanderungsgesellschaft auch verfassungsdogmatisch gerecht zu werden. Dies gilt jedenfalls für die hier untersuchten Bereiche der politischen Partizipation und der sozialen Mobilität. In der Literatur wird darüber hinaus bisweilen eine Art Staatsziel der „Integration“ identifiziert, das aus einer Art Zusammenschau von Chancengleichheit, demokratischer Selbstbestimmung, Sozialstaatsprinzip und „Vitalität und Dauerhaftigkeit der freiheitlichen Verfassungsordnung“192 folgen soll.193 Auch die explizite Einführung eines gesonderten Staatsziels nach Art des Art.  20aGG ist vorgeschlagen worden.194 Dagegen wird eingewandt, es bedürfe eines solchen expliziten Staatsziels nicht, vielmehr reiche der allgemeine Bezug auf das Demokratieprinzip und den daraus folgenden Respekt vor der Mehrheitsentscheidung aus, um die Integrationsaufgaben im Zusammenhang mit Migration zu bewältigen.195 Ob ein ausdrückliches Staatsziel wirklich dazu beitragen würde, dem Thema die gebotene politische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, darf angesichts der eher bescheidenen Ausbeute des Art.  20a GG bezweifelt werden. Es bestünde zudem die Gefahr, dass konkrete verfassungsmäßige Rechte von Migrantinnen und Migranten durch die „weichere“ Staatszielbestimmung in den Hintergrund gedrängt würden. Eine Konzentration auf bestehende verfassungsrechtliche Vorgaben erscheint demgegenüber erfolgversprechender, um die tatsächlichen Exklusionspraktiken und Inklusionshindernisse zu adressieren. Aus der in diesem Beitrag vorgestellten Interpretation des Demokratieprinzips und des Gleichheitsgrundsatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich neben konkreten verfassungsrechtlich begründeten Verboten auch, dass im Einzelfall 192   Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.253 f. 193   Burgi (Fn.  63), S.  1020 unter Verweis auf Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten in der Bundesrepublik, 2000, S.  370 ff. (Chancengleichheit); Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, S.  217 ff. (demokratischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Integration) und Eichenhofer (Fn.  37), S.  83 f. (Sozialstaatsprinzip). 194   Burgi (Fn.  63), S.  1020. 195   Kluth (Fn.  63), S.  1084.

Inklusion in der superdiversen Einwanderungsgesellschaft

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Fördermaßnahmen verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern auch geboten sein können. Dies sollte nicht dazu verleiten, die Steuerungsmacht des Verfassungsrechts im Hinblick auf die Gestaltung der Integrationspolitik und erst recht die tatsächlichen Integrationserfolge zu überschätzen.196 Die Verfassung kann Integrationspolitik nicht im Einzelnen vorgeben. Die konkrete Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben obliegt vielmehr in allererster Linie dem Gesetzgeber, der auch bei Vorliegen eines verfassungsrechtlichen Fördergebotes entscheiden muss, wie er fördern will und welche Maßnahmen er hierzu für angemessen hält. Genau an diesen Fragen entzünden sich regelmäßig politische Kontroversen, die das Verfassungsrecht nicht entscheidet und auch nicht entscheiden sollte. Gleichwohl ist es angesichts der in diesem Beitrag skizzierten Herausforderungen einer superdiversen Einwanderungsgesellschaft an der Zeit, verfassungsrechtliche Vorgaben zu konturieren, die dazu beitragen, politische Teilhaberechte zu verbessern und strukturelle Teilhabehindernisse in allen gesellschaftlichen Bereichen abzubauen. Das Verfassungsrecht kann für die Politik hier Grenzen des Gestaltbaren aufzeigen und darüber hinaus als Schrittmacher dienen, also Anstöße liefern, die den Gesetzgeber in kritischen Konstellationen zum Handeln und in einen Dialog zwingen.

196  Insgesamt zurückhaltend zum Steuerungspotential des Rechts in Integrationsfragen: Thym (Fn.  69), S.  242. Die Relevanz politischer Entscheidungen über Integration und Migration betont zu Recht Gärditz (Fn.  59), S.  524.

We the People on the move Wie Migrationsbewegungen demokratische Herrschaftsorganisation herausfordern und verändern von

Prof. Dr. Markus Kotzur, Universität Hamburg Inhalt A. B. C. D. E. F.

Eine Frage nach dem Wir: Politische Einheitsbildung in fragmentierten Zugehörigengemeinschaften . 371 Eine Frage vor dem Wir: Migrationsphänomene, Zugehörigkeitsmodelle – Begriffe, Konzepte . . . . . 374 Eine Frage im Ringen um das Wir: Transnationale Demokratie – die zwei Seiten einer Medaille . . 376 Eine Frage auf dem Weg zum Wir: Integration durch Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Eine Frage des Ausgleichs beim Wir: Im Spannungsfeld von demokratischem Mehrheitsprinzip und menschenrechtlichem Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Das Wir im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

A.  Eine Frage nach dem Wir: Politische Einheitsbildung in fragmentierten Zugehörigengemeinschaften Für den modernen Staat war territorial gebundene Herrschaftsausübung stets eine konstitutive, für den demokratischen Verfassungsstaat Herrschaftslegitimation durch das sesshafte Staatsvolk1 lange eine konstitutionelle Selbstverständlichkeit. Das westfälische Staatensystem bleibt, allen Entterritorialisierungstendenzen 2 des Globalisie1   D. Thym, Migrationsfolgenrecht, in: VVDStRL 76 (2017), S.  169 ff., 170, betrachtet die Sesshaftigkeit als „konzeptuellen Normalfall“ des neuzeitlichen Staates. Unter Verweis auf S. Castles, Understanding Global Migration: A Social Transformation Perspective, Journal of Ethnic and Migration Studies 36 (2010), S.  1565 ff., spricht er pointiert von einer „sedentären Bias“. 2   Von „Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt“ spricht auch U. Hingst, Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge, 2001, S.  109 ff.; vorher schon D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S.  97 ff., 125, oder K.-P. Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S.  19 ff., 34; jetzt K. Schmalenbach, Völker- und Unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, VVDStRL 76 (2017), S.  246 ff.

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rungszeitalters3 zum Trotz, als globales Ordnungsmodell weiterhin unangefochten und auch in seiner weltweiten Praxis relativ stabil. Die prekäre Anomalie der „failed“ und „failing states“ bekräftigt territorialstaatliche Ordnungsmuster eher als sie in Frage zu stellen.4 Das Legitimationssubjekt der Demokratie ist demgegenüber durchaus stärker in Bewegung geraten – und zwar im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Im übertragenen Sinne geht es um jene Fragmentierungen, die durch die Übertragung von vormals staatlichen Hoheitsrechten auf überstaatliche Entscheidungsträger (Transnationalisierung) oder durch arbeitsteilige Einbindung nicht-staatlicher Akteure in vormals rein hoheitliche Entscheidungsprozesse (Privatisierung) entstehen. Der Verfassungsstaat öffnet sich kooperativ nach außen und gegenüber der – ihrerseits den rein innerstaatlichen Raum transzendierenden – Zivilgesellschaft.5 Dass beide Öffnungsphänomene unterschiedliche Spielarten von Entparlamentarisierung 6 bedingen und damit die repräsentative Demokratie herausfordern, liegt auf der Hand. Im wörtlichen Sinne angesprochen ist neben dieser „Migration“ von Entscheidungszuständigkeiten ganz unmittelbar die Migration von Menschen.7 Der Verfassungsstaat öffnet, so er Migration zulässt, seine Grenzen den Anderen und damit auch dem Anderen.8 Mit dieser Variante der Öffnung ist eine demokratische Dynamik verbunden, zu der das Statisches des Staatsvolks in ein eigentümliches Spannungsverhältnis tritt. Während das Legitimationssubjekt Staatsvolk in seinem Bestand durch Migration erst dann betroffen wird, wenn Zuwanderung in Staatsangehörigkeitserwerb mündet9 – die Hürden sind hier regelmäßig hoch –, wird die politische Betroffenengemeinschaft völlig unabhängig von jeder Statusänderung immer heterogener, immer fragmentierter, multiple Zugehörigkeitsformen differenzieren sich immer weiter aus. Dadurch wächst die Diskrepanz zwischen Legitimationssubjekt einerseits und Herrschaftsunterworfenen andererseits. Es mag, wie von Abraham Lincoln in seiner be-

3   A. McGrew, A Global Society, 1992; S. Sassen, Globalization and its Discontents, 1998; A. Puttler, Globalisierung als Topos, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd.  X I, §  234. 4   C. Richter, Collapsed States: Perspektiven nach dem Wegfall von Staatlichkeit. Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts der Völker und zur Struktur des völkerrechtlichen Staatsbegriffs, 2011. 5  Grundlegend P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013; P. Zumbansen, Rough Consensus and Running Code. A Theory of Transnational Private Law, 2010. 6   M. Herdegen und M. Morlok, Informalisierung und Entpolitisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung, VVDStRL 62 (2003), S.  7 ff. bzw. 37 ff.; M. Ruffert, Entformalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, DVBl. 2002, S.  1145 ff.; Th. Puhl, Entparlamentarisierung und Auslagerung staatlicher Entscheidungsverantwortung, in: HStR, Bd.  III, 3.  Aufl. 2005, §  48. 7   S. Rother (Hrsg.), Migration und Demokratie, 2016; D. Korczak (Hrsg.), Migration und Demokratie, 2017. 8   C. Franzius, Das „Wir der Anderen“ in Europa. Wer ist das demokratische Subjekt in der Europäischen Union?, in: ders./T. Stein (Hrsg.), Recht und Politik. Zum Staatsverständnis von Ulrich K. Preuß, 2015, S.  171 ff. 9  Oder der Verfassungsstaat umgekehrt – wozu die Ausreisefreiheit ihn menschenrechtlich verpflichtet (vgl. Art.  12 Abs.  2 IPbürgR) – die Auswanderung eigener Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zulässt. Nur als Stichwort angemerkt sei, dass der „brain drain“ sowohl eine demographische als auch eine demokratische Seite hat.

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rühmten „Gettysburg Address“10 gefordert, beim „government of the people, by the people, and for the people“ bleiben, aber „the people“ sind in den drei Varianten nicht mehr identische, sondern ganz unterschiedliche Personengesamtheiten. Gewiss, demokratische Herrschaftsorganisation lässt sich nicht auf die schlichte Identität von Herrschenden und Beherrschten herunterbrechen11, und doch ist ein solches Auseinanderdriften für den Verfassungsstaat alles andere als trivial. Demokratie nämlich bedeutet die Herrschaft der Freien und Gleichen12, setzt „Gleichheit in der Freiheit“13 voraus und impliziert damit einen Status gleicher Freiheit. Statusdifferenzen werden so zum demokratischen Teilhabeproblem. Vergegenwärtig man sich den Menschenwürdebezug der Demokratie, gewinnt die Problematik noch an Brisanz. In den Worten von Peter Häberle:14 „Die ‚universal‘ und kulturspezifisch umrissene ‚Kultur der Menschenrechte‘ und die sie konkretisierende ‚Kultur der Freiheit‘ entfalten (…) unmittelbar demokratiebegründende Kraft. So oft, und in Deutschland besonders erfolgreich, Spielarten des Liberalismus, des Positivismus und ein den Traditionen des Bourgeois bzw. des deutschen Konstitutionalismus verpflichtetes Denken die Demokratie als bloße ‚Staatsform‘ von den Grundfreiheiten unpolitisch trennen wollen, so unmissverständlich muss man heute den Zusammenhang zwischen Menschenwürde bzw. Grundfreiheiten und freiheitlicher Demokratie betonen; diese ist die organisatorische Konsequenz jener“.15

Greif bar wird hinter diesem Ansatz ein Klassiker: I. Kants berühmte Formel, wonach „der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen“ als „Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen“ existiere und deshalb in „allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ müsse.16 Das menschenwürdebegabte Individuum „als Zweck in sich selbst“ steht nicht nur in Verantwortung für seine politische Gemeinschaft, es hat ein Recht auf politische Mitbestimmung.17 Daraus automatische Statusgleichheit aller Akteure und Betroffenen abzuleiten, wäre indes verfehlt. Auch wenn von der Menschenwürde her zu denken und menschenrechtlich imprägniert, ein Stück weit sogar limitiert, liegt die Entscheidung darüber, wer am Leben einer politischen Gemeinschaft wie teilha10   Abgedruckt in A. Lincoln, Speeches and Writings 1859–1865: Speeches, Letters, and Miscellaneous Writings, Presidential Messages and Proclamations, 1989, S.  536 ff. 11   C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S.  234: „Demokratie (…) ist die Identität von Herrschenden und Beherrschten, Regierenden und Regierten“. Zur Kritik am Konzept der identitären Demokratie K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20.  Aufl. 1999, Rn.  130; Ch. Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2.  Aufl. 2009, S.  29 f. 12   E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd.  2 , 3.  Aufl. 2004, §  24, Rn.  41; M. Kriele, Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes, VVDStRL 29 (1971), S.  46 ff., 61 ff.; S. Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit – Grundlage des liberalen Egalitarismus, 2004, S.  293. 13   P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  III, 3.  Aufl. 2005, §  181, Rn.  164 ff. 14   Ganz en passant vom Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil festgestellt: BVerfGE 123, 267 ff. 15   P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR, Bd.  II, 3.  Aufl. 2004, §  23. 16   I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Erster Abschnitt, AA IV 428. 17   P. Häberle (Fn.  11), Rn.  68.

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ben darf, in deren selbstbestimmter Entscheidungsmacht.18 So wie die Gleichheit in der Freiheit gehört eben auch die Logik von Inklusion und Exklusion zur DNA des demokratischen Verfassungsstaates. Dieses Paradox in praktische Konkordanz (K. Hesse) aufzulösen, bleibt ein ambitioniertes – wenn nicht ein Stück weit unmögliches – Unterfangen. Mit vermeintlicher Harmonie wäre der Demokratie denn auch ein Bärendienst erwiesen. Ihre Herausforderung ist es vielmehr, Statusdifferenzen nicht zu negieren, sondern offen zu legen und in ihrer Dialektik für demokratische Herrschaftsorganisation fruchtbar zu machen. Das kann gerade deshalb gelingen, weil Demokratie „auf die Bewältigung von Fragmentierungen und dadurch entstehenden Wandeln nicht nur ausgerichtet“ ist, sondern beides gerade voraussetzt.19 Sie kennt Institutionen und Verfahren zur Herrschaftsorganisation innerhalb fragmentierter Gesellschaften und muss deshalb noch nicht beunruhigt sein, wenn Migrationsbewegungen sie in Unruhe bringen.

B.  Eine Frage vor dem Wir: Migrationsphänomene, Zugehörigkeitsmodelle – Begriffe, Konzepte Solche Unruhe mündet fast unweigerlich in die Frage nach dem demokratischen Wir – im Herkunfts- genauso wie im Ziel- oder Aufnahmeland. Ihr vorgelagert sind indes noch die Beobachtung von Migrationsphänomenen und das Nachdenken über Zugehörigkeitsmodelle. Migration, etymologisch zurückzuführen auf das lateinische „migrare“ („wandern“, „auswandern“, „verändern“), formt dabei keinen rechtlich feststehenden Begriff.20 In ihrer Breite nimmt sie ganz unterschiedliche Erschei­ nungsformen an: die freiwillige ebenso wie die erzwungene Migration, die Außenmigration/internationale Migration (Zuwanderung) 21 ebenso wie die Binnenmigration/innerstaatliche Migration.22 Die einen brechen auf in eine neue Wahlheimat, mögen sie von Neugier und Sehnsucht getrieben sein oder wie auch immer begründete Aversionen gegen ihr Herkunftsland hegen.23 Die anderen fliehen aus einem Katastrophen- oder Kriegsgebiet, werden aus religiösen, ethnischen Gründen oder wegen ihrer sexuellen Identität vertrieben, suchen Schutz vor Verfolgung und politi18   Schon klassisch: U.S. Supreme Court, Nishimura Ekiu v. United States et al., 142 U.S.  651, 142: „It is an accepted maxim of international law that every sovereign nation has the power, as inherent in sovereignty, and essential to self-preservation, to forbid the entrance of foreigners within its dominions, or to admit them only in such cases and upon such conditions as it may see fit to prescribe.“ 19   I. Spiecker gen. Döhmann, Fragmentierungen. Kontexte der Demokratie – Parteien, Medien und Sozialstrukturen, VVDStRL 77 (2018), i.E. 20   D. Kugelmann, Migration, in: MPEPIL (Stand 2009), Rn.  3.; K. Odendahl, Migrationssteuerung im Mehrebenensystem, VVDStRL 76 (2017), S.  50 ff., 53 f. 21   D. Kugelmann, Migration, in: MPEPIL (Stand 2009), Rn.  4 : „Migrants are persons who leave their country of origin or the country of habitual residence, to remain either permanently or temporarily in another country with the possible consequence of establishment“. 22   Zur Unterscheidung von Außenmigration und Binnenmigration W. Kälin/J. Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008, S.  577; ferner P. Boeles/M. den Heijer/G. Lodder/K. Wouters, European Migration Law, 2.  Aufl. 2014, Teil II (S.  49 ff. und Teil III, S.  243 ff.); S. Breitenmoser, Migrationssteuerung im Mehrebenensystem, VVDStRL 76 (2017), S.  10 f., 13. 23   A. Blioumi, Transkulturelle Metamorphosen. Deutsche Migrationsliteratur im Ausland am Beispiel Griechenland, 2006, S.  19.

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sches Asyl. Die Migrationsursachen sind so vielfältig wie die Migrationsmotive: Transnationale Unternehmen verlangen die Mobilität ihres Personals, EU-Behörden die ihrer Mitarbeiter. Studierende bzw. Wissenschaftler reisen für mehr oder weniger lange Studien- oder Forschungsaufenthalte ins Ausland. Ruheständler sehnen sich nach einem Platz an der Sonne. Armutsmigranten hoffen auf neue Lebenschancen 24, Wirtschaftsmigranten auf größere ökonomische Prosperität.25 Vertriebene nach Umweltkatastrophen haben kaum eine Wahl 26, Kriegsflüchtlingen geht es ums nackte Überleben. Die Grenzen zwischen „forced migration“, Arbeitsmigration und „life­ style migration“ verlaufen ohnehin fließend.27 Aus dieser Gemengelage von Ursachen, Motiven und Erscheinungsformen hat sich ein postmoderner Migrationsbegriff herausdestilliert, der auf das „stetige Oszillieren zwischen Räumen und Orten“28 abstellt. Dieses Oszillieren ist in seinem ganzen Variantenreichtum für demokratische Herrschaftsorganisation relevant. Es lässt gesellschaftliche Bruchlinien deutlich werden, betrifft demokratische Verfahren und Institutionen, berührt die demokratische Kultur in ihrer Tiefe und macht nicht zuletzt Demographie zum Thema.29 Verlassen Binnenmigrantinnen und -migranten ländliche Räume und kommt es dort zu massiver Abwanderung gerade junger Menschen, so hat das nicht nur nachhaltige Auswirkungen auf die Sozialstruktur der Wahlbevölkerung, sondern mag auch den Neuzuschnitt von Wahlkreisen erforderlich machen. Intensiver noch wirkt die internationale Migration auf das demokratische Legitimationsgefüge im Aufnahmeland ein. Hier sind ganz unterschiedliche Modelle von Inklusion und Exklusion entstanden.30 Ein erste Spielart bezeichnet Einwanderungsgesellschaften, innerhalb deren bürgerschaftliche Berechtigungen, klassisch an Staatsangehörigkeit gekoppelt, exklusiv den Alteingesessenen vorbehalten bleiben.31 Die Konsequenz ist eine scharfe Spaltung der Gesellschaften in privilegierte Staatsangehörige und Nicht-Bürger. Ersteren wird politische Teilhabe und der „Zugang zu einem breiten Spektrum wohlfahrtsstaatlicher Leistungen“ umfassend eröffnet, während die Mehrzahl der Migranten als „Non-Citizens“ keinerlei Perspektive auf Inklusion hat und jederzeit mit einer 24   J. Rawls, Das Recht der Völker, 2002; M. Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, insbes. S.  310 ff.; explizit von „Migrationsgerechtigkeit“ sprechen etwa W. Kluth, Migrationsgerechtigkeit, ZAR 2011, S.  329 ff., oder M. Deinhard, Das Recht der Staatsangehörigkeit unter dem Einfluss globaler Migrationserscheinungen, 2015, S.  173. 25   E. Lee, A Theory of Migration, in: J. A. Jackson (Hrsg.), Migration, 1969, S.  282 ff. 26   R. Cohen/M. Bradley, Disasters and Displacement: Gaps in Protection, Journal of International Humanitarian Legal Studies I (2010), S.  1 ff.; J. McAdam, Climate Change, Forced Migration, and International Law, 2012, S.  187 ff.; D. Farber, International Law and the Disaster Cycle, in: D. Caron/M. Kelly/A. Telesetsky (Hrsg.), The International Law of Disaster Relief, 2014, S.  8. 27   K. O´Reilly, International Migration and Social Theory, 2012. 28   A. Blioumi, Transkulturelle Metamorphosen. Deutsche Migrationsliteratur im Ausland am Beispiel Griechenland, 2006, S.  16. In der Literatur ist auch plastisch von „Movement of People“ oder „Mobility of People“ die Rede, siehe P. Boeles/M. Den Heijer/G. Lodder/K. Wouters, European Migration Law, 2014, S.  5 ; J. H. Cohen/I. Sirkeci, Cultures of Migration: the Global Nature of Contemporary Mobility, 2011, S.  7 ff. 29   Siehe dazu das Forschungsprogramm des von H. Vorländer geleiteten „Mercator Forum Migration und Demokratie“ an der TU Dresden (https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/poltheo/zvd/mercator-forum-migration-und-demokratie), Seite zuletzt besucht am 15.11.2017. 30   J. Bast, Denizenship als rechtliche Form der Inklusion in eine Einwanderungsgesellschaft, ZAR 2013, S.  353 ff. 31   Ebd., S.  353.

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Beendigung des Aufenthaltsstatus rechnen muss.32 Ein zweites Modell, von Einwanderungsländern wie den USA oder Kanada erprobt, begreift Migration als eine Art Übergang in die Staatsbürgerschaft des Aufnahmestaates, als „Vorstufe zum Erwerb der Mitgliedschaft im neuen politischen Gemeinwesen“33. Beide Modelle teilen, so konträr sie auch sind, eine Gemeinsamkeit: Sie denken letztlich in strikten Dichotomien vom Vollstatus des Citizen und vom defizitären Status des Alien. Ein solch statusbezogenes Schwarz-Weiß wird dem eben skizzierten, vielschichtigen „Oszillieren zwischen Räumen und Orten“ längst nicht mehr gerecht wird.34 Das Konzept der „Wohnbürgerschaft“ oder „Denizenship“ vertraut daher auf ein „Kontinuum von möglichen Rechtsstellungen von Non-Citizens (…), die der eines Citizen in unterschiedlichem Maße angenähert sein können“.35 Es geht, mit anderen Worten, um eine „Entbündelung des Bürgerstatus“36, um – im Plural gefasst – differenzierte Status gestufter Zugehörigkeit.37

C.  Eine Frage im Ringen um das Wir: Transnationale Demokratie – die zwei Seiten einer Medaille Diese Statusfragen seien zunächst in Bezug zu den statusrelevanten Grenzüberschreitungen der transnationalen Demokratie („transnational democracy“38 ) gesetzt. Letztere haben das Rousseausche Demokratiekonzept in doppeltem Sinne brüchig werden lassen.39 Wenn Art.  20 Abs.  2 S.  1 GG in dessen Tradition feststellt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, operiert er mit einem zweifachen Singular (die Staatsgewalt, das Volk), der sich an der Wirklichkeit überstaatlich integrierter Migrationsgesellschaften bricht. Eine vormals einheitliche Staatsgewalt wird im europäischen Verfassungsverbund nun – je nach Kompetenz – teils von der Union, teils von den Mitgliedstaaten ausgeübt. Das geschieht nicht zuletzt, um im Binnenmarkt der Unionsbürgermobilität einen effektiven konstitutionellen Rahmen zu geben. Noch sehr viel komplexer geraten die Ausdifferenzierungen des Volksbegriffs. In der pluralistischen Demokratie musste sich bei der Bestimmung des Legitimationssubjekts „Volk“ immer schon die Vielfalt der Meinungen und Werthaltungen, musste sich die Vielheit der Bürgerinnen und Bürger widerspiegeln, die dank ihrer grundrechtlich  Ebd.   Ebd., S.  354. 34  Ebd. 35   Ebd., auch mit etymologischer Herleitung des Begriffs „Denizenship“; weiterhin L. Bosniak, The Citizen and the Alien: Dilemmas of Contemporary Membership, 2006; N. Matz-Lück, Denizenship und Staatsangehörigkeit im Spiegel rechtlicher Integration. Eine Betrachtung der Kriterien staatlicher Zugehörigkeit und politischer Teilhabe im Wandel, Habilitationsschrift 2017 (Manuskriptfassung); T. Bloom, Noncitizenism. Recognizing Noncitizen Capabilities in a World of Citizens, 2018. 36   Ch. Walter, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013), S.  7 ff., 18. 37  Siehe auch M. Krajewski, Status als Instrument des Migrationsrechts, VVDStRL 76 (2017), S.  124 ff. 38   J. Delbrück, Exercising Public Authority Beyond the State: Transnational Democracy and/or Alternative Legitimation Strategies, Indiana Journal of Global Legal Studies 10 (2003), S.  29 ff. 39  O. Eberl (Hrsg.), Transnationalisierung der Volkssouveränität: Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates, 2011. 32 33

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geschützten Freiheit und Gleichheit das Gemeinwesen mitkonstituieren. Volk meint seine „Citoyennes“40 im Plural. Für die auf der repräsentativen Demokratie (Art.  10 Abs.  1 EUV) beruhende Union tritt ein weiteres Problem von Singular und Plural hinzu: Konzepten kosmopolitischer Demokratie folgend, findet ein von der Menschenwürde her gedacht ohnehin nie notwendig nationalstaatlich gebundenes Legitimationssubjekt im europäischen Volk seine regionale Konkretisierung.41 Ansätze europäischer „Demoi“kratie halten die mitgliedstaatlichen Staatsvölker in ihrem pluralen Zusammenspiel für die entscheidenden Legitimationssubjekte.42 All diese grundsätzlichen Fragestellungen sind der Tatsache geschuldet, dass demokratische Herrschaftsorganisation den nationalen Verfassungsstaat transzendiert und auf der den Staat übergreifenden Ebene nach neuen Subjekten, Institutionen und Verfahren der Legitimationsstiftung sucht. Das ist die eine Seite der Medaille transnationaler Demokratie – die Transnationalisierung nach außen hin. Die andere hat noch sehr viel unmittelbarer mit der Mobilität von Migrantinnen und Migranten zu tun und sei als Transnationalisierung im Inneren charakterisiert. Volkssouveränität darf, wie gezeigt, nicht von einer existenzialistisch überhöhten Einheit her gedacht, sondern muss in Form pluralistischer „Bürgersouveränität“43 gelebt werden. Auch wenn und solange Migrantinnen und Migranten den vollen Staatsbürgerstatus (noch) nicht erlangt haben, bereichern sie als „Co-Citoyennes“ die Bürgergemeinschaft. Ihre Vielfalt mag fordern, auch überfordern und Sprengkraft besitzen, aber dass die allein durch ihr „Hier-Sein“ de facto politische Willensbildungsprozesse beeinflussen – bis hin zur Polarisierung und Radikalisierung – steht wohl außer Frage. Das Bild transnationaler Bürgerschaft sucht diesen Befunden Rechnung zu tragen: „Transnational citizenship highlights the fact that international migration and the ensuing interactions between receiving and sending communities result in the creation of mobile societies beyond the borders of territorial states without dissolving these borders. Whereas national citizenship has been underpinned by a sedentiary ideal, transnational citizenship captures the reality of human mobility and settlement, of multiple belonging and the uprootedness created by processes of transnationalization.“44 40   R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2.  Aufl. 1968; R. Dahrendorf, Citizenship and Beyond: The Social Dynamics of an Idea (1974), in: B. S. Turner/P. Hamiliton (Hrsg.), Citizenship. Critical Concepts, vol. II, 1994, S.  292 ff. 41   J. Habermas, European Citizens and European Peoples. The Problem of Transnationalizing Democracy, in: ders. (Hrsg.), The Lure of Technocracy, S.  29 ff.; M. Ferry, European Integration and the Cosmopolitan Way, in: M. Telò (Hrsg.), The European Union and Global Governance, 2009, S.  929 ff.; J. E. Fossum/A. J. Menéndez, Cosmopolitan Constitutionalism. Pie-in-the sky or Path to the Future, in: FS R. Schmalz-Bruns, 2014, S.  323 ff.; siehe auch P. Niesen, Kosmopolitismus in einem Land, in: ders. (Hrsg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, 2012, S.  311 ff. 42   F. Cheneval/S. Lavenex/F. Schimmelfennig, Demoi-cracy in the European Union. Principles, Institutions, Policies, Journal of European Public Policy 22 (2015), S.  1 ff.; J. Bohman, Democracy Across Borders: From Demos to Demoi, 2007; K. Nicolaïdis, The Idea of a European Demoicracy, in J. Dickson/P. Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical foundations of European Union law, 2002, S.  247 ff. 43   P. Häberle/M. Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2016, S.  302: „Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluss von Bürgern. Demokratie ist ‚Herrschaft der Bürger‘, nicht des Volkes im Rousseauschen Sinne“ (Hervorhebung im Original). 44   D. Kostakopoulou, Thick, Thin and Thinner Patriotisms: Is This All There Is?, Oxford Journal of Legal Studies 26 (2006), S.  73 ff., 84.

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Das entscheidende Stichwort liefern die multiplen Zugehörigkeiten (multiple belonging). Der demokratische Verfassungsstaat hat sich – ohne die damit verbundenen Verunsicherungen durch naiven Multikulturalismus zuzudecken – nicht nur den Statusdifferenzen, sondern auch den Differenzierungen im Zugehören-Wollen, Zugehören-Können und Zugehören-Dürfen seiner Legitimationssubjekte zu stellen – einschließlich derer, die Legitimation mitbedingen, ohne Legitimationssubjekte zu sein. Widerstreitende „allegiances“ und multiple „identites“45 werden mehr und mehr sein täglich Brot im „plebiscite de tous les jours“46. Um ihnen gerecht zu werden, sollte er weniger auf das Substanzhafte bauen, Integration nur von den gemeinsamen Werten her denken – so wichtig deren Vermittlung unbestritten bleibt –, weder „das Wir“ durch unrealistische Integrationserwartungen noch die Anderen durch fehlgeleiteten Assimilierungsdruck überfordern. Er sollte sich vielmehr dessen bedienen, was ihn zum Erfolgsmodell mit universaler Ausstrahlungskraft gemacht hat: seiner Institutionen, seiner Verfahren und der prozeduralen Seite politischer Einheitsbildung. Denn eines sei nicht vergessen. Das „plebiscite de tous les jours“ ist immer auch ein prozedural abgesichertes Ringen um ein sich stetig neu konstituierendes „Wir“.47 „Wir“ und „die Anderen“ sind nur Momentaufnahmen im Integrationsalltag der Demokratie. Die Grenzlinien von heute können morgen schon ganz anders verlaufen.

D.  Eine Frage auf dem Weg zum Wir: Integration durch Partizipation Es wäre deshalb verfehlt, politische Partizipation allein von vorher schon gelungener Integration abhängig zu machen. Partizipation ist umgekehrt eine Vorbedingung und ein Verfahren gelingender Integration. Daraus folgt freilich noch lange nicht die undifferenzierte Forderung nach einem weitreichenden Ausländerwahlrecht. Selbst ein bloßes Kommunalwahlrecht48 für Nicht-EU-Bürger war im Jahre 2017 noch immer ein ausgesprochenes Reizthema.49 Darüber weiterhin nachzudenken, sollte indes kein Tabu sein, an interessanten Theorieangeboten wie z.B. der „Urban Citizenship“50 fehlt es ohnehin nicht. Gefordert aber ist vor allem Kreativität mit Blick auf niedrigschwelligere Partizipationsmöglichkeiten, die der Idee eines gestuften Zugehörigkeitsstatus folgen. Das kann bei Bürgerversammlungen beginnen und etwa über die Betätigung innerhalb politischer Parteien zu anderen Formen aktivbürgerlicher Mitwirkung in politischen Gemeinschaften hin ausgreifen. 45  F. Jenkins/M. Nolan/K. Rubenstein (Hrsg.), Allegiance and Identity in a Globalised World, 2014. 46   E. Renan, Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, übersetzt von Henning Ritter, mit einem Essay von Walter Euchner, 1996. 47   Angelegt bei P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 3.  Aufl. 1998. 48   Vor Einführung der Unionsbürgerschaft BVerfGE 83, 37 und BVerfGE 83, 60. 49  http://www.focus.de/politik/deutschland/einflussmoeglichkeit-fuer-erdogan-nrw-regierungwill-kommunalwahlrecht-fuer-auslaender-cdu-laeuft-sturm_id_6770659.html. 50   A. Kewes, Urban Citizenship – Oder: Über den Versuch, dem „System“ auf Augenhöhe zu begegnen, in: A. Rother (Hrsg.), Migration und Demokratie, 2016, S.  139 ff.

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Die Parteien (Art.  21 GG) liefern hier ein besonders wichtiges Stichwort, weil sie einerseits ein grundlegendes Bindeglied zwischen Staat und ihn konstituierender Zivilgesellschaft darstellen51, anderseits auch in Nicht-Bürgern als Wohnbürgern ein nicht zu unterschätzendes Klientel – bis hin zur Parteimitgliedschaft – finden.52 Parteiendemokratie ermöglicht politische Deliberation53, Parteien tragen entscheidende Mitverantwortung für das, was gerne mit dem Anglizismus des „responsive and responsible government“54 umschrieben wird. Sie geben Antwort und vermitteln Verantwortungszusammenhänge, wie sie die Verfassung etwa in Art.  38 GG zwischen Repräsentanten und Repräsentierten konstituiert. Wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG Vertreter des ganzen Volkes sind, schließt das ein Mindestmaß an Mitverantwortung für den Nicht-Bürger-Anteil unter den Mit-Bürgern ein. Je stärker politische Parteien ihr Programm – gerade in Sachen Migrationsrecht, Flüchtlingsrecht, Zuwanderung – an den Bedürfnissen von Nicht-Bürgern mitausrichten, weil diese via Gruppenzugehörigkeit – man denke etwa an in Deutschland lebende türkisches Staatsangehörige und deutsche Staatsbürger mit türkischem Migrationshintergrund – Einfluss auf Wahlbürger haben, umso intensiver sind die „Denizens“ Adressaten von „response“, umso selbstverständlicher erwarten sie „responsibility“. Neben den Parteien geht es immer auch um andere Aktivkräfte der Zivilgesellschaft und ihre Teilhabe an der politischen Willensbildung bzw. ihre Mitwirkung bei der Gemeinwohlkonkretisierung. Gemeinwohl kann ebenso wenig vorgegeben sein, wie menschliches Wissen Absolutheitsansprüche erheben könnte. Es gibt keinen absoluten Wahrheitsanspruch, der Mensch neigt zu Machtmissbrauch, ist durch Totalitätsansprüche verführbar. Deshalb muss der politische Wille in einem freien, offenen und öffentlichen Prozess kontinuierlich neu gebildet werden, sind an der fortwährenden Gemeinwohlkonkretisierung alle zivilgesellschaftlichen Akteure beteiligt: Verbände und Interessengruppen, Gewerkschaften, Kirchen, Bürgerinitiativen, Lobbys etc. Hier finden auch Nicht-Staatsangehörige Resonanzraum und Mitgestaltungsmöglichkeiten jenseits formalisierter demokratischen Entscheidungsprozesse. So wie Migration diese Aktivkräfte verändert, verändert sie auch die Demokratie als solche. Weil es bei all dem immer auch um die Frage geht, wie das Volk zum „demos“ wird, sei noch einmal betont: Das Wir im „We the People“ kann niemals statisch, sondern immer nur dynamisch gedacht werden. Das beginnt mit der Inklusions-Dynamik der Verfassunggebung und setzt sich in der Betätigung der verfassten Gewalt fort. Demokratische Gesetzgebung qualifiziert als immer neuer Akt der Selbst­ kon­stitution, vor allem im Gesetzgebungsprozess findet die politische Gemeinschaft immer aufs Neue zum „Wir“55. Das gilt gerade dort, wo der Demos in parlamentari51   K. Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat (1959), in: ders., Ausgewählte Schriften, Heidelberg, 1984, S.  59 ff. 52  Früh Ch. von Katte, Die Mitgliedschaft von Fremden in politischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland, 1980. 53   J.S. Fishkin, When the People Speak. Deliberative Democracy and Public Consultation, 2011. 54   P. Mair, Representative versus Responsible Government, in: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) Working Paper, 09/8, 2009. 55   S. Benhabib, Die philosophischen Grundlagen kosmospolitischer Normen, in: dies., Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit J. Waldron/B. Honig/W. Kymlicka (hrsgg. von R. Post), 2008, S.  19 ff., 39: „Jeder selbstgesetzgebende Akt ist zugleich ein Akt der Selbstkonstitution. We the People,

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schen Verfahren um die Definition seiner selbst durch Veränderung des Staatsbürgerschafts- und Migrationsrechts ringt oder um Partizipationsrechte von Nicht-­Staats­ bürgern streitet.56 Die Leitfragen lauten: Wie soll die politische Gemeinschaft beschaffen sein, der wir zugehören wollen? Wer soll ihr zugehören, wie intensiv an ihrer Gestaltung mitwirken dürfen? Exklusionen stehen immer unter einem er­ höhten Rechtsfertigungsdruck. Soll, wie eine viel berufene Metapher impliziert, der Demos „personale Schicksalsgemeinschaft“57 sein, so wesentlich gestaltendes Subjekt und nicht erleidendes Objekt diesen „Schicksals“. Die Polarisierung politischer Debatten durch Migration58 und über Migration muss für eine lebendige Demokratie daher das Schlechteste nicht sein. Sie kann vielmehr Demokratisierungsimpulse vermitteln, weil sie die vermeintliche Selbstverständlichkeit von Zugehörigkeit in Frage stellt.

E.  Eine Frage des Ausgleichs beim Wir: Im Spannungsfeld von demokratischem Mehrheitsprinzip und menschenrechtlichem Minderheitenschutz Aber auch ein noch so dynamisches Wir-Verständnis kann nicht darüber hinweghelfen, dass in Migrationsgesellschaften die Diskrepanz zwischen vom Prinzip demokratischer Selbstbestimmung59 getragenen Exklusionsrechten und menschenrechtlich determinierten Teilhaberechten wächst. Die Konflikte liegen auf der Hand. Weil Menschenrechte von ihrem status negativus her staatliche Gestaltungsmacht und damit auch staatliche Migrationsverhinderung begrenzen, weil sie von ihrem status positivus, status activus oder status processualis her zu hoheitlichem Gestalten verpflichten, diesem normative Orientierung geben, Migration teils ermöglichen, teils limitieren, aber immer von einem Konzept menschenrechtlichen Freiheitsgebrauchs (und allen damit verbundenen Konfliktrisiken – Freiheitsgebrauch gelingt nur selten konfliktfrei) her fassen wollen, setzen sie auch dem demokratisch legitimierten Exklusionswillen innerhalb einer politischen Gemeinschaft Grenzen. Weil die differenzierten „status“ von Zugehörigkeit darüber hinaus menschenrechtlich determiniert sind, weil Menschenrechte unterschiedliche Formen von Zugehörigkeit abwehr-, leistungs-, teilhaberechtlich und prozedural ausgestalten, nehmen sie eine politische Gemeinschaft in Gestaltungsverantwortung. Sie buchstabieren differenzierte Teilhabedie wir darin übereinkommen, uns durch diese Gesetze zu binden, definieren uns im Akt der Selbstgesetzgebung zugleich unmittelbar als ein Wir.“ 56   BVerfGE 83, 27 und BVerfGE 83, 60. 57   J. Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in: FS P. Mikat, 1989, S.  705 ff., 709 f.: „Das Bild des Staatsvolkes ist (…) die politische Schicksalsgemeinschaft, in welche die einzelnen Bürger eingebunden sind. (…). So liegt in der grundsätzlich dauerhaften und grundsätzlich ausschließlichen personalen Zugehörigkeit zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft ein Gewähr für demokratisches Bürgerethos.“ Kritisch J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung, 1992, S.  632 ff., 633. 58   D. Oberndörfer, Die Bundesrepublik Deutschland – Demokratisierung durch Zuwanderung, in: S. Rother (Hrsg.), Migration und Demokratie, 2016, S.  16 ff. 59   Zum Verhältnis von Volkssouveränität und Selbstbestimmungsrecht J. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, 2010, S.  72 und öfter.

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möglichkeiten des Einzelnen am Leben einer politischen Gemeinschaft aus. Das beginnt mit der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie sogar schon dort, wo an politische Gemeinschaftsbildung noch gar nicht zu denken ist. Menschheitlich begründetes Zugehören, durch die universellen Menschenrechte basal ausgestaltet, mündet gewiss nicht in ein Freizügigkeitsregime für Weltbürger ohne Grenzen, begründet aber ein Überlebensrecht, an dem kein Migrationsregime vorbei kommt und das auch dem Mehrheitsprinzip60 Grenzen setzt. So schwierig umfassender Ausgleich zwischen Exklusionswillen und Inklusionsanspruch im Einzelfall auch sein mag, muss die freiheitliche Demokratie die menschenrechtliche Seite ihrer Migrationsregime ebenso wie den hier oft zum Tragen kommenden Schutzanspruch von Minderheiten ernst nehmen.

F.  Das Wir im Wandel Migration ist, weltgeschichtlich betrachtet, ein Kontinuum menschlicher Sozialisation61, aber in hohem Maße kontextabhängig.62 Sich wandelnde gesellschaftliche, politische, ökonomische oder ökologische Rahmenbedingungen lassen zusammen mit den Migrantinnen und Migranten auch Grundannahmen politischer Gemeinschaftsbildung und demokratischer Herrschaftsorganisation in immer dynamischere Bewegung geraten.63 Weder ein naiver Kosmopolitismus mit einem Weltbürgertum ohne ausdifferenzierten Bürgerstatus – jenseits eines relativ basalen menschenrechtlichen „status mundialis hominis“64 – noch ein Festhalten an der überkommenen Dualität von Bürgern und Nicht-Bürgern können darauf probate Antworten geben. Auch vorliegend Skizze hat solche nicht parat. Sie will nur ein wenig Bewegung bringen in das Nachdenken über „We the People on the Move.“ Dazu die folgenden Schluss­ thesen: 1. Die zentrale sei vorangestellt: Das demokratische Wir ist nicht vorgegeben, sondern in beständigem Werden begriffen. Neue Formen politischer Gemeinschaft, zusammengesetzt aus Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen, sind längst Wirklichkeit. Sie erfordern angemessene Institutionen und Verfahren zur Wir-Bildung. Dem wollen etwa die Ansätze einer „Denizenship“ Rechnung tragen.65 60   N. Magsaam, Mehrheit entscheidet. Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014; zur „sozialen Logik von Mehrheitsentscheidungen M. Morlok, Informalisierung und Entpolitisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung, VVDStRL 62 (2003), S.  37 ff., S.  67. 61   M. H. Fisher, Migration: A World History, 2014. 62  Siehe auch K. Odendahl, Migrationssteuerung im Mehrebenensystem, VVDStRL 76 (2017), S.  47 ff., 53. 63   K. Hailbronner/D. Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S.  753 ff., 753: „Es gibt Situationen, in denen Grundannahmen in Bewegung geraten. Die Flüchtlingskrise bewirkt eine solche Unruhe (…).“ 64   P. Häberle schon in seiner „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, 2.  Aufl. 1998, S.  724 ff.; ders., Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, S.  355. 65   J. Bast, Denizenship als rechtliche Form der Inklusion in eine Einwanderungsgesellschaft, ZAR 2013, S.  353 ff.; N. Matz-Lück, Denizenship und Staatsangehörigkeit im Spiegel rechtlicher Integration.

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2. Weil auch das Selbstbestimmungsrecht menschenrechtlich limitiert ist, werden demokratische Gesellschaften mit Konflikten zwischen dem selbstbestimmten Exklusionswillen des demokratischen Souveräns und menschenrechtlichen Zugehörigkeitsansprüchen leben müssen. 3. Modelle gestufter Zugehörigkeit liefern Ansätze zur Konfliktlösung. a. Art.  1 der Genfer Flüchtlingskonvention66 fasst mit seiner restriktiven Definition der Flüchtlingseigenschaft das Minimum an Zugehören-Dürfen besonders restriktiv. Der Status ist gebunden an die begründete Furcht vor individueller Verfolgung wegen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.67 Kriegsflüchtlinge sind nicht automatisch umfasst68, politische Partizipationsrechte sind nicht mitgedacht. b. Das Modell des europäischen Flüchtlingsrechts geht weiter. Sind die Voraussetzungen einer so spezifizierten individuellen Verfolgung nicht gegeben, sondern die Betroffenen im Rahmen eines Krieges oder Bürgerkrieges einer ernsthaften, wiederum individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt, so greift der Status als subsidiär Schutzberechtigte.69 Auch dieser Status legt keine expliziten Teilhaberecht an. c. Spezifische Zugehörigkeitsansprüche mögen sich in Konsequenz einer kolonialen Vergangenheit begründen lassen und aufgrund dieser Vorgeschichte weiterreichen. Politische Gemeinschaften mit Kolonialgeschichte tragen für die politische Einbindung von Migrantinnen und Migranten aus den ehemaligen Kolonien daher eine besondere Verantwortung. d. Die Idee einer mindestzugehörigkeitsbegründenden sozialen Verantwortung allein aufgrund globaler Marktteilnahme greift sicher schon ins Utopische aus70, zeigt aber, wie eng ökonomische Teilhabe und politische Partizipation in ihren Freizügigkeitsperspektiven miteinander verbunden sind. e. Demokratische Verfassungsstaaten und regionale Verantwortungsgemeinschaften wie die EU haben es demgegenüber in der Hand, Modelle ganz eigenständiger Zugehörigengemeinschaften zu entwickeln und dabei einerseits im Kontext der Unionsbürgerschaft die Emanzipation vom bloßen Marktbürger71 zum echten cito­ Eine Betrachtung der Kriterien staatlicher Zugehörigkeit und politischer Teilhabe im Wandel, Habilitationsschrift 2017 (Manuskriptfassung). 66   G. S. Goodwin-Gill/J. McAdam, The Refugee in International Law, 2007; J. C. Hathaway/M. Foster, The Law of Refugee Status, 2014. 67   S. Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unionsund völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, S.  735 ff., 736; H. Döring/Ch. Lagenfeld, Vollharmonisierung des Flüchtlingsrechts in Europa, NJW 2016, S.  1 ff., 2. 68   P. Boeles/M. Den Heijer/G. Lodder/K. Wouters, European Migration Law, 2014, S.  307 f. 69   Weitere Nachweise bei S. Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, S.  735 ff., 736. 70   I. M. Young, Verantwortung und globale Gerechtigkeit. Ein Modell sozialer Verbundenheit, in: Ch. Broszies/H. Hahn (Hrsg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, 2010, S.  329 ff. 71   E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970; A. Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: Gedächtnisschrift für E. Grabitz, 1995, S.  580 ff.; J. Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S.  91 ff., 142 spricht von einem „funktionalistisch reduzierten Personenkonzept“; weiterhin P. Boeles/M. Den Heijer/G. Lodder/K. Wouters, European Migration Law, 2014, S.  30 ff. („Free Movement of the Market Citizen“).

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yen voranzutreiben72, andererseits über die Unionsbürgerschaft hinaus Nicht-Bürgern differenzierte Zugehörigkeitsangebote zu machen und politische Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen. Wie weit diese reichen sollen, wird in demokratischen Gesellschaften immer streitig bleiben. Gerade in Zeiten um sich greifender Populismen und der Verabsolutierung der jeweils eigenen Position sei nachdrücklich daran erinnert, dass demokratische Politik von ihrer Kompromissfähigkeit und klugem Ausgleich lebt. f. Ein diffuses Weltbürgertum ist sicher nicht die zugehörigkeitsstiftende Antwort auf die Herausforderungen, die Migrationsbewegungen an die Demokratie stellen. Ein Denken und Handeln in „weltbürgerlicher Absicht“ kann aber durchaus weiterhelfen.

72   R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2.  Aufl. 1968; R. Dahrendorf, Citizenship and Beyond: The Social Dynamics of an Idea (1974), in: B. S. Turner/P. Hamiliton (Hrsg.), Citizenship. Critical Concepts, vol. II, 1994, S.  292 ff.; U. K. Preuß, Der EU-Staatsbürger – Bourgeois oder Citoyen, in: G. Winter (Hrsg.), Das Öffentliche Heute, 2002, S.  179 ff.; P. Boeles/M. Den Heijer/G. Lodder/K. Wouters, European Migration Law, 2014, S.  49 ff. („Free Movement of EU Citizens and Their Families“).

Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes von

Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Universität Freiburg Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 II. Das Volk als Subjekt der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 III. Nation – Ethnos – Selbstbestimmungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 1. Volk und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 2. Das Volk als Subjekt des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 3. Das Volk als Schutzobjekt im Völkerrecht und das Recht auf Wahrung der ethnischen, kulturellen und nationalen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 4. Demokratie – Freiheit – Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 5. Zwischenergebnis: Volk und Nation – keine Tabubegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 IV. Die Entscheidung des Grundgesetzes für den Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 1. Die Grundentscheidung für die deutsche Nationalstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 2. Die Unabänderlichkeit der Grundentscheidung für den Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 3. Die Grundentscheidung für den Nationalstaat und die Änderung der Präambel . . . . . . . . . . . . 407 V. Die Identität des Staatsvolkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 1. Kein Subjektwechsel ohne neue verfassunggebende Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 2. Identität des Staatsvolkes und nationale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 3. Nationale Identität des Staatsvolkes und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 a) Das konkrete Subjekt der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 b) Widerspruch zwischen formeller Definition und materieller Identität des Staatsvolkes? . . . . . . 415 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 VI. Folgerungen für die Einwanderungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 1. Wahrung der nationalen Identität als legitimes Ziel der Migrationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 417 2. Das Prinzip der (europaoffenen) Nationalstaatlichkeit als Grenze der Einwanderungspolitik . . . 418 a) Dauerhafte Einwanderung, insbesondere Arbeitsmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 b) Aufnahme von Schutzsuchenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 c) Angeblich Schutzsuchende als dauerhafte Einwanderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 3. Die Identität des Staatsvolkes als Grenze der Einwanderungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 1. Nationalstaats- und Demokratieprinzip – zu den Maßstäben für die Einwanderungspolitik . . . . 426

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2. Zu möglichen Folgerungen für die Einwanderungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 3. Zur konkreten Situation: Ist der Nationalstaat bereits obsolet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428

I. Einleitung Als im Spätsommer 2015 Bundeskanzlerin Merkel die Grenzen für Millionen Immigranten öffnete, für Flüchtlinge und angebliche Flüchtlinge, begleitete sie ihre Entscheidung mit dem Satz, es könne keine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen geben. Das Grundgesetz lasse das nicht zu.1 Die Medien, die damals nahezu unisono die Politik der Kanzlerin bejubelten,2 transportierten diese Falschinformation bereitwillig und kritiklos. Das wirkt bis heute nach. Dabei ist es völlig klar, dass das Grundgesetz die Bundesregierung nicht verpflichtet, Immigranten in unbegrenzter Zahl einreisen zu lassen. Diskutieren könnte man allenfalls, ob es eine solche Pflicht in Bezug auf Asylberechtigte gibt.3 Nur hätte eine solche Diskussion keine praktische Relevanz: Unter den Hunderttausenden, die seit 1995 nach Deutschland gekommen sind, erfüllen nur ganz Vereinzelte die Voraussetzungen von Art.  16a GG.4 Abgesehen davon, dass die meisten nicht politisch verfolgt sind, kommen fast alle über sichere Drittstaaten nach Deutschland, so dass sie schon aus diesem Grunde keinen Asylanspruch haben (Art.16a Abs.  2 GG).5 Die Frage ist daher nicht, ob die zuständigen deutschen Staatsorgane eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen und sonstigen Immigranten ohne Verstoß gegen das Grundgesetz festlegen dürften, wenn sie es politisch wollten, sondern die Frage ist, ob das Grundgesetz sie dazu verpflichtet, die Zuwanderung zu begrenzen. Meine These ist: Die Antwort lautet „ja“.6 Verfassungsrechtliche Grenzen für   Merkel bezog sich zur Begründung zwar auf das Asylrecht, lehnte die Begrenzung der Aufnahme von Immigranten aber generell ab, also auch für diejenigen, die ersichtlich keinen Asylanspruch haben, vgl. z.B. rp-online 11.9.2015, www.rp-online.de/politik/deutschland/angela-merkel-das-grundrechtauf-asyl-kennt-keine-obergrenze-aid-1.5383275 (abgerufen am 12.12.2017). 2   Zur Medienberichterstattung über die Flüchtlingskrise vgl. z.B. die Studie von Michael Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information, 2017. 3   M.E. ist das nicht der Fall. Wer sich in Deutschland befindet, kann einen Asylantrag stellen und hat dann einen Anspruch darauf, bis zur Entscheidung über diesen Antrag hier zu bleiben. Es gibt aber keinen Anspruch auf Einreise zu dem Zweck, einen Asylantrag zu stellen, wenn nicht die Voraussetzungen des Refoulement-Verbotes (Art.  33 Genfer Flüchtlingskonvention) erfüllt sind; und selbst für diesen Fall ist es streitig, ob lediglich die Abschiebung eines bereits eingereisten, oder auch die Zurückweisung eines einreisebegehrenden Flüchtlings von dem Verbot erfasst ist, vgl. Klaus Ritgen, Völker-, unions- und verfassungsrechtliche Möglichkeiten einer Begrenzung der Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden, DVBl. 2016, S.  137 (142); Stefan Haack, Die Immigrationshoheit des Staates und deren Einschränkung durch das Völkerrecht und das EU-Recht, in: Julia Iliopoulos-Strangas u.a. (Hg.), Migration – Migration – Migrations, 2017, S.  113. 4   In den letzten zehn Jahren lag die Anerkennungsquote durchschnittlich bei 1 %. Das waren rund 1.400 Asylberechtigte pro Jahr, vgl. BaMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl November 2017, S.  10. 5   Dazu z.B. Helge Sodan, Das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.  172–184. 6   Ich habe diese These bereits bald nach Merkels Willkommens-Ukas publiziert: Dietrich Murswiek, Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.  123–139. 1

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die Einwanderung ergeben sich zunächst aus der Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit des Staates und der einzelnen Staatsfunktionen aufrechtzuerhalten.7 Es geht insofern vornehmlich, aber nicht ausschließlich, um Grenzen der Leistungsfähigkeit des Staates, die sich auf die Staatsfunktionen auswirken: – Der Staat ist zur Staatlichkeit verpflichtet. Er muss seine Kernfunktion erfüllen, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Das Grundversprechen, welches allein das staatliche Gewaltmonopol und die Friedenspflicht der Bürger rechtfertigt, nämlich das Versprechen, die Einzelnen wirksam gegen Gewaltanwendung durch Dritte zu schützen, kann der Staat nur erfüllen, wenn mit steigender Einwohnerzahl und mit dem Anwachsen von Gefährdungspotentialen auch die Sicherheitskräfte entsprechend ausgebaut werden. Dies könnte bei einer Masseneinwanderung zumindest vorübergehend problematisch werden. – Einwanderung darf nicht dazu führen, dass der Rechtsstaat – partiell – funktionsunfähig wird. Das wäre der Fall, wenn die Rechtsdurchsetzung schwerwiegend beeinträchtigt würde, zum Beispiel, weil infolge einer Massenimmigration die personellen Ressourcen der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte für eine effektive Strafverfolgung nicht mehr ausreichten; oder wenn wegen hunderttausender Asylverfahren die Verwaltungsgerichte ihre sonstigen Fälle nicht mehr in angemessener Zeit erledigen könnten. Durch Einwanderung kann der Rechtsstaat auch dann beeinträchtigt werden, wenn sie zu Problemen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung führt, die nur durch umfangreiche Überwachungsmaßnahmen oder andere Freiheitseinschränkungen bewältigt werden können und auf diese Weise das Niveau der Freiheitlichkeit des Gemeinwesens erheblich absinkt. – Unbegrenzte Einwanderung kann dazu führen, dass der Sozialstaat weitgehend funktionsunfähig wird.8 Auch dies lässt das Grundgesetz nicht zu. Ein Sozialstaat kann nur für eine konkrete Solidargemeinschaft – innerhalb eines durch Grenzen definierten Staates9 – funktionieren. Abgesehen von diesen Grenzen der Einwanderung, die sich aus den Prinzipien der Staatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit ergeben, ist unbegrenzte Einwanderung mit dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit und mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Nur mit diesen letzten beiden Aspekten befasst sich die vorliegende Abhandlung. Ich werde zunächst auf das Subjekt der Demokratie eingehen (II.); das ist in Deutschland nach fast einhelliger, wenngleich nicht unstreitiger Ansicht das deutsche Staatsvolk. Ich werde danach die Zusammenhänge zwischen Staatsvolk und Nationalstaat (IV.) sowie zwischen Staatsvolk und Volk im ethnischen Sinne (V.) beleuchten, um schließlich zu Schlussfolgerungen für die Einwanderungspolitik zu gelangen (VI.). Dazu werde ich einen kleinen Umweg machen: Da die Begriffe Nation, Nati  Dazu bereits Murswiek (Fn.  6), S.  129 f.   Vgl. z.B. Rolf Peter Sieferle, Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung, 2017, insb. S.   23 ff.; Rupert Scholz, Kein Asylrecht ohne Grenzen, FAZ v. 14.10.2015, S.  8. 9   Die Erstreckung auf einen konkreten Staatenverbund wie die Europäische Union wäre nicht unmöglich, würde aber wohl zu einer erheblichen Absenkung der Sozialstandards führen müssen. Die Öffnung der Sozialsysteme für alle Menschen aus Drittstaaten müsste zum Zusammenbruch der Sozialsysteme führen. 7 8

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onalstaat und Volk im ethnischen Sinne in der Öffentlichkeit und im herrschenden Politikbetrieb zunehmend als obsolet betrachtet, wenn nicht in Tabuzonen gerückt werden, werde ich hierzu einige Klarstellungen vornehmen (III.), bevor ich zur deutschen Verfassungsrechtslage komme.

II.  Das Volk als Subjekt der Demokratie Das Grundgesetz versteht Demokratie als das Prinzip, anhand dessen die Staatsgewalt sich zu legitimieren hat. Dieses Prinzip fasst Art.  20 Abs.  2 GG in einen einzigen Satz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Der nächste Satz konkretisiert dieses Prinzip: „Sie“ – die Staatsgewalt – „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Demokratie im Sinne des Grundgesetzes ist somit ein Legitimations- und Organisationsprinzip: Die Staatsgewalt wird dadurch legitimiert, dass sie vom Volk ausgeht. Der Staat muss so organisiert sein, dass er dieser Legitimationsanforderung entspricht. Soweit das Volk die Staatsgewalt nicht selbst ausübt, sondern die Ausübung der öffentlichen Gewalt den Organen der Legislative, der Exekutive und der Judikative übertragen ist, müssen diese ihrerseits ihre Legitimation vom Volk ableiten können. Legitimationskriterium der grundgesetzlichen Demokratie ist mithin die Rückführbarkeit alles staatlichen Handelns auf ein bestimmtes Subjekt, nämlich das Volk. Das ist es, was Art.  20 Abs.  2 GG zum Ausdruck bringt, und das bezeichnet man auch als „Volkssouveränität“. Wer aber ist das Volk? Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der ganz überwiegenden Literaturmeinung bezeichnet Art.  20 Abs.  2 GG mit „Volk“ das deutsche Staatsvolk, das aus der Summe der deutschen Staatsangehörigen besteht.10 Ich will die – meines Erachtens überzeugenden – Argumente, die das Bundesverfassungsgericht für seine Auffassung vorgetragen hat, hier nicht wiederholen, sondern verweise darauf.11 In der Literatur wird daran vereinzelt Kritik geübt.12 Mich überzeugt diese Kritik nicht. Soweit sie mit rechtsphilosophischen oder mit demokratietheoretischen Argumenten arbeitet, sind diese verfassungsrechtlich irrelevant. Und wenn das Grundgesetz das deutsche Staatsvolk als das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ausweist, dann spricht nichts dafür, dass das Subjekt der verfassten Demokratie ein anderes sein sollte. Auch aus den Menschenrechten, insbesondere aus der Garantie der Menschenwürde, ergibt sich nicht, dass jeder Mensch, der in Deutschland lebt, wahlberechtigt sein muss. Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar die Demokratie in der Men10  Vgl. BVerfGE 83, 37 (50 ff.) – Kommunalwahlrecht Schleswig-Holstein [1990]; 83, 60 (71) – Hamburgische Bezirksversammlungen [1990]; und z.B. Josef Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in: FS Paul Mikat, 1989, S.  705 (718 ff.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, 3.  Aufl. 2004, §  24 Rn.  26 ff.; Christian Seiler, Staatsvolk, in: FS Paul Kirchhof, 2013, §  2 . 11  BVerfGE 83, 37 (50 ff.) – Kommunalwahlrecht Schleswig-Holstein [1990]. 12   Vgl. z.B. Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), S.  305 ff.

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schenwürde wurzeln.13 Das ist insofern zutreffend, als die staatsbürgerliche Gleichheit – das Fundamentalprinzip der Demokratie – auf der gleichen Menschenwürde aller Bürger beruht. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die staatsbürgerlichen Rechte allen Menschen (beziehungsweise jedenfalls denen, die sich in Deutschland auf halten) kraft ihres Menschseins zustehen. Das Grundgesetz setzt vielmehr die Unterscheidung von Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen voraus und weist die staatsbürgerlichen Aktivrechte nur den Staatsangehörigen zu – entweder ausdrücklich, wie in Art.  33 Abs.  1 und 2, oder implizit. Das ist kein – wegen Verstoßes gegen Art.  1 Abs.  1 GG – verfassungswidriges Verfassungsrecht, und zwar nicht nur deshalb, weil es der Verfassunggeber selbst (und nicht der an Art.  79 Abs.  3 GG gebundene verfassungsändernde Gesetzgeber) gewesen ist, der diese Unterscheidung getroffen hat. Denn die Annahme, jemand werde in seiner Menschenwürde allein dadurch verletzt, dass er trotz Aufenthalts in Deutschland nicht die deutsche Staatsangehörigkeit und die damit verbundenen politischen Aktivrechte hat, geht am Gehalt der Menschenwürdegarantie vorbei; eine Missachtung der allen Menschen gleichermaßen zukommenden Würde ist darin nicht zu erkennen.14 Auch die Annahme, Legitimationssubjekt der Demokratie – oder gar Souverän – sei nicht das Volk, sondern das Individuum,15 lässt sich nicht auf das Grundgesetz stützen. Sie ist auch demokratietheoretisch nicht begründbar. Wer von der „Souveränität des Individuums“ redet statt von Volkssouveränität, hat keinen spezifischen Begriff von Souveränität. Souveränität bedeutet rechtlich unabgeleitete Herrschaft; sie impliziert zum Beispiel das Rechtsetzungsmonopol und das Monopol legitimer Gewaltsamkeit. Souveränität kann Attribut eines Einzelnen nur in der Monarchie oder in einer Diktatur sein, nicht aber in der Demokratie. Auch Legitimationssubjekt kann in der Demokratie nicht der Einzelne sein. Er kann an der Legitimation der Staatsgewalt mitwirken. Man kann ihn, wenn man will, als Mitwirkungssubjekt bezeichnen. Aber er ist als Einzelner nicht Legitimationssubjekt. Denn die Staatsgewalt kann nur legitim oder nicht legitim sein; sie kann nur vom Legitimationssubjekt „ausgehen“ oder „nicht ausgehen“, aber niemals beides zugleich. Sie kann daher nicht von Millionen einzelner Bürger ausgehen. Da die Bürger unterschiedliche Meinungen haben und bei Wahlen und Abstimmungen unterschiedlich entscheiden, muss feststehen, auf wessen Stimme es ankommt, damit die Staatsgewalt demokratisch legitimiert ist. Es sind sich aber alle darüber einig, dass dies nie die Stimme eines bestimmten Einzelnen sein kann, sondern es kommt immer auf die Mehrheit an – auf diejenige Mehrheit, die in der Verfassung und in den Gesetzen genauer festgelegt ist. Das kann – bezogen auf die Gesamtheit der Bürger – auch eine Minderheit sein, etwa bei geringer Wahlbeteiligung oder bei geringer   Vgl. z.B. BVerfGE 142, 123 (Rn.  124) – OMT [2016] m.w.N.   Vgl. z.B. Josef Isensee; Menschenwürde: Rettungsinsel in der Flüchtlingsflut?, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.  231 (243); ders. (Fn.  10), S.  737 f.; Klaus Ferdinand Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013), S.  49 (106 f.) m.w.N.; zum Unterschied von demokratischer Gleichheit und allgemeiner Menschengleichheit Böckenförde (Fn.  10), Rn.  46 f.; tendenziell a.A. Christian Walter, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013), S.  7 (39 f.). 15  So z.B. Bryde (Fn.  12), S.  322; Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S.  148 (190). 13 14

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Beteiligung an einem Volksentscheid, für dessen Gültigkeit nur ein geringes Beteiligungsquorum gilt. Entscheidend ist: Die legitimierenden Entscheidungen werden immer von einer Gruppe getroffen – nie vom einzelnen Bürger oder vom Individuum allein. Legitimationssubjekt der Demokratie ist notwendigerweise ein Kollektivsubjekt. Dieses Kollektivsubjekt wird im Grundgesetz „Volk“ genannt. Jedes Kollektivsubjekt setzt sich aus Individuen zusammen. Dies gilt für jedes kollektive Staatsorgan, also zum Beispiel Regierung und Parlament, aber auch für das Volk. Kollektivsubjekte handeln durch die Individuen, die nach den jeweils geltenden Verfahrens- und Entscheidungsregeln entscheiden, insbesondere nach dem Mehrheitsprinzip. Diese Entscheidungen werden dem Kollektiv zugerechnet. Subjekt der Entscheidung ist dann das jeweilige Kollektiv, auch wenn die Entscheidung nur durch die Mitwirkung der ihm angehörigen Individuen getroffen werden kann. – Die Demokratie ist die Staatsform, in der die Bürger auf der Basis der Gleichheit sich selbst zu einem Gemeinwesen organisieren. Sie sind die Grundlage des Staates, und jeder einzelne spielt insofern eine notwendige Rolle. Aber nicht jeder einzelne Bürger ist Legitimationssubjekt der Demokratie, sondern alle in ihrer Gesamtheit.16 Und diese Gesamtheit bezeichnet das Grundgesetz als Volk. Zwischenergebnis: Subjekt der Demokratie ist in Deutschland das deutsche Staatsvolk, also die Summe der deutschen Staatsangehörigen.17 Die Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk setzt daher nicht die Zugehörigkeit zum deutschen Volk im ethnischen Sinne voraus. Der Begriff des Volkes im ethnischen Sinne – gekennzeichnet durch Merkmale wie gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, Abstammung – ist ein soziologischer Begriff. Für den Status der Staatsangehörigkeit ist dieser Begriff grundsätzlich irrelevant.18 Dies heißt aber nicht, dass das Volk im ethnischen Sinne überhaupt keine rechtliche Bedeutung hat, wie ich im folgenden zeigen werde.

III.  Nation – Ethnos – Selbstbestimmungsrecht 1.  Volk und Nation Für den Parlamentarischen Rat war das deutsche Staatsvolk das Staatsvolk der deutschen Nation. Die ursprüngliche Präambel brachte das mit der Formulierung zum Ausdruck, das deutsche Volk habe das Grundgesetz beschlossen „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren“. Deutschland ist hiernach der Staat, in dem das deutsche Volk als Nation sich zu einer politischen Einheit organisiert. Was kennzeichnet die Nation im Unterschied zum Volk? Verstehen wir „Volk“ zunächst als Staatsvolk, dann kann damit nur das Volk eines bereits existierenden Staates gemeint sein – die Summe der Staatsangehörigen dieses konkreten Staates. Auch der Begriff der Nation wird in der Regel mit Staatsbezug verwendet, und in  Vgl. Böckenförde (Fn.  10), Rn.  27.   Hinzu kommen die „Statusdeutschen“ gemäß Art.  116 Abs.  1 GG. 18   Ausnahme: die „Statusdeutschen“. 16 17

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der Grundgesetzpräambel steht er im Kontext mit der staatlichen Einheit. Aber er ist nicht in derselben Weise wie der Begriff des Staatsvolkes mit dem Staat verknüpft, sondern kann auch eine Gruppe von Menschen bezeichnen, die einen eigenen Staat erst gründen wollen. Unter einer Nation kann man ein Volk im soziologischen Sinne verstehen, das ein Bewusstsein seiner Identität und den Willen hat, eine politische Einheit zu bilden, sich also in einem eigenen Staat zu organisieren.19 Bei bestehenden Staaten kann der Wille des Staatsvolks zur eigenen Staatlichkeit unterstellt werden, solange kein entgegenstehender Wille explizit geäußert wird. Deshalb sind in unproblematisch existierenden Staaten – also Staaten, deren Existenz nicht beispielsweise durch Sezessionsbestrebungen infrage gestellt wird – Staatsvolk und Nation identisch. Der Begriff des Staatsvolkes kennzeichnet die rechtliche Zugehörigkeit, der Begriff der Nation das politische Einheits- und Identitätsbewusstsein. Divergenzen kann es vor allem dann geben, wenn der Wille eines Volkes zur Staatsbildung und die konkrete Staatlichkeit – insbesondere auch territorial – divergieren. In Deutschland war dies vor der Wiedervereinigung der Fall. Damals hatte der Begriff der Nation den Willen des deutschen Volkes zur politischen Einheit trotz faktischer Teilung in zwei Staaten deutlich gemacht. Seit der Wiedervereinigung hat er seine praktische Bedeutung verloren; die Divergenz ist entfallen. Aus Sicht des Grundgesetzes gab es vor der Wiedervereinigung keine Nation der Bundesrepublik Deutschland, sondern nur eine gesamtdeutsche Nation, zu der auch die Deutschen in der DDR gehörten. Das DDR-Regime hingegen hat seit 1974 zwar von einer „sozialistischen Nation“ der DDR gesprochen; aber das war eine Behauptung, die an der Wirklichkeit zerschellte, als Gorbatschow deutlich machte, dass die sowjetischen Panzer die Existenz der DDR nicht mehr gegen deren eigene Bevölkerung schützen würden. Der Begriff der Nation im Unterschied zum Staatsvolk wird also immer dort besonders relevant, wo ein Volk seine staatliche Eigenständigkeit noch nicht oder nicht vollständig besitzt und sie gegen die bestehenden staatlichen Strukturen durchsetzen will. Dies kann insbesondere bei sezessionistischen Bestrebungen der Fall sein, ist aber auch im umgekehrten Fall – bei fusionistischen Bestrebungen – denkbar. Wenn beispielsweise das katalanische Volk hartnäckig bei seinen Sezessionsbestrebungen bleibt, bildet es sich zur politischen Nation. Aber auch innerhalb bestehender Staaten hat der Begriff der Nation neben dem des Staatsvolkes eigenständige Bedeutung: Er macht das Willens- und Bewusstseinselement deutlich, ohne welches der Staat als politische Einheit nicht dauerhaft bestehen kann und weist darauf hin, dass nationale Identität – im Hinblick auf das Identitätsbewusstsein – sich nicht von selbst versteht, sondern ständig gepflegt und erneuert werden muss.20

19   Vgl. z.B. Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S.  161; Gerhard Leibholz, Artikel „Nation“, in: Evangelisches Staatslexikon, 2.  Aufl. 1975, Sp 1589 f. – Dies schließt nicht aus, dass dieser Staat sich in interund supranationale Organisationen einfügt. In der Europäischen Union sind die Staatsvölker der Mitgliedstaaten Nationen; es gibt (noch) keine aus der Gesamtheit der EU-Bürger bestehende europäische Nation. 20  Zur Identitätspflege als Ausprägung der Verfassungspflege vgl. Dietrich Murswiek, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Präambel (2005), Rn.  232 f.; Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, insb. S.  353 ff.

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2.  Das Volk als Subjekt des Selbstbestimmungsrechts Die Entstehung einer Nation ist zunächst ein faktisch-politischer Vorgang, ist aber rechtlich nicht völlig unerheblich. Denn das Völkerrecht kennt ja das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Nach Art.  1 der UN-Menschenrechtspakte hat jedes Volk das Recht, frei über seinen politischen Status zu entscheiden. Dies impliziert das Recht des Volkes, sich in einem eigenen Staat zu organisieren. Dem wird freilich in vielen Fällen das Recht auf Souveränität des betroffenen existierenden Staates entgegenstehen. Wie Konflikte zwischen Souveränität und Selbstbestimmungsrecht aufzulösen sind, ist ein besonderes Thema, mit dem ich mich hier nicht weiter befasse.21 Im Kontext der vorliegenden Abhandlung ist aber der Volksbegriff von Interesse. Wer ist Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker? Das kann ein Staatsvolk sein. Es kann aber auch ein staatlich noch nicht organisiertes Volk sein. Wenn das Selbstbestimmungsrecht jedem Volk, auch einem staatlich noch nicht organisierten Volk, zusteht, dann kann Kriterium dieses Volksbegriffs nicht die Staatsangehörigkeit eines bestimmten Staates sein. Anhand welcher Kriterien also lässt sich bestimmen, ob eine Gruppe von Menschen, die nicht ein Staatsvolk bilden, Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist? Hier wird nun der Begriff des Volkes im ethnischen Sinne – des Ethnos im Unterschied zum Demos – juristisch relevant. Ein Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker muss auf einem bestimmten, zusammenhängenden Territorium traditionell siedeln, muss im Hinblick auf die Zahl seiner Angehörigen zur Staatsbildung fähig sein und muss sich durch objektive Merkmale von anderen Völkern, insbesondere von den Nachbarvölkern, unterscheiden. Diese objektiven Merkmale sind solche, die man als ethnische Merkmale bezeichnet.22 Dazu gehört nicht nur die   Dazu eingehend Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht. Zum Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: Der Staat 23 (1984), S.  523–548; ders., Die Problematik eines Rechts auf Sezession – neu betrachtet, in: AVR 31 (1993), S.307–332; ders., Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Gilbert H. Gornig u.a. (Hg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau, 2013, S.  95–120. 22  Dazu Murswiek (Fn.  21, 1984), S.  528 ff. mit eingehender Begründung; ders. (Fn.  21, 2013), S.  117 ff.; Christian Hillgruber, Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts und wie kann man es durchsetzen – Rechtsinhaberschaft und Rechtsdurchsetzungsmacht, in: Gilbert H. Gornig u.a. (Hrsg.), Das Selbst­ bestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau, 2013, S.  75 (76 ff., insb. 80) m.w.N. – Die Völkerrechtspraxis hat als objektives Merkmal auch vorgegebene Grenzen angesehen, insbesondere die Grenzen von Kolonien, innerhalb derer die Kolonialbevölkerung unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht ihre Unabhängigkeit einfordern konnte, dazu z.B. Daniel Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1976, S.  126 ff. Das Problem dabei war, dass auf diese Weise das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts fremdbestimmt war – mit Folgeproblemen, die noch heute die Stabilität mancher dieser Staaten erschüttern. – Die Subjektfrage ist für das Selbstbestimmungsrecht immer noch umstritten. So wird auch die Auffassung vertreten, dass nur durch vorhandene Territorien definierte Bevölkerungen Subjekte des Selbstbestimmungsrechts sein könnten, vgl. z.B. Bernd Roland Elsner, Die Bedeutung des Volkes im Völkerrecht, 2000, S.  160 ff., 295 ff. Demgegenüber wird die hier vertretene Ansicht, dass auch Völker im ethnischen Sinne Subjekte des Selbstbestimmungsrechts sind, jetzt bestätigt durch die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker (GA RES A/61/295). Dort werden indigene Völker ausdrücklich allen anderen Völkern gleichgestellt (Präambel Erwägungsgrund 2), und ihnen wird ausdrücklich das Recht auf Selbstbestimmung zugesprochen (Art.  3). Eines der Merkmale indigener Völker ist ihre ethnische Identität, vgl. die Definition von José Martínez Cobo, Study of the Problem of Discrimination Against Indigenous Populations, UN Doc E/CN.4/Sub.2/1986/7. Nach 21

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gemeinsame Abstammung, sondern dazu gehören vor allem kulturelle und politischhisto­r ische Merkmale wie gemeinsame Sprache, gemeinsame Traditionen und Bräuche, spezifische Hervorbringungen der Literatur, der bildenden Künste oder der Musik, oder auch ein gemeinsames politisches Gruppenschicksal. Die Merkmale variieren bei den verschiedenen Völkern. Die besondere Sprache etwa ist ein typisches, aber kein zwingend notwendiges Merkmal. Bei manchen Völkern trägt die gemeinsame Religion zur Bildung nationaler Identität bei; bei anderen ist sie irrelevant.23 In diesem Sinne sind die Katalanen oder die Kurden Völker im Sinne des Selbstbestimmungsrechts. Die Kroaten, die Serben oder die Slowenen, die Tschechen und die Slowaken beispielsweise waren als Völker im ethnischen Sinne bereits potentielle Subjekte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, als sie noch Teile der multiethnischen Staaten Jugoslawien und Tschechoslowakei waren. Der Begriff des Volkes im ethnischen Sinne ist also insofern rechtlich relevant, als er ein mögliches Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker bezeichnet. Wenn ein solches Volk den Willen zur Eigenstaatlichkeit entwickelt und ihn durchzusetzen versucht, wird es zur Nation. Auf diese Weise sind in Europa die meisten Nationalstaaten entstanden, überwiegend im 19. Jahrhundert, und etliche in einer neuen Welle von Staatenbildungen nach dem Zerfall des Sowjetimperiums. In einem so entstandenen Nationalstaat stehen Ethnos und Staatsvolk typischerweise in einem engen Zusammenhang: Die Staatsbildung geht von einem Volk aus, das eine bestimmte nationale Identität herausgebildet hat, die typischerweise an ethnische Kriterien wie die gemeinsame Sprache anknüpft. In solchen Staaten sind Staatsvolk und Volk im ethnischen Sinne weitgehend, aber niemals vollständig identisch. Das Staatsvolk weist eine bestimmte nationale Identität auf, die wiederum geprägt ist durch die ethnisch-kulturelle Identität der ganz überwiegenden Zahl seiner Staatsangehörigen. Es gibt aber immer auch Staatsangehörige mit anderer ethnischer Zugehörigkeit – teilweise immer schon auf dem Staatsgebiet ansässige ethnische Minderheiten, teilweise eingebürgerte Einwanderer. Wenn diese gut integriert sind, werden sie sich selbst der politischen Nation zurechnen, die zwar durch Identitätsmerkmale des ethnischen Mehrheitsvolkes geprägt, aber ebenso die ethnisch andere Identitäten aufweisenden anderen Staatsangehörigen umfasst. Insofern gibt es multiple Identitäten. Jemand kann sich als Sorbe und zugleich als Angehöriger der deutschen Nation empfinden, so wie es auch oberhalb der Nation Identitäten geben kann – als Europäer, als Teil der Menschheit. Die nationale Identität ist unter den verschiedenen Identitäten diejenige, die sich auf den Staat als souveräne Entscheidungseinheit bezieht. Art.  8 Abs.  1 lit.  a) der Deklaration sind die Staaten verpflichtet, jede Handlung zu verhüten, „die zum Ziel oder zur Folge hat, dass indigene Völker und Menschen ihrer Integrität als eigenständige Völker oder ihrer kulturellen Werte oder ihrer ethnischen Identität beraubt werden“. 23   Die Begriffe „Ethnos“ und „ethnisch“ werden in dieser Abhandlung also nicht in dem Sinne verwendet, dass die Abstammung das ausschließliche oder in jedem Fall entscheidende Merkmal der so bezeichneten Gruppe ist, sondern in dem Sinne, wie sie auch im Minderheitenschutzrecht verwendet werden, wo es auf eine Mehrzahl objektiver Merkmale ankommt, verbunden mit dem subjektiven Zugehörigkeitswillen der einzelnen Mitglieder der Gruppe, vgl. Dietrich Murswiek, Schutz der Minderheiten in Deutschland, in: HStR X, 3.  Aufl. 2012, §  213 Rn.  7 m.w.N.; ebenso die Definition der Volkszugehörigkeit in §  6 Abs.  1 Bundesvertriebenengesetz.

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Ethnische Identität und nationale Identität sind in ethnisch fundierten Nationalstaaten daher weitgehend, aber nicht vollständig deckungsgleich. Zur polnischen Nation gehören auch die Angehörigen der in Polen lebenden deutschen Minderheit, zur italienischen Nation auch die Südtiroler oder die Korsen, zur deutschen Nation neben den autochthonen Minderheiten (Dänen, Friesen, Sorben) auch Staatsangehörige mit polnischem, italienischem oder türkischem Migrationshintergrund – sofern dies ihrem Selbstverständnis entspricht. Der Begriff der Nation ist stärker als der Begriff des Ethnos durch ein Willens- oder Bewusstseinselement geprägt.24 Die Nation ist in größerem Maße eine geschichtliche, sich wandelnde Einheit, die sich ihrer Identität ständig neu vergewissern muss und dies etwa anhand von Symbolen, Festen, großen Erzählungen tut.25 Im Unterschied zu den Nationen der „ethnic based nation states“ gibt es auch „Willensnationen“,26 deren Zusammengehörigkeit keine bestimmte ethnische Grundlage hat, sondern die allein auf dem politischen – gegebenenfalls durch historische Entwicklungen gefestigten – Willen beruhen, als Nation zusammenzugehören und das politische Schicksal gemeinsam zu bewältigen. Man könnte die Schweiz als Beispiel für einen Nationalstaat aus mehreren ethnischen Gruppen verstehen. Frankreich wird zwar durch die französische Sprache und Kultur geprägt, ist in seinem Selbstverständnis aber nicht ethnisch fundierte Nation, sondern Willensnation: Die französische Nation entstand im Zusammenhang mit der französischen Revolution. Der „Dritte Stand“ formierte die Nation nicht in Konfrontation gegen den vorhandenen Staat, sondern gegen die Monarchie, und seine Angehörigen fanden ihr Selbstbewusstsein darin, Bürger Frankreichs zu sein. Die USA als Einwanderungsland, dessen aus vielen Ländern stammende Bevölkerung ihre nationale Identität durch gemeinsame Verfassungswerte, Erfolgsmythen („Land der unbegrenzten Möglichkeiten“) oder auch durch Symbole und Riten schöpft, konnten natürlich nur als Willensnation ihre Einheit herstellen. Da es keine vollständig auf ein Volk im ethnischen Sinne gegründete Nation gibt, sondern auch ethnisch-kulturell fundierte Nationen regelmäßig Minderheiten mit anderen Kulturmerkmalen umfassen, sind ethnisch-kulturell fundierte Nation 27 und Willensnation Idealtypen, während in der staatlichen Wirklichkeit die Übergänge fließend sind.

  Auch die Bestimmung ethnischer Zugehörigkeiten kommt ohne subjektive Elemente nicht aus, was sich beispielsweise im Minderheitenschutzrecht durch Optionsrechte ausdrückt. 25   Vgl. die Hinweise bei Josef Isensee, Die Rationalität des Staates und die Irrationalität des Menschen. Prämissen der Demokratie, AöR 140 (2015), S.  169 (189) m.w.N. 26   Das ist kein strikter Gegensatz, weil auch ein Volk im ethnischen Sinne nur durch ein Willenselement zur Nation werden kann, vgl. Josef Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: FS Gerd Roellecke, 1997, S.  137 (152). 27   Man könnte auch den Begriff der Kulturnation verwenden, weil es um eine vornehmlich durch kulturelle Merkmale (insbesondere durch die gemeinsame Sprache) geprägte Nation geht. Doch der Begriff der Kulturnation wird seit Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 1908, S.  2 ff., oft als Gegenbegriff zur „Staatsnation“ verstanden. In meinem Kontext geht es aber nicht um eine unpolitische kulturelle – staatenübergreifende – Gemeinsamkeit, sondern um die sich als Träger des Staates als politischer Entscheidungseinheit verstehende Nation. Vgl. zu dieser Unterscheidung Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S.  34, 47 f. 24

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Ob eine Nation ihre Identität mehr auf ethnische Merkmale stützt oder mehr auf Willens- und Bewusstseinsaspekte, die unterschiedliche andere Anknüpfungspunkte haben können, hängt von den konkreten historischen Entstehungsbedingungen der jeweiligen Nation ab.28 Es spricht vieles dafür, dass typischerweise Nationen, die innerhalb eines bestehenden Staates ihr nationales Selbstbewusstsein gefunden und dabei den Staat in seinen bestehenden Grenzen nicht infrage gestellt haben, sich eher als Willensnationen verstehen, während Nationen, die unabhängig von existierenden Staaten ihre Identität und ihren Willen zur politischen Einheit entwickelt haben (und dann auf dieser Basis ihren Staat gegründet haben oder immer noch nach Gründung ihres eigenen Staates streben), ihr Identitätsbewusstsein typischerweise anhand ethnischer Kriterien wie Sprache, Abstammung, Geschichte, Kultur gefunden haben.29

3. Das Volk als Schutzobjekt im Völkerrecht und das Recht auf Wahrung der ethnischen, kulturellen und nationalen Identität Das Volk im ethnischen Sinne ist nicht nur Subjekt des Selbstbestimmungsrechts. Seine Existenz als durch besondere Merkmale gekennzeichnete Gruppe steht auch unter dem Schutz des Völkerstrafrechts. Nach der Völkermordkonvention von 1948 (Art. I-III) ist Völkermord ein Verbrechen.30 Unter Völkermord versteht man Handlungen, die in der Absicht begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Darunter fällt nicht nur die physische Vernichtung der Gruppe, sondern darunter fallen auch andere Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Existenz der Gruppe in ihrer spezifischen Identität zu zerstören, beispielsweise durch sogenannte „ethnische Säuberungen“, mittels derer die Gruppenangehörigen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet vertrieben werden.31 Dennoch hat sich in Deutschland eine Tendenz breitgemacht, die das Reden vom Volk im ethnischen Sinne als politisch unkorrekt aus dem Diskurs verbannen will. Es kommt natürlich immer darauf an, in welchem Kontext ein Begriff verwendet wird und welchem Ziel die Verwendung dient. Die Ziele, die Existenz eines Ethnos oder die nationale Identität eines Volkes gegenüber völkerwanderungsartiger Einwanderung zu wahren, haben nichts mit den völkischen Bestrebungen der Weimarer Zeit und schon gar nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun, der fremde ethnische und nationale Identitäten zerstören und die nationale Identität der Deutschen durch eine rassische ersetzen wollte.32

  Näher dazu Böckenförde, (Fn.  27), S.  34 ff., insb. S.  4 4 ff.  Vgl. Böckenförde (Fn.  27), S.  35 m. Hinw. auf Franz Schnabel. 30  Das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs hat den Tatbestand des Völkermords in Art.  6 aus der Völkermordkonvention übernommen. 31   Ob jede Vertreibung oder „ethnische Säuberung“ als Völkermord einzustufen ist, oder ob es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, ist umstritten. Vgl. dazu z.B. Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, 2.  Aufl. 2007, Rn.  700 f. 32   Vgl. z.B. Peter Brandt, Was ist eigentlich das Volk, in: GlobKult Magazin, 9.12.2015, https://globkult.de/geschichte/entwicklungen/1056-was-ist-eigentlich-das-volk (abgerufen am 3.11.2017). 28 29

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Das Anliegen eines Volkes, seine ethnische oder nationale Identität zu wahren, gilt in Deutschland (und auch in manchen anderen westlichen Staaten) übrigens nur dann als politisch unkorrekt, wenn es um die Identität des eigenen Volkes geht. So hat vor nicht allzu langer Zeit der Bundestag eine Resolution verabschiedet, die sich der Wahrung der „ethnische(n), kulturelle(n) und religiöse(n) Identität“ Tibets widmet. Der am 20. Juni 1996 verabschiedete33 Entschließungsantrag34 war von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der GRÜNEN und der FDP gemeinsam eingebracht worden. In der Resolution heißt es, der Bundestag „verurteilt die Politik der chinesischen Behörden, die im Ergebnis gerade auch in bezug auf Tibet zur Zerstörung der Identität führt, insbesondere mittels Ansiedlung und Zuwanderung von Chinesen in großer Zahl“. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich unter anderem dafür einzusetzen, dass „die chinesische Regierung jede Politik einstellt, welche die Zerstörung der tibetischen Kultur zur Folge haben kann, wie z.B. die planmäßige Ansiedlung von Chinesen in großer Zahl, um die tibetische Bevölkerung zurückzudrängen“. Hiermit erkennt der Bundestag nicht nur an, dass jedes Volk ein Recht auf Wahrung seiner Identität hat, sondern auch, dass diese durch massenhafte Ansiedlung ethnisch fremder Menschen zerstört werden kann. Juristisch ist das Recht jedes Volkes, seine ethnische, insbesondere seine kulturelle Identität zu wahren, Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Diese können, wenn sie nicht in einem eigenen Staat organisiert sind, dieses Recht gegenüber dem Mehrheitsvolk, in dessen Staat sie leben, zur Geltung bringen und so den Kerngehalt ihres Rechts auf Selbstbestimmung unterhalb der Schwelle der Sezession innerhalb eines multiethnischen Staates zur Geltung bringen.35 Existenz, kulturelle Identität und konkrete Lebensbedingungen ethnischer Gruppen sind auch Schutzgegenstände des internationalen Minderheitenschutzrechts, das nicht nur die Angehörigen ethnischer Minderheiten vor Diskriminierung schützt, sondern auch der Erhaltung der spezifischen Gruppenidentität dient.36 Über die Gewährleistung minderheitenspezifischer Menschenrechte (vgl. Art.  27 IPBPR) hinaus verpflichtet das Minderheitenrecht nicht nur zur Achtung der kollektiven Identität ethnischer Minderheiten, sondern legt den Staaten auch Verpflichtungen zur positiven Förderung der Minderheitenkulturen, beispielsweise im Bildungswesen, auf.37 33   BT Prot. 13/10086, 10107 (Antrag angenommen „mit den Stimmen fast des ganzen Hauses bei einigen Enthaltungen“). 34   BT-Drs. 13/4445. 35  Dazu Dietrich Murswiek, Das Verhältnis des Minderheitenschutzes zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Dieter Blumenwitz u.a. (Hg.), Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz, 2001, S.83–99; so jetzt auch die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker (GA RES A/61/295), Art.  4. 36   Vgl. Art.  1 Abs.  1 der UN-Deklaration über Minderheitenrechte vom 18.12.1992, A/RES/47/135: „Die Staaten schützen die Existenz und die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität der Minderheiten in ihrem Hoheitsgebiet und begünstigen die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität.“ 37   Vgl. z.B. Dieter Blumenwitz, Volksgruppen und Minderheiten. Politische Vertretung und Kulturautonomie, 1995; zum Minderheitenschutz in Deutschland Murswiek (Fn.  23), S.  265–296. Der erste multilaterale Minderheitenschutzvertrag ist das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Dieses normiert zwar keine Kollektivrechte für die Minderheiten, sondern individuelle Rechte für ihre Angehörigen, dient damit aber mittelbar der Wahrung der Identität der Gruppen, dazu

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Die Identität durch ethnisch-kulturelle Merkmale charakterisierter Gruppen steht also in mehrfacher Hinsicht unter dem Schutz des Völkerrechts und ist damit ein rechtlich statuiertes Anliegen der Staatengemeinschaft. Dass die Identität ethnischer Minderheiten und nicht die Identität ethnischer Mehrheitsvölker unter dem besonderen Schutz des Minderheitenrechts steht, bedeutet nicht, dass nur Minderheitenkulturen als schutzwürdig betrachtet werden; es hat seinen Grund allein darin, dass sie besonders schutzbedürftig sind, während Mehrheitsvölker innerhalb ihrer eigenen Staaten in der Regel in ihrer Identität nicht bedroht sind und jedenfalls regelmäßig die Möglichkeit haben – durch die von ihnen bestimmte Regierung – sich gegen eventuelle Bedrohungen selbst zu schützen. Hier fehlt es grundsätzlich an einem internationalen Schutzbedürfnis. Die Souveränität des – vom Mehrheitsvolk dominierten – Staates bietet hinreichenden Schutz, ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht, das ja auch dem Mehrheitsvolk zusteht. Alle Völker im ethnischen Sinne – ob Minderheits- oder Mehrheitsvölker – haben also völkerrechtlich das gleiche Recht, ihre Identität innerhalb ihres herkömmlichen Siedlungsgebietes zu bewahren. Das EU-Recht schließlich achtet nicht nur die als Verfassungsidentität verstandene „nationale Identität“ der Mitgliedstaaten (Art.  4 Abs.  2 Satz  1 EUV), sondern auch „die Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas“ (Präambel Abs.  3 GrCh).38

4.  Demokratie – Freiheit – Nationalstaat Grundlage der modernen Demokratie, wie sie sich seit der Auf klärung in der westlichen Welt entwickelt hat, ist die Idee der individuellen Autonomie.39 Freiheit und Gleichheit des Individuums sind die Grundideen westlicher Staatsverfassungen und darüber hinaus der universellen Menschenrechte. Auf diesem Fundament kann politische Herrschaft nicht anders legitimiert werden als durch freie Zustimmung der Staatsbürger. Demokratie ist die notwendige staatsorganisatorische Konsequenz aus der Idee der individuellen Autonomie. Sind alle Menschen rechtlich gleich, dann ist es ausgeschlossen, irgendeinem Menschen ein besseres Recht zur Herrschaft zuzusprechen als allen anderen Mitgliedern des Herrschaftsverbandes. Obwohl somit eine zwingende Beziehung zwischen der Idee der Freiheit und Gleichheit und der demokratischen Legitimation politischer Herrschaft gegeben ist, besteht andererseits ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Freiheit.40 Das liegt schon daran, dass auch demokratische Herrschaft Herrschaft ist. Und Herrschaft von Menschen über Menschen ist immer Einschränkung individueller Freivgl. Rainer Hofmann u.a. (Hg.), Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Handkommentar, 2015. 38  Der (nicht in Kraft getretene) Vertrag über eine Verfassung für Europa (ABl. EU C 310/1 v. 16.12.2004) sprach in der Präambel davon, dass die Völker Europas „stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ seien. 39   Zum Demokratieprinzip umfassend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR II, 3.  Aufl. 2004, §  24, hier insb. Rn.  3. 40   Zum diesem Thema bereits Dietrich Murswiek, Demokratie und Freiheit im multiethnischen Staat, in: Dieter Blumenwitz u.a. (Hg.), Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S.  41–57.

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heit. Die von Rousseau postulierte Auflösung dieses Konflikts in der demokratischen Identität von Herrschern und Beherrschten lässt sich praktisch nicht verwirklichen. Demokratie als Identität von Herrschern und Beherrschten wäre nur möglich, wenn alle Entscheidungen im Konsens getroffen werden könnten. Da es immer unterschiedliche Meinungen gibt, ist jede Behauptung, die Herrschenden und die Beherrschten seien identisch, eine Anmaßung, die nur dazu dient, darüber hinwegzutäuschen, dass lediglich die (relative) Mehrheit herrscht. Demokratie lässt sich nur als Mehrheitsherrschaft organisieren. Diejenigen, die bei Wahlen (oder bei Volksabstimmungen) die Mehrheit erlangt haben, herrschen über diejenigen, die jeweils unterlegen sind. Daraus resultieren Freiheitsprobleme. Es gibt zwar notwendige Freiheitseinschränkungen, mit denen jeder vernünftig denkende Mensch einverstanden sein wird. Das sind insbesondere diejenigen Regeln, die die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen im Sinne des kategorischen Imperativs kompatibel machen sollen – also die dem Rechtsgüterschutz dienenden Vorschriften des Strafrechts und des Zivilrechts. Aber über dieses liberal-rechtsstaatliche Minimum an Freiheitseinschränkungen hinaus erlässt der moderne Staat Tausende von Vorschriften, deren Notwendigkeit großen Teilen der Bürgerschaft nicht einleuchtet. Und wer Normen unterworfen ist, die er ablehnt oder jedenfalls nicht billigt, ist der Herrschaft derjenigen unterworfen, die diese Normen erlassen haben. Daher wird die Demokratie in den Verfassungsstaaten durch rechtsstaatliche Regelungen gegen Machtmissbrauch und durch ein System des Freiheitsschutzes, insbesondere durch Grundrechte und gerichtlichen Rechtsschutz, modifiziert. Dies verhindert, wenn es denn gut funktioniert, dass die Mehrheit sich zur Tyrannei über die Minderheit aufschwingt und Demokratie zur Mehrheitsdespotie verbogen wird. Es verhindert aber nicht, dass es in einem System der Mehrheitsherrschaft Freiheitseinschränkungen geben kann, die sehr weitgehend sind und von der Minderheit als kaum tragbar empfunden werden. Die individuellen Grundrechte können zwar verhindern, dass der einzelne in seinen eigenen individuellen Rechtspositionen unzumutbar beeinträchtigt wird. Sie verhindern aber nicht, dass der Staat sehr weitreichende, vielfältige Freiheitseinschränkungen vornimmt, die der betroffene Einzelne als nicht sinnvoll und nicht gerechtfertigt ansieht. Und was die Grundrechte von vornherein nicht verhindern können, ist, dass die Mehrheit Lebensverhältnisse schafft, die der Mehrheit zwar behagen, unter denen die Minderheit jedoch nicht leben mag, ja, die vielleicht sogar für diese völlig unerträglich sind. Auch das betrifft die Freiheit des einzelnen, nämlich die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen der individuellen Freiheitsausübung. Auf diese aber erstreckt sich die Schutzfunktion der Freiheitsrechte grundsätzlich nicht. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte können daher für sich genommen nur einen Mindeststandard an Freiheit sichern. Ob das Gemeinwesen im Ganzen von den Bürgern als freiheitlich erlebt werden kann, hängt hingegen davon ab, ob die jeweilige Mehrheit regelmäßig Entscheidungen trifft, mit denen die Minderheit „leben kann“ – Entscheidungen, die die Minderheit akzeptieren kann, auch wenn sie mit ihnen nicht einverstanden ist. Unter welchen Voraussetzungen können nun – abgesehen von den rechtsstaatlichen Freiheitsgarantien – die Menschen sich darauf verlassen, dass sie als in Wahlen

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unterlegene Minderheit nicht einer politischen Gesellschaftsgestaltung unterworfen werden, die ihren eigenen Gewohnheiten und Lebensentwürfen dramatisch widerspricht? Ein Grundvertrauen darauf, dass die Mehrheit Entscheidungen treffen wird, die auch für die Minderheit zumindest erträglich sind, wird es dann geben können, wenn die Auffassungen innerhalb der Gesellschaft über die richtige Lebensgestaltung, soweit die Politik mit hoheitlichen Mitteln auf sie Einfluss nimmt, nicht allzu weit voneinander abweichen. Je größer die Differenzen innerhalb einer Gesellschaft, desto problematischer wird die Mehrheitsentscheidung, der die Minderheit sich zu beugen hat. Denn je größer die Differenzen, desto intensiver ist die mit der Mehrheitsentscheidung verbundene Freiheitseinschränkung. In einer relativ homogenen Gesellschaft wirkt sich die Mehrheitsherrschaft tendenziell weniger freiheitseinschränkend aus als in einer sehr inhomogenen Gesellschaft.41 Das gilt insbesondere für die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Denn ethnische Differenzen sind besonders stabil und für die Freiheitsverwirklichungsmöglichkeiten des Einzelnen qualitativ besonders bedeutsam. Sprache, Abstammung, historisch-kulturelle und religiöse Prägung, die Merkmale also, die ein Volk oder eine Volksgruppe im ethnischen Sinne ausmachen, sind keine beliebig wählbaren Eigenschaften. Der Einzelne wird in seine ethnische Gruppe hineingeboren, wächst mit seiner Muttersprache auf, wird in den Lebensgewohnheiten seines Volkes sozialisiert. Er wird geprägt durch all das, was in dieser Gruppe als selbstverständlich und unhinterfragt gelebt wird. Und seine Freiheit wird dort besonders intensiv beeinträchtigt, wo dieses für ihn als selbstverständlich Erfahrene nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen gelebt werden kann. Ich will hier nicht auf die Diskussion darüber eingehen, ob – wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil angedeutet hat – ein Mindestmaß an relativer Homogenität hinsichtlich dessen, was das Volk geistig, sozial und politisch verbindet, Voraussetzung dafür ist, dass es demokratische Legitimation überhaupt geben kann,42 insbesondere dafür, dass die Individuen bereit sein können, die Mehrheitsregel als Entscheidungsregel zu akzeptieren. Worum es mir geht, ist der Umstand, dass der Staat die individuelle Freiheit tendenziell umso weniger einschränkt, je größer der Fundus an Selbstverständlichkeiten ist, die innerhalb eines Gemeinwesens unhinterfragt gelebt werden. Das fängt mit der Sprache an, in der man sich verständigt, und reicht bis zu Umgangsformen und Alltagsgewohnheiten. Und je weniger solche Selbstverständlichkeiten es gibt, desto mehr muss der Staat regeln und mit hoheitlichen Mitteln durchsetzen und desto niedriger wird das Freiheitsniveau sein.   Dazu ausführlicher Murswiek (Fn.  4 0), S.  45 ff.  BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht [1993]. – Zur Diskussion über relative Homogenität als Demokratievoraussetzung z.B. bejahend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S.  103 (109 ff.); Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 3.  Aufl. 2004, §  15 Rn.  122; Horst Dreier, in: ders., Grundgesetz Bd.  II., 3.  Aufl. 2015, Art.  20 (Demokratie) Rn.  71 m.w.N.; kritisch z.B. Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, 121 ff.; Felix Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft. Zur These von der Notwendigkeit homogener Kollektive unter besonderer Berücksichtigung der Homogenitätskriterien „Geschichte“ und „Sprache“, 2008. – Dass sich aus fehlender Homogenität Grenzen für das demokratische Mehrheitsprinzip in bezug auf Entscheidungen ergibt, die ethnische Minderheiten existenziell betreffen, habe ich an anderer Stelle dargelegt (Fn.  4 0), S.  50 ff. 41

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Außerdem ist ein Staat auf die Dauer nur dann eine stabile und funktionsfähige Handlungseinheit, wenn er sich nicht nur auf den gemeinsamen Willen der Staatsangehörigen stützen kann, in diesem Gemeinwesen unter einer bestimmten Verfassung gemeinsam zu leben, sondern auch auf ein Mindestmaß gemeinsamer Grundüberzeugungen hinsichtlich der Gestaltung dieses Gemeinwesens. Je größer das Ausmaß an nicht hinterfragten kulturellen Gemeinsamkeiten ist oder auch an Selbstverständlichkeiten des Umgangs miteinander, desto größer ist die Chance, dass die nach Rudolf Smend ständig erforderliche Integration der Bürger im Sinne der gemeinsamen Hervorbringung staatlicher Einheit43 gelingt und dass der Staat seine Funktionsfähigkeit bewahrt, ohne seine Freiheitlichkeit durch Zwangsausübung gegenüber divergierenden Bestrebungen einzubüßen.44 Und nicht zuletzt: Ein Volk muss zumindest Kommunikationsgemeinschaft sein, damit es überhaupt als Subjekt der Demokratie agieren kann.45 Die kommunikativen und kulturellen Voraussetzungen dafür sind zwar nicht ausschließlich im Nationalstaat gegeben. Aber dort sind sie historisch vorgefundene Elemente der Staatsbildung und müssen nicht erst mühsam geschaffen werden. Wegen dieser Zusammenhänge ist der Nationalstaat als Typus tendenziell am besten geeignet, eine freiheitliche Demokratie zu verwirklichen.46 Dass die Nationalstaatsbewegungen des 19. Jahrhunderts zugleich Freiheitsbewegungen waren, ist kein Zufall. Dass die Entstehung der Nationalstaaten in engem Zusammenhang mit der Überwindung absoluter Monarchien und rechtsstaatlicher Konstitutionalisierung stand und dass es die Nationalstaaten waren, in denen die Demokratie durchgesetzt werden konnte, hat strukturelle Gründe. Deshalb konnte es auch nicht überraschen, dass nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums in multinationalen Staaten lebende Völker, die jetzt frei entscheiden konnten, sich kraft ihrer Selbstbestimmung in neuen Nationalstaaten organisierten (oder ihre früheren Nationalstaaten reorganisierten), um dort ihre eigene Demokratie zu verwirklichen (z.B. Ukraine, baltische Staaten, Kroatien, Slowenien, Mazedonien), während diejenigen ehemals sozialistischen Staaten in ihrem völkerrechtlichen Bestand unangetastet blieben, die bereits unter sowjetischer Vorherrschaft Nationalstaaten waren (z.B. Polen, Ungarn).47

5.  Zwischenergebnis: Volk und Nation – keine Tabubegriffe In den öffentlichen Debatten um Einwanderung nach Deutschland und Europa wird oft der Eindruck erweckt, als sei der durch ein Volk im ethnischen Sinne geprägte Nationalstaat eine deutsche Absonderlichkeit, zudem eine vorgestrige. Wie oben ge  Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Verfassungsrechtliche Abhandlungen, 2.  Aufl. 1968, S.  119 (127 ff., 136 ff.). 44   Zu diesem Thema vgl. z.B. Isensee (Fn.  10), S.  708 f. 45   Vgl. z.B. Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S.  37 ff.; Brandt (Fn.  32). 46   Näher dazu Murswiek (Fn.  4 0), S.  48 f.; auch zu den besonderen Problemen, die sich im Nationalstaat und im multiethnischen Staat für Freiheit und Demokratie in bezug auf ethnische Minderheiten ergeben, ebd. S.  50 ff. 47   Josef Isensee, Deutschlands aktuelle Verfassungslage: Staatseinheit und Verfassungskontinuität, VVDStRL 49 (1990), S.  39 (41). 43

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zeigt, trifft dies nicht zu. Der ethnisch fundierte Nationalstaat ist im typischen Fall die beste Voraussetzung für eine gut funktionierende Demokratie. Und die Völker, die frei entscheiden können, machen regelmäßig von der Option Gebrauch, sich als Nationalstaaten zu organisieren. Freilich gibt es auch Staaten, die nicht dieser Struktur entsprechen, und in denen Demokratie ebenfalls funktioniert. Vor allem für die USA kam eine ethnisch fundierte Nationalstaatlichkeit nie in Betracht, weil die aus vielen Staaten eingewanderten Amerikaner die autochthonen Völker ausgerottet oder zur politischen Bedeutungslosigkeit marginalisiert hatten. Dass einige US-amerikanische Politikwissenschaftler für europäische Nationalstaatlichkeit kein Verständnis haben und verächtlich von „Tribalism“ reden, wenn es um die Wahrung der Identität europäischer Völker geht, ist vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte und des Bildungshorizonts mancher Wissenschaftler verständlich. Aber für Europäer gibt es keinen Grund, diese Sichtweise auf sich selbst anzuwenden – es sei denn, sie verfolgten damit das politische Ziel, die Auflösung der ethnischen und nationalen Identitäten zu fördern. In der Tat gibt es nicht wenige politische Kräfte, die jedes Bestreben, nationale beziehungsweise ethnische Identitäten im Hinblick auf die Einwanderung zu bewahren, als verwerflich ansehen. Im politischen Meinungskampf und seiner journalistischen Begleitmusik ist es üblich geworden, Bemühungen um die Erhaltung des – ethnisch verstandenen – Volkes und der Nation als „völkisch“ oder gar als „rassistisch“ zu denunzieren. Das ist, wie sich aus meinen obigen Darlegungen ergibt, völlig unberechtigt. Das sind Versuche, die Diskursherrschaft zu behaupten, indem man gegnerische Positionen zu tabuisieren und politisch unmöglich zu machen sucht. Die Wahrung der eigenen Gruppenidentität eines Volkes ist per se weder völkisch noch rassistisch. Andernfalls wären das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der völkerrechtliche Minderheitenschutz völkische und rassistische Rechtsinstrumente, die UNO wäre eine rassistische Organisation, und auch die Tibet-Resolution des Bundestages, beispielsweise, wäre völkisch und rassistisch.

IV.  Die Entscheidung des Grundgesetzes für den Nationalstaat 1.  Die Grundentscheidung für die deutsche Nationalstaatlichkeit Das Grundgesetz konstituiert nicht eine ort- und zeitlose Organisation, sondern einen historisch-konkreten Staat – den Nationalstaat der Deutschen.48 Als nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Staatlichkeit in Deutschland neu verfasst werden musste, hat der Parlamentarische Rat dezidiert das Prinzip der Nationalstaatlichkeit fortgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat es als „die Grundentscheidung“ des Parlamentarischen Rates bezeichnet, nicht einen neuen Staat zu errichten, sondern das Grundgesetz als Reorganisation des von Bismarck gegründeten Staates auf einem Teilgebiet zu begreifen. „Dieses Verständnis der politischen und geschichtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland“ liege dem Grundgesetz zugrun  Hierzu ausführlich Murswiek (Fn.  20), Rn.  217–242 m.w.N.

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de.49 Nachdem das Bundesverfassungsgericht zuvor schon die rechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem früher „Deutsches Reich“ genannten Staat festgestellt hatte,50 hebt es mit der zitierten Formulierung die historisch gewachsene Identität des Gemeinwesens hervor. Damit kann natürlich nicht eine politische Identität mit überwundenen und überlebten Verfassungen und Regimes gemeint sein, sondern nur die Identität des Staates als desjenigen Staates, in welchem sich das deutsche Volk als durch seine Geschichte, Kultur und Sprache geprägte politische Willensgemeinschaft organisiert hat. Der fortbestehende Staat, den es neu zu verfassen galt, ist der Staat des deutschen Volkes. Die Entscheidung für die Fortsetzung dieses Staates war eine bewusste Entscheidung für den Nationalstaat.51 Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates beriefen sich auf das nationale Selbstbestimmungsrecht der Deutschen,52 also auf das Recht jedes Volkes, sich in einem eigenen Staat zu organisieren, auf das „unvernichtbare Recht [des deutschen Volkes] auf eigene Gestaltung der Formen und Inhalte seiner politischen Existenz“53 und verstanden das deutsche Volk weiterhin als Staatsnation: „Als ein Volk einheitlicher Kultur und Geschichte, einheitlicher Sprache und einheitlicher Grundgesinnung wollen wir diese Gemeinschaft auch in der staatspolitischen Ebene wieder werden.“54 Zu den Grundentscheidungen, die der Verfassunggeber getroffen hat, gehört somit die Entscheidung für die Nationalstaatlichkeit.55 Es ist keine introvertierte oder gar isolationistische, sondern es ist die völkerrechtsfreundliche, dem Frieden dienende, europaoffene, auf Integration in die Europäischen Union abzielende Nationalstaatlichkeit,56 die aber – bei aller internationalen Offenheit – die Staatlichkeit eines konkreten, durch seine Kultur und Sprache geprägten Volkes bleibt. Das Grundgesetz bringt dies an verschiedenen Stellen zum Ausdruck, am deutlichsten in der Urfassung der Präambel mit der Formulierung „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren“, habe das deutsche Volk das Grundgesetz beschlossen. Der Verfassunggeber äußert damit den Willen, die damalige faktische Spaltung Deutschlands zu überwinden. Und er bringt zugleich zum Ausdruck, warum er diesen Willen hat: weil das deutsche Volk sich als Nation, als nationale politische Einheit versteht und als solche in ihrem eigenen Staat, dem deutschen Nationalstaat organisiert sein will. Staatliche Einheit und nationale Einheit stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Die staatliche Einheit soll der nationalen Einheit wegen gewahrt und effektiv wiederhergestellt werden.57  BVerfGE 77, 137 (150) – Teso [1987].  BVerfGE 36, 1 (16) – Grundlagenvertrag [1973]. 51   Eingehender hierzu Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in der übernationalen Verflechtung, in: HStR II, 3.  Aufl. 2004, §  32 Rdnr.  5 ff. 52   Z.B. Abg. Dr. Schmid, Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle. Hg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, 1975 ff. (im folgenden: PR-Akten), Bd.  9, Dok-Nr.  2 , S.  18 (45); Abg. Süsterhenn, ebd. S.  48. 53   Abg. Dr. Schmid, PR-Akten Bd.  9, Dok-Nr.  2 , S.  18 (45); ebenso bereits der HerrenchiemseeKon­vent, PR-Akten Bd.  2 , Dok-Nr.  14, S.  504 (579 i.V.m. 506 ff.). 54   Abg. Dr. Seebohm, PR-Akten Bd.  9, Dok-Nr.  10, S.  504 (568). 55  Ebenso Hillgruber (Fn.  51), Rn.  10, 12 ff.; Peter M. Huber, in: Sachs, Grundgesetz, 7.  Aufl. 2014, Präambel Rn.  9, 33. 56  Nachdrücklich Murswiek (Fn.  20), Rn.  216, 219, 224, 245 ff. 57   Murswiek (Fn.  20), Rn.  218. 49

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Die Grundentscheidung für den Nationalstaat kommt auch in denjenigen Formulierungen der Präambel und sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes zum Ausdruck, aus denen sich das Wiedervereinigungsgebot ergab. Denn die Wiederherstellung der staatlichen Einheit der Nation anzustreben, heißt, den zerbrochenen Nationalstaat wiederherstellen zu wollen. Das Bundesverfassungsgericht hatte das Wiedervereinigungsgebot58 aus einer Gesamtschau folgender Bestimmungen abgeleitet:59 Aus der oben zitierten Willensbekundung des Satzes 1, aus dem Schlusssatz der ursprünglichen Präambel („Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“), sowie aus der ursprünglich vorläufigen Zwecksetzung des Grundgesetzes: „Um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“, hatte der Parlamentarische Rat in die Präambel geschrieben, sei das Grundgesetz beschlossen worden. Und diese Übergangszeit sollte nach Art.  146 GG so lange dauern, bis eine Verfassung in Kraft tritt, die vom gesamten deutschen Volk – unter Einschluss derjenigen Deutschen, denen, wie die ursprüngliche Präambel formulierte, „die Mitwirkung“ bei der Schaffung des Grundgesetzes „versagt war“ – in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Auch die Grundentscheidung dafür, dass das „Deutsche Volk“, also das Staatsvolk des gesamtdeutschen Staates, das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ist,60 lässt sich nur vor dem Hintergrund der Entscheidung für die Fortsetzung des deutschen Nationalstaats verstehen. Nicht zuletzt dokumentiert auch die Verfassungsentscheidung für die fortbestehende deutsche Staatsangehörigkeit (Art.  116 Abs.  1, 16 Abs.  1) die Grundentscheidung, den deutschen Nationalstaat fortzusetzen.61 Aus dieser Grundentscheidung ergeben sich rechtliche Pflichten, die das Bundesverfassungsgericht früher im Kontext des Wiedervereinigungsgebots formuliert hatte.62 Heute noch relevant ist insofern das „Wahrungsgebot“, also das Gebot, die staatliche und nationale Einheit zu bewahren und nichts zu tun, was sie beeinträchtigt.63 Zur Wahrung der nationalen Einheit gehört es, den Willen zur staatlichen Einheit und das Bewusstsein der nationalen Identität aufrechtzuerhalten. Sich als Nation zu verstehen, bedeutet auch, ein Bewusstsein davon zu haben, was das Eigene, das kulturell Besondere, im Vergleich zum Allgemein-Menschlichen oder auch zu anderen Kulturen ist. Das muss kein reflektiertes, sondern kann auch ein „vor-rational geprägtes […], über Generationen sich forttragendes, sich dabei auch veränderndes kollektives Bewusstsein und Gedächtnis“ sein.64 Es bezieht sich insbesondere auf den Fundus an Selbstverständlichkeiten des Zusammenlebens,65 die von fast allen akzeptiert werden, von der Sprache, in der man sich verständigt, über zwischenmenschliche Umgangsformen bis hin zur Bejahung fundamentaler Verfassungsprinzipien. Auf   Dazu insb. BVerfGE 36, 1 (17 ff.) – Grundlagenvertrag [1973].   Vgl. BVerfGE 5, 85 (127 f.) – KPD-Verbot [1956]. 60   Und dass sich somit nicht ein separates – aus den Deutschen in den westlichen Besatzungszonen bestehendes – westdeutsches Volk konstituierte. 61   Hillgruber (Fn.  51), Rn.  17. 62   S.o. Fn.  58. 63   Vgl. BVerfGE 36, 1 (18) – Grundlagenvertrag [1973]; dazu z.B. Dietrich Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999, S.  58 f. 64   Böckenförde (Fn.  42), S.  113. 65   Dazu näher Böckenförde (Fn.  42), S.  111 ff. 58 59

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die Aufrechterhaltung dieses Identitätsbewusstseins einzuwirken, ist eine verfassungsrechtlich verbindliche Aufgabe der Staatsorgane.66

2.  Die Unabänderlichkeit der Grundentscheidung für den Nationalstaat Die Präambel ist in Art.  79 Abs.  3 GG nicht genannt. Daraus folgert ein Teil der Literatur, sie sei uneingeschränkt abänderbar.67 Diese wohl vorherrschende Auffassung ist oberflächlich positivistisch und unzutreffend. Von diesem Denkansatz her lässt sich auch nicht die Unabänderbarkeit der Unabänderlichkeitsklausel (Art.  79 Abs.  3 GG) erklären, die von der ganz herrschenden Meinung bejaht wird. Es gibt auch systematisch begründbare Grenzen der Verfassungsänderung, die nicht ausdrücklich in Art.  79 Abs.  3 GG genannt sind.68 Die ursprüngliche Präambel ist zum Teil auf diese Weise der Verfassungsänderung entzogen. Systematische Grenzen der Verfassungsänderung ergeben sich insbesondere aus dem normlogischen Zusammenhang zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitués:69 Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann nur im Rahmen der ihm vom Verfassunggeber zugewiesenen Kompetenzen handeln. Könnte er über die Kompetenznormen verfügen, die seine eigene Kompetenz begründen und begrenzen, wäre er selbst nicht Teil der verfassten Staatsgewalt, sondern dann wäre er Subjekt der verfassunggebenden Gewalt. Zu den systematischen Grenzen der Verfassungsänderung gehören somit die Grundentscheidung, dass die verfassunggebende Gewalt beim deutschen Volk liegt70 sowie die Unabänderlichkeit des Art.  79 Abs.  3 GG. Ein anderes Beispiel für eine systematisch zu begründende Grenze der Verfassungsänderung ist das Prinzip der souveränen Staatlichkeit. Dieses Prinzip ist im Grundgesetz nicht expressis verbis normiert worden. Es ergibt sich aber schon daraus, 66   Zur Verfassungspflege allgemein Dietrich Murswiek, Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung. Anmerkungen zur Staatspflege und zur staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat, in: FS Helmut Quaritsch, 2000, S.307–332; speziell zu Inhalt und Instrumenten der Identitätspflege ausführlich ders. (Fn.  20), Rn.  232–238. 67  Vgl. Horst Dreier, in: ders., Grundgesetz Bd.  I, 3.  Aufl. 2013, Präambel Rn.  29–31, 56; Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz Bd.  1, 6.  Aufl. 2012, Präambel Rn.  49; Hans-Jörg Bücking, Wiedervereinigung Deutschlands und die Einigung Westeuropas – ein Widerspruch?, in: Hacker/Mampel (Hg.), Europäische Integration und deutsche Frage, 1989, S.  65 (112); Christian Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz Bd.  1, 6 Aufl. 2010, Präambel Rdnr.  32. 68   Dazu näher Murswiek (Fn.  20), Rn.  182 ff. 69  Dazu Murswiek (Fn.  20), Rn.  182. – Wer meint, dass diese Unterscheidung für das positive Verfassungsrecht irrelevant sei (so z.B. Gärditz [Fn.  14], S.  112), muss freilich zu einem anderen Ergebnis kommen. Dass diese Meinung unzutreffend ist und dass sie im Übrigen konsequenterweise jede Grenze der Verfassungsänderung verneinen müsste, habe ich an anderer Stelle ausführlich begründet, vgl. Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S 97 ff.; ders. (Fn.  20), Rn.  131 ff.. Der entscheidende Aspekt ist: Indem der Verfassunggeber die verfassunggebende Gewalt in das Grundgesetz hineingenommen – positiviert – hat, hat er innerhalb der Verfassung eine kompetenzielle Rangordnung begründet. Der pouvoir constituant ist, systematisch betrachtet, innerhalb dieser Ordnung ein höherrangiger pouvoir constitué (pouvoir constituant constitué). 70   Murswiek (Fn.  20), Rn.  182; Huber (Fn.  55), Rn.  9.

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dass das Grundgesetz von dieser Staatlichkeit ausgeht und auf sie auf baut.71 Zu den Grundentscheidungen, die die Verfassungsidentität ausmachen, gehören nämlich auch die elementaren Verfassungsvoraussetzungen, die der Verfassunggeber in seine Verfassungskonzeption aufgenommen hat.72 Der Verfassunggeber hat das Grundgesetz als Verfassung für einen souveränen Staat (nicht z.B. für einen Gliedstaat eines Bundesstaates) geschaffen. Daher gehört das Prinzip der souveränen Staatlichkeit unabhängig von einer textlichen Normierung zu den tragenden Verfassungsstrukturelementen.73 Indirekt wird das Prinzip der souveränen Staatlichkeit in mehreren Vorschriften des Grundgesetzes angesprochen, nämlich in Art.  20 Abs.  1, wo die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat, somit also als Staat, bezeichnet wird, am deutlichsten aber in der Präambel, deren alte Fassung von der Wahrung der staatlichen Einheit – nämlich der Einheit des rechtlich noch als souveränes Völkerrechtssubjekt existierenden Staates – sprach, und die vor allem, auch in der Neufassung, von dem politischen Willen des deutschen Volkes spricht, „als gleichberechtigtes Glied“ in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Mit dieser Formulierung wird das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art.  2 Nr.  1 SVN) angesprochen und damit zugleich das Verfassungsprinzip der souveränen Staatlichkeit zum Ausdruck gebracht.74 Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil das Prinzip der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip anerkannt.75 Ebenso wie das Prinzip der souveränen Staatlichkeit ist auch das Prinzip der Nationalstaatlichkeit eine Verfassungsvoraussetzung, die der Verfassunggeber rechtlich aufgenommen und – wie oben gezeigt – auch im Text des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht hat. Es ist nicht irgendein beliebiger Staat, den das Grundgesetz verfasst, sondern es ist der konkrete, durch spezifische kulturell-historische Merkmale geprägte Nationalstaat der Deutschen, dem der Verfassunggeber mit dem Grundgesetz eine neue Verfassung gegeben hat. Verfassungsänderungen können sich immer nur auf einzelne Normen der Verfassung beziehen; sie können aber nicht den Gegenstand der Verfassung im Ganzen betreffen.76 Die Unabänderlichkeit der Grundentscheidung für die Nationalstaatlichkeit folgt auch daraus, dass der Verfassunggeber diese Entscheidung in der (ursprünglichen) Präambel in Form subjektiver Bekundungen zum Ausdruck gebracht hat. Der Verfassunggeber redet von sich selbst, wenn er sagt, er habe das Grundgesetz beschlossen, „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren“. Er sagt etwas über seine eigene Motivation, über seine eigene Zielsetzung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann seinerseits nur über seine Motivation für die Verfassungsänderung etwas sagen; er kann jedoch nicht die Aussage des pouvoir consti  Näher dazu Murswiek (Fn.  20), Rn.  243.  Vgl. Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR II, 3.  Aufl., §  21 Rn.  65 f. 73   Paul Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, S.  11 (13); ders. (Fn.  72), Rn.  71; Hillgruber (Fn.  51), Rn.  4 0 ff.; Dietrich Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, Der Staat 32 (1993), S.  161 (162 f.); ders. (Fn.  20), Rn.  240, 243 m.w.N. 74   Vgl. z.B. Hillgruber (Fn.  51), Rn.  41. 75  BVerfGE 123, 267 (343, 347 f., 350) – Lissabon [2009]. 76  Vgl. Hillgruber (Fn.  51), Rn.  15. 71

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tuant über das, was dieser mit der Verfassunggebung gewollt hat, verändern. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist eben nicht der Verfassunggeber, sondern diesem rechtlich untergeordnet. Die subjektive Formulierung von Verfassungsbestimmungen durch den Verfassunggeber hat nicht nur die Funktion, die eigene subjektive Sicht des pouvoir constituant zum Ausdruck zu bringen, sondern auch die Funktion, diese Bestimmungen der Verfassungsänderung zu entziehen.77 Die Fundamentalität der Entscheidung für den Nationalstaat kam außerdem auch darin zum Ausdruck, dass das Grundgesetz als vorläufige Verfassung konzipiert worden war, die ihre eigene Existenz dem Ziel der Wiederherstellung der nationalen und staatlichen Einheit Deutschlands unterordnete (Präambel i.V.m. Art.  146 GG). Während die verfassten Staatsorgane nur im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen handeln dürfen und bei Verfassungsänderungen an die Grenzen des Art.  79 Abs.  3 GG gebunden sind, öffnete das Grundgesetz mit Art.  146 den Weg zu einer neuen verfassunggebenden Entscheidung für den Fall der Wiedervereinigung. Auch hierin wird die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués deutlich: Der verfassungsändernde Gesetzgeber hätte das Wiedervereinigungsgebot nicht aus dem Grundgesetz streichen dürfen. Art.  146 GG stand nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers, weil er die verfassunggebende Gewalt betraf, die normlogisch der verfassungsändernden Gewalt übergeordnet ist. Und die Vorläufigkeit des Grundgesetzes, die in der Präambel formuliert war, war eine Grund­entscheidung des Verfassunggebers, die die Verfassung im Ganzen betraf: Alle verfassten Staatsorgane hatten vom pouvoir constituant nur ein Mandat auf der Basis dieser Vorläufigkeit erhalten.78 Mit der Wiedervereinigung ist dann zwar das Wiedervereinigungsgebot – verstanden als das Gebot auf die Wiedervereinigung hinzuwirken und alles zu unterlassen, was sie vereiteln könnte – obsolet geworden. Das lässt aber die Grundentscheidung für den Nationalstaat, die im Wiedervereinigungsgebot und ganz besonders in der hierauf bezogenen Vorläufigkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck kam, unberührt. Auch wenn man heute das Grundgesetz als die endgültige Verfassung Deutschlands betrachten kann und der Vorläufigkeitsvorbehalt nicht mehr gilt, nachdem das Ziel, dem dieser Vorbehalt gedient hatte, erreicht worden ist, ohne dass von der Option, das Grundgesetz durch eine andere Verfassung zu ersetzen, Gebrauch gemacht wurde,79 so macht doch die in der ursprünglichen Präambel formulierte Zweckbestimmung deutlich: Sie wurde vom Verfassunggeber selbst getroffen und konnte nur von diesem getroffen werden. Sie kann vom verfassungsändernden Gesetzgeber daher nicht aufgehoben werden, soweit sie nicht durch die tatsächlich erfolgte Wiedervereinigung obsolet geworden ist.

 Ausführlicher Murswiek (Fn.  20), Rn.  184.  Eingehend zu diesen Zusammenhängen Dietrich Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung. Ein Beitrag zur Diskussion um die Verfassungswidrigkeit der wiedervereinigungsbedingten Verfassungsänderungen, 1999, S.  40 ff., 60; ders. (Fn.  20), Rn.  163 m.w.N., 183. 79   Zu dieser Frage eingehend mit Darstellung des Streitstands Murswiek (Fn.  20), Rn.  169 ff. 77

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3.  Die Grundentscheidung für den Nationalstaat und die Änderung der Präambel Im Zuge der Wiedervereinigung ist die Präambel geändert worden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat die Willensbekundung des Verfassunggebers „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren“, gestrichen. Dazu war er meines Erachtens nicht berechtigt (s.o. 2.). Geht man hingegen davon aus, dass diese Wortlautänderung verfassungsmäßig ist,80 so bleibt dennoch die Grundentscheidung für die Nationalstaatlichkeit von der Streichung dieser Formulierung unberührt. Denn die Wortlautänderung ändert nichts an der Entscheidung des Parlamentarischen Rates, den deutschen Nationalstaat fortzusetzen. Unter der Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeit der Präambeländerung kann der alte Satz  1 der Präambel jetzt als entstehungsgeschichtliches Dokument für die 1949 getroffene Grundentscheidung verstanden werden, an welcher der verfassungsändernde Gesetzgeber nichts ändern konnte81 und auch gar nichts ändern wollte.82 Das Gebot, die nationale und staatliche Einheit Deutschlands zu wahren, ist durch die Wiedervereinigung nicht obsolet geworden. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber es durch die Neufassung der Präambel beseitigen wollte. Der neugefasste Satz  3 der Präambel – das Grundgesetz gelte nach der Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk – bringt implizit zum Ausdruck, dass die Änderung der Präambel sich in keiner Weise gegen das Prinzip der Nationalstaatlichkeit richtet, sondern zeigt lediglich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber den zuvor gespaltenen Nationalstaat jetzt als endgültig wiederhergestellt ansah.83

V.  Die Identität des Staatsvolkes Die Grundentscheidung für den deutschen Nationalstaat steht in engem Zusammenhang mit der Grundentscheidung über das Subjekt der Demokratie. Es ist nicht irgendein beliebiges Volk, von dem in Deutschland die Staatsgewalt ausgeht, sondern es ist das deutsche Volk. Dieses ist nach dem Grundgesetz Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, und dieses ist Subjekt der demokratischen Legitimation staatlicher Herrschaft.

1.  Kein Subjektwechsel ohne neue verfassunggebende Entscheidung Die verfassten Staatsgewalten dürfen das Subjekt der Demokratie nicht gegen ein anderes austauschen. Das gilt auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber. So könnte die Entscheidung, die verfassunggebende Gewalt auf das europäische Unionsvolk zu übertragen und dieses als Quelle demokratischer Legitimation an die   So die oben in Fn.  67 zitierte Lit.   So auch Hillgruber (Fn.  51), Rn.  15. 82   So auch Hillgruber (Fn.  51), Rn.  14; Huber (Fn.  55), Rn.  41. 83  Vgl. Huber (Fn.  55), Rn.  41. 80 81

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Stelle des deutschen Staatsvolkes zu setzen, nicht durch ein Zustimmungsgesetz zu einer Änderung der Unionsverträge gemäß Art.  23 Abs.  1 GG getroffen werden. Dem stünde Art.  79 Abs.  3 GG entgegen. Insofern steht außer Zweifel, dass die Identität des deutschen Staatsvolks als des Subjekts der Demokratie zu den unabänderlichen Verfassungsgütern gehört. Ein Austausch des demokratischen Subjekts würde eine neue verfassunggebende Entscheidung des Volkes als pouvoir constituant voraussetzen.84 Die Identität des demokratischen Subjekts ist durch das Grundgesetz absolut geschützt. Umstritten ist hingegen die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit dies auch für die konkrete Zusammensetzung des Staatsvolkes gilt. Ich werde zunächst die Problematik skizzieren (2.) und dann untersuchen, ob das Grundgesetz die Wahrung der nationalen Identität des Staatsvolkes voraussetzt (3.).

2.  Identität des Staatsvolkes und nationale Identität Das Staatsvolk ist keine statische Größe. Seine Zusammensetzung ändert sich täglich. Durch Geburten und Sterbefälle, durch Einbürgerungen oder durch den Verzicht auf die Staatsangehörigkeit kommen ständig neue Staatsangehörige hinzu, während andere die Staatsangehörigkeit verlieren. Diese normale Fluktuation betrifft die Identität des Staatsvolkes nicht. Es bleibt, trotz des Zugangs oder Abgangs einzelner Staatsangehöriger dasselbe Volk. Da das Staatsvolk eines Nationalstaats durch die ethnisch-kulturellen Merkmale der großen Mehrheit seiner Staatsangehörigen, durch die sich daraus ergebende nationale Identität, geprägt ist, gibt es aber Probleme für seine Identität im Falle der Masseneinwanderung von Menschen mit einem anderen ethnisch-kulturellen Hintergrund. Der Nationalstaat kann Einwanderer absorbieren und in seine eigene – durchaus flexible und wandelbare – Identität aufnehmen. Das gelingt, wenn diese sich gut integrieren und jedenfalls im Laufe von zwei oder drei Generationen assimilieren, wenn die Kinder deutsch sprechen, sich als Deutsche fühlen und in der Schule in derselben Weise wie andere Kinder und Jugendliche mit der deutschen Geschichte vertraut gemacht und im geistigen Umfeld der deutschen Kultur sozialisiert worden sind. Dies kann aber schwierig oder unmöglich werden, wenn die Zahl der Einwanderer so groß wird, dass sie nicht mehr integriert werden können, oder wenn bei Einwanderern von vornherein die Integrationsbereitschaft fehlt. Dann entstehen Parallelgesellschaften, die andere ethnische oder nationale Identitäten haben, und es ist denkbar, dass im Falle einer völkerwanderungsartigen Masseneinwanderung oder auch in dem Fall, dass eine lang andauernde Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturen mit gegenläufigen demographischen Trends bei Einwanderern und Alteingesessenen zusammentrifft, irgendwann die ethnisch deutsche Bevölkerung in eine Minderheitenposition gerät. Spätestens dann wäre das ursprüngliche Volk ein ganz anderes, wäre nicht mehr mit sich selbst identisch. 84

  Vgl. BVerfGE 123, 267 (404) – Lissabon [2009].

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Die Frage ist, ob das verfassungsrechtlich relevant ist, oder ob hier nur ein soziostrukturelles Phänomen angesprochen wird, das die Identität des Staatsvolkes unberührt lässt. Ein naheliegender Einwand gegen die juristische Relevanz der Einwanderung könnte lauten: Die Einwanderung ändere doch gar nichts an der Zusammensetzung des Staatsvolkes. Ausländische Immigranten seien Ausländer. Sie hätten keinen Anspruch darauf, eingebürgert zu werden. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Erstens gibt es einen Einbürgerungsanspruch nach achtjährigem Aufenthalt in Deutschland.85 Und zweitens: Selbst wenn es diesen Anspruch nicht gäbe, wäre es nicht durchhaltbar, Menschen, die lange in Deutschland leben, die Staatsangehörigkeit und damit die Staatsbürgerrechte vorzuenthalten.86 Die Einwanderung von Menschen, die die Absicht haben, dauerhaft im Aufnahmestaat zu bleiben, hat voraussehbare Vorwirkungen für die Einbürgerung und damit für die Änderung der Zusammensetzung des Staatsvolks. Diese Vorwirkungen müssen bereits in Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme der Einwanderungswilligen berücksichtigt werden. Theoretisch besteht zwar die Möglichkeit, die Auswirkung der Einbürgerung auf die Identität des Staatsvolkes erst etliche Jahre später bei der Entscheidung über die Einbürgerung zu berücksichtigen. Nur wird es dann jedenfalls faktisch zu spät sein.87 Menschen, die in der vom Staat nicht dementierten Erwartung, dass sie hier bleiben können, nach Deutschland gekommen sind, schon viele Jahre hier leben und hier vielleicht schon Kinder bekommen haben, können nicht einfach in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden. Würde aber großen Teilen der Bevölkerung der Staatsbürgerstatus vorenthalten, könnte das zu massiven Friktionen innerhalb des Staates führen. Würden andererseits Hunderttausende oder gar Millionen von Immigranten zu deutschen Staatsangehörigen gemacht, ohne dass sie in die deutsche Gesellschaft integriert sind, müssten Bruchlinien innerhalb des Staatsvolkes entstehen. Jedenfalls wäre seine Identität schwer beeinträchtigt. Dies lässt sich nur vermeiden, wenn die wahrscheinlichen späteren Auswirkungen der Einwanderung auf die Identität des Staatsvolkes bereits im Zeitpunkt der Entscheidung über die Einwanderung berücksichtigt werden. Entscheidend kommt es somit darauf an, ob das Grundgesetz überhaupt die Identität des Staatsvolkes unter dem Aspekt der ethnisch-kulturell geprägten nationalen Identität der Staatsangehörigen schützt.

  Wenn die weiteren Voraussetzungen des §  10 StAG erfüllt sind.   Vgl. z.B. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staatsbürgerschaft und Nationalitätskonzept, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S.  59 (66); Gärditz (Fn.  14), S.  121 m.w.N. 87   Im übrigen ist die Entscheidung über die Einbürgerung eine Entscheidung, die einzelfallbezogen getroffen wird anhand von Kriterien, die sich auf die konkrete Person beziehen; sie eignet sich daher kaum zur Steuerung von Migrationsströmen. Diese kann mit Aussicht auf Erfolg nur bei der Einreise (oder in ihrem unmittelbaren Zusammenhang) ansetzen. 85

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3.  Nationale Identität des Staatsvolkes und Grundgesetz a)  Das konkrete Subjekt der Demokratie Was also sagt das Grundgesetz zu einer Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik, die die ethnische und kulturelle Prägung des deutschen Volkes fundamental ändert, die Entstehung von Parallelgesellschaften duldet oder sogar in Kauf nimmt, dass die ethnisch Deutschen irgendwann in Deutschland in eine Minderheitenposition geraten? Es gibt Staatsrechtler, die sagen, die Antwort sei ganz einfach: Das Grundgesetz sage hierzu gar nichts. Das deutsche Volk im Sinne des Grundgesetzes sei das Staatsvolk. Wer aber zum Staatsvolk gehöre, regele nicht das Grundgesetz, sondern das Staatsangehörigkeitsgesetz. Und dieses erlaube Einbürgerungen. Verfassungsrechtliche Grenzen für Einwanderung und Einbürgerung gebe es nicht.88 Das ist rein formell betrachtet plausibel. Das Staatsvolk wäre immer noch das Staatsvolk, auch wenn es irgendwann zu 90 % aus Menschen aus anderen Kulturen bestünde, die sich zudem immer noch als Angehörige ihrer Herkunftsnationen verstünden. Aber wäre es dann noch das „deutsche Volk“ im Sinne des Grundgesetzes? Erlaubt es das Grundgesetz wirklich, dass die Bundesregierung eine weitgehende Änderung der Zusammensetzung des Volkes durch Einwanderung zulässt oder gar das Volk nach ihren eigenen Vorstellungen ethnisch modelliert?89 Etwa in dem Sinne, wie der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble es formuliert hat: Wir bräuchten die Einwanderung, damit wir nicht „in Inzucht degenerieren.“90 Oder im Sinne derer, die eine multikulturelle Gesellschaft wegen der Vorzüge von Vielfalt und Buntheit dem ihrer Ansicht nach eintönigen Nationalstaat vorziehen – bunte Republik statt Bundesrepublik. Erlaubt das Grundgesetz eine so grundlegende Umgestaltung Deutschlands, ohne das Volk zuvor zu fragen? Folgt man den Rechtspositivisten, die aus dem Wortlaut des Grundgesetzes meinen folgern zu können, dass jede einwanderungspolitisch gewollte oder in Kauf genommene Umformung des Volkes mit dem Grundgesetz vereinbar sei, weil ja das Grundgesetz die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum Staatsvolk in die Hände von Parlament und Regierung lege, dann stehen wir vor einem Paradox: Das Grundgesetz stellt die Legitimation der Staatsorgane auf die Grundlage des Satzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Aber wer das Volk ist, sollen diese Staatsorgane, insbesondere die Bundesregierung, bestimmen. Wäre das uneingeschränkt richtig, könnte die Regierung sich das Volk nach ihren Vorstellungen zusammensetzen.91 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker würde dann durch das Recht der Regierung

88  So Walter Leisner, „Nation“ und Verfassungsrecht. Das „integrierte Volk“ als demokratischer Souverän in der Migration, Der Staat 55 (2016), S.  213 ff.; Gärditz (Fn.  14), S.  107 ff. 89   Gärditz (Fn.  14), S.  112, scheint dies zu bejahen: Die „Festlegung, wer personales Substrat des Staatsvolkes sein soll“, schreibt er, sei „Modelliermasse demokratischer Rechtsetzung“. 90  FAZ 8.6.2016, http://www.faz.net/aktuell/politik/wolfgang-schaeuble-abschottung-wuerdeeuropa-in-inzucht-degenerieren-lassen-14275838.html (abgerufen am 8.11.2017). 91   Das meint tatsächlich Leisner (Fn.  88), S.  216: Der deutsche Gesetzgeber könne sogar ganze Populationen ausländischer Staaten in der Bundesrepublik aufnehmen.

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zur Volkshervorbringung ersetzt. Die Regierung wäre nicht mehr vom Volk hervorgebracht, sondern das Volk von der Regierung. Das kann so nicht richtig sein.92 Demokratie setzt voraus, dass ein konkretes Volk vorhanden ist, das die Staatsgewalt entweder selbst ausübt oder durch Wahlen demokratisch legitimierte Staatsorgane hervorbringt. Mit dieser Grundvoraussetzung der Demokratie ist es unvereinbar, dass die Regierung über die Zusammensetzung des Volkes derart verfügen kann, dass die Identität des Volkes sich wesentlich ändert. Könnte die Regierung sich ihr Volk nach ihren eigenen Vorstellungen formen, wäre die Regierung souverän, nicht das Volk.93 Die Verfügung über die Zusammensetzung des Volkes ist vor allem durch Einbürgerungen oder durch Ausbürgerungen möglich. Nach der einen Seite hin ist die Regierung an Verfügungen gehindert: Das Grundgesetz verbietet Ausbürgerungen gegen den Willen der Betroffenen (Art.16 Abs.  1 GG). Nach der anderen Seite hin zieht das Grundgesetz keine ausdrückliche Grenze. Einbürgerungen sind zulässig, ohne dass das Grundgesetz hierfür expressis verbis Voraussetzungen formuliert. Aber gibt es deswegen keine Voraussetzungen und keine Grenzen? Eine zentrale rechtliche Anforderung an politische Entscheidungen, die sich auf die Zusammensetzung des Staatsvolkes auswirken, ist, dass bei allen Änderungen der Zusammensetzung die Identität des Volkes im Wesentlichen erhalten bleiben muss. Das ergibt sich daraus, dass das Subjekt der Demokratie allen Staatsorganen übergeordnet ist.94 Sie dürfen über dieses Subjekt nicht verfügen. Aber worin besteht die Identität dieses Subjekts? Was zur Identität eines Staatsvolkes gehört, lässt sich nicht allgemein, sondern nur für ein konkretes Staatsvolk sagen. Nationalstaaten, die ein ethnisch geprägtes Mehrheitsvolk organisieren, haben andere Identitäten als Einwanderungsländer, in denen die autochthone Bevölkerung marginalisiert worden ist und deren Staatsvolk sich praktisch nur aus Zuwanderern aus den verschiedensten Ländern zusammensetzt. Deren Identität, deren Selbstverständnis, ändert sich grundsätzlich durch weitere Zuwanderung (jedenfalls aus den bisherigen Herkunftsländern) nicht, während eine Massenzuwanderung aus anderen Sprach- und Kulturräumen die Identität eines nationalstaatlichen Staatsvolks verändert. Die Frage nach der kollektiven Identität ist die Frage danach, wer wir sind und wer wir sein wollen. Für das Staatsvolk als Kollektiv lässt sie sich, bezogen auf die Einwanderung, reformulieren als Frage danach, ob der Staat ein prinzipiell für alle offenes Einwanderungsland oder ob er der Nationalstaat eines ethnisch-kulturell gepräg92  Ebenso Hillgruber (Fn.  51), Rn.  19; Ulrich Vosgerau, Staatliche Gemeinschaft und Staatengemeinschaft. Grundgesetz und Europäische Union im internationalen öffentlichen Recht der Gegenwart, 2016, S.  154 f.; vgl. auch Isensee (Fn.  26), S.  142; ders. (Fn.  25), S.  187 f.; im Kontext des Wahlrechts ders. (Fn.  10), S.  734 f.; Helmut Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, DÖV 1983, S.  1 (9); ders., Einbürgerungspolitik als Ausländerpolitik, Der Staat 27 (1988), S.  481 (496 f.); Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, S.  151 (154). 93  Ebenso Vosgerau (Fn.  92), S.  155. 94   Dies ist, ebenso wie die Entscheidung für das deutsche Volk als konkretes Subjekt, eine Entscheidung des Grundgesetzes, nicht ein vorrechtliches Postulat, s.o. II., IV., insb. Fn.  69. Die Ansicht, die verfassten Staatsorgane dürften das Staatsvolk nach ihren Vorstellungen modellieren, lässt sich daher nicht damit begründen, die Festlegung, wer „personales Substrat des Staatsvolkes“ sein soll, bestimme sich „rein rechtsendogen“, so aber Gärditz (Fn.  14), S.  112.

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ten Volkes sein soll. Das Staatsvolk eines Einwanderungslandes definiert sich typischerweise dadurch, dass es keine festgelegte ethnisch-kulturelle Identität hat (sondern seine Identität zum Beispiel allein in bestimmten Verfassungsprinzipien findet),95 während das Staatsvolk eines Nationalstaates durch die ethnisch-kulturellen Spezifika der betreffenden Nation charakterisiert ist.96 Die so verstandene Identität des Staatsvolkes ist nicht etwas rein Faktisches. Denn – wie oben (IV.) dargelegt – verfasst das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland als den Nationalstaat der Deutschen. Und mit den Deutschen sind nicht irgendwelche Menschen gemeint, die zufällig in Deutschland leben, sondern damit ist die – ethnisch-kulturell geprägte – deutsche Nation gemeint.97 Daher gehört zur Identität des Staatsvolkes jedenfalls, dass die große Mehrheit des Volkes aus ethnisch Deutschen besteht und Deutsch als Muttersprache spricht. Die Entscheidung des Verfassunggebers für die Neukonstituierung des deutschen Nationalstaats impliziert die Entscheidung dafür, dass das Subjekt der Demokratie in diesem Staat diejenigen Identitätsmerkmale aufweist, die die deutsche Nation im Verständnis des Parlamentarischen Rates ausmachen und die das deutsche Staatsvolk im Zeitpunkt der verfassunggebenden Entscheidung aufwies. Bei allem Wandel der Zusammensetzung des Staatsvolkes müssen diese Merkmale erhalten bleiben. Der Verfassunggeber hat sich für ein konkretes Subjekt der Demokratie, für das deutsche Volk, nicht für ein abstraktes Subjekt – für die jeweilige Summe beliebiger Staatsangehöriger – entschieden. Und er hat sich dafür entschieden, an der bereits vor der Neukonstituierung des westlichen Teils Deutschlands bestehenden deutschen Staatsangehörigkeit festzuhalten (Art.116 Abs.  1, 16 Abs.  1 GG). Diese Entscheidung für das konkret existierende deutsche Staatsvolk ist sowohl Ausdruck der Grundentscheidung für die Kontinuität des deutschen Nationalstaats als auch Ausdruck der Entscheidung dafür, dass das konkrete, diesen Nationalstaat prägende Volk das Legitimationssubjekt der Bundesrepublik Deutschland sein soll.98 95   Ein Sonderfall ist Israel, dessen Bevölkerung sich seit seiner Gründung durch Einwanderung aus vielen Ländern vervielfacht hat und insofern als Einwanderungsland bezeichnet werden kann, aber eine jüdisch-zionistische, religiös-kulturelle Identität hat und dementsprechend für die Immigration von Juden aus aller Welt offen ist, während es die Immigration von Nichtjuden kontrolliert und begrenzt. 96  Vgl. Stefan Haack, Staatsangehörigkeit – Unionsbürgerschaft – Völkerrechtssubjektivität, in: HStR X, 3.  Aufl. 2012, §  205 Rn.  9. 97   Vgl. oben vor Fn.  54; zur Entstehung der deutschen Nation, die Grundlage des im 19. Jahrhundert gegründeten und vom Grundgesetz fortgesetzten deutschen Nationalstaates ist, vgl. z.B. Böckenförde (Fn.  27), S.  47 ff. m.w.N., und ders. (Fn.  86), S.  62 f.: Unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege sei die Kulturnation zur politischen Nation erwacht. Das eigene habe sich nicht aus der Beziehung auf den eigenen Staat, der ja nicht existierte, ergeben können, sondern sei in Anknüpfung an Kriterien der Kulturnation – wie Sprache, Geschichte, Kultur – entwickelt worden. Wie hier auch z.B. Rupert Scholz, Von der verspäteten zur negierten Nation?, FAZ v. 18.12.2015, S.  8; ders. (Fn.  8); Albert Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit, NJW 1990, S.  1397 (1398 f.). 98  Vgl. Hillgruber (Fn.  51), Rn.  17. – Wer dies mit Formulierungen wie „metaphysische Letztbegründung der Demokratie“ oder „angewandte Volksmythologie“ polemisch zurückweist und sich dagegen wendet, die Staatsangehörigkeit nicht als „bloße Funktion einer vorrechtlichen Nation“ zu verstehen, die der „Gestaltung durch Recht entzogen“ sei – so Gärditz (Fn.  14), S.  109, 117 –, hat die von ihm attackierten Autoren wohl nicht gründlich gelesen. Soweit ich sehe, vertritt niemand die These, der Gesetzgeber sei an vorrechtliche Gegebenheiten gebunden, sondern die These ist doch, die Verfassung – also das Recht – knüpfe an vorrechtliche Gegebenheiten an beziehungsweise verpflichte den Gesetzgeber, bestimmte vorverfassungsrechtliche Gegebenheiten zu bewahren. Und es geht nicht darum, ob

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Freilich besteht auch das Staatsvolk eines Nationalstaats aus der Summe seiner Staatsangehörigen ungeachtet deren ethnischer Herkunft oder Zugehörigkeit. Für den Rechtsstatus der dem Staatsvolk angehörenden Individuen spielt die ethnischkul­t urelle Prägung keine Rolle. Dies ist aber kein Widerspruch zu dem, was ich über die Identität des Staatsvolkes gesagt habe. Denn zur Gruppenidentität des Staatsvolks eines Nationalstaats gehört es auch, dass diesem auch die autochthonen ethnischen Minderheiten (in Deutschland die Dänen in Südschleswig, die Friesen und die Sorben) angehören sowie eingebürgerte Immigranten mit anderem ethnischen Hintergrund. Die Identität des deutschen Staatsvolkes bleibt erhalten, solange sie maßgeblich durch die ethnisch deutsche Mehrheitsbevölkerung und das heißt vor allem durch die deutsche Kultur und Geschichte geprägt ist. Dieses Verständnis der Identität des deutschen Staatsvolks wird bestätigt durch Art.  116 Abs.  1 GG, der nicht nur die deutschen Staatsangehörigen, sondern auch die sogenannten Statusdeutschen dem Staatsvolk zurechnet. Dabei handelt es sich um deutsche Volkszugehörige und ihre Ehegatten oder Abkömmlinge, die als Flüchtlinge oder Vertriebene in Deutschland Aufnahme gefunden haben. Mit „Volkszugehörigkeit“ im Unterschied zu Staatsangehörigkeit ist hier eindeutig die Zugehörigkeit zum Volk im ethnischen Sinne gemeint.99 Mit dieser Regelung gibt das Grundgesetz ethnisch Deutschen (und ihren nahen Angehörigen) einen Sonderstatus, der Menschen mit anderer Volkszugehörigkeit nicht zusteht. Dies ist nur vor dem Hintergrund verständlich, dass das Grundgesetz davon ausgeht, dass die deutschen Staatsangehörigen in aller Regel auch deutsche Volkszugehörige sind.100 Dass Art.  116 Abs.  1 GG mit der Kategorie der Statusdeutschen eine Übergangsregelung zur Bewältigung einer historischen Sondersituation schaffen wollte, steht dem nicht entgegen.101 Aus diesem Zweck lässt sich zwar ableiten, dass der besondere Status nur der begrenzten Gruppe derjenigen Volksdeutschen zustehen soll, die in dieser Vorschrift erwähnt werden, und dass das Kriterium der Volkszugehörigkeit für die Zugehörigkeit des Individuums zum Staatsvolk und für seine Staatsangehörigkeit ansonsten keine Rolle spielt. Der Übergangszweck ist hingegen kein Argument dagegen, sondern er bestätigt, dass der Verfassunggeber davon ausging, dass das deutsche Staatsvolk im Regelfall aus Volksdeutschen besteht und dass das Staatsangehörigkeitsrecht und seine Anwendung sicherstellen, dass dies auch so bleibt.102 die Staatsangehörigkeit der Gestaltung durch Recht entzogen ist, sondern ob die Verfassung für diese Gestaltung rechtliche Grenzen normiert, die der Änderung durch den einfachen Gesetzgeber oder auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen sind. Es geht also nicht um Gestaltung oder Nichtgestaltung, sondern um die kompetenzielle Ebene, auf der hier Gestaltung rechtlich zulässig ist (vgl. dazu noch unten Fn.  138). 99   Vgl. die Legaldefinition in §  6 Abs.  1 Bundesvertriebenengesetz: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ Ausführlich zum Begriff und zu den rechtlichen Funktionen der Volkszugehörigkeit Eckart Klein, Status der deutschen Volkszugehörigen und Minderheiten im Ausland, in: HStR X, 3.  Aufl. 2012, §  212 Rn.  1 ff., 12 ff. 100  Vgl. Hillgruber (Fn.  51), Rn.  24; Bleckmann (Fn.  97), S.  1399. 101   So aber Gärditz (Fn.  14), S.  108. – Christian Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz, 2009, Art.  116 Rn.  3.4, weist im übrigen darauf hin, dass die Vorschrift nicht bereits durch Zeitablauf obsolet sei. 102  Vgl. Hillgruber (Fn.  101), Rn.  3.2–3.4.

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Die rechtliche Bedeutung der Identität des Staatsvolkes kann ebenso wie die inhaltliche Reichweite der Verfassungsentscheidung für den Nationalstaat in ähnlicher Weise verstanden werden wie die institutionellen Garantien oder die Institutsgarantien des Grundgesetzes: Die garantierten Rechtsinstitute sind wandelbar; doch unter allen Wandlungen müssen sie in ihrem typusbestimmenden Kern erhalten bleiben.103 Dass das deutsche Staatsvolk ganz überwiegend aus ethnisch Deutschen besteht, ist ebenso Verfassungsvoraussetzung wie der Umstand, dass in Deutschland deutsch gesprochen wird. Deutsch ist nicht nur faktisch Amtssprache in Deutschland und die Sprache des Grundgesetzes. Sondern die Entscheidung für den deutschen Nationalstaat impliziert, dass Deutsch die allgemeine Kommunikationssprache ist und bleiben soll – nicht nur im amtlichen Sprachgebrauch, sondern auch in der Gesellschaft.104 Dem muss im Hinblick auf die Gestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts und im Hinblick auf seine Anwendung Rechnung getragen werden. Die Grundentscheidungen für das Prinzip der Nationalstaatlichkeit und für das konkrete deutsche Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt und der demokratischen Legitimation schließen die Annahme aus, die Regelung der Staatsangehörigkeit sei in das freie Belieben des Gesetzgebers gestellt. Vielmehr ist dem Gesetzgeber das konkrete – hinsichtlich seiner Zusammensetzung als deutsch identifizierbare – Volk zwingend vorgegeben. In den Worten Christian Hillgrubers: „Die Integrität des im staatskonstituierenden Vorgang der Verfassunggebung sich selbst voraussetzenden Staatsvolkes als des personalen Substrats und Bezugspunkts demokratischer Legitimation steht nicht zur Disposition der jeweiligen die Regierung tragenden parlamentarischen Mehrheit.“105 Der Gesetzgeber darf das „in seinem Kern und seinen strukturprägenden Regelungsprinzipien institutionell garantierte“ Staatsangehörigkeitsrecht nur behutsam modifizieren und fortentwickeln. Änderungen, die den institutionellen Kern verletzen, lassen die Legitimationskette abreißen, welche die verfasste Staatgewalt mit der verfassunggebenden Gewalt verbindet.106 Der Legitimationszusammenhang bleibt erhalten, wenn das Staatsvolk „relativ homogen bleibt und seine Identität wahrt“, während „fundamentale Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts, die zu einer zahlenmäßig erheblich ins Gewicht fallenden, neuartigen Zusammensetzung des Staatsvolkes führen“, den Legitimationszusammenhang unterbrechen. Denn „das so strukturell umgeformte Staatsvolk“ könnte nicht mehr als das deutsche Volk gelten, das die Bundesrepublik Deutschland verfasst hat und fortwährend legitimiert.107   So auch Hillgruber (Fn.  101), Rn.  3.4.   Natürlich gehört es zur grundrechtlich geschützten individuellen Freiheit, in jeder beliebigen Sprache zu kommunizieren. Aber die Staatsorgane sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die faktischen Voraussetzungen dafür, dass die Kommunikation in Deutschland in der Regel auf Deutsch erfolgt, erhalten bleiben. 105   Hillgruber (Fn.  51), Rn.  19. 106   Hillgruber (Fn.  51), Rn.  20; vgl. auch Isensee (Fn.  10), S.  735 f. 107   Hillgruber (Fn.  51), Rn.  20, mit konkreteren Folgerungen für die Gestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts in Rn.  25 ff.; ders. (Fn.  101), Rn.  3.2–3.4; vgl. auch Vosgerau (Fn.  92), S.  162 f. – Das vom Verfassunggeber vorgefundene und aufgenommene deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wahrt die Identität des Staatsvolkes dadurch, dass die Staatsangehörigkeit in der Generationenfolge nach dem ius sanguinis weitergegeben wird, das zum Kernbestand der institutionellen Garantie der deutschen Staatsangehörigkeit gehört, vgl. Rupert Scholz/Arnd Uhle, Staatsangehörigkeit und Grundgesetz, NJW 1999, S.  1510 (1511 f.). Das ius sanguinis „tradiert und pflegt die gemeinsame Abstammung, die gemeinsame 103

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Gerade weil die Staatsangehörigkeit als solche ein formaler Status und somit ethnisch-kulturell neutral ist, muss das Staatsangehörigkeitsrecht durch seine Regelungen über den Erwerb der Staatsangehörigkeit sicherstellen, dass im Wechsel der individuellen Zugehörigkeiten die nationale Einheit und die Identität des Staatsvolkes gewahrt bleiben. Nichts anderes als für die strukturelle Umformung des Staatsvolkes infolge von Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts kann gelten, wenn die Änderung der Identität des Staatsvolkes die Folge einer bestimmten Praxis der Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts, nämlich Folge der Einbürgerungspraxis ist. Und zumindest sofern es um Anspruchseinbürgerungen geht, muss auch die Praxis der Einwanderungspolitik als Vorwirkung für spätere Einbürgerungen am Kriterium der Wahrung der Identität des Staatsvolkes gemessen werden.

b)  Widerspruch zwischen formeller Definition und materieller Identität des Staatsvolkes? Aus dem Umstand, dass das Staatsvolk sich aus den Staatsangehörigen zusammensetzt, wird in der Literatur gefolgert, andere – insbesondere ethnisch-kulturelle – Identitätsmerkmale des Staatsvolkes seien verfassungsrechtlich irrelevant. Pflichten bezüglich der Begrenzung und Steuerung der Einwanderung könnten deshalb aus der Pflicht zur Wahrung der Identität des demokratischen Subjekts nicht abgeleitet werden.108 Diese Folgerungen sind meines Erachtens unzutreffend. Dies ergibt sich schon aus dem, was ich oben (a) über die Identität des Staatsvolkes gesagt habe. Zur Verdeutlichung meiner Position möchte ich im Folgenden das Verhältnis zwischen formeller Definition und materieller Identität des Staatsvolkes genauer beleuchten und zeigen, warum die meines Erachtens gegebene Relevanz ethnisch-kultureller Kriterien der Identität des Staatsvolkes nicht im Widerspruch steht zur Irrelevanz ethnischer Zugehörigkeiten bei der Definition des Staatsvolkes. Mit der formellen Definition des Staatsvolkes als Summe der Staatsangehörigen wird das Subjekt der Demokratie rechtlich so präzise bestimmt, dass es handlungsfähig ist. Nur diese formelle Definition kann auch sicherstellen, dass sich zweifelsfrei entscheiden lässt, wem die besonderen staatsbürgerlichen Rechte zustehen und die besonderen staatsbürgerlichen Pflichten obliegen. Mit der Staatsangehörigkeit gewinnt das Volk, wie Josef Isensee formuliert hat, rechtliche Gestalt. Die Institution der Sprache, die gemeinsame Religion, die gemeinsame Kultur. Es baut auf Homogenität auf und setzt den Willen hierzu voraus. Es widersetzt sich einer Staatsangehörigkeit ohne innere Zugehörigkeit.“, ebd. S.  1512. Auch das Prinzip der grundsätzlichen Vermeidung von Doppelstaatsangehörigkeiten, so ­S cholz/ Uhle, diene der Wahrung der nationalen Einheit, ebd. S.  1512. Auch Burkhardt Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, 1995, S.  271 ff., 289 ff., rechnet das ius sanguinis und die grundsätzliche Vermeidung von Mehrfachstaatsangehörigkeiten zum institutionell geschützten Kern des Staatsangehörigkeitsrechts. – Das BVerfG hat zwar gesagt, der Gesetzgeber sei nicht „streng an den Abstammungsgrundsatz“ gebunden (Urt. v. 17.1.2017 – 2 BvB 1/13 – NPD, Rn.  690), hat damit aber nicht die These verneint, dass dieser Grundsatz zum institutionellen Kern des Staatsangehörigkeitsrechts gehöre. 108  Vgl. Leisner (Fn.  88), S.  229 ff.

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Staatsangehörigkeit ist daher eine wesentliche Voraussetzung der Demokratie.109 Zugleich gewährleistet die formelle Definition die Rechtsgleichheit aller Angehörigen des Staatsvolkes, die ja ein Fundamentalprinzip der Demokratie ist. Dieses Staatsvolk hat aber trotz seiner formellen Definition eine durch „materielle“ oder „substantielle“ Elemente geprägte Identität: Es ist das Volk, als das sich im Akt der Staatsgründung eine zuvor – vorstaatlich, vorrechtlich – existierende Nation konstituiert hat. Die Nation bringt den Staat hervor und mit ihm das Staatsvolk, das zwar rechtlich formell definiert wird, aber materiell die Identitätsmerkmale der Nation aufweist. Welches diese Identitätsmerkmale sind, ist – wie oben dargelegt – bei jedem Staat verschieden, insbesondere im Vergleich der Typen „ethnisch fundierter Nationalstaat“ und „Willensnation“. Was Deutschland angeht, so hat der Parlamentarische Rat das Staatsvolk nicht neu konstituiert, sondern das rechtlich bereits existierende deutsche Staatsvolk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt vorausgesetzt, diese Voraussetzung im Grundgesetz positivrechtlich bestätigt, und in der Verfassung dieses Subjekt zum Subjekt der verfassten Demokratie bestimmt. Dabei ging der Parlamentarische Rat davon aus, dass dieses konkrete Staatsvolk mit der deutschen Nation im Wesentlichen identisch ist. In der Präambel hat er das „Deutsche Volk“ sowohl als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt (und damit als Staatsvolk) als auch als Nation bezeichnet, indem er – bezogen auf dieses Volk – davon sprach, dass es den Willen hat, „seine“ nationale und staatliche Einheit zu wahren. Das deutsche Staatsvolk ist also zwar formell definiert, aber materiell ist es das Staatsvolk der deutschen Nation. Es ist durch diejenigen Merkmale gekennzeichnet, die die nationale Identität der Deutschen ausmachen. Und das ist nicht lediglich eine Beschreibung eines historisch kontingenten Befundes, sondern – wie oben dargelegt (IV.) – eine normative Willensbekundung des Verfassunggebers. Wie verhalten sich nun die formelle Definition und die materielle Identität des Staatsvolkes zueinander? Formelle Definition und materielle Identität sind Anknüpfungspunkte für unterschiedliche, einander ergänzende Regelungen.110 Formell und eindeutig abgrenzbar ist die Zugehörigkeit der Individuen zum Staatsvolk geregelt sowie alle damit verbundenen Rechte und Kompetenzen. Insbesondere wer das Wahlrecht hat und ob eine Wahl oder ein Volksentscheid gültig ist, hängt insoweit nur von dem formellen Kriterium der Staatsangehörigkeit der Stimmberechtigten ab. Die materielle Identität spielt auf dieser Ebene keine Rolle und kann deshalb auch gar nicht in Widerspruch zu den rechtlichen Funktionen des Volks als Kompetenzbegriff und zu den Rechten der ihm angehörenden Staatsangehörigen treten. Die Fragen „Wer entscheidet, wenn nach dem Grundgesetz das Volk entscheidet?“ und „Wer legitimiert die Staatsgewalt?“ werden anhand des formellen Kriteriums der Staatsangehörigkeit beantwortet. Die Frage „Ist das Volk trotz Änderung der individuellen Zusammensetzung noch dasselbe Volk?“ bezieht sich auf das Kollektiv und wird anhand materieller Kriterien beantwortet. Und diese Kriterien sind für das Handeln der Staatsorgane in bezug auf die Änderung der Zusammensetzung des Staatsvolkes maßgeblich. Die   Isensee (Fn.  26), S.  142.   Dies wird häufig nicht erkannt, beispielsweise von Gärditz (Fn.  14), S.  108 f.

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formelle Definition gibt Auskunft über den Ist-Zustand: Wer gehört dem Staatsvolk an? Die materiellen Identitätskriterien begrenzen rechtlich die Veränderbarkeit des Ist-Zustandes durch politische Entscheidungen. Sie beantworten die Frage: Welche (durch Maßnahmen der Staatsorgane beeinflusste) Veränderungen in der Zusammensetzung des Staatsvolkes sind mit dem Grundgesetz vereinbar?

c) Fazit Die nationale Identität des konkreten, vom Verfassunggeber vorgefundenen Staatsvolkes ist Schutzgut des Grundgesetzes. Und in Deutschland ist die nationale Identität eine wesentlich durch ethnisch-kulturelle Merkmale geprägte Identität. Das Staatsangehörigkeitsrecht und die Einbürgerungspraxis müssen diese Identität wahren.111

VI.  Folgerungen für die Einwanderungspolitik 1.  Wahrung der nationalen Identität als legitimes Ziel der Migrationspolitik Die Politik offener Grenzen für alle Migranten wird ideologisch unterfüttert seitens mancher Vertreter des menschenrechtlichen Universalismus, die politisch mit Schlagworten wie „Kein Mensch ist illegal“ oder „No borders – no Nations“ für ein Menschenrecht auf Einwanderung in jeden Staat seiner Wahl kämpfen oder mit philosophischen Argumenten ein solches Recht (und dann auch das Recht auf Sozialleistungen in diesem Staat) postulieren.112 Interessanterweise ist diese Position nicht ohne historisches Vorbild in der Völkerrechtsgeschichte: So meinte Francisco de Vitoria, dass es ein Recht aller Menschen gebe, sich in jedem beliebigen Land niederzulassen. Hintergrund dieser Überlegungen war, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die soeben entdeckten Indianer den europäischen Ankömmlingen verbieten dürften, den amerikanischen Kontinent zu betreten und in den indianischen Territorien zu siedeln.113 Damals waren es europäische Philosophen und Völkerrechtler (das wurde noch nicht so streng unterschieden), die mit ihren Postulaten freien Zugangs zu allen Ländern der beginnenden europäischen Eroberungs- und Kolonisierungspolitik den Weg bahnen wollten. Heute sind es Politikaktivisten, Journalisten oder Philosophen in Europa und in den USA, die umgekehrt den Einwanderungsströmen von fremden Kontinenten in ihre eigenen Länder den Weg freimachen wollen.   Die Formulierung des BVerfG, das Grundgesetz kenne „einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht“ (Urt. v. 17.1.2017 – 2 BvB 1/13 – NPD, Rn.  690), steht dem nicht entgegen. Denn erstens ist die nationale Identität des Staatsvolkes nicht ausschließlich an ethnischen Kriterien orientiert, und zweitens bezieht sich die These des BVerfG darauf, ob ethnischen Zuordnungen eine „exkludierende Bedeutung“ zugemessen werden darf (ebd. Rn.  691). Dies ist nach der hier vertretenen Auffassung nicht der Fall. 112   Nachweise für solche Positionen z.B. bei Peter Higgins, Open Borders and the Right to Immigration, Human Rights Review 9 (2008), S.  525 (527 f.). 113  Dazu Haack (Fn.  3), S.  105 m. Nachw. 111

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Auf das geltende Völkerrecht können sie sich dafür nicht berufen. Ein „Menschenrecht auf Immigration“ gibt es juristisch eindeutig nicht. Es kann insbesondere auch nicht aus der in Art.  12 Abs.  1 IPBPR garantierten Ausreisefreiheit abgeleitet werden. Der Schluss, wenn jeder das Land, in dem er sich befindet, verlassen darf, dann ergebe sich daraus, dass er in jedes beliebige Land einreisen dürfe, ist unlogisch. Er entspricht natürlich nicht der Regelungsintention des IPBPR, dessen Vertragsstaaten überhaupt nicht daran gedacht haben, ihre völkerrechtliche Befugnis zur Entscheidung darüber, wer in ihr Land einreisen darf, aufzugeben. Dies wird auch bestätigt durch Art.  12 Abs.  4 IPBPR. Nach dieser Vorschrift darf niemandem willkürlich das Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen. Daraus folgt, dass ein Recht auf Einreise in andere Länder in diesem Menschenrechtspakt mangels anderer ausdrücklicher Normierung nicht geregelt wird. Dass die Bundesregierung die Einwanderung begrenzen oder auch ganz verhindern darf, sofern es nicht um Asylberechtigte oder um nach EU-Recht Schutzberechtigte geht, und dass sie dies auch zum Zweck der Wahrung der Identität des Staatsvolkes tun darf, ist selbstverständlich. Es gibt keine völkerrechtliche Pflicht zur Aufnahme ausländischer Einwanderer,114 und aus dem Grundgesetz folgt eine solche Pflicht auch nicht.

2.  Das Prinzip der (europaoffenen) Nationalstaatlichkeit als Grenze der Einwanderungspolitik Wie oben gezeigt, enthält das Grundgesetz die Entscheidung für den – europaoffenen – Nationalstaat (IV.). Diese Entscheidung steht nicht einmal zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers (IV.2.). Eine Politik, die den Nationalstaat abschaffen und durch eine multikulturelle Gesellschaft oder gar durch einen Viel­völ­ ker­staat ersetzen will, ist daher verfassungswidrig. Da das Grundgesetz die Politik verpflichtet, die nationale Einheit des deutschen Volkes und damit auch die Identität des Staatsvolkes zu erhalten, darf sie auch nicht passiv oder gleichgültig zulassen, dass durch Einwanderung die Identität des Volkes sich so stark verändert, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr als Nationalstaat der Deutschen angesehen werden kann. Die Entscheidung für den Nationalstaat schließt eine maßvolle Einwanderung nicht aus. Entscheidend ist, dass dadurch der Charakter Deutschlands als Nationalstaat nicht verlorengeht. Seine identitätsbestimmenden kulturellen Merkmale müssen erhalten bleiben. Aufgabe der Politik ist es, dafür zu sorgen, dass die kulturellen, demographischen und sprachlichen Voraussetzungen des Nationalstaats erhalten bleiben.115 Wieviel Einwanderung Deutschland verträgt, ohne seine Eigenart, Nationalstaat der Deutschen zu sein, zu verlieren, lässt sich nicht abstrakt in Zahlen ausdrücken. Dies heißt aber nicht, dass sich Grenzen der Einwanderung nicht konkret bestimmen ließen. Nur muss die Konkretisierung dieser Grenzen unter Berücksichtigung   Vgl. z.B. Karl Doehring, Völkerrecht, 2.  Aufl. 2004, Rn.  853; Haack (Fn.  3), S.  111 ff.   Zur „Identitätspflege“ Murswiek (Fn.  20), Rn.  233–238; Rupert Scholz, Von der verspäteten zur negierten Nation?, FAZ v. 18.12.2015, S.  8. 114

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der konkreten Situation erfolgen. Abstrakt lässt sich aber sagen, wann die Grenze der mit dem Nationalstaatsprinzip unvereinbaren Einwanderung auf jeden Fall überschritten wäre: dann nämlich, wenn die Migrationspolitik dazu führt, dass in Deutschland eine kulturell hier nicht verwurzelte Mehrheitsbevölkerung entsteht;116 auch schon dann, wenn sich ethnische Parallelgesellschaften bilden und verfestigen oder wenn ein erheblicher Teil des Staatsvolkes der deutschen Sprache nicht mehr mächtig ist. Der hier vertretenen Auffassung ist entgegengehalten worden, eine Pflicht zur Wahrung der kulturellen Identität des Nationalstaats könne es mangels juristischer Subsumtionseignung nicht geben.117 Das ist ein sehr verengtes Verständnis von Verfassungsrecht. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen und Prinzipien sind in aller Regel nicht ohne weiteres subsumtionsfähig. Man kann zum Beispiel auch nicht unter „Rechtsstaat“, unter „Sozialstaat“ oder unter „Menschenwürde“ subsumieren. Aber das heißt doch nicht, dass sie keinen rechtlichen Gehalt haben und keine Pflichten begründen. Prinzipien bedürfen der Konkretisierung, um subsumtionsfähig zu sein. Wie dicht und wie präzise ihr verfassungsrechtlich verpflichtender Gehalt ist, hängt davon ab, ob und inwieweit sich das jeweilige Prinzip anhand verfassungsrechtlicher Kriterien konkretisieren lässt. Es ist einzuräumen, dass das Prinzip der Nationalstaatlichkeit – ebenso wie die Identität des Staatsvolkes – erhebliche Unschärfen aufweist. Aber Unschärfen sind im Verfassungsrecht nichts Ungewöhnliches. Auch wenn sich nicht präzise aus der Verfassung ableiten lässt, wieviel Einwanderung – oder genauer: wieviel von welcher Einwanderung – mit dem Nationalstaatsprinzip vereinbar ist, so schließt dies nicht aus, dass sich konkretisieren lässt, welche einwanderungspolitischen Entscheidungen mit diesem Prinzip jedenfalls nicht vereinbar sind. Dazu gehört zumindest die extreme Entscheidung: Grenzen auf für alle, Einwanderung ohne jede quantitative Beschränkung. Bei der Konkretisierung des mit dem Nationalstaatsprinzip noch zu vereinbarenden Aufnahmevolumens sind zunächst zwei Kategorien von Immigranten zu unterscheiden:118 einerseits Einwanderer, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollen und – vor allem als Arbeitskräfte – in Deutschland erwünscht sind, vielleicht sogar angeworben werden, und andererseits Flüchtlinge, die – als Asylberechtigte oder subsidiär Schutzberechtigte – vorübergehend aufgenommen werden.

a)  Dauerhafte Einwanderung, insbesondere Arbeitsmigration Betrachten wir zunächst die erste Kategorie. Hier kommt es maßgeblich auf die Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft an. Je größer beides ist, desto mehr Arbeitsmigranten kann Deutschland aufnehmen. Für die Integrationsfähigkeit spie  Murswiek (Fn.  6), S.  126.   Klaus F. Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und Territorialität im Kontext, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.  105 (119). 118  Dazu Christian Hillgruber, Flüchtlingsschutz oder Arbeitsmigration. Über die Notwendigkeit und die Konsequenzen einer Unterscheidung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.  185 ff. 116 117

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len etwa berufliche Qualifikationen und Sprachkenntnisse, aber auch Aspekte der kulturellen Sozialisation im Herkunftsland eine Rolle. Je ähnlicher der sozio-kulturelle Hintergrund, desto leichter dürfte die Integration in Deutschland fallen. Umgekehrt: Je größer die sozio-kulturellen Differenzen von Einwanderungsaspiranten sind, desto geringer die Integrationswahrscheinlichkeit. Ob und unter welchen Voraussetzungen Integration gelingt und im Laufe der Zeit zu einer Akkulturation und Assimilation führt, lässt sich nicht exakt prognostizieren; es lässt sich aber anhand von Erfahrungen einschätzen, die wir in Deutschland mittlerweile vielfältig gewonnen haben, die aber auch etliche andere europäische Staaten gemacht haben. Überall dort, wo Parallelgesellschaften entstanden sind, wo Eingewanderte im wesentlichen unter sich bleiben, wo auch in der zweiten oder dritten Generation noch gar nicht oder nur sehr gebrochen die Sprache des Aufnahmelandes gesprochen wird oder wo die Polizei sich kaum noch in bestimmte Stadtteile trauen kann, ist Integration gescheitert. Das sind nur Beispiele. Man kann fast täglich von Problemen lesen, die auf gescheiterte Integration hindeuten: Clanstrukturen, Ehrenmorde, Zwangsheiraten, Türken mit doppelter Staatsangehörigkeit, deren Loyalität Erdogan und der Türkei gilt, um nur einige Stichworte zu nennen. Stellt man dem die Erfahrungen mit gelungener Integration gegenüber, dann lassen sich Gesichtspunkte dafür gewinnen, welche Einwanderer sich besser und welche Einwanderer sich weniger gut integrieren lassen. Es hat sich gezeigt, dass Immigranten aus einigen Staaten, etwa Italien, Spanien oder China, ganz überwiegend sehr gut integriert sind, während Immigranten aus einigen anderen, überwiegend muslimischen Staaten, zu erheblichen Teilen schlecht oder gar nicht integriert sind. Das Entstehen von ethnischen Parallelgesellschaften ist mit dem grundgesetzlichen Konzept des Nationalstaats unvereinbar. Es darf weder planvoll herbeigeführt noch in Kauf genommen werden. Für die rechtliche Beurteilung der künftigen Einwanderungspolitik ist es notwendig, die – in Deutschland oder in Ländern wie Frankreich oder Großbritannien – vorhandenen Fehlentwicklungen zu betrachten und ihre Entstehungsbedingungen zu analysieren. Daraus sind Folgerungen für die künftige Einwanderungspolitik zu ziehen. Als erste Maßnahme muss die weitere Einwanderung in die bereits entstandenen Parallelgesellschaften möglichst verhindert werden. Im Übrigen sind die politischen Maßnahmen, mit Hilfe derer man sicherstellt, dass Einwanderung nur in dem Maße erfolgt, in welchem Deutschland die Einwanderer integrieren kann, rechtlich nicht im Einzelnen determiniert. Die Politik hat insoweit, im Rahmen der bestehenden rechtlichen (insbesondere europarechtlichen) Grenzen, große Gestaltungsspielräume. Deshalb will ich hier auf mögliche Maßnahmen nicht eingehen und mich auf folgende Hinweise beschränken: Einwanderung aus Ländern, aus denen Migranten sich typischerweise als besonders integrationsresistent erwiesen haben, sollte prinzipiell nicht gestattet werden, sofern sich nicht im Einzelfall nach sorgfältiger Prüfung – vor der Einreise – eine positive Integrationsprognose stellen lässt. Unvereinbar mit dem Nationalstaatsprinzip ist es auch, die Einwanderung zunächst uneingeschränkt zuzulassen, um dann darauf zu setzen, dass die Immigranten sich schon integrieren werden oder dass man ihnen werde zur Integration verhelfen können. Der Staat kann aber Integration nicht erzwingen. Dem stehen die Freiheitsrechte entgegen. Daher ist es zwingend notwendig, bereits bei der Aufnahme von Einwanderern die Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft

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abzuschätzen und nur bei einer positiven Integrationsprognose die Einreise zu gestatten beziehungsweise den Aufenthalt zu erlauben. Genau gekommen kann der Nationalstaat die ihn auszeichnenden kulturellen Besonderheiten nur dann dauerhaft bewahren, wenn er auf eine besonders starke Form der Integration, die Assimilation,119 setzt. Diese kann und darf er – ebenso wie generell die Integration – nicht erzwingen, soweit es nicht lediglich um die für alle verbindlichen Rechtspflichten geht. Im Unterschied zur Integrationsbereitschaft lässt sich Assimilationsbereitschaft auch kaum individuell bei Entscheidungen über Einreise oder Einbürgerung prüfen.120 Was der Nationalstaat jedoch tun kann, ist beispielsweise, künftige Einwanderung nur in dem Maße zuzulassen, in dem er die vergangene Einwanderung durch freiwillige Assimilation absorbiert hat. Ein wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Integration in den deutschen Nationalstaat und seine Kultur ist die Relation zwischen Zahl der Immigranten und Zeitablauf. Man hat eine wesentlich größere Chance, eine Million Immigranten zu integrieren, wenn sie im Laufe von zehn Jahren einreisen, als wenn sie innerhalb eines oder zweier Jahre einreisen. Und sie lassen sich leichter integrieren, wenn sie im Bundesgebiet verteilt werden, als wenn sich Einwandererethnien in bestimmten Städten konzentrieren. Je mehr die Einwanderer unter sich bleiben und je größer der Anteil der Kinder und Jugendlichen in den Schulen ist, die nicht Deutsch als Muttersprache haben, desto schwieriger wird die Integration. Einwanderungsbegrenzung ist daher faktische Integrationsvoraussetzung. Und eine positive Integrationsprognose ist – im Hinblick auf das Nationalstaatsprinzip – rechtliche Einwanderungsvoraussetzung. Diese Prognose muss sowohl individuell als auch im Hinblick auf die kollektive Integrationskapazität Deutschlands – generell oder auch in bezug auf Einwanderer aus bestimmten Kulturen – getroffen werden. Lässt sich für den individuellen Einwanderungsbewerber keine positive Integrationsprognose stellen, darf die Einreise nicht erlaubt werden.121 Ist die Integrationskapazität Deutschlands erschöpft, darf vorerst keine weitere Einwanderung zugelassen werden.122

b)  Aufnahme von Schutzsuchenden Ein Hauptproblem der deutschen Einwanderungspolitik ist gegenwärtig, dass es die Unterscheidung zwischen Arbeitsmigration und Aufnahme von Schutzsuchenden faktisch nicht gibt. Was ich eben über rechtliche Kriterien für die Begrenzung der Einwanderung gesagt habe, bezog sich auf die erwünschte Arbeitsmigration. Die Masseneinwanderung, die wir 2015 erlebt haben und die zur Zeit nur abgeebbt  Zu Begriff und Konzept der Assimilation vgl. Josef Isensee, Integration mit Migrationshintergrund, JZ 2010, S.  317 (324). 120   Assimilation ist ein längerfristiger Prozess, der sich über Generationen hinziehen kann. 121   Ich spreche jetzt nur von Immigranten aus Nicht-EU-Staaten und klammere Probleme aus, die sich aus mangelnder Integration von Immigranten ergeben können, die sich auf die Freizügigkeit innerhalb der EU stützen. 122   Diese Erkenntnis hatte früher auch einmal Angela Merkel, vgl. ihre Rede am 13.9.2002, BT Ple­ narprot. 14/253, S.  25610: „Bevor wir eine neue Zuwanderung bekommen, müssen wir erst einmal die Integration der bei uns lebenden ausländischen Kinder verbessern.“ 119

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ist,123 aber angesichts des Migrationsdrucks insbesondere aus Afrika jederzeit wieder anschwellen kann, ist keine Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, wie am Anfang der Willkommenseuphorie behauptet worden war, sondern ein Zustrom von Menschen, die hier zum Teil Schutz vor Verfolgung und vor den Gefahren von Bürgerkriegen, zum großen Teil aber einfach bessere Lebensverhältnisse als in ihrer Heimat suchen. Diese Menschen werden hier in der Öffentlichkeit meist pauschal als „Flüchtlinge“ bezeichnet oder als Asylbewerber, weil sehr viele oder die meisten einen Asylantrag stellen, der ihnen – obwohl ein Asylanspruch schon wegen Einreise über ein sicheres Drittland evident nicht gegeben ist – einen Aufenthalt in Deutschland jedenfalls bis zum Abschluss des Asylverfahrens sichert. Man könnte nun sagen, die sich aus dem Nationalstaatsprinzip ergebende Grenze für die Einwanderung – die Integrationskapazität Deutschlands – müsse doch nicht für die Schutzsuchenden gelten. Denn diesen werde ja nur vorübergehender Schutz – bis zum Ende der Verfolgungssituation oder des Bürgerkriegs in ihrem Heimatland – gewährt. Sie bräuchten sich also gar nicht zu integrieren. Ja, ihre Integration könne sogar kontraproduktiv sein, denn sie schmälere die Bereitschaft zur Rückkehr in ihr Heimatland, in dem sie – ganz besonders, wenn es sich um qualifizierte Arbeitskräfte handelt – dringend gebraucht würden. Und auch ohne Integration gefährdeten sie – wegen ihres nur temporären Aufenthaltsstatus – die Identität des Nationalstaats nicht. Es gibt andere Aspekte, unter denen auch die Aufnahme von Schutzsuchenden begrenzt werden muss – etwa die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Kapazitäten für eine menschenwürdige Unterbringung, die personellen Kapazitäten der Verwaltung und der Gerichte. Aber ist unter dem Aspekt der Nationalstaatlichkeit die Aufnahmekapazität für Schutzsuchende unbegrenzt? Dem steht schon entgegen, dass der größte Teil derer, die als angeblich Schutzsuchende, als angeblich politisch Verfolgte kommen und hier einen Asylantrag stellen, in Wirklichkeit nur bessere Lebensverhältnisse suchen. Und Hunderttausende von ihnen kommen nicht, um einer nur temporären Notlage zu entgehen, sondern sie wollen dauerhaft in Deutschland bleiben – zum Beispiel, weil die Aussicht lockt, hier allein durch staatliche Sozialleistungen viel besser leben zu können, als dies ihnen in ihrer Heimat durch harte Arbeit möglich wäre. Hinzu kommt, dass Immigranten, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach EU-Recht haben, in der Regel nicht abgeschoben werden.124 Wenn aber erfahrungsgemäß der weitaus größte Teil derer, die als angebliche Flüchtlinge nach Deutschland kommen, nicht vorübergehend hier Schutz suchen, sondern dauerhaft bleiben wollen und ihnen dies auch gestattet oder ihr dauerhafter Aufenthalt zumindest geduldet wird, dann ist auch durch diese Kategorie von Immigranten die Identität des Nationalstaats berührt. Eine durchgreifende 123   Im Jahr 2017 wurden von Januar bis November in Deutschland rund 207.000 Asylanträge gestellt, davon rund 185.000 Erstanträge, BaMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl November 2017, S.  4. 124   Vgl. z.B. Bernhard Kempen, Abschiebung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S.  216 (218). Neueste Zahlen: Im Jahr 2017 sind von etwa 230.000 Ausreispflichtigen bis Ende November rund 28.000 freiwillig (mit finanzieller Unterstützung durch den Bund) ausgereist und rund 22.000 abgeschoben worden, FAZ v. 23.12.2017, S.  4; Welt 21.12.2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article171792651/Abschiebungen-und-freiwillige-Ausreisen-Rueckfuehrungsplaene-scheitern.html (abgerufen am 23.12.2017).

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Änderung der Abschiebepraxis hätte zwar höchste Priorität, ist aber wohl nicht zu erwarten. Deshalb wäre einwanderungspolitisch zu fordern, dass die Einreise von Menschen, die offensichtlich nicht asylberechtigt oder subsidiär schutzberechtigt sind, von vornherein unterbunden wird. Gelänge dies, dann wäre wahrscheinlich die Zahl der in die zweite Kategorie fallenden Immigranten so gering, dass sie nicht nur unter den Aspekten der Belastbarkeit der Sozialsysteme, der Wohnverhältnisse oder der administrativen Ressourcen bewältigt werden könnte, sondern auch im Hinblick auf die Nationalstaatlichkeit keine gravierenden Probleme aufwürfe. Und dann hätte Deutschland auch Aufnahmekapazität für die erste Kategorie und könnte für diese Kategorie die Einwanderung nach eigenen Bedürfnissen steuern.

c)  Angeblich Schutzsuchende als dauerhafte Einwanderer So, wie die Lage aber ist, erfolgt der Massenzustrom auf der „Asyl“-Schiene. Da die große Mehrheit der Asylbewerber dauerhaft hier bleiben will und auch dauerhaft hier bleibt, ergeben sich auch für diese Kategorie Grenzen unter dem Aspekt der Nationalstaatlichkeit. Auch für diese Kategorie muss deshalb gelten, was oben für die Arbeitsmigranten gesagt wurde: Die Integrationskapazität Deutschlands – also die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft, diese Menschen so zu integrieren, dass der Charakter Deutschlands als der Nationalstaat der Deutschen nicht verlorengeht – ist die Obergrenze. Wie diese zu konkretisieren ist, hängt, wie gesagt, auch von der Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft der Immigranten sowie von ihrem kulturellen Hintergrund (der ein objektiver Teil ihrer Integrationsfähigkeit ist) ab. Je besser diese sind, desto weniger belasten sie die Integrationskapazität der Gesellschaft. Ob diese ausreicht, eine bestimmte Anzahl von Immigranten aufzunehmen, lässt sich im Übrigen nicht isoliert in Bezug auf eine bestimmte Zahl von Neuankömmlingen beurteilen. Man muss die Integrationskapazität nämlich vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Einwanderung sehen. Je mehr noch nicht integrierte Einwanderer bereits in Deutschland sind, desto weniger können noch aufgenommen werden, ohne die Integrationskapazität der Gesellschaft zu überlasten. Eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr, wie CDU und CSU sie jetzt als ihr politisches Ziel vereinbart haben,125 würde im Hinblick auf die große Zahl noch nicht integrierter Immigranten, die bereits hier sind, den Test anhand der hier entwickelten Kriterien wohl nicht bestehen, insbesondere wenn es sich um Einwanderer aus dem islamischen Kulturkreis handelt.126

125  Welt.de 9.10.2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article169446310/Der-Asylkom promiss-von-CDU-und-CSU-im-Wortlaut.html (abgerufen am 12.12.2017). 126   Allerdings muss auch hier differenziert werden. So sind die rund 100.000 in Deutschland lebenden Menschen, die aus dem Iran stammen, anscheinend sehr viel besser integriert als Muslime aus anderen Ländern; das wird als Folge sozialer Schichtung erklärt (Elitenmigration mit hohem Bildungs­ niveau und relativ gering ausgeprägter Religiosität), vgl. Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise, 2.  Aufl. 2017, S.  108 f.

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3.  Die Identität des Staatsvolkes als Grenze der Einwanderungspolitik Das Staatsvolk besteht, wie oben (II.) gezeigt, aus sämtlichen Staatsangehörigen ungeachtet ihrer Herkunft, Religion, Muttersprache, ethnischer Zugehörigkeit. Das Grundgesetz geht zugleich davon aus, dass dieses Staatsvolk maßgeblich durch Sprache, Kultur, Geschichte des deutschen Volkes geprägt ist und daraus seine Identität bezieht. Staatsangehörigkeitsrecht und Einwanderungspolitik müssen gewährleisten, dass diese Identität bei allem Wandel der Zusammensetzung des Staatsvolkes gewahrt bleibt (oben V.). Die Maßstäbe für die Einwanderung und insbesondere für ihre Begrenzung, die sich daraus ergeben, sind im Wesentlichen die gleichen, die im vorigen Abschnitt aus dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit abgeleitet wurden. Identität des Staatsvolkes und Identität des Nationalstaates bedingen sich wechselseitig. Was den deutschen Nationalstaat ausmacht, ist in erster Linie, dass er der durch die deutsche Nation geprägte Staat ist, während die Identität des Staatsvolkes sich daraus ergibt, dass es im Wesentlichen mit dieser Nation gleichgesetzt werden kann – also mit dem durch die deutsche Sprache, Kultur und Geschichte geprägten Volk, das sich im Bewusstsein dieser Identität als politische Einheit in „seinem“ Staat organisiert hat. Daher kann hinsichtlich dessen, was die Wahrung der Identität des Staatsvolkes für die Gestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts und der Einwanderungspolitik erfordert, auf das zur Nationalstaatlichkeit Gesagte (oben VI.2.) verwiesen werden. Anders als manche meinen,127 stehen die Grundrechte der Wahrung der materiellen Identität des Staatsvolkes nicht entgegen. Die Staatsorgane haben die Pflicht, diese Identität zu wahren. Zur Wahrung der materiellen Identität darf sich der Staat nur solcher Mittel bedienen, die den Status der Staatsangehörigen und ihre staatsbürgerlichen Rechte nicht tangieren. Insbesondere darf die Staatsangehörigkeit nicht zur Herstellung von Homogenität entzogen werden. Das Grundgesetz lässt die Ausgrenzung und Diskriminierung von Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nicht zu. Eine Entziehung der Staatsangehörigkeit gibt es nicht, egal aus welchen Gründen (Art.  16 Abs.  1 GG),128 Die Zugehörigkeit ist jedem garantiert, der sie hat. Die kollektive Identität kann und muss in erster Linie durch die Steuerung des Zugangs zur Staatsangehörigkeit und – wegen der Vorwirkungen hierauf – durch die Steuerung (das heißt vor allem: durch die Begrenzung) der Einwanderung gewahrt werden. In zweiter Linie kann auf ihre Wahrung mit Integrationshilfen (mit Sprachkursen, Integrationskursen usw.) hingearbeitet werden sowie mit „Identitätspflege“, insbesondere durch Einbeziehung der Neubürger in die allgemeine Selbstvergewisserung der Nation zum Beispiel durch Feiertage, durch Symbole und symbolträchtige Staatsakte, überhaupt durch nationale politische Repräsentation.  Vgl. Bryde (Fn.  12), S.  322.   Diese Vorschrift ist in ihrem Kern unabänderbar. Erwägen könnte man aber, ob – und unter welchen Voraussetzungen – eine Verfassungsänderung die Entziehung der Staatsangehörigkeit für Fälle krasser Integrationsfehlschläge (etwa Teilnahme an terroristischen Akten oder an verfassungsfeindlichen Bestrebungen) innerhalb einer begrenzten Frist nach der Einbürgerung ermöglichen dürfte. Solche Möglichkeiten gibt es in anderen Staaten, Beispiele bei Ziemske (Fn.  107), S.  290, S.  349 f. (Frankreich), S.  358 (VK), S.  410 f. (USA). 127

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Die Pflicht zur Wahrung der materiellen Identität führt nicht zu Rechtsunsicherheit hinsichtlich der demokratischen Teilhaberechte, da diese ja ausschließlich formell bestimmt werden. Sie führt auch nicht zu Konflikten mit Grundrechten. Die Wahrung der nationalen Identität des Volkes lässt beispielsweise die Religionsfreiheit für Muslime unberührt. Dem steht nicht entgegen, dass der Staat einwanderungspolitisch verhindern darf und muss, dass in Deutschland durch Einwanderung eine muslimische Mehrheitsgesellschaft entsteht. Denn der Islam gehört nicht zur deutschen (und europäischen) Kultur, und ein mehrheitlich – oder auch nur weitgehend – islamisch geprägtes Deutschland wäre nicht mehr das Deutschland, das der Verfassunggeber als deutschen Nationalstaat konstituieren wollte.129 Durch Begrenzung oder Verhinderung der Einwanderung würde weder die Religionsfreiheit noch nicht eingewanderter Muslime130 noch diejenige der bereits in Deutschland lebenden Muslime berührt. Deshalb geht das Argument, das Grundgesetz verbiete nicht den Islam als Mehrheitsreligion in Deutschland,131 an der hier erörterten Fragestellung vorbei. Es geht nicht um Religionsverbote oder andere Freiheitseinschränkungen, sondern um Einwanderungssteuerung. Gegen die hier behauptete Pflicht der Staatsorgane, darauf hinzuwirken, dass in Deutschland ganz überwiegend deutsch gesprochen wird und dass die Angehörigen des Staatsvolkes der deutschen Sprache mächtig sind, lässt sich deshalb nicht einwenden, es gebe keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, deutsch zu sprechen.132 Diese Argumentation verkennt, dass mit der Wahrung der kollektiven Identität nicht die Verpflichtung des Einzelnen zu irgendwelchen Identitätsleistungen gemeint ist. Das Grundgesetz setzt voraus, dass es eine nationale Identität gibt; es hat diese vorgefunden. Und die Staatsorgane werden verpflichtet, sie zu wahren. Diese Verpflichtung kann nur im Rahmen des faktisch und rechtlich Möglichen bestehen. Da nationale Identität weitgehend ein Bewusstseinsphänomen ist, hat der Staat außerhalb der Steuerung der Zuwanderung auf ihren Bestand nur begrenzte Einflussmöglichkeiten. Die größten Einflussmöglichkeiten bietet das staatliche Bildungswesen. Grenzen der staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten ergeben sich natürlich aus den Grundrechten. Soweit der Staat auf die Erhaltung der Identität nicht einwirken kann oder nicht einwirken darf, ist die Identität gesellschaftlichen Wandlungen ausgesetzt, die dann hingenommen werden müssen. Die Pflicht zur Wahrung der Identität impliziert aber jedenfalls das Verbot, Entscheidungen zu treffen, die voraussichtlich gravierende negative Folgen für die Identität haben werden. Es ist eben ein Unterschied, ob die christliche Grundierung der Kultur allmählich verblasst (weil viele Menschen sich vom Glauben abwenden), ob durch Hinwendung vieler Menschen zu einem anderen Glauben (Buddhismus, Islam) allmählich eine neue kulturelle Prägung entsteht,133 oder aber ob im Rahmen einer vom Staat steuerbaren Masseneinwanderung 129   Ein weiterer Grund, dem Entstehen islamischer Mehrheiten in Deutschland rechtzeitig entgegenzuwirken, könnte darin bestehen, dass der fundamentalistische Islam mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung inkompatibel ist. Das ist nicht Thema dieser Abhandlung. 130   In bezug auf diese könnte Art.  3 Abs.  3 GG anwendbar sein, wenn die Einwanderungsbegrenzung an den muslimischen Glauben anknüpfte. 131   Leisner (Fn.  88), S.  230. 132   So aber Leisner (Fn.  88), S.  230. 133   Das ist theoretisch gesprochen – die Zahl der Menschen ohne Migrationshintergrund, die zum

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eine Religion wie der Islam – mit weitreichenden kulturellen Implikationen – importiert wird. Ersteres ist eine Folge der Freiheitsausübung der Staatsangehörigen, letzteres eine Folge staatlicher Politik. Für letzteres ist der Staat verantwortlich. Gerade weil der Staat dem Einzelnen keine Identitätsleistung abverlangen darf – jeder kann aufgrund seiner Freiheitsrechte sich mit Deutschland identifizieren oder auch nicht, jeder kann eine türkisch-muslimische oder indisch-buddhistische Identität haben, wenn er mag –, ist es notwendig, zur Wahrung der kollektiven Identität den Zugang zum Kollektiv zu steuern. Der Pflicht der Staatsorgane, bei einwanderungspolitischen Entscheidungen die Identität der Nation und die hierauf beruhende Identität des Staatsvolkes zu wahren, lässt sich auch nicht das „Prinzip der Nichtidentifikation“ entgegenhalten.134 Es ist zwar richtig, dass der Staat sich im Hinblick auf Gleichheitssatz und Gemein­wohl­ bindung prinzipiell nicht mit gesellschaftlichen Partikularinteressen identifizieren darf und dass auch Freiheitsrechte wie die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit einem sich mit freiheitsrechtlich geschützten Inhalten identifizierenden Staat entgegenstehen können. Aber der Staat des Grundgesetzes darf und muss sich mit sich selbst identifizieren. Als Nationalstaat der Deutschen identifiziert er sich mit der deutschen Kultur, mit der deutschen Sprache und der deutschen Geschichte (aus der er auch eine besondere Verantwortung ableitet). Er identifiziert sich daher auch mit der christlichen Prägung der abendländischen Kultur, ohne sich mit der christlichen Religion zu identifizieren. Das alles ist grundrechtsverträglich, sofern darauf nicht fälschlich grundrechtswidrige Maßnahmen gestützt werden. Die Entscheidung für die nationale Identität des Staates und des Staatsvolkes hat, wie gezeigt, der Verfassunggeber getroffen. Sie kann schon aus diesem Grunde nicht verfassungswidrig sein, und sie ist es auch deshalb nicht, weil sich aus ihr keine mit der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes unvereinbaren Rechtsfolgen ergeben.

VII. Resümee 1.  Nationalstaats- und Demokratieprinzip – zu den Maßstäben für die Einwanderungspolitik Die Demokratie des Grundgesetzes ist kein abstraktes System von Entscheidungsund Zurechnungsregeln. Sie ist die Herrschaftsform, die sich ein konkretes Volk für seinen konkreten Staat gegeben hat. Demokratie im Sinne des Grundgesetzes ist Volkssouveränität – Legitimation aller Staatsgewalt dadurch, dass sie „vom Volke ausgeht“ (Art.  20 Abs.  2 GG). Das Volk ist das Subjekt der Demokratie, das Subjekt der Legitimation. Und dieses Subjekt ist nicht ein beliebiges Volk, nicht die Summe der Menschen, die sich auf dem Staatsgebiet auf hält, sondern das aus der Gesamtheit Buddhismus oder zum Islam konvertieren ist so gering, dass es keine relevanten Auswirkungen auf die kulturelle Prägung der Nation gibt. 134  A.A. Bryde (Fn.  12), S.  322, der anscheinend den Nationalstaat als Widerspruch zum Prinzip der Nichtidentifikation versteht, und sich dafür auf Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1984, S.  181 f., beruft. Krüger argumentiert aber nicht verfassungsrechtlich, sondern leitet seine Argumente aus der „Entelechie des Modernen Staates“ ab.

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der Staatsangehörigen bestehende Staatsvolk. Dies ist – obwohl in der Literatur immer wieder infrage gestellt – relativ trivial. Nicht trivial, weil bisher wenig erörtert, ist die Frage nach der Identität des Staatsvolkes. Was die Identität eines Staatsvolkes ausmacht, ergibt sich aus seinem identitätsbegründenden Selbstverständnis. Verfassungsrechtlich relevant ist dieses Selbstverständnis jedenfalls dann, wenn es in einer verfassunggebenden Grundentscheidung zur Grundlage der konkreten Demokratie gemacht worden ist. Für die Bundesrepublik Deutschland trifft dies zu: Das Grundgesetz enthält die Grundentscheidung, den deutschen Nationalstaat zu verfassen sowie das konkret vorhandene – als deutsche Nation durch gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte geprägte – Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt anzusehen und es zum Subjekt der verfassten Demokratie zu machen. Aus der Grundentscheidung für den Nationalstaat und für das konkrete deutsche Volk als Subjekt der Demokratie folgt, dass die verfassten Staatsgewalten insbesondere bei ihrer Migrationspolitik den Charakter Deutschlands als Nationalstaat der Deutschen sowie die Identität des deutschen Volkes wahren müssen. Eine einwanderungspolitische Entscheidung dafür, aus der Bundesrepublik Deutschland einen Vielvölkerstaat oder eine multikulturelle Gesellschaft zu machen, wäre damit unvereinbar. Was nicht durch eine gezielte Politik herbeigeführt werden darf, darf auch nicht als Folge einer planlosen Laissez-faire-Einwanderung hingenommen werden. Vielmehr muss die Einwanderung vorausschauend so begrenzt werden, dass die verfassungsrechtlichen Schutzgüter Nationalstaat, Nation („nationale Einheit“) und Identität des Staatsvolkes nicht verletzt werden. Über das Subjekt der Demokratie dürfen die von diesem legitimierten Staatsorgane nicht verfügen.

2.  Zu möglichen Folgerungen für die Einwanderungspolitik Daraus folgt zunächst, dass eine Politik der offenen Grenzen für alle Einwanderungswilligen oder die Duldung einer unbegrenzten Einwanderung mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Aus dem Nationalstaatsprinzip ergibt sich zwar keine abstrakt bestimmbare numerische Obergrenze, aber die Verträglichkeit der Einwanderung mit den verfassungsrechtlichen Schutzgütern kann und muss situationsbezogen konkretisiert werden. Dabei ist im Ansatz zwischen Einwanderung im engeren Sinne (Aufnahme von Menschen, die auf Dauer in Deutschland bleiben wollen, insbesondere als Arbeitsmigranten) und der vorübergehenden Aufnahme von Schutzsuchenden zu unterscheiden. Für die erste Kategorie gilt, dass ihre Aufnahme eine positive Integrationsprognose – und längerfristig eine positive Assimilationsprognose – voraussetzt. Die zweite Kategorie könnte im Hinblick auf den temporären Zweck des Aufenthalts im Prinzip ohne positive Integrationsprognose aufgenommen werden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der größte Teil der tatsächlich oder angeblich Schutzsuchenden dauerhaft in Deutschland bleiben will und – meist auch trotz Ablehnung des Asylantrags und subsidiären Schutzes – tatsächlich bleibt. Deshalb muss die Immigration auch der zweiten Kategorie gemäß den für die erste Kategorie genannten Kriterien beschränkt werden. Das Nationalstaatsprinzip und die Identität des Staatsvolkes wären evident verletzt, wenn aufgrund der Einwanderung eines Tages das Staatsvolk mehrheitlich aus eth-

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nisch-kulturell Nichtdeutschen bestünde. Aber schon wenn erhebliche Teile des Staatsvolkes nicht deutsch sprechen oder wenn sich ethnisch-religiöse Parallelgesellschaften verfestigen, ist das Nationalstaatsprinzip verletzt. Wieviel Einwanderung mit dem Nationalstaatsprinzip und der Wahrung der Identität des Staatsvolkes vereinbar ist, muss im Hinblick auf einerseits die Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft der Immigranten, andererseits die Integrationskapazität von Staat und Gesellschaft konkretisiert werden. Entscheidungen über die Einwanderung haben Vorwirkungen auf die spätere Einbürgerung; dies ist im Zeitpunkt der Einwanderung zu berücksichtigen.

3.  Zur konkreten Situation: Ist der Nationalstaat bereits obsolet? Man könnte sich freilich fragen, ob nicht Nationalstaatlichkeit und Identität des deutschen Staatsvolkes Kriterien sind, die von der Wirklichkeit einer seit Jahrzehnten tatsächlich erfolgten Einwanderung135 überholt und deshalb obsolet geworden sind. In der Tat hat sich nach meiner Einschätzung durch diese Einwanderung Deutschland bereits viel mehr verändert, als dies mit der Pflicht zur Wahrung der nationalen Einheit und der Identität des deutschen Staatsvolkes vereinbar gewesen wäre. Das zeigt sich insbesondere in ethnischen Parallelgesellschaften. Das zeigt sich beispielsweise auch darin, dass viele junge Türken, die in Deutschland aufgewachsen sind, eine größere Loyalität für die Türkei als für Deutschland empfinden und Erdogan bewundern;136 oder darin, dass Hunderttausende der in Deutschland lebenden und in der Türkei stimmberechtigten Türken für die autoritäre Verfassung Erdogans gestimmt haben;137 oder darin, dass anscheinend fast die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime die Befolgung religiöser Vorschriften für wichtiger hält als die Befolgung der deutschen Gesetze.138 Die bereits erfolgte Einwanderung der vielen Immigranten, die – obwohl sie schon länger hier leben – nicht hinreichend integriert sind, ist irreversibel. Dass die Integration im Laufe der Zeit dennoch gelingt, ist eine Hoffnung, die man nicht aufgeben sollte. Trotz mancher Fehlentwicklungen kann aber Deutschland immer noch als deutscher Nationalstaat angesehen werden, und die meisten Bürger verstehen ihn wohl auch noch so. Wie auch immer: Die rechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Nationalstaatsprinzip ergeben, sind nicht schon deshalb obsolet, weil die tatsächliche Entwicklung zu Defekten am Nationalstaat geführt hat. Das zeigt schon die ge135  Diese Einwanderung ist sozialwissenschaftlichen Erhebungen zufolge von der Mehrheit der Deutschen abgelehnt worden, vgl. Stefan Luft, Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration, 2009, S.  301 m. Nachw. 136   Vgl. z.B. Sebastian Kempkens, Deutschtürken: Perfekte Sicht auf ein Idol, Zeit-online, 19.4.2017, www.zeit.de/2017/17/deutschtuerken-tuerkei-referendum-familie (abgerufen am 16.12.2017); Lamya Kaddor, Die Türkei ist das beste Land der Welt, Zeit-online, 8.3.2017, www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/ deutschtuerken-tuerkei-ditib-werte-zugehoerigkeit (abgerufen am 16.12.2017). 137   63 % Ja-Stimmen der in Deutschland lebenden Türken, absolut rund 405.000 Stimmen, Tagesspiegel, 17.4.2017, www.tagesspiegel.de/politik/referendum-tuerken-in-deutschland-stimmen-klarfuer-erdogans-plan/19676552.html (abgerufen am 16.12.2107). 138   Entsprechende Antworten gaben 45 % der Befragten, Ruud Koopmans, Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration, 2017, S.  46.

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schichtliche Lage der Entstehung des Grundgesetzes. Damals litt der Nationalstaat unter einem besonders großen Defekt – der Teilung Deutschlands und der deutschen Nation –, und das Grundgesetz statuierte das Gebot, diesen Defekt zu überwinden. Heute folgt aus dem Gebot, die nationale Einheit und damit auch die Identität des Staatsvolkes zu wahren, dass die Einwanderungs- und Integrationspolitik so zu gestalten ist, dass die Defekte nicht größer, sondern im Laufe der Zeit möglichst geringer werden. Was aber, wenn die Deutschen begeistert eine Willkommenskultur mit offenen Grenzen mittragen und damit einverstanden sind, dass ihre nationale Identität sich auflöst in einer Vielheit multikultureller Identitäten? Oder wenn sie nichts dagegen haben, dass Deutschland oder zumindest große Teile Deutschlands eines Tages vielleicht überwiegend türkisch oder arabisch geprägt sind? Wenn die Deutschen ernsthaft diesen politischen Willen hätten, dann könnte und sollte die Verfassung sie nicht daran hindern, ihn zu verwirklichen. Denn die Verfassung beruht auf Selbstbestimmung. Sie konstituiert den Staat auf der Basis freier Selbstbestimmung eines konkreten Volkes. Dieses – und nur dieses – hat das Recht, nicht nur über seinen politischen Status, sondern auch über sich selbst als Subjekt mit eigener Identität zu bestimmen. Die Verfassung ermächtigt und begrenzt die verfasste Staatsgewalt. Kraft seiner verfassunggebenden Gewalt kann das Volk die Grenzen, die es den verfassten Staatsorganen gesetzt hat, auf heben.139 Es könnte also eine neue Grundentscheidung treffen, zum Beispiel: Wir wollen nicht mehr Nationalstaat, sondern Einwanderungsland mit Multi-Kulti-Strukturen oder ein Vielvölkerstaat sein. Solange es aber eine solche verfassunggebende Fundamentalentscheidung nicht gibt, sind Regierung und Parlament an die Entscheidung gebunden, die das Grundgesetz getroffen hat: an die Entscheidung für den Nationalstaat und damit an die Verpflichtung zur Wahrung der nationalen Einheit, also auch zur Wahrung der nationalen Identität des Volkes.140

139   Das BVerfG hat angedeutet, dass es Art.  146 GG hierfür als Grundlage ansehen könnte, BVerfGE 123, 267 (332, 344, 347 f.) – Lissabon [2009]. 140  Ebenso Hillgruber (Fn.  51), Rn.  12 ff., 17 ff.

Wahlrecht und Mobilität* von

Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein, Universtität Frankfurt a. M. Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 1. Auslandsstimmrecht beim Brexit und beim türkischen Verfassungsreferendum . . . . . . . . . . . . . . 432 2. Auslandsbayern und Auslandsdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 3. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 a) Demokratie und Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 b) Aus- und Einwanderung verlangt Modifikation des Staatsangehörigkeitsrechts . . . . . . . . . . . 436 c) Freizügigkeit verlangt Modifikation des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 II. Auslandswahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 1. Die Entscheidung des BVerfG zum Auslandsdeutschenwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 2. Warum Voraufenthalt für Auslandswahlrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 a) Voraufenthalt beim Auslandsbayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 b) Entwicklung des Voraufenthaltserfordernisses bei Auslandsdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 c) Voraufenthalt vor dem BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 d) Festhalten an Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 3. Warum noch mehr Beschränkungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 III. Ausländerwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 1. Entwicklung des Ausländerwahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 a) Europäisches und deutsches Ausländerkommunalwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 b) Entscheidungen des BVerfG zum deutschen Ausländerkommunalwahlrecht . . . . . . . . . . . . . 449 c) Anschließende Vorstöße für ein umfassendes Kommunalwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 2. Mobilitätsbezug der Ausländerwahlrechts-Entscheidungen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 a) Beschränkung auf Drittstaatsangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 b) Einwanderungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 c) Staatsangehörigkeit als (verspätete) Antwort auf Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 d) Staatsbürgerstatus und personale Legitimationsanknüpfung als Chance . . . . . . . . . . . . . . . . 456 IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

  Brun-Otto Bryde zum 75. Geburtstag gewidmet.

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I. Einführung 1.  Auslandsstimmrecht beim Brexit und beim türkischen Verfassungsreferendum Zwei auch international folgenreiche Referenden haben aktuell kontroverse Einschätzungen darüber hervorgerufen, ob es gut oder schlecht bzw. richtig oder falsch sei, im Ausland lebende Staatsangehörige zu beteiligen. Als im Juni 2016 im Vereinigten Königreich über den Verbleib in der Europäischen Union abgestimmt wurde, waren seit länger als 15 Jahren im Ausland lebende Britinnen und Briten nicht stimmberechtigt.1 Dies sei weder richtig, hieß es, da sie – insbesondere diejenigen, die in anderen EU-Staaten leben – hiervon unmittelbar betroffen seien; noch sei es gut, dürfe man doch annehmen, dass diese Menschen, gerade weil sie die Vorzüge der Europäischen Integration auch persönlich nutzten, für den Verbleib und damit für die einzig „vernünftige“ Option stimmen würden.2 Wenig später, im April 2017, wurde über weitreichende Änderungen der türkischen Verfassung – die Macht des Präsidenten sollte deutlich gestärkt und Parlaments- wie Oppositionsrechte zurückgeschnitten werden – eine Volksabstimmung abgehalten, bei der auch im Ausland lebende Türkinnen und Türken stimmberechtigt waren. Werbende Auftritte türkischer Politikerinnen und Politiker im Ausland, insbesondere in Deutschland 3 aber auch in den Niederlanden4 wurden sehr kontrovers diskutiert, teils untersagt oder verhindert.5 Nachdem gerade in Deutschland, aber auch in anderen Staaten mit relativ hohem Anteil türkischer Staatsangehöriger 6 eine teilweise überdeutliche Mehrheit für die Verfassungsänderung stimmte, während das Ergebnis in der Türkei trotz Berichten über Einschüchterungsversuche gegenüber der Opposition nur eine relativ knappe Mehrheit erhalten hatte, ließ sich auch die Stimmberechtigung von „Auslandstürken“ kritisieren: Sie wüssten zu wenig über die tatsächliche Situation in der Türkei und hätten vor allem die Konsequenz ihrer Entscheidung nicht zu tragen. 1   Umgekehrt waren Commonwealth Citizens mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich stimmberechtigt, was ebenfalls kritisch gesehen wurde – einerseits weil sie keine EU-Bürger sind und andererseits weil andere Ausländerinnen und Ausländer im Vereinigten Königreich nicht stimmberechtigt waren, vgl. http://www.bbc.com/news/uk-politics-eu-referendum-36316467 (Abruf 19.11.2017). 2  Vgl. hierzu http://www.bbc.com/news/uk-36370522; http://www.faz.net/aktuell/brexit/bre xit-die-stimmlosen-zwei-prozent-14272748.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 ( jeweils Abruf 19.11.2017). 3   Deutschland ist mit mehr als 1,4 Mio. Wahlberechtigten das mit Abstand wichtigste Ausland; vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-so-stimmten-die-auslandstuerken-ab-a1143662.html. (Abruf 17.11.2017) oder http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/tuerkei-ein-schma ler-sieg-erdogans-mithilfe-der-provinz-14966243.html (Abruf 19.11.2017). 4  http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/streit-um-wahlkampfauftritte-erdogan-niederlan de-werden-preis-fuer-ihr-verhalten-bezahlen-14920984.html (Abruf 19.11.2017). 5  http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/merkel-will-zu-harte-linie-gegen-tuerkei-vermei den-14907692.html (Abruf 19.11.2017). 6   Deutschland hat einen Bevölkerungsanteil von 1,7 %; die anderen Staaten sind die Niederlande, Belgien und Österreich (alle mit einem Anteil von türkischen Staatsangehörigen von ca. 1,2 bis 1,4 %), aber auch Frankreich (mit rund 326 Ts. zwar der europäische Staat mit den zweitmeisten türkischen Staatsangehörigen, die aber nur 0,5 % der Bevölkerung ausmachen); anders hingegen in der Schweiz mit ebenfalls ca. 1,1 % türkischen Staatsangehörigen in der Bevölkerung; vgl. http://www.spiegel.de/ politik/ausland/tuerkei-referendum-so-stimmten-die-auslandstuerken-ab-a-1143662.html. (Abruf 17.11.2017).

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Die Kritik einerseits der Vorenthaltung und andererseits der Gewährung des Auslandswahlrechts irritiert, wenn sie nicht vom Ge- oder Missfallen des Ergebnisses abhängen soll. Da eine Abgrenzung nach dem Inhalt der Abstimmungsfrage ebenfalls nicht weiterhilft und für das Wahlrecht schon schlechthin verfehlt ist, bleibt die Frage offen, was letztlich für oder gegen ein Auslandswahlrecht spricht. Dies gilt umso mehr, als im europäischen Vergleich eine Ausweitung des Auslandswahlrechts gewünscht ist7 und verwirklicht wurde.8 Bei aller Vorsicht eines hier nur ansatzweise möglichen Rechtsvergleichs lässt sich beobachten, dass der Ausschluss von Staatsangehörigen im Ausland teils auf dem Erfordernis der persönlichen Stimmabgabe beruhte wie etwa in Österreich.9 Im Ergebnis galt ähnliches etwa für Italien: zwar ging entsprechend der Verfassung das Wahlrecht – und auch die Wahlpflicht – bei Wohnsitz im Ausland nicht verloren,10 aber die Pflicht zur persönlichen Stimmabgabe – also in Italien – stellte das Wahlrecht bis 2001 vor große praktische Hürden.11 Beide Staaten haben durch die Einführung der Briefwahl das Auslandswahlrecht rechtlich bzw. praktisch ermöglicht. Ganz anders beruhen bzw. beruhten die Beschränkung des Auslandswahlrechts etwa in Dänemark, Irland, ursprünglich wohl auch in Norwegen und dem Vereinigten Königreich darauf, dass das Wahlrecht schon im Grundsatz an den Wohnsitz – residence – anknüpft und daher seiner Begründung nach bei einer Wohnsitzverlegung ins Ausland endet.12 Ausnahmen waren bzw. sind typischerweise nur für bestimmte Personengruppen vorgesehen, die notwendigerweise im Dienste des Staates selbst im Ausland sind, für die konsequenterweise ein Wohnsitz im Inland fingiert wird.13 Eine Erweiterung des Auslandswahlrechts fällt hier schwerer, wurde aber etwa in Norwegen gleichwohl verwirklicht 7   Venedig-Kommission des Europarates: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on Out-of-Country Vot-ing, CDL-AD(2011)022 vom 24.06.2011 (http:// www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2011)022-e, Abruf: 29.10.2017); ebenso von der Europäischen Kommission: Bericht „Stärkung der Bürgerrechte in einer Union des demokratischen Wandels – Bericht über die Unionsbürgerschaft“ vom 24.01.2017, COM(2017) 30 final, mit Hinweisen auf frühere Empfehlungen. 8   Vgl. die Staateninformationen auf der EU-Site http://europa.eu/youreurope/citizens/residence/ elections-abroad/home-country-elections/index_en.htm (Abruf 29.10.2017); s. auch die allerdings nicht ganz aktuelle Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 26.02.2015, WD 3 – 3000 – 006/15; mit historischen Hintergründen, aber auf dem Stand von 2000, s. auch Breuer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen, 2001, S.  199 ff. 9   Bis zum Urteil des VerfGH Wien vom 16.03.1989, EuGRZ 1990, 67 ff., vgl. hierzu Pabel, Das Wahlrecht von Auslandsösterreichern, in: Ennöckl/N. Raschauer/Schulev-Steindl/Wessely (Hrsg.); FS B. Raschauer, 2013, 421, 424 ff.; dies., Länderbericht Österreich – auch mit Bezug auf Südtirol, in: Gornig/Horn/Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit, 2015, S.  135, 141 ff. 10   Vgl. Art.  48 italVerf, der die Entzugsgründe im heutigen Abs.  4 abschließend aufzählt. 11   Vgl. etwa für Italiener in Deutschland Pichler, Elezioni, diritti di cittadinanza e partecipazione. La partecipazione degli italiani in Germania, https://www.asei.eu/it/2007/07/elezioni-diritti-di-cittadi nanza-e-partecipazione-la-partecipazione-degli-italiani-in-germania/(Abruf: 29.10.2017). 12   Vgl. zu diesen Regelungen Breuer (Fn.  8 ), S.  202 ff.; dass historisch auch das Wahlrecht in Österreich Wohnsitzbezug hatte, da über den Wohnsitz das Heimatrecht entstand, das wieder zur Staatsangehörigkeit führte, arbeitet Pabel heraus, Länderbericht Österreich (Fn.  9 ), S.  135, 137 ff.; zum exkludierenden Charakter der Wohnsitzanknüpfung ebenda, S.  142, bzw. dies., Das Wahlrecht von Auslands­ österreichern (Fn.  9 ), 421, 424 ff. 13   Vgl. die Darstellung bei Breuer (Fn.  8 ), für Dänemark S.  204, für das Vereinigte Königreich S.  205, für Irland S.  205 f.

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und ist auch im Vereinigten Königreich geplant – wenn auch nicht vor der Brexit-Abstimmung umgesetzt worden.14

2.  Auslandsbayern und Auslandsdeutsche Wie schwierig diese Frage nach der Berechtigung wie den Begrenzungen des Auslandswahlrechts zu beantworten ist und noch mehr wie polarisierend sie wirkt, lässt sich auch in der heimischen staatsrechtlichen Debatte beobachten. In den BayVBl entspann sich jüngst ein engagierter Disput um die Frage, ob es geboten oder verboten sei, „Auslandsbayern“ das Landtagswahlrecht zuzugestehen.15 Der Schlagabtausch spiegelt en miniature die Debatte um das Auslandswahlrecht auf Bundesebene.16 Bayern kennt als einziges Bundesland tatsächlich so etwas wie ein Auslandsbayernwahlrecht, denn Art.  1 Abs.  2 des bayerischen Landtagswahlgesetzes (LWG) erklärt für wahl- (genauer: stimm-)berechtigt „Beamte, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst, die ihre Wohnung, bei mehreren Wohnungen ihre Hauptwohnung, aus beruflichen Gründen aus Bayern in einen Ort im Ausland nahe der Landesgrenze verlegen mussten, sowie die Angehörigen ihres Hausstands.“ Dies entspricht der von 1953 bis 1956 geltenden Fassung des Bundeswahlgesetzes (BWahlG).17 Weder die Erweiterungen noch die Wiedereinschränkung des bundesrechtlichen Auslandswahlrechts18 hat der bayerische Gesetzgeber für die Landesstimmberechtigung indessen nachvollzogen. Genau hieran knüpft die Auseinandersetzung an. Für Lindner ist es „unzeitgemäß“, dass das bayerische Wahlrecht in dieser Hinsicht gewissermaßen auf dem Stand von 1953 stehen geblieben ist; daher argumentiert er für eine Erweiterung des Auslandswahlrechts, ohne dass es hier auf dessen genauere Ausgestaltung ankäme. Denn jede denkbare Erweiterung wird von Thum als undurchdacht, inkonsistent und letztlich unhaltbar kritisiert, was Lindner seinerseits wieder als apologethisches Argumentationsmuster19 zurückweist. Nicht nur im wechselseitigen Vorwurf logischer Brüche und inkonsistenter Ar­ gumente ähnelt diese Debatte dem Dissent zwischen Senat und Sondervotum in der Bundesverfassungsgerichts-(BVerfG-)Entscheidung zum Auslandsdeutschen-

  S.o. Fn.  1.   Lindner, BayVBl 2016, 557; darauf Thum, BayVBl 2016, 579; die „Duplik“ von Lindner, BayVBl 2016, 773, und hierauf wieder Thum, BayVBl 2016, 775. 16   Zwar ließe sich auch daran denken, dass der Disput von der österreichischen Entwicklung beeinflusst sein könnte, denn in Österreich wurde das Auslandswahlrecht gerichtlich erstritten; allerdings unterscheiden sich Ausgangspunkt und Streitgegenstand der österreichischen Diskussion doch deutlich, vgl. Pabel, Länderbericht Österreich (Fn.  9 ), S.  135 ff. 17   §  1 Abs.  3 : „Wahlberechtigt sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch Beamte, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst, die auf Anordnung ihres Dienstherrn ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Ausland in nächster Nähe der Bundesgrenze genommen haben, sowie die Angehörigen ihres Hausstandes.“, BGBl. 1953 I 471. 18   Im Einzelnen s. dazu unten; vgl. auch die historische Darstellung bei Breuer (Fn.  8 ), S.  57 ff. 19   Lindner, BayVBl 2016, 772, 774. 14

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wahlrecht von 201220 sowie der anschließenden Kritik aus der Rechtswissenschaft.21 Auch inhaltlich werden die gleichen Überlegungen hier wie dort ins Feld geführt. Die vorgebrachten Argumente, aber auch die wechselseitigen Vorwürfe mangelnder Logik und Schlüssigkeit finden sich außerdem in der seit 199022 bis heute geführten Debatte um das Ausländerwahlrecht. Die jüngste gerichtliche und literarische Auseinandersetzung hierzu beruht auf einem Vorstoß der Bremer Bürgerschaft zur Einführung eines Wahlrechts von Unionsbürgern auf der Ebene des Landtags (die Bremer Bürgerschaft ist gleichzeitig kommunale Vertretung der Bremer Stadtgemeinde und Landtag des Landes Bremen) und eines Wahlrechts von Drittstaatsan­ gehörigen für die Beiräte im Gebiet der Stadt Bremen im Jahr 2012, den der Staatsgerichtshof der freien Hansestadt Bremen (BremStGH) mit Urteil von 2014 verworfen hat.23 Der vorliegende Beitrag will diesen – offensichtlich unfruchtbaren – Streit nicht nochmals führen.24 Stattdessen geht er von der Grundannahme aus, dass es sich dann, wenn ein Streit wiederholt auf bricht und eingefahrene Argumentationsmuster einer tragfähigen Antwort auf die jeweils aktuelle Frage im Wege stehen, lohnt, die alten Debatten nochmals mit verändertem Blickwinkel zu betrachten. Möglicherweise werden so bisher blinde Flecken sichtbar und idealerweise können neue konsensfähige Gesichtspunkte gewonnen werden. Mein Ergebnis dieses Versuchs sei dem Beitrag vorangestellt. Es lautet:

  BVerfGE 132, 39 ff.  Freilich weitgehend ohne die Polemik des Sondervotums: Felten, DÖV 2013, 466, gegen das Urteil; Horn, Demokratie und Staatsgebiet: Die Bedeutung des Wohnsitzes für das Wahlrecht, in: Gornig/ders./Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit, 2015, S.  55 ff., insb. 77 ff., und Sacksofsky, Wer darf eigentlich wählen? Wahlberechtigung in den USA und Deutschland, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratieperspektiven (FS Bryde), 2013, S.  313 ff., 324 ff. gegen das Urteil und das Sondervotum. 22  Eindrücklich die Dokumentation des Verfassungsgerichtsverfahrens: Isensee/Schmidt-Jorzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993; rückblickend Bryde, Ausländerwahlrecht revisited, in: Krajewski/Reuß/Tabbara (Hrsg.), Gesellschaftliche Herausforderungen des Rechts (GS Rittstieg), 2015, S.  99 ff. 23   BremStGH, DVBl 2014, 1248 mit Sondervotum von Sacksofsky, die die logische Inkonsistenz der Demokratiekonzeption des Senates aufzeigt; zustimmend hierzu Eickenjäger/Valle Franco, ZAR 2015, 52; H. Meyer, JZ 2016, 121; Sokolov, NVwZ 2016, 649; Bryde, Ausländerwahlrecht revisited (Fn.  22), S.  105. 24   Dass ich die Auffassung des BVerfG in den Urteilen zum Ausländerwahlrecht für falsch halte, ist bekannt. Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass meine Kritik sich nicht darauf richtet, dass „man“ Demokratie nicht so verstehen kann, wie das BVerfG es tut, sondern darauf, dass nach meinem Verfassungsverständnis das GG nicht genau und ausschließlich dieses Demokratiekonzept vorgibt, sondern offen genug ist, um andere Konzeptionen zu ermöglichen, vgl. Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, S.  143 ff., insb. 157 ff.; dies., Zwischen „Volksdemokratie“ und menschenrechtlichem Demokratieverständnis: Zur Zukunftsfähigkeit „der Demokratietheorie“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Rixen (Hrsg.), Die Wiedergewinnung des Menschen als demokratisches Projekt, Bd.  1, 2015, S.  21 ff. 20 21

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3. Thesen a)  Demokratie und Mobilität Die „klassische“ Staatslehre und ein auf den (National-)Staat bezogenes Demokratiemodell kennt Mobilität nicht. Die Idee einer Einheit von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt, bei der die Staatsgewalt vom Staatsvolk legitimiert und im Staatsgebiet ausgeübt wird, denkt eben dieses Staatsvolk notwendiger Weise statisch und das Staatsgebiet geschlossen. Dementsprechend restriktiv war früher auch in vielen Staaten das Wahlrecht an den Wohnsitz und/oder das persönliche Erscheinen gebunden.25 Unter realen Bedingungen, zu denen neben vielem anderen auch die Mobilität der Menschen gehört, geht dieses Konzept daher notwendiger Weise nicht auf. Damit lässt es sich stets gegen jede konkrete Regelung wenden, die auf reale Bedingungen reagiert, denn eine solche bleibt immer hinter dem Modell zurück. Folglich taugt dieses Modell nicht als Argument. Besser sollte es als Idee verstanden und, soweit damit positive Werte verbunden sind, als Ideal genutzt werden, an dem sich konkrete Ausgestaltungen des Rechts orientieren können, die das konkrete Recht aber nicht erreichen muss.26 Auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe bedeutet dies für das Wahl- und Stimmrecht, dass es unter den Bedingungen von Mobilität sensibler mit seinen beiden Anknüpfungspunkten umgehen muss. Die personale Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit und die territoriale Anknüpfung an den Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt können nicht als selbstverständlich gemeinsam vorliegend gedacht werden. Aus dieser Einsicht ergeben sich zwei Folgerungen für das Auslands- und Ausländerwahlrecht:

b)  Aus- und Einwanderung verlangen Modifikation des Staatsangehörigkeitsrechts Solange Mobilität als lineare und zeitlich abgeschlossene Migration erfolgt – also im Fall der „klassischen“ Aus- und Einwanderung – lässt sich das Modell, dass das Staatsvolk im Staatsgebiet die Staatsgewalt legitimiert, aufrechterhalten. Es verlangt nur ein diese Migration spiegelndes Staatsangehörigkeitsrecht. Dies gilt prinzipiell für Auswanderungsstaaten ebenso wie für Einwanderungsstaaten. Erstere müssten ihre ausgewanderten Staatsangehörigen entlassen, letztere die Eingewanderten einbürgern. Wann dies genau erfolgt, wäre idealerweise zwischen beiden Staaten koordiniert.27 Die personale Zuordnung reagiert so auf die territorialen Veränderungen und folgt ihnen nach. 25  Vgl. Breuer (Fn.  8 ), S.  26 ff. für die deutsche Entwicklung, für Österreich Pabel, Das Wahlrecht von Auslandsösterreichern (Fn.  9 ), S.  424 ff. 26   Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Demokratie und Grundgesetz, KJ-Sonderheft 2000, S.  59 ff. 27   So ist das Modell eines „Generationenschnitts“ des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration gemeint (abruf bar unter https://www.svr-migration.de/publikationen/ positionspapier_doppelpass/, Abruf 19.11.2017); offensichtlich zunächst von CDU-Politikern falsch verstanden (s. etwa http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-03/doppelpass-cdu-einschraenken-

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c)  Freizügigkeit verlangt Modifikation des Wahlrechts Wenn aber Migration ein kontinuierlicher, regelmäßig zirkulärer, jedenfalls nicht linearer Prozess ist – hierfür eignet sich der Begriff der Freizügigkeit – kann auch mithilfe der Stellschraube des Staatsangehörigkeitsrechts die Wirklichkeit nicht mehr dem Modell angenähert werden. Denn selbst ein theoretisch denkbarer rascher Wechsel der Staatsangehörigkeit entsprechend dem jeweiligen Wohnsitz würde nicht berücksichtigen, dass unter Freizügigkeitsbedingungen die vergangene Zugehörigkeit nicht – jedenfalls nicht notwendig – beendet wird, sondern aufrecht erhalten bleibt und auch zukünftig wieder aktuell werden kann. Daher führt Freizügigkeit dazu, dass das Modell selbst nach einer Modifizierung ruft. Denn Legitimation von Staatsgewalt, die doppelt personale wie territoriale Zuordnung verlangt, führt zu einem strukturellen Legitimationsdefizit, wenn Freizügigkeit nicht mehr als atypischer und daher zu vernachlässigender Sonderfall, sondern als Bestandteil des Konzepts angesehen wird. Es liegt daher nahe, ggf. unter weiteren Voraussetzungen, eine der beiden Zuordnungen ausreichen zu lassen. Ausschlaggebend hierfür ist die Perspektive auf den gesamten „Freizügigkeitsraum“, in dem dieser Verzicht auf die doppelte Zuordnung unter den Staaten koordiniert wird. Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik ist hierfür ein gutes Beispiel, ist doch die personale Zuordnung auf die Bundesebene beschränkt, während auf Landes- und auch auf kommunaler Ebene28 die Zuordnung ausschließlich 29 territorial vorgenommen wird. Aber auch in der Europäischen Union besteht ein, wenn auch regulatorisch unvollkommenes, Koordinierungskonzept. Für die kommunale bzw. untere Staats- und Verwaltungsebene hat der europäische Gesetzgeber ein territoriales Zuordnungskonzept gewählt – das Kommunalwahlrecht gemäß Richtlinie 94/80/EG. Für die nationale Ebene sieht die Europäische Kommission ein großzügiges Auslandswahlrecht der Mitgliedstaaten als wünschenswert an.30 Erst auf der Unionsebene kombiniert das Unionsrecht die personale Anknüpfung an die Unionsbürgerschaft 31 mit der territorialen Anknüpfung an den Wohnort. Die Entkoppelung personaler und territorialer Anknüpfung ist auch in anderen zwischen- oder überstaatlichen „Freizügigkeitsräumen“ zu beobachten, in denen konzeptionell berücksichtigt wird, dass die Angehörigen der beteiligten Staaten bzw. dieses Raumes – wie einwanderer-doppelte-staatsbuergerschaft, Abruf 19.11.2017); zutreffend, wenn auch wenig wahlkampftauglich im „CDU-Regierungsprogramm“ 2017–2021 als allerletzter Punkt (abruf bar unter https://www.cdu.de/regierungsprogramm, Abruf 19.11.2017). 28   Für die kommunale Ebene könnte man aufgrund der Unterscheidung von Einwohnern und Bürgern, wie sie vielen Kommunalordnungen bekannt ist, auch einen Rest personale Zuordnung sehen, die über die territoriale Zuordnung vermittelt wird. 29   In Bezug auf die Binnenfreizügigkeit und unter Ausblendung von Mobilität über die Außengrenzen hinweg. 30   S. die Empfehlung der Europäischen Kommission 2014/53/EU zum Umgang mit den Konsequenzen des Entzugs des Wahlrechts von Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen vom 29.01.2014, ABl. L 32/34; aktuell Bericht der Europäischen Kommission „ Stärkung der Bürgerrechte in einer Union des demokratischen Wandels – Bericht über die Unionsbürgerschaft“ vom 24.01.2017, COM(2017) 30 final. 31   Wobei das Unionsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verbietet, bei der Umsetzung des Europawahlrechts auch andere als Unionsbürger zur Wahl zu berechtigen, vgl. EuGH, C‑145/04 – Spanien ./. Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2006:543.

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etwa des Commonwealth oder zwischen den nordischen Staaten – nicht linear, sondern zirkulär mobil sind.32

II. Auslandswahlrecht Die Konsequenz aus einem Wahlrechtskonzept, das Mobilität ignoriert, zeigt sich gut an der Entscheidung des BVerfG zum Auslandsdeutschenwahlrecht.33

1.  Die Entscheidung des BVerfG zum Auslandsdeutschenwahlrecht Seit 1985 waren Deutsche (i.S.d. Art.  116 GG), die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat des Europarates haben, zum Bundestag wahlberechtigt, wenn sie – irgendwann in ihrem Leben – drei Monate im Bundesgebiet gewohnt 34 hatten. Seit 2008 galt dies auch bei jedem anderen Auslandswohnsitz. Diese geographisch unbeschränkte Regelung war damit Gegenstand der Entscheidung. Zwei (junge) Deutsche, deren Eltern als EG-Beamte bereits vor ihrer Geburt nach Brüssel gezogen waren, hielten ihren Wahlrechtsausschluss, der darauf beruhte, dass sie nie auch nur drei Monate im Bundesgebiet gelebt hatten, für verfassungswidrig. Ihre Wahlanfechtungen zielten daher darauf, dieses Voraufenthaltserfordernis zu Fall zu bringen, so dass Auslandsdeutsche unbeschränkt wahlberechtigt werden. Das BVerfG erklärte jedoch nicht nur das Erfordernis des Voraufenthalts in der Bundesrepublik für nichtig, sondern die Bestimmung über das Auslandsdeutschenwahlrecht insgesamt. Der damit hergestellte und vom BVerfG als verfassungskonform erachtete Zustand war also die Anknüpfung des Bundestagswahlrechts an den Deutschenstatus und den Wohnsitz im Inland. Aus Sicht der Antragstellerinnen hatte sich also ihr Beschwerdeziel geradezu ins Gegenteil verkehrt: anstatt so wie ihre Eltern ein Wahlrecht zu erhalten, hatten zunächst ihre Eltern das Wahlrecht, das seit 1985 bestand, verloren. Allerdings musste es nach den ausdrücklichen Hinweisen des BVerfG nicht hierbei bleiben. Der Senat zeigte im Urteil deutlich auf, wie er sich eine verfassungskonforme Regelung vorstellen könne. Zum einen hielt er das Erfordernis eines Voraufenthalts für zulässig und akzeptierte auch, dass dieser sehr kurz – eben nur drei Monate – bemessen sei. Damit war dem politischen Ziel, diese Voraussetzung zu streichen, vor dem BVerfG kein Erfolg beschieden. 32   Vgl. die zwar nicht mehr ganz aktuelle, aber für die systematische Einordnung gleichwohl aufschlussreiche Zusammenstellung bei Waldrauch, Wiener Hefte 1/2003, S.  63 ff. (abruf bar unter www. demokratiezentrum.org/wissen/artikel, Abruf 17.11.2017). 33   BVerfGE 132, 39. 34   Wohnen und Aufenthaltnehmen wird im Folgenden synonym gesetzt, unter Aufenthalt ist also – soweit nicht ausdrücklich vermerkt – nicht der vorübergehende Aufenthalt, sondern der jeweilige Ort des Lebensmittelpunktes, der „gewöhnliche Aufenthalt“ gemeint. Dass auch diese Vorstellung bei Kosmopoliten oder Globetrottern an Grenzen stößt, hindert nicht daran, einen identifizierbaren Ort als Lebensmittelpunkt für den Normalfall anzunehmen. Statt „wohnen“ wird aus sprachlichen Gründen auch der Begriff „leben“ verwendet.

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Zum anderen sei diese Voraussetzung aber nicht hinreichend, um allein ein Auslandswahlrecht zu begründen, das den Gleichbehandlungsanforderungen und dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl entspricht. Vielmehr müsse diese Aufenthaltszeit in einem Alter absolviert werden, in dem angenommen werden könne, dass das Verständnis vom und die Teilnahme am politischen Kommunikationsprozess typischerweise möglich sei. Zweitens dürfe die Zeit der Abwesenheit nach dieser Aufenthaltszeit nicht unbegrenzt sein. Drittens sei zu berücksichtigen, dass in bestimmten Fällen auch ohne Voraufenthalt oder auch nach der Höchstdauer des Auslandswahlrechts ein realer Kommunikationszusammenhang zur Bundesrepublik bestehen könne.35 Dass der Gesetzgeber diese Vorgaben im heutigen §  12 Abs.  2 BWahlG umgesetzt hat,36 überrascht nicht. Angesichts der hiermit verbundenen logischen Brüche37 verwundert es ebenfalls nicht, dass die Bundesregierung regelmäßig von der Opposition – der Fraktion der Linken – durch Anfragen38 auf diese hingewiesen wird. Im folgenden sollen diese beiden Aspekte, die Zulässigkeit der Voraussetzung eines Voraufenthalts im Bundesgebiet und das Aufstellen weiterer einschränkender Voraussetzungen, den Gang der Überlegungen leiten.

2.  Warum Voraufenthalt für Auslandswahlrecht? Die erste Frage lautet daher, warum das BVerfG das Erfordernis eines Voraufenthalts für das Auslandswahlrecht als verfassungskonform und sogar als verfassungsrechtlich geboten angesehen hat. Es stellte sich damit diametral dem Anliegen der Wahlprüfungsbeschwerden entgegen, das in der Literatur von unterschiedlichen Seiten mit unterschiedlichen Begründungen geteilt wird.39 So argumentiert Horn gegen das Voraufenthaltserfordernis, dass es – für die Gegenwart und in die Zukunft gedacht – kein tragfähiges Indiz für die an- und fortdauernde Verantwortungsgemeinschaft sei.40 Mit anderer Begründung wendet sich Sacksofsky41 hiergegen, indem sie auf das Differenzierungspotential dieses materiellen Kriteriums abstellt; denn – so der nicht ganz explizite Kern ihres Arguments – Wahlrechtsanforderungen, die dem Gesetzgeber Differenzie-

  BVerfGE 132, 39, Rn.  47, 49.   BGBl. 2013 I S.  962. 37   Ausführlich dazu sogleich. 38   Zum Beginn der 17. Legislaturperiode BT-Drs. 18/386, und vor der Bundestagswahl zum 18. Bundestag BT-Drs. 18/13579. 39   So auch bei vorsichtiger Zustimmung zum Urteil: Germelmann, Jura 2014, 310, 322; Morlock/Bäcker, MIP 2013, 5, 22. 40   Horn, Demokratie und Staatsgebiet (Fn.  21), S.  79, der sich an dieser Stelle allerdings gegen das Sondervotum wendet und später (S.  85 f.) die Altersgrenze für den Voraufenthalt passieren lässt; die Frage, wie denn ein Voraufenthalt gerechtfertigt werden könnte, lässt Horn „diplomatisch“ offen, akzeptiert nur die angeführten Praktikabilitätsgründe nicht (S.  91 f.). 41   Sacksofsky, Wer darf eigentlich wählen? (Fn.  21), S.  326. 35

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rungspotential in die Hand geben,42 seien kategorisch oder jedenfalls tendenziell mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht vereinbar.43

a)  Voraufenthalt beim Auslandsbayern Ein vergleichender Blick auf den Disput um den Auslandsbayern führt zunächst zu einem sehr einfachen Grund für ein Voraufenthaltserfordernis: Weil das Wahlrecht in Bayern – wie in allen anderen Ländern der Bundesrepublik – an den Wohnsitz anknüpft und gerade nicht an eine „wohnsitzunabhängige“ Bayerneigenschaft,44 muss für ein Auslandsbayernwahlrecht zunächst einmal der Wohnsitz in Bayern begründet werden. Konzeptionell ist das Auslandswahlrecht dann eine Verlängerung des einmal begründeten Wahlrechts. Konsequenterweise ist die Bestimmung des bestehenden Auslandsbayernwahlrechts in Art.  1 Abs.  2 bayerisches LWG auch etwas anders formuliert als der sachlich entsprechende frühere §  12 Abs.  2 BWahlG von 1953. Während letzterer ohne zeitliche Komponente davon spricht, dass die Berechtigten „ihren Wohnsitz […] im Ausland […] genommen haben“45, formuliert erstere, dass die Berechtigten „ihre Wohnung [… ins] Ausland […] verlegen mussten“46. Ein materiell erst durch Wohnsitz begründetes Wahlrecht kann rein logisch nur nach einem Voraufenthalt zu einem Auslandswahlrecht werden.

b)  Entwicklung des Voraufenthaltserfordernisses bei Auslandsdeutschen Tatsächlich ist genau dies auch der Grund, warum §  12 BWahlG bis zu seiner Nichtigerklärung 2012 einen Voraufenthalt verlangte. Denn auch das Bundestagswahlrecht war materiell an den Wohnsitz geknüpft. In der Frühphase der Bundesrepublik war dies politisch praktisch zwingend. Denn mit dem Festhalten an dem Ziel der Wiedervereinigung war die staatsrechtliche Vorstellung vom Fortbestehen des Deutschen Reiches verknüpft. Hiermit ging auch die Vorstellung vom Deutschen Volk als rechtlich mit Hilfe des (Reichs- und)Staatsangehörigkeitsrechts verfasster Einheit einher.47 Das Wahlrecht zum Bundestag als dem Parlament der aus den drei westlichen Besatzungszonen hervorgegangenen Bundesrepublik konnte daher die Wahlberechtigung nicht einfach an die deutsche Staatsangehörigkeit anknüpfen. Schließlich war sein Legitimationssubjekt die westdeutsche 42   Sacksofsky spricht von Typisierungen, allerdings wendet sie sich im folgenden gegen die Differenzierungsargumente Betroffenheit, Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen und Kommunikation in der Sache, so dass es ihr um die Differenzierung als solche gehen dürfte. 43   In diese Richtung auch H. Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd.  III, 3.  Aufl., 2005, §  46, Rn.  5. 44   Konsequenter Weise berufen sich Lindner wie Thum (s.o. Fn.  15) in den debattierten Beispielsfällen nicht etwa auf die Abstammung von bayerischen Eltern, sondern auf die Geburt in Bayern, mit der unausgesprochen auch eine erste Lebensphase in Bayern mitgedacht sein dürfte. 45   S.o. Fn.  17. 46   S.o. unter I.2. 47   Aus der – freilich späteren – Rechtsprechung des BVerfG, die dieses Verständnis zu einem verfassungsrechtliches Gebot machte: BVerfGE 36, 1, 30; BVerfGE 77, 137, 149 ff.

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Bevölkerung und nicht auch die Deutschen in der DDR. Daher musste für das Wahlrecht außerdem auch auf den Wohnsitz im Bundesgebiet abgestellt werden.48 Breuer beschreibt treffend, dass das Wohnsitzerfordernis, das zuvor als formelles Erfordernis bekannt war, erst durch diese Veränderung zu einer materiellen Wahlrechtsvoraussetzung wurde.49 Auch bei der Einführung des allgemeinen Auslandsdeutschenwahlrechts 1985 war das Voraufenthaltserfordernis weiterhin der Rücksichtnahme auf die deutsch-deutsche Frage geschuldet. Dies ergibt sich aus den Gesetzgebungsmaterialen, die freilich nicht allein aus der Gesetzesbegründung der Reform 1985 bestehen, sondern die gesamten parlamentarisch dokumentierten Vorstöße und Versuche hierfür seit Mitte der 1960er Jahre umfassen. Damals forderten Abgeordnete aller Parteien im Bundestag (CDU/CSU, SPD und FDP) die Erstreckung des Auslandswahlrechts auch auf andere Personen, als die bis dahin begünstigten Bundesbediensteten mit dienstlicher Verlegung ihres Wohnsitzes ins Ausland sowie die Angehörigen ihres Hausstands.50 Das tragende Argument hierfür war, dass nicht nur Diplomaten, sondern insbesondere Entwicklungshelfer, aber auch Lehrer an Auslandsschulen, „Ingenieure, Techniker und Facharbeiter“51 im weitverstandenen Interesse der Bundesrepublik „da draußen“52 waren. Als selbstverständlich galt offenbar, dass diese Menschen nach Erfüllung dieser Pflichten „draußen“ wieder heimkehren würden. Da seitens der Ministerialverwaltung sowohl des Bundes als auch der Länder (im Bundesrat) insbesondere Gleichheitsbedenken gegen die Privilegierung bestimmter Berufsgruppen erhoben wurden (die überkommene Privilegierung der Bundesbediensteten mit dienstlich veranlasster Wohnsitzverlegung sowie ihres Hausstandes wurde weiterhin nicht in Frage gestellt),53 entwickelte die sozial-liberale Bundesregierung54 1972 den Vorschlag, die Wahlberechtigung allen Deutschen mit Wohnsitz in Deutschland oder einem Mitgliedstaat der EG zuzuerkennen.55 Dieser Vorschlag konnte sich aber im Bundestag nicht durchsetzen, einerseits wegen anhaltender Gleichheitsbedenken des Bundesrates, die freilich angesichts der Neukonzeption des Berechtigtenkreises an Überzeugungskraft eingebüßt hatten,56 und andererseits wegen des deutsch-deutschen Problems, dass dadurch nach dem geschilderten Verständnis einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit DDR-Bürger mit Wohnsitz in einem anderen EG-Mitgliedstaat zum deutschen Bundestag wahlberechtigt gewesen wären.57

48   Vgl. BVerfGE 5, 6; aufgegriffen in den Antworten der BReg auf Anfragen in der 4. und 5. Legislaturperiode: BT-PlenProt IV/187, S.  9384A; Bt-PlenProt V/6, S.  57 B. 49   Breuer (Fn.  8 ), S.  58 f. 50   Vgl. die Nachweise bei Breuer (Fn.  8 ), S.  66 ff. 51  Vgl. MdB Jahn (CDU), BT-PlenProt V/61, S.  3000D; MdB Wischnewski (SPD), BT-PlenProt V/227, S.  12547A. 52  Vgl. MdB Jahn (CDU), BT-PlenProt V/61, S.  3000D; MdB Wischnewski (SPD), BT-PlenProt V/227, S.  12547A und MdB Kiep (CDU), BT-PlenProt 5/227, S.  12547D. 53   Vgl. BRat, Anrufung des Vermittlungsausschusses, BT-Drs. V/3825. 54   Das ressortzuständige Innenministerium wurde von Genscher (FDP) geführt. 55   BT-Drs. VI/3395. 56   Vgl. die Gegenäußerung der BReg in BT-Drs. VI/3395 Anlage 3. 57   So die Darstellung bei Breuer (Fn.  8 ), S.  70.

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In der darauffolgenden 7. Legislaturperiode legte 1974 das (weiterhin FDP-geführte) Bundesinnenministerium dem Bundestagsinnenausschuss einen weiteren Vorschlag vor, der nicht auf den Wohnsitz in EG-Mitgliedstaaten, sondern stattdessen auf eine bestimmte Dauer des Auslandsaufenthalts abstellte (sog. reine Fristenlösung). Als zweite Option kombinierte das Bundesinnenministerium dies mit dem Vorschlag aus der vorherigen Legislaturperiode, Auslandsdeutschen mit Wohnsitz in einem EG-Mitgliedstaat unbefristet das Wahlrecht zuzugestehen.58 Diesen Vorschlag griff die oppositionelle CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss auf und ergänzte ihn für beide Varianten des Auslandswahlrechts um einen dreimonatigen Voraufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik.59 Auch ohne dass dies ausdrücklich benannt wird, dürfte diese Ergänzung wieder auf dem Grund beruhen, DDR-Bürger mit Wohnsitz im Ausland nicht „versehentlich“ zu Wahlberechtigten zum Bundestag zu machen. Umgekehrt hätte die Ausweitung des Wahlrechts ohne Voraufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik als Aufgabe der Idee einer fortbestehenden gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit verstanden werden können, was angesichts des Grundlagenvertragsurteils des BVerfG60 als verfassungswidrig gegolten hätte. Die Ausschussmehrheit konnte sich auf keine der Alternativen verständigen. Ähnlich ergebnislos verliefen die Beratungen in der 8. Legislaturperiode, konkret 1978/79. Nur waren die Rollen parteipolitisch etwas anders verteilt und zudem war die Frage zum parteipolitischen Zankapfel zwischen CDU/CSU und SPD mutiert.61 Die CDU-CSU-Fraktion brachte einen Entwurf ein, der inhaltlich dem des Bundesinnenministeriums der vorangehenden Legislaturperiode entsprach, die FDP-Fraktion im Bundestag begründete ihre (der Koalitionsdisziplin geschuldete) Ablehnung mit den bekannten zwei Argumenten der Gleichheitsbedenken und der deutsch-deutschen Problematik.62 Erst in der 9. Legislaturperiode wurde ein wieder parteiübergreifender Konsens63 erzielt, der in zwei im wesentlichen gleiche Gesetzentwürfe 1981 der CDU/ CSU-Fraktion64 und 1982 des (immer noch FDP-geführten) Innenministeriums65 mündete, die die CDU/CSU-Variante des Kombinationsmodells aus der 7. Legislaturperiode übernahmen: Das Auslandsdeutschenwahlrecht sollte in allen Fällen an einen dreimonatigen Voraufenthalt geknüpft sein, bei Wohnsitz in einem EG-Mitgliedstaat unbefristet fortbestehen und bei Wohnsitz in einem anderen Staat nach 10 (CDU/CSU) oder 5 (Bundesregierung) Jahren erlöschen. Durch den Regierungswechsel zu Kohl und anschließende Neuwahlen kam es nicht mehr zu weiteren Beratungen dieser Entwürfe.   Vgl. Bericht des Innenausschusses BT-Drs. 7/2063, S.  4.   Vgl. Bericht des Innenausschusses BT-Drs. 7/2063, S.  4 f. 60   BVerfGE 36, 1, 30; ausführlicher noch später in BVerfGE 77, 137, 149 ff. 61   Vgl. BT-PlenProt 8/157 S.  12588B ff.; rückblickend etwa MdB Klein (SPD), in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 6.11.1987, S.  3 „Viel Lärm um (fast) nichts – Zum Wahlrecht der im Ausland lebenden Deutschen“; die These, das Auslandsdeutschenwahlrecht sei ein konservatives Projekt auch H. Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd.  III, 3.  Aufl., 2005, §  46 Fn.  17. 62   BT-PlenProt 8/157 S.  12593A/B. 63   Der Regierungsentwurf wurde vier Wochen vor dem Auseinanderbrechen der sozial-liberalen Koalition eingebracht, so dass die Position der SPD hierzu nicht dokumentiert ist. 64   BT-Drs. 9/1062. 65   BT-Drs. 9/1913. 58 59

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Stattdessen realisierte erst der 10. Deutsche Bundestag 1985 die zuletzt beschriebene Neuregelung (in der 10-Jahres-Frist-Variante). Allerdings erstreckte diese Neuregelung die EG-Privilegierung eines unbefristeten Auslandswahlrechts auf Deutsche mit Wohnsitz in einem Europaratsstaat, um auch Deutsche in den deutschsprachigen Nachbarländern Österreich und Schweiz einzubeziehen.66 Der Gesetzentwurf enthielt sich hierzu einer substanziellen Begründung 67 und auch im Bericht des Innenausschusses wurde schlicht auf die Begründung des Gesetzentwurfs aus der vorangehenden Legislaturperiode verwiesen,68 was freilich diesen abweichenden Punkt nicht erklärt.69 Denn die Begründung der sogenannten EG-Lösung stützte sich – seit dem ersten Vorschlag hierzu von 197270 – auf die europäische Integration und die Verwirklichung von Freizügigkeit.71 In der Folgezeit wurde die Befristung 1998 zunächst verlängert72 und schließlich 2008 gestrichen.73 In der Gesetzesbegründung des Entwurfs der (in großer Koalition regierenden) Fraktionen CDU/CSU und SPD wurde dies damit begründet, dass die Privilegierung des Wohnsitzes in einem Europaratsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könne, da zum einen die geografische Nähe zu Deutschland und zum anderen die politische Homogenität der Europaratsstaaten nicht mehr bestehe; außerdem sei die geografische Nähe angesichts moderner Kommunikationsmöglichkeiten nicht mehr ausschlaggebend.74 Das Problem der ohnehin nie überzeugenden Begründung für die Europarats-Privilegierung hatte sich damit zwar erledigt. Dies galt aber nicht für das weiterhin bestehende Erfordernis des Voraufenthalts in Deutschland. Sein Grund – die Abgrenzung der Wahlberechtigten zum Bundestag gegenüber den Deutschen in der DDR – war zwar seit der Wiedervereinigung entfallen. Dennoch wurde es nicht aufgehoben, sondern nunmehr unreflektiert weitergeführt.

c)  Voraufenthalt vor dem BVerfG In diese Reformgeschichte hätte sich ein erfolgreicher Angriff gegen das Voraufenthaltserfordernis vor dem BVerfG nahtlos eingefügt. Die Erwartung, dass mit der letzten Reform 2008 – nachdem 18 Jahre und damit genau die Lebensspanne bis zum Wahlalter seit der Wiedervereinigung vergangen waren – auch diese historisch obsolete Voraussetzung aufgehoben würde, war enttäuscht worden. Der Weg zum BVerfG lag also nahe. Im Entscheidungsjahr 2012 bestand dann auch die Unionsbür Vgl. Breuer (Fn.  8 ), S.  76 unter Berufung auf Schreiber, NJW 1985, 1433, 1435.   BT-Drs. 10/1489, S.  6. 68   BT-Drs. 10/2834, S.  23. 69   Vollkommen anders – und letztlich wenig überzeugend – daher die Begründung von Schreiber, dem langjährig mit Wahlrechtsfragen befassten Ministerialdirigenten im BMI, in: NJW 1985, 1433, 1435. 70   BT-Drs. VI/3395, Anlage 1, S.  31, auch Anlage 3 S.  276. 71   BT-Drs. 9/1913, S.  11 f. 72   BGBl. 1998 I, 706; auf Initiative der (oppositionellen) Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion hin, die die Befristung ganz auf heben wollten, BT-Drs. 13/7864; vgl. Beschlussempfehlung des Innenausschusses BT-Drs. 13/9686. 73   BGBl 2008 I S.  394. 74   BT-Drs. 16/7461, S.  16. 66 67

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gerschaft bereits 18 Jahre. Der nach der Rechtsprechung des EuGH grundlegende Status,75 dessen zentrales Recht die Freizügigkeit (heute Art.  18 AEUV) darstellt, war also ebenfalls schon eine Wahlrechtsgeneration alt. Das BVerfG-Verfahren hätte daher Schlussstein bei der Verwirklichung der seit 1972 verfolgten Pläne sein können, diejenigen, die von ihrer europäischen Freizügigkeit Gebrauch machen, nicht durch Verlust des Bundestagswahlrechts zu benachteiligen. Vor diesem Hintergrund ist es umso beachtlicher, dass weder die europäische Freizügigkeitsdimension noch die historische Begründung des Voraufenthalts in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung eine Rolle spielt.76 Stattdessen scheinen sowohl die Senatsmehrheit als auch das Sondervotum die freigewordene Rechtfertigungslücke zum Schauplatz eines „Besetzungskampfes“ mit zwei unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen zu machen. Im Sondervotum will Lübbe-Wolff  77den Voraufenthalt mit dem Verantwortungszusammenhang rechtfertigen, der demokratietheoretisch hinter dem Wahlrecht selbst steht – mit der Übernahme politischer Verantwortung in der Wahlentscheidung für die staatlich gestalteten Rahmenbedingungen des eigenen Lebens. Dies lässt sich auch als demokratietheoretischer Zusammenhang zwischen Herrschaftsunterworfenheit und Betroffenheit einerseits und politischen Partizipationsmöglichkeiten und Wahlrecht andererseits beschreiben. Offenbar wollte die Senatsmehrheit dieser Begründung nicht folgen.78 Das Urteil entwickelt daher eine andere demokratietheoretisch angeleitete Rechtfertigung. Da für Demokratie politische Kommunikation von herausgehobener Bedeutung sei, setze umgekehrt die Ausübung des Wahlrechts die Möglichkeit zur (politischen) Kommunikation voraus und hierfür sei wieder ein „Mindestmaß an persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit“ notwendig, das der Gesetzgeber mit einem auch noch so kurzen Voraufenthalt typisiert vermuten dürfe.79 Während für Lübbe-Wolff die Betroffenheit ausschlaggebend ist, weil sie für den Verantwortungszusammenhang essentiell sei, ist für die Senatsmehrheit die Vertrautheit der Dreh- und Angelpunkt, der für den Kommunikationsprozess unverzichtbar sein soll. Wechselseitig können sich beide Konzeptionen vorwerfen, dass sich weder aus dem einen noch dem anderen Konzept auch nur halbwegs nachvollziehbar das Erfordernis eines dreimonatigen Voraufenthalts ableiten lässt.80 Lübbe-Wolffs Argumentation hat dabei den Vorzug, dass zwei miteinander konfligierende Prinzipien – Verantwortungszusammenhang durch Betroffenheit auch bei Auslandswohnsitz sowie kei  EuGH C 184/99 Grzelczyk, ECLI:EU:C:2001:458.   Im Sondervotum, BVerfGE 132, 39, Rn.  66, spricht Lübbe-Wolff diesen Aspekt zwar an, allerdings argumentativ eingebettet in ihr Demokratiekonzept, dass „die Wählenden mit ihrer Wahlentscheidung auf die politische Gestaltung eigener, nicht fremder, Lebensverhältnisse Einfluss nehmen“. Der Senat selbst verklausuliert seine Abkehr von früheren Entscheidungen nur damit, dass „nicht ohne Blick auf die jeweiligen rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen“ eine verfassungsrechtliche Würdigung des Wahlrechts der Auslandsdeutschen möglich sei, Rn.  31; Auch die Besprechungen der Entscheidung haben dies bisher nicht aufgegriffen, vgl. Felten, DÖV 2013, 466; Germelmann, Jura 2014, 310; Horn (Fn.  21), Sacksofsky (Fn.  21). 77   BVerfGE 132, 39, Rn 64 ff. 78   BVerfGE 132, 39, Rn.  38. 79   BVerfGE 132, Rn.  33 f., 39 ff. 80   BVerfGE 132, 39, Rn.  38 der Senat für das Betroffenheitserfordernis, und Rn.  63 sowie schon zynisch Rn 69. 75 76

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ne Fremdherrschaft, wenn mangels Betroffenheit kein Verantwortungszusammenhang – in einer typisierenden Regelung in Ausgleich gebracht werden müssen und sie daher dem Gesetzgeber einen sehr weiten Spielraum zubilligt.81 Umgekehrt muss die Senatsmehrheit den logischen Bruch dem Gesetzgeber in die Schuhe schieben82 und anschließend von ihm verlangen, dass das Voraufenthaltskriterium um weitere Voraussetzungen angereichert und um eine Härtefallregelung ergänzt wird, damit eine halbwegs tragfähige Einschränkung entsteht.83

d)  Festhalten an Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt Beiden ist aber gemein, dass sie an dem Voraufenthalt als Wahlrechtsvoraussetzung festhalten. Die Gründe hierfür mögen komplex sein. Jedenfalls aber bedeutet dieses Festhalten am Voraufenthalt ein Festhalten an einem Rest territorialer Wahlrechtsanknüpfung. In einer gelegentlich für staatstheoretische Konstrukte verwendeten Bildsprache mag die „Legitimationsschnur“ (es geht auch ohne Ketten und Glieder) noch so unsichtbar sein, ihren Ursprung nimmt sie doch auf dem (Mutter?-)Boden des Staates. Nüchterner mit einer Entlehnung aus der Geometrie formuliert: Staats  BVerfGE 132, 39, Rn.  64.   Das Gericht unterstellt (Rn.  4 0) Einschätzungen des Gesetzgebers, die dieser so nicht getroffen hat; vgl. auch Felten, DÖV 2013, 466, 474 (bei Fn.  82 ff.). Besonders eklatant ist das Fehlzitat unter Berufung auf BT-Drs. 9/1913, S.  10 f.: Die Gesetzesbegründung beruft sich auf die für die Demokratie wichtige Kommunikation nicht, um den Voraufenthalt zu begründen, sondern die damals vorgeschlagene 5-Jahresfrist! Umgekehrt begründet der Gesetzentwurf den Voraufenthalt getrennt hiervon damit, dass „ein Mindestmaß an Bindung zur Bundesrepublik Deutschland gefordert“ wird: „Für die Gewährung des Wahlrechts auch an Deutsche, die niemals im Geltungsbereich des Grundgesetzes gewohnt haben, ist ein sachlich einleuchtender Grund nicht erkennbar. Das Prinzip der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie fordert ihre Einbeziehung nicht.“ Desweiteren begründet der Gesetzgeber den Voraufenthalt – wie geschildert – mit der deutsch-deutschen Problematik und ergänzend der „Wahltechnik“. Also fehlt im Kontext des Voraufenthalts gerade jede Bezugnahme auf Vertrautheit und Kommunikationsprozesse. Erst auf der im Urteil nicht mehr in Bezug genommenen S.  12 des Gesetzentwurfs heißt es bei der Begründung des Voraufenthalts für die Deutschen mit Wohnsitz in EG-Staaten, die unbefristet wahlberechtigt bleiben sollten: „Durch die Anknüpfung an den „23. Mai 1949“ (Tag der Verkündung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland) wird eine Zuordnung des Wahlberechtigten zur Bundesrepublik Deutschland vorausgesetzt. Falls auf diese Anknüpfungspunkte verzichtet würde, führte dies dazu, daß solche Deutsche, die niemals im Geltungsbereich des Wahlgesetzes seßhaft waren (wie z.B. auch die im Ausland geborenen Kinder), wahlberechtigt wären, obgleich ihnen eine auf eigene Erfahrungen beruhende Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland fehlt. Das Gefälle zu den übrigen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen, denen lediglich ein zeitlich befristetes Wahlrecht zugestanden werden soll, würde dadurch derart verstärkt, daß eine solche Differenzierung sachlich kaum zu rechtfertigen wäre. Durch die Voraussetzung der vorherigen Seßhaftigkeit im Wahlgebiet bleibt auch der überwiegende Teil der Deutschen, die aus der DDR und Berlin (Ost) stammen, vom Wahlrecht ausgeschlossen.“ Auch dies kann nicht als Grundlage dafür herhalten, dass der Gesetzgeber nach der Wiedervereinigung bei einheitlicher Behandlung aller Auslandsdeutschen die vom BVerfG unterstellte Einschätzung vorgenommen hat. Dies ist deshalb so bedeutsam, weil der Senat die gar nicht vorliegende Einschätzung des Gesetzgebers nicht beanstandet (Rn 41), in der Folge aber das Gesetz deshalb als verfassungswidrig wertet, weil der Gesetzgeber „das erklärte Ziel“ mit diesem Erfordernis nicht erreichen könne (Rn.  43). Der Vorwurf mangelnder Folgerichtigkeit ist freilich bei untergeschobenen Ausgangsprämissen schlicht verfehlt. 83   BVerfGE 132, 39, Rn.  39 ff. 81

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volk, Staatsgebiet und Staatsgewalt bieten als Denkmodell ein stabiles Dreieck, so dass es zwar ungleichmäßig, aber konzeptionell unproblematisch ist, einen seiner Schenkel zu verkürzen. Dieses Dreieck ist aber kein Dreieck mehr, wenn auf einen seiner Schenkel ganz verzichtet wird. Wie aber bereits einleitend dargelegt, fehlt diesem Denkmodell die Dimension der Mobilität. Der Ausgangsfall der BVerfG-Entscheidung macht dies praktisch deutlich. Freizügigkeit in der Europäischen Union bedeutet notwendig auch die Geburt von Kindern in Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen.84 In Deutschland geborene und aufgewachsene italienische, britische oder rumänische Staatsangehörige sind genauso tatsächliche und unionsrechtlich gewollte Folge von Freizügigkeit, wie in Belgien geborene und aufgewachsene deutsche Staatsangehörige. Wenn demokratische Mitgestaltungsrechte, zu denen das Wahlrecht auf den unterschiedlichen Ebenen der Staats- und Verwaltungsorganisation gehört, von Bedeutung sind, ist es nur selbstverständlich, dass europäische Freizügigkeit nicht mit dem Verlust dieser Rechte einher gehen sollte. Dies hat zwar nicht dazu geführt, dass für die Wahl zu den Parlamenten der Mitgliedstaaten unionsrechtliche Koordinierungsoder gar Harmonisierungsansätze bestünden. Gleichwohl beobachtet die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Berichte zur Unionsbürgerschaft auch, ob und wie die Ausübung von Freizügigkeit mit einem Minus an politischen Teilhaberechten einher geht und betrachtet dies als Nachteil. Daher hat die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten mit restriktiven Regelungen eines Auslandswahlrechts Anregungen zugeleitet, Möglichkeiten hierfür zu erweitern.85 Die konzeptionelle Alternative – die Einräumung von Wahlrechten im Aufenthaltsstaat – wurden europäisch „nur“ auf der kommunalen Ebene verwirklicht. Die Kompetenz zur Kommunalwahlrichtlinie erhielt die EU (damals noch EG) im Zuge des Maastrichtvertrages gemeinsam mit der Einführung der Unionsbürgerschaft.86 In einem Modell europaweit „koordinierter“ Wahlrechte ergänzen also das territorial über den Wohnsitz vermittelte Kommunalwahlrecht und das personal über die Staatsangehörigkeit vermittelte (mitgliedstaatliche) Parlamentswahlrecht – und das personal begründete und territorial verortete EP-Wahlrecht – einander.87 In ein solches unionales Modell passt die territoriale Rückbindung des Auslandswahlrechts nicht. Die Senatsentscheidung wie das Sondervotum bezahlen also ihr Festhalten an traditionellen, isoliert auf den Nationalstaat bezogenen, staatstheoretischen Konstrukten damit, dass sie die staatstheoretische Herausforderung ausblenden, die aus der realen Einbindung der Nationalstaaten in supranationale Ordnungen resultiert. Die seit den 1970ern im Grundsatz über alle Parteien hinweg geteilten Argumente für die Privilegierung von Auslandsdeutschen in bestimmten Staaten – sei es das Argument der Freizügigkeit für die EG-Staaten oder sei es das Argument der gemeinsamen Wertegemeinschaft für die Europaratsstaaten – haben sowohl in   Dies gilt jedenfalls soweit im Geburtsstaat die Staatsangehörigkeit nicht iure soli verliehen wird.   Empfehlung der Europäischen Kommission 2014/53/EU zum Umgang mit den Konsequenzen des Entzugs des Wahlrechts von Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen vom 29.01.2014, ABl. L 32/34; s.o. bei Fn.  21. 86   Damals Art.  8b EG, heute Art.  22 AEUV. 87  Vgl. Wallrabenstein, Zum Verfassungsrecht der Unionsbürgerschaft, in: Bäuerle/Dann/dies. (Hrsg.), Demokratieperspektiven (FS Bryde), 2013, S.  741, 759 ff. 84 85

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der Senatsentscheidung, die auf den Kommunikationszusammenhang zu Deutschland abstellt, als auch im Sondervotum, das einen Verantwortungszusammenhang zur deutschen Politik verlangt, keinen Platz. Angesichts der Vertiefung der europäischen Integration seit 1993 ist der Verlust dieser Dimension in der gesamten Entscheidung bemerkenswert; sie ließe sich in den Kontext anderer unionskritischer Entscheidungen stellen und ist vor allem für die aufgeworfene Frage der Realisierung politischer Rechte unter Freizügigkeitsbedingungen bedauerlich.

3.  Warum noch mehr Beschränkungen? Außerdem musste der Senat des BVerfG, wie dargelegt, bei seinem Argumentationsansatz über den bloßen Voraufenthalt hinaus gehen. Soll ein Mindestmaß persönlicher und unmittelbarer Vertrautheit der Grund für eine Wahlrechtseinschränkung sein, läge eine Frist in der Größenordnung, die Lindner für den Auslandsbayern ins Spiel gebracht hat88 – ein Jahr Inlandsaufenthalt in den letzten drei Jahren – näher an der allgemeinen Lebenserfahrung. Konsequenterweise hat das BVerfG daher auch mehr Beschränkungen des Auslandsdeutschenwahlrechts eingefordert und der Gesetzgeber musste dem Folge leisten. Nur ein hinreichend restriktives Auslandsdeutschenwahlrecht kann verfassungskonform sein; die Alternative wäre gar kein Auslandsdeutschenwahlrecht. Zu Recht ist die Entscheidung dafür kritisiert worden, dass die Pflicht des Gesetzgebers, exklusiver mit Rechten umzugehen, mindestens außergewöhnlich ist.89 In anderen Kontexten stehen Beschränkungen von (Grund-)Rechten unter Rechtfertigungsdruck und das BVerfG ist zur Kontrolle der Einschränkungen, nicht ihrer Sicherung berufen. Das Wahlrecht scheint hier – ohne dass dies thematisiert würde – eine andere Qualität zu haben. Die Irritation wird noch dadurch verstärkt, dass sich das Urteil dazu ausschweigt, welche Risiken dem Wahlvorgang drohen, wenn Personen wahlberechtigt wären, die das erforderliche Mindestmaß an Vertrautheit mit dem politischen Gemeinwesen Deutschlands nicht mitbringen. Das eingangs genannte aktuelle Beispiel des türkischen Verfassungsreferendums könnte heute womöglich als Argument genutzt werden. Dafür müsste freilich belegbar sein, dass die größere Unterstützung für das Verfassungsreferendum auf mangelnder Vertrautheit mit der politischen Situation in der Türkei beruht. Zumindest denkbar ist, dass Wähler die Stärkung der Präsidialgewalt gerade wegen ihrer Vertrautheit für richtig halten, weil sie der Überzeugung sind, dass die Pluralisierung der Politik in der Türkei von Übel sei. Aus der Perspektive der deutschen Verfassungstradition scheint dies evident falsch, aber dies ist eben eine Außenperspektive, die sich nicht auf Vertrautheit mit türkischer Realität stützten kann. Plausibler wäre es anhand dieses Beispiels, das Argument des Verantwortungszusammenhangs aus dem Sondervotum zu bemühen. Denn die Beschränkungen oppositioneller Freiheiten, die durch das Verfassungsreferendum legitimiert werden, müssen Auslandstürken   Lindner, BayVBl 2016, 57, 578 f.   Vgl. die Kritik Lübbe-Wolffs im Sondervotum BVerfGE 132, 39, Rn.  68.

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nicht in der Unmittelbarkeit als Konsequenz der Wahlentscheidung tragen, wie Menschen in der Türkei. Aber diese Argumentation könnte ein Auslandswahlrecht gar nicht, oder allenfalls bei erwartbarer Rückkehr oder ähnlichem begründen.90 Zu den von der Senatsentscheidung entworfenen Einschränkungen zur Begrenzung des Risikos führt das Beispiel jedoch nicht. Es bleibt daher die Frage, warum diese Erwägungen den Senat nicht veranlasst haben, von seinem Konzept Abstand zu nehmen.

III. Ausländerwahlrecht Der Grund dürfte darin liegen, dass bei dem bereits angesprochenen Besetzungskampf um die Rechtfertigungslücke für den Voraufenthalt – ein letztes martialisches Bild sei gestattet – das Gelände vermint war. Bereits das Sondervotum spricht an, dass sich die Entscheidung nur aus der Konfrontationsstellung erklärt, die seit den Entscheidungen des BVerfG zum Ausländerwahlrecht 1990 besteht.91 Ebenso kritisiert Horn – insoweit irritierend unter der Überschrift „Kriterium der Kommunikationsfunktion der Wahl“ – das Sondervotum für sein Abstellen auf Betroffenheit als Begründung des Voraufenthaltserfordernisses. Zwar kann ich nicht nachvollziehen, warum „der Verzicht auf den Nachweis einer Vorwahl-Anwesenheit auf dem Staatsgebiet […] die Befürwortung eines Ausländerwahlrechts in arge Bedrängnis [brächte]; [es] ihr buchstäblich den Boden entziehen“ würde,92 aber zutreffend ist, dass durch die Frage nach einer territorialen Rückanbindung des Auslandsdeutschenwahlrechts die Debatte um das Ausländerwahlrecht aufgerufen und damit indirekt wieder geführt wird.

1.  Entwicklung des Ausländerwahlrechts Auch unabhängig vom Auslandsdeutschenwahlrecht ist aber die Debatte um das Ausländerwahlrecht nicht zur Ruhe gekommen.

a)  Europäisches und deutsches Ausländerkommunalwahlrecht Sie geht zurück auf Reformbestrebungen in den 1980er Jahren und führt erneut in den Kontext der europäischen Integration. Als Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit waren in zahlreichen europäischen Staaten beachtliche Zahlen von Wanderarbeitnehmern und ihren Familien sesshaft geworden. Im Zuge des Integrationsschubes der EG zur Europäische Union war das Konzept einer europaweiten Öffnung des Kommunalwahlrechts für alle (europäischen) Gemeindebürger entstanden, so dass   Deshalb folgt für Lübbe-Wolff daraus auch nur ein großer Spielraum des Gesetzgebers beim Ausgleich der konfligierenden Prinzipien, BVerfGE 132, 39, Rn.  64. 91   BVerfGE 132, 39, Rn.  70. 92   Horn (Fn.  21), S.  79. 90

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aus der Perspektive des europäischen Freizügigkeitsrechts dieses Recht, ebenso wie zahlreiche andere (meist soziale) Rechte, nicht mehr im Herkunfts-, sondern im Wohnsitzstaat ausgeübt werden sollten. Tatsächlich wurde dieses Ziel durch die Richtlinie 94/80/EG und ihre Umsetzung Mitte der 1990er Jahre erreicht. Allerdings wurde die Debatte um das Ausländerwahlrecht auch unabhängig vom Fortschritt der europäischen Politik als innerstaatliche Frage um die politische Integration von „ehemaligen Gastarbeitern“ geführt. Ironischerweise wäre eine Unionskompetenz entbehrlich gewesen, wenn die Mitgliedstaaten sich aus jeweils eigener Kompetenz und Überzeugung für eine Öffnung ihres Kommunalwahlrechts entschieden hätten. Einige europäische Staaten führten in eben diesem Sinne ein Kommunalwahlrecht für Ausländer Ende der 1980er Jahre ein.93 In der Bundesrepublik nahmen im Februar bzw. Juni 1989 Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen mit einem Kommunal- bzw. Bezirkswahlrecht für Ausländer die ersten Vorstöße vor.

b)  Entscheidungen des BVerfG zum deutschen Ausländerkommunalwahlrecht Die darauf hin von anderen Ländern angestrengten Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG94 gerieten aber in den Kontext der Wiedervereinigung, was einen gewissen Schlüssel zum Verständnis der Debatte liefern kann. In der DDR bzw. in den neu gegründeten Ländern fand während des Jahres 1990 ein intensiver Demokratisierungsprozess statt, dessen eine Facette auch das Kommunalwahlrecht für Ausländer war. Noch unter der SED wurden im März 1989 Ausländer zu (damals noch nicht demokratischen) Kommunalwahlen zugelassen,95 so dass nach der Wende bei den ersten freien Kommunalwahlen im Mai 1990 auch Ausländer wahlberechtigt waren.96 Auch die im Entstehen befindlichen Landesverfassungen bzw. Landeswahlgesetze der neuen Länder waren einem Ausländerwahlrecht gegenüber positiv eingestellt, so dass eine negative Entscheidung des BVerfG – zu deren Beachtung sich alle Akteure im Einigungsprozess verpflichtet sahen – auch diese Regelungen bzw. Überlegungen beeinflusste.97

93  Vgl. einen Überblick bei Groenendijk, Wahlrecht für Drittstaatsangehörige, http://www.bpb. de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/184440/wahlrecht-fuer-drittstaatsangehoerige (Abruf 19.11. 2017); W.T. Bauer, Das kommunale Ausländerwahlrecht im europäischen Vergleich, Konferenz der FES 2008, abruf bar etwa unter http://wahlkreis100.de/sites/wahlrecht_europa.htm (letzter Abruf 30.09. 2017). 94   Gegen die Regelungen in Schleswig-Holstein und Hamburg, die Bremer Regelung wurde vor dem BremStGH angegriffen. 95   §  3 Abs.  3 des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (http://www.verfassungen.de/de/ddr/wahlgesetz76.htm, Abruf 29.10.2017). 96   §  3 Abs.  2 Gesetz über die Wahlen zu Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen am 6. Mai 1990 vom 6. März 1990 (http://www.verfas sungen.de/de/ddr/kommunalwahlgesetz90.htm, Abruf 29.10.2017). 97   Die Erkenntnisse zu den Regelungen in den neuen Bundesländern und insb. in Sachsen beruhen auf einem Gutachten, das ich 2017 für die sächsische Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zu der Frage erstattet habe, ob und ggf. wie eine Änderung der Verfassung des Freistaates Sachsens erforderlich wäre, um ein Kommunalwahlrecht für Drittstaatsangehörige einzuführen.

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Mit Urteilen vom 30. Oktober 1990 erklärte das BVerfG die Kommunalwahlregelungen Schleswig-Holsteins und Hamburgs für verfassungswidrig.98 Denn das Grundgesetz verlange, dass alle Staatsgewalt vom deutschen Staatsvolk ausgehe, das durch die Staatsangehörigkeit sowie Art.  116 GG konstituiert werde. Volksvertretungen in den Ländern und Gemeinden müssten daher von territorial begrenzten Teilmengen dieses Staatsvolkes gewählt werden. Ausdrücklich folgte der BremStGH 1991 dem BVerfG.99 In Thüringen, das ein Ausländerkommunalwahlrecht vorsah, verlor die Regelung aufgrund einer entsprechenden vorsorglichen Klausel des Einigungsvertrages ihre Geltung.100 Auch die in der Entstehung befindlichen Verfassungen der neuen Länder reagierten, entweder indem in Sachsen entsprechende Verfassungsentwürfe geändert wurden101 oder indem in Brandenburg und Sachsen-Anhalt die Einführung eines Ausländerwahlrechts ausdrücklich von einer bundesrechtlichen „Erlaubnis“ abhängig gemacht wurde.102

c)  Anschließende Vorstöße für ein umfassendes Kommunalwahlrecht Die beiden gegenläufigen Impulse – für Unionsbürger die (europäische) Pflicht zur Einführung der Kommunalwahlberechtigung und für andere Ausländer das (nationale) Verbot desselben – führte also zu einer Differenzierung zwischen EU und anderen Staaten, wie sie ursprünglich auch beim Auslandsdeutschenwahlrecht angelegt war, wenn auch dort weniger kategorisch und „kaschiert“ durch das Abstellen in §  12 Abs.  2 BWahlG auf Europaratsstaaten. So wie 2008 diese Unterscheidung überwun-

  BVerfGE 83, 37 und 60.   BremStGH, DVBl. 1991, 1074; vgl. insg. m.w.Nw. Barley, Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art.  28 Abs.  1 S.  3 GG, 1999, S.  39 ff. 100   §  13 Abs.  2 S.  2 ThürKommunalVerf; vgl. hierzu Barley (Fn.  99), S.  143 f. 101   Art.  5 Abs.  2 des 1. Gohrischen Entwurfs vom 5.8.1990 lautete: „Wahl- und stimmberechtigt sind alle Deutschen, die im Land wohnen oder sich dort gewöhnlich auf halten […]. Ausländern kann ein Wahl- und Stimmrecht eingeräumt werden.“ (Broschüre August 1990); die überarbeitete Fassung, der 2. Gohrische Entwurf vom 23.10.1990, der Grundlage für die parlamentarischen Verfassungsberatungen wurde, hielt die Frage durch die Formulierung offen: „Wahl- und stimmberechtigt ist, wer im Land wohnt oder sich dort gewöhnlich auf hält […]“. Die Fassung des parlamentarischen Verfassungsausschusses von Mai 1991 lautete schließlich: „Wahl- und stimmberechtigt sind alle Bürger, die im Land wohnen oder sich dort gewöhnlich auf halten […].“ (beide zitiert nach Stober (Hrsg.), Quellen zur Entstehungsgeschichte der sächsischen Verfassung, 1993, S.  268 ff.). Aus den Protokollen der zweiten Klausurtagung des Verfassungsausschusses vom 31.01. bis 02.02.1991 geht hervor, dass die neue Formulierung als Reaktion auf die Urteile des BVerfG vom 31.10.1990 gewählt wurde (zitiert nach Schimpff/ Rühmann (Hrsg.), Die Protokolle des Verfassuungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, 2. Klausurtagung S.  33). Die hierfür dokumentierte Erklärung des als Berater eingebundenen v.Mangoldts bei der Fassung des 2. Gohrischen Entwurfs handele es sich „offensichtlich [um] ein Redaktionsversehen“, muss wohl als Kaschieren der Frage interpretiert werden. 102   Art.  22 Abs.  1 S.  2 Verf BB lautet: „Anderen Einwohnern Brandenburgs sind diese Rechte [AW: Das Wahlrecht zum Landtag und den kommunalen Vertretungskörperschaften] zu gewähren, sobald und soweit das Grundgesetz dies zuläßt.“; Art.  42 Abs.  2 S.  2 Verf S-A, der das Wahlrecht zum Landtag regelt, bestimmt: „Staatenlosen und Ausländern können diese Rechte nach Maßgabe des Grundgesetzes gewährt werden.“ 98

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den wurde,103 finden sich sowohl auf Bundes- wie auch Landesebene insbesondere seit Mitte der 2000er Jahre Anläufe zur Erweiterung des Ausländerwahlrechts über die Unionsbürger hinaus. In der Verfassungsreformkommission nach der Wiedervereinigung und angesichts der parallel hierzu erforderlichen Umsetzung des Unionsbürgerkommunalwahlrechts erhielten Initiativen von SPD und Grünen zu einer GG-Änderung für ein allgemeines Inlandsausländerwahlrecht keine Mehrheit;104 es blieb bei der auch sprachlich eng limitierten Einfügung des Art.  28 Abs.  1 S.  3 GG im Rahmen der GG-Änderung zur Ratifikation des Maastrichtvertrages.105 Ab 2007, in der 16.106 und 17.107 Wahlperiode wurde eine GG-Änderung für ein Ausländerwahlrecht für Drittstaatsangehörige erneut erfolglos aufgegriffen.108 Auf Landesebene gab es Gesetzentwürfe 2011 in Berlin109, 2012 in Bremen110 und 2013 sowie 2016 in Nordrhein-Westfalen111. Angesichts der anhaltenden Kontroverse über die Verbindlichkeit der BVerfG-Entscheidungen von 1990 bzw. die Offenheit des Grundgesetzes für weitere Demokratiemodelle, waren die Sachverständigenstellungnahmen zu den Gesetzesinitiativen vorhersehbar konträr.112 Über den Bremer Entwurf hatte der BremStGH zu entscheiden und kam mit Urteil vom 31.04.2014 zu dem Ergebnis, dass der vom Landtag vorgelegte Gesetzentwurf (weiterhin) nicht mit der Bremi  Auf Betreiben von Bündnis 90/Die Grünen, s.o. Fn.  72.  Vgl. Barley (Fn.  87), S.  99 f. 105   Vgl. BT-Drs. 12/3338. 106  Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis90/Die Grünen, BT-Drs. 16/6628, sowie entsprechende Anträge der Fraktion Die Linke; vgl. Ausschussbericht und Beschlussempfehlung BT-Drs. 16/13033 sowie BT-Prot. 16/224, S.  24674B ff. 107   Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, BT-Drs. 17/1047, Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen BT-Drs. 17/1150 und entsprechender Antrag der Fraktion Die Linke, vgl. Ausschussbericht und Beschlussempfehlung BT-Drs. 17/1242 sowie BT-Prot. 17/222, S.  27591A ff. 108   Zu zwischenzeitlichen Vorstößen einzelner Länder im Bundesrat bzw. Absichtserklärungen in Koalitionsvereinbarungen vgl. Sieveking, Stellungnahme für den BT-Innenausschuss 2008, A-Drs. 16(4)459 E, S.  2 ff. 109  Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus Drs. 16/3860, 16/3860-1, 16/4233, Wortprotokoll InnSichO 16/79, Wort- und Beschlussprotokoll 16/85. 110   Brem. LT-Drs.18/731. 111   Zuletzt 2016 Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Fraktion der PIRATEN, NRW LT-Drs. 16/13314, 16/14275, PlBPr 16/138; vgl. auch die inhaltliche Beratung zuvor 2014 in der Verfassungskommission, GPr 16/7. 112  Für ein Ausländerwahlrecht: Hanschmann, 2008: Stellungnahme für den BT-Innenausschuss, A-Drs 16(4)459 F; ders., 2011: Stellungnahme für den Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung des Abgeordnetenhauses Berlin, abruf bar unter: https://www.gruene-fraktion-berlin.de/sites/default/ files/381418.wahlrecht_fuer_drittstaatsangehoerige_ve_0.pdf (letzter Abruf: 29.09.2017); ders., 2013: Stellungnahme für den Ausschuss für Kommunalpolitik und den Integrationsausschuss des Landtags NRW, A-Drs. 16/1225 (A11, A19); Sieveking, 2008: Stellungnahme für den BT-Innenausschuss, A-Drs 16(4)459 E; ders. 2013: Stellungnahme für den nichtständigen Ausschuss der Bremischen Bürgerschaft „Ausweitung des Wahlrechts“, abruf bar: https://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?id=491 (letzter Abruf 30.09.2017); Preuß, 2013: Rechtsgutachten für den nichtständigen Ausschuss der Bremischen Bürgerschaft „Ausweitung des Wahlrechts“, abruf bar ebenda; eher fragend Wittreck, 2014: Stellungnahme für die Verfassungskommission des Landtags NRW, G-Drs 16/2026; dagegen: Pechstein und Rennert, 2008: Stellungnahmen für den BT-Innenausschuss, A-Drs. 16(4)459 B; Schwarz, 2012: Gutachten zur Ausweitung des Wahlrechts für die Bremische Bürgerschaft, abruf bar https://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?id=491 (letzter Abruf 30.09.2017); ders. 2013: Stellungnahme für den Ausschuss für Kommunalpolitik und den Integrationsausschuss des Landtags NRW, A-Drs. 16/1263; Gärditz, 2014: Stellungnahme für die Verfassungskommission des Landtags NRW, G-Drs. 16/2021. 103

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schen Landesverfassung vereinbar sei.113 Allerdings legte Sacksofsky in einem Sondervotum dar, dass die Entscheidungen des BVerfG aus dem Jahr 1990 für derart scharfe Anforderungen an die Wahlrechtsgestaltung der Länder nicht länger maßgeblich seien,114 weil sich die grundlegenden Prämissen des Urteils seit Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger nicht mehr widerspruchsfrei aufrechterhalten ließen.115 Art.  28 Abs.  1 S.  3 GG sei nicht nur eine Ausnahmeregelung, die bestimmte Wahlrechte Personen einräume, die nicht zum Wahlvolk gehören.116 Vielmehr sei damit die demokratietheoretische Konzeption, die die Grundlage der BVerfG-Urteile bilde, ausgehebelt.117 Wie bereits eingangs dargestellt, stehen sich auch hier also unterschiedliche Konzeptionen gegenüber und der Vorwurf von Widersprüchlichkeit und logischer Fehler im Raum.

2.  Mobilitätsbezug der Ausländerwahlrechts-Entscheidungen des BVerfG In der Staats- und Verfassungslehre stießen die BVerfG-Urteile 1990 eine intensive und kontroverse Debatte an,118 die zum einen ihre Fortentwicklung im Kontext der   BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497.   BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497 (502, juris-Rn.  79). 115   BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497 (503, juris-Rn.  85 ff.). 116   So die Gegenauffassung, nach der Art.  28 Abs.  1 S.  3 GG das fortbestehende Konzept nur überlagert: In diesem Sinne ausdrücklich Hamburger Verfassungsgericht (HbVerfG), NVwZ-RR 2010, 129, allerdings um das nur unionsrechtlich vorgegebene Wahlrecht zu den Bezirksversammlungen, die keine Kommunalwahlen und daher nicht von Art.  28 Abs.  1 S.  3 GG umfasst sind, zu rechtfertigen; i.E. wohl auch Jarass, GG (2009), Art.  28 Rn.  8, ohne weitere Begründung; für andere Autoren ist der Begriff „Volk“ nun dort, wo es um das „Kommunalvolk“ geht, um Unionsbürger erweitert: ungeachtet unterschiedlicher Begrifflichkeiten für dieses nicht mehr nur Staatsangehörige umfassende „Legitimationssubjekt“: BayVerfGH, BayVBl 2014, 17 ff. ( juris-Rn.  142), BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497 (499, juris-Rn.  54); Löwer, in: v.Münch/Kunig (Hrsg.) GGK I, 6.  Aufl. 2012, Art.  28 Rn.  32; Grzeszik, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG (Stand 80. EL Juni 2017), Art.  20 Rn.  86 f.; andere Kommentatoren übergehen diese Frage schlicht: Mehde, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG-Kommentar (Stand Dez. 2016), Rn.  124–126; Hellermann, in: Beck-OK GG (Stand 1.6.2017), Art.  28 Rn.  17–18. 117   BremStGH, NVwZ-RR 2014, 497 (503, juris-Rn.  91 f.); dem folgend Eickenjäger/Valle Franco, ZAR 2015, 52; van Ooyen, RuP 2015, 129; H. Meyer, JZ 2016, 121; Sokolov, NVwZ 2016, 649. 118   Vgl. etwa die Kritik am BVerfG von Bryde, StWissStP 1994, 305; Hobe, JZ 1994, 191; Uerpmann, StWissStP 1995 3; Sacksofsky, Mehrfache Staatsangehörigkeit – ein Irregulare?, in: FS Böckenförde 1995, S.  317 ff.; Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, insb. S.  140 ff.; Keil, Kants Demokratieverständnis und Ausländerwahlrecht heute, 2006; Sieveking, ZAR 2008, 121; Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz: eine Auseinandersetzung mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, 2000; Groß, KJ 2011, 303; Hanschmann, Partizipation – demokratietheoretische und verfassungsrechtliche Überlegungen zu Kommunalwahlrecht und Staatsangehörigkeit, in: Barwig/Beichel-Benedetti/Brinkmann (Hrsg.), Gleichheit – Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht 2011, 2012, 74; H. Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd.  III, 3.  Aufl., 2005, §  46, Rn.  7 f.; Röper/Sieveking, ZAR 2011, 131; mit konzeptionellen Überlegungen zu einem neuen Bürgerstatus: Lenski, DVBl 2012, 1057; Bast, ZAR 2013, 353; umgekehrt dem BVerfG folgend neben der Kommentarliteratur, die sich auf die von der Entscheidung offen gelassenen Fragen beschränkt (etwa zu den Grenzen des Art.  79 Abs.  3 GG) etwa Heintzen, Der Staat 36 (1997), 327, 343 ff.; Badura, Verfassung, Staat und Gesellschaft 113 114

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Europäischen Integration fand,119 und zum anderen bis heute geführt wird.120 Sie kann und muss hier nicht wiederholt werden. Im vorliegenden Zusammenhang interessant ist jedoch, wie das BVerfG in den Ausländerwahlrechtsentscheidungen Mobilität verarbeitet. Denn in diesem Punkt unterscheidet sich das Urteil von 2012 durchaus von den Urteilen von 1990. Während oben herausgearbeitet wurde, dass das Urteil zum Auslandsdeutschenwahlrecht die Bedeutung europäischer Freizügigkeit ganz ausblendet, gewissermaßen mobilitätsblind ist, lässt sich dieser Vorwurf den Urteilen zum Ausländerwahlrecht in dieser Form nicht machen.

a)  Beschränkung auf Drittstaatsangehörige Die europäische Freizügigkeit hatte das BVerfG zwar auch 1990 nicht im Blick, aber es bestand hierfür ein offensichtlicher und vom BVerfG als solcher auch erkannter Ausweg. Dass es im Zuge der europäischen Integration zu einem Kommunalwahlrecht für Unionsbürger kommen werde, war 1990 bereits absehbar. Die Urteile nehmen hierauf auch Bezug und weisen vorsorglich darauf hin, dass die Einführung eines Kommunalwahlrechts wie es „derzeit in der Europäischen Gemeinschaften erörtert“ werde, nicht gegen die gemäß Art.  79 Abs.  3 GG unabänderlichen Grundsätze der Verfassung, namentlich des Demokratieprinzips verstoße.121 Politisch gewendet musste das BVerfG nicht darum besorgt sein, dass Unionsbürger (1990 noch Bürger der EG-Mitgliedstaaten) vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben. Vielmehr konnte es – jedenfalls solange (sic!) es dem europäischen Integrationsprozess Zutrauen entgegenbrachte – die Frage demokratischer Teilhabe im europäischen Freizügigkeitsraum zunächst den europäischen Institutionen überlassen. Der Fokus lag deshalb allein auf den Ausländerinnen und Ausländern, die nicht Unionsbürger waren (bzw. wurden). Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren die mit Abstand größte Gruppe die türkischen Staatsangehörigen.122 Zwar waren die Zuwanderungszahlen durch den zusammenbrechenden Ostblock im Steigen begrif-

in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd.  II, 2001, S.  897, 905 ff. Gärditz/ Hillgruber, JZ 2009, 872, 873. 119   BVerfGE 89, 155; BVerfGE 123, 267; BVerfGE 140, 314; BVerfGE 142, 123. 120   Aus dem aktuellen kritischen Schrifttum insb. auch als Zustimmung zum Sondervotum Sacksofsky im sogleich noch anzusprechenden Urteil des BremStGH von 2012: Eickenjäger/Valle Franco, ZAR 2015, 52; van Ooyen, RuP 2015, 129; H. Meyer, JZ 2016, 121; Sokolov, NVwZ 2016, 649; vgl. auch etwa die insoweit unterschiedliche Positionierung von Walter und Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2014): Walter spricht sich in der Sache für ein Ausländerwahlrecht aus, hält allerdings eine GG-Änderung für nötig, S.  7, 41; Gärditz sieht auch wegen Art.  79 Abs.  3 GG unabänderlich vorgegeben, dass das demokratische Herrschaft legitimierende Staatsvolk wenn schon nicht durch die Staatsangehörigkeit, so doch „durch stabile Zuordnung formalisiert“ sein muss, wofür er ein „erweitertes Inländerwahlrecht“ – nach hier verwendeter Terminologie Inlandswahlrecht – für unpraktikabel hält: S.  49, FN 144. 121   BVerfGE 83, 37, 59. 122   Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Ausländische Bevölkerung, Ergebnisse des Ausländerzentralregisters, 2016, S.  11; die zweitgrößte Gruppe waren jugoslawische Staatsangehörige.

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fen, aber der größte Teil der Zuwanderer waren zu diesem Zeitpunkt Spätaussiedler und damit Deutsche gemäß Art.  116 GG.123

b) Einwanderungsperspektive Das BVerfG hat die Mobilität dieser Drittstaatsangehörigen als Einwanderung wahrgenommen. Im Unterschied zur beiseite gelassenen Ausübung von Freizügigkeit durch Unionsbürger, betrachtete es deren Mobilität als (Im-)Migration, die linear und endgültig sein soll. Migrationssoziologisch war 1990 diese Sicht insbesondere auf türkische Migrantinnen und Migranten in Deutschland noch gar nicht so alt. Sie hatte erst in den 1980er Jahren die bis dahin bestimmende Vorstellung abgelöst, es handele sich um „Gastarbeiter“, also nur temporär zuziehende, mobile Menschen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine solche Mobilität waren freilich bereits mit dem Anwerbestop 1972 entfallen. Ob und wie gut sich die jeweilige Außensicht mit dem Selbstverständnis der Migrantengruppen selbst deckte, kann hier nicht vertieft werden. Jedenfalls fügt sich die Perspektive des BVerfG in die allgemeine migrationspolitische Wahrnehmung, die mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung die stattgefundenen Migrationsbewegungen aufgriff.

c)  Staatsangehörigkeit als (verspätete) Antwort auf Einwanderung Vor diesem Hintergrund ist die zweite Kernaussage, die das BVerfG mit seinem Verbot des kommunalen Ausländerwahlrechts verband, einzuordnen. Gestützt auf die demokratietheoretische Annahme, dass „Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen“ bestehen sollte, verwies es auf die Staatsangehörigkeit als das zur Verfügung stehende und verfassungsrechtlich vorgegebene Instrument zur Beseitigung der durch Einwanderung hervorgerufenen Diskrepanz.124 Politisch schloss sich das BVerfG damit den Vorstellungen des Bundesgesetzgebers an, der im Juli 1990 – also unmittelbar zur Zeit der Beratungen des Gerichts – das neue Ausländergesetz verabschiedet hatte.125 Darin waren erstmals in §  85 für junge Ausländerinnen und Ausländer und in §  85a für langjährig in Deutschland lebende (ältere) Ausländerinnen und Ausländer Einbürgerungsansprüche, also ein Recht auf Einbürgerung, vorgesehen. Tatsächlich haben sie zu weit weniger Einbürgerungen geführt, als politisch vielleicht erhofft.126 Dies dürfte an den zahlreichen materiellen Hürden gele123   Zu den (Spät-)Aussiedlerzahlen ab 1990 vgl. http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fak ten/soziale-situation-in-deutschland/61643/aussiedler; insgesamt unter: https://www.bpb.de/politik/ grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138012/geschichte-der-zuwanderung-nachdeutschland-nach-1950?p=all, Abruf jeweils 18.11.2017. 124   BVerfGE 83, 37, 52, ohne freilich ausdrücklich von Einwanderung zu sprechen; wörtlich spricht das Gericht von „Ausländern, die sich auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen haben, sich hier rechtens auf halten und deutscher Staatsgewalt mithin in einer den Deutschen vergleichbaren Weise unterworfen sind“. 125   BGBl. 1990 I 1354. 126   So jedenfalls die Einschätzung des Gesetzgebers bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts

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gen haben, nicht zuletzt am Erfordernis, seine bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben. Gerade an diesem Kriterium wird der Unterschied dessen deutlich, ob Migra­ tion als ein linearer und irgendwann abgeschlossener Einwanderungsprozess gesehen wird oder als Teil eines zirkulären und kontinuierlichen Mobilitätsgeschehens, was womöglich dem Selbstverständnis der Adressatinnen und Adressaten besser entsprochen hätte. Die erst später, 1999 mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts,127 gesetzlich verankerte Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung von Unionsbürgern128 zeigt umgekehrt, dass Staatsangehörigkeit unter Freizügigkeitsbedingungen typischerweise nicht aufgegeben werden muss. Die Urteile des BVerfG können daher bei gutem Willen129 dahin interpretiert werden, dass sie einen Weg zur Zusammenführung von territorialer und personaler Zuordnung zu einer Staatsgewalt wiesen, der zu anderen Realbedingungen – womöglich zu dem rund zwanzig bis zehn Jahre zuvor erfolgten Migrationsgeschehen – durchaus gepasst hätte. Für eine solche, positive Vision für ein inkludierendes Staatsangehörigkeitsrecht lässt sich anführen, dass die Zeit des „Dornröschenschlafs“ des Staatsangehörigkeitsrechts gerade erst durch die Wiedervereinigung am 3.10.1990 zum Ende gekommen war. Während der deutschen Teilung war es nicht mehr als unbedingt notwendig verändert worden. Auch die Verortung der neuen Einbürgerungsansprüche im AuslG anstatt einer Änderung des RuStAG erklärt sich aus der Scheu, gerade in dieser Zeit eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu unternehmen. Denn die Einführung von Ansprüchen in ein Gesetz, das bis dahin nur Ermessenseinbürgerungen kannte, wäre eine grundlegende Änderung gewesen. Daher lässt sich der Hinweis des BVerfG auf die Staatsangehörigkeit als sedes materiae der Ausländerintegration auch als Aufforderung verstehen, den mit den Einbürgerungsansprüchen bereits eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.130 In diesem Sinne wurden die Urteile auch in der Politik verstanden – auch wenn es eines Regierungswechsels und dadurch noch zehn weiterer Jahre für die eigentliche Staatsangehörigkeitsreform bedurfte.131

1999, BT-Drs. 14/533, S.  11; zu den Zahlen im Zeitverlauf vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2.1 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Einbürgerungen, 2016, S.  12. 127   BT-Drs. 14/533. 128   Zunächst §  87 Abs.  2 AuslG (BGBl. 1999 I 1618), heute §  12 Abs.  2 StAG. 129   Der Duktus der Entscheidung regt nicht umittelbar hierzu an; auch lässt sich sehr plausibel annehmen, dass das BVerfG um die Hürden und praktischen Grenzen dieses Weges wußte, so dass es ihm um die Verortung der Integrationsfrage im Staatsangehörigkeitsrecht anstatt im (Kommunal-)Wahlrecht ging. Ob Antworten auf solche Verortungsfragen im GG zu finden sind, ist aber nicht Gegenstand dieses Beitrags. 130   Gegen diesen „positivistischen“ Ansatz Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  II, 3.  Aufl. 2004, §  15, Rn.  122. 131   1999 das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, BT-Drs. 14/533, BGBl. 1999 I 1618, und in der der darauffolgenden Legislaturperiode 2004 das Zuwanderungsgesetz, BT-Drs. 15/420, BGBl. 2004 I 1950.

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d)  Staatsbürgerstatus und personale Legitimationsanknüpfung als Chance Noch ein weiterer Aspekt des politischen Kontextes mag die Verknüpfung von Wahlrecht und Staatsangehörigkeit befördert haben, und zwar ein Aspekt, der bereits zu diesem Zeitpunkt die Brücke zum Auslandsdeutschenwahlrecht herstellt. Wie erläutert waren DDR-Bürger während der deutschen Teilung vom Wahlrecht zum Bundestag ausgeschlossen, indem das Wahlrecht neben der Staatsangehörigkeit auch an den Wohnsitz im Bundesgebiet geknüpft war. Zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils war diese Ungleichbehandlung erst wenige Wochen überwunden. Der vollständige Verzicht auf den Wohnsitz als materielle Wahlrechtsvoraussetzung war damit gerade möglich geworden. Daher kann die Herausstellung der Staatsangehörigkeit „als dem grundlegenden Status“132 im wiedervereinten Deutschland mit zwei Hoffnungen verbunden werden. Zum einen ist die volle und bedingungslose Gleichstellung aller Deutschen133 – eben auch beim Wahlrecht – ein Ausdruck der egalitären Kraft des Staatsangehörigkeits- oder besser: Staatsbürgerstatus.134 Ihr Preis ist die Abgeschlossenheit des Berechtigtenkreises, weil erst damit die Staatsbürgerschaft ein werthaltiges Gut wird.135 Das Gebot besteht daher nicht darin, den Wert des Status auszuhöhlen, sondern den Zugang zu ihm zu gewähren.136 Zum anderen hätte nun, nach Vollendung der deutschen Einheit, ein unbeschränktes Auslandsdeutschenwahlrecht entstehen können, so dass eine Beschränkung auf den personalen Anknüpfungsstrang zwischen Staatsgewalt und Staatsvolk für die Verwirklichung von Freizügigkeit in der (zukünftigen) Europäischen Union Teil der positiven Vision des Staatsbürgerstatus gewesen sein könnte. Tatsächlich ist es gerade nicht so gekommen. Die thematische Verknüpfung des Auslands- mit dem Ausländerwahlrecht hat vielmehr, wie gezeigt, zur Wieder­holung des alten Streits geführt. Anstatt die Chancen zu nutzen, die sich in den Ausländerwahlrechtsurteilen entdecken lassen, verfingen sich die Richter in den Fallstricken der Ausländerwahlrechtsdebatte, in der Frage um das „richtige“ Demokratiekonzept, die sich – offensichtlich und nach meiner festen Überzeugung richtigerweise137 – we132   Formulierung hier in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft, EuGH C 184/99 Grzelczyk, ECLI:EU:C:2001:458. 133   Eigentlich ist damit auch Art.  116 GG obsolet: seit 2007 wird mit der Zuerkennung des Spätaussiedlerstatus (§  4 BVFG i.d.F. von 1992, BGBl I, 2094) zugleich die Staatsangehörigkeit erworben (§  7 StAG i.d.F. von 2007, BGBl I 1970). 134  Dieser Aspekt der Staatsbürgerschaft wird etwa von Walter, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2014), S.  7, 32 f., unter Bezugnahme auf G.L. Neuman, KJ 28 (1995), 439 ff., angesprochen. 135   In diese Richtung Gärditz, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72 (2014), S.  49, 94, 99 f., der die Exklusionswirkung von Staatsangehörigkeit betont. 136   Zum gerechtigkeitstheoretischen Dilemma, dass hierfür keine externen Kriterien bestehen Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Neuaufl. 2006, Kapitel 2 Mitgliedschaft und Zugehörigkeit (S.  65–107); bei Gärditz (Fn.  122), S.  101 ff., als staatsrechtlich notwendig und sinnvoll hingenommen; Zur Auflösung dieses Zugangsdilemmas bei menschenrechtlichem Ausgangspunkt vgl. Wallrabenstein, KJ 49 (2016), S.  4 07, 414 ff. 137   Zur Offenheit des Grundgesetzes für unterschiedliche Demokratieverständnisse s.o. Fn.  16; vgl. auch Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  I, 2.  Aufl. 2012, §  6 Rn.  17 ff.

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der beim Kommunalwahlrecht noch beim Auslandswahlrecht beantworten lässt, sondern einfach gar nicht durch richterliche Entscheidung.138

IV. Schluss Der Beitrag wollte aufzeigen, dass sich bei einem Fokus auf die Beachtung und Betrachtung von Mobilität den Entscheidungen des BVerfG zum Ausländer- und Auslandswahlrecht neue Facetten abgewinnen lassen. Die Fortsetzung eines Streits, der sich als einer um des Kaisers Bart bezeichnen ließe, wenn es nicht gerade um das richtige Demokratieverständnis ginge, erscheint dabei gerade dem Ausblenden der europäischen Integration und der damit verbundenen Freizügigkeit über deutsche Staatsgrenzen hinweg geschuldet. Man muss dabei weder die aktuellen Arrangements zum Kommunal- und Auslandswahlrecht in der EU für gelungen halten, noch muss man Einbürgerung und ius-soli-Elementen im Staatsangehörigkeitsrecht positiv gegenüber stehen. Da jedes Wahlrecht dem demokratischen Ideal nur mehr oder weniger nahe kommen kann,139 sind sie nicht perfekt. Aber man sollte anerkennen, dass beides Vorschläge für Demokratie unter den Bedingungen von Mobilität sind. Wer Einwanderung – wie reguliert auch immer – und europäische Freizügigkeit akzeptiert, ist daher andere, am besten bessere, Vorschläge schuldig.

138  Vgl. auch Möllers, Drei Dogmen der etatistischen Demokratietheorie, in: Heinig/Terhechte (Hrsg.); Postnationale Demokratie, Postdemokratie, Neoetatismus, 2013, S.  131 f. 139   Bryde (Fn.  26).

Migration und Demokratie Das Volk, die Demokratie und die Fremden von

Prof. Dr. Ulrich K. Preuß, Hertie School of Governance, Berlin Inhalt I. Physische und sozialmoralische Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 II. Die politische Dimension des Migrationsthemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 III. Das Unbehagen in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 IV. Das Volk und die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 V. Die Singularität der verfassten Demokratie – das Volk als politische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . 467 VI. Die Welt-Offenheit des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

I.  Physische und sozialmoralische Zugehörigkeit Nach einer neuen Studie des US-amerikanischen Pew Research Center unter dem Titel „Europe’s Growing Muslim Population“ wird sich der Anteil der muslimischen Bevölkerung in Europa (EU plus Norwegen und Schweiz) von 4,9 % im Jahr 2016 auf 7,4 % im Jahr 2050 selbst dann erhöhen, wenn ab sofort keine neue Einwanderung in unseren Kontinent stattfinden würde. Der Grund ist das im Vergleich zu den Europäern um 13 Jahre niedrigere Lebensalter der hier bereits lebenden Muslime sowie die um durchschnittlich ein Kind höhere Geburtenrate der muslimischen Frauen. Bei einer starken Einwanderung im Umfang der Jahre 2014 bis 2016 würde der Anteil der Muslime europaweit auf 14 % steigen. Für Deutschland sind die Zahlen höher: beim sofortigen Ende der Einwanderung würde der Anteil von Muslimen von 6,1 % im Jahre 2016 auf 8,7 % im Jahre 2050 steigen; im Falle einer starken Einwanderung auf dem Niveau von 2014 bis 2016 auf 19,7 %. Bei „moderater“ Zuwanderung, die unterstellt, dass die gegenwärtigen Flüchtlingsströme zum Erliegen kommen und daher nur „reguläre“ Einwanderung (Einwanderer ohne Asylbewerber) auf dem Niveau von 2016 stattfindet, würde der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung in der Mitte des Jahrhunderts von 6,1 % auf 10,8 % ansteigen.1 1   Alle Zahlen http://www.pewforum.org/2017/11/29/europes-growing-muslim-population/ und http://www.pewforum.org/essay/the-growth-of-germanys-muslim-population/ (besucht 12.01.2018).

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Diese Zahlen – keine Prognosen, sondern Projektionen wahrscheinlicher Entwicklungen auf der Basis verschiedener Annahmen über mögliche Zukünfte – zeigen, dass vielleicht nicht „der Islam“, aber doch jedenfalls eine demographisch bedeutsame und wachsende Zahl von muslimischen Einwanderern zum dauerhaften Teil der europäischen Gesellschaften geworden ist. Unter sozialstatistischen Gesichtspunkten verweisen diese Zahlen auf die Notwendigkeit infrastruktureller Vorsorge für diesen von außen kommenden Zuwachs der Bevölkerung. Es geht dabei aber weitgehend nur um die Routinen einer administrativen Normalisierung dieser exogenen Einwirkung auf die betroffenen Gesellschaften. Allenfalls die Spezifizierung der Bedingungen für die Verleihung des Status der Staatsbürgerschaft betrifft Fragen, die das Politische berühren. Demokratiepolitisch werden damit jedoch keine besonderen Probleme aufgeworfen. Tatsächlich aber erschöpft sich die Bedeutung dieser Zahlen keineswegs in dieser verwaltungsstaatlichen Dimension. Dass es in dieser Studie und in zahlreichen anderen Migrationsstudien in Europa und den USA speziell um muslimische Einwanderer geht, ist kein Zufall. Es liegt offenbar daran, dass die Angehörigen dieser Gruppe wegen ihrer Herkunft, Religion und kulturellen Traditionen im Vergleich zu Migranten aus anderen, durchaus auch nicht-christlich geprägten Regionen als besonders fremd empfunden werden; „fremd“ ist für viele gleichbedeutend mit bedrohlich. Fremdheit erzeugt Angst, häufig aber auch das Gegenteil, nämlich das Gefühl der Überlegenheit, die die Unterwerfung des Fremden rechtfertigt. Wie die doppelte Bedeutung des lateinischen hostis als Fremder und als (auswärtiger) Feind bezeugt, ist der Weg von der Fremdheit zur Feindschaft nicht weit. Die Europäer der Neuzeit haben eine unrühmliche Geschichte der Begegnung mit der Fremdheit der außereuropäischen Welt. Die Entdeckung neuer – besiedelter wie unbesiedelter – Gebiete galt im 16. und 17. Jahrhundert, möglicherweise noch bis ins 18. Jahrhundert hinein, als völkerrechtlich gültiger Erwerbsgrund dieser Gebiete und der Herrschaft über deren Bewohner.2 Entdeckung war gleichbedeutend mit Unterwerfung.3 Später dann, bis ins 20. Jahrhundert hinein, wurden die Formen der Unterwerfung handgreiflicher. In jedem Fall haben die Europäer in ihrem wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und geopolitischen Expansionsdrang die Begegnung mit dieser Welt offensiv, ja aggressiv in der Absicht der Beherrschung und Ausbeutung betrieben. Mit Spuren bis in die Gegenwart hinein haben sie in einer Mischung aus Faszination und Bewunderung für das Exotische, vorwiegend aber aus Herablassung, Verachtung und dem kulturellen Hochmut des Trägers of „The White Man’s Burden“ (Rudyard Kipling) eine Kultur der Abschließung und des Misstrauens gegenüber den Opfern ihrer früheren „Entdeckungen“ und Eroberungen entwickelt. Aus diesem historischen Hintergrund beziehen die eingangs genannten Zahlen über die vorwiegend muslimische Migration nach Europa einen Gutteil ihrer heutigen politischen Bedeutung. Die Empfindlichkeit Europas gegenüber der muslimischen Einwanderung mag sich ja auch daraus erklären, dass die Europäer hier ihrer Vergangenheit wiederbegegnen – aber in der umgekehrten Konstellation eines ih  Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte. 2.  Aufl. Baden-Baden 1988, S.  294 ff., 462 ff.  Vgl. Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. 2 3

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nen aufgezwungenen Erduldens. Pochen da nicht die Nachkommen jener Menschen in Afrika und Asien an Europas Tore, die über Jahrhunderte bis ins 20. Jahrhundert hinein von europäischen Mächten kolonisiert und ausgebeutet worden waren und nun verelendet vor dem traurigen Nachlass der Dekolonisierung stehen, die ihnen wenig Hoffnung auf ein würdiges Leben in dem Land ihrer Geburt bietet? Handelt es sich bei dem Massenzustrom von Migranten nach Europa vielleicht um eine neue, den Bedingungen des 21. Jahrhunderts gemäße Version der ‚Bürde des weißen Mannes‘? An dieser Stelle sei wenigstens erwähnt, dass die Beziehung zwischen Migration und Demokratie durchaus nicht nur „uns“, d.h. die wohlhabenden Aufnahmeländer der Migranten betrifft, sondern auch deren Herkunftsländer. Diese verlieren durch den Verlust vor allem der Jungen und Aktiven ihrer Bürger das Potential und die Energie für eine Zukunft, die viele der Motive zur Auswanderung weitgehend hinfällig machen würde. Es ist nicht so, dass Migranten ausschließlich vom Reichtum des Westens und speziell Europas angelockt werden. Weit mehr gilt, dass sie von den elenden, undemokratischen und menschenunwürdigen Zuständen in ihren Herkunftsländern zur Auswanderung getrieben werden. Eine demokratische Entwicklung dort würde viele Gründe der Auswanderung beseitigen. Das in Europa vielzitierte Ziel der Beseitigung der Fluchtursachen vor allem in den afrikanischen Ursprungsländern der Migration würde missverstanden und verfehlte ihr Ziel, wenn es durch großzügige Geldtransfers an korrupte Herrschaftseliten im Tausch gegen deren Maßnahmen zur Verhinderung von Auswanderung verfolgt würde. Auch dieser Zusammenhang zwischen Migration und Demokratie hat eine globale Dimension.

II.  Die politische Dimension des Migrationsthema Doch kehren wir zu den Demokratiefragen der europäischen Aufnahmeländer der internationalen Migration und speziell Deutschlands zurück. Wir erinnern uns, dass ganz unabhängig von der gegenwärtigen und zukünftigen Politik allein aufgrund vergangener politischer Entscheidungen der Anteil von Muslimen an der Bevölkerung Deutschlands in den nächsten drei Jahrzehnten von gegenwärtig etwas über 6 % auf Werte zwischen 9 % und 11 % Muslimen anwachsen wird. Überflüssig zu betonen, dass „die Muslime“ keineswegs eine homogene Einheit bilden. Es handelt sich um eine statistische Gruppe, die sich aus Angehörigen verschiedener islamischer Glaubensrichtungen und Herkunftsländer zusammensetzt. Aus diesem Befund lässt sich folgern, dass „die Muslime“ als dauerhafter Bestandteil der deutschen Gesellschaft nicht länger als „Fremde unter uns“4 zu klassifizieren sind. So wie man in der Bevölkerungsstatistik Katholiken und Protestanten (ggf. noch einmal jeweils in interne konfessionelle Strömungen differenziert) als statistische Größen identifiziert, so wird es demnächst ca. 9 % oder vielleicht 11 % Muslime als normalen Bevölkerungsanteil in Deutschland geben.

4   So der Titel des jüngst erschienen Buches von David Miller, Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung, Berlin 2017.

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Damit soll nicht behauptet werden, dass die hier lebenden muslimischen Einwanderer nicht Lebensformen, Verhaltensweisen, kulturelle Praktiken und normative Orientierungen nach Deutschland tragen, die vielen, vielleicht den meisten der hier aufgewachsenen Einwohnern fremd sind, vielleicht über lange Zeit fremd bleiben werden. Vielmehr ist damit gemeint, dass die Einwanderer in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind und die Neuankömmlinge – nicht zuletzt auch dank der zu erwartenden engen Verbindung mit der in Deutschland lebenden Diaspora ihrer Landsleute aus ihrer Ursprungsheimat – ebenfalls Wurzeln schlagen werden, ganz zu schweigen von denen, die durch ihre Geburt wie alle Neugeborenen hier neu ankommen. Wenn also die hier bereits ansässigen muslimischen Einwanderer und deren Nachkommen sozialstatistisch keine „Fremden unter uns“ sind, so bedeutet das allerdings nicht notwendigerweise, dass sie auch bereits ein allseits anerkannter Teil der deutschen Gesellschaft und deren politischer Form, der Nation, geworden sind. Immerhin gibt es zahlreiche Beispiele wechselseitiger Abstoßung. Zahlreicher dürften freilich die Erfahrungen eines ganz normalen und routinemäßigen gesellschaftlichen Verkehrs zwischen den eingesessenen und den durch Einwanderung hinzugekommenen Teilen der Bevölkerung sein. Diese Konstellation – eine einerseits sozialstatistische und physische Zugehörigkeit der Migranten zur Normalität der Gesellschaft, andererseits vielfach sichtbare oder auch bloß imaginierte Zeichen ihres Andersseins, ihrer Fremdheit und Nichtzugehörigkeit – hat eine bemerkenswerte Implikation. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung handelt es sich dabei nämlich nicht um eine konfliktträchtige Spannung zwischen Deutschen und Ausländern oder Deutschen und Migranten – also ein Gegensatz zwischen Kräften innerhalb der deutschen Gesellschaft und Außenstehenden –, sondern um eine rein innergesellschaftliche Konstellation. Das Migrationsthema lautet nicht „‚Wir‘ und die Migranten“, auch wenn der über dieses Thema ausgetragene Streit weitgehend unter den eingesessenen Deutschen geführt wird. Denn diese bilden keineswegs ein geschlossenes „Wir“ gegenüber „den Anderen“, d.h. den Migranten. Das Migrationsthema lautet vielmehr „Politischer Streit im gemeinsamen Haus Deutschland“. Denn politisch ist das Thema des Umgangs des Landes mit dem Zustrom von Migranten allemal, auch wenn im öffentlichen Diskurs das Verwaltungsrecht der Migration und der Migrationsfolgen die politische Dimension der Migration zuweilen überdeckt. In der politischen Dimension des Migrationsthemas geht es – abgesehen von den oben angedeuteten Demokratieproblemen der Herkunftsländer der Migranten – um Fragen wie diese: – Welche Bedeutung hat die weltweite Migration aus der Sicht Deutschlands für die internationale Ordnung und für die Rolle, die Deutschland sich selbst darin zuschreibt oder die ihm von anderen Akteuren zugeschrieben wird? – Versteht sich Deutschland als Teil der Bemühungen zur Bewältigung der die internationale Ordnung berührenden Probleme der internationalen Migration oder eher als deren Opfer? – Besteht das primäre deutsche Ziel der Beeinflussung der internationalen Migrationsströme in der Bewahrung einer wie immer definierten nationalen Identität oder in der aktiven Beteiligung an der Gestaltung einer durch globale Interdependenz gekennzeichneten internationalen Ordnung?

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– Welches Maß an Offenheit der deutschen Gesellschaft gegenüber dem Zustrom von Migranten ist möglich, akzeptabel oder geboten (insbes. infrastrukturelle Aufnahmefähigkeit, kulturelle Verträglichkeit von sozialer Dissonanz, ökonomische Interessen, humanitäre Gebote)? Offenkundig können diese und weitere höchst streitige Fragen dieser Art nur durch kollektiv verbindliche Entscheidungen vermittels demokratischer Verfahren be­ antwortet werden. Nun gehört Demokratie selbst zu den „essentially contested concepts“5 und scheint daher wenig geeignet, unstreitige Antworten auf die politisch umstrittenen Fragen der Migration bereitstellen zu können. Doch immerhin findet Politik in Deutschland wie in allen Verfassungsstaaten nicht im weiten Raum des bloßen Meinens und Glaubens und jenseits jeglicher Empirie und argumentativer Rationalität statt, sondern im Rahmen des Grundgesetzes. Dessen Konzept von Demokratie ist zwar selbst unter dessen professionellen Anwendern und Interpreten keineswegs unumstritten, doch engt es den Raum vertretbarer Interpretationen jedenfalls so weit ein, dass bestimmte Deutungen und Anwendungen des Demokratiebegriffs auf die Migrationsfrage normativ „abwegig“ und damit politisch ausgeschlossen sind. Beginnen wir daher mit jenen Antworten auf die Migrationsfrage, die im politischen Raum anzutreffen sind, die sich jedoch keine Parlamentsmehrheit und keine Bundesregierung wegen deren Unvereinbarkeit mit jeder möglichen Interpretation des Demokratiekonzepts des Grundgesetzes ohne Verfassungsbruch zu eigen machen könnte. Danach folgt dann eine Skizze jenes Demokratiekonzepts, das nach der Auffassung des Autors die dem Geiste des Grundgesetzes am ehesten entsprechenden Orientierungen für angemessene Antworten auf die Migrationsfragen bieten könnte.

III.  Das Unbehagen in der Demokratie Unter den Einwänden, die im Namen des demokratischen Prinzips gegen den bisherigen Umfang der Aufnahme von Migranten insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern vorgebracht werden, steht eines an prominenter Stelle: es ist der Einwand des Kontrollverlustes der eingesessenen Bevölkerung über die Bewahrung ihrer überkommenen Lebenswelt. Er artikuliert sich immer häufiger in der Gefühlsäußerung, Fremde(r) im eigenen Lande zu sein. Übersetzt in die Sprache der rationalen Verwaltungspolitik könnte man von den Grenzen der Absorptions- und Integrationsfähigkeit des Landes und der Notwendigkeit von „Obergrenzen“ für die Aufnahme von Migranten sprechen. Doch es geht meist allenfalls in zweiter Linie um rationale Verwaltungspolitik. Mit jenen Grenzen ist meist nicht nur die physische Infrastruktur des Landes gemeint, sondern eine kulturelle Unverträglichkeit. Es ist eine gefühlte Bedrohung, die nicht selten durch das vulgarisierte Schlagwort von der „Islamisierung Europas“ befeuert wird. Sie findet in den eingangs zitierten Zahlen   Grundlegend zu diesem Theorem Walter B. Gallie, ‘Essentially contested concepts’, in Proceedings of the Aristotelian Society, 56 (1956), pp.  167–198; zur seiner Verwendung in Bezug auf das demokratische Prinzip vgl. D. F. Collier/D. Hidalgo et al. “Essentially contested concepts. Debates and applications”, in Journal of Political Ideologies 11/3 (2006), S.  211–246 [222 ff.]. 5

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zwar keine empirische Grundlage. Dennoch ist sie ernst zu nehmen, denn sie artikuliert eine genuin demokratiepolitische Frage: „Sind wir eigentlich noch die, die wir immer schon waren? Sind wir noch ‚wir selbst‘?“ Es handelt sich dabei keineswegs um bloß deutsche oder auch nur europäische Zweifel. In einer aufwändigen Befragung von 32.000 Personen in 28 liberalen Demokratien bezeichneten immerhin 72 % der Befragten die Immigration als eine Bedrohung ihres Landes und seiner nationalen Kultur.6 In einem Weltbestseller hat der prominente und wortgewandte amerikanische Journalist Christopher Caldwell für Europa diese Sorge mit deutlichem Bezug auf die Einwanderung von Muslimen in der Frage zugespitzt: Can Europe be the same with different people in it?7 In einer Debatte im deutschen Bundestag begründete ein Abgeordneter den Antrag, jeglichen Familiennachzug von hier lebenden Flüchtlingen zu unterbinden, u.a. damit, dass „Deutschland … auch in zwei oder drei Jahrzehnten noch als Deutschland erkennbar sein (muss).“8 In völkischen Kreisen Deutschlands spricht man von der Gefahr einer „Umvolkung“. Es geht hier m.a.W. um das Subjekt der Demokratie, das Volk. Das ist keine abstrakte Identitätsfrage. Die Suche nach dem politischen Subjekt wird aus dem erwähnten Gefühl des Kontrollverlustes über die eigene Lebenswelt geboren. Caldwell weist darauf hin, dass die Bevölkerungen der von der Immigration betroffenen Länder niemals dazu befragt wurden, nicht zuletzt deswegen, weil der Zustrom eher unbeabsichtigt erfolgte, als Zufallsergebnis von Maßnahmen zur Bewältigung von Arbeitskräftemängeln, nachfolgendem Familiennachzug und Asylgesetzen. Mit anderen Worten: Einwanderung geschah, sie war nicht das Ergebnis bewusster Entscheidungen gewählter und politisch verantwortlicher Repräsentanten. Dieses Muster kann man durchaus auch als charakteristisch für die liberalen europäischen Demokratien der Gegenwart ansehen. Ergänzt man die in diesem Faktorenbündel erwähnten Asylgesetze um die damit zusammenhängenden sonstigen Rechtsverpflichtungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention und um sonstige von den europäischen Staaten eingegangenen internationalen Menschenrechtsverpflichtungen, so könnte man sagen, dass auch die heutige Migration „geschieht“, nicht politisch gestaltet, geschweige denn gewollt ist. Die oben genannten Zahlen des Anwachsens des muslimischen Anteils an der Gesamtbevölkerung der europäischen Staaten selbst bei sofortigem Abbruch jeglicher Einwanderung bestätigen diese Einschätzung. Das bedeutet, dass eine Kritik wegen ihrer mangelnden demokratischen Legitimation sinnlos ist. Wirkt dagegen der parlamentarische Antrag einer migra­ tionsfeindlichen Partei nicht geradezu sympathisch alteuropäisch, wenn er auf der demokratischen Gestaltung der Migration beharrt? Es wird sich zeigen, dass dieser Eindruck täuscht. Klären wir also das Verhältnis von Volk und Demokratie.

6   Cf. 2017 Edelman Trust Barometer Global Annual Study Global Results, in No.  58 http://www. slideshare.net/EdelmanInsights/2017-edelman-trust-barometer-global-results-71035413?ref=http:// www.edelman.com/global-results/, Nrn.  26, 27. 7   Christopher Caldwell, Reflections on the Revolution in Europe. Can Europe be the same with different people in it?, London 2009. 8   So z.B. der Abg. Dr. Curio [Af D] lt. Protokoll Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 7. Sitzung Berlin, 18. Januar 2018, S.  531/2.

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IV.  Das Volk und die Demokratie Unter Demokratie versteht man gemeinhin die Herrschaft des Volkes – dies ist die gängige Minimaldefinition dieses Begriffs. Sie setzt die Existenz eines Volkes voraus, das – im Gegensatz zu jeglicher Form von Autokratie oder Theokratie – in der Lage und willens ist, sich selbst zu regieren. Mit dem Begriff der Demokratie ist daher untrennbar die Idee der Volkssouveränität verbunden. Die „invocatio populi in Verfassungstexten“9 offenbart einen ebenso engen Zusammenhang zwischen diesem souveränen Volk und der Verfassung. Natürlich kann man das Volk unabhängig von Souveränität, Verfassung und Demokratie definieren – so verweist Friedrich Müller darauf, dass es neben dem von ihm analysierten verfassungstheoretischen Volksbegriff auch naturalistische, ethnische oder soziologische Konzepte von „Volk“ gebe.10 Aber das Volk als sich selbst regierendes souveränes Herrschaftssubjekt gibt es nur qua Verfassung. Pointiert formulierte das der deutsche Dichter Ferdinand Freiligrath: „Noch gestern, Brüder, wart ihr nur ein Haufen; ein Volk, o Brüder seid ihr heut“11 – so feierte er im Jahre 1848 im Überschwang der deutschen Verfassungsbewegung die von ihm und vielen anderen Demokraten ersehnte Verwandlung der in einer Vielzahl von Einzelstaaten fragmentierten Deutschen zu einem Volk durch die von der „deutschen verfassunggebenden Nationalversammlung“ verkündete „Verfassung des Deutschen Reiches“ vom 28. März 1849. In dieser Gedichtzeile Freiligraths kommt eine wichtige Erkenntnis zum Ausdruck; pointiert lässt sie sich in einem Satz zusammenfassen: ohne Demokratie kein Demos. Das klingt trivial, fast tautologisch, offenbart aber eine weitreichende politische und verfassungstheoretische Bedeutung. Das lässt sich verdeutlichen, wenn man den Satz umkehrt: ohne Demos keine Demokratie. Dieser Satz, den man insbesondere in den Diskussionen über die Möglichkeit einer europäischen Demokratie immer wieder hören und lesen konnte, gilt als so selbstverständlich richtig, dass er keiner Begründung zu bedürfen scheint. Dabei ist er verfassungstheoretisch falsch. Richtig ist, dass eine Demokratie nicht ohne Volk denkbar ist – falsch ist, dass Demokratie ein Volk voraussetzt. Richtig ist vielmehr, dass Demokratie eine politische Form ist, deren Entstehung mit der Entstehung des Demos in einem gleichsinnigen Prozess einhergeht. Der Demos liegt der Errichtung der Demokratie nicht voraus. Man erkennt das an dem verfassungstheoretischen Konzept des pouvoir constituant des Volkes. Die Menschen, die sich in einer Revolution zu einem politischen Gemeinwesen konstituieren wollen, sind zunächst, was ihre politische Existenz und Handlungsfähigkeit und damit ihre Souveränität betrifft, ein „Haufen“; sie werden erst dadurch ein Volk, dass die Revolution siegt und sie sich mittels eines revolutionären Gründungsaktes zu einem Volk im politischen Sinne konstituieren. Wenn die Revolution scheitert, dann bleiben dieselben Menschen ein bloßer Haufen, sie mögen kraft Ver9   Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung: Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt. Opladen 1995, S.  23 ff. 10   Friedrich Müller, Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente einer Verfassungstheorie VI. Berlin 1997, S.  19. 11  Zit. Nach Trübners Deutsches Wörterbuch. Bd.  7 (T-V), Art. ‚Volk‘. Berlin 1956, S.  689 ff. [691/2].

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wandtschaft, Ethnizität, Religion oder dgl. miteinander verbunden sein. Sie bilden kein Volk im politischen Sinne. Ein Volk im politischen Sinne ist keine historisch gewordene Gegebenheit, noch weniger ein Naturtatbestand; es verkörpert, um Max Webers Kategorien zu übernehmen, nicht den „auf subjektiv gefühlter … Zusammengehörigkeit“ beruhenden Typus von „Vergemeinschaftung“, sondern ist das Ergebnis eines Prozesses der „Vergesellschaftung“, einer auf „rational … motiviertem Interessenausgleich oder ebenso motivierter Interessenverbindung“ beruhenden Handlungsorientierung.12 Der rationale Zweck der politischen Vereinigung besteht in der Ermöglichung und Bewahrung der gemeinsamen Freiheit und Unabhängigkeit und ist daher durch das Prinzip der Selbstherrschaft gekennzeichnet, plakativ und gewiss nicht erschöpfend gekennzeichnet durch das Ideal der Identität von Herrschenden und Beherrschten. Darin besteht die Grundidee von Demokratie. Nicht zufällig wird Demokratie auch als Ausdruck der Volkssouveränität gekennzeichnet, denn Selbstherrschaft einer durch einen gemeinsamen Willen geeinten Gesamtheit bedeutet die ausschließliche und höchste Verfügung dieser Gesamtheit über sich selbst. Und dieses politische Volk kann nur durch die Ausübung eines pouvoir constituant entstehen, der diesem Gedanken eine institutionelle Form verleiht. Dieser Akt stiftet einen wesenhaften Zusammenhang zwischen Volk und durch Verfassunggebung konstituierter Demokratie. Man muss hier, um eine Wortprägung von Habermas aufzugreifen, von einer Gleichursprünglichkeit von Volk und Demokratie sprechen. Daher sei der Grund-Satz hier wiederholt: ohne (durch Verfassunggebung konstituierte) Demokratie kein Demos. Für eine bereits bestehende, durch Verfassunggebung konstituierte demokratische Ordnung bedeutet dieser Zusammenhang, dass es kein von der Verfassung unabhängiges Volk gibt. Das Volk als politisches Subjekt ist begrifflich notwendig das verfasste Volk. Jede im Rahmen der Verfassung stattfindende Veränderung der Eigenschaften oder der personellen Zusammensetzung des Volkes, sei sie demographisch, soziologisch oder kulturell, ist zugleich auch ein Element der Veränderung der Demokratie. Es kann verfassungslogisch keinen Gegensatz zwischen Volk und Demokratie geben. Beide Begriffe konstituieren einander. Nicht ohne Grund kann z.B. der einfache Gesetzgeber durch eine mehr oder weniger großzügige Einbürgerungspolitik die Zusammensetzung des Demos gestalten. Man könnte fragen, ob sich denn nicht auch ein Volk im ethnischen Sinne – also eine unabhängig von einer Verfassung existierende Gemeinschaft – als Demokratie organisieren kann. Rein logisch betrachtet könnte sich ein Ethnos zum Demos umformen, indem es die Gesamtheit der Ethnos-Angehörigen eines Territoriums zum Herrschaftssubjekt seiner Gemeinschaft erklärt. Doch ein solches Gebilde müsste sehr bald an dem inneren Widerspruch zwischen dem Telos der Bewahrung der ethnischen Integrität und Identität und dem demokratischen Prinzip der Herrschaft aller über alle zerbrechen. Um das ethnische Telos zu erfüllen, müsste diese Gemeinschaft alle Menschen, die dieser ethnischen Gemeinschaft nicht angehören, ausschließen und sie entweder als Metöken oder Sklaven dulden, sie vertreiben oder, wie im mörderischen Extremfall des nationalsozialistischen Deutschland geschehen,13 vernich  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, MWG I/23, 194 f. [Hervorhebung i.O.].   Reinhard Koselleck, Art. ‚Volk, Nation, Nationalismus, Masse‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe.

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ten; das Ergebnis wäre in jedem Falle eine „Volksdemokratie“ unterhalb des ethischen Minimums jeglicher Variante von Demokratie, da sie notwendig auf der Herrschaft über Andere beruht. Richtigerweise würde es sich um eine Ethnokratie handeln.

V.  Die Singularität der verfassten Demokratie – das Volk als politische Öffentlichkeit Betrachtet man im Lichte dieser Unterscheidung zwischen Demokratie und Ethnokratie die Migrationspolitik demokratischer Staaten, so mag man sich zu der zweifelnden Frage genötigt sehen, ob jene Unterscheidung denn auch einen Unterschied macht. Der Sinn dieser Unterscheidung besteht ja erkennbar in der Absicht zu begründen, dass Demokratien mit Konflikten und insbesondere mit der Erfahrung von Fremdheit „ziviler“ umgehen als ethnokratisch orientierte autoritäre Regime. Angesichts dessen, wie in diesen Zeiten z.B. Australien, die USA oder in Europa einige mittel- und osteuropäische EU-Mitglieder politisch und juristisch auf den unerwünschten Zustrom von Flüchtlingen reagieren, kann man zweifeln, ob Demokratien strukturell anders mit der Einwanderung insbesondere von Fremden umgehen als viele Autokratien. Die Zweifel werden noch durch die Beobachtung verstärkt, dass die in den genannten und vielen anderen Ländern den Flüchtlingen auferlegten Restriktionen bis hin zur Zugangssperre mit demokratischen Argumenten begründet werden. Mehr und mehr dominiert dabei eine offensiv-demokratische Argumentation: Demokratie verlange die Wiederherstellung der Kontrolle des Volkes über die Grenzen seines Territoriums, ja die Wiederherstellung der durch die Durchlässigkeit der Grenzen gefährdeten Integrität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie vor diesen Grenzöffnungen einmal bestanden hätten. Ungeachtet einer zweifellos fragwürdigen Praxis in verschiedenen demokratischen Staaten kann man doch gravierende Unterschiede zwischen demokratischen und autoritären politischen Ordnungen in Bezug auf die Herausforderungen der Migration nicht übersehen. Das kann leicht geschehen, wenn man davon ausgeht, dass Demokratien kraft ihres demokratischen Charakters grundsätzlich offen für eine unbegrenzte Einwanderung sein müssen. Eine solche Annahme wäre irrig. Denn bereits nach geltendem Völkerrecht, aber auch aus wohlerwogenen philosophischen Gründen14 muss auch Demokratien das Recht eingeräumt werden, die Zahl von Einwanderern zu begrenzen. Für Flüchtlinge allerdings gilt das nicht ohne Weiteres; darauf komme ich sogleich zurück. Der grundlegende Unterschied zu autoritären, insbesondere ethnokratischen Regimen liegt nicht bei der quantitativen Begrenzung als solcher, sondern in der Gestaltung der sozialen Beziehung zwischen dem Aufnahmeland von Migranten und den Migranten. Demokratien betrachten Migration als einen sozialen Sachverhalt, in dessen Bewältigung die Schicksale der einzelnen Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (hrsgg. v. O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck), Bd.  7, Stuttgart 1992, S.  411. 14   Vgl. die Beiträge in Thomas Grundmann/Achim Stephan (Hrsg.), „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“: Philosophische Essays, Stuttgart 2016; Konrad Ott, Zuwanderung und Moral: [Was bedeutet das alles?], Stuttgart 2016.

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Migranten und deren Bedingtheiten durch globale Ursachen einbezogen sind. Die demokratische Dimension der Migration besteht nicht in der Reduktion des Prinzips der Selbstherrschaft auf die Selbstbehauptung des konstituierten Volkes mit dem Ziel Wahrung einer politischen Identität gegenüber möglichen oder imaginierten Bedrohungen, sondern in der Bezüglichkeit auf die Leidensgeschichten der Migranten und deren Ursachen. Diese ist allerdings erst dank einer bislang noch nicht erwähnten Dimension des demokratischen Prinzips möglich. Bisher wurde das demokratische Prinzip aus dem politischen Schöpfungsakt der Ausübung des pouvoir constituant hergeleitet, durch den sich das Volk als souveräner Demos konstituiert. Im Grundgesetz kommt das in dem Satz des Art.  20 Abs.  2 zum Ausdruck: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Es gibt aber in der Konzeption der durch Verfassunggebung erzeugten Demokratie auch das Volk in seiner Vielheit. Sie äußert sich in der politischen Öffentlichkeit. Die enge Verbindung zwischen Volk und Öffentlichkeit tritt etymologisch deutlich hervor, wenn wir an die Stelle des deutschen Begriffs der Öffentlichkeit das aus dem Lateinischen stammende Lehnwort ‚Publikum‘ setzen. Das Öffentliche ist ein wesentliches Element des Volkes in seiner Existenzweise als politisches Gemeinwesen. Das Volk im modernen Sinne ist das Staatsvolk, und alles, was das Volk als Gesamtheit betrifft, ist eine öffentliche Angelegenheit – die res publica des in der Staatsbürgernation organisierten Volkes. Dabei ist nicht lediglich die legitimierende, sondern mit gleicher Wichtigkeit die kontrollierende, kritisierende und deliberierende Funktion der politischen Öffentlichkeit eine in der Demokratie unverzichtbare Lebensform des Volkes. In den modernen Verfassungen, die ja notwendig Staatsverfassungen waren und auch heute noch sind, hat diese politisch-diskursive Dimension des Volkes erst relativ spät ausdrückliche Anerkennung gefunden. Carl Schmitt hat diese Funktion des Volksbegriffs bereits in der Weimarer Republik erkannt, allerdings auf die plebiszitäre Form des „unmittelbar anwesenden“ Volkes reduziert und damit seine kritische Funktion in eine affirmativ-akklamierende Rolle umgedeutet und damit ins Gegenteil verkehrt.15 Das Grundgesetz bietet dagegen ein markantes Beispiel für die Anerkennung des Volkes in seiner Pluralität. In seinem Art.  20 Abs.  1 GG definiert es das normative Fundament, das in einem kategorischen Satz den Charakter der nach der Katastrophe von 1933 bis 1945 neu errichteten Bundesrepublik Deutschland festlegt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Dieser Satz ist der Grund-Satz des Grundgesetzes. Erst im zweiten Absatz folgt dann der hier schon mehrfach zitierte Satz über die Herkunft aller Staatsgewalt vom Volke. Die demokratische Qualität der Bundesrepublik erschöpft sich nicht in ihrer Staatlichkeit als Verkörperung der souveränen Nation. Sie ist demokratische, soziale und föderale Republik und damit eine öffentliche gesellschaftliche Arena. Das Grundgesetz ist „nicht nur Staatsverfassung, sondern Verfassung des politischen Gemeinwesens“16, sie ist „Staatsverfassung und Gesellschaftsverfassung in einem, wenngleich in unterschiedlicher Dichtigkeit“17. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht   Carl Schmitt, Verfassungslehre, 4.  Aufl. Berlin 1965 [1928], S.  242 ff.   Alfred Rinken, Demokratie und Hierarchie. Zum Demokratieverständnis des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, KritV 3/1996, S.  282–309 (294/5) mit ausf. Nachw. aus der Lit. 17   Alexander Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in W. Maihofer (Hrsg.) Ideologie und Recht, Frankfurt/M. 1969, S.  37–61 (61). 15 16

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schon früh zwischen der Bildung des Staatswillens gem. Art.  20 Abs.  2 S.  1 und der Willensbildung des Volkes, von dem Art.  21 Abs.  1 handele, unterschieden. Das Volk bringe seinen politischen Willen nicht nur durch Wahlen und Abstimmungen zum Ausdruck. „Das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußert sich … auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung, der Bildung der ‚öffentlichen Meinung‘ …“18. Auch die politische Öffentlichkeit ist eine demokratische Einrichtung, auch sie verkörpert das Volk, und zwar das Volk in seiner Pluralität und der Verschiedenheit der in der Gesellschaft zusammenwirkenden, streitenden und ihr jeweiliges Selbst findenden und behauptenden Kräfte.

VI.  Die Welt-Offenheit des Grundgesetze Was bedeutet das für die Frage der Migration? Es bedeutet zunächst, dass die Sache der Migranten auch eine Angelegenheit des Volkes ist, die in der politischen Öffentlichkeit verhandelt wird. Die politische Öffentlichkeit ist die Arena, in der die sozial-moralischen Maßstäbe demokratischer Politik im Streit der Meinungen und Interessen gesetzt, geprüft, kritisiert, revidiert, und stets neu bekräftigt und in Frage gestellt werden. Würdigt man die Bedeutung der Tatsachen, dass das Grundgesetz die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Petitionsfreiheit – Kernelemente einer politischen Öffentlichkeit – als Menschenrechte garantiert, also nicht den Deutschen vorbehält, dass Ausländer in den politischen Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes teilnehmen und EU-Ausländer in Gemeinden und Kreisen zu deren mittelbar staatlichen Vertretungsorganen wählen können, dann entsteht das Bild einer Konzeption von Demokratie, die sich gegenüber der Welt öffnet. Das Grundgesetz ermöglicht damit dem in der Präambel angerufenen Deutschen Volk, durch die institutionelle Ausgestaltung seiner politischen Selbstorganisation seine dort feierlich anerkannte „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ wahrzunehmen sowie das Versprechen zu erfüllen, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Die Frage, „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ ist damit natürlich nicht beantwortet. Es wäre auch ein Selbstwiderspruch, aus Regeln über die Funktionsweise einer offenen und, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert, „lebendigen Demokratie“19 aus einem offenen demokratischen Prozesses vorbestimmte Ergebnisse ableiten zu wollen. Es sollen sich dort ja verschiedene mögliche Politiken erst formen können. Auch die Stimmen derjenigen, die in der Migrationsfrage eine streng ethnisch-nationale Position einnehmen und jegliche Zuwanderung als eine Form der „Umvolkung“ deuten und ablehnen, sind Bestandteil des Volkes in der pluralen Gestalt der politischen Öffentlichkeit. Man kann gewiss sein, dass sie nicht unwidersprochen bleiben werden. Etwas anderes gilt, wenn ein Gesetz eine solche Position verbindlich festlegen würde. Denn durch das Gesetz spricht das Volk in seiner Eigenschaft als einheitliches souveränes politisches Subjekt. Es hat sich durch   BVerfGE 20, 56 (98) – Parteienfinanzierung I [1966].   BVerfG Urt. v. 30.06.2009, 2 BvE 2/08 et al. – Lissabon-Vertrag, Rdnr.  351; Beschl. v. 4.07.2012, – 2 BvC 1/11 –, – 2 BvC 2/11 – Wahlprüfungsbeschwerde, Rdnr.  42. 18 19

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die Verfassung als „Deutsches Volk“ mit dem Identitätsmerkmal der Offenheit gegenüber der Welt und der Rücksichtnahme, ja Pflichtigkeit gegenüber den Problemen und Anforderungen der Weltgemeinschaft konstituiert. Zu deren Zielen gehört nicht nur auf die Wahrung des Weltfrieden und der internationalen Sicherheit, sondern auch die Lösung „internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art“ (Art.  1 UN-Charta). Wenn Art.  79 Abs.  3 GG u.a. die „in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze“ vor einer Verfassungsänderung schützt, so ist auch diese internationale Sozialpflichtigkeit Deutschlands gemeint. Während damit z.B. die Kontingentierung von Einwanderern zweifellos vereinbar wäre, ist dies weniger eindeutig mit Bezug auf Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Die zahlreichen möglichen Konstellationen können hier nicht durchbuchstabiert werden, doch es sollte klar sein, dass das die Demokratie definierende Prinzip der Selbstbestimmung jedenfalls nach dem Grundgesetz keine deutsche Analogie zur „America-First“-Politik zulässt.

Portäts und Erinnerungen

Erinnerung an Adalbert Podlech von

Prof. Dr. Bernhard Schlink, Humboldt-Universität zu Berlin Am 29. April 2017 starb Adalbert Podlech. Er war Professor für Öffentliches Recht an der Technischen Universität Darmstadt, forschte und lehrte dort auch zur Geschichte des lateinischen und des arabischen Mittelalters, war Richter am Hessischen Landessozialgericht, Verfahrensbevollmächtigter der Verfassungsbeschwerde gegen das Volkszählungsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht und Präsidiumsmitglied und Justitiar des PEN Zentrums Deutschland. Er wurde am 26. September 1929 geboren, wuchs in Linz auf, studierte in Bonn und wurde in Bonn als Philosoph promoviert, in Heidelberg als Jurist promoviert und habilitiert und bald darauf als Privatdozent zum Prorektor gewählt, ehe er 1973 an die damals noch Technische Hochschule Darmstadt kam. Er war ein Gelehrter, er liebte die Wissenschaft und glaubte an die Universität, verweigerte sich aber auch nicht den politischen Herausforderungen seiner Zeit.

I. Das juristische Werk Adalbert Podlechs beginnt 1963 mit einer Arbeit zur Gewissensfreiheit,1 ein naheliegender Einstieg für einen Juristen, der zunächst Philosophie und Theologie studiert hat. Die Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit Walter Hamel, der im damaligen Standardwerk über die Grundrechte2 die Gewissensfreiheit behandelte und als Freiheit interpretierte, den Willen des Schöpfers zu bekennen, auf die sich nicht berufen könne, wer keiner oder einer anderen als der christlichen Religion in den Spielarten des Katholizismus und Protestantismus angehöre. Anders als damals versteht sich die Kritik daran heute von selbst; Podlech lässt sie in ein Plädoyer für eine rational argumentierende Rechtswissenschaft münden, die der offenen Gesellschaft gemäß ist und sich nicht ideologisch aufladen und politisch instrumen1   Der Gewissensbegriff im Rechtsstaat. Eine Auseinandersetzung mit Hamel und Witte, AöR 88 (1963), S.  185–221; Besteht in der Bundesrepublik Gewissensfreiheit?, Club Voltaire 1 (1963), S.  139– 158. 2   Walter Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, in: Karl August Bettermann/Franz L. Neumann/ Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd.  I V/1, 1960, S.  37–110.

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talisieren lässt. In einer 1967er Besprechung3 der Schriften von Niklas Luhmann über Grundrechte als Institution4 und von Peter Häberle über die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG5 findet er auch bei Häberle eine Werttheorie der Grundrechte, die den Unterschied zwischen Recht und Moral verwischt und einer methodisch eigenständigen Dogmatik den Boden entzieht, während er durch Luhmanns funktionalistischen Ansatz eine autonome juristische Grundrechtstheorie fundiert sieht, die die Neutralität der juristischen Dogmatik gegenüber divergierenden moralischen Positionen sichert. Beides, die Ablehnung eines moralisierenden Zugriffs auf das Recht und die Frage nach den sozialen und rechtlichen Funktionen rechtlicher Regelungen, wird wesentlicher Bestandteil von Podlechs methodischem Instrumentarium, und die Beschäftigung mit Hamel liest sich rückblickend als Vorbereitung auf die Dissertation über die Gewissensfreiheit in besonderen Gewaltverhältnissen von 1968.6 Während mit den besonderen Gewaltverhältnissen auch deren von Podlech herausgearbeitete soziale und normative Besonderheiten an Bedeutung verloren haben, hat seine Bestimmung der Gewissensfreiheit Bestand: Wenn eine rechtliche Regelung Einzelne zu gewissenswidrigem Verhalten verpflichtet, hat der Staat rechtliche Alternativen bereitzustellen, es sei denn, es gibt keine Alternativen oder die Alternativen sind für die Gesamtheit untragbar. Den, der sich auf die Gewissensfreiheit beruft, trifft die Obliegenheit, seine Position zu begründen, den Staat trifft die Last, die Alternativlosigkeit oder Untragbarkeit der Alternativen zu argumentieren – Podlech führt hier den Begriff der Argumentationslast in die Rechtswissenschaft ein. Er deutet an, dass unter der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes alle Grundrechte zu Argumentationslastregeln werden können, und kennzeichnet als Argumentationslastregel neben der Gewissensfreiheit besonders den Gleichheitssatz. Der Gleichheitssatz ist der Gegenstand seiner Habilitationsschrift von 1969,7 die Podlech so rasch nach der Promotion vorlegen konnte, weil sie seine Doktorarbeit hatte werden sollen, bis sein Lehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde sie, weil groß angelegt, als Habilitationsschrift zurückzustellen und eine kleinere Doktorarbeit dazwischenzuschieben riet. Auch Podlechs Bestimmung des Gleichheitssatzes hat Bestand: Der Staat hat alle Personen einer Klasse gleich zu behandeln, es sei denn, es liege ein hinreichender Grund für eine Ungleichbehandlung vor. Es gilt also die Feststellung zunächst der behandelten Klasse, dann der Personen, die in ihr auf die eine und auf die andere Weise behandelt werden, dann der Regelung, die zur Ungleichbehandlung führt, und schließlich die Prüfung, ob die Ungleichbehandlung hinreichend begründbar ist – dies alles, besonders die Maßstäbe für eine hinreichende Begründung, wird in einer Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfaltet, die allerdings, wie auch die damalige Rechtsprechung, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch keine Bedeutung zuerkennt. Im Anhang präsentiert die Arbeit die logischen Probleme des Gleichheitssatzes, teilweise unter Verwendung einer logischen Symbolsprache – aus der Schul- und Studienzeit brach  Grundrechte und Staat, Der Staat 6 (1967), S.  84–87.   Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965. 5   Peter Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art.  19 Abs.  2 Grundgesetz, 1962. 6   Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969. 7   Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971. 3 4

Erinnerung an Adalbert Podlech

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te Podlech ein Interesse an Mathematik und Logik mit, das zum einen seine methodischen juristischen Vorstellungen prägte und ihn zum anderen schon 1967 bei IBM eine kurze Ausbildung am Computer machen ließ und zu einer Beschäftigung mit dem Computereinsatz in Recht und Verwaltung führte. Seine rechtstheoretischen und -methodischen Arbeiten fanden von 1971 an im Zusammenhang mit dem in Heidelberg begonnenen und in Darmstadt fortgeführten, zunächst von der DFG geförderten Forschungsprojekt „Recht und Mathematik“ statt. Im Vorwort des Buchs, in dem Podlech die präferenz-, spiel- und entscheidungstheoretischen Ergebnisse des Projekts vorstellt,8 kennzeichnet er dessen Ziel dahin, „in kritischer Auseinandersetzung mit Wertungs-, Interessen- und Freirechts-Jurisprudenz [… die] Probleme der Begriffsjurisprudenz [wiederaufzunehmen]“; zwar habe deren Versuch, vollständige Systeme durch Ableitung von Begriffen aus Begriffen zu entwickeln, scheitern müssen, aber ihre Bemühung um Dogmatik als Kernstück der Darstellung moderner Rechtsordnungen und um korrekte Arbeit mit Begriffen und Argumentationsfiguren könne auf dem heutigen Stand von logischer Forschung und Wissenschaftstheorie besser gelingen als damals. Das Buch enthält auch Beiträge Podlechs zur Theorie und Axiomatik juristischer Dogmatik, und sein Beitrag zur großen 1971er Tagung über Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft,9 die den damaligen Stand der rechtstheoretischen Forschung repräsentierte, behandelt die rechtstheoretischen Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik und hält bleibend drei Funktionen von dogmatischen Theorien und fünf Forderungen an sie fest: Dogmatische Theorien haben die Funktionen, den Rechtsstoff lernbar zu machen, die Feststellung von Lücken und Kollisionen, von Lückenfüllungen und Kollisionsentscheidungen zu ermöglichen und in der rechtspolitischen Diskussion rechtliche Folgen intendierter Regelungen zu prognostizieren; sie dürfen nicht tautologisch und müssen konsistent, abgeschlossen, ausdruckskonstant und überprüf bar sein.

II. Podlechs Beschäftigung mit dem Computereinsatz in Recht und Verwaltung fand ihren Schwerpunkt beim Datenschutz. 1973 legte er Entwürfe für eine Rahmenkompetenz und ein Rahmengesetz für den Bundesdatenschutz vor,10 und in den 1970er und 1980er Jahren veröffentlichte er immer wieder zum Recht auf Privatheit, zu den Problemen der technisch ermöglichten, immer weiter ausgreifenden, immer schwerer zu begrenzenden Gewinnung und Verarbeitung personenbezogener Informationen und zu den Möglichkeiten und Aufgaben des Datenschutzes.11 Nachdem er 8   Rechnen und Entscheiden, 1977; vgl. zu den präferenztheoretischen Ergebnissen auch Adalbert Podlech, Wertentscheidungen und Konsens, in: Günther Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, und zu den entscheidungstheoretischen Ergebnissen Jan Harenburg/Adalbert Podlech/Bernhard Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980. 9  Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S.  491–502. 10   Datenschutz im Bereich der öffentlichen Verwaltung, 1973. 11   Verfassungsrechtliche Probleme öffentlicher Informationssysteme, DVR 1 (1972/1973), S.  149–

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1981 im zweiten Hauptamt Richter am Hessischen Landessozialgericht geworden war, verfolgte er die Entwicklung des Einsatzes der elektronischen Datenverarbeitung in der gesetzlichen Krankenversicherung und begleitete und begutachtete die entstehenden Großprojekte datenschutzrechtlich.12 Noch einmal fanden die verschiedenen rechtswissenschaftlichen Interessen und Themen Podlechs zusammen: in den Kommentierungen von Art.  1 Abs.  1 und Art.  2 Abs.  1 und 2 GG für den Alternativkommentar zum Grundgesetz.13 Die Ablehnung der Verkehrung von Grundrechten in Werte und der Vermischung von Recht und Moral und die Suche nach dem Gehalt der Grundrechte über die Fragen nach deren sozialer und rechtlicher Funktion führt Podlech zum Verständnis der „Würde des Menschen [als] Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Zustimmung von Menschen zu der ihre Gesellschaft regelnden Ordnung und insbesondere zur Ausübung staatlicher Gewalt allein gedacht werde kann“ als Ausgangspunkt seiner Kommentierung. Die Kommentierung entfaltet die fünf Bedingungen der Sicherheit individuellen und sozialen Lebens, der rechtlichen Gleichheit der Menschen, der Wahrung menschlicher Identität und Integrität, der Begrenzung staat­ licher Gewaltanwendung und der Achtung der körperlichen Kontingenz des Menschen, trägt dabei dem Unveränderlichen und dem Veränderlichen der Menschenwürde Rechnung und hält gegen die Versuchungen der Abwägung an der Unantastbarkeit der Menschenwürde fest. Beim Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit geht Podlech in Rekon­ struktion der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Dualismus Handlung/Information und von beidem als fundamentalen Kategorien individueller Selbstbestimmung aus und rückt auf dem Weg der Kommentierung unter anderem zurecht, dass Privatheit nicht ein Zustand isolierten Alleinseins, sondern eine Eigenschaft des Umgangs miteinander ist, dass der Kernbereich nicht als anthropologische Konstante, sondern aus der Lebensgeschichte des Grundrechtsträgers verstanden werden muss und dass das Sittengesetz nicht Wert- und Moralvorstellungen implementiert, sondern eine Symmetriebedingung als Anforderung an das Recht formuliert, unter der die Freiheitsausübung des Einen auf Kosten der Freiheitsmöglichkei169; Verfassung und Datenschutz, in: Helmut Krauch (Hrsg.), Erfassungsschutz, 1975, S.  72–77; Aufgaben und Problematik des Datenschutzes, DVR 5 (1976), S.  23–39; Gesellschaftstheoretische Grundlage des Datenschutzes, in: Rüdiger Dierstein/Herbert Fiedler/Arno Schulz (Hrsg.), Datenschutz und Datensicherung, 1976, S.  311–326; Das Recht auf Privatheit, in: Joachim Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S.  50–68; Die Begrenzung staatlicher Informationsverarbeitung durch die Verfassung angesichts der Möglichkeit unbegrenzter Informationsverarbeitung mittels der Technik, Leviathan 12 (1984), S.  85–98. 12  Die Bedeutung des Sozialgeheimnisses für das Sozialgerichtliche Verfahren, ZfSH, SGB 24 (1985), S.  1; Schutz der Sozialdaten. Vorbemerkung §  67, in: Bernd Grüner/Gerhard Dalichau (Hrsg.), Verwaltungsverfahren (SGB X) Kommentar, Stand: Oktober 1985, S.  1–78; Medizinischer Dienst, in: Wolfgang Müller-Held/Herbert Rebscher/Karl Schütgens (Hrsg.), Medizinischer Dienst der Krankenversicherung, 1989 ff.; Die Transformation des für Informationssysteme geltenden Informationsrechts in die Informationssysteme steuerndes Systemrecht, in: Lothar Bräutigam/Heinzpeter Höller/Renate Scholz (Hrsg.), Datenschutz als Anforderung an die Systemgestaltung, 1990, S.  345–361; Der Informationshaushalt der Krankenkassen, 1995. 13  Art.  1 Abs.  1, Art.  2 Abs.  1 und 2 in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Alternativkommentar), 1.  Aufl., 1984, 2.  Aufl. 1989. In der 3.  Aufl. 2001 kommentiert Podlech auch Art.  102 und Art.  104.

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ten des Anderen unsittlich ist. Mit Zustimmung wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur informationellen Selbstbestimmung rekonstruiert; das Gericht hatte im Volkszählungsurteil den berühmten Satz, nach dem mit dem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung […] eine Rechtsordnung nicht vereinbar [wäre], in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“,14 aus einem Schriftsatz übernommen, den Podlech als Verfahrensbevollmächtigter vorgelegt hatte.

III. Podlech war gerne Richter, datenschutzrechtlicher Gutachter und Verfahrensbevollmächtigter. Aber sein Herz gehörte der Universität. Als Schüler wollte er Mönch in Maria Laach werden, als Student schrieb er 1953 für seinen Vater eine Denkschrift zur Neugestaltung des akademischen Lebens, die vom Ideal mönchischen Lebens inspiriert ist, später schrieb und redete er über die Universität im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft,15 über ihr Recht, nach eigenen Regeln öffentlich über die öffentlichen Dinge denken und korporativ reden zu dürfen,16 über ihre Selbstaufgabe gegenüber den Nationalsozialisten, ihre Reformunwilligkeit nach dem Krieg und ihre Abdankung gegenüber den Politikern in der Hochschulreform der 1970er Jahre.17 1991 skizzierte er auf Wunsch der Fachschaft der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften in einem Vortrag seine Utopie einer künftigen Universität18 mit Ablösung des Beamtenrechts durch das Korporationsrecht, Rückgabe der Entscheidungsgewalt an die Fakultäten, Verringerung der Zahl der Prüfungen und Auflösung rechtsverbindlicher Studienpläne. Wiederholt hielt er die Vorlesung „Die europäische Universität. Entstehung, Geschichte, Bedeutung“. Er wollte den Hörerinnen und Hörern vermitteln, was Universität ist: „gesellschaftliche Selbstorganisation korporativ betriebener Wissenschaft“, die mit ihren Mitgliedern nicht für sich da ist, sondern dank der und für die Gesellschaft, die nicht nur Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte ist, sondern ein Ort der Bildung, für den die Mitglieder Verantwortung tragen, ein Ort auch, an dem die Mitglieder Freiräume brauchen, Freiräume des Rechts, der Mittel, der Zeit. Als 1970 in Heidelberg der Theologe Rolf Rendtorff nach dem neuen Hochschulgesetz der Gruppenuniversität zum Rektor gewählt worden war und als Prorektor einen Juristen brauchte und suchte, stellte sich Podlech zur Wahl und wurde gewählt. Er war davor Gesamtwahlleiter der Universität gewesen und kannte die politischen Verwerfungen der Universität, hoffte aber, dass die anstehenden Reformen von den Mitgliedern der Universität loyal und fair mitgetragen und -gestaltet würden, und fühlte sich der Universität verpflichtet. Ich weiß nicht, ob jemand ihn, den Privatdo  BVerfGE 65, 1 (43).   Hochschulen im Spannungsfeld zwischen Politik und Wissenschaft, Cappenberger Gespräche der Freiherr vom Stein-Gesellschaft 7 (1972), S.  16–30. 16   Memorandum zum Recht der Universitäten, nach eigenen Regeln öffentlich über die öffentlichen Dinge denken und korporativ reden zu dürfen, Privatdruck 1982. 17   Die Universität, Wirtschaftswissenschaftler- und Techniker-Zeitung 1990, S.  7–15. 18   Universitopia, Privatdruck 1991. 14

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zenten, vor der Bereitschaft der Ordinarien, die Reformen zu sabotieren, die neuen Organisationen und Verfahren zu unterlaufen und den Rektor, der gegen ihre Mehrheit gewählt worden war, zu demontieren, gewarnt hatte – und vor dem Kultusminister Wilhelm Hahn, der ein Ordinarius war und mit den Ordinarien an den Organisationen und Verfahren des Hochschulgesetzes und besonders am Rektorat vorbei paktierte. Der erste Konflikt19 wurde im Februar 1970 durch Wolfgang Huber, einen eigenmächtig und eigenwillig experimentierenden Arzt der Psychiatrie und seine Patienten, die sich Sozialistisches Patientenkollektiv (SPK) nannten, herauf beschworen. Sie waren in der psychiatrischen Klinik untragbar geworden, Huber wurde gekündigt, die Patienten wurden anderen Ärzten zugewiesen, aber von Huber angestachelt, unter Androhung von Selbstmord die weitere Behandlung durch ihn zu verlangen und ihrer Forderung durch die Besetzung der Verwaltung der Klinik und des Rektorats Nachdruck zu verleihen. Die medizinische Fakultät wusste sich nicht zu helfen und schob die Verantwortung dem Rektor zu, der mit dem SPK einen Vertrag schloss und ihm für ein halbes Jahr zur Fortführung und zum Abschluss des therapeutischen Experiments Räume zusicherte – einen Vertrag, mit dem das SPK bald nicht mehr zufrieden war, den bald auch die medizinische Fakultät ablehnte und den auf Betreiben mehrerer Ordinarien der Medizin das Kulturministerium zu vollziehen verbot. Aber damit waren die psychisch kranken, von ihrem Arzt verführten und aufgehetzten, zu Aktionen und Drohungen aller Art bereiten Patienten nicht beruhigt, und Podlech musste, wie schon in der Phase der Verhandlung des Vertrags, auch in der Phase nach dessen Scheitern intervenieren, vermitteln, beruhigen. Denn die Mediziner wollten nicht ausschließen, dass es bei einem Polizeieinsatz tatsächlich zu den angedrohten Selbstmorden kommen würde. Zugleich war ihnen die Suche von Rektor und Prorektor nach einer gütlichen Lösung des Konflikts ein Ärgernis, und der Ärger richtete sich gegen den Rektor und gegen Podlech. Der zweite Konflikt20 wurde im Juni 1970 dadurch ausgelöst, dass der Rektor und die beiden Prorektoren eine Einladung des Oberbefehlshabers der NATO-Heeresgruppe Mitte zu einem Sommerfest ausschlugen; in einem offenen Brief begründeten sie dies mit dem Krieg in Vietnam und Kambodscha, der Erschießung gegen den Krieg demonstrierender amerikanischer Studenten und der Solidarität mit den Präsidenten amerikanischer Universitäten, die aus Protest ihre Universitäten geschlossen hatten. Darauf wurde in der Juristischen Fakultät ein Beschluss über die Unvereinbarkeit des offenen Briefs mit dem Beamtenrecht und die Erhebung einer Dienstaufsichtsbeschwerde beantragt, und es wurde verkündet, Podlech kriege keinen Ruf mehr. Die Anträge hatten letztlich keine Folgen. Aber Podlech bekam keinen Ruf an eine juristische Fakultät mehr; den Ruf an die Technische Hochschule Darmstadt verdankte er den dortigen Kollegen Martin Drath und Axel Azzola, denen die juristischen Fakultäten auch fremd waren.   Vgl. dazu Christian Pross, Wir wollten ins Verderben rennen, 2016.   Vgl. dazu Volker Neumann, Das Dilemma des Landarztes, in: Egbert Nickel/Alexander Roßnagel/ Bernhard Schlink (Hrsg.), Die Freiheit und die Macht – Wissenschaft im Ernstfall. Festschrift für Adalbert Podlech, 1994, S.  35–47; Rolf Rendtorff, „Denn sie wissen nicht, was sie tun …“, in: Egbert Nickel/ Alexander Roßnagel/Bernhard Schlink (Hrsg.), Die Freiheit und die Macht – Wissenschaft im Ernstfall. Festschrift für Adalbert Podlech, 1994, S.  49–54. 19

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Einen andauernden Konflikt21 verursachten die Abläufe von Lehrveranstaltungen. Manchmal ging es um bloße Frage- und Diskussionswünsche von Studenten, manchmal um bewusste und gezielte Störungen, besonders beim Ordinarius für Öffentliches Recht Hans Schneider. Es versteht sich, dass Rektor und Prorektor die Störungen weder verhindern noch sofort beenden konnten, aber eben dies wurde von ihnen unter Berufung auf die Schutzfunktion des Staates verlangt, und jeder Versuch der Vermittlung wurde als Vermittlung zwischen Recht und Unrecht denunziert. Die Konflikte mit der Zunft der Kollegen des Öffentlichen Rechts hörten mit dem Ende des Prorektorats nach eineinhalb Jahren und auch mit Podlechs Wechsel von Heidelberg nach Darmstadt nicht auf.22 Im April 1977 wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet, und in einem vom Göttinger AStA herausgegebenen Studentenblatt erschien ein mit „Göttinger Mescalero“ gezeichneter Artikel, in dem „klammheimliche Freude“ ausgedrückt wurde. Da das Studentenblatt nicht zugänglich war und der Artikel vielfach beschworen und gegen die linken Studenten und die verfasste Studentenschaft gewendet wurde, wollte der AStA der Technischen Hochschule Darmstadt den Text nachdrucken, zur Kenntnis der Studenten auch der anderen hessischen Universitäten. Die Verwaltung der Hochschule fand das Anliegen einleuchtend, bat den Professor für Öffentliches Recht Podlech, die presserechtliche Verantwortung zu übernehmen, die nicht Studenten aufgebürdet werden sollte, vergewisserte sich bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt, dass er keine strafrechtlichen Sanktionen zu gewärtigen habe, und Podlech erklärte sich bereit. Gleichwohl wies der hessische Justizminister die Staatsanwaltschaft an, die Einleitung eines Strafverfahrens zu prüfen, und der hessische Kultusminister den Präsidenten der Technischen Hochschule, ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Ein Mitglied der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer stellte beim Vorstand den Antrag und machte ihn zugleich öffentlich, den „kleinen Idi Amin am Schreibtisch“ Podlech aus der Vereinigung auszuschließen. Der Vorstand wies den Antrag nicht zurück, obwohl er vom Präsidenten der Technischen Hochschule über den Sachverhalt informiert und um eine Stellungnahme gegen die Diffamierung gebeten worden war. Aus den Verfahren wurde nichts. Aber der Umgang des Vorstands der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer mit der Diffamierung durch einen Kollegen ließ Podlech verstehen, dass er nicht zur Zunft gehörte, und dass es Zeit war, auch nicht mehr zur Zunft gehören zu wollen. Er fand seine organisatorische Heimat beim PEN Zentrum Deutschland. Aber die Universität blieb, wie er gelegentlich schrieb, „trotz aller Enttäuschungen, die sie mir gebracht hat, die einzige Institution, die mir nie bedeutungslos geworden ist.“23 Was Podlech nicht in der gegenwärtigen Universität fand, fand er in der Universität der Vergangenheit, wie er überhaupt sein Interesse mehr und mehr der Geschichte zuwandte.

21   Vgl. auch dazu Rolf Rendtorff, „Denn sie wissen nicht, was sie tun …“, in: Egbert Nickel/Alexander Roßnagel/Bernhard Schlink (Hrsg.), Die Freiheit und die Macht – Wissenschaft im Ernstfall. Festschrift für Adalbert Podlech, 1994, S.  49–54. 22   Die „Buback-Affäre“, Privatdruck 1977. 23   Vorbemerkung zu Niederschriften und Arbeiten. Universität, Privatdruck 2002.

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IV. Die Zeugnisse seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit zur Geschichte sind weniger zahlreich als die zum Recht. Ein Grund liegt darin, dass die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift dem Werdegang geschuldet waren und andere Arbeiten zum Recht sich im Kontext des Amts ergaben. Bei der Geschichte gilt, was Podlech gelegentlich so formuliert hat:24 „Als Professor hat es mich immer gedrängt, meine Gedanken mündlich vorzutragen, Vorlesungen für die Studenten zu halten, und nicht, vor Kollegen mit Publikationen zu glänzen. Wenn ich etwas durchdacht hatte, wollte ich es vortragen; es zu publizieren, es schriftlich auszuarbeiten war nur noch langweilig.“ Es gibt einen historischen Lexikonartikel über Repräsentation,25 mehr oder weniger ausführliche Gliederungen zu Vorlesungen und auch zu Büchern, die nicht geschrieben wurden, und es gibt zwei große Werke. In all diesen Arbeiten weitet sich der historische Horizont; die Verfassungsgeschichte wird zur Theologie- und Philosophiegeschichte, diese wird zu einer Geschichte des europäischen Denkens im lateinischen Mittelalter, schließt dann auch die Geschichte der Chancen und des Scheiterns rationalen Denkens im arabischen Mittelalter ein und öffnet sich schließlich für eine Geschichte des Umgangs der Männer mit den Frauen durch die Jahrtausende. Obwohl schon lange nicht mehr gläubig, hat Podlech immer wieder die Begegnung mit kirchlicher Liturgie, Kunst und Architektur gesucht, auch durch regelmäßige Besuche in Maria Laach. Dem Islam begegnete er erst spät. Erst spät begegnete er auch der Liebe. 1960 hatte er 31jährig geheiratet. In gegenseitiger Achtung und Zuneigung und gemeinsamer Verantwortung für die beiden Kinder bestand die Ehe bis 1986; nach der einvernehmlichen Trennung blieben Podlech und seine Frau einander freundschaftlich verbunden. Die Liebe zu Wasilia Fotiadou wurde für ihn zum Anstoß, über Abaelard zu schreiben, der ihn schon früh fasziniert hatte, und das Projekt zu einem Buch über Abaelard und Heloisa und die Theologie der Liebe reifen zu lassen 26 ; Wasilia Fotiadou hat er das Buch auch gewidmet. Die Liebe zu Dietlinde Bedauia Karkutli, der Mutter des deutschen Bauchtanzes, führte zu Reisen nach Ägypten und Syrien, zur Beschäftigung mit dem Islam und zu den Forschungen über den Umgang der Männer mit den Frauen, deren Ergebnis schließlich dreibändig erschien 27. Beide Werke unterscheiden sich nicht nur durch ihre Gegenstände von Podlechs früheren Arbeiten. Sie sind auch anders geschrieben, freier, lebendiger und leichter, selbst wo sie von Tiefem und Schwerem handeln. 1994 feierte Podlech seinen 65. Geburtstag. Nach dem akademischen Festakt mit Reden und Übergabe der Festschrift in der Universität waren die Gäste in das Bauchtanzstudio geladen, das Podlechs unlängst verstorbene Lebensgefährtin gegründet und in dem sie sich den Abschluss der Geburtstagsfeier gewünscht hatte. Nicht ohne Verlegenheit setzten sich die juristischen Kollegen auf die Kissen auf dem Boden, ließen sich von den barbusigen Bauchtanzschülerinnen Tee einschenken und orien  Anhang zu Niederschriften und Arbeiten. Geschichte, Privatdruck 2007.   Repräsentation, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, 5.  Bd., 1984, S.  509–547. 26   Abaelard und Heloisa oder Die Theologie der Liebe, 1990. 27   Sex, Erotik, Liebe, 3 Bde., 2007. 24

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talische Leckereien reichen und sahen ihnen bei den Tänzen zu, die sie zu Ehren Podlechs vorführten. Schließlich bot eine Tänzerin Podlech die Hand und bat ihn zum Tanz, und er, den ich in den Jahren als sein Assistent und auch später streng, spröde und sperrig erlebt hatte, tanzte mit einer Leichtigkeit und Anmut, die mich berührte. Die Liebe hatte neue Saiten in ihm zum Klingen gebracht. Die Bände über den Umgang der Männer mit den Frauen durch die Jahrtausende setzen mit Podlechs Interesse an der Sprache der Sexualität ein. „Seit jeher ärgere ich mich über den Ausdruck ‚mit jemandem schlafen‘. Er ist so unsinnig. Man schläft ja nicht, wenn man Liebe macht. Und wieder, ‚Liebe machen‘? Liebe wird nicht gemacht. Und wenn gefickt wird, muss Liebe gar nicht im Spiel sein. Warum hat das Deutsche keinen salonfähigen Ausdruck für das Schönste, das Menschen miteinander machen können?“.28 Vom Grimmschen Wörterbuch ging Podlech weiter zu Wörterbüchern und Texten des Sanskrit, zu ägyptischen, griechischen, hebräischen, lateinischen und arabischen Wörterbüchern und Texten und schließlich zum Minnesang. Das Werk präsentiert die verschiedenen Sprachen der Sexualität und in längeren Exkursen Beiträge zu deren verschiedenen Kulturen. Die Schlussbetrachtungen verzeichnen unter anderem die Befunde, dass das Christentum, nachdem in den alten Sprachen alles Sexuelle völlig unbefangen dargestellt wurde, die Sprache auf klinisch saubere oder obszöne Formulierungen sexueller Tatbestände reduziert hat; dass auch die anderen monotheistischen Religionen mit der Mehrzahl der Götter und Göttinnen, in deren Verhältnis zueinander das Sexuelle eine große Rolle spielte, auch das Sexuelle selbst abgelehnt und rigorosen Regeln unterworfen haben; dass in den alten Kulturen die Moral Frauen nicht als Frauen schützte, sondern nur als Besitz und Eigentum von Männern, ohne deren Schutz sie gebraucht, geraubt, getauscht, vergewaltigt und getötet werden konnten; dass dies ein Grund dafür war, dass gerade die römischen Frauen für das Christentum mit und trotz seiner Leibfeindlichkeit empfänglich waren; dass es im Koran keine Erb-, aber die Ursünde der Enthüllung der Frau gibt, mit der sich im Islam die Urangst des Mannes vor der Frau und der Lustund Liebesvereinigung einen Überbau geschaffen hat, der eine Gleichberechtigung von Frau und Mann verbietet. Erotik, aus der Nicht- oder schweren Erfüllbarkeit des Begehrens geboren, Zartheit, Liebe als Frau und Mann widerfahrendes Ereignis findet Podlech, von seltenen Ausnahmen im Sanskrit, Hohen Lied der Liebe und arabischem Liebeslied abgesehen, nur in altägyptischen Liebesliedern und dann erst wieder im Minnesang. „Die Recherchen haben mir Freude gemacht und Lust bereitet, aber ihr Ergebnis hat mich auch tief betroffen.“29 Das Buch über Abaelard und Heloise entstand vor dem über den Umgang der Männer mit den Frauen. Aber es ist Podlechs opus magnum, die Krönung seines wissenschaftlichen Lebens, und soll auch die Erinnerung an Podlech krönen. Im ersten Teil, „Die Zeit, der Raum, die Kräfte“, werden die Bretagne, aus der Abaelard kam, Franzien, in dem er lebte, und das Spannungsfeld beschrieben, in dem er wirkte: die Klöster Cluny und Citeaux, die päpstliche Zentralisation, die Armutsbewegung als Protest von unten, die Liebeslyrik als Protest von oben und der Anfang der Wissenschaft in Klosterschulen, Domschulen und schließlich der Pariser Univer  Sex, Erotik, Liebe, 1.  Bd., 2007, S.  6.   Sex, Erotik, Liebe, 1.  Bd., 2007, S.  504.

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sität. Der zweite Teil „Von der Logik zur Lust“ schildert Abaelards Aufstieg als Lehrer, seinen Erfolg als Leiter der Pariser Domschule und Liebender und Geliebter Heloisas und seinen Sturz durch Kastration und Verlust der Stellung; der Mann Abaelard und die Frau Heloisa werden der Mönch Abaelard und die Nonne Heloisa. Der dritte Teil „Aus der Verzweiflung zur Liebe“ ist der umfangreichste; er handelt davon, wie Abaelard sich nach dem Sturz als Lehrer wiederfindet, zunächst im Kloster Saint-Denis, dann in einem von ihm in der Einöde gefundenen und Paraklet genannten, als Einsiedelei gewählten und zur Lehrstätte gewordenen Ort unweit von Troyes, wie er als Abt in der Normandie scheitert und den Parakleten der Äbtissin Heloisa als Kloster stiftet, wie beide gemeinsam eine Theologie der Liebe und eine Ethik des Gewissens und daraus die Regeln für das Kloster entwickeln, wie Abaelard nochmals erfolgreicher Lehrer in Paris ist, von Bernhard von Clairvaux angefeindet und angeklagt und vom Papst zu ewiger Haft und ewigem Schweigen verurteilt wird, wie er in Cluny Aufnahme findet, stirbt und in die Obhut der Äbtissin Heloisa in den Parakleten überführt wird. Mit seinem Vertrauen auf die Vernunft, seiner Erlösungslehre, die den Menschen die Freiheit der Liebe schenkt, und seiner Ethik, die nicht auf Werke, sondern auf das Gewissen setzt, ist er seiner Zeit voraus. Aber mit seinen Schriften und durch seine Schüler wird er zum Lehrer Europas. „Abaelard ist der erste geschichtlich greif bare Intellektuelle Europas. Er hat als einzelner gedacht und gehandelt, nicht im Schutz von Institutionen.“30 Für die Institutionen, mit denen er zu tun hat, hat er kein Gespür und auch nicht für die Macht, mit der sie sich behaupten und die schützen und rächen konnten, die als Lehrer mit Abaelard konkurriert hatten und von ihm verachtet, gekränkt, verletzt und gebrochen worden waren. Auch Menschen anzunehmen, zu verstehen, zu lieben ist er lange nicht fähig, und zunächst will er sich mit der Verführung der zwanzig Jahre jüngeren Heloisa nur beweisen, dass er auch hier Erfolg haben kann. Aber aus der Verführung wird eine Leidenschaft, die die Koordinaten seines bisherigen Lebens zerstört, und Heloisas Liebe zerbricht seine narzisstische Vereinsamung. Über alle Katastrophen und Wendungen seines Lebens hinweg bleibt ihm Heloisa; sie entbindet „Abaelards Fähigkeit […], Liebe zu erfahren und zu geben und aus dieser Liebe zu dichten und zu singen und eine neue Theologie der Liebe zu denken. Heloisa hat den Verstand des Intellektuellen Abaelard in die Liebe sublimiert.“31 Das Buch ist ein historisches Werk, handelt aber von Wissenschaft und Universität, Wahrheit und Widerstand, Freiheit und Verantwortung, Einzelnem und Institutionen, Verstand und Liebe in einer Weise, die uns angeht. Podlech hat in Abaelard nicht nur den ersten Intellektuellen gefunden, sondern einen, der exemplarisch erlebt und erlitten hat, was es heißt, gegen Widerstände und Angriffe Intellektueller zu sein. Abaelard macht Mut. Er wird auch Podlech manchmal Mut gemacht haben. Podlechs Leben war nicht das übliche Leben eines Professors für Öffentliches Recht. Schon früh gehörte er nicht mehr zur Zunft, und er reagierte darauf nicht enttäuscht oder bitter, sondern scherte sich nicht mehr um die Zunft und nutzte die Freiheit der Universität, das zu forschen und zu lehren, was er wichtig fand. Nicht ohne Trauer sah er das rechtstheoretische Interesse vom Bemühen um Etablierung   Abaelard und Heloisa oder Die Theologie der Liebe, 1990, S.  15.   Abaelard und Heloisa oder Die Theologie der Liebe, 1990, S.  17.

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wissenschaftstheoretischer Standards zu weicheren Themen wechseln und die Wissenschaft des Verfassungsrechts in unbefangenem Dilettieren mit soziologischen und politologischen Narrativen dogmatisch unverbindlicher werden. Aber sich dagegen zu stellen war es ihm nicht mehr wert. Das war ein Verlust für die Rechtswissenschaft. Aber anders wäre sein Buch über Abaelard und Heloisa nicht entstanden – und was für ein Glück, dass wir es haben!

„Nec temere, nec timide“ Zum Gedenken an Horst Ehmke von

Ministerpräsident a.D. Wolfgang Clement, Bonn* „Nec temere, nec timide“. Dieses Leitwort seiner Geburtsstadt Danzig hatte er zu seinem Lebensmotto gemacht. Weder unbesonnen noch furchtsam. So wollte er sein. So war er auch und zumeist und so wurde er zu einem der nachdrücklichsten Reformer der ersten sozial-liberalen Ära in Deutschland. Gemeinsam mit dem damaligen Bundesjustizminister und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann hatte der junge Rechtsprofessor Horst Ehmke zunächst als dessen Staatssekretär, dann ab Frühjahr 1969 als kurzzeitiger Nachfolger im Amt des Bundesjustizministers eine neue Zeitrechnung intoniert. Denn die wenn auch nur schrittweise erfolgende Abschaffung des §  175 StGB oder des Kuppelparagraphen oder die auch wieder nur Schritt für Schritt gelingende Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern – sie standen ganz am Anfang einer sodann ab 1969 mit der ersten sozial-liberalen Bundesregierung Brandt/Scheel in voller Breite einsetzenden hohen Zeit sozialer und gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und außenpolitischer, vor allem aber ostpolitischer Veränderungen, die unser Land aus der viele Menschen bedrückenden Beengtheit der Nachkriegsjahre befreiten. Horst Ehmke war neben und gelegentlich auch für Willy Brandts stets „mittendrin“.1 Ja, er war einer der Anstifter der sozial-liberalen Demokratie deutscher Prägung.2 Und er war es, der ab 1969 als Chef des Bundeskanzleramtes das Feuer unter dem Kessel drängender Reformaufgaben immer aufs Neue anfachte, schlagfertig, manchmal provokant und stets gescheit, mit viel Lust und Kraft, Energie und Esprit ging er keinem Streit aus dem Wege. So hat er maßgeblich geholfen, unser Land gesellschafts- wie außen- und deutschlandpolitisch zu modernisieren und zu öffnen, *   Der Text geht zurück auf eine kurze Gedenkrede am Tag der Beisetzung von Horst Ehmke am 18. März 2017. 1  Vgl. Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, 1994. 2  Vgl. Horst Ehmke (Hrsg.), Perspektiven. Sozialdemokratische Politik im Übergang zu den siebziger Jahren, erläutert von 21 Sozialdemokraten, 1969. Siehe auch ders., Sozialdemokratische Perspektiven, in: Die Neue Gesellschaft. 6/1968, 485 ff.; auch in: ders., Politik der praktischen Vernunft. Aufsätze und Referate, 1969, 208–220.

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und so hat er an der Geschichte unseres Landes mitgeschrieben. Mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen, Gleichstellung der Frau im Ehe- und Familienrecht, Strafrechts- und Strafvollzugsreform, Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme, Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung – das waren unter dem Leitwort „Mehr Demokratie wagen“ die Reformthemen der ersten sozial-liberalen Jahre, die 1974 mit dem Sturz des Kanzlers Willy Brandt – auch für den Bundesminister Horst Ehmke – jäh und rasch und mit vielen enttäuschten, übrigens auch ökonomisch enttäuschten Hoffnungen zu Ende gingen. Horst Ehmke war ein sozialdemokratisches Multitalent – „unser Spezialist für alles“, nannte Willy Brandt ihn. Aber ähnlich wie auch andere „Seiteneinsteiger“ in den Brandt’schen Kabinetten, etwa Alex Möller, Karl Schiller oder Klaus von Dohnanyi, war er kein Sprössling der klassischen Arbeiterbewegung. Er entstammte einer bürgerlichen Danziger Arztfamilie. Notabitur mit 17, Flakhelfer, nach Krieg und kurzer Gefangenschaft Studium von Recht und Volkswirtschaft, Geschichte und politische Wissenschaft in Göttingen und Princeton, Promotion über „Grenzen der Verfassungsänderung“ bei Rudolf Smend,3 Assistenz beim SPD-„Kronjuristen“ Adolf Arndt,4 Mitarbeiter der Ford-Foundation in Köln und Berkeley,5 Habilitation über „Wirtschaft und Verfassung“, mit 34 Jahren Professor, alsbald Dekan für öffentliches Recht in Freiburg. In der im Herbst 1962 mit der Durchsuchung von Redaktion und Verlag einsetzenden „Spiegel“-Affäre („Bedingt abwehrbereit“) war er einer der Strafverteidiger des seinerzeitigen „Spiegel“-Redakteurs und späteren Regierungssprechers Willy Brandts, Conrad Ahlers.6 Horst Ehmke wurde bereits in jungen Jahren zu einem geachteten und bis heute beachteten Staatsrechtslehrer der Nachkriegszeit. Sein Rechtsverständnis entsprach seiner von der amerikanischen Demokratie- und Rechtstheorie beeinflussten, liberal-demokratischen, also pluralistischen Orientierung und sein Augenmerk galt der damals neuen Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Wirkung auf das verfassungsrechtliche Denken und das politische Handeln. So trat er auf der Staatsrechtslehrertagung 1963 für ein verfassungstheoretisches Vorverständnis als Bezugsrahmen zur Interpretation der Verfassung ein.7 Ernst-Wolfgang Böckenförde hat die Fragestellung später so formuliert: „Das Verfassungsrecht, vordem organisatorisch und insti3   Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, erneut abgedruckt in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, hrsg. v. Peter Häberle, 1981, 21–141. Zu Ehmkes Einbindung in den Kreis der Integrationslehre um Rudolf Smend siehe Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, 162–165, 183–186. 4   Ehmke war einer der ersten Assistenten der SPD-Bundestagsfraktion bei Adolf Arndt, damals juristischer Fraktionsgeschäftsführer; vgl. Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945–1961), 1991, 170. Vgl. auch Horst Ehmke, Adolf Arndt: Die Macht des Rechts, JöR 50 (2002), 159–168. 5  Vgl. Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, 1961, VII: Die Arbeit entstand im Rahmen eines von der Ford-Foundation geförderten rechtsvergleichenden Programms der Juristischen Fakultät der Universität Köln und der University of California at Berkeley Law School. 6   Zur verfassungsrechtlichen Dimension vgl. BVerfGE 15, 77 (1962); 20, 162 (1966). 7   Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53–98. Welche Differenzen und Widerstände Ehmkes Thesen seinerzeit in der Staatsrechtslehre auslösten schildert Günther (Fn.  3 ), 244 ff.

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tutionell formende und prägende Kraft, wandelt sich zum in sich bewegten politischen Prozess. Es ist dem Interpreten zur Hand und in seiner Hand. Darf das sein?“8 – Horst Ehmkes Antwort lautet, dass der Interpret, also der Verfassungsrichter, nicht aus einem abstrakten Staats- und Verfassungsverständnis, sondern aus der Wahrnehmung der leibhaftigen Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft zu entscheiden habe. So bleibt Verfassungswandel möglich. Horst Ehmke, der am 12. März 2017 im Alter von 90 Jahren in Bonn verstarb, hatte sich 1994 mit der Bemerkung, dass die Jüngeren nicht besser werden, wenn die Älteren in ihren Ämtern verharren,9 konsequent aus der politischen Szenerie verabschiedet.10 Er litt, so war mein Eindruck, unter den seit den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmenden politisch-intellektuellen Verengungen in Programmatik und Auftritt nicht nur seiner Partei. An ihn zu erinnern, heißt auch zu erahnen, voran es mangelt, wenn gesellschaftlicher und politischer Wandel zu lange ausbleibt.

8   Ernst-Wolfgang Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, 3–14 (14); auch in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, 141–156. 9   Ehmke, Mittendrin (Fn.  1), 435. 10   Gleichwohl erinnerten fast 50 Wegbegleiter an Ehmkes 80. Geburtstag, vgl. Karlheinz Bentele/ Renate Faerber-Husemann/Fritz W. Scharpf/Peer Steinbrück (Hrsg.), Metamorphosen. Annäherungen an einen vielseitigen Freud, 2007.

Gedächtnisblatt für Horst Ehmke von

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth I. Am 12. März 2017 ist Horst Ehmke in einem Bonner Krankenhaus gestorben. Kurz zuvor hatte er noch seinen 90. Geburtstag im kleinen Kreis gefeiert. Wenige Tage vor Weihnachten 2016 rief er mich – ohne besonderen Grund – in Bayreuth tele­ fonisch an. Seit längerer Zeit war er in den Rollstuhl verbannt, gleichwohl humorvoll geblieben. Seine kecken Bemerkungen klingen mir noch im Ohr. Ein Jahr zuvor schrieb er mir auf einer Postkarte: „Ich lebe zu meiner eigenen Überraschung immer noch“. – Die deutsche Presse nahm intensiv Anteil an seinem Tod (vergleiche etwa Bonner Generalanzeiger vom 18. März 2017 sowie FAZ vom 14. März 2017, S.  4 : „Ehrgeizig, durchsetzungsfähig und lebensfroh“ sowie SZ vom 14. März 2017, S.  6 : „Der vollendete Unvollendete – zum Tod von H. Ehmke: Er war eines der größten Talente, die die Sozialdemokratie hatte – aber ohne Stallgeruch“); schon am 13. März 2017 formulierte die Süddeutsche.de: „Feuerkopf der SPD“; RP Online vom 14. März 2017 schrieb: „Er räumte dann als Kanzleramtsminister für Brandt ab 1969 in der Regierungszentrale derart auf, dass er bald als der ‚flotte Hotte‘ bekannt und gefürchtet war“; Spiegel-Online vom 13. März 2017 schrieb u.a.: „Er war entscheidend an Willy Brandts Ostpolitik beteiligt“; die Berliner Zeitung vom 13. März 2017 titelte: Nachruf auf Horst Ehmke: „Schlagfertiger Spezialist für alles“. Den Ablauf des – protestantischen – Gottesdienstes in Bonn hatte Ehmke vor einigen Jahren selbst festgelegt. Die Todesanzeige der Familie trug das Zitat bzw. seinen Wahlspruch „Nec temere nec timide“. Die Traueranzeige für die Bundesregierung mit der Unterschrift der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, FAZ vom 18. März 2017, schrieb: „Als enger Wegbegleiter von Willy Brandt hatte der ausgewiesene Staatsrechtslehrer entscheidenden Anteil an der Umsetzung von dessen Ostpolitik“. Die SPD, u.a. mit den Unterschriften von Sigmar Gabriel und Martin Schulz, formulierte in ihrer Traueranzeige ebd.: „Wir verlieren mit Horst Ehmke einen engagierten, intellektuell scharfsinnigen und humorvollen Wegbegleiter und Ratgeber“. Horst Ehmke gestaltete zwei Leben: Er war zuerst (seit 1961 in Freiburg) Staatsrechtslehrer auf Zeit und seit Herbst 1966 (seit seinem Weggang von Freiburg in die Politik nach Bonn) sodann Politiker (später Romanautor).

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II. Der wissenschaftliche Weg begann mit der Dissertation in Göttingen bei R. Smend (1952). Sie ist in unnachahmlicher Weise dem „Göttinger Smend-Seminar“ gewidmet, sie gilt dem Thema „Grenzen der Verfassungsänderung“ (1953 erschienen) und dürfte rückblickend zu den wenigen bleibenden verfassungstheoretischen Arbeiten der deutschen 1950er Jahre gehören (dazu schon meine Würdigung im Vorwort zu den von mir als Sammelband 1981 herausgegebenen „Beiträgen zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik“, S.  7 ff.). Von 1952 bis Anfang 1956 war Ehmke wissenschaftliche Assistent von keinem Geringeren als dem „Kronjuristen der SPD“ A. Arndt (ihm widmete er auch eine spätere Publikation: Verfassungsrechtliche Fragen einer Reform des Pressewesens, FS Arndt, 1969). Zur Vorbereitung der Bonner Habilitation lebte H. Ehmke ein Jahr (1958) an der Law School in Berkeley (USA). Es folgte die Habilitationsschrift über „Wirtschaft und Verfassung“ (1961), betreut von keinem Geringeren als U. Scheuner (Bonn). Mit diesem Werk – wegen dessen großen Umfang von 829 Seiten begründete es die Maßeinheit „ein Ehm“ – erweist sich H. Ehmke in Deutschland als einer der besten Kenner des US-amerikanischen Verfassungsrechts. Es sollte ihm bei seinem Freiburger Staatsrechtslehrerreferat von 1961: „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ intensiv helfen – ein „Heimspiel“. Die Bonner Antrittsvorlesung „Staat und Gesellschaft als verfassungstheoretisches Problem“ (FS Smend 1962, S.  23 ff.) ist aus der heutigen Grundsatzdiskussion ebenfalls nicht mehr wegzudenken. Höhepunkt seines Schaffens war und bleibt aber das erwähnte Freiburger Staatsrechtslehrerreferat (VVDStRL 20 (1963), S.  53 ff.). Der Begriff „Vorverständnis“ und die für das Verfassungsrecht fortentwickelte Vokabel „Konsens aller Vernünftig- und Gerecht-Denkenden‘“ sind fast geflügelte Worte geworden – bis heute. Ein Durchbruch war Ehmkes Hinweis auf das „Problemdenken“ im Verfassungsrecht. Auch sein Ringen um die materiale Verfassungstheorie bleibt bis heute beispielhaft (sein Bekenntnis mir gegenüber lautete 1962 einmal: „am liebsten Verfassungstheorie“). Besonders bewegend ist der Appell am Ende seines Freiburger Schlusswortes: Die Staatsrechtslehrervereinigung müsse sich als mehr verstehen als nur eine Art „Berufsvereinigung“, nämlich auch „als einen möglichen institutionellen Ansatzpunkt für das verfassungstheoretische Wissen und Gewissen unseres demokratischen Gemeinwesens“ (ebd. S.  133). Kann dieser edle Appell heute eingelöst werden? Wie sollen sich „Wissen und Gewissen“ äußern – etwa in Referaten, in der Aussprache oder in Empfehlungen? Der Bonner Probevortrag „‚Ermessen‘ und ‚unbestimmter Rechtsbegriff ‘ im Verwaltungsrecht“ (1960) war mehr als ein bloßer „Ausflug“ in das Verwaltungsrecht, er war ein überzeugendes Plädoyer für den Handlungsspielraum der Verwaltung und überdies eine Grundsatzfrage von Relevanz für die Praxis der Gerichte. Die Freiburger Antrittsvorlesung über Carl v. Rotteck (1964) wirkt im Rückblick im Grunde als eine „Abschiedsvorlesung“ von dort und zugleich als Bekenntnis für die Zukunft in Gestalt des Zusatzes „der politische Professor“ (auf seine späteren Arbeiten zur Verfassungspolitik, etwa das Juristentagsreferat zu den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (1964) – nach seinen eigenen Worten eine „Verbeugung vor Freiburg“ –, wieder abgedruckt in dem Band „Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik“ (aaO., 1984, S.  424 ff.), sei schon hier verwie-

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sen). In Freiburg wurde – mit großer eigener Ausstrahlung – W. v. Simson Ehmkes Nachfolger (dieser übernahm auch den Ehmke-Assistenten P.H.). Eine besondere Würdigung verdienen die Diskussionsbeiträge Ehmkes auf den Staatsrechtslehrertagungen (umfassend: H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtlehre als Mikrokosmos, 2013). Sein gesprochenes Wort und sein „agonales“ Verständnis von Wissenschaft ist bis heute ebenso kennzeichnend wie wirkungsvoll (geblieben). Hier einige Beispiele: Seine erste Wortmeldung – er war damals noch Privatdozent –, findet sich in VVDStRL 19 (1961), S.  139, 140 f.; artig redete er die Kollegen mit „Professor“ an, etwa „Prof. Schneider“ und „Prof. Scheuner“. Es ging um das Thema „Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat“. Früh stellte er die Grundsatzfrage: „Was muss in einer Demokratie der demokratische Gesetzgeber selber regeln?“ – im Grunde befand sich Ehmke damit schon auf dem Weg zum „Parlamentsvorbehalt“. Wenig später meldete er sich noch einmal zu Wort (S.  152) und untermauerte seine Ansicht mit einem Hinweis auf das amerikanische Recht. Noch im selben Band agierte er auch zum zweiten Thema der damaligen Tagung in Köln. Er profilierte sich dadurch und wagte sogar einen Wortwechsel mit K. Zeidler (aaO., S.  258 f. – Votum für einen „demokratischen Gesetzesbegriff “). Schon sehr früh, d.h. bereits auf der Freiburger Tagung (1961), durfte Ehmke über das schon erwähnte Thema „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ referieren (als Mitberichterstatter zu P. Schneider): VVDStRL 20 (1963), S.  53–102). Es fällt auf, dass der Ko-Referent Ehmke sich sehr rasch in ein Wechselgespräch mit den Kollegen begab und einfach keck, ohne auf das Format „Zwischenworte“ oder „Schlussworte“ zu warten, mit den Kollegen diskutierte (aaO., S.  109, 121 f.). Sein kraftvolles Schlusswort ist noch heute lesenswert (S.  130–132). Erkenntnis und Bekenntnisse gehen ineinander über, seine Liebe zur „Verfassungstheorie“ wird noch einmal akzentuiert. Mehr noch: Ehmke wagte es sogar, obwohl selbst Referent beim ersten Thema, zum zweiten Thema „Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht?“ in der Diskussion zu sprechen (S.  159 f.). In der Geschichte der Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung kommt solches sehr selten vor. Spätestens jetzt hatte sich Ehmke hier in die vorderste Reihe der Debatten-Redner vorgearbeitet. Dies zeigt sich auch in seinem Votum zum Thema „Verwaltung und Schule“ (VVDStRL 23 (1966), S.  257 f., 258 f.). Entschieden setzte er sich für die These ein, dass die Verwaltung kein bloßer Gesetzesvollzug sei. Er votiert für die „Eigenständigkeit der Verwaltungsaufgabe“. Überdies beantwortete er souverän eine Direktfrage des ersten Berichterstatters (H.-U. Evers, S.  258 f.). Auf den Tagungen ist eine solche Direktfrage selten. Es ist symptomatisch, dass er sogar einen „Zuruf “ zu H.-H. Rupp wagt (S.  276), den dieser gekonnt pariert. Auf der Würzburger Staatsrechtslehrertagung agiert H. Ehmke in beiden Themenbereichen: sowohl zu „Staat und Verbände“ als auch zu „Gesetzgeber und Verwaltung“ (VVDStRL 24 (1966), S.  94–96 sowie S.  96 f. bzw. S.  230). Er wagt eine Kritik an der Parteienstaatstheorie des berühmten Bundesverfassungsrichters G. Leibholz und spricht kritisch von der „deutschen Staatsmethaphysik“. Nicht ohne Dramatik ist die Stellungnahme zur staatlichen Parteifinanzierung mit dem berühmten und höchst folgenreichen Satz von G. Dürig als Diskussionsleiter (aaO., S.  96): „Vorsicht, Herr Ehmke, schwebendes Verfahren, am 9.11. wird verkündet“). Die Konsequenzen dieses Disputs sind bekannt (vgl. BVerfGE 20, 1, 9, 26): Der große Bundesverfas-

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sungsrichter G. Leibholz schied wegen Befangenheit aus dem Karlsruher Verfahren aus. Sichtbar wird auf dieser Würzburger Tagung Ehmkes rhetorische Ironie und Selbstironie (S.  94). An die Grenze geht er wohl indes in seinem Wortwechsel mit K. Vogel zum Thema „Gesetzgeber und Verwaltung“ (ebd. S.  230–232). Dieser verzeiht ihm das Wort vom „totgeborenen Kind“ unter stillschweigendem Hinweis auf G. Grass, der wie Ehmke Danziger war (dazu und zum Verhältnis G. Grass/H. Ehmke mein Vorwort (aaO., S.  13), mit einem Zitat aus dem „Tagebuch einer Schnecke“ (1972)). Auf der Grazer Staatsrechtslehrertagung (VVDStRL 25 (1967) ist Ehmke bereits Vorstandsmitglied. Schon beim ersten Thema über das „Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie“ verwickelte er die Kollegen in Streitgespräche (S.  234, 239). Mehr noch: er stellt die provozierende Frage, ob man unter dem Grundgesetz das Staatsorgan „Bundespräsident“ einfach abschaffen könnte. Diese kühne Frage ist damals und heute weder politisch noch juristisch „salonfähig“. Nur ein Ehmke konnte sie stellen. Beim zweiten Thema der Tagung war Ehmke Diskussionsleiter („Verwaltung durch Subventionen“). Er gliederte souverän fünf Problemgruppen zum Thema und zog diese auch konsequent durch. Als Diskussionsleiter schöpfte er seine Befugnisse voll aus, ja er schaltete sich selbst in einem Sachbeitrag ein (S.  411); auch Fragen stellte er selbst (S.  413, 415). Er drängte einen Diskussionsredner sogar zu einer Präzisierung (S.  419). Immer wieder intervenierte er, um die Diskussion im Griff zu behalten (z.B. S.  421). Er stellte auch kritische Fragen an den Erstreferenten H.P. Ipsen (S.  427 f.). Überdies kam es erneut zu einem „Handgemenge“ mit K. Vogel (S.  432 f.) sowie zu einer Rückfrage an H.F. Zacher (S.  435); sogar den Österreicher F. Ermacora bedrängte er (S.  436). Seine Dankesworte waren dann wieder versöhnlich (S.  139 f.). Auf der Frankfurter Staatsrechtslehrertagung agierte Ehmke wiederum als Diskussionsleiter (VVDStRL 26 (1968), S.  260 ff.). Es ging um das Thema „Führung und Organisation der Streitkräfte“. Ehmke gab eine straffe Gliederung vor, die er auch durchzog (z.B. S.  275, 284) – all dies nicht ohne Ironie und Selbstironie (S.  292, 293). Bemerkenswert sind die konzentrierte Zusammenfassung eines Diskussionspunktes (S.  296 f.) sowie seine zwei Fragen an den Mitberichterstatter H. Quaritsch (S.  303 f.). Gegenüber den Vorschlag von G. Dürig, eine „einhellige Meinung des Gremiums festzustellen“ (S.  307), beruft sich Ehmke auf die Tradition, dass die Vereinigung nicht mit Empfehlungen hervortrete, er will nur das Ergebnis der Diskussion festhalten. Auch im Rückblick bestätigt sich nach Jahrzehnten, dass Ehmke auf unseren Tagungen einer der lebendigsten, ideenreichsten, kecksten und innovativsten Redeteilnehmer war. Nur ein G. Dürig war ebenso „spritzig“ und geistesgegenwärtig wie er (umso schmerzlicher war Ehmkes Austritt aus der Staatsrechtslehrervereinigung im Jahre 2015). Ein besonderes Wort verdient das Freiburger Ehmke-Seminar (1961–1966) – Ehmke war 1961 nach Freiburg berufen worden. Parallel zum legendären Hesse-Seminar, in dem die „Freiburger Schule“ (R. Herzog) begründet wurde, war das Seminar ungemein lebendig. Es zeichnete sich durch seinen offenen Diskussionsstil aus – gewiss eine Auswirkung aus den USA (Forschungsjahr Ehmkes in Berkeley, Jahre zuvor studierte er in Princeton). Überdies lud Ehmke gerne auch wissenschaftliche „Geg-

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ner“ wie E. Forsthoff zu offenen Gesprächen in Freiburg ein, auch Wahlverwandte wie K. Loewenstein. In Erinnerung bleibt auch ein Seminarbesuch bei P. Lerche in Westberlin (1962). Sportliche Einlagen, etwa Fußballspiele im Freiburger Umland sowie Schlittenfahrten und Raufereien im Schnee, gehörten zum Seminarprogramm. Fast legendär ist die gemeinsame Seminarreise nach Israel mit dem Bonner Seminar von E. Friesenhahn (Februar 1962). Man traf dort große jüdische Gelehrte, Juristen und Politiker. Nur ein Bundesverfassungsrichter Friesenhahn konnte, in der NS-Zeit unbelastet, diese Reise zusammen mit Ehmke wagen. Noch jahrelang rankten sich viele Anekdoten um diese Reise, die in dem in Bonn fortgeführten Friesenhahn-Seminar noch nach Jahrzehnten gerne erzählt wurden. H. Ehmke erhielt 1963 einen Ruf auf ein öffentlich-rechtliches Ordinariat an die Universität Bochum. Er lehnte diesen ab und verwandelte seine außerordentliche Professur in Freiburg in ein Ordinariat ebendort (1963). Schon 1966/67 wurde er Dekan der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg. Seine Auftritte in der Universitätsöffentlichkeit Freiburgs erregten großes Aufsehen. Besonders anschaulich berichtet darüber H. Maier in dem Buch: „Böse Jahre, gute Jahre“ (2011, S.  91 ff. und öfters). Es gibt aus dieser Zeit viele, schon legendär gewordene, humorvolle Zitate. Etwa über Hans Maier, den späteren Kultusminister in Bayern: „ ein alemannisches Lamm mit Schlitzohren“(S.  186) sowie „Der Maier hat geheiratet – eine blutjunge Frau!“ (S.  111). Ehmke gründete innerhalb der Freiburger Universität ein Diskussionsforum, das Politiker von außerhalb zu Vorträgen einlud (den „Ernst-Reuter-Kreis“). Diese „Politisierung“ der Universität gefiel damals nicht allen Kollegen. H. Maier begrüßte ihn aber mit viel Empathie: ein „Wirbelwind im geruhsamen Freiburg“. Die Rede zum 60. Geburtstag seines Habilitationsvaters U. Scheuner (1963), abgedruckt erst in: FS Scheuner zum 70. Geburtstag, 1973, S.  11 ff., ist ein Höhepunkt dieser wissenschaftlichen Literaturgattung. Ehmke hielt sie in Bonn. Er sprach sensibel, kenntnisreich und mit Wärme gegenüber dem Jubilar. Dieser war zu seiner Zeit ein Solitär in der Perlenkette der deutschen Staatsrechtslehrer. Ehmke konnte es sich auch leisten, Scheuner zu „mahnen“: das lang geplante Lehrbuch zum deutschen Verfassungsrecht doch noch zu schreiben – leider ohne Erfolg. Der Weg zum „politischen Professor“ öffnete sich nicht zuletzt durch Ehmkes Engagement und Gutachten im „Spiegel-Prozess“ (BVerfGE 20, 162 ff.) – am Ende ein „halber Sieg“, eine vier zu vier-Entscheidung. An der Seite des Schweizer Kollegen P. Schneider (Mainz) focht er mit einer Verfassungsbeschwerde für den Spiegel-Verlag bzw. dessen Herausgeber R. Augstein.

III. Der politische Weg von H. Ehmke in Bonn war durch große Erfolge und manche Enttäuschungen gekennzeichnet. Im Herbst 1969 als Direktkandidat eines Stuttgarter Wahlkreises in den Bundestag gewählt (als Wahlkämpfer trat er sogar im württembergischen Göppingen auf ), war er von 1969–1972 Chef des Kanzleramtes unter Willy Brandt. Er soll dort harsch und selbstbewusst „regiert“ haben. Legendär ist seine Antwort auf die Frage seines Fahrers, wohin er ihn bringen solle: „egal, ich

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werde überall gebraucht“. An der Seite von Willy Brandt setzte er sich für dessen Ostpolitik entscheidend ein. Zuvor war er ein Jahr als Nachfolger von G. Heinemann Justizminister, als dieser Bundespräsident wurde. Als Brandt in der Guillaume-Spionage-Affäre 1974 zurücktrat, schied Ehmke auch aus dem Kabinett aus, dem er zuletzt als Forschungs- und Postminister angehört hatte (1972). Bis 1994 gehörte Ehmke dem Deutschen Bundestag an. In der SPD-Fraktion war er für die Außen- und Sicherheitspolitik zuständig und knüpfte viele Freundschaften mit ausländischen Politikern. Im Grunde kehrte er zur Wissenschaft – von Ausnahmen abgesehen – nie wieder zurück, was viele Kollegen der deutschen Staatsrechtslehre sehr bedauert haben (er selbst schrieb in seinen Erinnerungen „Mittendrin“ (1994, S.  33): „Meine Herkunft aus der Wissenschaft, hat mich davon bewahrt, ganz in der Politik aufzugehen“). Immerhin gab es noch zwei reiche Bände: Der erste (Sammel-)Band trägt die Überschrift: „Das Porträt, Reden und Beiträge“ (1980). Neben Bilddokumentationen, Karikaturen und Anekdoten um und mit H. Ehmke finden sich seine eigenen Reden und Beiträge. Sie gelten etwa dem Thema „Demokratie und Rechtsordnung“ (S.  44 ff.) mit so wichtigen Stichworten wie „zur Verjährung“ sowie „Rechtsordnung und Verfassungsentwicklung“ (eine Bundestagsrede) sowie „Menschenrechte und Entspannung“ und „Was ist des Deutschen Vaterland?“ – gerade auch heute wieder lesenswert: das GG, (s)eine „Leitkultur“, „Verfassungskultur“, „Muttersprache“ sowie „Heimat“? Zuvor waren Sammelbände über die Politik der praktischen Vernunft (1969) und Politik als Herausforderung (1974/79) erschienen. Der zweite große Band, im Grunde Memoiren, ist Willy Brandt zum achtzigsten Geburtstag gewidmet: „Mittendrin – von der Großen Koalition zur großen Deutschen Einheit“ (1994). Hier einige Stichworte: „Der Renegat“, „Der Machtwechsel“, „Reformpolitik und Radikalismus“, „Zerreißproben“ (etwa der Streit um die Nachrüstung), „mit Entspannungspolitik gegen die Teilung“ (ebd. S.  34 ff., zum Spiegel-Prozess). Schon ein Blick in das Personenregister zeigt, mit wie vielen berühmten Persönlichkeiten Ehmke in Kontakt trat. Mit gewissem Stolz und sogar wohl mit Selbstkritik zitierte er hier die frühe Zurechtweisung durch seinen Göttinger Lehrer R. Smend (in dessen Seminar der fünfziger Jahre): „O doch, Herr Ehmke, mit etwas Tastsinn und etwas Taktgefühl, da gibt es eine geisteswissenschaftliche Methode.“ (S.  25). Derselbe Smend hat ihm später vorgeworfen, er sei der Politik zuliebe, der Wissenschaft untreu geworden (ebenda S.  28). Der Band hatte sogleich ein großes Echo in der allgemeinen Presse (zum Beispiel SZ vom 14. März 1994, S.  11: „Keine einfache Wahrheit“ sowie Badische Zeitung vom 3. Juni 1994: „Persönliche Chronik eines Mitgestalters der Ostpolitik.“, Das Parlament vom 14. Oktober 1994, S.  15: „Patchwork“ – „gelernter Sozialdemokrat“. Bemerkenswert ist auch die Schilderung seiner Begegnung mit H. Kelsen (aaO., S.  32). Wegbereiter und Freunde bzw. Kollegen widmeten ihm eine in jeder Hinsicht gelungene Geburtstags-Festschrift unter dem treffenden Titel: „Metamorphosen, Annäherung an einen vielfältigen Freund, Für H. Ehmke zum Achtzigsten“ (2007), (die Festschrift wurde in Bonn in Gegenwart auch von H. Maier aus München festlich überreicht). Der Verf. dieses Gedächtnisblattes schrieb den Beitrag „Der Wissenschaftler“ (aaO., S.  44 ff.) und versuchte, die reiche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der wissenschaftlichen Schriften Ehmkes einmal mehr nachzuzeichnen.

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Auch sind die meisten der von Ehmke als Erstreferent angeregten Freiburger juristischen Dissertationen (aaO., S.  60 Fn.  41) im einschlägigen Schrifttum bis heute noch präsent. Seinem Mentor A. Arndt widmete H. Ehmke, auf meine Bitte hin, zuvor selbst eine bewegende Würdigung ( JöR 50 (2002), S.  159–168). Ehmke seinerseits erhielt von K. Hesse, seinem Freund seit Göttinger Tagen, zum 65. Geburtstag im AöR ein eindrucksvolles Geburtstagsblatt (AöR 117 (1992), S.  1–3). In den Jahren 1963–66 hatte H. Ehmke zusammen mit den geschäftsführenden AöR-Herausgebern K. Hesse und P. Lerche eine höchst aktive Redaktionspolitik betrieben. So regte er etwa die „Rechtsprechungsberichte“ im AöR an, die heute hier und ganz allgemein fehlen – „Kommentierte Verfassungsrechtsprechung“ über viele Jahre und aus einer Hand bleibt ein Desiderat. Und er aktivierte das Rezensionswesen im öffentlichen Recht, das heute leider in jeder Hinsicht zurücktritt. In späterer Zeit meldete sich H. Ehmke noch zwei Mal mit seiner ganzen Kunst und Wissenschaft zu Wort. Der Aufsatz: „Europa, die zweite Chance“, in: Die Zeit vom 15.1.1998 zeigt einmal mehr, was die Wissenschaft an ihm hatte. Gleiches gilt für ein wohl letztes wissenschaftliches Engagement in Sachen „Reformpolitik und „Zivilgesellschaft““ (Vortrag im Rathaus Schöneberg, Berlin, 14.5.2001, S.  19 ff.). Der in vielen jüngeren Verfassungen auch in Übersee vorkommende Begriff der „Zivilgesellschaft“ wurde bisher noch nie so tiefgründig ausgelotet wie in dieser Berliner Rede. Ehmke konnte hier an seine eigenen frühen Arbeiten anknüpfen und das Thema mit großer Präzision im neuen Kontext deuten. Heute gefragt: Welche Legitimation haben NGOs? Sind sie nur selbstbezogen? Bilden sie einen Teil der Weltgesellschaft? Welchen Themen widmen sie sich, etwa dem Klimawandel, der Steuerflucht, der medizinischen Versorgung? Welche Kontrollen bedarf es gegenüber den NGOs? Wie muss die Transparenz ausgestaltet sein? Der Glückwunsch des Verf. zum achtzigsten Geburtstag von H. Ehmke (AöR 131 (2006), S.  507 ff.) suchte noch einmal das wissenschaftliche Gespräch mit diesem auch in seiner Wirkungsgeschichte großen Staatsrechtslehrer. Manche Schriften erreichen den Rang von „Klassikertexten im Verfassungsleben“. Mag Ehmke in den letzten Jahren auch Kriminalromane mit beträchtlichem Erfolg geschrieben haben – offenbar hatte er auch hier durchaus sein Publikum –: in diesem Gedächtnisblatt sei „nur“ des Gelehrten gedacht. Unser menschliches Andenken gilt dem ganzen Ehmke und unsere Verbundenheit seiner ganzen – mittlerweile durch Enkelkinder bereicherten – Familie.

Horst Ehmke kontrafaktisch: Prinzipien der Verfassungsinterpretation im Europarecht? von

Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz W. Scharpf, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln Die Begegnung mit Horst Ehmke war für mich in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall, aber zunächst auch eine unerwartete Herausforderung. Im Herbst 1961 war ich von einem einjährigen LL.M-Studium an der Yale Law Schule nach Freiburg in den Referendardienst zurückgekehrt. Im Gepäckhatte ich hunderte Filmstreifen eigenhändig fotografierter Urteile und Texte (Kopierer gab es ja noch nicht) und den Plan für eine Dissertation über die Political-Question-Doktrin in der Rechtsprechung des Supreme Court. Mein Konzept bezog sich auf die in Yale damals besonders engagiert geführte Kontroverse über die Grenzen der Legitimität des Judicial Review zwischen dem Civil-Liberties-Fundamentalisten Charles Black und Alexander Bickel, der in der Tradition von Learned Hand und Felix Frankfurter den Judicial Self-Restraint gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber verteidigte. In Freiburg, so dachte ich, würde mein künftiger Doktorvater Arnold Bergstraesser, der als Politologe auch bei den Juristen Promotionsrecht hatte, das Vorhaben wohlwollend unterstützen, aber bei meinem Thema wäre ich wohl auf mich gestellt. Horst Ehmke, der kurz vorher in Freiburg angekommen war, lernte ich zunächst als den Führer einer aufregenden Seminarreise zur kurz zuvor erbauten Berliner Mauer kennen, und dann als Gründer des Ernst-Reuter-Kreises, der unter den Freiburger Sozialdemokraten die Distanz zwischen Universität und Stadt überbrücken sollte. Einen so politisch engagierten, selbstbewusst-kommunikationsfreudigen und offenbar wissenschaftlich in jeder Hinsicht satisfaktionsfähigen Juraprofessor hatten wir in Freiburg noch nicht gekannt. Die eigentliche Überraschung erlebte ich jedoch, als ich seine 1961 veröffentliche Habilitation1 und seinen Mitbericht auf der 1961er Tagung der Staatsrechtslehrer2 in die Hände bekam. Hier war jemand, der 1   Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung. Karlsruhe 1961. Hinfort: W+V. 2   Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53–102, zitiert nach Horst Ehmke, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, hg. von Peter Häberle, Königstein/Ts. 1981, 329–371. Hinfort: Prinzipien.

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einzige unter den damaligen deutschen Juristen und Politologen (wenn man von Ernst Fraenkels meisterlicher Darstellung des amerikanischen Regierungssystems absieht 3), der nicht nur über die amerikanische Verfassungsrechtsprechung gearbeitet, sondern auch gerade die Art von Fragen analysiert hatte, mit denen ich mich auseinandersetzen wollte. Für den Doktoranden war dies ein unverhoffter Gewinn, aber auch ein Problem. Ehmke war, so merkte ich schnell, (nicht nur) gegenüber seinen Mitarbeitern und Schülern in jeder Hinsicht freundschaftlich, offen und hilfsbereit, sondern er war auch ein unerbittlicher Debatter, der mit seiner überlegenen Sachkenntnis und Rhetorik in der Diskussion um jeden Punkt kämpfte. Es war gefährlich, ihm halbfertige Thesen zu präsentieren, wenn man die eigene Linie erst noch finden wollte. Ich blieb deshalb formell Doktorand bei Bergstraesser, und arbeitete, soweit das Referendariat dies erlaubte, in der Bibliothek des Heidelberger Max-Planck-Instituts. Gelernt habe ich damals vor allem von seiner Analyse der Rechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung: Genau in der Darstellung der Sachverhalte und in der Rekonstruktion der entscheidungsrelevanten Rechtsfragen und Argumente, informativ in der Einordnung der Entscheidungen und ihrer Bedeutung in den Kontext der jeweiligen sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen. Kurz: vorbildlich in der juristischen Arbeit an und in einem fremden Rechtssystem, in der Sensibilität für dessen Prägung durch die Common-Law-Tradition, und in der wachen Aufmerksamkeit für die ökonomische und politische Bedingtheit und Wirksamkeit der Verfassungsrechtsprechung in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die direkte Auseinandersetzung mit Horst Ehmke habe ich immer dann gesucht, wenn ich bei der Analyse in meinem Feld zu Folgerungen kam, die von seiner Interpretation in benachbarten Feldern abzuweichen schienen. Dann gab es in der Tat die Debatten um Sieg oder Niederlage – aber auch die Anerkennung begründeter Argumente, und manchmal die freimütige Selbstkorrektur beim nächsten Treffen. Profitiert hatte ich bei meiner Arbeit vor allem von dem Konzept „funktionell-rechtlicher Interpretationsprinzipien“, das er in der Staatsrechtslehrertagung entwickelt hatte, und das es mir erlaubte, die Begründung und Reichweite der Political-Question-Doktrin präziser und enger zu fassen, als das in der amerikanischen Literatur (und auch bei Ehmke selbst) bis dahin der Fall war.4 Da Arnold Bergstraesser inzwischen verstorben war, hatte Ehmke auch das Erstgutachten zu meiner Dissertation zu fertigen – und das Manuskript enthält am Rand neben vielen Ausrufungs- und manchen Fragezeichen auch zahlreiche Anmerkungen in seiner kleinen, präzisen Schrift zu weiter strittigen Punkten, die aber seinem Votum nicht im Wege standen. Damit aber genug von dem Doktoranden und seinem weiteren Weg über die Yale Law School und Freiburg nach Konstanz. Bei der erneuten Lektüre von „Wirtschaft und Verfassung“ hat mich neben der fachlichen Qualität eine weitere Besonderheit der Arbeit noch mehr als früher beeindruckt: Motiv und Rechtfertigung für fast 600 Seiten einer detaillierten Rekonst  Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Opladen 1960.   Fritz Wilhelm Scharpf, Grenzen der politischen Verantwortung: Die political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court. Karlsruhe 1965; ders., Judicial Review and the Political Question – a Functional Analysis. In: Yale Law Journal 75 (1965), 517–597. 3 4

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ruktion der amerikanischen Rechtsprechung zur Wirtschaftsregulierung war ja die einleitende – immerhin auch 90 Seiten umfassende – Auseinandersetzung mit der damaligen deutschen Diskussion über eine „Wirtschaftsverfassung“. Nach diesem Plädoyer gegen die Konstitutionalisierung einer ökonomischen Theorie und für ein die Gestaltungschancen des demokratischen Gesetzgebers schützendes „positives Kompetenzverständnis“, hätte man eine zugespitzte Kritik der dogmatischen Fehlentwicklung seit den1890er Jahren und die Affirmation ihrer glorreichen Korrektur durch die Verfassungsrevolution von 1937 erwarten können. Eben dies war ja auch in den USA der Tenor einer progressiven Verfassungsgeschichte, die ich als Student und dann als Kollege an der Yale Law School kennenlernte. Selbstverständlich finden die kritischen Topoi dieser Stilisierung auch bei Ehmke ihren Platz: die Konstitutionalisierung einer Laissez-faire-Ökonomie, unter der einzelstaatliche Regulierungen an wirtschaftsliberalen Grundrechten und bundesrechtliche an den föderalstaatlichen Grenzen der Commerce-Kompetenz scheiterten, und die schließlich in der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre die wichtigsten New-Deal-Gesetze fast unbesehen für verfassungswidrig erklärte. Aber Ehmke unterläuft polemische Erwartungen, indem er nicht nur die nun dominierende Preferred-Freedoms-Doktrin skeptisch analysiert, sondern auch die aus „nachrevolutionärer“ Sicht falschen Entscheidungen in ihrem jeweiligen rechtlichen, sozio-ökonomischen und politischen Kontext interpretiert und so eher die Kontinuität als die Brüche in der Co-Evolution von Recht, Wirtschaft und Politik in der amerikanischen Verfassungsgeschichte verdeutlicht. Die Breite und Tiefe dieser Analyse hatte in der damaligen amerikanischen Literatur kein Gegenstück; und die späteren Kontroversen über die Legitimität und die Folgen der Revolution von 1937 hätten durch die Rezeption von Ehmkes Arbeit viel gewinnen können. Ehmke hat eine Übersetzung offenbar nie in Betracht gezogen, weil es ihm auf die deutsche Diskussion ankam. Für die aber war der Zugang über 600 Seiten amerikanischer Verfassungsgeschichte mühsam, insbesondere da ja die deutsche Verfassungsrechtsprechung schon seit dem Investitionshilfe-Urteil von 1954 (BVerfGE 4, 7) offenbar gar nicht versucht war, die amerikanische Fehlentwicklung der Jahrzehnte vor 1937 nachvollziehen zu wollen. Im Gegenteil, die Ablehnung einer über den generell wirksamen Schutz der Grundrechte hinausgehenden, „wirtschaftsverfassungsrechtlichen“ Restriktion der wirtschaftspolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hätte nicht deutlicher ausfallen können: Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde „soziale Marktwirtschaft“. Die „wirtschaftspolitische Neutralität“ des Grundgesetzes … ermöglicht dem Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet … Daher ist es verfassungsrechtlich ohne Bedeutung, ob das Investitionshilfegesetz im Einklang mit der bisherigen Wirtschafts- und Sozialordnung steht und ob das zur Wirtschaftslenkung verwandte Mittel „marktkonform“ ist (BVerfGE 4, 7, 17f, 1954; ständige Rechtsprechung, BVerfGE 50, 290, 336ff, 1979).

Ehmkes grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema „Wirtschaftsverfassung“ richtete sich also in erster Linie gegen verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Argumente in den wissenschaftlichen Diskursen der frühen Bundesrepublik, die

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mit (nicht nur) ordo-liberalen Begründungen die Bindung der Politik und des Gesetzgebers an eine dem Grundgesetz vorgegebene oder aus ihm zu erschließende spezifisch liberale Ordnung der Wirtschaft behaupteten. Bei einem Blick auf die nachfolgende Literatur könnte man fast vermuten, dass Ehmkes massive Intervention diese Diskussion beendet habe.5 Vielleicht schwand aber auch das Interesse an dem Thema der Wirtschaftsverfassung in dem Maße, wie (nicht nur in dieser Frage) die Orientierung an der „ständigen Rechtsprechung“ auch im deutschen Verfassungsrecht gegenüber der akademischen „Lehre“ an Einfluss gewann. Wie auch immer: als der „politische Professor“ Ehmke 1967 von Freiburg nach Bonn ging, um Staatsekretär in im Justizministerium der Großen Koalition zu werden, war unter dem Grundgesetz mit wirtschaftsverfassungsrechtlichen Schranken der Politik nicht mehr zu rechnen. Kurz vorher freilich hatten zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs die Basis für die umso machtvollere Wiederkehr der Wirtschaftsverfassung im Europarecht geschaffen. Diese hatten die europäischen Verträge nicht als völkerrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten interpretiert, sondern als Grundlage einer eigenständigen, dem nationalen Recht übergeordneten Rechtsordnung. Deren Ziel war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Und wo ihre Regeln unmittelbarer Anwendung fähig waren, da waren sie als subjektive Rechte der Marktteilnehmer zu interpretieren, die vor nationalen Gerichten gegen die Mitgliedstaaten eingeklagt werden konnten.6 Diese Konstitutionalisierung des europäischen Rechts war, wie wir heute wissen, durch internationale „Euro-LawGrup­pen“ von akademisch und praktisch interessierten Rechtswissenschaftlern, Anwälten und europäischen Beamten in Publikationen und Konferenzen vorbereitet und propagiert worden,7 und sie wurde in Deutschland insbesondere von Ernst-Joachim Mestmäcker in offensiver Auseinandersetzung mit der staatsrechtlichen Ablehnung einer Wirtschaftsverfassung verteidigt.8 Aber solange es in Europa dabei nur um die explizit vereinbarte Abschaffung von Zöllen, um die (anfangs von einem deutschen Kommissar der Wettbewerbs-Kommission betriebene9) Entwicklung eines europäischen Kartellrechts nach deutschem Vorbild oder um das Verbot der protektionistischen Diskriminierung ausländischer Wettbewerber ging, wurde diese Entwicklung damals, wie Ehmke später im Gespräch bestätigte, weder im deutschen Staatsrecht noch in der deutschen Politik aufmerksam verfolgt.

5   Vgl. aber Albert Krölls, Das Grundgesetz als Verfassung des staatlich organisierten Kapitalismus: Politische Ökonomie des Verfassungsrechts, Wiesbaden 1988. 6   Van Gend & Loos, C-26/62 (1963) und Costa v. Enel, C6/64 (1964). 7   Karen J. Alter, Jurist Advocacy Movements in Europe: The Role of Euro-Law Associations in European Integration (1953–1975), in: dies., The European Court’s Political Power. Selected Essays, Oxford 2009, 63–91; Antoine Vauchez, “Integration through Law”: Contribution to a Socio-history of EU Political Commonsense. EUI Working Papers RSCAS 2008/10, Florenz 2008. 8   Ernst-Joachim Mestmäcker, Offene Märkte im System unverfälschten Wettbewerbs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Böhm, Karlsruhe 1965, 345–391. 9   David J. Gerber, Constitutionalizing the Economy: German Neo-liberalism, Competition Law and the ‘New’ Europe. In: American Journal of Comparative Law 42 (1988), 25–84.

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Kurz nach Ehmkes Wechsel in die Politik hatte auch ich die Arbeit an Fragen des Richterrechts abgeschlossen.10 Auf einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl in Konstanz und später ans WZB berufen, unternahm ich empirische Untersuchungen zur Reorganisation der Ministerialverwaltung und zur „Politikverflechtung“ zwischen Bund und Ländern im deutschen Föderalismus; danach kamen in den achtziger Jahren vergleichende Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik europäischer Länder und schließlich am Kölner MPI für Gesellschaftsforschung auch Untersuchungen zur europäischen Integration. Erst in diesem Zusammenhang stieß ich dann wieder auf wirtschaftsverfassungsrechtliche Strukturen, die der von Ehmke analysierten Fehlentwicklung im amerikanischen Recht vor 1937 zu entsprechen schienen. Auslöser meines Interesses war die bis dahin offenbar unbemerkte Asymmetrie zwischen „negativer“ und „positiver Integration“ – also zwischen der Beseitigung nationaler Integrationshindernisse und der positiven Gestaltung europäischer Verhältnisse durch europäische Politik und Gesetzgebung. Während die erste offenbar zügig vorankam, war die europäische Gesetzgebung durch gravierende Strukturund Interessenunterschiede zwischen den Mitgliedstaten und das Erfordernis einstimmiger Entscheidungen oder qualifizierter Mehrheiten im Ministerrat in vielen Bereichen stark behindert oder sogar blockiert. In der Tendenz führte dies zu Konstellationen, in denen der nationale Gesetzgeber nach den Regeln der negativen Integration nicht mehr handeln durfte, während die europäische Gesetzgebung aus politisch-strukturellen Gründen zu positivem Handeln nicht in der Lage war.11 Das hier drohende Problemlösungsdefizit der europäischen Mehrebenenpolitik entsprach also dem Muster im amerikanischen Föderalismus vor 1937, als sowohl der Bund als auch die Einzelstaaten an effektiver wirtschafts- und sozialpolitischer Regulierung gehindert waren. Freilich ist im europäischen Falle die Handlungsfähigkeit der übergeordneten Ebene nicht rechtlich, sondern politisch beschränkt. Die Reichweite und Durchschlagskraft der negativen Integration dagegen, die inzwischen die sozio-ökonomische Gestaltungsfreiheit der nationalen Politik strikt begrenzt, ist in erster Linie ein Ergebnis der erfolgreichen Konstitutionalisierung von „Wirtschaftsfreiheiten“ durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Ein solches Ergebnis war auch nach den Grundsatzentscheidungen der frühen 60er Jahre zur Suprematie und unmittelbaren Anwendbarkeit des Europarechts nicht notwendigerweise zu erwarten.12 Wenn man einen gemeinsamen Markt entwickeln wollte, dann waren zwar Regeln gegen die protektionistische Diskriminierung ausländischer Anbieter in der Tat notwendig, aber die ebenfalls wünschenswerte Harmonisierung unterschiedlicher aber nicht diskriminierender nationaler Regeln, die als „nicht-tarifäre Handelshindernisse“ wirken konnten, blieb ja zunächst dem euro10   Fritz Scharpf, Die politischen Kosten des Rechtsstaats. Eine vergleichende Studie der deutschen und amerikanischen Verwaltungskontrollen. Tübingen 1970. 11   Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch? Frankfurt M. 1999, Kap.  2 . 12   Friedrich A. von Hayek freilich hatte schon in einem 1939 veröffentlichten Aufsatz (The Economic Conditions of Interstate Federalism. In: New Commonwealth Quarterly 5(1939), 131–149. Abgedruckt in: ders., Individualism and Economic Order, Chicago 1948, 255–272) prognostiziert, dass eine nach dem Krieg zu erwartende Integration der europäischen Sozialstaaten eine radikale Liberalisierung zur Folge haben werde.

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päischen Gesetzgeber vorbehalten. Als aber in den Ölpreiskrisen der 70er Jahre die europäischen Wirtschaften stagnierten, da stockte auch die Harmonisierung. Als institutionelle „Eurosklerose“ deklariert, ließ dies Forderungen nach radikaler Liberalisierung plausibel erscheinen, und diesen kam der Gerichtshof mit zwei systemändernden Urteilen entgegen. Dassonville13 interpretierte die Vertragsklausel zur Warenverkehrsfreiheit nicht mehr nur als Diskriminierungsverbot, sondern als unmittelbar geltendes Beschränkungsverbot: Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen.

Und da alle die nationale Ökonomie treffenden Regelungen auch – mittelbar oder potentiell – den internationalen Austausch berühren, können nun im Prinzip auch alle von privaten Klägern und nationalen Gerichten im Vorlageverfahren oder von der Kommission im Vertragsverletzungsverfahren angegriffen werden. Die zweite Entscheidung, Cassis de Dijon14 bestätigte die fast unbegrenzte Reichweite der Warenverkehrsfreiheit, konditionierte aber deren Anwendung durch eine Prüfung der „Verhältnismäßigkeit“ der angegriffenen Maßnahme. Sofern Inländer und Ausländer gleich behandelt werden, können wirtschaftlich belastende Regeln immerhin dann angewandt werden, wenn sie sich im Hinblick auf einen vom Gericht anerkannten öffentlichen Zweck als wirksam und notwendig erweisen.15 Wenn sie aber diesen Test nicht bestehen, dann dürfen Produkte, die in einem anderen Unionsland legal sind, nach dem Prinzip der „wechselseitigen Anerkennung“ nicht vom heimischen Markt ausgeschlossen werden. Angesichts der erwartbaren rechtlichen, administrativen und politischen Probleme der wechselseitigen Anerkennung16 waren die Mitgliedstaaten dann auch bereit, in der „Einheitlichen Europäischen Akte“ für die Harmonisierung der Binnenmarktregeln von der Einstimmigkeit im Rat zur Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen. Damit freilich hatte die weithin gefeierte „Integration Through Law“17 ihr Ziel noch keineswegs erreicht: In der Folge wurden die für den Warenhandel formulierten Regeln umstandslos auch auf die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit, die Freiheit des Kapitalverkehrs und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer angewandt. Und als „wirtschaftliche Grundfreiheiten“ gewannen sie im Europarecht die Qualität und Durchschlagskraft von Grundrechten, deren Reichweite auch durch   Dassonville. C-8/74, Ziff.  5 der Entscheidungsgründe (1974).   Cassis de Dijon. C-120/78 (1979). 15   Der Proportionality Test wurde inzwischen in der „Gebhard-Formel“ (C-55/94) standardisiert: „… national measures liable to hinder or make less attractive the exercise of fundamental freedoms guaranteed by the Treaty must fulfil four conditions: they must be applied in a non-discriminatory manner; they must be justified by imperative requirements in the general interest; they must be suit­able for securing the attainment of the objective which they pursue; and they must not go beyond what is necessary in order to attain it.“ 16   Susanne K. Schmidt (ed.), Mutual Reognition as a New Mode of Governance, London 2008. 17   Mauro Capelletti, Monica Seccombe, Joseph H. H. Weiler (eds.), Integration Through Law: Europe and the American Federal Experience, Berlin 1988. 13 14

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explizite Kompetenzvorbehalte nicht beschränkt werden konnte.18 Vor allem aber entfalteten sie, ebenso wie die Anwendung des Wettbewerbsrechts auf Leistungen der Daseinsvorsorge und der sozialen Dienste, eine auf stetige Expansion drängende prozedurale Dynamik.19 Für Unternehmen, Anwaltsfirmen und ehrgeizige nationale Untergerichte sind die grundrechtsähnlichen Grundfreiheiten angesichts der prinzipiellen Unbestimmtheit ihrer Reichweite geradezu eine Einladung dazu, immer neue Forderungen auf Beseitigung ökonomisch belastender oder sonst unerwünschter nationaler Regeln im Vorlageverfahren an ein Gericht zu adressieren, dessen integrationsfreundliche teleologische Vertragsinterpretation 20 dafür gute Aussicht auf Erfolg bietet. Und auch wenn keineswegs alle Vorlagen Erfolg haben – die erfolgreichen erzeugen einen konstitutionellen Sperrklinkeneffekt, hinter den weder die nationale Politik noch der europäische Gesetzgeber in Zukunft zurückgehen können. Wie zu erwarten hat das europäische Richterrecht deregulierenden und liberalisierenden Einfluss auf das Recht aller Mitgliedstaaten. Aber angesichts der strukturellen Unterschiede zwischen „liberalen“ und „koordinierten Marktwirtschaften“ und zwischen „liberalen“, „christdemokratischen“ und „sozialdemokratischen Sozialstaaten“21 ist es in seiner Wirkung keineswegs neutral, sondern befördert die „liberale“ Transformation der stärker koordinierten, regulierten und stärker auf staatliche, korporative oder frei-gemeinnützige statt kommerzielle Leistungserbringung setzenden skandinavischen und kontinentalen politischen Ökonomien.22 Die inzwischen erreichte Ausdehnung des Rechts der Wirtschaftsfreiheiten wird jetzt von Susanne Schmidt umfassend dargestellt und analysiert.23 Sie geht weit über die Beseitigung protektionistischer Handelshindernisse hinaus und erfasst nicht nur die Märkte für Güter-, Dienstleistungen und Kapital, die Unternehmensverfassungen und die Arbeitsbeziehungen im privaten Sektor, sondern sie verändert auch die Strukturen der Leistungserbringung und Finanzierung in den nationalen Systemen der Daseinsvorsorge, der sozialen Dienste, des Gesundheitswesens und der Infrastrukturfunktionen mit der steten Tendenz zur Privatisierung und Ausweitung des Marktwettbewerbs.24 Und der EuGH muss sich dabei (anders als der Supreme Court 18   Z.B., hatten die „Herren der Verträge“ in Artikel 153, Abs.  4 und 5 oder 168, Absatz 7 AEUV versucht, die Kompetenzen der EU in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik und im Gesundheitswesen zu beschränken – was den EuGH regelmäßig zu der Feststellung veranlasste, auch in Ausübung ihrer unbestrittenen Kompetenzen seien die Mitgliedstaaten selbstverständlich an die Freiheitsrechte des Vertrages gebunden; Kohll C-158/96, 19–20. 19   Fritz W. Scharpf, Perpetual Momentum: Directed and Unconstrained? In: Journal of European Public Policy 19 (2012), 127–139. 20   Giulio Itzcovich, The Interpretation of Community Law by the European Court of Justice, in: German Law Journal 10 (2009), 537–560. 21   Peter A. Hall, David Soskice (eds), Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001; Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990. 22   Fritz W. Scharpf, The Asymmetry of European Integration, or why the EU Cannot Be a „Social Market Economy”, in: Socio-Economic Review 8 (2010), 211–250. 23   Susanne K. Schmidt, The European Court of Justice and the Policy Process: The Shadow of Case Law. Oxford 2018. 24   Dies ist freilich keineswegs die ganze Geschichte. Parallel zur Ausweitung der Wirtschaftsfreiheiten hat die an die Gleichstellung von Männern und Frauen anknüpfende Entwicklung eines allgemei-

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in dem berüchtigten Lochner-Urteil 25) weder auf eine libertäre Philosophie der Vertragsfreiheit noch auf überpositiv-vernunftrechtliche Prinzipien einer liberalen Ordnung26 berufen. Zur Erklärung der asymmetrisch liberalisierenden Wirkung der Rechtsprechung im Verhältnis zwischen Individualinteressen und den Funktionen staatlicher Politik genügt die prozedurale Dynamik der Rechtsverfolgung im europäischen Recht. Die Asymmetrie wird noch verstärkt durch die fortdauernde politische Schwäche der europäischen Gesetzgebung. Unabhängig von der vielleicht noch nicht abschließend geregelten Frage, ob denn die „Grundfreiheiten“ des Wirtschaftsverkehrs im strikten Sinne auch den Handlungsspielraum des europäischen Gesetzgebers beschränken, würde eine wirtschaftsgestaltende europäische Politik ja an hohen Konsensschwellen im Rat scheitern. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die auf hohen Touren laufende europäische Gesetzgebungsmaschine ganz überwiegend mit der (von Konsensproblemen entlasteten) Kodifizierung des Richterrechts beschäftigt ist.27 Mit anderen Worten, mangels politisch gestaltungsfähiger Gegenmacht kann sich die liberalisierende und individualisierende Tendenz der expansiven Grundrechts-Interpretation im Europarecht mit quasi-entropischer Wirkung durchsetzen. So weit, so schlimm. Die Parallelen zu den von Ehmke analysierten Fehlentwicklungen des amerikanischen Verfassungsrechts sind offensichtlich,28 aber nicht vollständig. Anders als der amerikanische Supreme Court29 hat der EuGH die Kompetenzen des europäischen Gesetzgebers nie durch die extensive Interpretation von Vorbehaltsrechten der Mitgliedstaaten beschränkt 30 und auch sein „positives Kompetenzverständnis“ gegenüber anderen EU-Organen wie etwa der Zentralbank31 steht nicht in Frage. Umso deutnen Grundrechts auf Nicht-Diskriminierung an Bedeutung gewonnen. Zugleich wurde die zunächst rein ökonomisch motivierte Freizügigkeit der Arbeitnehmer auf Arbeitsuchende, Familienangehörige und Studierende ausgeweitet und gewann damit immer mehr den Charakter eines europäischen Grundrechts auf den freien Zugang Gebietsfremder zu den Leistungen der nationalen Sozialsysteme. Wie Susanne Schmidt (a.a.O.) zeigt, konvergieren beide Entwicklungen nun in der expansiven Rechtsprechung zur diskriminierungsfreien Wahrnehmung eines europäischen Bürgerrechts. Hier kann zwar von Wirtschaftsliberalisierung nicht mehr die Rede sein – was aber nichts daran ändert, dass auch die richterrechtliche Expansion nicht ökonomisch motivierter Grundrechte sich gegen die Kompetenz des demokratisch legitimierten nationalen Gesetzgebers wendet. 25   198 U.S.  45 (1905); Ehmke W+V, 345–347. 26   Vgl. etwa Ernst-Joachim Mestmäcker, Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union. Baden-Baden 2003, darin insbesondere: On the the Legitimacy of European Law (1993), 133–152; Bausteine zu einer Wirtschaftsverfassung – Franz Böhm in Jena (1995), 116–132 und Kants Rechtsprinzip als Grundlage der europäischen Einigung (1998), 78–91. 27   Dorte Sindbjerg Martinsen, An Ever More Powerful Court? The Political Constraints of Legal Integration in the European Union, Oxford 2015. 28   Miguel Poiares Maduro, We The Court: The European Court of Justice and the European Economic Constitution. A Critical Reading of Article 30 of the EC Treaty, Oxford 1998; Catherine Barnard, Restricting Restrictions: Lessons for the EU from the US? In: Cambridge Law Journal 68 (2009), 575–606. 29   Der hatte die Regulierung der Kinderarbeit durch den Bund aus Rücksicht auf die einzelstaatliche police power untersagt: Hammer v. Dagenhart, 247 U.S.  251 (1918). 30   Bruno De Witte, Exclusive Member State Competences – Is There Such a Thing? In: Sacha Garben, Inge Govaere (eds.), The Division of Competences Between the EU and the Member States, Oxford 2017, 59–73. 31   Pringle, C-2012/756 (2012) und Gauweiler, C-62/14 (2015).

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licher sind dagegen die Parallelen zur doppelten Beschränkung der einzelstaatlichen Politik, einerseits durch die Sperrwirkung einer als ausschließlich interpretierten Commerce-Kompetenz des Bundes (negative Commerce Clause)32 und andererseits durch die Grundrechts-Judikatur zum Economic Due Process.33 Diese Rechtsprechung wurde in der Verfassungsrevolution von 1937 korrigiert. Seitdem ist die Wirtschaftsund Sozialpolitik des Bundes wie die der Einzelstaaten von wirtschaftsverfassungsrechtlichen Schranken befreit. Der Bundesgesetzgeber ist bei der Ausübung der Commerce-Kompetenz weder in der Wahl der damit verfolgten Zwecke noch durch eine für die Einzelstaaten reservierte Police Power beschränkt.34 Wo jedoch der Bundesgesetzgeber nicht gehandelt hat, entfällt auch die Beschränkung der Einzelstaaten durch die negative Commerce Clause. Vor allem aber wurde die Zweckentfremdung der nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zur Festigung der Bürgerrechte der früheren Sklaven eingeführten Due-Process-Grundrechte radikal beseitigt, so dass auch das politische Handeln der Einzelstaaten nicht mehr durch Economic-Due-Process-Dogmen beschränkt wird. So weit, so gut. Im Ergebnis hat die amerikanische Rechtsprechung sich selbst korrigiert, indem unter dem Eindruck einer kritischen Fachdiskussion, einer oppositionellen öffentlichen Meinung und des Wahlerfolgs des New-Deal-Präsidenten ein zuvor schon zweifelnder Richter sein Votum und damit eine knappe 5:4-Mehrheit durch die konträre ersetzte.35 Vergleichbare Faktoren, die eine Selbstkorrektur der europäischen Rechtsprechung erzwingen könnten, sind freilich nicht in Sicht. Zwar wächst in Europa ein Krisenbewusstsein, das zwischen tiefer Depression, unerbittlicher Verteidigung des Status Quo und visionärer Beschwörung der „Vereinigten Staaten von Europa“ oszilliert, aber in der politischen Auseinandersetzung geht es nicht um die EuGH-Judikatur. Und auch in akademischen Diskursen wird ihr Beitrag zur europäischen Malaise jedenfalls vom juristischen Mainstream ignoriert. Horst Ehmke hat nach seinem Abschied vom Staatsrecht und dann von der deutschen Politik auf meine zunehmend kritischen Berichte aus der Europaforschung eher abwehrend reagiert. Wie für viele Zeitgenossen aus der Flakhelfer-Generation waren auch für ihn Fortschritte der europäischen Integration prinzipiell positiv konnotiert. Eben deshalb fasziniert mich heute die kontrafaktische Frage nach dem möglichen Beitrag Ehmkes, vorausgesetzt er wäre beim Staatsrecht geblieben und hätte sich auch für das Europarecht interessiert, zu einer an den Befunden von „Wirtschaft und Verfassung“ und den „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ orientierten Jurisprudenz der europäischen Integration. Eine solche Jurisprudenz hätte an der politisch-strukturellen Schwäche des europäischen Gesetzgebers unmittelbar nichts ändern können. Und sie hätte wohl Mest  Ehmke, W+V, 117–120; Julian N. Eule, Laying the Dormant Commerce Clause to Rest, in: Yale Law Journal 91 (1982), 425–485. 33   Ehmke, W+V, 269–380; Note 1990: Resurrecting Economic Rights: The Doctrine of Economic Due Process Reconsidered, in: Harvard Law Review 103 (1990), 1363–1383; Michael J. Philips, The Lochner Court, Myth and Reality: Substantive Due Process from the 1890s to the 1930s, Westport 2001. 34   United States v. Darby, 31 U.S.  100 (1941); Scharpf, FN 4, 335–339. 35   William E. Leuchtenburg, The Supreme Court Reborn: The Constitutional Revolution in the Age of Roosevelt, Oxford 1995. 32

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mäcker und anderen Promotoren einer europäischen Wirtschaftsverfassung zugeben müssen, dass das Vertragsziel des gemeinsamen Marktes einen Grundbestand gemeinsamer Regeln erforderte. Deshalb unterstelle ich auch, dass zumindest im pro-europäischen deutschen Kontext von 1963 und 1964 juristischer und publizistischer Widerstand gegen die EuGH-Entscheidungen zur Suprematie und Direktwirkung des Vertragsrechtes nicht hätte überzeugen können. Die entscheidende Weiche hätte man dann in den siebziger Jahren erreicht, als Dassonville und Cassis über den Schutz ausländischer Marktteilnehmer vor diskriminierenden Maßnahmen hinausgingen und anstelle der lahmenden gesetzlichen Harmonisierung die Kompetenz zur Ersatzvornahme durch Richterrecht in Anspruch nahmen. Dem allerdings hätte man unter den Prämissen von „Wirtschaft und Verfassung“ und der „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ grundsätzlich widersprechen können und müssen. Zwar geht es dort unter materiell-rechtlichen und funktionell-rechtlichen Aspekten immer um die Grenzen der richterlichen Rechtsgestaltung im Verhältnis zu der konstitutionellen Kompetenz eines funktionsfähigen und politisch legitimierten Gesetzgebers auf gleicher Verfassungsebene.36 Aber auch wenn damals die Harmonisierung durch den europäischen Gesetzgeber aus politischen Gründen langsamer als ökonomisch erwünscht voranging, hätte dies in einer staats- und europarechtliche Diskurse integrierenden Jurisprudenz keineswegs die Selbstermächtigung des richterlichen Gesetzgebers legitimeren können. Stattdessen hätte die explizite Verweigerung der integration through law vielleicht den Druck ökonomischer Interessen auf die europäische Gesetzgebung erhöht und damit die Initiativen der Kommission in ähnlicher Weise stimuliert, wie dies nach Cassis unter der Drohung der wechselseitigen Anerkennung geschah. In jedem Fall aber wäre damit eine Fehlentwicklung vermieden worden, in der die europäische Rechtsprechung die (negative) ökonomische37 Integration ungeachtet des Rückstandes der politischen Integration Europas immer weiter vorangetrieben hat. Das hätte spätere Fehlentscheidungen der europäischen Regierungen nicht ausgeschlossen, die ihrerseits unter dem Einfluss wirtschaftsliberaler Überzeugungen38 die ökonomische und monetäre Integration radikalisierten. Aber es hätte immerhin verhindert, dass der europäische Gesetzgeber trotz politischen Widerstandes (etwa im Falle der Dienstleistungsrichtlinie) gezwungen ist, die von der richterlichen Interpretation des Primärrechts definierte Linie im Sekundärrecht zu systematisieren.39 Wenn man aber unterstellen müsste, dass Dassonville und Cassis nicht zu verhindern waren, dann bleibt es auch bei der deregulierenden, liberalisierenden und individualisierenden Wirkung des europäischen Richterrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Diese entspricht den von Ehmke kritisierten Postulaten einer 36  Auch der nach 1937 geltende Verzicht der amerikanischen Rechtsprechung auf die „negative commerce clause“ setzt ja einen handlungsfähigen Bundesgesetzgeber und eine schon weitgehend integrierte Nationalwirtschaft voraus. 37   Bei vielen EuGH-Entscheidungen kann man auch den wirtschaftlichen Nutzen durchaus bezweifeln. Die Konsequenz der juristischen Logik folgt ja nicht notwendigerweise der ökonomischen: Ernst-Joachim Mestmäcker, A Legal Theory without Law. Posner v. Hayek on Economic Analyses of Law. Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Bd.  174, Tübingen 2008. 38   Nicolas Jabko, Playing the Market: A Political Strategy for Uniting Europe, 1985–2005, Ithaca 2006. 39   Martinsen, FN 27.

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„Wirtschaftsverfassung“.40 Aber die Kritik könnte hier nicht aus der von Ehmke unterstellten horizontalen Relation zwischen dem nationalem Gericht und dem nationalem Gesetzgeber abgeleitet werden, sondern müsste in der vertikalen Beziehung zwischen zentralstaatlichem Recht und gliedstaatlicher Politik begründet werden. Dazu finden sich bei Ehmke kaum Ansätze. Er hatte zwar unmittelbar nach der Promotion bei Rudolf Smend seine berufliche Lauf bahn als wissenschaftlicher Assistent im Rechtsausschuss des Bundesrates mit einer Fallsammlung zur Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen begonnen,41 aber sein Verfassungsdenken war auf die Bundesebene bezogen. Und auch in „Wirtschaft und Verfassung“ spielt der Eigenwert einzelstaatlicher politischer Gestaltungskompetenz bei der sehr knappen Behandlung der amerikanischen Urteile zur negative Commerce Clause keine Rolle.42 In der detaillierten Analyse der Rechtsprechung zum substantive und economic Due Process dominiert zwar die Kritik an der ideologischen Fehlinterpretation der nach dem Bürgerkrieg eingeführten Grundrechte,43 aber deren prinzipieller Vorrang vor der einzelstaatlichen Gesetzgebung wird keineswegs in Frage gestellt. Solange also die Grundrechtsqualität der Wirtschaftsfreiheiten nicht durch eine „Verfassungsrevolution“ oder durch Vertragsänderung aufgehoben wird,44 kann eine Kritik der europäischen Rechtsprechung sich nur auf die Anwendung des Verhältnismäßigkeits-Tests beziehen. Hier hatte Ehmke zwar in seiner Diskussion des Apothekenurteils des BVerfG den „unlösbaren Zusammenhang von Grundrecht und Kompetenz“ betont45 und deshalb im Wirtschaftsrecht eine Beschränkung auf die Willkürkontrolle postuliert, auf die Frage also, „hat das Gesetz – einschließlich der Mittel-Zweck-Relation – eine vernünftige Grundlage?“46 Im Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den EU-Mitgliedstaaten freilich würde diese kompetenzfreundliche Interpretation allein wenig ändern: Auch „vernünftige“, aber unterschiedliche nationale Regeln können sich als gravierende Mobilitätshindernisse erweisen. Deshalb tendiert der EuGH dazu, die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nationaler Regeln zu standardisieren.47 Ei  Ehmke, W+V, 7–88.   Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, 28 f. 42   Ehmke, W+V, 117–119. 43   Ehmke, W+V, 269–380. 44   Dieter Grimm schlägt eine grundlegende Vertragsrevision vor, die große Teile des Primärrechts auf die Qualität von Sekundärrecht herabstufen soll. Ob die Wirtschaftsfreiheiten dazu gehören würden, ist freilich nicht völlig klar. Selbst dann würde sich im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten aber erst dann etwas ändern, wenn der von konstitutionellen Schranken befreite europäische Gesetzgeber die sekundärrechtlich weiterwirkenden Beschränkungen der Mitgliedstaaten auf heben würde (Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. München 2016). Ich selbst eine prozedurale Lösung vorgeschlagen, welche die Berufung auf die Grundfreiheiten im Vorlageverfahren ausschließen würde – die aber ebenfalls nur durch Vertragsänderung erreichbar wäre (Fritz W. Scharpf,: De-constitutionalization of European Law: The Re-empowerment of Democratic Political Choice,. in: Sacha Garben, Inge Govaere (eds.), The Division of Competences between the EU and the Member States. Reflections on the Past, the Present and the Future. Oxford 2017, 284–299. 45   Ehmke, Prinzipien, 360. 46   Ehmke, Prinzipien, 366. 47   Sacha Garben, Restating the Problem of Competence Creep, Tackling Harmonization by Stealth and Reinstating the Legislator, in: Sacha Garben, Inge Govaere (eds.), The Division of Competences between the EU and the Member States, Oxford 2017, 300–336. 40 41

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nerseits kommt nur eine kleine Zahl „polizeilicher“ Regelungszwecke als Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen überhaupt in Frage, und andererseits kann die Eignung und vor allem die Notwendigkeit der jeweils gewählten Maßnahme nach der Praxis anderer EU-Staaten beurteilt werden, die bei der Verfolgung des prinzipiell zulässigen Zwecks offenbar andere Mittel einsetzen oder jedenfalls mit weniger stringenten Beschränkungen der Wirtschaftsfreiheit auskommen. Die standardisierte Verhältnismäßigkeitsprüfung kollidiert also nicht nur mit einem abstrakten Postulat politischer Gestaltungsfreiheit, das im Verhältnis zwischen Grundrechten der zentralstaatlichen Verfassung und den Gliedstaaten keinen hohen Rang hat, sondern sie kollidiert auch mit der legitimationsbegründenden Unterschiedlichkeit der europäischen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialordnungen.48 Wenn deren Gleichschaltung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vermieden werden sollte, wäre eine sensible Abwägung nötig zwischen den im konkreten Fall auf dem Spiel stehenden europäischen Interessen und dem normativen und politischen Gewicht der angegriffenen Regelung im Kontext der jeweils besonderen nationalen Ordnung. Im Verhältnis zur legitimen Diversität von 28 oder 27 nationalen Systemen wäre der EuGH, der „Motor der europäischen Integration“,49 gewiss überfordert. Aber auch die vom Bundesverfassungsgericht behauptete (und primär gegen den europäischen Gesetzgeber gerichtete) Ultra-vires-Kontrolle hat sich nicht nur als untauglich zur Beschränkung des europäischen Richterrechts erwiesen,50 sondern sie müsste, einseitig von allen nationalen Verfassungsgerichten in Anspruch genommen, auch die Kohärenz der europäischen Rechtsordnung zerstören. Kurz, wenn Dassonville und Cassis akzeptiert werden müssen, sehe ich nicht, wie eine an den „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ orientierte Jurisprudenz die Verzerrung der Balance zwischen einer liberalisierenden Grundrechtsjudikatur und den Gestaltungsaufgaben demokratischer Politik in der europäischen Mehrebenen-Verfassung korrigieren könnte. Nötig wäre eine bisher nicht vorgesehene Erweiterung der Prinzipien in der vertikalen/föderalen Dimension – und auch dann bliebe die nationale Politik von den Einschätzungen des EuGH abhängig. Deshalb spräche alles für eine radikalere Reaktion, die sich statt an Ehmkes „Prinzipien“ an dem ersatzlosen Verzicht des Supreme Court auf Economic-due-process-Kontrollen nach 1937 orientieren könnte. Die wirtschaftliche Integration Europas, so könnte man dabei argumentieren, hat sich inzwischen durchgesetzt. Zudem hat auch die europäische Gesetzgebung eine Vollständigkeit erreicht, die weiterer Expansion durch Richterrecht nicht mehr bedarf. Deshalb könnte die allenfalls in den siebziger Jahren zu rechtfertigende richterliche Ersatzvornahme im europäischen Wirtschaftsrecht nun beendet werden. Wie   Fritz W. Scharpf, Legitimate Diversity: The New Challenge of European Integration, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 1 (2003), 32–60. 49   Thomas Horsley, Reflections on the Role of the Court of Justice as the „Motor“ of European Integration: Legal Limits to Judicial Law Making, in: Common Market Law Review 50 (2013), 931–964. 50   Lüder Gerken, Volker Rieble, Günther H. Roth, Torsten Stein, Rudolf Streinz, Mangold als ausbrechender Rechtsakt, Köln 2009; Franz C. Mayer, Maja Walter, Die Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, in: JURA 33 (2011), 532–542; Fritz W. Scharpf, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter demokratischer Selbstgestaltungsfähigkeit? In: Michael Stolleis (Hg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München 2011, 186–199. 48

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vor Dasonville wären dann die vier Wirtschaftsfreiheiten als Kompetenztitel des europäischen Gesetzgebers, aber nicht länger als subjektive Individualrechte zu interpretieren. Eine derartige Verfassungsrevolution – entweder durch Vertragsänderung oder durch eine Selbstkorrektur des Gerichts – könnte immerhin durch eine staatsund europarechtliche Aspekte integrierende Jurisprudenz in ähnlicher Weise vorbereitet werden, wie Ehmke dies für die dissenting votes im Supreme Court vor 1937 gezeigt hat.

Horst Ehmkes Aufsatz „Demokratischer Sozialismus und demokratischer Staat“ (1974) – Like a bridge over troubled water von

Prof. Dr. Kurt Graulich, Richter am Bundesverwaltungsgericht a.D., Berlin Inhalt I. Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 II. Gründe für den Aufsatz aus dem Jahr 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 1. Programmarbeit in der SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 2. Betriebliche Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 III. Die Hauptgedanken im Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 1. Ein historisches Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 2. Demokratischer Staat und Industriegesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 3. Die Spätkapitalismus-Theorie der neuen Linken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 4. Demokratischer Staat und „Selbstorganisation der Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 IV. Theorie und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 1. Zum Verhältnis von „Gesellschaft“ und „Staat“ in der rechtswissenschaftlichen Diskussion der 70iger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 2. „Klassenkampf und Priesterherrschaft der Inllektuellen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 3. Ideologie und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 V. Like a bridge over troubled water . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

Im 20. Jahrhundert war Deutschland ein Exerzierfeld der Ideologien. Die Intensität ihrer Gegensätze, die Schnelligkeit ihrer Aufeinanderfolge sowie die – nicht zuletzt der 45 jährigen deutschen Teilung geschuldete – zeitweilige Parallelität ihrer Ausübungsweisen lassen einen leicht den Überblick verlieren, wenn es um die Einordnung eines Jahrzehnts oder gar eines Jahres in diesen Lebenswelten geht. Die Fähigkeit von Horst Ehmke, sich mit dem Phänomen „Staat“ als rechtlicher Theoretiker und als politischer Praktiker zu befassen, hat interessante geistige Produkte entstehen lassen, die sich heute wie der legendäre Sprachenstein von Rosette zum Entschlüsseln antiker Idiome eignen. Freilich geht es bei dem vorliegend zu verstehenden Text

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nicht um Vergleich und Entzifferung von ägyptischen Hieroglyphen, Demotisch und Griechisch, sondern um die Aufschließung der ideengeschichtlich vielschichtigen Begriffe von „demokratischem Sozialismus“ und „demokratischem Staat“ sowie um Ehmkes Umgang mit diesen Positionen unter Beachtung verfassungspolitischer Vorgaben und sozialdemokratischer Programmarbeit. Der vorliegend zu besprechende Text ist 1974 gedruckt vorgelegt worden, fußt aber auf einem 1973 gehaltenen Vortrag in einem Arbeitskreis der Friedrich-Ebert-Stiftung.1

I.  Zum Autor Die Entwicklung Ehmkes zum Wissenschaftler und Politiker ist nicht leicht darzustellen, weil er nahezu gleichzeitig an beiden Strängen arbeitete.2 Überlappend durchlief er nach dem Studium den juristischen Vorbereitungsdienst – bis 1956, wurde währenddessen promoviert – 1952 – und war zur gleichen Zeit wissenschaftlicher Assistent von Adolf Arndt – 1952 bis 1956.3 Nach seiner Habilitation im Jahr 1960 wurde er unverzüglich außerplanmäßiger (1960) und wenig später ordentlicher Professor (1963) in Freiburg. Vom 2. Januar 1967 bis 26. März 1969 war Ehmke Staatssekretär im von Gustav Heinemann geführten Bundesministerium der Justiz. Nach Heinemanns Wahl zum Bundespräsidenten am 5. März 1969 und mit dessen Ausscheiden aus der Bundesregierung am 26. März 1969 wurde Ehmke Justizminister im Kabinett Kiesinger. Er war wiederholt Bundesminister und Mitglied des Deutschen Bundestages. In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat er während der ganzen Zeit immer wieder Kommissionen und Arbeitskreisen angehört, die sich mit wesentlichen politischen Grundentscheidungen befasst haben; von 1973 bis 1991 war er Mitglied des Bundesvorstands der Partei. Es war wohl der Ausdruck des selbstverständlich werdenden Umgangs mit der parlamentarischen Demokratie und den politischen Parteien, dass zunehmend Öffentlichrechtler und Strafrechtler auch politisch tätig wurden und Ministerämter oder vergleichbare Funktionen übernahmen.4 Wer nicht im wissenschaftlichen Gehege bleibt, sondern verantwortliche Staatsfunktionen ausübt, kann auch mit dort entstandenen Fehlern in Verbindung gebracht werden. Abseits der großen Bundestagsdebatten zur Verjährung von NS-Unrecht 1   Horst Ehmke, Demokratischer Sozialismus und demokratischer Staat. Vortrag im Gesprächskreis „Wissenschaft und Politik“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, 13. Februar 1973. Der Aufsatz erschien ursprünglich in: Horst Ehmke, Politik als Herausforderung. Reden Vorträge Aufsätze 1968–1974, 1974, S.  191–209. Vorliegend wird zitiert nach dem Abdruck in „Verfassung. Beiträge zur Verfassungstheorie“ von Manfred Friedrich (Hrsg.), erschienen 1978 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt; er ist auch abgedruckt bei Horst Ehmke, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, hrsgg. V. P. Häberle, 1981, S.  599–612. 2   Eine knappe Übersicht bietet Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, zitiert nach der Ausgabe Propyläen 1998, S.  622 ff. 3   In seiner Biografie über Adolf Arndt bezeichnet Dieter Gosewinkel ihn als den „ersten Assistenten der SPD-Fraktion. Zuvor hatte in den Jahren 1951/52 bereits Dr. Wilhelm Hennis bei Arndt gearbeitet“. Vgl. Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945 – 1961), S.  170 Fn.  42. 4   Nachweise bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band 1945–1990, S.  355 ff.

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ereignete sich während der Amtszeit Heinemann/Ehmke jene im Nachhinein nicht nachvollziehbare „wundersame Panne“ (Thomas Fischer) bei der in einer sagenumwobenen Sitzung des Jahres 1968 in der Unterabteilung des Herrn Dr. Dreher im Bundesministerium der Justiz irrtümlich ein Gesetz konzipiert wurde, das dazu führte, dass am 1. Oktober 1968 schlagartig alle „Beihilfe“-Taten von NS-Verbrechern verjährt waren. Die Akten gegen die Sondereinsatzgruppen und Tausende von Mördern wanderten in den Müll5. Ferdinand von Schirach hat daraus den Auf hänger für seinen erfolgreich verkauften Kriminal-Roman „Der Fall Collini“ gemacht.6 Wegen des rechtlich indirekten Wirkungsmechanismus von geändertem §  50 StGB a.F. und der dazu ergangenen Rechtsprechung des BGH in Strafsachen7 ist die „wundersame Panne“ allerdings immer nur dem Ministerialdirigenten und nicht dem Minister und seinem Staatssekretär zugerechnet worden.8 Ein Fehler mit politischer Langzeitwirkung lag in der Einstellung des DDR-Spions Günter Guillaume in das Bundeskanzleramt als Willy Brandts persönlicher Referent. Hier ist nicht der Ort, die Verantwortlichkeit für diesen Vorgang festzumachen, die im Überschneidungsbereich verschiedener Ministerien und Nachrichtendienste sowie der beiden Koalitionspartner lag. Nach den „Erinnerungen“ von Willy Brandt hatte Ehmke als Behördenchef des Bundeskanzleramts vor der Einstellung eine scharfe Befragung durchgeführt, und der Verfassungsschutz habe nach zwei Überprüfungen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung erteilt;9 diese Sichtweise wird auch von Egon Bahr in seinen „Erinnerungen an Willy Brandt“ bestätigt.10 Mit dem durch die Affäre ausgelösten Rücktritt Willy Brandts endete auch Horst Ehmkes Wirken auf der Regierungsebene. Denn das Verhältnis zwischen Ehmke und dem Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt war nicht spannungsfrei,11 nachdem Schmidt zuvor schon die Ablösung Ehmkes als Kanzleramtsminister gegenüber Brandt erstritten hatte.12

II.  Gründe für den Aufsatz aus dem Jahr 1974 1. Programmarbeit in der SPD Die Parteien in der Bundesrepublik benötigten einige Zeit, um ihr Verhältnis zum Staat des Grundgesetzes zu definieren. In unterschiedlicher Weise mussten sie sich von Vorprägungen befreien, die nicht einfach durch ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus bestimmt, sondern vielfach bereits in der Zeit des deutschen Kaiserreichs entstanden waren. Der erste einschlägige Diskussionsprozess unter dem Grundgesetz  Vgl. „Fischer im Recht/NS-Verbrecher“, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/201507/ns-verbrecher-beihilfe-taeter-strafrecht-justiz-fischer-im-recht/seite-3. 6   Ferdinand von Schirach, Der Fall Collini, Piper Verlag 2011, S.  177 ff. 7   BGH, Urteil vom 27. Oktober 1969 – 2 StR 636/68 –, BGHSt 23, 123–126. 8  Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch, 64.  Aufl. 2017, §  28 Rn.  1. 9   Willy Brandt, Erinnerungen, Propyläen 1989, S.  333. 10   Egon Bahr, Erinnerungen an Willy Brandt, Propyläen, 4. Auflage 2013, S.  159. 11   Baring (Fn.  2), S.  627. 12   Brandt, Erinnerungen, Ullstein 2002, S.  305 f. 5

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betraf in der Sozialdemokratischen Partei die Erstellung des Godesberger Programms vom 15. November 1959, dessen Vorarbeiten bis 1954 zurückreichen. Der darin enthaltene Abschnitt „Die staatliche Ordnung“ war maßgeblich das Werk von Adolf Arndt, der dabei u.a. von Horst Ehmke unterstützt wurde.13 Der nächste bedeutende theoretische Meinungsbildungsprozess der Sozialdemokratischen Partei, in dem es um die programmatische Bestimmung des Verhältnisses von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat ging, betraf den sog. Orientierungsrahmen 85,14 an dem Ehmke als inzwischen arrivierter Politiker und Wissenschaftler teilnahm. Daran wurde von einer 30köpfigen Kommission ab 1973 gearbeitet, in der u.a. Ehmke stellvertretender Vorsitzender war. Dort heißt es: „Freiheit ist … nur dann gesellschaftliche Wirklichkeit und nicht bloß Illusion oder Vorrecht für wenige, wenn alle Menschen die tatsächliche (wirtschaftliche, politische, soziale, kulturelle) Möglichkeit der freien Entfaltung besitzen. Gerechtigkeit verwirklicht die Freiheit jedes einzelnen, indem sie ihm gleiche Rechte und gleichwertige Lebenschancen in der Gesellschaft eröffnet. … Solidarität drückt die Erfahrung und die Einsicht aus, dass wir als Freie und Gleiche nur dann menschliche miteinander leben können, wenn wir uns füreinander verantwortlich fühlen und einander helfen“.15 Die Beschäftigung mit diesem Thema war für Ehmke nicht einfach die Arbeit eines Parteimitglieds, sondern muss vor dem Hintergrund seines Amtes als Chef des Bundeskanzleramts im Ministerrang von 1969 bis 1972 gesehen werden. In dieser Periode baute er die dortige Planungsabteilung mit den seinerzeit modernsten EDVMetho­den aus und unternahm es – wie ein „Oberminister“ –, den Reformschwung ressortübergreifend zu orchestrieren.16 Er praktizierte also eine Art von politischer Gesamtverantwortung insbesondere für den sozialdemokratischen Anteil am sozialliberalen Projekt.17 Willy Brandt bezeichnete ihn als „Spezialisten für Alles“.18 Inhaltlich ist der Aufsatz als Reaktion auf das Aufleben des theoretischen Marxismus im Gefolge der studentischen Rebellion ab Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu sehen. Mit ihr zusammen veränderte sich die Zusammensetzung der Partei spürbar und ausdrucksstark in ihren Gliederungen. Die Marxismus-Renaissance überlagernd und verdrängend ereignete sich ein dramatischer Modernisierungsschub, für den die Chiffre „Wertewandel“ steht. Diese Entwicklungen in ihrer Verkettung stürzten die SPD als Regierungspartei in eine Identitätskrise, kaum dass sie Regierungsverantwortung übernommen hatte,19 und Ehmke schaltete sich aktiv   Gosewinkel (Fn.  3), S.  543. Nach Gosewinkel waren es auch Horst Ehmke und Wilhelm Hennis, die den Kontakt zwischen Adolf Arndt und Rudolf Smend vermittelten, dessen Integrationslehre von Arndt als Gegenposition zur staatsrechtlichen Schule von Carl Schmitt nutzbar gemacht wurde, ebd., S.  531). 14   SPD (Hrsg.), Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975–1985, Bonn 1975 15   Zitiert nach Herbert Ehrenberg/Anke Fuchs, Sozialstaat und Freiheit, Suhrkamp Verlag 1980, S.  28 ff. 16   Edgar Wolfrum, Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, Die Bundesrepublik Deutschland 1949–1990, Band 23, 2001, S.  4 02. 17   Lakonisch schreibt Stolleis (Fn.  4), S.  267, dazu: „1972 war der Höhepunkt solcher Versuche überschritten. Ihr Promotor, der ehemalige Freiburger Staatsrechtler und Politiker Horst Ehmke, schied als Chef des für diese übergreifenden Planungsabsichten verantwortlichen Kanzleramts aus.“ 18   Der Macher. In: Der Spiegel. Nr.  6, 1971. 19   Peter Graf Kielmansegg, Siedler Deutsche Geschichte, Band 4: Das geteilte Land. Deutschland 1945–1990, 2004, S.  296. 13

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in die dadurch entstandenen Auseinandersetzungen ein. Dabei gelang ihm ein erstaunliches Maß an problematisierender Differenzierung.

2.  Betriebliche Mitbestimmung Ein weiteres Ereignisfeld der damaligen Bundesrepublik muss hinzugenommen werden, das in seinem Aufsatz eine Rolle spielt, ohne dem Begriff nach benannt zu werden, nämlich die Debatte um die wirtschaftliche Mitbestimmung. Dabei ging es nicht nur um Fragen der Macht, sondern auch um solche des Verfassungsrechts und der parteipolitischen Ideologien. Formaler Auslöser der Angelegenheit war – am Beginn der Großen Koalition – die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger vom 13. Dezember 1966, in der die Einsetzung einer Sachverständigenkommission zur Prüfung der Mitbestimmungsfrage angekündigt und am 14. Juni 1967 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Die Kommission, unter Vorsitz des späteren Generalsekretärs der CDU (von 1973 bis 1977) Kurt Biedenkopf, und somit eines weiteren Rechtsprofessors, legte 1970 einen Bericht vor,20 dessen Empfehlungen 21 wesentliche Grundlage für das Mitbestimmungsgesetz von 1976 wurden.22 Es ist kennzeichnend für den raschen Szenenwechsel dieser Jahre, dass ein von der Großen Koalition initiiertes Projekt unter Leitung eines der wichtigsten CDU-Politiker ausformuliert, aber erst von der anschließenden sozialliberalen Koalition legislativ umgesetzt und von Ehmke als „Prunkstück der Koalition“ bezeichnet wurde.23 An dem Gesetz entfalteten sich prompt diejenigen tiefgreifenden Auffassungsunterschiede, um deren verfassungspolitische Gestaltung es Ehmke in seinem Aufsatz – in pointiertem Gegensatz zu spätmarxistischen Theorien – ging, nämlich die Ausdifferenzierung von „demokratischem Staat“ und „demokratischer Gesellschaft“. An anderer Stelle hat Ehmke – unter Bezugnahme auf Kurt Schumacher –als „die politische Kernfrage unseres Gemeinwesens … die ökonomische Befreiung der moralischen und politischen Person“ bezeichnet. Der Deutsche Bundestag habe das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den großen wirtschaftlichen Unternehmen mit breiter Mehrheit beschlossen, und seitdem gehöre der kapitalistische Grundsatz, Kapitalbesitz allein könne die wirtschaftliche Entscheidungs- und Verfügungsgewalt legitimieren, der Vergangenheit an.24

20   Mitbestimmung im Unternehmen. Bericht der Sachverständigenkommission zur Auswertung der bisherigen Erfahrungen bei der Mitbestimmung (Mitbestimmungskommission). Bochum, im Januar 1970. BT-Drs. VI/334. 21  Zu den Empfehlungen gehörten neben der „Vermehrung der Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (…) unter Beibehaltung eines, wenn auch geringen zahlenmäßigen Übergewichts der Vertreter der Anteilseigner“, auch die gesetzlich vorgeschriebene Bestellung eines Arbeitsdirektors als Vorstandsmitglieds für das Personalressort (später in §  33 MitbestG aufgenommen). 22   Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG) vom 04. Mai 1976, BGBl. I S.  1153. 23   Zitiert nach Wolfrum (Fn.  16), S.  4 06. 24   Horst Ehmke, Was ist des Deutschen Vaterland?, in J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit, 1.  Band: Nation und Republik, 1979, S.  51 ff., 72.

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Das zum Mitbestimmungsgesetz ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 197925 ist zwar nach der von Ehmke als Minister mitgestalteten Epoche der Bundesrepublik ergangen, hat aber verfassungsrechtlich die wesentlichen Themenfelder abgehandelt, die als juristische Folie über dem Aufsatz liegt: Weitgehende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers,26 Sozialbindung des Eigentums, Sozialbindung des Anteilseigentums, Koalitionsfreiheit, Berufsfreiheit – auch für juristische Personen. Denn Ehmke ist der innerparteilichen Diskussion der Spätkapitalismus-Theorie im Wesentlichen mit dem Impetus der demokratischen Gestaltungsmöglichkeit von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entgegengetreten.

III.  Die Hauptgedanken im Aufsatz 1.  Ein historisches Thema Ehmke beginnt mit der Verortung eines der Zentralthemen in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, nämlich dem Verhältnis von „Staat und Sozialismus“, versagt es sich aber, die dazu jemals vertretenen Positionen zu deklinieren, sondern zielt auf den Kern einer historisch bedingten Schief haltung: Die Sozialdemokratie hatte sich im 19. Jhdt. nicht mit einem demokratischen, sondern mit einem monarchistisch-obrigkeitsstaatlichen Staat auseinanderzusetzen; ein großer Teil der „Staatsfeindlichkeit“ im sozialdemokratischen Lager erklärt sich somit aus der Auseinandersetzung mit diesem konkreten Staat; was die Theorie betreffe, so habe sich der radikale Flügel der Arbeiterbewegung schließlich die marxistische These vom Staat als Instrument der herrschenden Klasse zu eigen gemacht, das mit diesem verschwinden würde, während der reformistische Flügel der Sozialdemokratie in der Theorie wie in der Praxis zunächst einmal das nachzuholen gehabt habe, was dem deutschen Bürgertum nicht gelungen sei.27

2.  Demokratischer Staat und Industriegesellschaft Das Verhältnis von demokratischem Staat und der ihn umgebenden Industriegesellschaft hielt er von Theorie und Praxis her für unbewältigt. In der bürgerlichen Staatstheorie sah er eine Fehlstellung aufgrund einer begrifflichen Entgegensetzung von politischem „Staat“ und unpolitischer „Gesellschaft“, die den Konflikt zwischen aufsteigendem Bürgertum und dem überkommenen monarchisch-bürokratischen Staatsapparat abbilde.28 Eine Auflösung dieser Verkantung erscheint ihm im Sinne der demokratisch-liberalen Staatstheorie – beispielsweise von Hermann Heller – möglich. Danach sind politisches Gemeinwesen und Government keine Hervorbrin  BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 –, BVerfGE 50, 290–381.   Der Gesetzgeber darf jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet (BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 –, BVerfGE 50, 290). 27   Ehmke (Fn.  1), S.  4 01. 28   Ebd., S.  4 01 ff. 25

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gung des Kapitalismus und werden mit diesem auch nicht verschwinden. Es liege daher nahe, in der Behandlung des Verhältnisses von demokratischem Sozialismus und demokratischem Staat zuerst einmal auf einen grundsätzlich „antistaatlichen“ Effekt von vornherein zu verzichten.29 Allerdings sei nicht zu übersehen, dass die demokratisch-liberale Staatslehre sich der Frage der Staatsfunktionen und der Leistungsfähigkeit des demokratischen Government gegenüber den Problemen der westlich-hochindustrialisierten – im Sprachgebrauch der Spätkapitalismustheorie als der spätkapitalistischen – Gesellschaft nur in sehr begrenztem Maße zugewandt habe.30 Er selbst könne sich eine Staatstheorie des demokratischen Sozialismus nur als Fortführung der demokratisch-liberalen Staatstheorie, nicht hingegen als absoluten Bruch mit dieser demokratischen Theorie vorstellen, zumal es ja das erklärter Ziel des demokratischen Sozialismus sei, die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte unserer Verfassung für die breiten Schichten unseres Volkes überhaupt erst soziale Wirklichkeit werden zu lassen.31 Die wissenschaftliche Staatstheorie müsse daher über den relativ formalen Rahmen der herrschenden Pluralismustheorie hinaus zu einer materialen Demokratietheorie vorstoßen und sie müsse dabei die Fähigkeit des demokratischen Government, die Probleme unserer Industriegesellschaft zu lösen, zu ihrem zentralen Thema machen.32 Nach – damals – dreijähriger Erfahrung der sozialliberalen Koalition sah er aber vor allem staatspraktische Schwierigkeiten, mit den Problemen der westlich-hochindustrialisierten – sprich spätkapitalistischen – Gesellschaft fertig zu werden.33

3.  Die Spätkapitalismus-Theorie der neuen Linken Am prekärsten geriet ihm die Behandlung der Spätkapitalismus-Theorie der neuen Linken, die sich in den von ihr beobachteten Systemwidersprüchen ohne besondere Konkordanz mit der ursprünglichen marxistischen Theorie eingerichtet hatte und daher selbst nicht weniger schwierig zu analysieren war als der von ihr traktierte „Grundwiderspruch“ des kapitalistischen Systems.34 Dem Spätkapitalismus war von seinen Kritikern zuzugestehen, dass er trotz seiner Widersprüchlichkeit und des ihm immer wieder vorhergesagten Untergangs sich als lebens- und leistungsfähig erwiesen hatte. Daher geriet statt seiner bevorzugt der Staat in den Focus der kritischen Bemühungen. Um ihn mit marxistischem Instrumentarium analysefähig zu machen, wurde er zum „ideellen Gesamtkapitalisten“ apostrophiert und also theoretisch beharkt. Dem trat Ehmke mit zwei Einwänden entgegen. Zum ersten hielt er der inkonsistenten Kritik entgegen, dass kein theoretischer Grund ersichtlich sei, warum die Eigenständigkeit des Government eines demokratischen Gemeinwesens sich nicht gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse wenden können solle.35 Und   Ebd., S.  4 03.   Ebd., S.  4 04. 31   Ebd., S.  4 05. 32  Ebd. 33   Ebd., S.  4 06 ff. 34   Ebd., S.  4 07 ff. 35   Ebd., S.  4 09. 29

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zum zweiten entgegnete er, die Spätkapitalismus-Theorie lasse außer Acht, dass das kapitalistische System selbst in dem Prozess staatlicher Ausgleichsmaßnahmen nicht dasselbe geblieben sei, sondern dass es im Maße der zunehmenden Ausweitung der Staatsfunktionen einer qualitativen Veränderung unterworfen sei und bleibe. Für eine Theorie des Gesamtsystems müsse man daher vom politischen Gemeinwesen ausgehen, statt dieses – nach durchaus konservativem Muster – erst dualistisch aus­ einanderzureißen, um dann die kapitalistische Produktionsordnung zum eigentlichen System zu erheben, demgegenüber die Eigenständigkeit des Staates eher als deus ex machina denn als theoretisch ableitbar erscheine. Dass dabei der Begriff der staatlichen „Intervention“ unbesehen aus dem konservativen Sprachgebrauch abgeleitet werde, sei der Preis für die Übernahme des dualistischen Klischees.36

4. Demokratischer Staat und „Selbstorganisation der Gesellschaft“ Abschließend wirft er die Frage nach der Bedeutung des Staates für den demokratischen Sozialismus aber auch noch von der entgegengesetzten Seite her auf.37 Er formuliert sie in der These, dass die demokratische Selbstorganisation der Gesellschaft eine notwendige Ergänzung, aber kein Ersatz für die Notwendigkeit des Staates und staatlicher Politik sein könne.38 Die Demokratisierung von Entscheidungsstrukturen in Betrieben und Verwaltungen, in Redaktionen und Universitäten bleibe ein wesentliches Ziel des demokratischen Sozialismus, das ich von allen Auffassungen konservativer oder liberaler Art unterscheide, die den Demokratiebegriff formal fassten und in seiner Anwendung strikt auf die zu staatlichen Entscheidungen führenden formalisierten Willensbildungsprozesse, also auf den staatlichen Bereich im engeren Sinne, beschränken wollten. Für eine solche bewusste Demokratisierung der Gesellschaft komme nun aber wiederum dem demokratischen Staat und seiner Gesetzgebung eine Schlüsselrolle zu.39

IV.  Theorie und Ideologie Im Abstand von mehr als vierzig Jahren faszinieren Thema und Herangehensweise des Autors. Es ist heute weder üblich noch erwartbar, dass der Chef des Bundeskanzleramts, ein Bundesminister oder Bundestagsabgeordneter sich mit Aussicht auf Gehör in einer theoretischen Weise mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Staat befasst. Dies liegt nicht an der geringeren Versiertheit des politischen Personals, sondern an den Erwartungen des Publikums. Seine Voreinstellungen lassen es typischerweise nicht zu, die keineswegs kleiner gewordene Zahl an wirklichen Problemen mit einer der Spielweisen der marxistischen Theorie oder einem prinzipiell kritischen Verhältnis zu ihr erläutert zu bekommen. Aber auch die leidenschaftliche Auseinan  Ebd., S.  413.  Ebd. 38   Ebd., S.  414. 39   Ebd., S.  415. 36 37

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dersetzung um „Gesellschaft und Staat“ scheinen heute doch als sehr weit entfernt. Zum Verständnis des Aufsatzes sollen daher noch drei Aspekte angesprochen werden, welche das Vorgehen des politischen Intellektuellen Ehmke in dieser Zeit verstehbar machen.

1.  Zum Verhältnis von „Gesellschaft“ und „Staat“ in der rechtswissenschaftlichen Diskussion der 70iger Jahre Zu den reziproken Beziehungen in der deutschen Geistesgeschichte gehört, dass der zur Schule von Rudolf Smend zählende Horst Ehmke und der mit der Schule von Carl Schmitt auf das engste verbundene Ernst-Wolfgang Böckenförde als Sozialdemokraten von ihren jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkten das Verhältnis von „Gesellschaft“ und „Staat“ traktierten und auf das heutige „herrschende“ Verständnis zutrieben. In einem biographischen Interview mit Dieter Gosewinkel im Jahr 200940 legte Böckenförde „großen Wert“ auf die „Unterscheidung“ von Staat und Gesellschaft, nicht auf die „Trennung“. Im Grunde gehe es um die Abgrenzung gegen einen Totalitarismus, der eintrete, wenn Staat und Gesellschaft als identisch angesehen würden. Eben das habe im Dritten Reich erreicht werden sollen, während die Unterscheidung von beiden als liberalistisch oder individualistisch verpönt worden sei. Umgekehrt habe es eine Rolle gespielt, „als die 68er kamen, von denen totale Demokratie geforderte wurde. Auch Demokratie kann totalitär werden.“41 Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft sei wichtig, damit ein eigener Bereich bleibe, gegen beliebige Zugriffe abgesichert durch Freiheitsrechte und Freiheitsgewährung. Die Frage sei lange kontrovers diskutiert worden, etwa mit Horst Ehmke und Konrad Hesse, bis etwa 1976. „Danach war es ausgetragen, weil klargeworden war, dass es keine strikte Trennung geben kann, sondern nur eine Unterscheidung und ein starkes Beziehungsgeflecht zwischen Staat und Gesellschaft.“ Als Bezugspunkte für seine eigene Überzeugung nannte Böckenförde ausdrücklich die Staatslehre von Hermann Heller – einen weiteren Antipoden von Carl Schmitt, aber gemeinsame Referenzperson von Böckenförde und Ehmke42 und Sozialdemokrat wie sie beide.43

2.  „Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“ Die Heftigkeit, mit der die Debatten um die Rolle des Staates, die Demokratisierung der Gesellschaft und – last but not least – die Sozialwissenschaften geführt wurde, hat nicht nur etwas mit der leichter erklärbaren Interessengeleitetheit von Eigentümergruppen zu tun, wie dies bei Gegnern der betrieblichen Mitbestimmung der Fall 40   Ernst-Wolfgang Böckenförde, Biografisches Interview mit Dieter Gosewinkel, in: ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S.  307 ff. 41   Böckenförde (Fn.  4 0), S.  480. 42  Vgl. auch Michael Henkel, Hermann Hellers Theorie der Politik und des Staates, 2011, S.  480 Fn.  57. 43   Ehmke (Fn.  1), S.  4 02.

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war. Vielmehr gab es ideologische Intimfeindschaften. Einen der prägnantesten Beiträge von der konservativen Kritikerseite hat Helmut Schelsky geschrieben und sich über den sachlichen Gegenstand der Auseinandersetzung weit hinausbegeben. Aussagestärker als der Titel seines Buches „Die Arbeit tun die anderen“ ist dessen Untertitel „Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“.44 Als Hauptschüler von Arnold Gehlen und bei diesem 1940 habilitiert mit einer Arbeit über Thomas Hobbes,45 die in Teilen als eine Kommentierung von Carl Schmitts stark antisemitischer Schrift46 „Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes“47 aus dem Jahr 1938 gilt, gehörte er zu den wortmächtigsten Kritikern der linksstehenden bundesdeutschen Studentenbewegung. Sein polemisches Traktat gipfelt in der Behauptung einer „Klassenherrschaft der Sinn-Vermittler“.48 Er beschreibt einen Gegensatz dieser „neuen Klasse“ zu denen, die der Produktion von Gütern im Sinne der Lebensbefriedigung, des Wohlstandes und des Funktionierens eines gesellschaftlichen Systems dienen.49 Die „Sinn-Vermittler“ okkupierten, so meint er, vor allem die Bereiche der Bildung, der Öffentlichkeit und der Information.50 Der gegenwärtige „Volkswille“ werde, wenn er überhaupt noch vorhanden sei, von den „Informatoren“ und „Sozialisatoren“ geprägt und beherrscht.51

3.  Ideologie und Utopie Schelskys Streitschrift ist wohl nicht nur deshalb so grenzüberschreitend ausgefallen, weil er einfach anderer Ansicht als die „linken Studenten“ war, sondern weil er sich an einem für weltanschaulich gehaltenen Kern ihrer Auffassungen störte. Und Glaubenskriege billigen dem Gegner keine ihn schützende Normen zu. Was er auf der kritisierten Seite ausgemacht hat, war genau das Maß an Ideologie, dem er nach der eigenen geistigen Herkunft möglicherweise nicht unverwandt war. Die Spätkapitalismus-Theorie wurde nämlich in einer Weise performiert, die Karl Mannheim fast ein halbes Jahrhundert zuvor in seiner Schrift „Ideologie und Utopie“ beschrieben hatte. Und auf dieses Werk bezieht Schelsky sich ausdrücklich.52 Mannheims Analyse macht auch den zentralen Angriffs-Punkt in Ehmkes Aufsatz nachvollziehbar, nämlich warum eigentlich – entgegen dem Blickwinkel von Marx – die Spätkapitalismus-Theorie sich nicht kritisch auf die Wirtschaft, sondern auf den Staat richtet, dies aber in unbeirrbarer Eindringlichkeit: „So ist die sozialistisch-kommunistische 44   Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, 1977. 45   Helmut Schelsky, Thomas Hobbes, Duncker & Humblot, 1981. Die Habilitationsschrift aus dem Jahr 1940 wurde aus einer Kette von Gründen, die im Vorwort erläutert werden, erst 1981 verlagsmäßig veröffentlicht. 46   Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, 2015, S.  389 ff. 47   Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, 1982. 48   Schelsky (Fn.  4 4), S.  223 ff. 49   Ebd., S.  241 ff. 50   Vgl. das Kapitel „Die Freizeitherrschaft der Sinnproduzenten“, a.a.O. S.  281 ff. 51   Vgl. das Kapitel „Die Funktionsmonopole der Sinnproduzenten“, a.a.O. S.  298 ff. 52   A.a.O. u.a. S.  127 ff. und 137 ff.

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Theorie eine Synthese zwischen Intuitionismus und extremem Rationalisierungswillen. Intuitionismus ist vorhanden, weil (sie) die absolute Vorausberechnung auch der Tendenz nach ablehnt; Rationalismus, weil in jedem Augenblick das von neuem Erschaute rationalisiert werden soll. In keinem Augenblick darf ohne Theorie gehandelt werden; aber die aus der Lage entstehende Theorie befindet sich nicht mehr auf derselben Ebene als die vorausgehende.“53 On s´engage, puis on voit.54 Das Verdienst von Ehmkes Aufsatz liegt nicht zuletzt darin, der stark aufgeladenen „Spätkapitalismus-Diskussion“ der 70iger Jahre mit argumentierender Geduld begegnet zu sein.

V.  Like a bridge over troubled water Die sozialliberale Koalition in der alten Bundesrepublik war das Ergebnis eines Wertewandels mit verschiedenen Ingredienzien. Die politische Theoriediskussion beanspruchte zeitweise die Erklärungshoheit, war aber für das letztlich ausschlaggebende gewandelte Lebensgefühl nicht wichtiger als die Pop-Kultur, die Bildungsreformen und die – insbesondere von Willy Brandt angetriebene – Demokratisierungsbewegung in den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Bereichen. Ehmke behandelte die Spätkapitalismus-Theorie gegenüber diesen anderen Veränderungspotentialen als nachrangig. Er griff sie nicht frontal an, aber hinterfragte ihre innere Folgerichtigkeit und anerkannte sie politisch nur als Teil der allgemeinen Bemühungen um Demokratisierung. Jemand, der so argumentierte, sah sich damals vom orthodoxen Teil der marxistischen Linken als Revisionist abgewertet.55 Jeder konnte mit solchen Vorwürfen angesichts der repressiven Praktiken kommunistischer Staaten allerdings gut leben. Ehmke indes ging auf den theoretisch argumentierenden linken Flügel der sozialdemokratischen Partei werbend zu und lud zur gemeinsamen Entwicklung von demokratischem Sozialismus und demokratischem Staat ein. Als Operationsfeld bot sich die lange Zeit anhaltende Mitbestimmungsdebatte an. Damit half er, den Generationenwechsel in seiner Partei zu überbrücken, aber auch die drohende Entgegensetzung von akademischer Jugend und eher gewerkschaftlich orientierten Erwachsenen zu überwinden. Juristen konnten sich in dieser Auseinandersetzung im Allgemeinen nicht ohne Aussicht auf Prügel von allen Seiten vorwagen. In diesem Fall taugte seine – zumindest hintergründig – verfassungsrechtliche Orientierung aber für eine sattelfeste Ermutigung zur Teilnahme am Demokratisierungsprozess.

  Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 1. Auflage 1929, zitiert nach der 8. Auflage, 1995, S.  111.   Napoleon I., zitiert nach Mannheim (Fn.  53), S.  111, Fn.  14, der diesen Satz dem Gebrauchsvokabular von Lenin und Lukacs zurechnet. 55   Nachw. bei Horst Heimann, Theoriediskussion in der SPD, 1975, S.  246 ff. 53

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„Renegatentum“ als Lebensprinzip Horst Ehmke und die alte Bundesrepublik von

Dr. Frieder Günther, Berlin I. In Horst Ehmkes Autobiographie ist zu lesen, Herbert Wehner habe ihn bei der ersten Begegnung zu Beginn der 1950er Jahre aufgrund seines Engagements für die SPD, das so gar nicht zu seinem bürgerlichen Elternhauses zu passen schien, als Renegaten bezeichnet.1 Dies mag in dieser Situation ein Scherz gewesen sein, der Begriff des Renegaten verweist aber auf ein Grundprinzip, welches Ehmkes gesamte Biographie durchzieht, nämlich immer wieder einen bewussten Bruch mit dem bisherigen Lebensweg zu vollziehen, die Vergangenheit zurückzulassen, sich neuen Herausforderungen zuzuwenden und dabei innovative, zuweilen betont unkonventionelle Wege zu gehen. Dies kommt schon in seinen überaus vielfältigen Tätigkeitsfeldern als Rechtsanwalt, Universitätsprofessor, Minister und Abgeordneter sowie zuletzt Kriminalromanautor zum Ausdruck. Hinzu kommt ein betont unangepasster, streitbarer, lauter, zuspitzender, den jeweiligen Gegner zuweilen konfrontierender und verletzender Charakterzug. Ehmkes Biographie lässt sich ein Stück weit als beispielhaft für die aus den Trümmern des „Dritten Reiches“ errichtete alte Bundesrepublik deuten, da diese – ganz im Gegensatz zur DDR – solch hoch begabten, ehrgeizigen, allenthalben aneckenden Männern und Frauen eine Bühne bot und zugleich von solchen Charakteren maßgeblich geprägt wurde – zu nennen sind neben Ehmke so unterschiedliche Personen wie Thomas Dehler, Jürgen Habermas, Hildegard Hamm-Brücher, Wilhelm Hennis, Franz Josef Strauß oder Petra Kelly. Den wohl einschneidendsten Bruch vollzog Horst Ehmke noch als Jugendlicher, als er sich nämlich vom Nationalsozialismus vollständig lossagte und sich stattdessen dem mit vielen Hoffnungen verbundenen „Projekt Bundesrepublik“ zuwandte. Er gehörte der sogenannten Flakhelfergeneration an, die am stärksten von der nationalsozialistischen Ideologie indoktriniert wurde. Anders als die Kriegsjugendgeneration des Ersten Weltkriegs hatte sie nie etwas anderes als die nationalsozialistische Herrschaft 1

 Vgl. Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, 1994, S.  17.

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bewusst erlebt. Ehmke konnte sich – trotz des liberalen Elternhauses – dem damaligen Anpassungsdruck nicht entziehen, wofür die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend, die Tätigkeit als Flakhelfer, der Arbeitsdienst, der Kriegsdienst in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und vor allem der Beitritt zur NSDAP kurz nach dem 17. Geburtstag im Frühjahr 1944 stehen. Die späte Rechtfertigung, er habe von der Parteimitgliedschaft nichts gewusst, ist kaum haltbar, da die eigenhändige Unterschrift bis zuletzt die unabdingbare Voraussetzung für die Gültigkeit des Aufnahmeantrags bei der NSDAP war. Noch verwundet in den letzten Kriegstagen, verbrachte er 1945 einige Monate in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, bevor er der Familie zunächst in die SBZ folgte, um wenig später in die britische Zone im Westen zu ziehen. Obwohl die Familie die Heimat und den ganzen Besitz in Danzig verloren hatte, war es die Dankbarkeit, überlebt zu haben und „noch einmal davongekommen zu sein“,2 die Ehmkes weiteren Lebensweg bestimmen sollte. Aus diesem Gefühl ent­ wickelte Ehmke einen ungemeinen Antrieb, sich nicht – wie es für die „skeptische Generation“ (Helmut Schelsky) charakteristisch ist – ins Privatleben zurückzuziehen, sondern das politische System von Grund auf zu verändern und das eigene Land vom verhängnisvollen Weg abzubringen, der aus seiner Sicht in die „deutsche Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) geführt hatte. Die richtige Antwort auf die deutsche Geschichte musste die Errichtung einer freiheitlich-parlamentarischen Demokratie nach westlichem Vorbild sein, so wie es auch der Parlamentarische Rat in Bonn vorsah. Da Ehmke in der SPD die einzig akzeptable Partei erkannte, die sich konsequent gegen die Nationalsozialisten gestellt hatte, trat er ihr schon 1947 bei und engagierte sich fortan im SDS. Sein besonderes Interesse erregten emigrierte Theore­ tiker eines reformorientierten, antirevolutionären Sozialismus, so wie Richard Löwenthal, Ernst Fraenkel oder Karl Loewenstein. 1952 nutzte Ehmke die Chance, in der Politik erste praktische Erfahrungen zu sammeln, und war zunächst wissenschaftlicher Assistent im Rechtsausschuss des Bundesrates und anschließend im Bundestag bei Adolf Arndt, dem rhetorisch brillanten „Kronjuristen“ der SPD. Da Ehmke später öffentliche Verantwortung übernehmen wollte, entschied er sich zum Jurastudium und schrieb sich zum Wintersemester 1946/47 in Göttingen ein. Es war für ihn ein Glücksfall, schon als junger Student am Seminar von Rudolf Smend teilnehmen zu dürfen. Hier herrschte ein Geist von Liberalität, Toleranz und literarische Gelehrsamkeit, der sich in seinen Augen deutlich abhob von dem als einseitig und beengend empfundenen Klima der Zeit und von dem sonst üblichen positivistischen Wissenschaftsbetrieb.3 In Smends Seminar entwickelte Ehmke ein besonderes Interesse an staats- und verfassungstheoretischen Fragen. Außerdem knüpfte er Kontakt zu anderen wichtigen Mitgliedern der Smend-Schule wie Konrad Hesse, Peter von Oertzen, Henning Zwirner und Wilhelm Hennis. Dabei fungierten Carl Schmitt und seine Schule als Feindbild und als Integrationsklammer, die die Smend-Schule zusammenhielt. Schmitt fungierte gleichsam als Symbol und Sündenbock für die Wehrlosigkeit und den Niedergang des Öffentlichen Rechts in der Zeit des Nationalsozialismus. In seinen Arbeiten kulminierten scheinbar die verhängnisvollen Tenden  Ehmke, Mittendrin (Fn.  1), S.  22.   Vgl. Ansprache von Ehmke aus Anlass von Rudolf Smends 70. Geburtstag, 15.01.1952, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Nachlass Ehmke, Nr.  368. 2 3

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zen des traditionellen deutschen staatsrechtlichen Denkens. Diese Sicht war einseitig, denn natürlich gab es völkisch-autoritäre Tendenzen, um aus dem verhassten „Weimarer System“ auszubrechen, zu Beginn der 1930er Jahre bei der Mehrzahl der Staatsrechtslehrer – so gerade auch bei Rudolf Smend oder Ehmkes zweitem akademischen Lehrer Ulrich Scheuner. Zudem hatten fast alle Staatsrechtslehrer bei der „nationalsozialistischen Rechtserneuerung“ mitgemacht und viele hatten von der Entlassung jüdischer Kollegen profitiert. Aber Smend und Scheuner hatten sich nach der ersten Begeisterungswelle von 1933 in den Debatten ihrer Disziplin stärker als der überaus ehrgeizige Schmitt im Hintergrund gehalten, und sie unterstützten nach 1945 – wenn auch gemäßigter als Ehmke – eine grundsätzliche Neuausrichtung ihres Faches, während sich Schmitt verbittert nach Plettenberg im Sauerland zurückzog und mit dem neuen politischen System der Bundesrepublik keinen Frieden machen wollte. Aus Ehmkes Sicht hatten die eigenen Lehrer im Gegensatz zu Schmitt also die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen, und dies dürfte ihn davon abgehalten haben, im Hinblick auf deren Arbeiten und Biographien allzu kritische Fragen zu stellen.4

II. Für Ehmkes weitere Entwicklung war es entscheidend, dass er zwei längere Aufenthalte für Studienzwecke in den USA verbrachte und dort das US-amerikanische Verfassungsrecht kennenlernte. 1949/50 studierte er in Princeton, und 1958 forschte er mit einem Stipendium der Ford-Foundation für seine Habilitationsschrift an der Law School in Berkeley. Hier erlangte er die Überzeugung, dass die USA in der aktuellen Situation einen Vorbildcharakter für die politische und verfassungsrechtliche Entwicklung der jungen Bundesrepublik besäßen. Bei der Habilitationsarbeit über die Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, die von Ulrich Scheuner in Bonn betreut wurde, handelte es sich um die genaue Umsetzung dieser Einsicht: Da die deutsche Staats- und Verfassungstheorie in Trümmern liege, müsse die Staatsrechtslehre den Blick auf die USA als „eine der traditionsreichen, politisch intakten freiheitlich-demokratischen Grundordnungen“ richten.5 In der aktuellen Situation erschien ihm vor allem der Konsensliberalismus der New Deal-Ära und seine spätere Umsetzung durch die Rechtsprechung des Supreme Court als ein attraktiver Anknüpfungspunkt. Dies war für die damalige Staatsrechtslehre starker Tobak und erweckte große Aufmerksamkeit, stieß aber auch auf entschiedene Ablehnung, zumal Ehmke immer wieder die Konfrontation mit seinen Gegnern suchte und seine Thesen bewusst polemisch zuspitzte. Für das Jahrbuch des öffentlichen Rechts lehnte beispielsweise der damalige Herausgeber Gerhard Leibholz einen frühen Aufsatz von Ehmke über die Topik als Interpretationsmethode wegen grundsätzlicher Einwände ab.6 Trotzdem 4   Vgl. aber die kritischen Bemerkungen zu Smends Integrationslehre in der Dissertation: Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S.  58–62. 5   Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, 1961, S.  83. 6   Leibholz an Ehmke, 14.09.1961, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Nachlass Ehmke, Nr.  504.

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erhielt Ehmke im darauffolgenden Jahr die Möglichkeit, seine Gedanken der Staatsrechtslehrervereinigung vorzutragen und sie wenig später in den Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu publizieren.7 Ebenso musste Ehmke nicht lange warten, bis er 1961 mit 34 Jahren seine erste und einzige Professur in Freiburg erhielt und dort – nach dem Vorbild von Smend – auch bald sein eigenes Seminar gründete. Der befreundete Konrad Hesse, ein anderer Schüler von Smend, war dorthin bereits 1955 berufen worden, so dass beide gut zusammenarbeiteten. Aufgrund des gemeinsamen Engagements, neue Themen und Perspektiven in die Staatsrechtslehre einzubringen, wurden Ehmke und Hesse zusammen mit ihren Schülern – darunter Peter Häberle, Friedrich Müller und Alexander Hollerbach – von außen schon bald als neue „Freiburger Schule“ wahrgenommen. Themengebiete, bei denen sich Ehmke in den nächsten Jahren besonders einbrachte, waren neben der neuen Interpretationsmethode der Topik die Frage der Notwendigkeit und Zulässigkeit der Begrenzung des Handlungsspielraums der Verwaltung durch Parlamentsgesetze8 sowie die traditionelle Trennung von Staat und Gesellschaft. Vor allem bei der letzten Debatte tat sich Ehmke durch ein leidenschaftliches Plädoyer hervor, das aus seiner Sicht verhängnisvolle Trennungsdenken zu überwinden und stattdessen künftig den Begriff civil society bzw. politisches Gemeinwesen zu verwenden.9 Wegen seines Rufes, frischen Wind in die Staatsrechtslehre zu bringen, wurde Horst Ehmke zusammen mit seinem Freiburger Kollegen Konrad Hesse 1964 in den Herausgeberkreis des Archivs des öffentlichen Rechts aufgenommen. Walter Mallmann hatte die Linie der Zeitschrift in den letzten Jahren geprägt und aufgrund seiner dezidiert antinationalsozialistischen Einstellung verhindert, dass ältere Mitglieder der Carl Schmitt-Schule dort publizierten, so dass zentrale staatsrechtliche Debatten in der Zeitschrift nicht vorkamen. Dies war seit der Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ im Jahr 1962 besonders offensichtlich geworden, da von dort wichtige neue Impulse der Schmitt-Schule für das Fach ausgingen. Folglich setzte es sich Ehmke als neuer geschäftsführender Herausgeber zum Ziel, das Archiv des öffentlichen Rechts lebendiger zu gestalten, ihm ein stärker staats- und verfassungs­ theoretisches Profil zu geben und es international zu öffnen. Auch Mitglieder der Schmitt-Schule sollten dort nun hin und wieder zu Wort kommen. Die internen Reibungen zwischen Mallmann und den jüngeren Herausgebern nahmen darauf hin zu, so dass Mallmann 1966 enttäuscht und verbittert aus dem aktiven Herausgeberkreis ausschied.10 Schaffte es Ehmke mit seinen neuen Ideen, die Staatsrechtslehre ein Stück weit zu verändern? Man sollte vorsichtig sein, ihm als einzelner Person einen allzu großen Einfluss zuzuschreiben. Aber er traf doch mit seinen Impulsen den Nerv der Zeit. So machte in der Staatsrechtslehre der 1960er Jahre eine jüngere Generation auf sich aufmerksam, die vom etablierten Wissenschaftsbetrieb genug hatte und nach zeitge  Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S.  53–102.   Horst Ehmke, „Ermessen“ und „unbestimmter Rechtsbegriff “ im Verwaltungsrecht, 1960. 9   Horst Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: Konrad Hesse u.a. (Hg.): Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, 1962, S.  23–49. 10  Vgl. Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, 2004, S.  229–231. 7 8

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mäßen Antworten auf aktuelle Problemstellungen suchen wollte. Und genauso waren auch Teile der älteren Generation dankbar, mit Ehmke einen hoch intelligenten und anregenden Provokateur in den eigenen Reihen zu haben, mit dem sich viele gerne auseinandersetzten und stritten. Nimmt man die neuen Impulse, die von Ehmke und seinen gleichaltrigen Kollegen ausgingen, und die damalige Aufnahmebereitschaft für neue Ideen zusammen, so lässt sich immerhin sagen, dass die Staatsrechtslehre über den Zeitraum der 1960er Jahre ein Stück weit vielfältiger, politischer, ­liberaler, weltoffener und westlicher wurde.

III. Solche fachlichen Entwicklungen des Öffentlichen Rechts vollzogen sich nicht hinter verschlossenen Türen, sondern waren eingebunden in politische und soziale Wandlungsprozesse, die in den 1960er Jahren weite Teile der Gesellschaft erfassten. Horst Ehmke wurde hiervon maßgeblich beeinflusst, und er versuchte zugleich, diese Prozesse nach Kräften voranzubringen. So gab sich die SPD auf ihrem Parteitag in Bad Godesberg 1959 ein neues Grundsatzprogramm, mit dem sie mit der Tradition als klassenkämpferische Arbeiterpartei brach und sich zu einer mittelständischen Volkspartei wandelte. Damit vollzog sie eine Entideologisierung und Verwestlichung, so wie es auch Ehmkes Vorstellungen entsprach. Als im Herbst 1962 im Zusammenhang mit der „Spiegel-Affäre“ eine Protestwelle gegen das gesetzeswidrige Handeln der Bundesregierung durchs Land rollte, stellte sich Ehmke sogleich als Verteidiger des verhafteten verantwortlichen Redakteurs Conrad Ahlers zur Verfügung und erklärte sich auch bereit, an einer Verfassungsbeschwerde des Spiegel-Verlags gegen die Bundesregierung mitzuwirken. Zwar wies der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts 1966 die Verfassungsbeschwerde als unbegründet ab, aber erstmals veröffentlichten vier Senatsmitglieder innerhalb der regulären Entscheidung eine dissenting opinion, obwohl dies im Bundesverfassungsgerichtsgesetz damals noch gar nicht vorgesehen war.11 Die Kläger konnten dies immerhin als halben Sieg werten. Doch damit nicht genug, Ehmke verschickte noch Ende 1962 zusammen mit Konrad Hesse unter allen Staatsrechtslehrern eine von Arnold Bergstraesser, Theodor Eschenburg und Wilhelm Hennis formulierte Resolution an den Bundesratspräsidenten. Die Bundesregierung habe bei der „Spiegel-Affäre“ gegen „den Geist der Verfassung“ verstoßen, so dass die verantwortlichen Bundesminister aufgefordert wurden, „die Konsequenzen aus ihrem wie immer erklärbaren Versagen [zu] ziehen.“12 Da sich die Mehrheit der Staatsrechtslehrer zum damaligen Zeitpunkt mit einer so dezidiert politischen Stellungnahme nicht anfreunden konnte, war der Rücklauf auf die sogenannte „Aktion Hesse“ äußerst gering. Eine weitere öffentliche Debatte, die die gesamten 1960er Jahren durchzog, drehte sich um die Verjährung nationalsozialistischer Mordtaten. Bei dieser Frage zeigte sich eine zunehmende Sensibilität der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit. Zudem bewies Ehmke erneut, dass er vollständig mit   BVerfGE 20, 162 [1966].   Jürgen Seifert (Hg.): Die Spiegel-Affäre, Bd.  2 , 1966, S.  396 f.

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der Zeit des Nationalsozialismus gebrochen hatte. Als 1965 nämlich die Gefahr bestand, dass bis dahin ungesühnte nationalsozialistische Morde verjährten, versuchte er, seine Kollegen der Staatsrechtslehre zu einem Engagement zu bewegen. Er wandte sich an den älteren Otto Bachof mit der Bitte, zu den Strafrechtslehrern den Kontakt zu suchen und an alle bundesdeutschen Staatsrechtslehrer eine vorformulierte Resolution zu verschicken. Darin wurde klargestellt, dass einer Verlängerung der laufenden Verjährungsfrist keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstünden, und zugleich hervorgehoben, dass eine solche Verlängerung aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber NS-Opfern unerlässlich sei. Die darauf hin von Bachof verschickte Resolution wurde diesmal von fast der Hälfte aller Staatsrechtslehrer unterzeichnet.13 Nach kontroverser Debatte verlängerte der Bundestag die Verjährungsfrist für Mord zunächst um fünf Jahre, 1969 – als Ehmke bereits Bundesjustizminister war – um weitere zehn Jahre, bevor die Verjährung 1979 ganz aufgehoben wurde. Bei alldem wird deutlich, wie Ehmke während der 1960er Jahr an der Liberalisierung von Politik und Gesellschaft teilhatte. Dabei hielt er allerdings deutliche Distanz von der sich zunehmend radikalisierenden Studentenbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition und der Neuen Linken. Im Gegensatz zu weiter links stehenden Kreisen befürwortete er etwa die Verabschiedung einer Notstandsverfassung durch das Parlament, um so für Naturkatastrophen und militärische Angriffe auf die Bundesrepublik gerüstet und auf alliierte Vorbehaltsrechte und geheime Schubladenentwürfe der Bundesregierung nicht länger angewiesen zu sein. Als ihm bei der Bildung der Großen Koalition in Bonn 1967 die Position eines beamteten Staatssekretärs im Bundesjustizministerium unter Minister Heinemann angeboten wurde, zögerte er nicht lange und nahm den neuen Posten an. Damit vollzog er den zweiten einschneidenden Bruch in seiner Biographie und ließ die Wissenschaft hinter sich. Aus der Rolle des engagierten Beobachters von Politik wechselte er nun in die des aktiven Gestalters. Im Bundesjustizministerium erlangte Ehmke Verdienste bei der Einleitung einer großen Strafrechtsreform, bei der Reform des Strafvollzugs und im Familienrecht bei der Gleichberechtigung nichtehelicher Kinder. Aufgrund seiner zupackenden, direkten Art und seiner Fähigkeiten als Generalist und Querdenker gewann er bald das Vertrauen von Willy Brandt, so dass er nach der Wahl Heinemanns zum Bundespräsidenten 1969 zunächst für ein halbes Jahr selbst das Justizressort leitete, nach der Bildung der sozialliberalen Koalition Bundesminister für besondere Aufgaben und Kanzleramtschef, später Bundesforschungs- und Bundespostminister wurde. Spätestens jetzt befand er sich buchstäblich „mittendrin“14 und er versuchte, für eine Umsetzung der Reformpolitik Willy Brandts und eine umfassende Demokratisierung aller Lebensbereiche zu sorgen. Dabei war sein Demokratieverständnis, wie für die damalige Zeit charakteristisch, repräsentativ und technokratisch und grenzte sich bewusst von identitären oder basisdemokratischen Strömungen ab. Regierung und Parlament sollten gesellschaftliche Mitbestimmung, Freiheit und Gleichberechtigung ermöglichen, zugleich aber nicht auf ihre Leitungsfunktionen verzichten. 13  Zur Verjährungsfrist für Mord, 04.03.1965, in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hans Peters, N 1220, Nr.  30. 14   So auch der Titel der Autobiographie Ehmke, Mittendrin (Fn.  1).

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Um dies zu erreichen, kam Ehmke im Sinne eines „Chefmanagers der Regierung“15 die Aufgabe zu, das Regierungs- und Verwaltungshandeln zu reformieren und es effizienter und rationaler zu gestalten. Solche Initiativen bündelten sich im Begriff der Planung, mit dem sich damals weit reichende Hoffnungen auf eine bessere Zukunft verbanden. Aus Ehmkes Sicht galt es hierbei, erneut auf Erfahrungen zurückzugreifen, die in den USA seit dem New Deal gemacht worden waren. Zu diesem Zweck hatte er schon als Staatssekretär des Bundesjustizministeriums die kuriose Idee, eine deutsch-amerikanische Studienkommission zur Regierungsorganisation einzurichten, die direkt dem Bundeskanzleramt unterstellt sein, sich aus deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern zusammensetzen sowie von der Ford Foundation und der Volkswagenstiftung gemeinsam finanziert werden sollte. Da dieser Vorschlag auf die vehemente Gegenwehr des Bundesinnenministeriums stieß, das sich in seinen Kompetenzen übergangen fühlte, konnte sich Ehmke damit nicht durchsetzen.16 Als neuer Kanzleramtschef war er hingegen in der Position, die Dinge selbst voranzubringen. Mit Hilfe einer Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform versuchte er nun, mit ungemeinem Tempo einen ressortübergreifenden Planungsverbund der Bundesregierung zu schaffen, der sich auf neueste, wissenschaftlich angeleitete, computergestützte Verfahren stützte. Die Gesellschaft sollte auf diese Weise über einen längeren Zeitraum aktiv gestaltet werden, um so in Zeiten beschleunigten Wandels individuelle Freiheit und gesellschaftlichen Wohlstand auf Dauer zu sichern. Doch schon rasch wurde deutlich, dass die Resultate dieser Politik hinter den hoch gesteckten Erwartungen zurückblieben. Als der Finanzrahmen des Bundes zu Beginn der 1970er Jahre enger wurde, scheiterten zahlreiche Reformprojekte. Auch gab das Bundeskanzleramt seinen Koordinierungsanspruch gegenüber der Einzelressorts zunehmend auf. Als weiteres Hindernis erwies sich Ehmkes forsches, umtriebiges Auftreten, mit dem er weite Teile der Bonner Ministerialbürokratie gegen sich auf brachte, da sie sich durch seine Initiativen an den Rand gedrängt fühlte. Böse Zungen sprachen von ihm als „Hansdampf in allen (Sack-)Gassen“. Ausdruck für diesen Misserfolg ist die von Helmut Schmidt bereits im Dezember 1972 erzwungene Entmachtung Ehmkes als „Unter-, Neben- oder Überkanzler“ und dessen Übertritt ins Forschungs- und ins Postministerium.17

IV. Nach dem Regierungswechsel von Brandt zu Schmidt im Mai 1974 stand Ehmke für einen Ministerposten nicht länger zur Verfügung, da er als früherer Kanzleramtschef   P. C. Müller, Chefmanager der Regierung. Horst Ehmkes Planer und Planungen, in: Handelsblatt, 7.8.1970. 16  Vgl. Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, 2005, S.  343. 17  Vgl. Winfried Süß, „Wer aber denkt für das Ganze?“ Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Auf bruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, 2003, S.  349– 377; Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt, 1986, S.  29–34, Zitate S.  33. 15

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Frieder Günther

für die Einstellung des überführten DDR-Spions Günter Guillaume die politische Verantwortung übernahm. In diesem Rückzug zeigte sich erneut, dass die Zeit hoch gesteckter politischer Zukunftsentwürfe, für die Ehmke stand, vorüber war und er vor Karrierebrüchen nicht zurückschreckte. Er behielt aber sein Abgeordnetenmandat bis 1994 und wurde 1974 außenpolitischer Sprecher sowie 1977 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Als weiteres Standbein eröffnete er noch 1974 eine Rechtsanwaltskanzlei in Bonn. Ehmke blieb in der alten Bundesrepublik verwurzelt, deren Grundausrichtung und Selbstverständnis er auch als Modell für das wiedervereinigte Deutschland ansah. Dementsprechend erwiderte er 1990 in einem Interview auf eine Erklärung des damaligen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, Deutschland werde mit der bevorstehenden Wiedervereinigung östlicher und protestantischer, dieser dürfe nicht vergessen, „dass der Erfolg der Bundesrepublik ein westlicher Erfolg“ gewesen sei.18 Und genauso engagierte er sich als Bundestagsabgeordneter leidenschaftlich dafür, den Sitz von Regierung und Parlament nach der Wiedervereinigung in Bonn zu belassen und nicht nach Berlin zu verlegen, denn Bonn dürfe nicht „aus der politischen Geographie und Geschichte dieses Landes“ gestrichen werden.19 Nach dem Ausscheiden aus der Politik setzte sich Ehmke nicht zur Ruhe, sondern versuchte sich noch einmal als Autor von Kriminalromanen und Politthrillern, ohne auf diesem Gebiet wirklich zu reüssieren. Mit diesem wohl ungewöhnlichsten Schritt in seiner Biographie führte er der Öffentlichkeit vor Augen, dass er nicht daran dachte, den konventionellen Rollenerwartungen an einen Elder Statesman zu entsprechen, sondern sich ein letztes Mal ein neues Tätigkeitsfeld erschließen wollte.

V. Horst Ehmkes Karriere steht für eine spezifische Antwort auf die Situation seines Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.20 Nach der Niederlage befürwortete er einen einschneidenden Bruch mit den eigenen politischen und ideologischen Traditionen und stattdessen eine konsequente Orientierung am Vorbild der USA, um so in Zukunft die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Vor allem die Erfahrungen während der US-amerikanischen New Deal-Ära unter Franklin D. Roosevelt, die bei der Behebung der katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise gemacht worden waren, sollten als Orientierungspunkt dienen, um zumindest in Westdeutschland einen wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg zu erreichen. In scharfer Abgrenzung vom Ost-Block und der DDR setzte er folglich auf eine sozialwissenschaftlich gestützte Reformpolitik, die Freiheit, Emanzipation und Wohlstand verbinden und damit möglichst weit reichende soziale Integration innerhalb des bestehenden Systems einer liberalen Marktwirtschaft und einer parlamentarisch-demokratischen 18   Zitiert nach Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, 1999, S.  5. 19   Horst Ehmke, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 12. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Bd.  157, 34. Sitzung, 20.6.1991, S.  2790 f., Zitat S.  2791. 20   Vgl. allgemein Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S.  321–348, insbes. S.  332–341.

„Renegatentum“ als Lebensprinzip

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Verfassungsordnung erreichen wollte. Diese Politik war an die politischen Rahmenbedingungen und die gesellschaftliche Auf bruchsstimmung des Nachkriegsbooms gebunden und grenzte sich ab einerseits von den autoritären Überhängen der 1950er Jahre und andererseits von der Rückkehr zur „Realpolitik“, mit der die Bundesregierung unter Helmut Schmidt ab 1974 auf die wirtschaftliche Rezession reagierte. Sowohl in der Staatsrechtslehre als auch in der Politik der alten Bundesrepublik repräsentierte Horst Ehmkes Lebensweg etwas Beispielhaftes. Mit Blick auf seinen raschen Aufstieg, sein Vorrücken ins Zentrum und den allmählichen Rückzug treten größere gesellschaftliche Tendenzen hervor, die nach einer längeren Inkubationszeit für ein gutes Jahrzehnt das politische Klima dominierten und der alten Bundesrepublik eine besondere Prägung gaben, bevor sie wiederum von anderen Strömungen überlagert wurden.

Entwicklungen des Verfassungsrechts I.  Gliedstaatliches Verfassungsrecht

Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung Ein Bericht aus Deutschland von

Prof. Dr. Markus Möstl, Bayreuth Inhalt I. Bestandsaufnahme zur Praxis in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 1. Rechtsprechung der Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 2. Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 3. Zwischenfazit zur Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 II. Legitimität, Nützlichkeit und Notwendigkeit innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung . . . . . . 544 1. Vorüberlegung: Lohnt Vergleichung in einem so homogenen Verfassungsverbund? . . . . . . . . . . . 544 2. Die grundsätzliche Problematik und Rechtfertigungsbedürftigkeit jeglicher Verfassungsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 3. Sachliche Legitimität der Verfassungsvergleichung im internationalen Staatenverhältnis, im europäischen Verfassungsverbund und – erst recht – im bundesstaatlichen Verfassungsverbund . . . 550 4. Gebotenheit der Verfassungsvergleichung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 5. Zum Stellenwert der Vergleichung innerhalb des Methodenkanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 III. Ausgewählte Methodenfragen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 1. Ambivalenz der Zielrichtung: Einheits- und Vielfaltssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 2. Fragen der Auswahl des Vergleichsmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 3. Konsequenzen für die Praxis in Rspr. und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

I.  Bestandsaufnahme zur Praxis in Deutschland 1.  Rechtsprechung der Verfassungsgerichte In seinem Urteil vom 20.4.2016 betreffend die Überwachungsbefugnisse des BKA zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus1 kann das BVerfG in Randnummer 174 im Kontext seiner Ausführungen zu den Überwachungsbefugnissen mittels besonderer Mittel der Datenerhebung mit der überraschenden Feststel  BVerfG vom 20.4.2016 – 1 BvR 966/09 u.a. = BVerfGE 141, 220.

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Markus Möstl

lung aufwarten, dass seine Rechtsprechung, wonach bei kurzfristigen Observationen mittels technischer Mittel kein Richtervorbehalt greife, weniger streng sei als die Judikatur des US-Supreme Court (in Bezug auf GPS-Sender), wohingegen sich der EGMR (ebenfalls in Bezug auf GPS) zurückhaltender geäußert habe; das BVerfG zeigt sich also sichtlich beflissen, seine Judikatur in den größeren Kontext der Rechtsprechung anderer internationaler Höchstgerichte einzuordnen und sie nicht aus deren Rahmen fallen zu lassen. In einem anderen Fall, dem Beschluss vom 28.5.20082 zur Frage der Vereinbarkeit des seinerzeit im nordrhein-westfälischen Landesbeamtengesetz vorgesehenen Konzepts der Vergabe von Ämtern mit leitender Funktion im Beamtenverhältnis auf Zeit mit Art.  33 Abs.  5 GG, hingegen hat es eine Entscheidung zur Unzulässigkeit derartiger Gestaltungen getroffen, ohne in den Urteilsgründen auch nur zu erwähnen,3 dass der BayVerfGH wenige Jahre zuvor – mit gleicher Stoßrichtung – eine wichtige Leitentscheidung4 zu einer vergleichbaren Gestaltung des bayerischen Landesrechts getroffen hatte; zwar wird man unterstellen können, dass das BVerfG die Entscheidung des BayVerfGH zur Kenntnis genommen und in der Sache verarbeitet hat; das Gericht hat es jedoch nicht für nötig befunden, sich in den Gründen ausdrücklich mit Erkenntnissen des Landesverfassungsrechts auseinanderzusetzen und sich (auch) auf die Autorität eines Landesverfassungsgerichts zu berufen. Kann man aus diesen beiden – zugegebenermaßen zufällig gegriffenen – Einzelbeispielen schließen, dass das BVerfG die internationale Verfassungsvergleichung inzwischen ernster nimmt als die eigene innerbundesstaatliche und dass es der Rechtsprechung internationaler Höchstgerichte mehr Gewicht beizumessen bereit ist als der Judikatur der deutschen Landesverfassungsgerichte? Ein solcher Schluss wäre gewiss voreilig und überspitzt. Denn sehr wohl lässt sich in der Judikatur des BVerfG von Anbeginn an und bis in die neueste Zeit eine Praxis nachweisen, bei der Erträge des Landesverfassungsrechts und Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte immer wieder auch explizit aufgegriffen und nachgewiesen werden, und dies zum Teil auch durchaus nicht allein in Form des pflichtschuldigen Zitats, sondern der substantiellen Auseinandersetzung und der Bereitschaft des Voneinander-Lernens.5 Allerdings gibt es, wie bereits das Eingangsbeispiel gezeigt   BVerfG vom 28.5.2008 – 2 BvL 11/07 = BVerfGE 121, 205.   Keine Erwähnung im Maßstabs- und Subsumtionsteil, nur kurze beiläufige Erwähnung im Sachverhaltsteil, Rn.  47. 4   BayVerfG vom 26.10.2004 – Vf. 15-VII-01, VerfGH 57, 129 = NVwZ-RR 2005, 830. 5   Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (235 f.); Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5; genannt wird z.B., das BVerfG habe sich in seiner Entscheidung zum Großen Lauschangriff auf die Definition des Eingriffs des SächsVerfGH bezogen (BVerfG vom 3.3.2004 – 1 BvR 2378/98 u.a. = BVerfGE 109, 279 (327) und SächsVerfGH vom 14.5.1996 – Vf. 44-II-94 = LVerfGE 4, 303 (383)). Ein weiteres aktuelles Beispiel ist BVerfG vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 = BVerfGE 138, 102 (Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern), wo in Rn.  50 ff. eine intensive Bezugnahme von VerfGH RhPf vom 21.4.2014 – VGH A 39/14 stattfindet. Angeführt werden kann auch BVerfG vom 18.1.2012 – 2 BvR 133/10 = BVerfGE 130, 76 – Maßregelvollzug durch Beliehene –, wo immer wieder auf landesverfassungsgerichtliche Erkenntnisse (z.B. NdsStGH vom 5.12.2008 = NdsStGHE 4, 232; BremStGH NVwZ 2003, 81) Bezug genommen wird (z.B. Rn.  176 f.). Ein Beispiel aus der Frühzeit der Rspr. des BVerfG wäre BVerfG vom 5.4.1952 – 2 BvH 1/52 = BVerfGE 1, 208 (Sperrklausel), dort z.B. Auseinandersetzung mit BayVerfGH auf S.  246, 249. 2 3

Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung

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hat, zu aller Zeit auch Gegenbeispiele, die den Eindruck erwecken, als sei Erkenntnissen des Landesverfassungsrechts nicht dasjenige Gewicht beigemessen worden, das man ihnen hätte einräumen können; so ist z.B. bemerkt worden, dass das BVerfG in seinem berühmten Volkszählungsurteil6 das Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickelt hat, ohne zu erwähnen, dass die ersten Landesverfassungen das Datenschutzgrundrecht bereits ausdrücklich normiert und so eine richtungsweisende Antwort auf ein neues Problem gegeben hatten, von der auch das Grundgesetz lernen konnte.7 Eine wirklich eindeutige Linie des BVerfG, was die Frage der Heranziehung landesverfassungsrechtlicher und -gerichtlicher Erkenntnisse betrifft, lässt sich somit nicht feststellen; die Praxis scheint schwankend und wenig verlässlich. Noch am ehesten lässt sich vielleicht sagen, dass das BVerfG im Bereich des Staatsorganisationsrecht (der wichtigsten Domäne des Landesverfassungsrechts) bereit ist, die Dogmenbildung in Bezug auf parallele Institute des Bundes- und Landesverfassungsrechts in einer Art kooperativem Lernprozess von BVerfG und LVerfGen vonstattengehen gehen zu lassen,8 während es, soweit es um die subjektiven (insb. grundrechtlichen) Rechtspositionen Einzelner geht, seine diesbezügliche Dominanz9 zumeist recht deutlich spüren lässt. Auch dürfte sich mit aller Vorsicht feststellen lassen, dass das BVerfG gerade zu Beginn seiner Judikatur, als es selbst noch ein unbeschriebenes Blatt war und seine Linie noch finden musste, in besonderem Maße bereit war, (international und innerbundesstaatlich) rechtsvergleichend zu arbeiten10 und hierbei auch die (ja oftmals bereits seit einigen Jahren judizierenden, also älteren) Landesverfassungsgerichte als Autorität heranzuziehen, auf die man sich ausdrücklich berief,11   BVerfG vom 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 u.a. = BVerfGE 65, 1.   Grawert, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  81, 45, Fn.  107 (in Bezug auf Art.  4 Abs.  2 NRWVerf ), s.a. Dreier, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  1, Rn.  82, Fn.  295. Wenig Auseinandersetzung mit der zwischenzeitlich ergangenen Rspr. der Landesverfassungsgerichte (z.B. BayVerfGH vom 15.01.2007 – Vf. 11-VII-05 = BayVerfGH 60, 1) zeigt auch die Neujustierung der Judikatur des BVerfG zum Problemkreis des islamischen Kopftuchs der Lehrerin in BVerfG vom 27.1.2015 – 1 BvR 471/10 u.a. = BVerfGE 138, 296, obwohl hier – mit dem Schulverfassungsrecht – ein Bereich inmitten steht, in dem das GG traditionell Rücksicht auf die Landesverfassungsautonomie nimmt. 8   Am Beispiel der Dogmatik zur Garantie kommunaler Selbstverwaltung: Mehde, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Art.  28 Abs.  2 , Rn.  25 ff., unter Bezugnahme auf Schmidt-Aßmann, in: Badura/ Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd.  2 , Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, 803 (813). 9   Vgl. die allgemeine Einschätzung von Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (76): „Dasein im Schatten des BVerfG“ im Bereich der Grundrechte. 10   Dazu allgemein (v.a. auch für die internationale Verfassungsvergleichung): Markesinis/Fedtke, in: Markesinis/Fedtke (Hrsg.), Judicial Recourse to Foreign Law, 2006, 77 f.; Sommermann, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  86; zum Binnenbereich des Bundesstaates: Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (370). 11   So z.B. BVerfG vom 5.4.1952 – 2 BvH 1/51 = BVerfGE 1, 208 (246, 249); vom 18.3.1953 – 1 BvL 11/51 = BVerfGE 2, 181 (200, 206); vom 24.4.1953 – 1 BvR 102/51 = BVerfGE 2, 237 (252); vom 1.8.1953 – 1 BvR 281/53 = BVerfGE 3, 19 (22, 31); vom 28.4.1954 – 1 BvL 85/53 = BVerfGE 3, 368 (377); vom 11.5.1955 – 1 BvO 1/54 = BVerfGE 4, 178 (189) („Das Bundesverfassungsgericht befindet sich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof…“); vom 17.1.1957 – 1 BvL 4/54 = BVerfGE 6, 55 (64); vom 23.1.1957 – 2 BvE 2/56 = BVerfGE 6, 84 (93). 6 7

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Markus Möstl

während mit zunehmender Konsolidierung der eigenen Rechtsprechung naturgemäß die Neigung zunimmt, selbstreferenziell vor allem noch die eigene Judikatur nachzuweisen.12 Immerhin in Bezug auf die internationale Verfassungsvergleichung scheint dieser Trend zur stärkeren Selbstbezüglichkeit hingegen inzwischen gebrochen, da hier in jüngerer Zeit ein deutliches Ansteigen der Bezugnahmen auf ausländische Judikate registriert wird.13 Für die innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung lässt sich eine vergleichbare Kehrtwende nach meinem Eindruck indes nicht nachweisen, so dass, was die Heranziehung landesverfassungsrechtlicher Erkenntnisse durch das BVerfG anbetrifft (vertikale Rechtsvergleichung von unten nach oben – Fallgruppe 1), der unsichere, insgesamt wenig konsolidierte Befund bestehen bleibt. Weitaus besser – allerdings auch nicht zum Besten – bestellt ist es um die Praxis innerbundesstaatlicher verfassungsgerichtlicher Rechtsvergleichung, soweit es um deren mögliche horizontale Dimension, d.h. um die Heranziehung von parallelen Erkenntnissen des Rechts anderer Bundesländer durch die Landesverfassungsgerichte in deren wechselseitigen Verhältnis geht (Fallgruppe 2: horizontale Verfassungsvergleichung im Verhältnis der Landesverfassungen/-verfassungsgerichte untereinander). Hier kann nämlich in der Tat konstatiert werden, dass es in der Praxis der Landesverfassungsgerichte üblich oder jedenfalls weit verbreitet ist, parallele Rechtsund Rechtsprechungsentwicklungen der anderen Bundesländer zumindest bei wichtigen Fragen sowohl zur Kenntnis zu nehmen als auch in den Urteilsgründen explizit zu verarbeiten;14 in der Literatur ist hieraus geschlossen worden, die (innerbundes  Bryde, in: Markesinis/Fedtke (Hrsg.), Judicial Recourse to Foreign Law, 2006, 295 (297 f.); vgl. auch Bachof, VVDStRL 46 (1988), 141 (Diskussionsbeitrag). Zu bedenken ist allerdings, dass Judikatur anderer Verfassungsgerichte im vorbereitenden Votum berücksichtigt sein kann, auch wenn es dann in den Urteilsgründen nicht explizit zitiert wird. Die Urteilsgründe lassen also nicht stets einen verlässlichen Schluss darauf zu, ob es bei der Entscheidungsvorbereitung zu Verfassungsvergleichung gekommen ist. 13   Paulsen, Über die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 34. 14   Aus der unüberschaubaren Praxis exemplarisch: BayVerfGH vom 22.10.2012 – Vf. 57-IX-12 = VerfGH 65, 226, unter IV.2.a. und vom 22.5.2014 – Vf. 53-IVa-19, Rn.  33, 37 ff.; VerfGH BW vom 14.11.2016 – 1 VB 16/15 ( juris), Rn.  82, 91 f., 103, vom 9.5.2016 – 1 VB 25/16 ( juris), Rn.  9 und vom 30.5.2016 – 1 VB 15/15 ( juris), Rn.  35, 54, 69; VerfGH Berlin vom 17.6.1993 – 21/92 ( juris), Rn.  27, 38, vom 13.5.2013 – 155/11 ( juris), Rn.  20, 22 ff., vom 13.5.2013 – 32/12 ( juris), Rn.  52, 59, 62, 70, 76 ff., vom 18.6.2014 – 165/12 ( juris), Rn.  30, vom 11.4.2014 – 129/13 ( juris), Rn.  35; BbgVerfG NVwZ-RR 2000, 129/130 und LKV 2004, 123/124; HessStGH vom 21.5.2013 – P.St. 2361 ( juris), Rn.  91 ff., 110 ff. 154 ff., vom 13.7.2016 – P.St. 2431 ( juris), Rn.  60 ff., 82 ff., 100 ff., 132 f.; NdsStGH vom 24.10.2014 – 7/13 ( juris), Rn.  83, 85, 90 ff., vom 10.2.2017 – 1/16 ( juris), Rn.  91, 98 ff., 104, 110 ff., 128 ff. und vom 17.8.2012 – 1/12 ( juris), Rn.  50, 53 ff.; VerfGHNRW vom 25.10.2016 – 6/16 ( juris), Rn.  32, 39, 42; VerfGHRhPf vom 18.3.2016 – VGH N 9/14 ( juris), Rn.  88 f., 95 ff., 119 f., 126, 143, vom 11.1.2016 – VGH N 10/14 ( juris), Rn.  79, 83 f., 88 ff., vom 15.12.2015 – 12/14 ( juris), Rn.  70, 101 ff., vom 6.5.2014 – 9/12 ( juris), Rn.  35, 39, 54 ff., vom 19.7.2011 – 32/08 ( juris), Rn.  57 ff.; VerfGH Saarl vom 29.8.2016 – Lv 3/15 ( juris), Rn.  22 und vom 18.3.2013 – Lv 12/12, Rn.  35, 48; SächsVerfGH vom 28.1.2016 – Vf. 63-I-15 ( juris), Rn.  46, vom 10.4.2014 – Vf. 71-IV-13 ( juris), Rn.  16 f., vom 29.9.2014 – Vf. 68-i-13 ( juris), Rn.  25, 30, vom 26.2.2015 – Vf. 105-IV-13 ( juris), Rn.  35; LVerfG S-A vom 26.11.2014 – LVG 15/13 ( juris), Rn.  76 ff., vom 17.9.1998 – LVG 4/96 ( juris), Rn.  60; LVerfG S-H vom 27.1.2017 – LVerfG 4/15 und 5/15 ( juris) (fast durchgehende Verweise auf Parallelrechtsprechung); BremStGH vom 29.8.2000 – St 4/99 ( juris), Rn.  54, vom 14.5.2009 – 2/08 ( juris), Rn.  85 ff.; HambVerfGH – HVerfG 5/14 ( juris), Rn.  19, 25, vom 20.10.2015 – 4/15 ( juris), Rn.  61, 65, 68, 94, vom 14.12.2011 – HVerfG 3/10 ( juris), Rn.  130, 145, 208 ; BremStGH vom 15.5.2009 – 2/08 ( juris), 12

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staatliche) Rechtsvergleichung könne geradezu als spezifische Methode der Landesverfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet werden;15 auch wurde betont, durch die in erheblichem Umfang praktizierte wechselseitige Rezeption der Landesverfassungsgerichte untereinander werde der bundesstaatliche Verfassungsgerichtsverbund zu einem veritablen „Lernverbund“16. Vor allem auch das BVerfG hat in seiner früheren Funktion als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (Art.  99 GG) z.T. geradezu mustergültig vorexerziert,17 in welcher Weise die landesverfassungsgerichtliche Praxis mit paralleler Judikatur anderer Landesverfassungsgerichte in einen ertragreichen Dialog treten, d.h. sich von ihr inspirieren oder auch abgrenzen kann; so geschehen etwa in Bezug auf die 5% -Klausel bei den Kommunalwahlen18 oder bzgl. der Frage, inwieweit ein Landesverfassungsgericht seinen landesrechtlichen Prüfungsgegenstand auch am Prüfungsmaßstab Bundesrecht prüfen kann oder muss.19 Der BayVerfGH hingegen scheint seine (abweichende) Linie bezüglich der Frage, inwieweit er die Schutzwirkung der Landesverfassung und -gerichtsbarkeit auch in den Bereich des Bundesrechts hinein erstrecken will, eher auf eigene Faust und ohne explizite Auseinandersetzung mit paralleler Judikatur anderer Landesverfassungsgerichte entwickelt zu haben.20 Und auch seine (jüngere) Entscheidung, mit der er seine Linie bekräftigt, dass die Anwendung von Bundesrecht durch bayerische Gerichte nur sehr eingeschränkt am Maßstab der Bayerischen Verfassung gemessen werden kann,21 lässt keine Auseinandersetzung mit der diesbezüglich sehr divergierenden Praxis der deutschen Landesverfassungsgerichte22 erkennen – zugleich ein erneuter Beleg dafür, dass gerade eine konsolidierte eigene Judikatur die Bereitschaft sinken lässt, diese im Wege des Rechtsvergleichs selbstkritisch anhand der Praxis anderer Verfassungsgerichte zu überprüfen. Generell fällt auf, dass – auch soweit sich Landesverfassungsgerichte mit der Parallelrechtsprechung anderer Landesverfassungsgerichte beschäftigen – diese Inbezugnahme nach Dichte und Stil durchaus unterschiedlich ausfällt: Namentlich hinsichtlich der Frage, inwieweit Parallelrechtsprechung nur bei Gelegenheit, und soweit sie sich besonders aufdrängt, bedacht wird oder inwieweit stattdessen eine Art systematische, flächendeckende Ermittlung der Parallelsituation in den 15 anderen Ländern unternommen wird, erwecken die EntRn.  86 ff.; ThürVerfGH vom 7.9.2011 – 13/09 ( juris), Rn.  42; vom 3.12.2014 – 2/14 ( juris), Rn.  49, 60 ff., vom 10.4.2013 – 22/11 ( juris), Rn.  48 ff., vom 21.6.2015 – 28/03 ( juris), Rn.  133 ff. 15   Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (77). 16   Voßkuhle Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (236, Fn.  100 m.w.N.). 17   Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5. 18   BVerfG vom 13. 2.2008 – 2 BvK 1/07 = BVerfGE 120, 82 (Rn.  118, 126, 131). 19   BVerfG (als LVerfG von Schleswig-Holstein) vom 7.5.2001 – 2 BvK 1/00 = BVerfGE 103, 332 (Rn.  64 ff.), dort intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lösungen in anderen Ländern. 20   BayVerfGH vom 28.6.1988 – Vf. 12-VII-85 = VerfGH 41, 59 (64 f.); BayVerfGH vom 27.3.1992 – Vf. 8-VII-89 = 45, 33 (41). 21   BayVerfGH vom 26.6.2013 – Vf. 35-VI-12 = VerfGH 66, 94. 22  Zum Meinungsstand m.w.N.: Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (362 ff.), 382 ff.; ders., in Lindner/Möstl/Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2.  Aufl. 2017, Vorbem. B, Rn.  17 ff.

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scheidungen einen recht unterschiedlichen Eindruck. Während z.B. einzelne Entscheidungen des LVerfG Schleswig-Holstein (bezeichnenderweise ein besonders junges, erst 2008 eingerichtetes LVerfG) beinahe alle wichtigen Aussagen und Weichenstellungen mit umfangreichen Belegen zur Judikatur des BVerfG und der anderen Landesverfassungsgerichte untermauern und insofern sehr weitgetriebene Beispiele systematischer Rechtsvergleichung darstellen,23 wirkt der Dialog mit den Parallelgerichten bei anderen Verfassungsgerichten weitaus sporadischer. Festzuhalten ist daher: So weit verbreitet, ja üblich die Heranziehung von Erkenntnissen auch aus anderen Landesrechtsordnungen inzwischen geworden ist, zu einer wirklich gesicherten – d.h. von einem Konsens über ihr Gebotensein getragenen (folglich nicht nur bei Gelegenheit freiwillig zu Hilfe genommenen) und einigermaßen einheitlich gehandhabten – und in diesem Sinne „kanonisierten“ Methode der Rechtsfindung hat sich die innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung auch im horizontalen Verhältnis der Landesverfassungsgerichte untereinander noch nicht entwickelt. Hinzu kommen praktische Schwierigkeiten: Denn zwar sind die Erkenntnisse der Landesverfassungsgerichte heutzutage – in Zeiten von „juris“ und anderen Online-Sammlungen – weitaus leichter zugänglich als das früher der Fall war,24 und dennoch ist die systematische Ermittlung der (zudem literarisch nur schlecht erschlossenen [dazu sogleich 2.]) Rechtslage in 15 anderen Ländern eine Herkulesaufgabe, für die die zumeist ehrenamtlich besetzten und mit geringer Mitarbeiterkapazität ausgestatteten Landesverfassungsgerichte nur unzureichend gerüstet sind,25 sodass auch P.M. Huber, der die Rechtsvergleichung als unabweisbare und spezifische Methode der Landesverfassungsgerichte und Quelle der Rechtserkenntnis propagiert hat wie kaum ein Zweiter, zu dem Schluss kommt, dass diese z.T. noch gewissenhafter ausgeschöpft werden muss, als dies schon bislang der Fall ist.26 Kommen wir abschließend zur einzigen Form innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung, die in der Bundesrepublik als im Grunde gesichert und ausnahmslos praktiziert angesehen werden kann – und dennoch ganz spezifische Probleme aufwirft: die vertikale Verfassungsvergleichung von oben nach unten (Fallgruppe 3: vertikale Rechtsvergleichung von oben nach unten), d.h. die Berücksichtigung des Grundgesetzes und seiner Interpretation durch das BVerfG auch bei der Auslegung der Landesverfassung (und zwar gerade auch dort, wo das GG keine normhierarchisch zwingenden Vorgaben macht, denn die Beachtung bindender Vorgaben kann – richtig betrachtet – bereits von vornherein nicht als Rechtsvergleichung im eigentlichen Sinn bezeichnet werden). Dass die Landesverfassungsgerichte im Blick haben, was zu Parallelnormen des GG judiziert worden ist und im Schrifttum vertreten wird, kann als so selbstverständlich angesehen werden, dass es nicht gesondert durch Verweis auf einzelne Urteile belegt werden muss; die reichhaltige Inbezugnahme von Rspr. des BVerfG und von Lit. zum GG in nahezu allen landesverfassungsge  Besonders auffällig z.B. in LVerfG Schl-H vom 27.1.2017 – LVerfG 4/15 und 5/15.   Zur früher zu wünschen übrig lassenden Veröffentlichungspraxis noch K. Stern, in C. Starck/K. Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1983, 1/23. 25   Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (78 f.). 26   Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (77). 23 24

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richtlichen Entscheidungen legt eindrucksvoll Zeugnis davon ab. Eher schon dürfte – wie im Schrifttum zu Recht bemerkt wird – das Problem darin liegen, dass diese Orientierung am Grundgesetz, wie sie von allen Landesverfassungsgerichten geübt wird, in der Praxis bisweilen fast zu weit getrieben worden sein könnte, d.h. in eine Art vorauseilender Selbstanpassung an den grundgesetzlichen Standard abzugleiten droht, die die Landesverfassungsautonomie gefährdet und das Innovationspotential föderaler Vielfalt verspielt:27 Problematisch wird „Rechtsvergleichung“ (in Gestalt der einseitigen Orientierung am Grundgesetz) nämlich, wenn sie zur alles dominierenden Auslegungsmethode gerät, die sich nicht selten nivellierend über die Besonderheiten der Verfassungstexte gelegt hat, d.h. auf Kosten der Texttreue geht und die üblichen Auslegungsmethoden verdrängt; und es ist nicht sicher, dass die Landesverfassungsgerichte hier – zwischen Anpassung und Eigenständigkeit – immer eine glückliche Balance gefunden haben.28 Deutlich wird, dass auch die – einhellig praktizierte – Orientierung am Grundgesetz (Fallgruppe 3: vertikale Rechtsvergleichung von oben nach unten) durchaus ihre – ungelösten – methodischen Probleme aufwirft, die die Frage der zulässigen Reichweite dieser Orientierung, d.h. des richtigen Maßes der Rechtsvergleichung als Methode der Rechtserkenntnis betreffen. Ein Blick auf die Praxis der Verfassungsjudikatur in Deutschland vermittelt nach alledem ein uneinheitliches, wenig konsolidiertes Bild: Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung wird zwar praktiziert, ohne dass indes über den Stellenwert dieser Methode in den verschiedenen Dimensionen und Wirkrichtungen (vertikal und horizontal), in denen solche Verfassungsvergleichung zum Tragen kommen kann, Einigkeit zu bestehen scheint. Denn während sich die Landesverfassungsgerichtsbarkeit vielleicht fast zu sehr am Grundgesetz orientiert (und zwar auch dort, wo sie das nicht müsste), sind umgekehrt Zweifel angebracht, ob das BVerfG den reichen Fundus des Landesverfassungsrechts und die Judikatur der Landesverfassungsgerichte bei seiner Rechtsfindung immer hinreichend würdigt. Die Landesverfassungsgerichte untereinander schließlich nehmen einander wahr und machen ihr Recht wechselseitig fruchtbar; allerdings wirken Stil und Dichte solcher Binnenrechtsvergleichung uneinheitlich und es scheint insgesamt eine Intensivierung möglich. Bundesstaatliche Verfassungsvergleichung ist der deutschen Rechtsprechungspraxis also zwar keineswegs fremd; zu einer nach Stellenwert und Wirkungsweise gesicherten, wirklich konsentierten und in diesem Sinne „kanonisierten“ Auslegungsmethode hat sie sich indes noch nicht entwickelt.

27  Vgl. Grawert, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  81, Rn.  45; Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (371); Lange, Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Bd.  1, 2001, 289 (293). 28  Siehe Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (354 f.) m.w.N.; Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (371); Lange, Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Bd.  1, 2001, 289 (293).

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2. Staatsrechtslehre Der bis hierher ermittelte Befund einer zwar durchaus existierenden, jedoch eher unreflektiert und wenig gesichert erscheinenden Praxis innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung in Deutschland wird untermauert, wenn man nunmehr in einem zweiten Schritt die deutsche Staatsrechtslehre in den Blick nimmt, die – um das Ergebnis vorwegzunehmen – der Rechtspraxis auf dem Felde der föderalen Verfassungsvergleichung aufs Ganze gesehen nur wenig Orientierung und Hilfestellung zu bieten vermag, sondern ihr eher hinterherzuhinken scheint. Dass dies so ist, dürfte dabei inzwischen nicht mehr zuallererst in einem allgemeinen Misstrauen gegen Rechtsvergleichung als Methode öffentlich-rechtlicher Rechtserkenntnis begründet liegen (das nämlich zunehmend als überwunden gelten kann, siehe unten), sondern seine Ursache vornehmlich in der ungebrochenen – und für einen so traditionsreichen Bundesstaat, wie dies Deutschland ist, überaus verwunderlichen – unitarischen Ausrichtung haben, wie sie für den Mainstream der deutschen Staatsrechtlehre kennzeichnend ist,29 denn für Themen wie die innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung vermag eine unitarisch, d.h. ganz aufs Grundgesetz ausgerichtete Staatsrechtslehre naturgemäß nur wenig Interesse aufzubringen. Die für die deutsche Staatsrechtslehre kennzeichnenden Defizite in der Befassung mit innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung betreffen Theorie und Dogmatik gleichermaßen: Was zunächst die Theorie, d.h. die Durchdringung in methodischer Hinsicht anbelangt (welchen Stellenwert hat innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung als Methode der Rechtserkenntnis und wie ist sie zu handhaben?), so fällt zunächst auf, dass das Thema der innerbundesstaatlichen Verfassungsvergleichung viel seltener und knapper behandelt wird als das Thema der (insbesondere internationalen) Verfassungsvergleichung im Allgemeinen.30 Typischerweise ist es so, dass bei der Behandlung von Fragen der internationalen Verfassungsvergleichung nur miterwähnt wird, dass auch die innerstaatliche föderale Verfassungsvergleichung eine besondere Spielart der Verfassungsvergleichung ist (diese läuft also mit und hat keinen Selbststand, wird also nicht als spezifische Methode des Bundesstaates entfaltet).31 Konsequenterweise sind die Fragen der internationalen Verfassungsvergleichung tendenziell auch besser aufgearbeitet und stärker im Bewusstsein der Staatsrechtslehre veran  Kritisch hierzu: Möstl, Bundesstaat und Staatenverbund, 2012, 8; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, 381 konstatiert ein „gestörtes“ Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre zum deutschen Bundesstaat; kritisch zum einheitsstaatlichen Interpretationsschema auch Schönberger, Die europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), 81 (94); zur unitarischen Ausrichtung der Staatsrechtslehre auch Pieroth, Plurale und unitarische Strukturen demokratischer Legitimation, EuGRZ 2006, 330. 30   Vgl. dazu die Nachweise unter II. 3. 31  Vgl. z.B. Sommermann, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, 1017: „Die Rechtsvergleichung … vergleicht verschiedene Rechtssysteme, vornehmlich nationale Rechtsordnungen, es können aber auch gliedstaatliche Ordnungen innerhalb eines Bundesstaates sein“. Ähnlich ders., in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  3 (internationaler und intranationaler Grundrechtsvergleich); s.a. C. Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1026). 29

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kert, als das bzgl. der innerstaatlichen föderalen Verfassungsvergleichung der Fall ist (als Beleg mag dienen, dass zur „Europäischen Verfassungsvergleichung“ und zum [internationalen] „Vergleichenden Verfassungsrecht“ inzwischen lehrbuchartige bzw. monographische Gesamtdarstellungen existieren,32 während es derartige vergleichend angelegte Darstellungen zum deutschen Staatsrecht in Bund und Ländern allenfalls sehr partiell und ansatzweise gibt; auch dass, um ein weiteres Beispiel zu nennen, ein führendes Grundrechtslehrbuch den Einfluss der [internationalen] Rechtsvergleichung auf die Grundrechtsinterpretation in Deutschland eigenständig behandelt, während die Landesgrundrechte hiervon abgesondert an anderer Stelle allein aus dem normhierarchischen Blickwinkel des Grundgesetzes angesprochen werden, ohne ihr komparatives Potential für die deutsche Rechtsentwicklung explizit in Erwägung zu ziehen,33 kann als durchaus symptomatisch gelten). Soweit der innerbundesstaatlichen Verfassungsvergleichung in den Darstellungen zum deutschen Verfassungsrecht ein eigenständiges Augenmerk gewidmet wird, fallen die Ausführungen knapp aus und machen auf diese Weise deutlich, wie dürftig das diesbezügliche konsentierte Methodenwissen in Deutschland ist.34 Freilich gibt es auch Ausnahmen, d.h. Stimmen die kraftvoll für (mehr) innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung in Deutschland eintreten: Zu nennen ist hier freilich zuallererst P. Häberle, der im Zuge seiner Propagierung der Rechtsvergleichung als fünfter Auslegungsmethode im Verfassungsstaat stets auch für mehr innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung plädierte;35 hervorzuheben ist auch P. M. Huber, der, wie bereits ausgeführt, die innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung als spezifische Methode der Landesverfassungsgerichtsbarkeit gekennzeichnet hat;36 positiv zu den Vorzügen eines Lernverbundes innerstaatlicher Verfassungsvergleichung hat sich namentlich auch A. Voßkuhle geäußert,37 um nur einige prominente Beispiele zu nennen. Zu einer allseits akzeptierten, gesicherten Methodenlehre innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung haben sich diese Vorstöße indes nicht verdichtet, wie nicht zuletzt daran deutlich wird, dass selbst P. Häberle, dieser große Förderer der Idee der Verfassungsvergleichung als kanonisierter Auslegungsmethode, sich nie bis ins Letzte festgelegt hat, mit welchem Rang und welcher Durchschlagskraft diese Methode genau zum Einsatz kommen soll.38 32   Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010; Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005. 33   Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 5.  Aufl. 2016, §  3, Rn.  13 und §  4, Rn.  8. 34   Herdegen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  6, 3.  Aufl. 2008, §  129, Rn.  94 f. (hier macht, so wichtig viele dort getroffenen Feststellungen sind, freilich schon die nachgeschobene Behandlung in den letzten beiden Randnummern des Kapitels zum Verfassungsrecht der Länder deutlich, wie wenig prägend die rechtsvergleichende Methode in Deutschland letztlich ist); s.a. Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  6, 3.  Aufl. 2008, §  130, Rn.  89. 35   Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913 ff.; ders., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR n.F. 34 (1985), 303 ff.; ders./M. Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2016, Rn.  702 ff. 36   Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (77). 37   Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (235 f.). 38   Vgl. zuletzt Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2016, Rn.  711.

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Was sodann die Dogmatik, also die Option einer rechtsvergleichenden dogmatischen Erschließung der einzelnen Rechtsinstitute des deutschen Staatsrechts in Bund und 16 Ländern anbelangt, so muss konstatiert werden, dass eine solche – von vornherein föderal komparativ angelegte – Darstellungsform der Dogmatik des deutschen Staatsrechts in Deutschland ganz unüblich ist; stilbildend ist (in Forschung und Lehre) vielmehr eine Darstellungsform des deutschen Staatsrechts, die sich einseitig am Grundgesetz orientiert und den Landesverfassungen allenfalls sporadisch besondere Aufmerksamkeit widmet (namentlich im Zuge der Behandlung des grundgesetzlichen Bundesstaatsprinzips oder sonst aus dem unitarischen Blickwinkel des Grundgesetzes, was etwa Rang- und Geltungsfragen anbelangt, und allenfalls – wenn überhaupt 39 – sehr vereinzelt im Sinne eines darüber hinausgehenden, interessierten rechtsvergleichenden Seitenblicks, was Besonderheiten einzelner Landesverfassungen anbelangt). B.-O. Bryde40 stellt in diesem Zusammenhang treffend fest, diese „auf der Basis des Grundgesetzes unitarisierende Verfassungsrechtsdogmatik“ werde verfassungssoziologisch „durch die bundesweit einheitliche verfassungsjuristische Sozialisation gesichert: Die Ausbildung im Verfassungsrecht erfolgt […] am Grundgesetz, und von daher ist es fast zwangsläufig, dass der deutsche Jurist auch dann in den Begriffen und Lösungen des Grundgesetzes denkt, wenn er mit landesverfassungsrechtlichen Problemen konfrontiert wird“; ob sein Klammerzusatz, dass dies „natürlich und mit Recht“ so sei, in gleicher Weise zutrifft, darüber wird man streiten können. Freilich gibt es, blickt man zunächst auf die Literatur, auch hier Ausnahmen: So ist aus jüngerer Zeit41 insbesondere der als „Landesgrundrechte“42 erschienene Band VIII des Handbuchs der Grundrechte zu nennen, in dem die Grundrechte der Landesverfassungen nicht nur je für sich, sondern auch dezidiert rechtsvergleichend betrachtet werden. Erhellend ist hierzu indes das Vorwort, in dem offengelegt wird, dass der Band in der ursprünglichen Konzeption der Reihe nicht vorgesehen war; vielmehr sollten die Landesgrundrechte zunächst (dem üblichen Standard entsprechend) allein „aus dem unitarischen Blickwinkel der Bundesgrundrechte“ betrachtet werden (also gleichsam „von oben“); dass nunmehr (gleichsam von unten) eine gesonderte rechtsvergleichende Betrachtung der Landesgrundrechte nachgeschoben wurde, wird mit der gestiegenen Bedeutung der Grundrechtsjudikatur der Landesverfassungsgerichte begründet. Deutlich wird, wie ungewöhnlich und rechtfertigungsbedürftig eine komparativ angelegte Darstellungsform somit noch immer ist. Obwohl nämlich das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, wie K. Stern in seinem Handbuch zum Staatsrecht der Bundesrepublik klarsichtig bemerkte,43 aus einem Bundesstaatsrecht sowie dem Staatsrecht der Länder besteht, wird das deutsche 39   Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 5.  Aufl. 2016, legt in §  3 Rn.  8 z.B. offen, dass auf Besonderheiten der Landesverfassungen nicht eingegangen werden kann. 40   Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5. 41   Ein älteres Beispiel stellt die bewusst auch rechtsvergleichend angelegte Untersuchung zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit von Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd.   1–3, 1983, dar. 42   Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  6 : Landesgrundrechte in Deutschland, 2017. 43   Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, 2.  Aufl. 1984, 12.

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Staatsrecht in Lehr- und Handbüchern traditionell allein in der Gestalt eines (allein am Grundgesetz orientierten) Bundesstaatsrechts dargestellt (fast so als wäre Deutschland ein Einheitsstaat), während die Landesverfassungen und das Landesstaatsrecht allenfalls beiläufig Erwähnung finden. Wer – um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen – in einem typischen Lehrbuch zum deutschen Staatsrecht etwas zum Thema „materielle Grenzen der Verfassungsänderung“ erfahren möchte, wird im Einzelnen über die Errungenschaft der Ewigkeitsklausel des Art.  79 Abs.  3 GG belehrt, er wird, wenn er Glück hat, vielleicht auch noch in Kenntnis gesetzt, dass es in den älteren Nachkriegsverfassungen der Länder (z.B. Art.  75 Abs.  1 Satz  2 BayVerf.) bereits Vorläufer einer solchen Ewigkeitsklausel gegeben hat,44 er wird aber sicher nicht vertieft informiert,45 wie die Ewigkeitsklauseln der Länder (ggf. abweichend vom GG) formuliert sind, wie sie in der Rspr. der Landesverfassungsgerichte ausgelegt werden und welche interessanten staatsrechtlichen Fragen sich hierbei ergeben haben (z.B. zu den Grenzen der Einführung plebiszitärer Elemente46), die auf Bundesebene bislang u.U. noch gar keine Rolle gespielt haben, bzw. was in einem Bundesland gilt, das keine Ewigkeitsklausel kennt.47 Eine von vornherein integrierte und komparative Darstellungsform, die das deutsche Staatsrecht bewusst als Staatsrecht nicht allein des Bundes, sondern auch der Länder präsentiert, ist auf diese Weise bislang nicht üblich geworden. Nichts Anderes gilt für die Kommentarliteratur: Denn zwar ist es legitim, dass sich ein GG-Kommentar auf das GG beschränkt und nicht zugleich Landesverfassungen mitkommentiert (sondern sich – wie üblich – darauf beschränkt, etwaige Parallelnormen der Landesverfassung vor der eigentlichen Kommentierung immerhin zu nennen). Dennoch ist unverkennbar, dass der Mehrebenengedanke sowie das Potential der Rechtsvergleichung vermehrt Eingang in die Konzeption von GGKom­mentaren finden; 48 soweit dies geschieht, bleibt gerade die Behandlung des Landesverfassungsrechts indes in aller Regel oberflächlich49 und in ihrer Bedeutung hinter derjenigen z.B. der supranationalen/internationalen Rechtsquellen tendenziell zurück.50 Eine (über Teilbereiche hinausgehende) systematische Aufarbeitung des 44   So z.B. Maurer, Staatsrecht I, 6.  Aufl. 2010, §  22, Rn.  10; im Lehrbuch von Ipsen, Staatsrecht I, 28.  Aufl. 2016, Rn.  1037 ff. fehlt dieser Hinweis indes. 45   Selbst in einem Werk wie dem von Stern, das sich der Tatsache, dass das Landesstaatsrecht Teil des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschlands ist, durchaus bewusst ist (siehe oben Fn.  43), wird bei der Verfassungsänderung letztlich nur Art.  79 Abs.  3 GG behandelt (165 ff.; Erwähnung der Landesverfassungen auf S.  166). 46   BayVerfGH vom 31.3.2000 – Vf. 2-IX-00 = VerfGH 53, 42. 47   Dazu z.B. VerfGH Berlin vom 13.5.2013 – 155/11 ( juris), Rn.  20 ff. 48   Etwa im GG-Kommentar von Dreier, wo jeweils unter der Ziffer B.III. rechtvergleichende Hinweise gegeben werden. 49   Im Kommentar von Dreier wird der Leser bei der Berufsfreiheit (Art.  12, Rn.  18) zwar z.B. erfahren, dass sich auf das Recht und die Pflicht zum Arbeiten bezogene Aussagen in Art.  166, 167 BayVerf. finden, über den für die Verfassungspraxis entscheidenden Umstand, dass der BayVerfGH die Berufsfreiheit als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art.  101 BayVerf.) begreift, wird er indes nicht informiert (vgl. BayVerfGH vom 28.1.1988 – Vf. 13-VII-86 = VerfGH 41, 4 (8 f.)). 50   Bezeichnenderweise gibt es die ersten integrierten Darstellungen der Grundrechte auf nationaler und europäischer Ebene (z.B. Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechtekommentar. Die Grundrechte des Grundgesetzes mit ihren europäischen Bezügen, 2.  Aufl. 2015; Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/ GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2.  Aufl. 2013). Eine vergleichbare Darstellung für den deutschen Bundesstaat fehlt indes.

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Landesverfassungsrechts findet auf diese Weise im Rahmen gesamtdeutscher (länderübergreifender) Darstellungen kaum statt. Die Literatur zu den je einzelnen Landesstaatsrechten und Landesverfassungen kann diesen Mangel nicht kompensieren. Zwar ist in jüngerer Zeit ein gewisser Aufschwung in der literarischen Erschließung der einzelnen Landesverfassungen zu erkennen.51 Eine systematische komparative Aufarbeitung auch des Staatsrechts der anderen Länder vermögen diese Darstellungen indes nicht zu leisten (auch wenn die Methode der horizontalen Rechtsvergleichung in ihnen – in unterschiedlichem Ausmaß – sehr wohl präsent ist). Sich einen Überblick über 16 verschiedene Landesstaatsrechte zu verschaffen, bleibt zudem mühsam – ganz abgesehen davon, dass es nicht als selbstverständlich angesehen werden kann, dass in einer typischen deutschen Universitätsbibliothek tatsächlich alle aktuellen Landesverfassungskommentare, Landesstaatsrechtslehrbücher und landesrechtliche Zeitschriften (namentlich die Landesverwaltungsblätter) vorhanden sind (auch hier ist die Ausstattung an internationaler Literatur zum Teil besser als diejenige für landesrechtliche Fragestellungen). Nicht anders sieht es in der Lehre aus: Das deutsche Staatsrecht wird anhand des Grundgesetzes unterrichtet.52 Dass in vielen deutschen Rechtsfakultäten (außerhalb Bayerns) kein Landesverfassungsrecht gelehrt wird, ist ein seit langem beklagter Zustand.53 Ein exemplarischer Blick in die Fakultätshomepages deutscher Juristischer Fakultäten erweckt nicht den Eindruck, dass sich hieran etwas Wesentliches geändert hat. Und wenn es gelehrt wird, erfolgt die Befassung damit spät (in Bayreuth z.B. im 5. Fachsemester). Der deutsche Jurist wächst auf diese Weise nach wie vor nicht im prägenden Bewusstsein heran, dass das deutsche Verfassungsrecht nicht nur aus dem Grundgesetz, sondern auch aus 16 Landesverfassungen besteht. Seine Sozialisation ist den Zwecken innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung nicht förderlich. Der eher schwache Stellenwert, den die innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung nach alledem in der deutschen Staatsrechtslehre genießt, schlägt sich schließlich, was etwaige Methoden und Zielrichtungen solcher Rechtsvergleichung betrifft, in drei charakteristischen Unsicherheiten nieder, auf die im Rahmen dieses Beitrags zurückzukommen sein wird: (1) Die Legitimität innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung wird in der deutschen Literatur54 nicht selten mit den intensiven Homogenitätsanforderungen und sonstigen Einwirkungen des verklammernden Grundgesetzes in Verbindung gebracht, obwohl gerade bezüglich solcher rechtlich bindender Einwirkungen fraglich ist, ob es sich überhaupt um Rechtsvergleichung im eigentlichen Sinne handelt (hat Rechtsvergleichung ihr legitimes Betätigungsfeld nicht umgekehrt gerade in den Bereichen, wo eine Rechtsordnung sich – auch ohne zwingende Bindung – von einer anderen inspirieren lässt?). (2) Innerbundesstaatliche Rechts51   In Bayern (einem Land das freilich seit jeher besonderen Wert auf seine lebendige Eigenverfasstheit legt) sind in den letzten Jahren immerhin drei neue Verfassungskommentare (Lindner/Möstl/Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2.  Aufl. 2017; Meder/Brechmann (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, 5.  Aufl., 2014; Holzner (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2014) sowie ein Lehrbuch zum Landesstaatsrecht (Lindner, Bayerisches Staatsrecht, 2010) erschienen. 52   Vgl. den obigen Satz von Bryde zur Sozialisation des deutschen Juristen, Fn.  4 0. 53   Starck, VVDStRL 46 (1988), 157 (Diskussionsbeitrag). 54  Typisch: Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  6, 3.  Aufl. 2008, §  130, Rn.  89; Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (77).

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vergleichung wird in Deutschland zumeist als unproblematisch angesehen, soweit es (vertikal von oben nach unten) um die Orientierung am Grundgesetz, zum Teil auch, soweit es um die horizontale Dimension der wechselseitigen Anleihen zwischen den Ländern geht; dass sich hingegen (vertikal von unten nach oben) auch das Grundgesetz von den Landesverfassungen komparativ inspirieren lassen kann oder sollte, wird hingegen zum Teil als ausdrücklich problematisch bzw. jedenfalls weniger selbstverständlich erachtet; 55 (bleibt hier indes nicht eine ganz wesentliche Wirkrichtung innerbundesstaatlicher Rechtsvergleichung – diejenige von unten nach oben – unterbelichtet?). (3) Innerbundesstaatliche Rechtsvergleichung wird in Deutschland nicht selten mit der Figur des „gemeindeutschen Verfassungsrechts“ in Verbindung gebracht; 56 eine solche Konnotation rückt freilich insbesondere die Perspektive weiterer Vereinheitlichung der im deutschen Bundesstaat ohnehin relativ homogenen Rechtsmasse in den Mittelpunkt (kann und sollte Rechtsvergleichung aber nicht umgekehrt genauso das Potential eröffnen, sich eigener Besonderheiten besser bewusst zu werden, sich also in methodisch reflektierter Weise ggf. auch voneinander abzugrenzen, Differenzen zu erkennen und auf diese Weise die – in Deutschland eher schwach ausgeprägte – föderale Vielfalt zu stärken?).

3.  Zwischenfazit zur Bestandsaufnahme Die Bestandsaufnahme zur gängigen Praxis in Rechtsprechung und Staatsrechtslehre vermittelt nach alledem ein ambivalentes Bild: Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung wird in Deutschland zwar betrieben, ihr Status ist aber wenig gesichert. Während die Orientierung am Grundgesetz fast zu dominierend zu werden droht, ist die umgekehrte Wirkrichtung (Anleihen des Bundesrechts im Landesverfassungsrecht) von Unsicherheiten geprägt. Die Handhabung des BVerfG ist uneinheitlich; die Literatur verharrt ohnehin in einer einseitig am Grundgesetz orientierten Darstellungsform des deutschen Staatsrechts und zeigt wenig Interesse an der Vielfalt des Landesrechts. In der Horizontalen gehen die Landesverfassungsgerichte in unterschiedlichem Ausmaß verfassungsvergleichend vor; die Literatur trägt hingegen nur wenig zu einem solchen Zwischenländervergleich bei und lässt die Gerichte mit ihrer Aufgabe weitgehend allein. Tatsächlich existiert damit das von den Befürwortern von mehr Verfassungsvergleichung immer wieder betonte Paradox: Während es ganz unstreitig und ständige Praxis ist, dass man sich bei der Verfassungsgebung und Verfassungsreform – sowohl im Allgemeinen als auch speziell im innerbundesstaatlichen Verhältnis – von Parallelverfassungen inspirieren lässt (nicht nur haben sich die Landesverfassungen wechselseitig befruchtet, sondern auch das Grundgesetz hat schon öfters Innovationen des Landesverfassungsrechts nachvollzogen),57 vermag es die Verfassungsvergleichung 55   Maurer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  82, Rn.  84, Fn.  212. 56  So bereits Häberle, „Landesbrauch“ oder parlamentarisches Regierungssystem?, JZ 1969, 613; ­siehe z.B. auch Herdegen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  6, 3.  Aufl. 2008, §  129, Rn.  94. 57  Dazu Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1024) (am Beispiel der

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noch immer nicht, auch in der täglichen Rechtsanwendung (d.h. bei der Verfassungsauslegung) und in der Dogmatik des Staatsrechts einen vollends gesicherten Status zu erringen. Zwar wird man dieses Paradox nicht einfach dadurch auflösen und gegen es ankämpfen können, dass man, wie dies von Befürwortern der Verfassungsvergleichung des Öfteren getan wird, auf die Anordnung des Art.  1 Abs.  2 des Schweizerischen ZGB verweist, wo statuiert ist, dass der Richter, wenn dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden kann und auch Gewohnheitsrecht fehlt, nach der Regel entscheiden solle, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, wobei er bewährter Lehre und Überlieferung zu folgen habe (Stoßrichtung: Wenn der Verfassungsgeber rechtsvergleichend vorgeht, müsse dies auch die Verfassungsanwendung tun).58 Denn, wie zu Recht bemerkt wurde: Die Legitimität und Notwendigkeit rechtsvergleichenden Vorgehens kann man schwerlich mit einem rechtsvergleichenden Blick auf eine schweizerische Norm begründen.59 Grund, der Legitimität und Notwendigkeit innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung angesichts der bestehenden Unsicherheiten vertieft auf den Grund zu gehen und nach ihren spezifischen Methoden zu fragen, gibt es angesichts des geschilderten – wenig konsolidierten – Ausgangsbefundes jedoch allemal. Hierzu einige Denkanstöße zu geben, ist Ziel dieses Beitrags.

II.  Legitimität, Nützlichkeit und Notwendigkeit innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung 1.  Vorüberlegung: Lohnt Vergleichung in einem so homogenen Verfassungsverbund? Das Vorhaben, gerade am Beispiel des deutschen Bundesstaates der Legitimität, Nützlichkeit und Notwendigkeit innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung nachzugehen, fordert eine Vorüberlegung heraus: Lohnt Verfassungsvergleichung in einem so homogenen föderalen Verfassungsverbund, wie es der deutsche ist, überhaupt? Liegt das Desinteresse der deutschen Staatsrechtslehre an innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung nicht – zu Recht – daran, dass es eigentlich kaum etwas Interessantes zu vergleichen gibt, weil alles ohnehin so ähnlich ist? Es lässt sich nicht leugnen: Ihre großen Zeiten haben Rechts- und Verfassungsvergleichung stets gehabt, wenn es galt, markant Unterschiedliches zusammenzuführen – in Deutschland etwa im 19. Jahrhundert, als es – nationalstaatlich motiviert – darum ging, aus den vielen Landesstaats- und -verfassungsrechten eine Art gemeines deutsches Staatsrecht zu entwickeln.60 Gleiches lässt sich heute in Europa beobachten: Verfassungsgebung in den neuen Ländern und den nachfolgenden Verfassungsreformen in einigen alten Ländern); siehe auch Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (389) mit Nachweisen in Fn.  199 zur „Werkstatt Bundesstaat“ und zur Vorreiterrolle der Landesverfassungen auch in Bezug auf das GG; allgemein auch Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  82. 58   Vgl. dazu m.w.N.: Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, Rn.  707 f. 59   Drobnig, Rechtsvergleichung in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 50 (1986), 610 (611). 60   Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 1. Kapitel, Rn.  8.

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Europäische Rechtsvergleichung ist – wie im Vorwort des Projekts „Ius Publicum Europaeum“ bemerkt wird61 – gerade deswegen „Beruf der Zeit“, weil die sehr unterschiedlichen öffentlich-rechtlichen Rechtstraditionen der europäischen Nationen zu einem funktionierenden europäischen „Raum des Rechts“ (Art.  3 Abs.  2 EUV) zusammenwachsen sollen. Gleichermaßen stimmt: Das deutsche Verfassungsrecht in Bund und Ländern ist relativ homogen; es wird zusammengehalten durch den (allen Beteuerungen zum Trotz, es werde nicht Konformität oder Uniformität, sondern nur ein Mindestmaß an Homogenität verlangt62 ) durchaus dichten Rahmen des Art.  28 Abs.  1 GG, überdies wirkt das Grundgesetz in vielerlei Weise in das Landesstaatsrecht hinein.63 Rechtsvergleichung indes – wie zu betonen ist – entfaltet sich nicht, wo ohnehin zwingende Vorgaben einer höheren Verfassungsebene zu beachten sind. Vielmehr ist ihr Lebensraum dort, wo prinzipielle Autonomie herrscht und dennoch von Erkenntnissen der jeweils anderen Seite „gelernt“ werden soll64 (Rechtsvergleichung sollte nicht mit der Beachtung bindender Vorgaben verwechselt werden; die vielen grundgesetzlichen Bindungen des Landesverfassungsrechts mögen zur Begründung der Legitimität der Verfassungsvergleichung angeführt werden können – weil infolge des gleichen Homogenitätsrahmens sichergestellt ist, dass substantiell Vergleichbares verglichen wird; sie sind selbst und als solche indes kein Anwendungsfall der Rechtsvergleichung 65). Der Raum substantieller Autonomie der Landesverfassungen ist allerdings nicht übermäßig groß, und auch wo er gegeben ist, wird er nicht immer ausgenutzt, weil in Deutschland der Föderalismus traditionell nicht in erster Linie als Chance zur Rechtsvielfalt begriffen wird, sondern die Sehnsucht nach Rechtseinheit stark verbreitet ist.66 Und dennoch lässt sich aus alledem, wie nunmehr zu zeigen ist, nicht schließen, dass sich Verfassungsvergleichung in Deutschland – und mag der Rahmen prinzipieller Homogenität auch relativ eng gezogen sein – nicht mehr lohnen würde: Denn erstens gibt es – bei aller Homogenität – auch doch noch genügend Eigenständiges in den Landesverfassungen, das sowohl horizontal (als Inspirationsquelle untereinander) als auch vertikal (im Sinne einer Vergleichsfolie auch für das Grundgesetz) durchaus der Betrachtung wert ist. Das gilt freilich zuallererst für den – wichtigen – Bereich der Staatsorganisation, der zentralen Domäne des Landesverfassungsrechts, in dem Raum für lebendige Eigenverfasstheit nicht nur besteht sondern auch   v. Bogdandy/Villalon/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  1, 2007, Vorwort.   BVerfG vom 18.12.1968 – 1 BvR 638/64 u.a. = BVerfGE 24, 367 (390). 63   Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  6, 3.  Aufl. 2008, §  130, Rn.  89; Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (77). 64   Zur in diesem Sinne „freiwilligen“ Natur der Rechtsvergleichung, wie sie hier interessiert, z.B. Aubin, Die rechtsvergleichende Interpretation autonom-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 34 (1970), 458 (459); Drobnig, Rechtsvergleichung in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 50 (1986), 610 (621 ff.); die in der Literatur ebenfalls diskutierten Fälle der „notwendigen“ Rechtsvergleichung (etwa im internationalen Privatrecht oder im Völkerrecht) interessieren im Bereich innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung nicht. 65   Vgl. die Nachweise in Fn.  63, die sich diesbezüglich nicht eindeutig äußern. 66   Dazu allgemein Möstl, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern: Hintergrund, Stand und Bewertung der aktuellen Reformdiskussion, ZG 2003, 297 (299). 61

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ausgenutzt wird und wiederholt auch Impulse für die gesamtdeutsche Verfassungsentwicklung gesetzt hat: 67 Dies geht von markanten Besonderheiten, namentlich den ausschließlich auf Landesebene bestehenden substantiellen plebiszitären Elementen (in Bayern z.B. Art.  74 BayVerf ), bis hin zu vielen Details, etwa dem oben genannten68 Beispiel unterschiedlich gestalteter Ewigkeitsklauseln (die teilweise Art.  79 Abs.  3 GG entsprechen, z.B. Art.  69 Abs.  1 S.  2 NRWVerf, teilweise älter und eigenständig gestaltet sind, z.B. Art: 75 I 2 BayVerf, teilweise ganz fehlen, z.B. Berlin). Um exemplarisch allein das Beispiel der Bayerischen Verfassung herauszugreifen, können im Bereich des Staatsorganisationsrechts – zusätzlich zu den bereits genannten Besonderheiten (Volksgesetzgebung, Verfassungsänderung) – folgende Re­ gelungskomplexe aufgeführt werden, die jeweils Gestaltungen enthalten, die das Grundgesetz so nicht kennt: ergänzende autonome Weichenstellungen im Bereich kommunaler Selbstverwaltung, Art.   10  ff., 83; eigenständige Ausgestaltung des Wahlsystems zum Landtag mit markanten Besonderheiten, Art.  14; eigenständiger Oppositionsartikel, Art.  16a; Selbstauflösungsrecht des Landtags und plebiszitäre Abberufung, Art.  18; eigenständige Ausgestaltung der Abhängigkeit des Ministerpräsidenten vom Landtag ohne Misstrauensvotum und Vertrauensfrage, Art.  44; von vielerlei Besonderheiten geprägte Ausformung der Verfassungsgerichtsbarkeit mit einer ansonsten in Deutschland gänzlich unbekannten Verfahrensart (Popularklage), Art.  60 ff., 98 S.  4 ; ausdrückliche Normierung des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts, Art.  70 Abs.  1 und 3, sowie Formulierung eines allgemeinen organisatorischen Gesetzesvorbehalts mit bemerkenswerten Grundsätzen zum Auf bau der Verwaltungsorganisation, Art.  55, 77; substantielle ergänzende Regelungen zu Bereichen, in denen das GG bewusst zurückhaltend normiert wie z.B. Bildung und Schule, Art.  128 ff. Hinzu kommt, dass die Länder traditionell im Bereich der Staatszielbestimmungen eigene Akzente setzen, die nicht selten vom Grundgesetz mit zeitlicher Verzögerung aufgegriffen wurden (etwa im Bereich Umweltschutz); 69 wiederum für das Beispiel Bayern wären zu erwähnen: der bereits vor Art.  20a GG normierte Art.  141 zu Umwelt- und Tierschutz; besonders wichtig freilich die – im GG so bewusst fehlenden – Bestimmungen zur Kulturstaatlichkeit des Landes, Art.  3 Abs.  1, 2 Satz  1, Art.  140; bemerkenswert außerdem die ausdrückliche Normierung der staatlichen Sicherheitsaufgabe, Art.  99; neu eingefügt und für alle Flächenländer sowie für den Bund erwägenswert schließlich das Bekenntnis zum Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land, Art.  3 Abs.  2 Satz  2. Raum für Eigenständigkeit besteht schließlich auch im Bereich der Grundrechte – trotz der häufig vertretenen Ansicht, die Länder stünden hier ganz im Schatten des GG,70 denn es darf nicht vergessen werden, dass die Landesgrundrechte – selbst nach Ansicht des BVerfG und trotz des missverständlich formulierten Art.  142 GG – weiter oder weniger weit rei67   Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (387); Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 ff. 68   Siehe oben bei Fn.  46 und 47. 69   Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (389 m.w.N.). 70   So z.B. Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (76).

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chen dürfen als ihre bundesrechtlichen Entsprechungen.71 Wiederum am Beispiel Bayerns wären zu nennen: markante Besonderheiten in der Dogmatik der Grundrechtsträgerschaft (z.B. bzgl. erweiterter Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts72 oder bzgl. des sich dem Dualismus Deutschenrechte/Menschenrechte entziehenden Konzepts der Grundrechtsträgerschaft für „Bewohner Bayerns“, z.B. Art.  110, 113); ausdrückliche Normierung der Schutzpflichtdimen­ sion, Art.  99; (bislang allerdings ungenutztes) Potential zu einer eigenständigen Schrankendogmatik mit einheitlicher Grundrechtsschranke in Art.  98 S.  2, ähnlich derjenigen in Art.   52 Abs.   1 GRCh; bedenkenswerter engerer Pressebegriff in Art.  111; Normierung auch von Grundpflichten, Art.  117, 122 f.; schließlich betrifft selbst die – teilweise belächelte – Besonderheit des Grundrechts auf Zugang zu Naturschönheiten und Betreten der freien Natur in Art.  141 Abs.  3 mit der Frage, inwieweit die freie Natur gegenüber der Öffentlichkeit zum Gegenstand des Eigentumsgrundrechts als Ausschließlichkeitsrecht gemacht werden darf, sehr wohl ein Thema, das verfassungswürdig ist73 und z.B. auch Art.  12 Abs.  2 Satz  2 der Verf. M-V. inspiriert hat. Dass sich in der deutschen Verfassungslandschaft nichts Interessantes zu vergleichen gäbe, lässt sich nach alledem sicher nicht sagen. Hinzu kommt schließlich etwas ganz Entscheidendes: Selbst soweit das Bundesund das Landesverfassungsrecht homogen und ohne markante Abweichungen ist, wirft dieses (homogene) Recht immer wieder neue Auslegungsfragen auf; und zur Bewältigung dieser Auslegungsfragen ist es hilfreich, wenn an ihnen nicht allein ein einziges Gericht (das sich irren kann), sondern ein Verbund von Bundesverfassungsgericht und 16 Landesverfassungsgerichten arbeitet, denn gerade in so einem Verfassungsgerichtsverbund kann sich ein fruchtbarer Dialog und ein Raum wechselseitigen Voneinander-Lernens im Sinne eines diskursiven Ringens um die beste Lösung entwickeln, von dem die Qualität der Rechtsfindung nur profitieren kann.74 Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass das Grundgesetz selbst, soweit es um die Auslegung seiner eigenen Bestimmungen geht, diesem bundesstaatlichen Lernverbund der Verfassungsgerichte vertraut, denn in Art.  100 Abs.  3 GG monopolisiert es die Auslegung des GG ja keineswegs beim BVerfG, sondern öffnet sich auch dem legitimen interpretatorischen Erstzugriffsrecht der Landesverfassungsgerichte (freilich verklammert durch eine Vorlagepflicht, die jedoch erst bei Divergenzen greift). Wenn das Grundgesetz also selbst bzgl. seiner eigenen Auslegung (d.h. also soweit es nur um das Grundgesetz selbst, und noch gar nicht um das Ausschöpfen rechtsvergleichenden Potentials geht) auf die Vorzüge des verfassungsgerichtlichen Lernverbundes setzt, um wieviel mehr muss ein solcher Lernverbund nützlich und legitim sein, soweit Auslegungsfragen von sich entsprechenden Bestimmungen verschiede BVerfG vom 15.10.1997 – 2 BvN 1/95 = BVerfGE 96, 345 (365); Maurer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  82, Rn.  84. 72   BayVerfGH vom 13.6.1984 – Vf. 29-VI-82 = BayVerfGH 37, 101. 73   Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2.  Aufl. 2017, Art.  141, Rn.  3. 74   Zu diesem Verbundgedanken: Voßkuhle Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (235 f.); näher dazu auch unten II.3.; s.a. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 (756). 71

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ner Verfassungen des Bundes – und Landesrechts inmitten stehen. Nicht nur also, soweit die Landesverfassungen mit vom GG abweichenden Besonderheiten aufwarten können, sondern auch soweit sie inhaltsgleiche Bestimmungen treffen, ist Verfassungsvergleichung (hier im Sinne von Verfassungsrechtsprechungsvergleichung) in hohem Maße nützlich.

2.  Die grundsätzliche Problematik und Rechtfertigungsbedürftigkeit jeglicher Verfassungsvergleichung Die bisherigen Ausführungen können nicht verhehlen, dass jegliche Verfassungsvergleichung (und zwar insbesondere die internationale, aber im Grunde gleichermaßen auch die innerbundesstaatliche), was die Frage ihrer Legitimität als Auslegungsmethode der je eigenen Verfassung anbelangt, ein sehr grundsätzliches Problem aufwirft, das nicht zu Unrecht zu einer gewissen traditionellen Grundskepsis der Staatsrechtslehre gegenüber dieser Auslegungsmethode beigetragen haben dürfte (vgl. die Aussage von K. Stern, die komparative Methode sei im Staatsrecht „nur vorsichtig anzuwenden und allenfalls in der Lage, eine gewisse Kontrollfunktion auszuüben“;75 weitergehend das ältere Verdikt von H. Nawiasky, aus „staatlich getrennten Rechtszuständen“ seien keine Schlüsse auf die Auslegung des geltenden Rechts zu ziehen76): Die Grundannahme jeglicher Verfassungsvergleichung als Auslegungsmethode, es könnten von Aussagen einer fremden Rechtsordnung Schlüsse auf die eigene Rechtsordnung gezogen werden, kann nämlich schlechterdings nicht als etwas Selbstverständliches77 angesehen werden, sondern muss im Gegenteil als durchaus rechtfertigungsbedürftig erscheinen. Denn rein normlogisch betrachtet kann ein Rechtssatz (von Fällen des Verweises abgesehen) nur innerhalb der eigenen Rechtsordnung Sollensbindung entfalten; soll er auch für eine fremde Rechtsordnung Aussagekraft entfalten, so bewegt man sich jenseits dieser ihm inhärenten – selbstverständlichen – Sollensbindung und öffnet eine Rechtsordnung für Aussagen einer von ihr verschiedenen Rechtsordnung, die sich nicht unmittelbar dem eigenen Normgeber zurechnen lassen. Dass das, was fremde Gesetz- und Verfassungsgeber erlassen haben, auch für die eigene Rechtsordnung relevant sein soll, erklärt sich so gesehen gerade nicht von selbst.78 Dass die Heranziehung von Wertungen fremder Rechtsordnungen keineswegs selbstverständlich, sondern rechtfertigungsbedürftig ist, kann auch nicht mit dem Argument beiseite gewischt werden, bei der früher vorherrschenden Skepsis gegenüber solch komparativem Vorgehen habe es sich um eine (inzwischen überwundene) 75   Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2.  Aufl. 1984, 126; zitiert auch bei Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  39, Fn.  133. 76   Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art.  109 der Reichsverfassung, VVDStRL 3 (1927), 25 (43); zitiert auch bei Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193. 77   Dazu, dass komparative Arbeit im Verfassungsrecht nicht selbstverständlich ist, auch Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 (737, 753). 78  Dazu Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (203).

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nationalistisch-positivistische Engführung gehandelt.79 Denn dass man auf derartige Rechtfertigungsbedürftigkeit pocht, hat auch eine zutiefst demokratische Wurzel, die auch in einem offenen (komparativ aufgeschlossenen) Verfassungsstaat bleibende Gültigkeit hat: Wenn es nämlich dem demokratischen Gedanken der Volkssouveränität entspricht, dass alle – auch gesetzgeberische – Gewalt auf das Volk zurückführbar sein muss, dann ist es nichts Selbstverständliches, wenn das eigene Recht im Lichte von Rechtssätzen ausgelegt werden soll, die sich gerade nicht unmittelbar auf das eigene Volk und seine Volksvertretung, sondern auf einen hiervon verschiedenen Normgeber zurückführen lassen. Und gleiches gilt – im Kontext speziell der Verfassungsvergleichung – für die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, denn der Respekt vor dieser verfassungsgebenden Gewalt des je eigenen Volkes gebietet es, für die Heranziehung von Aussagen einer einem hiervon verschiedenen Verfassungsgeber zurechenbaren Norm zumindest eine sachliche Rechtfertigung zu verlangen.80 Das bis hierher – freilich zuallererst für die internationale Verfassungsvergleichung – Gesagte gilt in abgestufter, aber dennoch im Grunde vergleichbarer Weise auch für die innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung. Denn zwar kann es innerhalb eines Bundesstaates von vornherein keine nationalistischen Ressentiments gegen Rechtsvergleichung geben, auch sind sich die Bundesrechtsordnung und die 16 Landesrechtordnungen nicht in der gleichen Weise „fremd“ wie dies im internationalen Verhältnis der Fall sein mag,81 und schließlich sind auch die demokratischen Souveräne und Verfassungsgeber in Bund und Land ja nicht etwa grundverschieden, sondern zumindest teilidentisch (im Verhältnis Bund-Land) bzw. komplementäre Teile eines größeren Ganzen (bzgl. der Länder untereinander), weil ja die Summe der Landesvölker kein vom Bundesvolk verschiedenes Legitimationssubjekt ist.82 Dennoch aber bleibt auch im Bundesstaat der Befund, dass sowohl die Bundesverfassung auf einer eigenen, nicht von den Ländern, sondern unmittelbar vom deutschen Volk abgeleiteten Legitimität und verfassungsgebenden Gewalt beruht83 als auch dass umgekehrt die Länder über eine originäre, d.h. vom GG zwar begrenzte, nicht aber abgeleitete verfassungsgebende Gewalt verfügen84. Die Verfassungsräume von Bund und Ländern stehen daher (trotz aller bundesstaatlichen Wechselbezüglichkeit), wie das BVerfG in st. Rspr. sagt,85 prinzipiell selbstständig nebeneinander, und nicht nur dem Bund, sondern auch den Ländern kommt ein Raum je originärer Verfassungsautono79  In diese Richtung: Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, 735 (737); Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (203). 80   Noch drastischer die Aussage des Richters am U.S. Supreme Court Scalia (zitiert bei Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 (737): „the views of other nations, however enlightened the Justices of this Court may think them to be, cannot be imposed upon Americans through the Constitution“. 81   Möstl, Bundesstaat und Staatenverbund, 2012, 53 ff. m.w.N. 82   Möstl, Bundesstaat und Staatenverbund, 2012, 30 f. m.w.N.; zur Identität des Legitimationssubjekts in Bund und Ländern siehe auch BVerfG vom 31.10.1990 – 2 BvF 2/89 u.a. = BVerfGE 83, 37. 83   Möstl, Bundesstaat und Staatenverbund, 2012, 77 m.w.N.; vgl. auch die Präambel und Art.  144 des GG. 84   Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2.  Aufl. 2017, Vorbem B, Rn.  2 m.w.N. 85   BVerfG vom 15.10.1997 – 2 BvN 1/95 = BVerfGE 96, 345 (368 f.); BVerfG vom 7.5.2001 – 2 BvK 1/00 = BVerfGE 103, 332 (350).

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mie zu. Auch in diesem bundesstaatlichen Raum je originärer (wenn auch auf einem in der Summe identischen personalen Substrat beruhender) verfassungsgebender Gewalten und daher (trotz vieler Verflechtungen und Wechselbezüglichkeiten) grundsätzlich getrennter Verfassungssphären bleibt es etwas prinzipiell Nichtselbstverständliches und Rechtfertigungsbedürftiges, wenn – den jeweiligen Verfassungsraum des Bundes oder eines Landes überschreitend – Aussagen aus Verfassungsrechtssätzen herangezogen und für die Auslegung des eigenen Rechts fruchtbar gemacht werden sollen, die sich nicht unmittelbar auf die eigene verfassungsgebende Gewalt zurückführen lassen. Auch im Bundesstaat kann – rechtsordnungsübergreifende – Verfassungsvergleichung als Auslegungsmethode nach alledem nicht dieselbe Selbstverständlichkeit beanspruchen wie die klassischen Auslegungsmethoden, die in rein rechtsordnungsimmanenter Weise – mittels grammatikalischer, historischer, systematischer und teleologischer Argumente – die Bedeutung der je eigenen Rechtsordnung erschließen wollen.86

3.  Sachliche Legitimität der Verfassungsvergleichung im internationalen Staatenverhältnis, im europäischen Verfassungsverbund und – erst recht – im bundesstaatlichen Verfassungsverbund Trotz der soeben geschilderten Grundproblematik kann konstatiert werden, dass die Verfassungsvergleichung inzwischen selbst im normalen internationalen Staatenverhältnis – auch also, soweit Staaten nur in gewöhnlicher Weise völkerrechtlich verbunden, nicht aber in Form eines Staatenbundes, supranationalen Staatenverbundes oder gar eines Bundesstaates bündisch zusammengeschlossen sind – zu einer Methode der Rechtserkenntnis avanciert ist, deren Nützlichkeit und sachliche Berechtigung prinzipiell anerkannt ist und die auch weithin praktiziert wird.87 Namentlich für die Praxis des BVerfG lässt sich sagen, dass die Prüfung, wie sich die eigene Rechtslage in den in vergleichbaren Verfassungsstaaten typischen Standard einfügt, inzwischen zum üblichen Prüfrepertoire zumindest in der Entscheidungsvorbereitung gehört (mag das rechtsvergleichende Element auch nicht stets in den Entscheidungsgründen offengelegt werden; 88 auch die offengelegten Fälle haben in jüngerer Zeit jedoch, worauf bereits unter I.1. hingewiesen wurde,89 auffällig zugenommen);   Vgl. dazu (allerdings im internationalen Kontext) auch: Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  39 f. (nicht als den klassischen Auslegungsmethoden ebenbürtige Methode). 87   Exemplarisch die – bereits in I.2. genannte – ausdrückliche Aufführung der Rechtsvergleichung als Erkenntnisquelle im Grundrechtslehrbuch von F. Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 5.  Aufl. 2016, §  3, Rn.  13. Zum Stand internationaler Verfassungsvergleichung in der Staatsrechtslehre vgl. auch im Übrigen bereits die Nachweise in I.2. 88   Hierauf hat Bryde, in: Markesinis/Fedtke (Hrsg.), Judicial Recourse to Foreign Law, 2006, 295 (297) hingewiesen. Zur generell gegebenen Bereitschaft des BVerfG, komparativ zu arbeiten und dies offenzulegen, zuvor auch bereits Markesinis/Fedtke, aaO, 75 ff. Siehe auch Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1024). 89  Siehe Fn.  13. Zurückhaltender die Einschätzung bei Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  86 f., wobei dort die feststellbare Verstärkung in jüngster Zeit noch nicht berücksichtigt ist. Zum Stellenwert der kompara86

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vor allem zur Stützung und ggf. Kontrolle des selbstgefundenen Ergebnisses, u.U. aber auch zur Lückenfüllung, wo das eigene Recht offen ist und eigene Erfahrungen fehlen, werden rechtsvergleichende Erkenntnisse dabei eingesetzt.90 Als sachliche Rechtfertigung für komparatives Vorgehen auch im internationalen Verhältnis wird zumeist angeführt,91 dass die nationalstaatlichen Verfassungen (auch wenn sie freilich im normlogischen Sinne keine über ihren jeweiligen Rechtskreis hinausgehende wechselseitige Bindungskraft im engeren Sinne entfalten), jedenfalls soweit sie sich einem gemeinsamen Verfassungstypus des freiheitlichen und demokratischen Rechtsund Verfassungsstaates zurechnen lassen, doch so viel substantielle Gemeinsamkeiten aufweisen, dass eine gemeinsame Vergleichsbasis gegeben ist und sich ein Vergleich lohnt. Hieraus folgt zugleich eine wichtige Einschränkung für die Legitimität der Verfassungsvergleichung, denn gesagt ist damit freilich auch, dass es nur innerhalb dieses gemeinsamen Grundtypus an freiheitlich-rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungswerten sinnvoll und legitim ist, Verfassungsvergleichung zur Rechtserkenntnisquelle zu erheben. Dies zu tun, besteht indes auch deswegen Anlass, da es – wenn sich Staaten, was ganz unstreitig ist, im Zuge der Schaffung und Reform ihrer Verfassungen völlig selbstverständlich auch an dem orientieren, was in anderen Staaten des gleichen Verfassungstypus üblich geworden ist – in hohem Maße widersprüchlich wäre, nicht auch im Zuge der Auslegung der nationalen Verfassungen das Verfassungsrecht anderer (vergleichbarer) Staaten als zusätzliche Inspirationsquelle heranzuziehen. Soweit es einem darüber hinaus wichtig ist, die Legitimität der Verfassungsvergleichung unmittelbar auf den Willen und eine (zumindest implizite) Anordnung des eigenen Verfassungsgebers zurückzuführen, wird man darüber hinaus sagen können, dass jedenfalls in einer Verfassung wie dem Grundgesetz, das sich in seinen wesentlichen Strukturentscheidungen (Art.  20 Abs.  1, 28 Abs.  1 GG) bewusst in die Tradition von Verfassungsstaaten des westlichen Typus‘ einordnet,92 das die Bundesrepublik als offenen Verfassungsstaat konstituiert, Deutschland als Glied Europas und einer friedlichen Weltgemeinschaft sieht (vgl. schon die Präambel) und tiven Methode in der Rspr. des BVerfG siehe zusammenfassend auch v. Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 2015, 513. Zum hohen Stellenwert der Verfassungsvergleichung bereits in den Frühzeiten der BVerfG-Rspr.: Aubin, Die rechtsvergleichende Interpretation autonom-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 34 (1970), 458 (469, 476). 90  Vgl. v. Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches In­ strument der Interpretation von nationalem Recht, 2015, 513; Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (223). 91   Zum Folgenden: Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 391 (395); Aubin, Die rechtsvergleichende Konkretisierung von Kontrollmaßstäben des Verfassungsrechts und des Kollisionsrechts in der deutschen Rechtsprechung, in: v. Caemmerer/Zweigert (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966, 1967, 99 (105); Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  9 ; Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913 (916 f ).; Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2016, Rn.  706. 92   Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193. Nachweise zum Folgenden: Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; Hobe, Der Offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; Tomuschat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  7, 1992, §  172; Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007, 8 ff.; Rensmann, Die Genese des „offenen Verfassungstaats“ 1948/49, in: Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, 37 ff.

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sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt bekennt (Art.  1 Abs.  2 GG), durchaus eine Art konkludente Ermächtigung zu einer Fruchtbarmachung auch komparativer Ansätze beim richtigen Verständnis dieser Verfassung erblickt werden kann. Verwiesen werden kann schließlich auf den allgemeinen Wert des Vergleichs als Erkenntnisquelle jeglicher Wissenschaft („comparativa est omnis investigatio“).93 Dass internationale Verfassungsvergleichung eine zumindest legitime und prinzipiell nützliche Methode der zusätzlichen Abstützung und ggf. ergänzenden Gewinnung von Rechtserkenntnissen bei der Auslegung der eigenen Verfassung ist, dürfte vor diesem Hintergrund inzwischen weitgehend unstreitig sein – und dies trotz der substantiellen Schwierigkeit hinsichtlich treffender Einordnung und Kontextualisierung (korrekte sprachliche Erfassung, Berücksichtigung kultureller Vorverständnisse, ggf. abweichender juristischer Kontext etc.), die jegliche solche Rechtsvergleichung im internationalen Verhältnis bedeutet.94 Als noch weitaus unumstrittener, fester etabliert und auch intensiver betrieben als bereits die allgemeine Verfassungsvergleichung im internationalen Kontext kann – in einem zweiten Schritt – die europäische Verfassungsvergleichung insbesondere zwischen den in der EU (ggf. auch zwischen den im Europarat) zusammengeschlossenen Staaten Europas angesehen werden;95 nicht zu Unrecht ist ein „Auf blühen des innereuropäischen Rechtsvergleichs in den öffentlich-rechtlichen Fächern“ konstatiert worden.96 Was die vertikale Vergleichung von unten nach oben anbelangt, ist die Methode der aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten schöpfenden wertenden Verfassungsvergleichung bei der Erschließung des EU-Verfassungsrechts in Art.  6 Abs.  3 EUV (für den Grundrechtsbereich) sogar zu einem expliziten Rechtsgebot des EU-Primärrechts erhoben worden.97 In umgekehrter vertikaler Richtung ist die Berücksichtigung des europäischen Grundrechtsstandards und der Rspr. von EGMR und EuGH sowohl in der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit üblich geworden98 als auch zieht der Mehrebenengedanke (d.h. die Mitberücksichtigung des europäischen Standards) vermehrt in die Literatur zum GG ein.99 Und auch in der Horizontalen kann die rechtsvergleichende Informiertheit inzwischen zum Standard guten verfassungsgerichtlichen Arbeitens gerechnet werden.100 Dass all dies so ist, kann nicht verwundern, liegt die sachliche Rechtfertigung eines 93  Siehe Sommermann, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staatsund Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, 1017, der auf diesen Satz von Nicolaus von Cues verweist. 94   Zur Problematik vgl. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), 735 ff.; Sommermann, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, 1017 (1021 ff.). 95   Zur europäischen Verfassungsvergleichung in diesem Sinne und zu ihrer Bedeutung: Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, 1. Kapitel, Rn.  1 ff. (insb. Rn.  3, 24). 96   v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, §  95, Rn.  13. 97   Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, 1. Kapitel, Rn.  18; Sommermann, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  75. 98   Am Beispiel der EMRK: Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 5.  Aufl. 2016, §  3, Rn.  3 f. m.w.N. 99   Siehe bereits oben bei und in Fn.  50. 100   Häberle, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  7, Rn.  24.

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(auch) vergleichenden Vorgehens innerhalb der im Europarat und der EU zusammengeschlossenen Staaten doch noch weitaus stärker auf der Hand, als dies sonst im internationalen Verhältnis der Fall ist. Denn diese Staaten verkörpern nicht nur einen im Grunde vergleichbaren gemeinsamen Verfassungstypus, sondern sie bekennen sich zu einem gemeinsamen Grundrechtsstandard (EMRK), und die in der EU zusammengeschlossenen Staaten sind überdies in einer supranationalen Föderation bündisch verbunden, die explizit auf einem gemeinsamem Fundament an Verfassungswerten gründet (Art.  2 EUV), diese wesentliche Verfassungshomogenität auch zu garantieren trachtet (Art.  7, 49 EUV) und als solche Wertegemeinschaft – bei aller Vielfalt im Ausgangspunkt – zu einem gemeinsamen Raum des Rechts (Art.  3 Abs.  2 EUV), zu einem europäischen Rechtsraum zusammenwachsen möchte; europäische Verfassungsvergleichung erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur legitim, sondern in der Tat als dem europäischen Einigungsprojekt immanenter „Beruf der Zeit“.101 Eine wesentliche Stärkung hat der Gedanke der Verfassungsvergleichung überdies durch den inzwischen etablierten Topos des „Europäischen Verfassungsverbundes“102 erhalten, denn der in ihm implizierte Mehrebenen-Verbundgedanke, wonach Verfassungsordnungen mehrerer Ebenen einerseits autonom nebeneinander stehen, andererseits aber den Charakter komplementärer Teilordnungen haben und in vielfacher Weise normativ verklammert sind,103 setzt geradezu voraus, dass die Verfassungen dieses Verbundes stets in ihrer Wechselbezüglichkeit gesehen werden müssen und ein Vergleich daher unerlässlich ist.104 An diesen Topos angeschlossen hat sich der inzwischen ebenfalls fest etablierte Begriff des Verfassungsgerichtsverbundes, der die einzelnen Verfassungsgerichte des europäischen Verfassungsverbundes als Teile eines wechselseitig voneinander lernenden Gesamtsystems begreift und auch deswegen der Verfassungs(rechtsprechungs)vergleichung einen hohen Stellenwert beimisst.105 Freilich bleibt Verfassungsvergleichung – auch im homogeneren Europa – angesichts gewachsener sprachlicher, kultureller und rechtlicher Unterschiede ein durchaus anspruchsvolles Unterfangen, diese Schwierigkeiten erscheinen infolge der wissenschaftlichen Anstrengungen um eine Herausbildung eines Ius Publicum Europaeum106 sowie infolge des zunehmend auch institutionalisierten „dialogue des juges“ in Europa107 jedoch zunehmend bewältigbar, so dass auch diese keinen substan101   v. Bogdandy/Cruz Villalon/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  1, 2007, Vorwort; v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, §  95, Rn.  4, 5 ff., 45; Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  10, 22. 102   Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht 1. Bericht, VVDStRL 60 (2000), 148 (163 ff.); Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht 2. Bericht, VVDStRL 60 (2001), 194 (199 ff.). 103   Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (352). 104  Vgl. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, 1. Kapitel, Rn.  18. 105   Besonders deutlich bei Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 ff. (235 f.); aber auch bei v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, §  95, Rn.  7 ff., 14 ff. 106   v. Bogdandy/Cruz Villalon/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  1, 2007, Vorwort. 107   v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch, Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, §  95, Rn.  14 ff.

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tiellen Einwand gegen die inzwischen konsolidierte Methode europäischer Verfassungsvergleichung darstellen. In einem dritten Schritt ist nunmehr für die innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung ein Erst-Recht-Schluss zu ziehen: Wenn schon die internationale Verfassungsvergleichung legitim ist, wenn darüber hinaus die Europäische Verfassungsvergleichung innerhalb des supranationalen Staatenverbundes EU zunehmend zum konsolidierten Standard gehört, um wieviel naheliegender und sachlich berechtigter muss dann die Verfassungsvergleichung innerhalb eines Bundesstaates erscheinen, der doch die bei weitem intensivste Form eines Verfassungsverbundes108 und einer zu einer staatlichen Einheit zusammengeschlossenen, d.h. in größtmöglichem Näheverhältnis stehenden und von einem übergreifenden Homogenitätsgebot (Art.  28 Abs.  1 GG) zusammengehaltenen verfassungsrechtlichen Schicksalsgemeinschaft von Staaten darstellt und in dem überdies alle üblichen Hindernisse ertragreicher Rechtsvergleichung (unterschiedliche Sprache, Kultur und Rechtstradition) weitgehend wegfallen, sodass einer prinzipiellen wechselseitigen komparativen Offenheit für Erkenntnisse der jeweils anderen staatlichen Teilverfassungen wirklich kein vernünftiger Hinderungsgrund entgegensteht und sich auch die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder als natürlicher – voneinander lernender – Verfassungsgerichtsverbund begreifen sollten.109 Die traditionell stark unitarisch ausgerichtete deutsche Staatsrechtslehre kann auch in diesem Punkt von der europäischen Diskussion um den unionalen Verfassungs- und Verfassungsgerichtsverbund lernen,110 um sich verstärkt daran zu erinnern, dass auch und erst recht der Bundesstaat einen Verfassungsund Verfassungsgerichtsverbund darstellt, in dem allseitige Verfassungsvergleichung (und nicht nur die Orientierung am GG) zum üblichen Standard gehören sollte. Der große Vorteil des Föderalismus besteht darin, dass er ein bewegliches111 System der wechselseitigen Spannung und des wechselseitigen Voneinanderlernens112 etabliert; es wäre schade, wenn dieses kreative Potential im deutschen Bundesstaat – hier auf 108  Zur Übertragung des (zuerst im europäischen Kontext entwickelten) Verbundgedankens erst recht auch auf den Bundesstaat: Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (351 ff.); R. Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, 356 (360). 109   Besonders eindringlich wird der Verbundgedanke von Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 ff. (235 f.) herangezogen; eindringlich auch Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR n.F. 34 (1985), 303 (352, 357 f.). 110   Allgemein zur Notwendigkeit solcher Lernprozesse: Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (372); ders., Bundesstaat und Staatenverbund, 2012, 85 ff. 111   Zur der dem Bundesstaat eigenen „elementaren Beweglichkeit“ bereits Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), 66 (100). 112   Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (389 f. m.w.N. in Fn.  201); zum Gedanken des Lernverbundes auch Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (236); am Beispiel der Erschließung der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung: Mehde, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Art.  28, Abs.  2, Rn.  25 ff., unter Bezugnahme auf Schmidt-Aßmann, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd.  2 , Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, 803 (813) („gemeinsamer Lernprozess“).

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dem Felde der Verfassungsvergleichung – nicht genutzt würde. Verfassungsvergleichung ist daher im Bundesstaat – erst recht – ein legitimes und nützliches Hilfsmittel der Rechtserkenntnis.

4.  Gebotenheit der Verfassungsvergleichung? Eine von der bisherigen Frage der bloßen Legitimität und Nützlichkeit der Verfassungsvergleichung zu unterscheidende – weitaus schwieriger zu beantwortende – Problematik ist es, ob man die Verfassungsvergleichung darüber hinaus auch als eine „gebotene“, d.h. verpflichtend anzuwendende Methode der Rechtserkenntnis ansehen kann – dergestalt, dass gesagt werden könnte, eine das Potential der Verfassungsvergleichung als Erkenntnisquelle vernachlässigende Vorgehensweise sei nicht mehr lege artis. Zur Beantwortung soll erneut in einem Dreischritt vorgegangen werden (internationale, europäische und innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung). Der Status der internationalen Verfassungsvergleichung ist unsicher. Zwar fehlt es nicht an Vorstößen, sie zu „kanonisieren“ und als „fünfte Auslegungsmethode“ zu etablieren; namentlich Peter Häberle steht für diesen Ansatz.113 Wohl überwiegend wird Rechts- und Verfassungsvergleichung – bei all ihrer Nützlichkeit und Legitimität – jedoch als eine ihrem Wesen nach freiwillige114 und eine nicht-konstitutive115 Methode angesehen. Bereits anders liegen die Dinge bzgl. der europäischen Verfassungsvergleichung innerhalb der EU. Hier existiert in einem Teilbereich (Art.  6 Abs.  3 EUV: Anerkennung von Unionsgrundrechten, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben) sogar eine ausdrückliche primärrechtliche Anordnung der Anwendung komparativer Grundsätze. Ein prinzipielles Gebot der gegenseitigen Berücksichtigungsbereitschaft ist in der Literatur überdies als Ausfluss des unionsrechtlichen Loyalitätsprinzips116 sowie als Signum des entstehenden europäischen Rechtsraums117 gedeutet worden. Gleichermaßen ist gefordert worden, anders als die globale Rechtsvergleichung dürfe die innereuropäische Rechtsvergleichung nicht mehr als eine von den rechtspraktischen Fächern getrennte Disziplin begriffen werden, vielmehr habe sie im europäischen Rechtsraum als eine „juristische Standardmethode“ zu gelten.118 Sicher wird man die „Pflichten“ zu verfassungsvergleichender Berücksichtigung – angesichts der Vielfältigkeit und der nach wie vor 113   Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913 (916 ff.); ders./Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2016, Rn.  699 ff. 114  Vgl. Aubin, in: v. Caemmerer/Zweigert (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966, 1967, 99 (100); ders., Die rechtsvergleichende Interpretation autonom-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 34 (1970), 458 (459); Drobnig, Rechtsvergleichung in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 50 (1986), 610 (621). 115   Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  16, Rn.  39. 116   v. Bogdandy/Cruz Villalon/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  1, 2007, Vorwort. 117   v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, Rn.  5 ff. 118   v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6,

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schwierigen Zugänglichkeit des nationalen Verfassungsrechts aller 28/27 Mitgliedstaaten der EU – nicht überspannen dürfen. Eine Haltung der prinzipiellen Abschottung, das heißt der von vornherein fehlenden Bereitschaft zur Berücksichtigung zumindest von naheliegenden und sich aufdrängenden komparativen Erkenntnissen, dürfte mit dem Gedanken einer Rechtsgemeinschaft und eines Verfassungsverbundes/Verfassungsgerichtsverbundes, wie er für die EU prägend geworden ist, indes in der Tat nicht mehr vereinbar sein. Erneut kann der Erst-recht-Schluss zum Bundesstaat als einer Rechts- und Verfassungsgemeinschaft gezogen werden, die noch weitaus dichter integriert und zu einer staatlichen Einheit zusammengeschlossen ist, als dies im (nichtstaatlichen) euro­ päischen Staatenverbund der Fall ist. Wenn schon im europäischen Verfassungsverbund die prinzipielle komparative Offenheit zunehmend als geboten (d.h. als zwingender Ausfluss des Gedankens einer Rechtsgemeinschaft und eines gemeinsamen Rechtsraumes) angesehen wird, um wie viel mehr muss dies im bundesstaatlichen Verfassungsverbund gelten! Weniger einfach gerät allerdings die genaue rechtliche Herleitung und Verankerung dieses Gebots zu prinzipieller komparativer Offenheit. Allenfalls sehr beschränkt weiterhelfen dürfte der bisweilen im Kontext der innerbundesstaatlichen Verfassungsvergleichung geäußerte Gedanke, es könne so etwas wie ein (komparativ zu erschließendes) gemeindeutsches Verfassungsrecht geben, das dann (vielleicht) den Rang einer eigenständigen Rechtsquelle hätte;119 die Fallgruppe solch gemeindeutschen Verfassungsrechts könnte innerhalb des weiten Felds der Verfassungsvergleichung nämlich allenfalls einen (keineswegs typischen) Sonderfall darstellen, denn die Heranziehung komparativer Erkenntnisse setzt, wie noch zu zeigen sein wird (III.2.), keineswegs stets voraus, dass der jeweils herangezogene Rechtssatz bzw. seine Auslegung wirklich allen (oder zumindest den meisten) Verfassungen des Verfassungsverbundes gemeinsam ist (auch Erkenntnisse einer einzelnen Teilverfassungsordnung dürfen fruchtbar verarbeitet werden); hinzu kommt dass, wie ebenfalls zu zeigen sein wird (III.1.), Verfassungsvergleichung keineswegs stets auf die Herausarbeitung von Gemeinsamem, sondern auch auf die Identifizierung und Bekräftigung von Differenzen gerichtet sein kann (sie dient nicht nur der Einheits- sondern auch der Vielfaltssicherung120 ). Auch der Gedanke des Bundestreue bzw. des bundes-/landesfreundlichen Verhaltens taugt nur bedingt als rechtlicher Sitz einer Pflicht zur Verfassungsvergleichung,121 denn zum einen ist dieses Prinzip nach der Rspr. des BVerfG nicht imstande, selbstständig Pflichten hervorzubringen, sondern setzt stets voraus, dass zwischen den Beteiligten bereits ein (anderweitig konstituiertes) Verfassungsrechtsverhältnis existiert, auf das das Prinzip der Bundestreue modifizierend 2016, §  95, Rn.  4 0; siehe auch A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, 1. Kapitel, Rn. 24 und zuvor. 119  Dazu z.B. Häberle, „Landesbrauch“ oder parlamentarisches Regierungssystem?, JZ 1969, 613; ders., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR n.F. 34 (1985), 303 (340); Stern, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd.  1, 1983, 22.; Herdegen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  6, 3.  Aufl. 2008, §  129, Rn.  94. 120   Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (233 ff.). 121  In diese Richtung aber Grawert, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  81, Rn.  54.

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einwirkt;122 zum anderen geht es bei Rechtsvergleichung, wie gesagt, nicht stets allein um loyale Bemühung um wechselseitige Annäherung, sondern ggf. mit gleichem Recht auch um die Herausarbeitung von bleibenden Unterschieden. Noch am ehesten ist es nach alledem der Gedanke des – vom Grundgesetz konstituierten – bundesstaatlichen Verfassungs- und Verfassungsgerichtsverbundes selbst, der als Grund der Annahme einer prinzipiellen Pflicht zur komparativen Offenheit angeführt werden kann. Denn dass das Grundgesetz das Nebeneinander von Bundesverfassung und Landesverfassungen als einen bewusst in der (fruchtbaren) Spannung von Autonomie und Homogenität gehaltenen Verfassungsverbund begreift, dürfte weitgehend anerkannt sein.123 Auch lässt sich nicht leugnen, dass das GG – wenngleich allein für das engere Feld der Auslegung des GG explizit normiert (Art.100 Abs.  3 GG); der Gedanke dürfte sich jedoch verallgemeinern lassen – das Nebeneinander von BVerfG und Landesverfassungsgerichten als einen Verfassungsgerichtsverbund begreift, in dem Rechtserkenntnisse prinzipiell wechselseitig zur Kenntnis genommen und verarbeitet werden.124 Verfassungs- und Verfassungsrechtsprechungsvergleichung ist in einem so verstandenen Verfassungs- und Gerichtsverbund eine Verbundtechnik neben anderen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Verbund sein besonderes Potential (als föderale Lerngemeinschaft) verspielte.125

5.  Zum Stellenwert der Vergleichung innerhalb des Methodenkanons Auch soweit die Verfassungsvergleichung im Bundesstaat nach alledem als eine legitime, nützliche und im Grunde auch gebotene Methode anzusehen ist, muss – im Einklang mit der wohl überwiegenden Literatur126 – doch bekräftigt werden, dass es sich bei der Vergleichung nicht um eine Methode handelt, die den klassischen (rechtsordnungsimmanenten) Auslegungsmethoden auf gleichem Fuße gegenübertreten könnte und in gleicher Weise wirken würde wie diese. Ausgedrückt wird dies zumeist dadurch, dass gesagt wird, die Vergleichung habe bei der Auslegung keine konstitutive Bedeutung, sondern werde regelmäßig nur ergänzend (bekräftigend oder kontrollierend), oder ggf. (bei nach den klassischen Methoden unklarer und 122   Zu dieser akzessorischen Natur Badura, Staatsrecht, 6.  Aufl. 2015, D. 86 m.w.N.; BVerfGE 104, 238 (247 f.); allenfalls könnte man den Verfassungsgerichtsverbund (siehe sogleich) als solchen als das Basis-Verfassungsrechtsverhältnis deuten, das von wechselseitigen Treuepflichten beherrscht wird. 123   Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (352 m.w.N.); Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215. 124   Vgl. auch Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215. 125   Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215, (225 ff., 235 f.). 126   Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, Rn.  39 f. („nicht konstitutive Bedeutung“, kann „nicht als den klassischen Auslegungsmethoden ebenbürtige Auslegungsmethode anerkannt werden“); Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 1. Kapitel, Rn.  14 („keine selbstständige `5. Auslegungsmethode´…, die gleichrangig neben den klassischen Kanones stünde“); offener zur Frage des Rangs: Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2016, Rn.  711; dazu auch Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, 34.

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offener Lage) auch lückenfüllend herangezogen.127 Ihren Grund hat diese Zurückhaltung in der oben (1.) geschilderten Problematik: Die Heranziehung von Erkenntnissen einer „fremden“ Rechtsordnung ist nie etwas selbstverständliches, sie kann dennoch legitim oder sogar im Grunde geboten sein; niemals jedoch kann sie den gleichen Stellenwert erheischen wie Auslegungsmethoden, die rechtsordnungsimmanent argumentieren. Ich möchte es so ausdrücken: Mithilfe der Methode der Verfassungsvergleichung dürfen keine verfassungsrechtlichen Auslegungsergebnisse postuliert werden, die man nicht auch mithilfe der klassischen (rechtsordnungsimmanenten) Auslegungsmethoden (d.h. unter Absehung der komparativen Erkenntnis) in vertretbarer Weise erzielen könnte. Die Verfassungsvergleichung ist daher keine Methode, die einseitig zu Lasten der Texttreue gehen, sich nivellierend über alle Besonderheiten legen oder unter Verdrängung der klassischen Methoden zur dominierenden Methode avancieren dürfte (dies zu betonen besteht im deutschen Bundesstaat deswegen Anlass, da – bei aller Schwäche der Verfassungsvergleichung im Allgemeinen – jedenfalls in der besonderen Konstellation der Orientierung am Grundgesetz bei der Auslegung der Landesverfassung bisweilen fast zu viel vorauseilender Gehorsam auch in Bereichen, die sehr wohl der Verfassungsautonomie unterliegen, zu konstatieren ist und auf Kosten der Treue zur eigenen Verfassung zu gehen droht).128 Ergibt sich auf der Basis der klassischen rechtsordnungsimmanenten Methoden indes kein eindeutiges Bild, besteht breiter Raum, sich komparativer Erkenntnisse zu bedienen.

III.  Ausgewählte Methodenfragen und Konsequenzen Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung ist methodisch weitaus weniger anspruchsvoll, als dies bei der internationalen oder auch innereuropäischen Rechtsvergleichung der Fall ist. Alle sonst für die Rechtsvergleichung üblichen Schwierigkeiten des sich Eindenkenmüssens in eine fremde Rechtssprache und Rechtskultur und der nötigen Kontextualisierung der Erkenntnisse129 fallen hier weitgehend weg. Aufgrund der großen Homogenität des deutschen Verfassungsverbundes130 und der einheitlichen ausbildungsmäßigen Sozialisierung der deutschen Juristen131 können Erkenntnisse anderer bundesstaatlicher Teilverfassungen regelmäßig ohne besondere  Siehe schon die vorige Fn., außerdem: Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, 1021 (1024); Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), 193 (218 ff.); Drobnig, Rechtsvergleichung in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 50 (1986), 610 (625, 628 f.). 128   Siehe dazu bereits die Nachweise in Fn.  27, 28. 129   Vgl. dazu z.B. Sommermann, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, 1021 (1026 ff.); ausführlich zu Methodenfragen bei der (internationalen öffentlich-rechtlichen) Rechtsvergleichung im Allgemeinen: v. Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 2015; zu Methodenfragen auch B. Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, 38 ff. 130   Siehe oben II.1. 131   Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5. 127

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Hindernisse unmittelbar verstanden und treffend eingeordnet werden. Dennoch sollen im Folgenden abschließend einige ausgewählte Methodenfragen besonders beleuchtet werden. Auch ist im Lichte der hier gewonnenen Erkenntnisse (sowohl der Bestandsaufnahme unter I. wie der Herleitung unter II.) zu fragen, welche Konsequenzen sich nach hier vertretener Ansicht für die Praxis der Verfassungsrechtsprechung und der Staatsrechtslehre ergeben.

1.  Ambivalenz der Zielrichtung: Einheits- und Vielfaltssicherung Zu betonen ist zunächst, dass der Zweck innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung keineswegs allein darin besteht, zu noch mehr Rechtsangleichung zu führen und den bundesdeutschen Verfassungsverbund noch homogener zu machen, als er ohnehin ist. Denn freilich ist die fruchtbare Anleihe vom Recht des jeweils anderen oder die Besinnung auf gemeinsame Grundsätze eine typische – und im Ergebnis unitarisierende – Wirkrichtung komparativen Vorgehens. Mit gleichem Recht kann ein reflektierter Rechtsvergleich – mit differenzierender Stoßrichtung – jedoch auch zur Folge haben, dass markante Besonderheiten des jeweils eigenen Rechts und bewusste Abweichungen vom Recht des Anderen deutlicher hervortreten, als dies bei rein introvertierter Rechtsanwendung der Fall wäre. Vergleichung hat vor diesem Hintergrund eine durchaus doppelte Zielrichtung: Sie kann der Anpassung, aber auch der Kontrastierung dienen,132 sie sollte in föderalen Gebilden ein Instrument der Einheits-, aber auch der Vielfaltssicherung sein,133 sie fördert die Erkenntnis des Gleichen wie des Ungleichen.134 Im horizontalen Verhältnis Land-Land, funktioniert der Reflex, zur komparativen Ermittlung auch des jeweils Besonderen der eigenen Verfassung bereit zu sein, einigermaßen reibungslos.135 Im vertikalen Verhältnis Land-Bund, wo die Bereitschaft zur Selbstanpassung der Länder/Landesverfassungsgerichte an den grundgesetzlichen Standard und die Rspr. des BVerfG in Deutschland sehr weit ausgeprägt ist,136 könnte mehr Mut zur kontrastierenden Besinnung auf Besonderheiten des je eigenen Rechts dagegen bisweilen durchaus wünschenswert erscheinen.

132   Vgl. v.Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, §  95, Rn.  43. 133   Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR n.F. 59 (2011), 215 (233 ff.); siehe auch Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR n.F. 34 (1985), 303 (344). 134   Häberle, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  1, 2004, §  7, Rn.  26. 135   Ein gutes Beispiel für solchermaßen kontrastierendes Vorgehen ist BayVerfGH vom 22.10.2012 – Vf 57-IX-12 unter IV.2.a. 136   Grawert, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  81, Rn.  45; Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (354 m.w.N).

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2.  Fragen der Auswahl des Vergleichsmaterials Die komparative Heranziehung von Erkenntnissen einer anderen Rechtsordnung (hier: einer anderen bundesstaatlichen Teilverfassung) steht stets in der Gefahr, als eine Art beliebig oder gar willkürlich wirkendes „cherry picking“ zu erscheinen (warum hat man gerade auf dieses Vergleichsobjekt und nicht auf ein anderes abgestellt, das vielleicht zu einem ganz anderen Ergebnis geführt hätte?).137 In der Tat wird man gerade in einem Bundesstaat mit einer von vornherein überschaubaren Anzahl potentieller Vergleichsobjekte (eine Bundesverfassung und 16 Landesverfassungen) verlangen müssen, dass nicht einfach arbiträr auf irgendeinen naheliegenden Zufallsfund aus einer einzelnen bundesstaatlichen Teilverfassung abgestellt wird, sondern dass jedes Abstellen auf Erkenntnisse aus anderen bundesstaatlichen Teilverfassungen in das prinzipielle Bemühen eingebettet sein muss, sich einen Überblick über die Lösungsansätze aller Teilverfassungen des bundesstaatlichen Verfassungsverbunds zu verschaffen. Entschieden zu weit würde es andererseits gehen, wenn gefordert würde, komparative Erkenntnisse dürften (nachdem man sich diesen Gesamtüberblick verschafft hat) im Ergebnis stets nur fruchtbar gemacht und effektiv herangezogen werden, wenn sie nicht allein einer einzigen Teilverfassung entstammen, sondern allen (oder zumindest den meisten) deutschen Teilverfassungen gemeinsam sind.138 Denn der komparative bundesstaatliche Verfassungsverbund würde sein innovatives Potential nach hier vertretener Ansicht verspielen, wenn es allein erlaubt wäre, sich am jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner und nicht auch an dem sich (infolge des zu fordernden Gesamtüberblicks) jeweils ergebenden Best-PracticeBeispiel zu orientieren. Zu erinnern ist in diesem Kontext daran,139 dass Verfassungsvergleichung im hier verstandenen Sinn nicht mit der Herausarbeitung sog. gemeindeutschen Verfassungsrechts gleichgesetzt werden darf (die allenfalls eine einzelne Unterfallgruppe der vielfältigen Wirkrichtungen komparativen Vorgehens darstellt), die in der Tat substantielle Übereinstimmung in allen oder jedenfalls den meisten Teilverfassungsordnungen voraussetzte. Denn weder muss Verfassungsvergleichung stets auf die Herausarbeitung von Gemeinsamem gerichtet sein (siehe soeben III.1.: sie kann auch auf die Bekräftigung von Differenzen abzielen und muss selbst übereinstimmende Ergebnisse aller anderen bundesstaatlichen Teilverfassungen nicht übernehmen, wenn die eigene Verfassung eine bewusst abweichende Regelungsrichtung erkennen lässt), noch soll sie die Qualität und bindende Kraft einer eigenständigen Rechtsquelle erreichen (wie dies bei veritablem gemeindeutschen Verfassungsrecht vielleicht der Fall wäre). Vielmehr ist Verfassungsvergleichung, wie in II.5. beschrieben, eine recht flexibel zu handhabende (nicht-konstitutive) Inspirationsquelle, die stets an die Gegenprobe geknüpft ist, dass sich das erzielte Ergebnis auch mithilfe der Anwendung klassischer (rechtsordnungsimmanenter) Auslegungsme137  Zu dieser Gefahr: v. Bogdandy/Grabenwarter/Huber, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.  6, 2016, Rn.  42; v. Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 2015, 538 ff. 138   So (für die Frage der Zulässigkeit einer Heranziehung von Erkenntnissen des Landesverfassungsrechts für die Auslegung des GG) aber: Maurer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  82, Rn.  84, Fn.  212. 139   Siehe oben II.4. bei Fn.  119.

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thoden in vertretbarer Weise hätte gewinnen lassen. Kehrseite dieser rein inspira­ tiven, nicht-zwingenden Natur der Heranziehung fremder Rechtserkenntnisse (nur, dass überhaupt prinzipielle komparative Offenheit besteht, vgl. II.4., nicht aber, dass ganz bestimmte Ergebnisse übernommen werden müssten, vgl. II.5., ist im Bundesstaat verpflichtend), ist es, dass in der Frage, welches Beispiel einer anderen Teilverfassung als Best Practice angesehen und inspirativ herangezogen wird, große Freiheit herrscht. Ich möchte es so formulieren: Cherry-picking (im Sinne der freien Orientierung an demjenigen Einzelbeispiel, das jeweils als Best Practice angesehen wird) ist zulässig, ja (soll der Verfassungsverbund sein innovatives Potential nicht verspielen) sogar gewollt, sofern das erzielte Ergebnis auch mithilfe klassischer, auf die eigene Rechtsordnung bezogener Auslegungsmethoden in vertretbarer Weise hätte erzielt werden können und sich auf diese Weise bruchlos in die eigene Rechtsordnung einfügt. Ergänzen wird man wohl können, dass das jeweils komparativ herangezogene Best-Practice-Beispiel auch mit denjenigen Verfassungsprinzipien und –werten vereinbar sein muss, welche in der Tat allen deutschen Teilverfassungen gemeinsam sind, das heißt nicht aus dem Rahmen dessen fällt, was im deutschen Verfassungsverbund vertretbar erscheint. Innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung ist also nicht auf die Heranziehung von Erkenntnissen beschränkt, die allen (oder den meisten) Teilverfassungen gemeinsam sind (sie darf sich auch am einzelnen Best-PracticeBeispiel orientieren); eher fungiert gemeindeutsches Verfassungsrecht als ein Art Gegenprobe: Das herangezogene Best-Practice-Beispiel muss mit gemeindeutschen Verfassungswerten im Einklang stehen. Die bis hierher herausgearbeitete These von der prinzipiellen Freiheit in der Auswahl des Vergleichsobjektes, nachdem man sich jeweils einen Gesamtüberblick über das zur Verfügung stehende föderale „Angebot“ gemacht hat (freie Orientierung an dem, was man innerhalb der angebotenen Lösungsmöglichkeiten als Best Practice ansieht), hat Auswirkungen auch auf die potentiellen – horizontalen wie vertikalen – Wirkrichtungen innerbundesstaatlicher Verfassungsvergleichung: Besonders zu betonen ist nämlich, dass im Bundesstaat nicht nur der horizontale Zwischenländervergleich und die (vertikale) Orientierung am Grundgesetz bei der Auslegung des Landesverfassungsrechts als selbstverständlich angesehen werden sollte, sondern dass umgekehrt – entgegen so manchem Reflex in der deutschen Lehre140 – auch die Heranziehung rechtsvergleichender Erkenntnisse des Landesverfassungsrechts bei der Auslegung des Grundgesetzes keineswegs in irgendeiner Weise problematischer erscheint, als dies bei den anderen Wirkrichtungen der Fall ist, sondern im Gegenteil die gleiche Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch nehmen darf wie diese (und zwar gerade nicht nur, soweit bestimmte Erscheinungen allen deutschen Landesverfassungen gemeinsam sind, sondern auch soweit sich am einzelnen Best-Practice-Beispiel einer einzigen Landesverfassung orientiert werden soll). Denn außerhalb desjenigen Bereichs, in dem das Grundgesetz den Landesverfassungen bindende Vorgaben macht, stehen Bundes- und Landesverfassung, wie das BVerfG in st. Rspr. sagt,141 als  Z.B. Maurer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3, 2009, §  82, Rn.  84, Fn.  212. 141   BVerfG vom 15.10.1997 – 2 BvN 1/95 = BVerfGE 96, 345 (368 f.); BVerfG vom 7.5.2001 – 2 BvK 1/00 = BVerfGE 103, 332 (350). 140

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selbstständige Verfassungsräume nebeneinander (und nicht übereinander!142 ). In ihrem jeweiligen Autonomiebereich treten sich Bundes- und Landesverfassung infolgedessen mit ebenbürtiger Kraft wechselseitiger komparativer Inspiration gegenüber. Verfassungsvergleichung darf daher – in vertikaler Wirkrichtung – keine Einbahnstraße sein.143 Die Bereitschaft, auf Bundesebene von guten Beispielen auch des Landesverfassungsrechts und der landesverfassungsgerichtlichen Judikatur zu profitieren, sollte nicht geringer ausgeprägt sein als umgekehrt die in ständiger landesverfassungsgerichtlicher Praxis übliche Orientierung am Grundgesetz und an der Rspr. des BVerfG.

3.  Konsequenzen für die Praxis in Rspr. und Lehre Die unter II. und III. herausgearbeiteten Ergebnisse gestatten es abschließend, auf den zu Beginn (I.) konstatierten Ausgangsbefund zurückzukommen und zu fragen, welche Konsequenzen sich für die Praxis in Verfassungsjudikatur und Staatsrechtslehre ergeben. Da diese nach dem Gesagten auf der Hand liegen bzw. schon wiederholt angedeutet worden sind, können sich die Ausführungen auf eine kurze Zusammenfassung beschränken: Was zunächst die verfassungsgerichtliche Judikatur betrifft, ist die Praxis der Landesverfassungsgerichte, was den horizontalen Zwischenländervergleich betrifft, bereits auf einem guten Wege; allenfalls verdient es die Verfassungsvergleichung als spezifische Methode der Landesverfassungsgerichtsbarkeit noch stärker ins theoretische Bewusstsein zu treten und als im Grunde gebotenes Instrument innerbundesstaatlicher Rechtserkenntnis noch stärker „kanonisiert“ zu werden, als bislang der Fall; auch dürfte die Landesverfassungsgerichtsbarkeit hier und dort z.T. noch stärkerer Professionalisierung und personeller Unterstützung bedürfen, um dem Anspruch guten komparativen Vorgehens vollends gerecht zu werden.144 Nicht weiter ausbaubedürftig ist – in vertikaler Hinsicht – die Orientierung am Grundgesetz in der landesverfassungsgerichtlichen Judikatur; eher muss hier umgekehrt das Bewusstsein gestärkt werden, dass die komparative Orientierung am GG (und BVerfG) nicht zur alles dominierenden, die jeweiligen Besonderheiten der Landesverfassungen überspielenden und die klassischen Auslegungsmethoden verdrängenden Inspirationsquelle werden darf;145 komparativ gewonnene Ergebnisse müssen stets einer rechtsordnungsimmanenten Gegenprobe (vertretbare Auslegung des eigenen Rechts?) standhalten (oben II.5.) und zudem muss Verfassungsvergleichung in gleicher Weise für Kontrastierung und Differenz wie für Angleichung und Übernahme offen sein   Vgl. dazu: Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2.  Aufl. 2017, Vorbem B, Rn.  10. 143  So zu Recht Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5. 144   Vgl. zum Ganzen Huber, Die Landesverfassungsgerichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, 73 (77 ff.). 145  Vgl. bereits Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), 350 (354 m.w.N.). 142

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(oben III.1.). Deutlich gestärkt zu werden verdient hingegen die – zwar durchaus vorhandene, aber doch eher sporadisch erscheinende – Orientierung auch an den Landesverfassungen und der landesverfassungsgerichtlichen Judikatur in der Praxis des BVerfG. Die deutsche Staatsrechtlehre muss ihre traditionell unitarische Ausrichtung hinterfragen und sollte insbesondere die traditionell ausschließlich am Grundgesetz orientierte Form der Darstellung des deutschen Staatsrechts146 auf den Prüfstand stellen. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland besteht aus dem Staatsrecht des Bundes und dem Staatsrecht der Länder.147 Diesem Anspruch muss die literarische Darstellung gerecht werden. Es sollte daher (stärker als dies bislang der Fall ist) zum Standard werden, dass bei der (freilich in erster Linie am Grundgesetz orientierten) Präsentation der einzelnen Institute, Prinzipien und Ausprägungen des deutschen Staatsrechts stets auch ein komparativer Seitenblick auf die jeweiligen Entsprechungen und ggf. Abweichungen im Landesverfassungsrecht geworfen wird (und zwar im Sinne einer integrierten Behandlung bei den einzelnen sachlichen Punkten, nicht hingegen allein in besonderen Kapiteln zum Bundesstaatsprinzip oder zum Landesverfassungsrecht, das dann allein aus dem Blickwinkel seines Rangverhältnisses zum Grundgesetz behandelt wird, wie dies weit verbreitet ist). Die deutsche Staatsrechtslehre hat bislang (von Ausnahmen wie dem neuen Bd.  VIII des Handbuchs der Grundrechte148 abgesehen) nur relativ vereinzelt zu einer systematischen Aufarbeitung der vielfältigen Institute des Landesverfassungsrechts beigetragen. Sie muss dies verstärkt tun und den komparativen Reichtum des deutschen Verfassungsrechts besser erschließen, wenn innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung in der Praxis gelingen soll. Auf den Prüfstand gehört schließlich auch die weitgehend allein am Grundgesetz orientierte Art und Weise, wie der deutsche Jurist in der universitären Ausbildung im Verfassungsrecht sozialisiert wird, die – wie B.-O. Bryde treffend bemerkt hat – dazu führt, dass dieser unwillkürlich stets in den Kategorien des Grundgesetzes denkt, auch wenn er sich mit dem Landesverfassungsrecht beschäftigt,149 und auf diese Weise die Aufgeschlossenheit für eine die Vielfalt des Landesverfassungsrechts berücksichtigende komparative Herangehensweise nicht gerade befördert. Wenn das Landesverfassungsrecht in der universitären Ausbildung nicht gestärkt wird und wenn nicht (meines Erachtens fast noch wichtiger) bereits in den Grundvorlesungen zum Staatsorganisationsrecht und zu den Grundrechten das lebendige Bewusstsein vermittelt wird, dass das deutsche Staatsrecht aus mehr besteht als allein aus dem Grundgesetz, braucht man sich nicht zu wundern, wenn innerbundesstaatliche Verfassungsvergleichung dem deutschen Juristen fremd bleibt. Freude am föderalen Reichtum des deutschen Verfassungsrechts wird der deutsche Jurist nur entwickeln, wenn sie ihm bereits in der Universität nahegebracht wird. 146   Siehe oben I.2. sowie Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5. 147   Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, 2.  Aufl. 1984, 12. 148   Merten/Papier (Hrsg.) i.V.m. Dietlein (Koordination), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  8 : Landesgrundrechte in Deutschland, 2017. 149   Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, 5.

Zur Verfassungsreform in Hessen von

Dr. Arno Wettlaufer, Alsfeld* Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 II. Ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 1. Zur Entstehung der Hessischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 2. Die bisherigen 8 verfassungsändernden Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 3. Zur Enquetekommission „Reform der Hessischen Verfassung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 III. Ein Blick zur Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 1. Die Verfassung für Württemberg-Baden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 2. Die Bayerische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 3. Die Verfassung von Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 IV. Ein Blick nach vorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 1. Zum Verfahren der Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 2. Zu den formellen Schranken einer Verfassungsrevision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 3. Zu den inhaltlichen Schranken einer Verfassungsrevision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 4. Zum Verfahren der Volksabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 a) Zur Erörterung im Hauptausschuss am 17.4.2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 b) Zur Diskussion in der EKR-Sitzung am 16.2.2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 c) Zur Position des Landeswahlleiters am 16.2.2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 d) Zur einfachgesetzlichen VAstG-Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 e) Zur SV-Stellungnahme vom August 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 f) Zur Unterrichtung im Rahmen der Abstimmungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 g) Beispiel: Volksentscheid in Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 h) Fazit zum Volksabstimmungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 5. Bereinigung und Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 6. Die Änderungsvorschläge der EKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 7. Einbringung von 19 Gesetzentwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 V. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 1. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 *   Der Verfasser leitet das Rechtsamt des Vogelsbergkreises (Hessen). Der Beitrag gibt seine persönliche Auffassung wieder.

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I. Einführung Der Hessische Landtag hatte am 15.12.2015 beschlossen,1 erneut eine Enquetekommission zur Reform der Hessischen Verfassung (HV) einzusetzen. Die Hessische Landesregierung aus CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte dazu in ihrem Koalitionsvertrag „Hessen 2014 bis 2019“ vereinbart, dass sie im Rahmen eines Verfassungskonvents gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern in Hessen in einen Dialog über eine moderne Verfassung für das Land Hessen eintreten“ will. Im Rahmen des Verfassungskonvents war angestrebt worden, „eine zeitgemäße Verfassung auf breitem Konsens zu erarbeiten, der die Tradition der Hessischen Verfassung bewahrt“.2 Die Enquetekommission bestand aus 15 Mitgliedern des Hessischen Landtags (HLT) und 15 ständigen Ersatzmitgliedern, wobei die Regierungskoalition aus CDU (6) und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2) insgesamt acht Mitglieder und die ­Oppositionsfraktionen SPD (5), FDP (1) und DIE LINKE (1) zusammen sieben Mitglieder stellten. Diese Enquetekommission „Verfassungskonvent zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen“ hatte sich am 16.3.2016 konstituiert.3 Vorsitzender war der Abgeordnete Banzer (CDU) und stellvertretende Vorsitzende die SPD-­ Abgeordnete Hofmann; Berichterstatterin war die Abgeordnete Müller (Kassel, BÜNDNIS 90/­DIE GRÜNEN). Jede der fünf Fraktionen hatte einen Obmann und jede Fraktion hatte eine/n unabhängige/n Sachverständige/n mit beratender Stimme in die Enquetekommission berufen.4 Die Enquetekommission Verfassungskonvent (EKV) hatte vom Landtag den Auftrag erhalten, „die Hessische Verfassung in ihrer Gesamtheit zu überarbeiten und Vorschläge für ihre zukunftsfähige Gestaltung zu unterbreiten. Sie bildet organisatorisch, sprachlich und dem Geiste nach den Rahmen für die angestrebte Verfassungsänderung“.5 Bei ihrer inhaltlichen Arbeit sollte die Kommission „auf dem Bericht der Verfassungsenquete von 2005 auf bauen,6 aber nicht auf die dortigen Vorschläge festgelegt oder beschränkt sein“.7 Gemäß dem Einsetzungsbeschluss hatte die Enquetekommission in ihrer 2. Sitzung am 10.5.2016 ein „Beratungsgremium Zivilgesellschaft“ benannt, in dem Ver1   LT-Drs. 19/2566, wobei die Einsetzung nach §  55 GO-HLT erfolgt ist; den Antrag hatten die Landtagsfraktionen der CDU, der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP gestellt. Die Fraktion DIE LINKE hatte in einer Pressemitteilung vom 17.12.2015 ausgeführt, dass sie „den friedens­ politischen Geist und die soziale Ordnung der Gesellschaft, wie sie in der Hessischen Verfassung festgelegt wurden, verteidigen“ wird. 2   „Verlässlich gestalten – Perspektiven eröffnen, Hessen 2014 bis 2019“, Abschnitt E III, S.  41. 3   HLT-Pressemitteilung vom 16.3.2016 (Nr.  16/13). 4   LT-Drs. 19/2566. Die Sachverständigen der 5 Fraktionen in alphabetischer Reihenfolge waren Gurlitt (für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Neskovic (für DIE LINKE), Schwarz (für die CDU), Wieland (für die SPD) und Will (für die FDP).Auch die Landesregierung hatte mit beratender Stimme einen Vertreter aus der Hessischen Staatskanzlei entsandt, so dass der Enquetekommission 15 stimmberechtigte und 6 beratende Mitglieder angehört haben. 5   LT-Drs. 19/2566. 6   Dazu: LT-Drs. 16/3700 vom 8.4.2005, Bericht der Enquetekommission „Reform der Hessischen Verfassung“, S.  1–74 sowie als Anhang acht Anlagen. 7   LT-Drs. 19/2566.

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eine, Verbände, Beiräte und Kammern, Wissenschaft, Kirchen und Glaubensgemeinschaften und weitere zivilgesellschaftliche Gruppen vertreten waren.8 Für die angestrebte Überarbeitung der Verfassung sollten die Beratungen und Vorschläge der Enquetekommission zeitnah den 6,1 Mio. Hessinnen und Hessen zugänglich gemacht werden. Zudem sollte im Sinne eines partizipatorischen Prozesses sichergestellt werden, dass Vorschläge aus der Bevölkerung die Kommissionsberatungen erreichen.9 Nach Abschluss der internen Beratungen sollten die Ergebnisse der Enquetekommission „öffentlich diskutiert werden“;10 dazu hatte Mitte Februar 2017 die vorgesehene öffentliche Anhörung stattgefunden.11 Weiter hatte der parlamentarische Einsetzungsbeschluss der Enquetekommission vorgegeben, in jedem der drei Regierungsbezirke Darmstadt, Gießen und Kassel „mindestens ein Bürgerforum“ zu veranstalten; diese Foren wurden in Rüsselsheim (13.6.2017), in Gießen (19.6.2017) und in Kassel (20.6.2017) abgehalten.12 In seinem Einsetzungsbeschluss hatte der Landtag die Kommission abschließend gebeten, ihm nach Abschluss ihrer „Beratungen über die Ergebnisse zu berichten, diese zu bewerten und einen Gesetzesvorschlag zur Änderung der Hessischen Verfassung zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen“. Weiter war im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien vom Januar 2014 vereinbart worden, dass der hessischen Bevölkerung noch in dieser Wahlperiode folgende Verfassungsänderungen zur Abstimmung vorzulegen sind: 1. Verankerung des Staatsziels Ehrenamt, 2. Abschaffung der Todesstrafe, 3. Erleichterungen bei den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Volksbegehren und Volksentscheiden und 4. Herabsetzung des passiven Wahlalters.13 Da auch „unabhängig von dem Ergebnis des Verfassungskonvents“ das Volk über diese vier HV-Änderungen nach „beschlussfassender“ Bearbeitung durch die Enque8   Unter Mitwirkung der Fraktionen hatte die Enquetekommission das „Beratungsgremium Zivilgesellschaft“ benannt (LT-Drs. 19/2566); die Größe dieses Gremiums hatte der Landtag in seiner Einsetzungsentscheidung vom 15.12.2015 nicht vorgegeben. 9   Für die technische Umsetzung dieser Partizipation gab es eine eigene Internetseite mit interaktiven Funktionen, wobei die Mittel für die Arbeit der Enquetekommission aus dem Haushalt des Landtags bereitgestellt wurden (LT-Drs. 19/2566). Die Landeszentrale für politische Bildung hatte im Frühjahr 2017 auch 20 Workshops für die Schülerinnen und Schüler in Hessen veranstaltet und anschließend hatte die Enquetekommission Schülerinnen und Schüler am 15.5.2017 in den Hessischen Landtag eingeladen. Auf Veranlassung der Enquetekommission hatten zudem an den Universitäten Marburg, Gießen und Frankfurt verfassungsbezogene Seminare und Kolloquien stattgefunden. 10   LT-Drs. 19/2566. 11   Nach dem Schreiben des EKV-Vorsitzenden vom 6.9.2016 an die Vertreterin von Transparency International Deutschland e.V. (abruf bar über die Homepage des Hessischen Landtags: Aktuelles, Verfassungskonvent, Protokolle: Anlagen zur 5. Sitzung vom 12.9.2016) sollte das zwischenzeitlich gesammelte Material „verdichtet“ und den Experten in der Anhörung im Februar 2017 vorgelegt werden. 12   Bei diesen Bürgerforen, die als 14. bis 16. EKV-Sitzungen protokolliert worden sind, sollten die Kommissionsmitglieder Möglichkeiten und Grenzen einer Verfassungsänderung sowie die bisherigen Arbeitsergebnisse vorstellen, während die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eigene Vorschläge machen konnten. 13   Diese regierungspolitischen Vorgaben (Fn.  2 : Abschnitt E III, S.  41) bezogen sich auf die Art.  25, 21 Abs.  1 Satz  2 , 124 und 75 Abs.  2 HV und sind auch in den Antrag auf Einsetzung der Enquetekommission (LT-Drs. 19/2566) aufgenommen worden.

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tekommission14 noch in der laufenden Wahlperiode abstimmen soll, kann dies nur kurz vor deren Ablauf geschehen. Es ist danach unerlässlich, die Volksabstimmung zusammen mit der Wahl zum 20. Hessischen Landtag im Herbst 2018 durchzuführen.15 Daher ist das Paket der Gesetzesentwürfe bereits Mitte Dezember 2017 in den Landtag eingebracht worden.16 Der aufgezeigte Fahrplan für die Arbeit der Enquetekommission war ambitioniert, da er einen Zeitraum von weniger als zwei Jahren umfasste und mit einer dreitätigen öffentlichen Anhörung sowie der Durchführung je eines Bürgerforums in Süd-, Mittel- und Nordhessen die Kommissionsmitglieder in zeitlicher Hinsicht in beachtlichem Umfang band. Unabhängig davon hatte die erste, politisch gescheiterte Enquetekommission zur Verfassungsreform (2003–2005) hinreichend deutlich gezeigt, welche politischen Grundsatzfragen gegebenenfalls zu klären sind und wie groß erforderlichenfalls die Konsensbereitschaft in allen parteipolitischen Lagern sein muss, um den zweiten Anlauf für eine Landesverfassungsreform erfolgreich abschließen zu können. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick zurück, ein Blick zur Seite und ein Blick nach vorn.

II.  Ein Blick zurück Zunächst ist gedrängt auf das Entstehen der Hessischen Verfassung und ihre bisherigen acht Änderungen (1950 bis 2011) einzugehen. Ferner ist die Arbeit der ersten Enquetekommission „Reform der Hessischen Verfassung“ (EKR) zu skizzieren, die vor rund 13 Jahren trotz weniger Änderungsvorschläge im parteipolitischen Dissens und einem Disput in der Sitzung des Landtags am 26.4.2005 endete.

1.  Zur Entstehung der Hessischen Verfassung Durch die Proklamation Nr.   2 der US-amerikanischen Militärregierung vom 19.9.1945 war – neben Bayern und Württemberg-Baden – das Land Groß-Hessen   LT-Drs. 19/2566.   Nach der LT-Wahl vom 22.9.2013 hat die 19. Wahlperiode am 18.1.2014 begonnen, da die 18. „Wahlperiode des alten Landtags“ (Art.  82 HV) am 17.1.2014 abgelaufen ist. Die laufende Wahlperiode dauert daher (Art.  79 Satz  1 HV) voraussichtlich bis zum 17.1.2019. Zwar kann die für eine Verfassungsänderung erforderliche Volksabstimmung (Art.  123 Abs.  2 HV) aus Taktik- und/oder Kostengründen mit der Kommunalwahl (wie am 27.3.2011 die 8. HV-Änderung), mit der Landtagswahl (wie am 20.1.1991 die 3. u. 4. HV-Änderung), mit der Bundestagswahl (wie am 22.9.2002 die 5., 6. u. 7. HV-Änderung) und mit der Europawahl (bisher noch nicht) kombiniert werden. Lediglich die Volksabstimmungen für die 1. HV-Änderung (9.7.1950) und die 2. HV-Änderung (8.3.1970) sind losgelöst von einer Wahl durchgeführt worden. Die Bundestagswahl hat bereits am 24.9.2017 stattgefunden, während die nächste Europawahl erst im Frühjahr 2019 und die nächste Kommunalwahl in Hessen erst im März 2021 stattfinden wird. 16   Mit Rücksicht auf das Ende der 19. Wahlperiode am 17.1.2019, der verfassungsrechtlich zuvor notwendigen Neuwahl (Art.  79 Satz  2 HV), die noch im Herbst 2018 stattfinden wird, und dem ihr vorausgehenden Wahlkampf in Hessen bedeutete dies, dass die Enquetekommission, die auch dem parlamentarischen Diskontinuitätsgrundsatz unterliegt, ihre Gesetzentwürfe zu HV-Änderungen rechtzeitig dem Hessischen Landtag vorzulegen hatte. 14

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gebildet worden; die Feier der Staatsgründung hatte am 16.10.1945 in Wiesbaden stattgefunden. Am 22.11.1945 hatte das Groß-Hessische Staatsministerium das aus 11 Artikeln bestehende Staatsgrundgesetz des Staates Groß-Hessen erlassen.17 Gemäß Art.   2 Satz  1 dieses Staatsgrundgesetzes umfasste das Staatsgebiet die Gebiete der ehemaligen Provinzen Kurhessen und Nassau sowie das Gebiet des ehemaligen Volksstaates Hessen. Als Vorläufer eines künftigen Landtages hatte der Ministerpräsident einen Beratenden Landesausschuss berufen, der am 4.2.1946 einen aus 12 Mitgliedern bestehenden Vorbereitenden Verfassungsausschuss eingesetzt hatte. Während diese Kommission am 18.6.1946 einen Verfassungsentwurf mit 133 Artikeln vorgelegt hatte, war bereits auf Anordnung der US-amerikanischen Militärregierung durch das GroßHessische Staatsministerium unter dem 16.5.1946 das „Wahlgesetz für die verfassungsberatende Groß-Hessische Landesversammlung“18 erlassen worden. Die Verfassungsberatende Landesversammlung hatte nach §  2 des Wahlgesetzes die Aufgabe, „eine Verfassung des Landes Groß-Hessen vorzubereiten“, wobei diese Verfassung nur in Kraft treten konnte, wenn sie „von der Militärregierung der Besatzungsmacht genehmigt“ und „durch einen Volksentscheid gebilligt“ worden war. Vorgabegemäß hatte die Wahl der 90 Abgeordneten am 30.6.1946 stattgefunden.19 Da der Volksentscheid bereits am 27.10.1946 stattfinden sollte (§  3 Satz  1 Hs.  2 des Wahlgesetzes) und die amerikanische Militärregierung für die Vorlage des Verfassungsentwurfes zur Genehmigung Fristen vorgegeben hatte, stand die verfassungsberatende Arbeit der Landesversammlung im Sommer 1946 unter einem ganz erheblichen Zeitdruck.20 Trotz des Elends der Bevölkerung und der Besatzungsherrschaft war die Chance gesehen worden, mit der Schaffung einer Landesverfassung zum Souveränitätsgewinn, zur Demokratisierung und Verrechtlichung des neu gebildeten Staates sowie zur Konstituierung des deutschen Gesamtstaates beizutragen.21 Wichtigster Ausschuss der demokratisch legitimierten Landesversammlung war der Verfassungsausschuss mit 29 Abgeordneten,22 der den Verfassungsentwurf zu erarbeiten hatte. Nach sechs Ausschusssitzungen (7.–21.8.1946) war ein Siebener-Ausschuss als Unterausschuss eingerichtet worden, in dem in insgesamt sieben Sitzungen (27.8.–20.9.1946) die inhaltlichen Verfassungsverhandlungen geführt worden waren. 17   GVBl. 1945 S.  23; nach Art.  1 Satz  1 bildete das Land Groß-Hessen „ein Glied im künftigen demokratischen Deutschland“. Nach Art.  9 Abs.  1 betrachtete sich die Groß-Hessische Staatsregierung „als Treuhänderin des Hessischen Volkes“ und verpflichtete sich, „eine demokratische Verfassung“ vorzubereiten. 18   GVBl. 1946 S.  139–142. 19   §  3 Satz  1 Hs.  1 des Wahlgesetzes vom 16.5.1946. Die Wahlbeteiligung lag mit rd. 2/3 Wählerinnen und rd. 1/3 Wähler bei 71 %. In der Landesversammlung gehörten der SPD 42, der CDU 35, der KPD 7 und der LDP 6 Abgeordnete an (86 Männer und 4 Frauen), so dass die SPD mit der KPD über eine Mehrheit verfügte. 20   §  3 Satz  2 des Wahlgesetzes bestimmte bereits, dass die Verfassung „am 1. Januar 1947 in Kraft“ tritt. 21  Ausführlich: Berding, Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946, Dokumentation 1996, Dokument 40: Die Erste Lesung im Plenum (5./6.8.1946), S.  413–485; Will, Die Entstehung der Verfassung des Landes Hessen von 1946, 2009 (Dissertation), S.  310/311: „Zur Bedeutung der ersten Lesung des Verfassungsentwurfs“. 22   Sein Vorsitzender war Prof. Dr. Bergsträßer (SPD) und dessen Stellvertreter Schlitt (CDU).

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Weil es in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses (23.9.1946) zu einem Zerwürfnis bei der Abstimmung über ein Zweikammersystem gekommen war,23 hatte es bis zur letzten 14. Sitzung (26.9.1946) vermehrt Kampfabstimmungen gegeben, so dass der Entwurf des Verfassungsausschusses in entscheidenden Bereichen von der SPD und der KPD geprägt worden war.24 Während die zweite Lesung in der Landesversammlung begonnen hatte (29.9.1946), hatte es einen Tag später (30.9.1946) einen Kompromiss zwischen den Fraktionen der CDU und der SPD hinsichtlich der politisch umstrittenen Punkte gegeben.25 Neben den Änderungen des Verfassungstextes war er die Grundlage für das Entstehen einer Verfassung, die von den beiden großen Parteien SPD und CDU getragen wurde und die deshalb gute Chancen hatte, die erforderliche Genehmigung der Militärregierung der Besatzungsmacht sowie die Zustimmung des Volkes zu erhalten.26 Unter Einbeziehung des Verfassungsausschusses war dann die zweite Lesung in der Verfassungsberatenden Landesversammlung abgeschlossen worden (2.10.1946), wobei der Verfassungsentwurf in namentlicher Abstimmung mit 69 Ja-Stimmen bei elf Stimmenthaltungen angenommen worden war.27 Mitten in der dritten Lesung des Verfassungsentwurfs in der Verfassungberatenden Landesversammlung (29.10.1946) war das formelle Genehmigungsschreiben der US-amerikanische Militärregierung eingegangen, mit dem die Empfehlung des Verfassungsausschusses vom Vormittag nach einer separaten Volksabstimmung über Art.  41 HV28 wohlwollend zur Kenntnis genommen worden war. In namentlicher Abstimmung war anschließend der Entwurf der Verfassung für das Land Hessen 29 mit 82 Ja-Stimmen der SPD, der CDU und der KPD gegen die sechs Nein-Stimmen der LPD angenommen worden.30 Die vom US-amerikanischen Hochkommissar für Deutschland herausgegebene „Neue Zeitung“ hatte zur Unterrichtung der Bevölkerung den Verfassungstext als Sonderdruck veröffentlicht. Am 1.12.1946 hatte mit der ersten Landtagswahl (Art.  160 Abs.  3 HV)31 das Verfassungsreferendum stattgefunden. Bei 12,8 % ungültiger Stimmen als Zeichen des Protestes hatten im Übrigen 76,8 % mit Ja und 23,2 % mit Nein gestimmt. Bei der separaten Abstimmung am 1.12.1946 über die Sofortsozialisierung

23   Vgl. dazu Art.  155 HV, wonach es durch Verfassungsänderung möglich ist, „in das Verfahren der Gesetzgebung ein weiteres aus demokratischen Wahlen hervorgehendes Organ einzuschalten.“ 24   Will (Fn.  21), S.  4 48/449. 25   Jentsch hat in seinem Vortrag „70 Jahre Hessische Verfassung“ am 5.9.2016 in der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung in Wiesbaden dazu angemerkt, dass dieser historische Kompromiss am 30.9.1946 in nur vier Stunden erreicht worden war. 26   Will (Fn.  21), S.  461–465 zur „Bedeutung des Kompromisses für die Verfassungsgebung in Hessen“. 27   Will (Fn.  21), S.  483/484 zur „Gesamtabstimmung über den Verfassungsentwurf “. 28   Sein Inhalt ist die Sofortsozialisierung von Kohle und Stahl, Erzen und Kali, Energie und Eisenbahnen. 29   Siehe Art.  64 HV, wonach Hessen „ein Glied der deutschen Republik“ ist. 30   Will (Fn.  21), S.  504; 2 Abgeordnete fehlten. Nach Jentsch (Fn.  25) gingen die LPD-Mitglieder der Landesversammlung davon aus, dass „das zu erwartende Grundgesetz es richten werde“. 31   Bei einer Wahlbeteiligung von 73,2 % hatte die SPD 42,7 %, die CDU 30,9 %, die LPD 15,7 % und die KPD 10,7 % der Stimmen erzielt: Will (Fn.  21), S.  508.

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(Art.  41 HV) hatten 72,0 % mit Ja und 28 % mit Nein gestimmt; 13 % der Stimmen waren ungültig.32 Gemäß Art.  160 Abs.  1 HV33 ist die Verfassung des Landes Hessen am 1. Dezember 1946 in Kraft getreten (Satz  1); zugleich ist das Staatsgrundgesetz außer Kraft getreten (Satz  2). Der 1. Hessische Landtag hatte sich am 19.12.1946 konstituiert; am 20.12.1946 war Christian Stock von einer großen Koalition aus SPD und CDU zum Ministerpräsidenten gewählt worden. 19 Monate nach Kriegsende war damit die Konstituierung des Landes weitestgehend abgeschlossen. Die Proklamation Nr.  2 mit ihren Befugnissen für die Militärregierung der Besatzungsmacht und der von ihr ermächtigten Ministerpräsidenten war durch die Proklamation Nr.  4 vom 1.3.1947 dahingehend revidiert worden, dass den Ländern Hessen, Württemberg-Baden und Bayern die volle gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt zugewiesen worden war. Spätestens damit war die Bildung des Landes Hessen abgeschlossen.34

2.  Die bisherigen acht die Hessische Verfassung ändernden Gesetze Durch Gesetz vom 22.7.195035 ist zum einen Art.  75 HV dahingehend geändert worden, dass durch Neufassung des Abs.  1 die Worte „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ für die Landtagswahl gestrichen worden sind und Abs.  3 Satz  2 umformuliert worden ist. Zum anderen ist Abs.  6 des Art.  137 HV gestrichen worden, der vorsah, dass die Grundsätze des Landtagswahlrechts auch für die Gemeinde- und Gemeindeverbandswahlen gelten.36 Erst nahezu 20 Jahre später hat es durch das Gesetz vom 23.3.197037 die zweite Änderung der Hessischen Verfassung gegeben. Dabei ist durch Neufassung von Art.  73 Abs.  1 HV das aktive Wahlrecht für die Volksabstimmungen (und damit insbes. für die Landtagwahl) von 21 auf 18 Jahre verringert38 und das passive Wahlrecht durch Neufassung von Art.  75 Abs.  2 HV von 25 auf 21 Jahre herabgesetzt worden. 32   Will (Fn.  21), S.  507; nach seiner Einschätzung waren die jeweils relativ vielen ungültigen Stimmen „sicher ein Zeichen des Protests“. 33   GVBl. 1946 S.  229, 240. 34   Gornig in: 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen – Eine Festschrift, 1997, S.  122 (129); Will (Fn.  21), S.  510. 35   GVBl. 1950 S.  131. Die erforderliche Volksabstimmung ist am 9.7.1950 isoliert durchgeführt worden: 78,4 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von nur rd. einem Drittel (vgl. Schroeder/Neumann, Politik und Regieren in Hessen, 2016, S.  378). 36   Seither kann der einfache Landesgesetzgeber das Wahlrecht für den Landtag und – losgekoppelt davon – das Wahlrecht für die Landkreise sowie die Städte und Gemeinden regeln: vgl. Will (Fn.  21), S.  553. Bereits für die Wahl zum 2. Hessischen Landtag am 19.11.1950 ist – nach der Änderung von Art.  75 Abs.  1 HV – durch das Landtagswahlgesetz vom 18.9.1950 (GVBl. S.  171) das Wahlrecht in ein „Mischsystem“ aus Verhältnis- und Mehrheitswahl geändert worden. 37   GVBl. 1970 I S.  281. Die erforderliche Volksabstimmung ist – im Hinblick auf die am 8.11.1970 stattfindende Landtagswahl – wiederum separat am 8.3.1970 (Fn.  15) durchgeführt worden: 62 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  379). 38  Seit dem Inkrafttreten dieses verfassungsändernden Gesetzes (1.4.1970) findet sich in Art.  73

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Wiederum erst 21 Jahre danach hat es die dritte und vierte HV-Änderung durch die beiden Gesetze vom 20.3.1991 gegeben. Mit der dritten Verfassungsänderung ist durch ein Gesetz Art.  138 neu gefasst und als Übergangsvorschrift Art.  161 HV eingefügt worden.39 Während die Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte bis dahin von den gewählten Vertretungskörperschaften schriftlich und geheim gewählt worden waren, werden sie seit April 1993 von den hessischen Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt.40 Im Rahmen der vierten HV-Änderung sind durch weiteres Gesetz vom 20.3.1991 ein neuer Abschnitt „IIa. Staatsziel Umweltschutz“ und ein neuer Art.  26a in die Hessische Verfassung eingefügt worden.41 Der als fünfte HV-Änderung vom Hessischen Landtag einstimmig beschlossene Gesetzesentwurf, mit der das passive Wahlrecht durch eine weitere Neufassung des Art.  75 Abs.  2 HV auf das „achtzehnte Lebensjahr“ abgesenkt werden sollte, ist in der Volksabstimmung am 19.2.1995 deutlich gescheitert.42 Es hat daher länger als elf Jahre gedauert bis zur fünften, sechsten und siebten Änderung der Hessischen Verfassung. Mit der fünften Änderung durch Gesetz vom 18.10.2002 ist im Ersten Hauptteil vor Art.  55 HV die Überschrift des Abschnittes V von „Erziehung und Schule“ in „Erziehung, Bildung, Denkmalschutz und Sport“ geändert sowie ein neuer Art.  62a HV eingefügt worden zum Schutz und zur Pflege des Sports.43 Mit der sechsten Änderung durch Gesetz vom selben Tag ist Art.  79 Satz  1 HV neu gefasst worden, wobei lediglich das Wort „vier“ durch das Wort „fünf “ ersetzt worden ist. Dabei ist die Verlängerung der Wahlperiode des Hessischen Landtags von Abs.  1 HV die erste und bisher einzige Bezugnahme auf das Grundgesetz (Staatsangehörigkeit im Sinne des Art.  116 Abs.  1 GG). 39   GVBl. 1991 I S.  101. Die erforderliche Volksabstimmung ist erstmals zusammen mit der Landtagswahl am 20.1.1991 durchgeführt worden: 82,0 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  382). 40   Die mit Wirkung vom 28.3.1991 erstmals eingefügte Übergangsvorschrift des Art.  161 HV, der in Satz  1 an „die nächste seinem Inkrafttreten folgende Kommunalwahlperiode“ angeknüpft hatte, ist bereits mit der 6. HV-Änderung mit Wirkung vom 25.10.2002 um einen Abs.  2 ergänzt und im Rahmen der 8. Änderung mit Wirkung ab 10.5.2011 neu gefasst worden. 41   GVBl. 1991 I S.  102; die Einfügung erfolgte in den Ersten Hauptteil und vor dem Abschnitt III (Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten). Die erforderliche Volksabstimmung ergab bei einer Wahlbeteiligung von 70,8 % insgesamt 81,6 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  382). Zutreffend ist darauf hingewiesen worden, dass dieses Staatsziel „anthropozentrisch“ formuliert ist („Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen“) und anders als Art.   20a GG (Gesetz vom 27.10.1994, BGBl. I S.  3146) keinen Gesetzesvorbehalt enthält (vgl. von Zezschwitz/Heselhaus, 62.  Aufl. 2009, Verfassung des Landes Hessen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S.  32). 42   Die zusammen mit der Landtagswahl durchgeführte Volksabstimmung ergab (bei einer Wahlbeteiligung von 65,8 %) nur 37,3 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  382). Daher ist Hessen auch heute noch das einzige der 16 Bundesländer, in dem die Kandidatinnen und Kandidaten für den Landtag das 21. Lebensjahr vollendet haben müssen. Dies soll bei der anstehenden Verfassungsreform geändert werden (vgl. Fn.  237). 43   GVBl. 2002 I S.  626. Die erforderliche Volksabstimmung ist zusammen mit der Bundestagswahl am 22.9.2002 durchgeführt worden; bei einer Wahlbeteiligung von79,6 % gab es 73,8 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  383). Während das Staatsziel Umweltschutz den Staat und die Gemeinden als Adressaten hat (Art.  26a HV), richtet sich das Staatsziel Sport darüber hinaus an die Gemeindeverbände, also die Landkreise (Art.  62a HV). Daran soll die anstehende Verfassungsreform auch nichts ändern, da lediglich der bisherige Art.  26a der zukünftige Art.  26b HV werden soll (vgl. unten Abschnitt IV Nr.  6 Gesetzentwurf 5)).

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vier auf fünf Jahre durch Einfügung von Art.  161 Abs.  2 HV auf die „nächste seinem In-Kraft-Treten folgende Wahlperiode“ verschoben worden.44 Durch das weitere Gesetz vom 18.10.2002 ist an Art.  137 HV – nach rd. 52 ¼ Jahren wieder45 – ein Abs.  6 angefügt worden; durch diese siebte Änderung ist das Konnexitätsprinzip in die Hessische Verfassung aufgenommen worden.46 Nach weiteren 8 ½ Jahren hat es die achte und bisher letzte HV-Änderung gegeben. Durch Gesetz vom 29.4.2011 ist Art.  141 HV neu gefasst und auf 5 Absätze erweitert worden.47 Bis dahin regelte Art.  141 HV mit 2 Sätzen, dass die Landesregierung Kredite zu Lasten kommender Haushaltspläne nicht ohne ein förmliches Gesetz und daher nur mit Billigung des Landtags „bei außerordentlichem Bedarf “ aufnehmen konnte.48 Art.  141 Abs.  1 HV wiederholt den Grundsatz (aus Art.  109 Abs.  3 Satz  1 GG), dass der Haushalt „ohne Kredite auszugleichen“ ist.49 Weiter geregelt sind die beiden Abweichungen von diesem Grundsatz, nämlich „bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung“ (Abs.  3 ) 50 und „bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“ (Abs.  4 ).51 Gemäß Art.  141 Abs.  5 HV bestimmt das Nähere das Gesetz.52 Mit dem „Gesetz zur Schuldenbremse“ vom 29.4.2011 ist seither landesverfassungsrechtlich die Übernahme der mit der deutschen Schuldenbremse für den Bund

44   GVBl. 2002 I S.  627; bei einer Wahlbeteiligung von79,6 % gab es 55,5 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  383). Die 15. Wahlperiode des Landtags hatte am 5.4.1999 begonnen und endete daher gemäß dem bisherigen Art.  79 Satz  1 HV am 4.4.2003. Folglich begann die erste 5-jährige Wahlperiode am 5.4.2003, sie galt für den 16. Landtag und endete am 4.4.2008. 45   Vgl. die erste HV-Änderung durch Gesetz vom 22.7.1950: oben Fn.  36. 46  GVBl. 2002 I S.  628; bei einer Wahlbeteiligung von79,6 % gab es 76,2 % Ja-Stimmen (vgl. ­S chroeder/Neumann (Fn.  35), S.  383). Vgl. auch Will (Fn.  21), S.  554. Das Konnexitätsprinzip hat zum Inhalt, dass die Kostenfolgen zu regeln sind, wenn Gemeinden oder Landkreise durch Gesetz oder Rechtsverordnung zur Erfüllung staatlicher Aufgaben verpflichtet werden (Art.  137 Abs.  6 Satz  1 HV); nach Satz  2 ist bei einer Mehrbelastung oder Entlastung der Kommunen insgesamt ein entsprechender Ausgleich zu schaffen, wobei gemäß Satz  3 ein Gesetz das Nähere zu regeln hat. Eingehend zum Anwendungsbereich und zur Reichweite des Konnexitätsprinzips: Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes (StGH) vom 6.6.2012 –P.St. 2292-, StAnz. 2012, 722, 725–727. 47   GVBl. 2011 I S.  182. Die erforderliche Volksabstimmung ist zusammen mit der Kommunalwahl am 27.3.2011 durchgeführt worden; bei einer Wahlbeteiligung von 48,85 % gab es insgesamt 70,0 % Ja-Stimmen (vgl. Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  383). 48  Näher: Hinkel, Verfassung des Landes Hessen – Kommentar, 1998, Art.  141 HV Erl. (S.  236). 49   Nach Art.  141 Abs.  2 bleibt Art 137 Abs.  5 HV unberührt; dies bedeutet, dass die Verpflichtung des kreditlosen Haushaltsausgleichs gemäß Art.  141 Abs.  1 HV nicht die Verpflichtung des Landes einschränkt, den Gemeinden und Gemeindeverbänden die aufgabenkonformen Geldmittel zur Verfügung zu stellen. 50   Übernahme von Art.  109 Abs.  3 Satz  2 1. Alt GG. 51   Übernahme von Art.  109 Abs.  3 Satz  2 2. Alt GG. 52   Dies ist das „Gesetz zur Ausführung von Artikel 141 der Verfassung des Landes Hessen“ vom 26.6.2013 (GVBl. S.  4 47), das als Ziel den Ausgleich des Landeshaushalts ohne Kreditaufnahme im Jahr 2019 vorsieht. Näher dazu: Dreßler, VR 2014, 263, 264 Fn.  11.

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und die Länder (Art.  109 Abs.  3 GG) 53 verbundenen Ausnahmen auch für Hessen abgesichert. Während durch das sechste Änderungsgesetz vom 18.10.2002 Art.  161 HV als Übergangsbestimmung lediglich ergänzt worden war, ist er durch das achte Änderungsgesetz vom 29.4.2011 neu gefasst worden. Er regelt, ebenfalls ohne Hinweis auf das GG, in Satz  1 und 4, dass der neue Art.  141 HV „erstmals für das Haushaltsjahr 2020 anzuwenden“ ist und dabei die Aufstellung des Landeshaushalts so zu erfolgen hat, dass die Vorgabe von Art.  141 Abs.  1 HV „erfüllt wird“.54 Zutreffend ist die rechtliche Einschätzung, dass mit dieser landesverfassungsrechtlichen Regelung, die seit 10.5.2011 in Kraft ist, die Schuldenbremse für das Land Hessen nicht eingeführt, sondern grundgesetzkonform gelockert worden ist.55 Mit der erfolgreichen Volksabstimmung ist der Wunsch der damaligen CDU/FDP-Regierung in Erfüllung gegangen, für ihren „Mut zur Selbstbindung“ eine eindeutige Rückendeckung zu erhalten.56 Alle bisherigen Änderungen der Hessischen Verfassung haben daher politischen Zielen, insbesondere der Modifizierung des Wahlrechts einschließlich der Direktwahl auf kommunaler Ebene, gedient. Nicht einmal ist dabei in 70 Jahren zugleich auch ein verfassungsrechtliches Relikt eliminiert worden.57

53   Im Rahmen der Föderalismusreform II ist durch das Gesetz vom 29.7.2009 in Art.  109 Abs.  3 GG eine verfassungsrechtliche Schuldenbremse aufgenommen worden, wonach die Haushalte des Bundes und der Länder zukünftig „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ sind (Satz  1). Gemäß der Übergangsvorschrift des Art.  143d Abs.  1 Satz  3 GG dürfen die Länder bis Ende 2019 „nach Maßgabe der geltenden landesrechtlichen Regelungen von den Vorgaben“ des Art.  109 Abs.  3 GG abweichen. Nach Art.  143d Abs.  1 Satz  4 GG ist auch der Haushalt des Landes Hessen „so aufzustellen, dass im Haushaltsjahr 2020 die Vorgabe“ aus Art.  109 Abs.  3 Satz  5 GG erfüllt wird; danach regeln die Länder die nähere Ausgestaltung für ihre Haushalte „im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen mit der Maßgabe, dass Satz  1 nur dann entsprochen ist, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden“. 54   Damit ist Art.  143d Abs.  1 Satz  3 und 4 GG auf Hessen „heruntergebrochen“ worden. 55  Vgl. Dreßler (Fn.  52), VR 2014, 263, 264. Gesetzestechnisch überrascht nicht, dass Art.  141 HV, der auf Art.  109 Abs.  3 GG fußt, ohne jede Bezugnahme auf das Grundgesetz auskommt. Das verfassungsändernde Gesetz trägt die Bezeichnung „Aufnahme einer Schuldenbremse in Verantwortung für kommende Generationen – Gesetz zur Schuldenbremse“ und suggeriert damit die Einführung der Schuldenbremse in Hessen und nicht die Übernahme der beiden Abweichungen der bereits seit 1.8.2009 auch für alle 16 Länder verbindlichen vorgegebenen GG-Schuldenbremse. 56  Vgl. Dreßler (Fn.  52), VR 2014, 263, 264 Fn.  17, wonach diese HV-Änderung „nur von einem Drittel, genau 33,1 %, der Stimmberechtigten in Hessen verabschiedet“ worden ist. 57   Das plakativste Beispiel ist Art.  21 Abs.  1 Satz  2 HV, wonach jemand bei besonders schweren Verbrechen „zum Tode verurteilt werden“ kann. Seit dem 24.5.1949 ist nach Art.  102 GG die Todesstrafe abgeschafft, so dass seither das Bundesrecht das hessische Landesrecht bricht (Art.  153 Abs.  2 HV sowie Art.  31 GG). Damit ist auch für „die Bestätigung eines Todesurteils“ durch die Landesregierung (Art.  109 Abs.  1 Satz  3 HV) offenkundig kein Raum mehr. Dies soll bei der anstehenden Verfassungsreform geändert werden (vgl. unten Abschnitt IV Nr.  6 Gesetzentwurf 4)).

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3.  Zur Enquetekommission „Reform der Hessischen Verfassung“ Der 12. Hessische Landtag hatte auf Antrag der Regierungsfraktionen – angesichts der deutschen Wiedervereinigung am 3.10.1990 – am 23.11.1990 beschlossen, „zu Beginn der nächsten Legislaturperiode unverzüglich eine Enquetekommission“ einzusetzen, um die Hessische Verfassung der Verfassungswirklichkeit des geeinten Deutschlands des Jahres 1990 anzupassen.58 Da jedoch die Landtagswahl am 20.1.1991 zur Ablösung der CDU/FDP-Regierung durch eine SPD/GRÜNE-Regierung geführt hatte,59 war auch die Einsetzung einer Enquetekommission durch den 13. Hessischen Landtag unterblieben. Erst 13 Jahre später hatte der 16. Hessische Landtag nach seiner Konstituierung am 5.4.2003 versucht, die Hessische Verfassung grundlegend zu reformieren. Auf Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte das Landesparlament am 8.7.2003 eine „Enquetekommission zur Reform der Hessischen Verfassung“ eingesetzt. Sie bestand aus 11 Abgeordneten und hatte die Aufgabe, bis Ende 2004 „die Hessische Verfassung auf Veränderungs- und Ergänzungsbedarf zu überprüfen und möglichst einvernehmliche Vorschläge unter Wahrung ihrer demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Grundgedanken zu ihrer Änderung zu unterbreiten“.60 In der Zeit vom 8.10.2003 bis 18.3.2005 hatte es insgesamt zwölf Sitzungen dieser Enquetekommission zur HV-Reform (EKR) gegeben. Mitte 2004 hatten rd. 200 Vorschläge zur Änderung der Hessischen Verfassung vorgelegen, da auch die Fraktionen des Landtags Änderungswünsche unterbreitet hatten. Da der Einsetzungsbeschluss vom 8.7.2003 jedoch keine Totalrevision61 gestattete, hatte die Kommission in ihrer 8. Sitzung (8.9.2004) beschlossen, im Kreis der vier Obleute der Fraktionen einen Kompromiss zu finden.62 Diesen Kompromissvorschlag hatte die Enquete­ kommission in ihrer 9. Sitzung (10.12.2004) einstimmig bei Nichtbeteiligung der drei SPD-Mitglieder angenommen.63

 Vgl. Lange/Jobs in: 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen – Eine Festschrift, 1997, S.  4 45, 448. Im 6. Hessischen Landtag hatte sich ein Antrag der FDP-Fraktion vom 13.1.1970, der sich auf eine Reform von 16 Verfassungsartikeln bezog, durch das Ende der Legislaturperiode am 30.11.1970 erledigt; vgl. dazu Dreßler, HSGZ 2004, 3, 4. 59   Siehe dazu: Schroeder/Neumann (Fn.  35), S.  382. 60   LT-Drs. 16/264. Die alleinregierende CDU stellte sechs Mitglieder, die SPD drei Mitglieder und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie die FDP je ein Mitglied. Vorsitzender war der Vizepräsident Quanz (SPD), sein Stellvertreter der Abgeordnete Posch (FDP) und Berichterstatter der Abgeordnete Wintermeyer (CDU). 61   Totalrevision als prinzipielle Gesamtdurchsicht mit dem Ziel, „praktisch eine nahezu neue Verfassung zu schaffen“: vgl. Lange/Jobs (Fn.  58), S.  445, 453f, die fünf Stufen einer Verfassungsreform unterscheiden. 62   LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  8 : Die Obleute trafen sich in der Zeit vom 29.9.–10.12.2004 zu insgesamt fünf Gesprächen. 63   Die SPD-Mitglieder wollten den Kompromissvorschlag als „Zwischenergebnis“ verstanden wissen und zunächst einen längeren öffentlichen Diskussionsprozess führen, bevor sich die Enquetekommission abschließend positioniert. Darauf hin hatten die Mitglieder der anderen drei Fraktionen in der Enquetekommission empfohlen, „nach der Beratung des Berichts im Plenum öffentliche Voranhörungen“ durchzuführen, um dem Landtag bis zum 1.10.2005 Vorschläge „für die Gesetzgebungsverfahren“ zu unterbreiten: LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  71. 58

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Der von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP getragene Kompromiss der Enquetekommission zur Änderung und zur Ergänzung der Hessischen Verfassung hatte sich auf die Präambel, zum Ersten Hauptteil (Die Rechte des Menschen: Art.  1-63) auf elf Artikel und zum Zweiten Hauptteil (Auf bau des Landes: Art.  64161) auf fünf Artikel bezogen.64 Die Präambel sollte um einen Gottesbezug und einen Verweis auf ein vereintes Europa ergänzt werden. Im Rahmen des Ersten Hauptteils sollte insbesondere die Todesstrafe in Art.  21 Abs.  1 Satz  2 HV gestrichen, die Tarifautonomie und das Aussperrungsverbot in Art.  29 Abs.  1 und 4 HV relativiert und die gemeinwohlorientierte Wirtschaftsordnung gemäß Art.  38 Abs.  1 und 2 HV durch die Betonung der Wirtschaftsfreiheit im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft ersetzt werden. Ferner sollten in Art.  39 HV die Abs.  2 bis 4 und damit die Bestimmungen über die Überführung von Vermögen in Gemeineigentum gestrichen werden. Ersatzlos gestrichen werden sollte auch Art.  41 HV, der die Sofortsozialisierung näher bestimmter Betriebe vorsieht,65 sowie Art.  42 HV, der insbesondere eine Bodenreform durch Einziehung des historisch belasteten Großgrundbesitzes regelt.66 Im Zweiten Hauptteil sollte Art.  65 HV um das Subsidiaritätsprinzip ergänzt werden, wonach der Staat Aufgaben nur wahrnimmt, „soweit das Gemeinwohl dies erfordert“. In Art.  101 HV sollte Abs.  3 gestrichen werden, der bestimmt, dass Angehörige der bis 1918 in Deutschland regierenden Häuser nicht Mitglieder der Landesregierung werden können. Korrespondierend zu Art.  21 Abs.  1 Satz  2 HV sollte in Art.  109 Abs.  1 Satz  3 HV die Regelung entfallen, wonach die Bestätigung eines Todesurteils der Landesregierung vorbehalten bleibt.67 Nach Art.  123 Abs.  2 HV kommt eine Verfassungsänderung „dadurch zustande, daß der Landtag sie mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder beschließt und das Volk mit der Mehrheit der Abstimmenden zustimmt“. Insoweit sah der Kompromissvorschlag zu Abs.  2 vor, diese alternativlose Regelung um zwei Möglichkeiten einer Verfassungsänderung zu ergänzen. Zum einen sollte der Landtag die Möglichkeit erhalten, allein mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung zu ändern. Zum anderen sollte auch im Wege des Volksbegehrens und gegebenenfalls gegen den Landtag durch Volksentscheid eine Änderung der Verfassung ermöglicht werden.68 Schließlich sollte in Art.  124 HV, der das Volksbegehren und den Volksentscheid regelt, in Abs.  1 das Quorum für ein Volksbegehren von 20 % der Stimmberechtigten   LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  36–39.   Vgl. dazu Fn.  28 u. 32. 66   Die weiteren 5 HV-Vorschläge betrafen Art.  4 (Ergänzung um die Rechte von Kindern und die Förderung häuslicher Pflege), Art.  26a (Ergänzung um Tierschutz), Art.  35 (Soziale Sicherung statt Sozialversicherung), Art.  62 (Ergänzung des Denkmal- und Landschaftsschutzes um den Sport sowie den Schutz und die Förderung des Ehrenamtes) mit Streichung von Art.  62a, der erst als 5. HV-Änderung mit Wirkung ab 25.10.2002 in Kraft getreten war (vgl. Fn.  43). 67   Vgl. dazu Fn.  57. 68   LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  39. De lege lata steht dem Volk kein Initiativrecht zur Änderung der Hessischen Verfassung vor: näher dazu Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 457f, da aus systematischen Gründen Art.  123 Abs.  2 HV eine abschließende Regelung zum Verfahren der Verfassungsänderung darstellt. Demgemäß wird in Art.  155 HV ausdrücklich auf „ein Verfassungsgesetz nach Artikel 123 Abs.  2“ verwiesen. 64 65

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auf 12,5 % reduziert und in Abs.  3 eine erfolgreiche Volksabstimmung erstmals an eine Zustimmung von 25 % der Stimmberechtigten geknüpft werden. Der bisherige Abs.  4 sollte Abs.  6 werden, da in einem neuen Abs.  4 das Verfahren für eine Verfassungsänderung durch Volksabstimmung und in einem neuen Abs.  5 geregelt werden sollte, dass sich der Landtag im Rahmen seiner Zuständigkeit mit einer Initiative des Volkes zu befassen hat, die „von mindestens 50.000 Stimmberechtigten unterstützt“ wird.69 Der Bericht der Enquetekommission „Reform der Hessischen Verfassung“ vom 8.4.2005 war am 26.4.2005 im Plenum des Landtags beraten worden.70 Der Berichterstatter hatte ausgeführt, dass „zu 80 Bestimmungen der Hessischen Verfassung Vorschläge eingereicht und rund 20 Vorschläge für neue Normen vorgelegt“ worden waren.71 Der SPD-Fraktionsvorsitzende hatte eine „Totalreform der Hessischen Verfassung“ abgelehnt, um nicht „letztlich das Grundgesetz abzuschreiben“; „wir wollen, dass die besondere Identität der Hessischen Verfassung erhalten bleibt“.72 Ferner hatte er den Entschließungsantrag seiner Fraktion vom 18.1.2005 zum Abschluss der HV-Reformarbeiten73 zurückgenommen und festgestellt, dass der Einsetzungsbeschluss auf den 31.12. letzten Jahres begrenzt war, „sodass der Ablauf des Prozesses der Verfassungsenquetekommission mit dem heutigen Tag beendet ist“.74 Der Obmann der CDU-Fraktion hatte für seine Partei die Überzeugung formuliert, „dass der Vorschlag der Kommission maßstabsetzend für eine freiheitliche Landesverfassung des 21. Jahrhunderts wäre“;75 „wir können uns im 21. Jahrhundert keine Normruinen leisten, die einem historisch überholten Geist entsprechen. Ein beredtes Beispiel hierfür ist die überfällige Streichung der Todesstrafe“.76 Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte ihr Obmann am Beispiel Tarifrecht (Art.  29 HV) und Sozialversicherung (Art.  35 HV) deutlich gemacht: „Wir wollen, dass die Hessische Verfassung keine Versprechungen macht, die der Gesetzgeber und die hessische Politik nicht einhalten können“.77 Der Obmann der FDP-Fraktion hatte in der parlamentarischen Beratung – an den SPD-Fraktionsvorsitzenden gewandt – ausgeführt, dass bei der Diskussion der HVNovel­lierung klar war, „dass die Bestimmungen über die Wirtschaftsverfassung der 69   LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  39. Zwingende Folge dieser Verfassungsänderung wäre gewesen, das auf Art.  124 Abs.  4 HV fußende Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid (VuVG) vom 16.5.1950 (GVBl. S.  103) verfassungskonform anzupassen. Dreßler, HSGZ 2004, 3, 6, weist darauf hin, dass das Unterschriftenquorum von 20 % nach Art.  124 Abs.  1 Satz  1 HV („ein Fünftel der Stimmberechtigten“) eine „in der Praxis schier unüberwindbare und seit 1946 noch nie überwundene Hürde für das Volksbegehren“ darstellt (vgl. auch Plenarprotokoll des Landtags (LT-PPr) 16/67, S.  4595). 70   LT-PPr 16/67, S.  4586–4602 (TOP 11). 71   LT-PPr 16/67, S.  4586. 72   LT-PPr 16/67, S.  4589. 73   LT-Drs. 16/3519: Antrag der SPD-Fraktion betreffend „Abschluss der Arbeit der Verfassungs­ enquete des Hessischen Landtags im Konsens“ vom 18.1.2005. 74   LT-PPr 16/67, S.  4590. 75   LT-PPr 16/67, S.  4591. 76   LT-PPr 16/67, S.  4592. 77   LT-PPr 16/67, S.  4597.

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neuralgische Punkt sind“.78 Auch die Obleute-Gespräche seien in dem Glauben geführt worden, dass die Sozialdemokraten kompromissbereit seien.79 Mit dem Schluss dieser Aussprache im Hessischen Landtag am 26.4.2005 hatte das Vorhaben, die Hessische Verfassung erstmals einer Revision zu unterziehen, sein zeitnahes Ende gefunden. Wegen des Ausstiegs der SPD-Fraktion hatte die die Regierung stellende CDU-Fraktion zusammen mit den beiden anderen Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP davon abgesehen, ein parlamentarisch mögliches Gesetz zur Änderung der Landesverfassung zu beschließen und dem Volk zur Abstimmung vorzulegen.

III.  Ein Blick zur Seite In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Betrachtung des Grundgesetzes und seiner Änderungsgeschichte seit 1949; dies wäre wegen Art.  31 GG „ein Blick nach oben“. Vielmehr soll ein kurzer Blick auf eine frühere Landesverfassung und zwei fortbestehende Landesverfassungen und ihre zwischenzeitlich erfolgten Änderungen geworfen werden.80

1.  Die Verfassung für Württemberg-Baden (VWB) Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die nördlichen Teile von Baden und Württemberg zur US-amerikanischen Besatzungszone gekommen, wobei die Aufteilung entlang der Kreisgrenzen unter Einbeziehung der Autobahn Karlsruhe-Stuttgart-Ulm (heutige A 8) erfolgt war. Zur französischen Besatzungszone gehörten die südlichen Teile von Baden und Württemberg sowie die (preußischen) Hohenzollerischen Lande. Während die Militärregierung in der französischen Besatzungszone das Land Baden mit der Hauptstadt Freiburg im Breisgau und das Land Württemberg-Hohenzollern mit der Hauptstadt Tübingen gebildet hatte, war durch die Proklamation Nr.  2 der US-amerikanischen Militärregierung vom 19.9.1945 – neben Bayern und Groß-Hessen – das Land Württemberg-Baden mit der Hauptstadt Stuttgart entstanden. Es war mit rd. 15.700 km² und 3,5 Mio. Einwohnern das größte der drei Länder im Südwesten. Die Verfassungsgebende Landesversammlung war am 30.6.1946 gewählt worden, hatte die Verfassung ausgearbeitet und am 24.10.1946 beschlossen. Neben der Wahl des ersten Landtags hatte die Volksabstimmung darüber am 24.11.1946 stattgefunden wie eine Woche später in Hessen und Bayern. Die Verfassung für Württemberg-Ba  LT-PPr 16/67, S.  4599.   LT-PPr 16/67, S.  4601. 80   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 451 f. haben bereits 1997 darauf hingewiesen, dass insbesondere durch die Verfassungsgebung in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt in den Jahren 1992/93 ein fortgeschrittener Stand der Landesverfassungsentwicklung erreicht worden ist, an den auch in Hessen angeknüpft werden kann. Zudem hat es in den neunziger Jahren auch in den „alten“ Bundesländern eine intensive Phase der Verfassungsfortbildung gegeben. 78

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den war dann am 28.11.1946 in Kraft getreten81 und damit die erste Landesverfassung noch vor den Verfassungen von Hessen und Bayern. Nach Art.  44 Abs.  1 VWB bestand das Staatsgebiet „derzeit aus den in der Anlage aufgeführten Gebietsteilen der Länder Württemberg und Baden“. Gemäß Art.  85 Abs.  1 Satz  1 VWB konnte die Verfassung „durch Gesetz geändert werden“. Dies war nach Art.  85 Abs.  2 durch eine „doppelte“ Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags möglich oder gemäß Art.  85 Abs.  3 VWB, wenn – auf Antrag der absoluten Mehrheit des Landtags – eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen im Rahmen einer Volksabstimmung die Änderung beschlossen hätte. Nach Art.  107 VWB waren die Art.  85 Abs.  2 und 3 nicht anwendbar „auf Verfassungsänderungen, die aus Anlaß einer Vereinigung von Süd-Württemberg und Süd-Baden mit den nördlichen Landesteilen erfolgen“. Auf einer Konferenz der Ministerpräsidenten war am 31.8.1948 die Entscheidung zur Schaffung eines Südweststaates getroffen worden. Daher sah (und sieht), abweichend von Art.  29 GG (Neugliederung des Bundesgebiets) Art.  118 GG in Satz  1 ausdrücklich vor, dass die Neugliederung ihrer Gebiete durch Vereinbarung der „Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern“ erfolgen kann.82 Da eine solche Länder-Vereinbarung nicht zustande gekommen war, ist nach Art.  118 Satz  2 GG „die Neugliederung durch Bundesgesetz geregelt“ worden,83 „das eine Volksbefragung“ vorzusehen hatte. Da das Ergebnis der Volksbefragung bei Erlass des Bundesgesetzes offen war, regelte das Neugliederungsgesetz84 alternativ das Verfahren bei der Vereinigung der drei Länder zu einem Bundesland und das Verfahren bei der Wiederherstellung der alten Länder Baden und Württemberg einschließlich Hohenzollern. Die am 9.12.1951 durchgeführte Volksabstimmung brachte die erforderliche Mehrheit in drei der vier Abstimmungsbezirke und damit die Gründung des Bundeslandes Baden-Württemberg am 25.4.1952 durch die Wahl des ersten Ministerpräsidenten. Infolge der Gründung des Südweststaates hatte sich die Verfassungsgebende Landesversammlung am 11.11.1953 eine Landesverfassung gegeben, die am 19.11.1953 in Kraft getreten ist. Zugleich ist zu diesem Zeitpunkt die Verfassung für Württemberg-Baden außer Kraft getreten. Als älteste Landesverfassung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sie damit nur knapp sieben Jahre Bestand. Sie war in dieser Zeit nur einmal85 geändert worden. Art.  104 VWB hatte folgenden Wortlaut: 81   Gesetz vom 28.11.1946 (RegBl. S.  277), mit dem die Verfassung „als Grundgesetz des Landes Württemberg-Baden verkündet“ worden war; nach Art.  108 Abs.  2 VWB war sie „mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft“ getreten. 82   Aus „verfassungshistorischen Gründen“ ist diese GG-Vorschrift auch nach Gründung des Landes Baden-Württemberg beibehalten worden: vgl. Jarass/Pieroth, 14.  Aufl. 2016, Art.  118 GG Rn.  1. 83   Erstes Gesetz zur Durchführung der Neugliederung in dem die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern umfassenden Gebiete nach Art.  118 Satz  2 des Grundgesetzes vom 4.5.1951, BGBl. I S.  283. 84   Zweites Gesetz über die Neugliederung in den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern vom 4.5.1951, BGBl. I S.  284. 85   Durch Gesetz vom 29. März 1949 (RegBl. S.  43), mit dem Art.  91 Abs.  2 VWB um einen Satz  2 hinsichtlich der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes ergänzt worden war.

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„Zur Befreiung des deutschen Volkes von Nationalismus und Militarismus und zur Beseitigung ihrer Folgen können während einer Übergangszeit durch Gesetz Rechtsvorschriften erlassen werden, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen. Dieser Artikel tritt am 1. Januar 1949 außer Kraft.“

In ähnlicher Weise heißt es in Art.  158 HV: „Die verfassungsmäßigen Freiheiten und Rechte können nicht den Bestimmungen entgegengehalten werden, die ergangen sind oder vor dem 1. Januar 1949 noch ergehen werden, um den Nationalismus und Militarismus zu überwinden und das von ihm verschuldete Unrecht wieder gut zu machen.“

Im Seitenblick „rückwärts“ auf die Verfassung Württemberg-Baden kann somit auf Hessen bezogen konstatiert werden, dass beide Landesverfassungen befristet der gesetzgeberischen Überwindung von Nationalismus und Militarismus den Vorrang eingeräumt hatten, noch bevor eine bundesgesetzliche Ebene geschaffen war. Gemeint waren Entnazifizierungsvorschriften, die dem Besatzungsrecht zuzuordnen waren und daher ohnehin Vorrang vor württemberg-badischem und hessischem Verfassungsrecht (vgl. auch Art.  159 HV) hatten.86

2.  Die Bayerische Verfassung (BV) Auch Bayern, das territorial fast unversehrt den Krieg überstanden hatte, ist durch die Proklamation Nr.  2 der US-amerikanischen Militärregierung vom 19.9.1945 als Staat wieder gebildet worden. Auf der Grundlage eines Vorentwurfs durch einen vorbereitenden Verfassungsausschuss hatte die im Juni gewählte Verfassungsgebende Landesversammlung am 26.10.1946 ohne wesentliche Änderungen und mit Genehmigung der Militärregierung den Entwurf der Verfassung beschlossen. In einer Volksabstimmung am 1.12.1946 (wie in Hessen) war die Verfassung des Freistaates Bayern mit einer Mehrheit von mehr als 70 % angenommen, durch Ministerpräsident Hoegner (SPD) ausgefertigt und am 4.12.1946 durch den Ministerrat festgestellt worden. Nach Verkündung ist die Bayerische Verfassung am 8.12.1946 in Kraft getreten (Art.  76 Abs.  1 BV). Sie ist in vier Hauptteile gegliedert und enthält 188 Artikel. Ebenso wie in Hessen bedürfen verfassungsändernde Gesetze der Zustimmung des bayerischen Volkes. Bisher ist die Bayerische Verfassung 1968, 1970, 1973, 1984, 1995, 1998, 2003 und 2013 durch insgesamt 16 Gesetze geändert worden. Mit §  2 Abs.  5 des verfassungsändernden Gesetzes „Verfassungsreformgesetz – Reform von Landtag und Staatsregierung“ vom 20.2.1998, das das Volk des Freistaates Bayern beschlossen hat, ist das Staatsministerium des Innern ermächtigt worden, „die Verfassung neu bekanntzumachen und dabei Unstimmigkeiten des Wortlauts zu beseitigen“.87 Demgemäß ist die Neufassung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 15.12.1998 bekanntgemacht worden.88   Hinkel (Fn.  48), Art.  158 HV Erl. (S.  244).   GVBl. 1998 S.  39, 41. 88   GVBl. 1998 S.  991, 992. 86 87

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Art.  75 Abs.  2 BV regelt nach wie vor, dass verfassungsändernde Beschlüsse einer Zweidrittelmehrheit des Bayerischen Landtags bedürfen und „dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden“ müssen. Bayern und Hessen sind damit die beiden einzigen Länder, in denen das Landesparlament nicht die verfassungsrechtliche Ermächtigung hat, mit einem bestimmten Quorum der Volksvertreter/innen die Landesverfassung zu ändern. Vielmehr ist das Verfassungsreferendum obligatorisch. Trotz der insgesamt 16 verfassungsändernden Gesetze hat der Freistaat bisher davon abgesehen, seine Verfassung einer weitgehenden Revision zu unterziehen.89 „Für die Allgemeinheit lebenswichtige Produktionsmittel, Großbanken und Versicherungsunternehmungen können“ gemäß Art.  160 Abs.  2 Satz  1 BV „in Gemeineigentum überführt werden, wenn die Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert“. „Arbeitsloses Einkommen arbeitsfähiger Personen wird“ − so Art.  168 Abs.  2 BV − „nach Maßgabe der Gesetze mit Sondersteuern belegt“. Nach Art.  178 Satz  1 BV wird Bayern „einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten“. Art.  180 BV bestimmt, dass bis zu dessen Errichtung die Bayerische Staatsregierung mit Zustimmung des Bayerischen Landtags ermächtigt wird, näher bezeichnete staatliche Zuständigkeiten „an den Rat der Ministerpräsidenten der Staaten der US-Zone oder andere deutsche Gemeinschaftseinrichtungen mehrerer Staaten oder Zonen abzutreten“. Art.  184 BV hat folgenden Wortlaut: „Die Gültigkeit von Gesetzen, die gegen Nationalsozialismus und Militarismus gerichtet sind oder ihre Folgen beseitigen wollen, wird durch diese Verfassung nicht berührt oder beschränkt“.90 Daher lässt sich im Seitenblick auf die Bayerische Verfassung feststellen, dass historisch gewordene Verfassungsbestimmungen beibehalten werden können, ohne eine Anpassung an die veränderte Wirklichkeit auszuschließen. Es ist in Bayern sogar gelungen, mit dem Senat eine jahrzehntelang bestehende parlamentarische Institution abzuschaffen.91 Demgegenüber hat Art.  155 HV folgenden Wortlaut: „Es bleibt vorbehalten, durch ein Verfassungsgesetz nach Artikel 123 Abs.  2 in das Verfahren der Gesetzgebung ein weiteres aus demokratischen Wahlen hervorgegangenes Organ einzuschalten“. Das laufende Verfassungsänderungsverfahren im Hessischen Landtag lässt diese Bestimmung unberührt.92 Dieser Artikel war Teil des Kompromisses zwischen CDU und SPD vom 30.9.1946 und sollte die Entscheidung über die von der CDU gewünschte

 Es überrascht daher nicht, dass die bisherigen Verfassungsänderungen die Präambel von 1946 unberührt gelassen haben; dort heißt es einleitend: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, …“. 90   Siehe dazu auch Art.  104 VWB, 158 HV, Art.  98 VvB sowie Art.  139 GG. 91   So hat das Volk des Freistaates Bayern auch das „Gesetz zur Abschaffung des Bayerischen Senats“ vom 20.9.1998 (GVBl. S.  42) beschlossen, mit dem der Senat als Zweite Kammer neben dem Landtag mit Wirkung ab 1.1.2000 beseitigt worden ist. An dem Volksentscheid „Schlanker Staat ohne Senat“ vom 8.2.1998 hatten sich 39,9 % der Stimmberechtigten beteiligt und 69,2 % für dessen Abschaffung votiert. Der BayVerfGH hatte mit Beschluss vom 17.9.1999 den Volksentscheid für verfassungskonform erklärt, so dass das Gesetz vom 20.9.1998 wie vorgesehen am 1.1.2000 in Kraft getreten ist. 92   Zu diesem Artikel hat es bei der Durchsicht der Hessischen Verfassung zwecks Materialsammlung keine Wortmeldung seitens der Kommissionsmitglieder in der 9. EKV-Sitzung am 13.1.2017 gegeben: EKV 19/9 S.  42. 89

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Zweite Kammer gesichtswahrend offenhalten.93 Nach mehr als 70 Jahren „gelebter“ Landesverfassung wird diese Frage landespolitisch nicht mehr gestellt und daher könnte diese Bestimmung als überholt gestrichen werden.

3.  Die Verfassung von Berlin (VvB) Mit der Berliner Erklärung vom 5.6.1945 hatten die vier Siegermächte im Anschluss an die Kapitulation der deutschen Streitkräfte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland als Kern der Staatlichkeit übernommen. Das Deutsche Reich von 1871 war völkerrechtlich nicht untergegangen; vielmehr hatten die Alliierten kriegsbedingt einseitig die Macht erlangt, um es im Wege einer „bottom up-Strategie“ über die Bildung von Ländern94 umzugestalten, bis 1949 die Bundesrepublik Deutschland konstituiert worden ist.95 Die ehemalige Reichshauptstadt war am 11.7.1945 in vier Sektoren aufgeteilt worden, deren Verwaltung die vier alliierten Mächte übernommen hatten. Die für die Verwaltung Berlins zuständige Alliierte Kommandantur erließ ohne deutsche Mitwirkung im August 1946 die „Vorläufige Verfassung von Groß-Berlin“, durch die Berlin den Status eines Landes erhielt. Auf deren Grundlage war am 20.10.1946 die (erste und letzte) Stadtverordnetenversammlung für ganz Berlin gewählt worden. Diese Volksvertretung sollte bis Mai 1948 eine endgültige Verfassung für Berlin erarbeiten; dafür hatte sie einen Verfassungsausschuss eingesetzt. Nachdem jedoch aufgrund politischer Spannungen Anfang September 1948 die gemeinsame Verwaltung beendet worden war, hatte die Stadtverordnetenversammlung für die drei westlichen Sektoren die Verfassung von Berlin (VvB) beschlossen,96 die am 1.10.1950 in Kraft getreten ist. Gemäß Art.  1 Abs.1 VvB ist Berlin „ein deutsches Land und zugleich eine Stadt“. Soweit nach Art.  1 Abs.  2 und 3 VvB Berlin ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist und daher Grundgesetz und deren Gesetze für Berlin bindend sind, hatte − für 40 Jahre − das Schreiben der Alliierten Kommandantur Berlin vom 29.8.1950 betreffend die Genehmigung der Verfassung den Vorbehalt gemacht, dass diese beiden Absätze des Art.  1 zurückgestellt werden.97

 Näher Will (Fn.  21), S.  460.   Durch das „Gesetz über den Neuauf bau des Reichs“ vom 30.1.1934 (RGBl. I S.  75) waren alle Länder ihrer Qualität als Staat beraubt worden, da nach dessen Art.  2 Abs.  1 die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übergegangen waren. 95   Näher dazu Will (Fn.  21), S.  9/10. Siehe auch Satz  2 der GG-Präambel in der Fassung des Einigungsvertrages vom 31.8.1990; danach besteht das Bundesgebiet aus den Gebieten aller 16 Bundesländer: vgl. Jarass in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 14.  Aufl. 2016, Präambel Rn.  5 ; zum Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Deutschen Reich von 1871 und dessen Fortbestand: näher Rn.  6/7. 96   VOBl. I S.  433. Nach Art.  25 Abs.  1 VvB ist seither „Abgeordnetenhaus“ die Bezeichnung für die Volksvertretung. 97  Bis 1990 enthielten daher alle Bundesgesetze, die auch für Berlin gelten sollten, eine „Berlin-Klausel“, wonach sie erst in Kraft traten, nachdem sie ausdrücklich als Berliner Gesetz verabschiedet worden waren. Erst am 3.10.1990 sind auch Art.  1 Abs.  2 und 3 VvB in Kraft getreten. 93

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Nach der Gesamtberliner Wahl zum Abgeordnetenhaus im Dezember 199098 hatte das gemeinsame Berliner Parlament am 11.1.1991 beschlossen, die im Westteil geltende Verfassung von Berlin für das vereinte Land zu übernehmen und sie zugleich während der ersten Wahlperiode zu überarbeiten.99 Während es von Januar 1951 bis Juni 1995 insgesamt 28 verfassungsändernde Gesetze gegeben hatte, ist durch Gesetz vom 23.11.1995 die Verfassung von Berlin neu gefasst und die bisherige Verfassung außer Kraft gesetzt worden,100 nachdem die Bevölkerung Berlins in einer Volksabstimmung am 22.10.1995 der vom Abgeordnetenhaus am 8.6.1995 beschlossenen Verfassung zugestimmt hatte. Diese modernisierte Landesverfassung hat seither in den Jahren 1996 bis 2016 insgesamt 13 Änderungen erfahren, da sie auch die Vorgaben für die Bezirke enthält. Im „Vorspruch“ (Präambel) der Verfassung von 1950 war der Wunsch ausgedrückt worden, „die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben“; im „Vorspruch“ der Verfassung von 1995 heißt es nunmehr, dass Berlin „die Hauptstadt des vereinten Deutschlands“ ist. Die Verfassung von Berlin ist in acht Abschnitte untergliedert und umfasst seit ihrer erfolgreichen Modernisierung 101 Artikel. Der bisherige Art.  24 ist als Art.  37 VvB übernommen worden; er regelt, dass sich auf mehrere Artikel nicht berufen darf, „wer die Grundrechte angreift oder gefährdet, insbesondere wer nationalsozialistische oder andere totalitäre oder kriegerische Ziele verfolgt“.101 Erhalten geblieben ist Art.  98 VvB, wonach von den Bestimmungen dieser Verfassung „die zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus und zur Beseitigung ihrer Folgen erlassenen Rechtsvorschriften“ nicht berührt werden.102 Bereits durch Art.  88 VvB 1950 war vorgegeben, dass die Verfassung von Berlin durch eine Zweidrittelmehrheit des Abgeordnetenhauses oder im Wege des Volksentscheides geändert werden konnte.103 Nunmehr regelt Art.  100 VvB diese beiden Möglichkeiten der Verfassungsänderung, wobei eine Änderung der die Volksinitiative (Art.  62) und das Volksbegehren (Art.  63) sichernden Artikel „zusätzlich einer Volksabstimmung“ bedarf. Mithin gibt es in Berlin in rudimentärer Form für Verfassungsänderungen ebenfalls ein   Mit der Wiedervereinigung am 3.10.1990 waren die elf Ost-Berliner Bezirke zu den zwölf West-­ Berliner Bezirken hinzugekommen; mit Wirkung ab 1.1.2001 ist durch Art.  4 Abs.  1 VvB die Zahl der Bezirke auf zwölf verringert worden. Die Bezirke haben keine eigene Rechtspersönlichkeit. 99   Art.  88 Abs.  3 VvB 1950 hatte folgenden Wortlaut: „Die Verfassung ist bei Abschluß eines Friedensvertrages und bei Verkündung einer Verfassung für Deutschland einer Überprüfung zu unterziehen.“ 100   GVBl. S.  779: vgl. Art.  101 Abs.  1 VvB; da die GVBl.-Verkündung am 28.11.1995 erfolgt ist, ist die VvB-Neufassung am 29.11.1995 in Kraft getreten. 101   Dagegen ist im Zuge der Novellierung Art.  48 VvB gestrichen worden, der in Abs.  1 die Abänderung des bisherigen Reichsrechts durch das Abgeordnetenhaus, in Abs.  2 die Abänderung des bisher geltenden preußischen Rechts und in Abs.  3 bestimmt hatte, dass alle in den geltenden Gesetzen eingeräumte Rechte der früheren Reichsregierung und des früheren preußischen Staatsministeriums auf den Senat übergehen, sofern das Abgeordnetenhaus nicht anders beschließt. 102   In der Verfassung von 1950 war dies Art.  86 gewesen. 103   Mit Wirkung ab 7.9.1990 hatte Art.  88 Abs.  2 Satz  1 VvB bestimmt, dass die Verfassung während der ersten Wahlperiode des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses einer Überarbeitung zu unterziehen ist; nach Satz  3 war die durch das Abgeordnetenhaus überarbeitete Verfassung „durch Volksabstimmung in Kraft zu setzen“. Dies war der verfassungsrechtliche Grund dafür, dass die durch das Landesparlament auf den Weg gebrachte Novellierung der Verfassung der Volksabstimmung bedurfte. 98

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kombiniertes Verfahren aus Abgeordnetenhaus-Beschluss und Volksabstimmung (wie in Hessen und Bayern). „Das Land Berlin kann ein gemeinsames Land mit dem Land Brandenburg bilden“; ein solcher Staatsvertrag bedarf neben der Zweidrittelmehrheit des Abgeordnetenhauses auch „der Zustimmung durch Volksabstimmung nach Maßgabe dieses Staatsvertrages“ (Art.  97 Abs.  1 und 2 VvB 1995).104 Entsprechend ist eine Zweidrittelmehrheit des Brandenburger Landtages sowie die Zustimmung in einer Volksabstimmung erforderlich. Art.  118a GG, der auf dem Einigungsvertrag fußt, gestattet die Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg abweichend von Art.  29 GG.105 Der Staatsvertrag beider Länder über die Bildung des gemeinsamen Landes Berlin-Brandenburg vom 27.4.1995 hatte zwar die erforderliche Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Landtag; in den Volksabstimmungen am 5.5.1996 hatten ihm zudem 53,4 % der teilnehmenden Berliner Bevölkerung, aber nur 36,6 % der Brandenburger Wählerinnen und Wähler zugestimmt.106 Dieses Scheitern des „Landes Berlin-Brandenburg“ 1996 ändert nichts daran, dass zwischenzeitlich die „Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg“ eine europäische Metropolregion ist. In Hinblick auf Art.  118a GG ist es sachgerecht, dass Art.  97 VvB unverändert geblieben ist und auch für die Zukunft die Bildung eines gemeinsamen Landes offenlässt.107 Im Seitenblick auf die Verfassung von Berlin ist bemerkenswert, dass der Bevölkerung ein vollständiger Verfassungstext in einer Volksabstimmung im Herbst 1995 vorgelegt worden war und diese umfassende Revision eine politisch beeindruckende Mehrheit erhalten hatte.108

IV.  Ein Blick nach vorn 1.  Zum Verfahren der Verfassungsänderung Wegen der 2005 gescheiterten Überarbeitung der Hessischen Verfassung ist es sinnvoll, zunächst auf das Verfahren der Verfassungsänderung selbst einzugehen zwecks Klärung, ob dieses Verfahren ohne Alternative bleiben oder ein weiterer Verfahrensweg zur Verfassungsänderung eröffnet werden sollte.   Art.  97 Abs.  3 VvB 1995 enthält Vorgaben für den Staatsvertrag, nach Abs.  4 bleiben die Rechte des Abgeordnetenhauses unberührt und gemäß Abs.  5 bestimmt ein Staatsvertrag das Nähere zur Regelung der Volksabstimmung. 105  Dazu Jarass/Pieroth (Fn.  95), Art.  118a GG Rn.  1. 106   Der Tagesspiegel hat am 4.5.2016 nach 20 Jahren im Rückblick angemerkt, dass die Brandenburger damals „keine Berliner Verhältnisse“ wollten und weiterhin nicht wollen. Der Brandenburger Regierungschef ist heute zutiefst davon überzeugt, „dass sich sein Land nicht so gut entwickelt hätte, wenn es tatsächlich mit Berlin fusioniert hätte“. 107   Vgl. dazu Art.  116 der Verfassung des Landes Brandenburg, der ebenfalls weiterhin die „Neugliederung des Raumes Brandenburg-Berlin“ regelt. 108   68,6 % der 2,479 Mio. Wahlberechtigten haben an der Abstimmung am 22.10.1995 teilgenommen; bei gültigen Stimmen von 93,2 % haben 75,1 % für Ja und 24,1 % für Nein gestimmt. Damit hat Dreiviertel der an der Volksabstimmung teilnehmenden Berliner Bevölkerung die Totalrevision ihrer Landesverfassung befürwortet. 104

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Eine Verfassungsänderung kommt − unverändert seit 1946 − nach Abs.  2 des Art.  123 HV zustande, wenn der Landtag sie mit einfacher Mehrheit beschließt und das Volk ihr mehrheitlich zustimmt.109 Bei der Änderung handelt es sich technisch um ein „Verfassungsgesetz“ (vgl. Art.  155 HV). Zum einen war im Rahmen der Reformdebatte 2004/2005 vorgeschlagen worden, neben dem kombinierten Verfahren aus Zustimmung von Landtag und Volk die Möglichkeit zu schaffen, dass der Landtag allein mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung ändern kann.110 In der Aussprache im Landtag am 26.4.2005 ist dazu angemerkt worden, „dass wir mit Zweidrittelmehrheit eine Vielzahl von zeitlich überholten, abgelaufenen Bestimmungen aus der Verfassung herausnehmen wollten, ohne das Volk hiermit zu belästigen – aus Gründen der Praktikabilität und nicht, um dem Volk Rechte zu entziehen“.111 Zu bezweifeln ist allerdings, ob eine Verfassungsänderung überhaupt eine „Volksbelästigung“ sein kann. Wäre diese Begründung durchgreifend, dann dürfte dem Volk in Hessen keine vollumfänglich überarbeitete Verfassung zur Abstimmung „zugemutet“ werden. Vielmehr wäre es nach dieser Ansicht nur konsequent, letztmalig das Volk allein über einen zweiten Weg der Verfassungsänderung (durch den Landtag mit Zweidrittelmehrheit) abstimmen zu lassen, um zukünftig ausschließlich im parlamentarischen Verfahren (ohne Mitwirkung des Volkes) Verfassungsänderungen durchzusetzen. Gerade das Erfordernis der Volksabstimmung schützt indes „schon wegen des aufwendigen Verfahrens vor übereilten Verfassungsänderungen“.112 Zum anderen sollte nach der Vorstellung der ersten Enquetekommission als dritte Möglichkeit auch die Verfassungsänderung im Wege des Volksbegehrens und erforderlichenfalls gegen den Landtag durch Volksentscheid geschaffen werden.113 Die Enquetekommission ist 2005 deshalb zutreffend nicht von der verfassungsrechtlichen „Unantastbarkeit“ des Art.  123 HV ausgegangen.114 Eine Änderung der Landesverfassung durch das Volk wäre – wie Bayern zeigt – nicht lediglich ein demokratietheoretisches Konstrukt.115 Rechtstatsächlich erscheint es fraglich, ob Art.  123 Abs.  2 HV der Grund dafür ist, dass es in Hessen bisher nur eine „geringe Verfassungsreformfreudigkeit“ gegeben hat.116 Zutreffend ist allerdings, dass in Hessen (ebenso wie 109   Eine solche Verfassungsänderung ist ein Akt der verfassten Gewalt und nicht ein Akt der verfassungsgebenden Gewalt (wie 1946); vgl. dazu Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 452. Dies führt dazu, dass Art.  150 HV mit einer „Ewigkeitsgarantie“ ausgestattet ist, weil nach dessen Abs.  3 auch dieser Artikel selbst „nicht Gegenstand einer Verfassungsänderung sein“ kann. Dies gilt auch für Art.  26 HV, der die verfassungsrechtliche Unabänderlichkeit der Grundrechte garantiert. 110   LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  39: Art.  123 Abs.  2 Satz  1 Nr.  2 HV-E 2005. 111   So der Abgeordnete Wintermeyer für die CDU-Fraktion: LT-PPr 16/67, S.  4593. 112  Vgl. Zinn/Stein, HV-Kommentar, Ordner II, Stand: 13. Lieferung 1984, Art.  123 HV Erl. 3a), S.  6. 113   LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  39: Art.  123 Abs.  2 Satz  1 Nr.  3, Satz  2 i.V.m. Art 124 Abs.  4 HV-E 2005. 114   Soweit sich Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 4b), S.  8 mit Hinweis auf Art.  150 Abs.  3 HV, der bestimmt, dass dieser Artikel selbst „nicht Gegenstand einer Verfassungsänderung sein“ kann, dafür aussprechen, kann diese Auffassung jedoch nicht überzeugen, weil es dafür keine durchgreifenden sachlichen Gründe gibt und im Hinblick auf Art.  150 Abs.  1 HV von einer bewussten Entscheidung für Abs.  3 und einer artikelbezogenen Beschränkung des Verfassungsgebers auszugehen ist. 115   Vgl. zur Abschaffung des Bayerischen Senats: Fn.  91. 116   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 448. Ihre Annahme in ihrem Beitrag von 1997, es sei verfahrensrecht-

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in Berlin und im Saarland) nur die Regierung und die Volksvertretung, nicht aber das Volk befugt ist, ein Verfahren zur Änderung der Verfassung einzuleiten. In Hessen fehlt der politische Druck, den ein solches „volksveranlassten“ Änderungsverfahren erzeugt. Zudem ist wegen der vorgeschriebenen Volksabstimmung der Erfolg eines regierungspolitischen Vorhabens, das die Änderung der Landesverfassung zum Ziel hat, nur schwer zu prognostizieren.117 Regelmäßig ist auch nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein äußerer Anlass notwendig, um ein HV-Änderungsverfahren parlamentarisch auf den Weg zu bringen.118 Es besteht nicht die verfassungspolitische Notwendigkeit, de lege ferenda auch dem Landtag allein die Möglichkeit der Verfassungsänderung einzuräumen. Eine dahingehende Änderung von Art.  123 HV könnte sich bei der obligatorischen Volksabstimmung als „Bume­ rang“ erweisen und das Änderungsvorhaben insgesamt gefährden. Dagegen erscheint es nur konsequent, die Statthaftigkeit des Volksbegehrens mit dem Volksentscheid, das es bereits seit 1946 in der Hessischen Verfassung für die einfache Landesgesetzgebung (Art.  116 Abs.  1 Buchst. a) HV) gibt, auch auf die verfassungsändernde Gesetzgebung auszuweiten.119 Eine solche verfassungsrechtliche Handlungsbefugnis des Volkes würde Art.  70 HV angemessen Rechnung getragen, wonach die Staatsgewalt „unveräußerlich beim Volke“ liegt. Ein solcher alternativer Weg zur Verfassungsänderung wäre zudem ein beachtliches Element der direkten Demokratie und er könnte bereits durch sein Vorhandensein zukünftig verfassungspolitisch auf die Regierung und den Landtag einwirken.120 Im Rahmen der Durchsicht der Hessischen Verfassung zur Sammlung des Änderungsbedarfs hat es in der 8. EKV-Sitzung am 19.12.2016 beim Aufruf von Art.  123 HV eine angeregte Diskussion gegeben.121 Dabei ist die Einigkeit der Enquetekommission über die Beibehaltung der Volksabstimmung für ein Verfassungsgesetz betont und lediglich thematisiert worden, ob für den Landtagsbeschluss, der die absolute Mehrheit erfordert (Art.  123 Abs.  2 HV), zukünftig eine Zweidrittelmehrheit notwendig sein soll. lich zu aufwendig, Art.  141 HV zu ändern, hat sich ausweislich des verfassungsändernden Gesetzes vom 29.4.2011 (vgl. Fn.  46) auf längere Sicht nicht bewahrheitet, auch wenn die GG-Änderung 2009 im Rahmen der Föderalismusreform II dafür ursächlich gewesen ist: dazu Fn.  53/54. 117   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 449, weisen zutreffend darauf hin, dass „der Gegenstand der Volksabstimmung von gewisser anschaulich politischer Bedeutung sein muß, damit ihr Einsatz sich rechtfertigen läßt“. Im Übrigen haben die Diskussionen in der Enquetekommission gezeigt, dass die Landespolitiker die politische Niederlage 1995 bei der Volksabstimmung zur Absenkung des Wählbarkeitsalters (vgl. Fn.  42) auch nach mehr als 20 Jahren nicht vergessen haben. 118   Dieser äußere Anlass ist aktuell der Koalitionsvertrag für die Wahlzeit 2014–2019 gewesen, der zur Einsetzung einer zweiten Enquetekommission im Dezember 2015 geführt hat mit dem Ziel, die Landesverfassung zu überarbeiten. 119  Damit würde die Hessische Verfassung der Bayerischen Verfassung folgen; Art.  72 Abs.  1 BV bestimmt, dass die Gesetze auch „vom Volk (Volksentscheid) beschlossen“ werden. Nach Art.  75 Abs.  1 Satz  1 BV kann die Verfassung „nur im Wege der Gesetzgebung geändert werden“, während sich aus dessen Abs.  2 ergibt, dass nur eine vom Landtag beschlossene Verfassungsänderung „dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden“ muss. 120   Dreßler (Fn.  58), HSGZ 2004, 3, hat insoweit darauf hingewiesen, dass ein diesbezüglicher Initiativantrag der CDU-Fraktion vom 4.3.1952, der auch auf Art.  70 HV verwiesen hatte, im Hessischen Landtag erfolglos geblieben war. 121   EKV 19/8, Stenografischer Bericht vom 19.12.2016, S.  14–24.

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Von der SPD-Fraktion war auch vorgeschlagen worden, Art.  123 HV um einen Abs.  3 zu ergänzen und damit eine Verfassungsänderung im Wege des Art.  124 HV beim Volksentscheid zu ermöglichen, für den es ein Zustimmungsquorum der Abstimmenden und zugleich ein Mindestquorum für die zustimmenden Stimmberechtigten geben sollte.122 In den 15 Gesetzentwürfen vom 27.11.2017 ist diese Alternative zum Verfahren der Änderung der Landesverfassung jedoch nicht wieder aufgegriffen worden. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass auch im parlamentarischen Verfahren 2018 ein weiterer Weg zur Verfassungsänderung nicht mit Erfolg diskutiert werden wird, so dass es bei dem kombinierten Landtags- und Volksabstimmungsverfahren (Art.  123 Abs.  2 HV) bleibt.

2.  Zu den formellen Schranken einer Verfassungsrevision In der 3. EKV-Sitzung am 24.6.2016 hat der Vorsitzende auf Nachfrage erläutert, das vom Landtag beschlossene verfassungsändernde Gesetz „muss dann anschließend noch durch das Volk in einer Volksabstimmung akzeptiert werden. Auch das geht nicht so einfach, dass man die gesamten Änderungen in einer Volksabstimmung zur Disposition stellt, sondern – das meinen wenigstens die Leute, die wir dazu befragt haben –, die jeweiligen Änderungen müssen in Einzelabstimmungen dem Volk zur Abstimmung vorgestellt werden.“123

Ein EKV-Mitglied hat in dieser Sitzung zu einer umfassend geänderten „Verfassung 2.0“, die eine größere HV-Revision einschließt, angemerkt: „Nur sagen mir die Juristen, man hätte geprüft, es ginge nicht. Deswegen bin ich im Dilemma. Es ginge deshalb nicht, weil das, was wir gerade betreiben, dafür das falsche Verfahren ist. Für eine Neuaufsetzung der Hessischen Verfassung müsste der Landtag beschließen, dass er wahrscheinlich per Gesetz eine verfassungsgebende Versammlung einberufen lassen will. Das Volk müsste diese wählen, und die machen dann die neue Verfassung, die dann am Ende zur Abstimmung kommt. Das Verfahren haben wir ganz ohne Zweifel nicht.“124

Nach einem Obleute-Gespräch am 30.8.2016 ist der EKV-Vorsitzende ausweislich seines Schreibens vom 6.9.2016 davon ausgegangen, „dass Änderungen an der Hessischen Verfassung grundsätzlich auch in einem größeren Maße möglich wären, solange die tragenden Grundstrukturen der Verfassung nicht so verändert werden, dass qualitativ eine neue Verfassung entstünde“.125 Im Vorfeld hatten auf die Bitte der Obleute hin die von den fünf Fraktionen benannten Sachverständigen im August 2016 eine gemeinsame „Stellungnahme zur Reichweite von Art.  123 HV unter Berücksichtigung von Koppelungsverboten“ vorgelegt. Dort heißt es: 122   Nr.  190 der Änderungsvorschläge der Mitglieder der Enquetekommission und der Teilnehmer des Beratungsgremiums Zivilgesellschaft (S.  35; Stand: 6.4.2017); abruf bar über die Homepage des Hessischen Landtags: Aktuelles, Verfassungskonvent, Aktueller Beratungsstand, Gesamtübersicht. 123   EKV 19/3, Stenografischer Bericht vom 24.6.2016, S.  11. 124   EKV 19/3, Stenografischer Bericht vom 24.6.2016, S.  13/14. 125   Schreiben des EKV-Vorsitzenden Banzer vom 6.9.2016 (Fn.  11).

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„Unabhängig von deren Bezeichnung (Totalrevision, Gesamtrevision etc. pp.) scheint uns die Grenze für eine Änderung der Verfassung von 1946 erst erreicht zu sein, wenn deren tragende Grundstrukturen so verändert werden, dass qualitativ eine neue Verfassung entsteht“. … „Die Bezugnahme auf ‚Bestimmungen der Verfassung‘ sollte hingegen nicht die Reichweite des Art.  123 HV auf die Änderung lediglich einzelner Verfassungsbestimmungen reduzieren.“126

Mit dem Festhalten der Enquetekommission im September 2016 am Sammeln des artikelbezogenen, möglichen Änderungsbedarfs und damit an einer möglichen „Gesamtrevision“ der Landesverfassung (247 Änderungsvorschläge zum 6.4.2017) sind zugleich Fragen zum zulässigen Umfang der Änderungen sowie zum anschließenden Verfahren der Volksabstimmung verschoben worden. Verfassungsrechtlich ist zu untersuchen, ob eine Gesamtrevision der Hessischen Verfassung die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung erfordert127 und wie weit eine Verfassungsrevision im Wege der Verfassungsänderung gehen kann. Insgesamt sind die Voraussetzungen zur Verfassungsänderung in Hessen im Vergleich der 16 Länder am zweithöchsten mit der absoluten Mehrheit des Landtags und der anschließenden Volksabstimmung (Art.  123 Abs.  2 HV). Nur in Bayern gibt Art.  75 Abs.  2 BV vor, dass – vor der notwendigen Entscheidung durch das Volk – der Landtag eine Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit zu beschließen hat.128 Art.  123 HV regelt nur die Form und das Verfahren einer Verfassungsänderung, ohne jedoch dem verfassungsändernden Gesetzgeber (Landtag und Volk) die in der Hessischen Verfassung verankerten materiellen Schranken aufzuzeigen.129 Nach Art.  123 Abs.  1 HV können durch Gesetz „Bestimmungen der Verfassung“ geändert werden. Mithin ist eine „Gesamtrevision“, die im Wege der Verfassungsänderung „alle Regelungen und Prinzipien der Verfassung zur Disposition“ stellt, um „praktisch eine nahezu neue Verfassung zu schaffen“,130 verfassungsrechtlich unzulässig.131 Zu Art.  79 Abs.  1 Satz  1 GG wird aus dem Begriff „geändert“ keine formelle Schranke für den Änderungsumfang abgeleitet, wobei das Änderungsverbot des 126   Abschnitt I der Stellungnahme, abruf bar über die Homepage des Hessischen Landtags: Aktuelles, Verfassungskonvent, Protokolle: Anlagen zur 5. Sitzung vom 12.9.2016. In Abschnitt II ist ausgeführt, dass sich der Landtag mit dem Einsetzungsbeschluss bezüglich der Enquetekommission vom 15.12.2015 „auch keine Selbstbeschränkung hinsichtlich des Ausmaßes der Änderungen auferlegt“ hat. 127  Die verfassungsgebende Gewalt („pouvoir constituant“) ist zu unterscheiden von der verfassungsändernden Gewalt („pouvoir constitué“), wobei für die Verfassungsgebung in einem Land zusätzlich auch die bundesstaatliche Ordnung und die GG-Vorgaben bindend sind: vgl. dazu Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 1a), S.  1/2. 128  Näher Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 1b), S.  3. Die Formvorgabe der Verfassungstextänderung oder des Zusatzartikels (Art.  123 Abs.  1 HV) dient dazu, die WRV-Staatspraxis der „Verfassungsdurchbrechungen“ zu verhindern; ebenso: Art.  79 Abs.  1 Satz  1 GG. 129   Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 4a), S.  8 ; siehe auch Fn.  109. 130   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 453. 131   In diesem Sinne Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 2b), S.  4, mit Rücksicht auf den Begriff „Bestimmungen“. Allerdings enthält dieser Begriff „keine klare quantitative und erst recht keine qualitative Grenze für die Reichweite von Verfassungsänderungen“; er ist deshalb zur Errichtung einer formellen Schranke für die Verfassungsänderung nicht geeignet: so Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 453. Der Autor Lange war von 1984 bis 2009 StGH-Mitglied und von 1996 bis 2003 sowie von 2008 bis 2009 auch dessen Präsident.

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Abs.  3 restriktiv auszulegen ist und die Regeln der Verfassungsänderung nicht insgesamt der Änderung entzogen sind.132 Auch für den Begriff „geändert“ in Art.  123 Abs.  1 HV gilt nichts anderes. Durch die Begriffe „Bestimmungen der Verfassung“ und „geändert“ in Art.  123 Abs.  1 HV wird daher der Umfang einer Verfassungsänderung nicht formell beschränkt. Diesen Begriffen kann daher nicht entnommen werden, dass die Änderung von 5 oder 15 Artikeln noch zulässig ist, aber die Änderung von 55 oder 105 Artikeln (ohne Rücksicht auf ihren Inhalt) bereits nicht mehr eine Verfassungsänderung darstellt.133 Andernfalls würde ohne einen greif baren verfassungsrechtlichen Grund Quantität in Qualität umschlagen; dafür bietet Art.  123 HV jedoch keinen beachtlichen Anhaltspunkt. Damit kann festgehalten werden, dass die Sammlung der möglicherweise zu ändernden HV-Bestimmungen, der sich die Enquetekommission in ihren Sitzungen vom 24.6.2016 (3. Sitzung) bis zum 13.1.2017 (9. Sitzung) unterzogen hat,134 keine „Gesamtrevision“ bedeuten kann. Nach den Sitzungsverläufen sind inhaltliche Verfassungsprinzipien nicht infrage gestellt worden; vielmehr ist auftragsgemäß seitens der EKV lediglich beabsichtigt, „die Hessische Verfassung in ihrer Gesamtheit zu überarbeiten und Vorschläge für ihre zukunftsfähige Gestaltung zu unterbreiten“.135 Es fehlt somit jeder Ansatzpunkt dafür, dass die in Betracht gezogenen HV-Änderungen den Charakter eines „revolutionären Aktes“136 gegenüber den in der Landesverfassung verankerten Prinzipien haben und damit als „Gesamtrevision (Totalrevision)“ qualifiziert werden könnten. Die Befürchtung, nach den Artikel-Diskussionen in den EKV-Sitzungen könne bei der Verfassungsrevision mit der Verfassungsänderung der „falsche Weg“ eingeschlagen worden sein, ist offenkundig unbegründet. Selbst wenn im Verfassungsänderungsverfahren nach Art.  123 HV eine grundsätzliche Umgestaltung der Hessischen Verfassung ausgeschlossen sein sollte, „bleibt doch genügend Spielraum, etwa notwendige Anpassungen im Rahmen der Grundsatzentscheidungen der HV vorzunehmen“.137 Zutreffend ist daher nach wie vor die Einschätzung, unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Prinzipien und Grundentscheidungen der Hessischen Verfassung sei ihre „Teilrevision“ zur grundlegenden Modernisierung im Kontext des 21. Jahrhunderts statthaft.138  Vgl. Sachs in: Sachs, GG-Kommentar, 7.  Aufl. 2014, Art.  79 GG Rn.  12, 26, 81. Für den sogenannten Verfassungswandel durch rechtsfortbildende BVerfG-Rechtsprechung gilt dagegen weder Art.  79 Abs.  1 Satz  1 noch Abs.  3 GG („Ewigkeitsgarantie“). Verfassungswandel ist dabei der Prozess, der den durch Interpretation gewonnenen Sinn einer Verfassungsbestimmung ändert, ohne dass sich auch der Text geändert hat. 133   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 453, weisen zutreffend darauf hin, dass, wenn der Verfassungsgeber „eine formelle Schranke für den Umfang von Verfassungsänderungen“ hätte aufrichten wollen, „hätte er dies im Verfassungstext deutlicher zum Ausdruck bringen müssen“. 134   Die EKV-Mitglieder und die Teilnehmer/innen des Beratungsgremiums Zivilgesellschaft haben 247 Änderungsvorschläge vorgelegt (Stand: 6.4.2017; Fn.  122) und von externer Seite sind weitere 228 Änderungsvorschläge an die Enquetekommission herangetragen worden (Stand: 12.9.2017), so dass es insgesamt 475 Vorschläge gegeben hat. 135   LT-Drs. 19/2566. 136  Vgl. Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 2b), S.  4. 137   Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 2b), S.  4. 138   So Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 454. 132

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Keine der fünf im 19. Landtag vertretenen Fraktionen hat im Vorfeld oder in den EKV-Sitzungen ein grundsätzliches Unbehagen mit der in die bundesstaatliche Ordnung eingebetteten Hessischen Verfassung zum Ausdruck gebracht, so dass eine „Gesamtrevision“ landespolitisch offensichtlich nicht in Rede steht. Die in Betracht gezogenen Änderungen erfüllen daher allesamt die formellen Voraussetzungen der Verfassung für ihre Änderung gemäß Art.  123 Abs.  1 HV. Sowohl für die Einsetzung der ersten Enquetekommission durch den 16. Landtag, als auch für die Einsetzung der zweiten Enquetekommission durch den derzeitigen 19. Landtag galt die Absicht, die seit ihrer Entstehung 1946 noch ausstehende „Entrümpelung“139 der Verfassung endlich anzupacken, um den vorhandenen Reformstau aufzulösen und die Hessische Verfassung angemessen fortzuentwickeln. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass keine der bisherigen acht Änderungen (1950–2011)140 zu einer Teilrevision der Hessischen Verfassung geführt haben, da insoweit nur landespolitisch als opportun angesehene oder wegen bundesstaatlicher Vorgaben notwendige, zukunftsgerichtete Änderungen den Weg in die Hessische Verfassung gefunden haben. Auch nach den 15 von der Enquetekommission abschließend empfohlenen Gesetzentwürfen (27.11.2017) ist festzustellen, dass es sich nicht um eine Teilrevision der Hessischen Verfassung handelt, sondern um „wenige Einzeländerungen“, denen kein Konzept „für eine übergreifende Verfassungsreform“ zugrunde liegt.141 Im Vergleich zu den bisherigen 8 Änderungen ist aktuell die umfassendste Verfassungsreform geplant. Dem umfassenden Modernisierungsbedarf 142 des „charmanten Verfassungsfossils“ werden die vorgesehenen Verfassungsgesetze jedoch nicht gerecht.

3.  Zu den inhaltlichen Schranken einer Verfassungsrevision Während Art.  123 HV Form und Verfahren einer Verfassungsänderung regelt, sind in Art.  26 und Art.  150 der Hessischen Verfassung materiellen Schranken verankert, die den inhaltlichen Änderungsumfang begrenzen. Daneben hat der verfassungsändernde Landesgesetzgeber die Homogenitätsgebote des Art.  28 Abs.  1 GG sowie den Vorrang weiteren Bundesrechts als heteronome Schranke zu beachten.143 Nach Art.  26 HV sind die Landesgrundrechte „unabänderlich“. Sie binden nicht nur den einfachen Gesetzgeber, sondern aufgrund ihrer Unabänderlichkeit auch den verfassungsändernden Gesetzgeber. Sie nehmen damit an der „Ewigkeitsgarantie“ des Art.  150 HV teil.144 Im Sinne des Art.  150 Abs.  1 HV sind „änderungsunzugänglich“ die Grundrechte wegen Art.  26 HV, wobei im Bundesstaat der Bund nach Art.  28 Abs.  3 GG gewährleistet, dass „die verfassungsmäßige Ordnung der Länder

  Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 454.   Näher dazu oben Abschnitt II Nr.  2 . 141   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 454. 142   Will (Fn.  21), S.  556. 143   Näher dazu Zinn/Stein (Fn.  112), Art.  123 HV Erl. 4a), S.  8. 144   Vgl. oben Fn.  109. 139 140

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den Grundrechten“ entspricht und es nach Art.  79 Abs.  3 GG unzulässig ist, die im Artikel 1 „niedergelegten Grundsätze“ zu berühren.145 Hinsichtlich der Unantastbarkeit der „demokratischen Grundgedanken der Verfassung“ und der „republikanisch-parlamentarischen Staatsform“ (Art.  150 Abs.  1 HV) ist es verfassungsrechtlich geboten, sich am Text von Art.  28 Abs.  1 Satz  1 und 2 GG zu orientieren: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.“

Gemäß Art.  79 Abs.  3 GG ist es verfassungsrechtlich auch unzulässig, die im Artikel 20 „niedergelegten Grundsätze“ zu berühren.146 Schon bei den insgesamt 475 eingereichten Vorschlägen bestand nicht die Gefahr, dass die inhaltlichen Schranken, die einer Änderung der Hessischen Verfassung gesetzt sind, ausgelotet werden müssen. Dies gilt erst recht für die lediglich 15 Änderungsvorschläge in Gesetzesform, auf die sich die Enquetekommission am 27.11.2017 einvernehmlich verständigt hat.147

4.  Zum Verfahren bei der Volksabstimmung Parlamentarisch relevant und damit klärungsbedürftig ist auch, ob das Verfahren nach Art.  123 Abs.  2 HV zur Abstimmung über jede Änderung eines einzelnen Artikels der Landesverfassung zwingt. Der Umstand, dass bei den 8 Änderungen das hessische Volk über die Änderung eines jeden HV-Artikels weitgehend getrennt abgestimmt hat, ist durch den Wortlaut des Art.  123 Abs.  1 HV nicht vorgegeben.148 Der Begriff der „Bestimmungen“ bedeutet allenfalls, dass eine Gesamtrevision im Wege der Verfassungsänderung nicht statthaft ist.149 Es kann aber nicht in Art.  123 Abs.  1 HV „hineingelesen“ werden, dass das Volk einzeln und separat über jede Änderung eines HV-Artikels abzustimmen hat.  Dazu Pieroth in: Jarass/Pieroth (Fn.  95), Art.  79 GG Rn.  15.   Eingehend dazu Sachs in: Sachs (Fn.  132), Art.  79 GG Rn.  59–78. 147   Der Vertreter der Fraktion DIE LINKE hat in dieser 19. EKV-Sitzung lediglich gegen den aus Sicht seiner Fraktion unzureichenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Volksgesetzgebung gestimmt. 148   Gesetzestechnisch sind die Änderungen von Art.  75 und 137 HV durch ein Gesetz vom 22.7.1950 (GVBl. S.  131) erfolgt und ebenso die Änderungen von Art.  73 und 75 HV durch Gesetz vom 23.3.1970 (GVBl. I S.  281). Dagegen ist durch ein Gesetz vom 20.3.1991 (GVBl. I S.  101) Art.  138 und für dessen Inkrafttreten Art.  161 HV geändert und durch ein weiteres Gesetz vom selben Tag (GVBl. I 1991, S.  102) Abschnitt IIa und Art.  26a HV eingefügt worden. Durch drei Gesetze vom 18.10.2002 sind erstens die Überschrift zu Abschnitt V geändert und Art.  62a HV eingefügt worden (GVBl. I S.  626), zweitens Art.  79 Abs.  1 HV und für dessen Inkrafttreten Art.  161 HV geändert worden (GVBl. I S.  627) und drittens Art.  137 HV um Abs.  6 ergänzt worden (GVBl. I S.  628). Schließlich ist durch Gesetz vom 29.4.2011 (GVBl. I S.  182) Art.  141 HV und für dessen Inkrafttreten wiederum Art.  161 HV geändert worden. Danach ist eine einheitliche, sich über mehr als 6 Jahrzehnte erstreckende gesetzestechnische Praxis bei den Verfassungsänderungen nicht feststellbar. 149   Näher dazu Nr.  2 dieses Abschnitts. 145

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a)  Zur Erörterung im Hauptausschuss am 17.4.2002 Insoweit ist an die Diskussion im Hauptausschuss vor 16 Jahren zu erinnern: Die damalige Regierungskoalition hatte unter dem 22.1.2002 einen Gesetzentwurf zur Änderung und Ergänzung der Verfassung des Landes Hessen150 eingebracht, der in Art.  1 die Gegenstände zusammenfasste, über die dann am 22.9.2002 durch das Volk abgestimmt worden war. Die SPD als größte Oppositionsfraktion hatte demgegenüber drei eigene verfassungsändernde Entwürfe vorgelegt. In der Sitzung des Hauptausschusses (HAA) am 17.4.2002 war zu den Gegenständen der Gesetzesentwürfe eine öffentliche Anhörung durchgeführt worden, wobei es auch um die Verfassungskonformität der vorgesehenen Verknüpfung im Gesetzentwurf der Regierungskoalition ging.151 Staatsrechtslehrer Frotscher hatte unter Verweis auf seine schriftliche Stellungnahme ausgeführt, dass in der Hessischen Verfassung das Repräsentationsprinzip und das Unmittelbarkeitsprinzip gleichberechtigt nebeneinander stünden und bei einer Verfassungsänderung beide Komponenten zusammengeführt würden.152 Da es an einem Sachzusammenhang der drei Themen fehle, wäre nach seiner Einschätzung ein Gesetz, das nur eine einheitliche Abstimmung ermöglicht, wegen des grundsätzlichen Koppelungsverbotes „verfassungswidrig“; auch nach der BayVerfGH-Rechtsprechung wäre „insofern eine Willkürgrenze überschritten“.153 Dieser Beurteilung hatten sich die Staatsrechtslehrer Meyer154 und Denninger155 angeschlossen. Demgegenüber war von Abgeordnetenseite aus der BayVerfGH-Entscheidung vom 24.2.2000 zitiert worden, wonach „das Koppelungsverbot nicht auf verfassungsändernde Gesetze des Landtags“ anzuwenden sei.156 Meyer hatte demgegenüber auf das Landesgesetz über Volksbegehren und Volksentscheid verwiesen und betont, dass „der Gesetzgeber selbstverständlich davon ausgegangen ist, dass das Volk über die Einzelpunkte entscheiden soll“.157 Frotscher hatte hervorgehoben, dass in Bayern wegen der erforderlichen parlamentarischen Zweidrittelmehrheit ein breiter politischer Konsens erforderlich sei, so dass die dortige Rechtsprechung nicht übertragen werden könne, da es in Hessen nur „auf die einfache Mehrheit im Parlament“ ankomme.158   LT-Drs. 15/3553 S.  3.   Stenografischer Bericht vom 17.4.2002, HAA/15/41 S.  34–49. 152   Frotscher, HAA/15/41 S.  37. 153   Frotscher, HAA/15/41 S.  38; ferner Frotscher in: Franz Zehetner, Festschrift für Hans-Ernst Folz, 2003, S.  89, 100. 154   Meyer, HAA/15/41 S.  4 0: „Ich bin weit davon entfernt, dem Staatgerichtshof göttliche Qualität zuzubilligen, wie das einige hier getan haben, die meinen, man sei in Gottes Hand, wenn man vor dem Staatsgerichtshof stehe. Aber ich denke doch, dass er sozusagen die allgemeine Tendenz in der verfassungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung auch zur Kenntnis nimmt. Deshalb würde ich dringend davon abraten, die Koppelung vorzunehmen.“ 155   Denninger, HAA/15/41 S.  41. 156  Abg. Jung (Rheingau): HAA/15/41 S.  43; BayVerfGH, Entscheidung vom 24.2.2000 –Vf. 112IX-99, BayVerfGHE 53, 23. 157   Meyer, HAA/15/41 S.  4 4; §  20 Abs.  3 VuVG. 158  So Frotscher, HAA/15/41 S.  45; richtig ist: Gefordert ist die absolute Mehrheit des Landtags, da nur „mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder“ (Art.  123 Abs.  2 HV) die Verfassungsänderung beschlossen werden kann. 150 151

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Wegen der einhelligen Expertenmeinungen in der HAA-Sitzung am 17.4.2002 zum Scheitern des vorgelegten Gesetzesentwurfes vom 22.1.2002 am „verfassungsrechtlichen Koppelungsverbot“, hatte ein Abgeordneter der Opposition gemutmaßt, dass die Regierungskoalition verfahrensrechtlich „einen geordneten Rückzug“ antreten werde.159 Der Abgeordnete Jung (Rheingau) hatte darüber hinaus die Frage gestellt, ob im Falle einer Revision der Landesverfassung „jeweils getrennte Abstimmungen durchgeführt werden“ müssen oder ob auch bei sehr unterschiedlichen Sachkomplexen „das Verfahren einer Gesamtabstimmung“ gewählt werden könne.160 Denninger, an den diese Frage gerichtet war, hatte dazu auf die Schweizer Verfassung verwiesen, die „total entrümpelt und modernisiert“ werde. Seiner Einschätzung nach müsste dies auch in Hessen geschehen und in diesem Fall müsse „man die Verfassung als Ganzes im Auge haben“ und die Bevölkerung könne „auch insgesamt Ja oder Nein sagen“, wenn ihr zugleich diese Verfassungsrevision „plausibel gemacht“ werde.161 Diese vor 16 Jahren gegebene Antwort eines renommierten Staatsrechtslehrers hat nach meiner Einschätzung nichts von ihrer Verfassungsmäßigkeit und im Hinblick auf das verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren im Hessischen Landtag auch nichts von ihrer Aktualität verloren.

b)  Zur Diskussion in der EKR-Sitzung am 16.2.2005 Weiter ist diesbezüglich an die Beratung in einer EKR-Sitzung vor 13 Jahren zu erinnern: Die vier Sachverständigen der ersten Enquetekommission waren in der Sitzung am 10.12.2004, in der 15 Änderungsvorschläge beschlossen worden waren,162 gebeten worden, einen gemeinsamen Vorschlag zum Abstimmungsmodus für die Sitzung am 16.2.2005 zu unterbreiten. Nach dem Scheitern eines solchen gemeinsamen Vorgehens hatten drei Sachverständige (SV) jeweils eigene Vorschläge unterbreitet.163 Der SV Kahl hatte im Januar 2005 zu den EKR-Änderungsvorschlägen vorgeschlagen, für „kompromisshafte Paketlösungen“ und Folgeänderungen eine Blockbildung vorzunehmen und war so zu elf Regelungsblöcken gelangt.164 Die SV Cancik hatte der „Zwei-Wege-Theorie“ des SV Stolleis ausdrücklich zugestimmt, da sie die verfassungsrechtlich vorgesehene Mitwirkungsbefugnis des Volkes ausreichend“ sichere; allerdings bedürfe es für die Abstimmenden klarer Erläuterungen sowie einer Anpassung des „VAbstG und die dieses konkretisierende StimmO“.165 159  Abg. Becker (Gießen), HAA/15/41 S.  46/47. Dieser verfahrensrechtliche Rückzug war erfolgt, so dass der Stimmzettel gemäß der Bekanntmachung der Landesregierung über die Volksabstimmung am 22. September 2002 vom 21.6.2002 (StAnz. S.  2303, 2304) eine koppelungsfreie Abstimmung vorgesehen hat. 160   Jung (Rheingau): HAA/15/41 S.  47. 161   Denninger, HAA/15/41 S.  47. 162   LT-Drs. 16/3700 S.  36–39. 163   LT-Drs. 16/3700 S.  58–64. 164   LT-Drs. 16/3700 S.  58. 165   LT-Drs. 16/3700 S.  59.

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Sie hatte sich für eine grundsätzlich nach den einzelnen Artikeln getrennte Abstimmung ausgesprochen und 17 Einzeländerungen vorgeschlagen.166 In Auseinandersetzung mit der BayVerfGH-Rechtsprechung sowie der Position Frotschers hatte die SV Cancik zutreffend ausgeführt, dass nach dessen Rechtsgutachten das Koppelungsverbot eine „strikte Interpretation“ erfahre; nach ihrer Auffassung sei jedoch das „Erstzugriffsrecht des Parlaments“ kritisch zu betrachten und auch Paketbildungen als „Ausdruck eines politischen Kompromisses“ würden keine Koppelung erlauben.167 „Eine solche strikte Anwendung des Koppelungsverbotes“ könne nach ihrer Einschätzung jedoch „möglicherweise so kompliziert werden, dass die an sich zu gewährende Mitwirkungsbefugnis wiederum gefährdet erscheint: müssen einzelne Sätze, gar einzelne Worte getrennt zur Abstimmung gestellt werden?“.168 Für das Abstimmungsverfahren sei einfachgesetzlich zu regeln, „dass die einzelnen Abstimmungspunkte – ungeachtet der Aufnahme in einem Gesetz – in der Volksabstimmung getrennt abstimmbar sind“.169 Der SV Stolleis hatte im Januar 2005 zunächst festgestellt, dass die vorgesehenen 15 EKR-Änderungsvorschläge nur „eine zwar eingreifende, aber die Substanz der bisherigen Verfassung erhaltende Änderung“ darstellen würden. Weiter hatte er bei angenommener einfachgesetzlicher Anpassung die Frage bejaht, „ob es möglich ist, auf einem Stimmzettel alternativ eine Abstimmung en bloc und eine Abstimmung über die einzelnen Änderungen vorzusehen“. Die Wählerinnen und Wähler erhielten damit „die Möglichkeit, sich entweder pauschal oder differenziert zu äußern“,170 so dass eine Irreführung bei sorgfältiger Ausgestaltung des Wahlzettels ausgeschlossen sei“. „Das Gesamtergebnis wird für jeden einzelnen Änderungsvorschlag separat ermittelt, und zwar durch Addition der pauschal und der separat erzielten Stimmen. Technisch ist die Auszählung etwas komplizierter, aber ohne weiteres zu bewältigen“. Der Sachverständige war abschließend zu dem Ergebnis gekommen, dass ein solches Vorgehen verfassungs- und wahlrechtlich unbedenklich sei, da „dem Wählerwillen einerseits und der Komplexität der Materie andererseits Rechnung“ getragen werde.171 Der SV Kahl hatte im Februar 2005 ergänzend angemerkt, dass nach seiner Einschätzung „aus den spärlichen Urteilen und literarischen Stellungnahmen zum Problem nur herausgelesen werden“ könne, „dass eine willkürliche, also eine ohne fachlich einleuchtenden Grund erfolgende Verkoppelung von Materien, die keine materielle Einheit bilden, unzulässig“ sei. In Höhergewichtung der parlamentarischen Autonomie sei seines Erachtens der Landtag berechtigt, die Änderungen, „welche die Kompetenzverteilung zwischen   LT-Drs. 16/3700 S.  60/61; vgl. auch SV Cancik, LT-Drs. 16/3700 S.  59: „Angesichts der nicht eindeutigen Positionen in der Literatur zur Frage des Koppelungsverbotes wäre dieser Weg der sicherste, ob er verfassungsrechtlich zwingend ist, mag dahinstehen.“ Im Bürgerinteresse hatte sie insgesamt eine Aufteilung „in kleinere Portionen“ befürwortet. 167   LT-Drs. 16/3700 S.  60. 168   LT-Drs. 16/3700 S.  60. 169   LT-Drs. 16/3700 S.  61. 170   LT-Drs. 16/3700 S.  62. 171   LT-Drs. 16/3700 S.  63. 166

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Volksvertretung und Volk betreffen, als Einheit zu betrachten und auch nur als Einheit zu befürworten“. Dass damit „verbundene rechtliche Risiko, dass die Abstimmung in einem späteren Verfahren vor dem Hessischen Staatsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt werden könnte“, hatte er dabei für so gering gehalten, „dass es vernachlässigt werden“ könne.172 In der mündlichen Anhörung im Rahmen der EKR-Sitzung am 16.2.2005 stellte die SV Cancik fest, „dass es kaum möglich sei, mit Bestimmtheit zu sagen, was verfassungsrechtlich zwingend geboten sei und was nicht“. Sie schloss sich der Einschätzung des verhinderten SV Kahl an, wonach bei der Blockbildung das Risiko einer späteren Beanstandung durch den Staatsgerichtshof „als gering“ anzusehen sei.173 Sie erläuterte weiter, dass nach der derzeitigen Fassung des Gesetzes über Volksabstimmung „nur über ein Gesetz, nicht aber über einzelne Punkte eines Gesetzes abgestimmt werden“ könne. Da diese einfachgesetzliche Vorgabe verfassungsrechtlich aber nicht geboten sei, könne mittels einer entsprechenden Änderung auch mehrere Artikel einschließlich Abstimmungsblöcke in einem verfassungsändernden Gesetz zusammengefasst werden.174 Wie bereits in ihrer Stellungnahme warnte sie jedoch davor, „die Tatsache des politischen Kompromisses als Argument für eine Koppelung zu benutzen“.175 Der Obmann Wintermeyer der CDU-Fraktion merkte an, dass es den Abstimmenden nicht möglich sein sollte, sich bei den vorgesehenen Änderungen zu Art.  123, 124 HV „einzelne „Rosinen herauszupicken“. Nach Auffassung seiner Fraktion sei jede Abstimmung, „die über die Zahl zwölf hinausgehen“, problematisch.176 Zukünftig werde in Hessen die Möglichkeit der Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit des Landtags schon deshalb benötigt, „um die Regelungen, die sich wegen Zeitablaufs erledigt hätten, herausnehmen zu können, ohne darüber ewig lange Diskussionen zu haben, wie sie momentan geführt würden“.177 Günther als Vertreter der Staatskanzlei verwies auf ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof (StGH) in Wiesbaden im Vorfeld der Volksabstimmung vom 20. Januar 1991, bei dem die Opposition in einem Normenkontrollantrag beanstandet hatte, dass die beiden Verfassungsänderungen nach Art.  26a (Umweltschutz) und Art.  138 HV (Direkwahl der Bürgermeister und Landräte) „ohne ausreichende Erläuterung für die Abstimmenden habe durchgeführt werden sollen“; fraglich sei dabei gewesen, ob es eine „informelle Holschuld“ der Bevölkerung gebe.178 Der StGH habe eine einstweilige Anordnung erlassen und dem Ministerpräsidenten verboten, gegebenenfalls diese Verfassungsänderung nach Art.  120 HV zu verkünden.179

  LT-Drs. 16/3700 S.  64.   LT-Drs. 16/3700 S.  67. 174   LT-Drs. 16/3700 S.  69. 175   LT-Drs. 16/3700 S.  70. 176   LT-Drs. 16/3700 S.  68. 177   LT-Drs. 16/3700 S.  70. 178   LT-Drs. 16/3700 S.  70. 179   StGH, Urteil vom 17.01.1991, P.St. 1119 e.V. 172 173

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c)  Zur Position des Landeswahlleiters am 16.2.2005 Ebenfalls im Vorfeld der EKR-Sitzung am 16.2.2005 hatte der Landeswahlleiter Hannappel ausgeführt, dass angesichts der geplanten Anzahl der Änderungen nur ein Stimmzettel verwendet werden sollte und dazu das Volksabstimmungsgesetz geändert werden müsse. Auf einem Stimmzettel sei es nicht möglich, von jeder Artikel­ änderung „eine Synopse von Alt- und Neufassung abzudrucken“. Bei der letzten Volksabstimmung im September 2002 habe der Gesetzgeber den Abstimmenden in einer Begleitinformation jeweils „auch den Änderungsbefehl des verfassungsändernden Gesetzes“ zur Kenntnis gegeben.180 Alternativ dazu komme nach seiner Einschätzung in Betracht, bereits mit der Wahlbenachrichtigung eine Broschüre mit den erforderlichen Synopsen zu übersenden und „auf dem Stimmzettel nur die zu ändernden Artikel mit einer schlagwortartigen Information anzugeben“, wobei gemäß dem Muster181 auf dem Stimmzettel die Pauschal- und Einzelfallabstimmungen untereinander angeordnet werden sollten. Sowohl die Verschlagwortung des Stimmzettels als auch die Begründungstexte der Broschüre, die nach den bisherigen Erfahrungen neben den Synopsen notwendig sind, können „nicht frei von subjektiven Wertungen erfolgen“, so dass nach seiner Auffassung Broschüre und Stimmzettel „vom Landtag festgelegt werden“ müssen.182 In der EKR-Sitzung am 16.2.2005 hatte sich der Landeswahlleiter dahingehend geäußert, dass mindestens pro Abstimmungsblock ein Gesetz erforderlich sei, da seines Erachtens nach der Wortlaut des Art.  123 Abs.  2 HV eine unüberwindliche Hürde“ bilde.183 Diese Auslegung trägt jedoch nicht. Vielmehr legt der Begriff „zustimmt“ im zweiten Absatz dieses Artikels nahe, dass der Verfassungsgeber zwischen dem Landtag, der „beschließt“, und dem Volk, das mehrheitlich „zustimmt“, dahingehend unterscheidet, dass sich diese Volksabstimmung nur auf den Beschluss des Parlaments zu beziehen hat. Dies hat zur Folge, dass auch allein eine Abstimmung über ein verfassungsänderndes Artikelgesetz zulässig ist.

d)  Zur einfachgesetzlichen VAstG-Anpassung Vom Gesetz über Volksabstimmung (VAbstG) ist das weitere Landesgesetz über Volksbegehren und Volksentscheid (VuVG)184 abzugrenzen, das auf Art.  124 Abs.  4 HV fußt. §  1 VAbstG bezieht sich ausdrücklich auf das Abstimmungsverfahren bei einer Verfassungsänderung nach Art.  123 HV und gibt einen Zeitkorridor von 60 Tagen (180–120 Tagen) für die Volksabstimmung seit der verfassungsändernden Beschlussfassung des Landtags vor. Dagegen ist das Zulassungs- und Eintragungsverfahren zum Volksbegehren einfachgesetzlich (vgl. §  1 Abs.  1 VuVG) geregelt. Das   LT-Drs. 16/3700 S.  65.   LT-Drs. 16/3700 S.  66. 182   LT-Drs. 16/3700 S.  65. 183   LT-Drs. 16/3700 S.  70. 184   Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid vom 16.5.1950 (GVBl. S.  103), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.12.2012 (GVBl. S.  622). 180 181

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Verfahren ist mit der Landtagsbeteiligung (§  15 Abs.  2 VuVG) und dem Volksentscheid (§§  16–19 VuVG) insgesamt vierstufig ausgestaltet und findet nach zutreffender Ansicht auf Verfassungsänderungen keine Anwendung. In der EKR-Sitzung am 16.2.2005 war sachverständigerseits angemerkt worden, dass nach der derzeitigen VAbstG-Fassung „nur über ein Gesetz, nicht aber über einzelne Punkte eines Gesetzes abgestimmt werden“ könne. Wegen fehlender verfassungsrechtlicher Vorgabe könne auch einfachgesetzlich bestimmt werden, mehrere Artikel einschließlich Abstimmungsblöcke in einem verfassungsändernden Gesetz zusammenzufassen.185 Durch Art.  1 des Gesetzes vom 29.11.2005 sind §  3 Abs.  2 und §  7 Satz  2 neu gefasst und ist §  16a VAbstG neu eingefügt worden.186 §  3 Abs.  2 VAbstG regelt seither, dass die Stimmberechtigten durch „den Wortlaut des vom Landtag beschlossenen Gesetzes, eine Gegenüberstellung der betroffenen Bestimmungen vor und nach der Verfassungsänderung, eine Wiedergabe des Ergebnisses der Schlussabstimmung im Landtag, einen Musterstimmzettel und, sofern der Landtag eine Erläuterung des Gesetzes beschlossen hat, auch diese“, zu unterrichten sind. Nach §  7 Satz  2 VAbstG weist der Stimmzettel „Ja“ oder „Nein“ zur Frage auf, ob dem verfassungsändernden Gesetz zugestimmt werden soll.187 Ergänzend regelt gemäß dem EKR-Beratungsergebnis §  16a Abs.  2 Satz  1 VAbstG, dass der Stimmzettel bei der gleichzeitigen Durchführung mehrerer Abstimmungen eine einheitliche Abstimmung „über alle vom Landtag beschlossenen Gesetze“ (dazu Abs.  2 Satz  2 ) oder eine Einzelabstimmung „über jedes Gesetz einzeln“ ermöglicht. Ferner ist mit §  16a Abs.  3 VAbstG die Empfehlung des Landeswahlleiters vom Februar 2005 zur Verringerung von ungültigen Stimmabgaben umgesetzt worden, wonach „für einzelne Änderungen konkret abgegebene Stimmen in jedem Fall den Vorrang vor der allgemeinen Ja- oder Nein-Stimme haben“.188 Nach meiner Einschätzung lässt es §  7 Satz  2 VAbstG ohne Weiteres zu, dass das Parlament in Wiesbaden die Reform der Landesverfassung in einem einzigen Gesetz beschließt und das stimmberechtigte Volk in Hessen nur einheitlich mit Ja“ oder „Nein“ votiert. Auch §  16a Abs.  2 Satz  1 VAbstG steht dem nicht entgegen, da in diesem Fall nicht „mehrere Abstimmungen gleichzeitig durchgeführt“ werden.189

e)  Zur SV-Stellungnahme vom August 2016 Dagegen haben die fünf Sachverständigen der zweiten Enquetekommission in Abschnitt III ihrer Stellungnahme vom August 2016 zum Koppelungsverbot die An SV Cancik, LT-Drs. 16/3700 S.  69.   Gesetz vom 29.11.2005, GVBl. I S.  769. 187   Angesichts der „Portionierung“ der HV-Änderungen in 15 Gesetzentwürfe, die die Enquetekommission in ihrer Sitzung am 27.11.2017 zur Beratung im Landtag beschlossen hat, ist durch §  7 Satz  2 VAstG einfachgesetzlich vorgegeben, dass – bei einer entsprechenden parlamentarischen Beschlussfassung − eine Abstimmung über jedes der 15 Gesetze stattzufinden hat. 188   LT-Drs. 16/3700 S.  65. 189  §  19 Stimmordnung regelt die gleichzeitige Durchführung mehrerer Abstimmungen und ist durch Art.  2 der Verordnung vom 14.12.2006 (GVBl. I 2007 S.  26, 32) neu gefasst und durch Art.  1 der Verordnung vom 27.12.2011 (GVBl. S.  927) geändert worden. 185

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sicht vertreten, „dass bei der Gestaltung des Abstimmungsverfahrens im Rahmen des Volksentscheids grds. ein Koppelungsverbot zu berücksichtigen“ sei und dass sich dieses als schwer zu überwindende Hürde darstelle.190 Ein vom Landtag „im Rahmen einer politischen Kompromissbildung“ geschnürtes verfassungsänderndes Gesetzespaket sei nach ihrer Auffassung für diese Fragestellung sogar unbeachtlich, da für die Koppelung der entscheidende Maßstab „nicht politische Opportunitätserwägungen, sondern der normative Gesamtregelungszusammenhang der Hessischen Verfassung“ sei. In Abgrenzung zur Entscheidung des BayVerfGH vom 17.11.2005,191 der ein Koppelungsverbot bei vom Parlament initiierten Verfassungsänderungen verneint hat, haben sich die die EKV beratenden Sachverständigen grundsätzlich für die Berücksichtigung eines Koppelungsverbots bei der Gestaltung des Abstimmungsverfahrens im Rahmen der Volksabstimmung ausgesprochen. In der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 17.11.2005 ist im Leitsatz als Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung formuliert, dass „beim so genannten nachgeschalteten Volksentscheid nach Art.  75 Abs.  2 Satz  2 BV“ das Koppelungsverbot nicht gilt.192 Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen in ihrer Stellungnahme hat daher diese BayVerfGH-Entscheidung die Geltung des Koppelungsverbotes gerade nicht „offen gelassen“. Das Koppelungsverbot ist „das Verbot des „Zusammenspannens“ sachlich nicht zusammenhängender Materien“.193 Die Nichtanwendung diese Koppelungsverbots für das verfassungsändernde Verfahren nach Art.  75 Abs.  2 BV folgt nach dieser Entscheidung zwingend aus dem Umstand, dass durch den Volksentscheid „der auf den parlamentarischen Erörterungen und dem Konsens der weit überwiegenden Mehrheit der im Parlament vertretenen politischen Kräfte (Zweidrittelmehrheit der Mitgliederzahl; Art.  75 Abs.  2 Satz  1 BV) beruhende Gesetzesvorschlag des Parlaments nicht nachträglich in seinem Inhalt verändert werden“ kann.194 Weiter heißt es in dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidung: „Denn die Nichtanwendung der Rechtsprechung zum Koppelungsverbot auf die Verfassungsänderung im Weg der Parlamentsgesetzgebung soll den politischen Gestaltungswillen des Parlaments generell schützen. Dem Volk wird in Verfahren der parlamentarisch initiierten Verfassungsänderung nach Art.  75 Abs.  2 BV deshalb von der Verfassung nur die Entscheidung darüber eingeräumt, ob es der vom Landtag beabsichtigten Verfassungsänderung, so wie sie ihm durch den Gesetzesbeschluss unterbreitet wird, zustimmen will oder nicht.

190   Anlage zum Bericht der 5. EKV-Sitzung ist neben dem Schreiben des EKV-Vorsitzenden vom 6.9.2016 (dazu oben Fn.  11) die einheitliche „Stellungnahme zur Reichweite von Art.  123 HV unter Berücksichtigung von Koppelungsverboten“ der Sachverständigen, die von den Fraktionen berufen worden sind und mit beratender Stimme der Enquetekommission angehören. 191   BayVerfGH-Entscheidung vom 17.11.2005 –Vf. 10-VII-03, Vf. 4-VII-05-, juris. 192   BayVerfGH (Fn.  191): Der parlamentarische Gesetzgeber ist im Falle dieser Verfassungsänderung „grundsätzlich auch befugt, Änderungen der Verfassung in mehreren Einzelvorschriften, die gesetzes­ technisch gesondert durchgeführt werden könnten, einheitlich vorzunehmen“ (Orientierungssatz 4, juris: vor Rn.  1). 193   BayVerfGH-Entscheidung (Fn.  191), juris: Rn.  84. 194   BayVerfGH-Entscheidung (Fn.  191), juris: Rn.  85.

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Gegenstand des Volksentscheids kann hier nur der parlamentarische Gesetzesbeschluss als Ganzes sein“.195

Dies gilt nicht nur in Bayern, sondern auch in Hessen. Auch in Hessen ist das Verfassungsänderungsverfahren nach Art.  123 HV parlamentarisch initiiert und am Ende steht ein Gesetzesbeschluss mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Landtags. Auch in Hessen ist die Volksabstimmung nachgeschaltet. Auch in Hessen kann diese Volksabstimmung, da es auf die Zustimmung der Mehrheit des abstimmenden Volkes ankommt, „nur bejahend oder verneinend sein“.196 Nicht überzeugen können dagegen die Einwände der fünf Sachverständigen. Für den Weg der Parlamentsgesetzgebung ist unerheblich, ob es für einen verfassungs­ ändernden Gesetzesbeschluss einer Zweidrittelmehrheit bedarf (Bayern) oder die absolute Mehrheit der Landtagsabgeordneten genügt (Hessen). Unerheblich ist auch, dass es in Hessen nicht die Möglichkeit gibt, dass das Volk eine Verfassungsänderung initiiert.197 Der „tragende Gesichtspunkt der Volkssouveränität“198 ist nicht geeignet, eine Änderung des vom Landtag beschlossenen Gesetzesvorschlages durch die Volksabstimmung zu rechtfertigen und dies gesetzestechnisch durch eine artikelbezogene „Portionierung“ vorzubereiten. In der Stellungnahme wird sogar der Versuch unternommen, die Argumentationslinie des BayVerfGH in ihr Gegenteil zu verkehren, ohne jedoch auf HV-Artikel Bezug zu nehmen oder die Rechtsprechung von Landesverfassungsgerichten oder des BVerfG heranzuziehen. Während das Landesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung „den politischen Gestaltungswillen des Parlaments generell“ schützt, stellen die Sachverständigen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme allein auf den „normativen Gesamtregelungszusammenhang der Hessischen Verfassung“ ab, dem dies nach ihrer Ansicht zu entnehmen sei.199 Umgekehrt ist vielmehr in Hessen der verfassungsgemäße Weg der Parlamentsgesetzgebung bei einer Änderung der Landesverfassung zu respektieren mit der Folge, dass nach Art.  123 HV nur der parlamentarische Gesetzesbeschluss als Ganzes Gegenstand der Volksabstimmung sein kann. Der Landtag entscheidet im ersten Zugriff darüber, ob er über artikelbezogene Gesetzentwürfe, blockbildende Gesetzentwürfe oder den Entwurf eines Artikelgesetzes beschließt.

f)  Zur Unterrichtung im Rahmen der Abstimmungsfreiheit In Abschnitt IV ihrer Stellungnahme haben die EKV-Sachverständigen vom August 2016 wegen des „Grundsatzes der Volkssouveränität“ für die Stimmzettel-Gestaltung vorgeschlagen, neben der Annahme aller vorgeschlagenen Änderungen auch die Möglichkeit zu eröffnen, einzelne Änderungen abzulehnen, um die Gefahr einer als verfassungswidrig angesehenen „de facto-Koppelung“ zu reduzieren.200 Dies ist   BayVerfGH-Entscheidung (Fn.  191), juris: Rn.  85.   Vgl. Art.  124 Abs.  3 Satz  1 HV, wobei Satz  2 inhaltlich Art.  123 Abs.  2 a.E. entspricht. 197   Vgl. oben Fn.  119. 198   Abschnitt III der Sachverständigen-Stellungnahme (Fn.  190), S.  2 . 199   Abschnitt III der Sachverständigen-Stellungnahme (Fn.  190), S.  2/3. 200   Abschnitt IV der Sachverständigen-Stellungnahme (Fn.  190), S.  3. 195

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nach meiner Einschätzung weder verfassungsrechtlich geboten, noch praktisch sinnvoll. Das Grundrecht auf Teilhabe an der Staatsgewalt ist in Bayern in Art.  7 Abs.  2 BV verankert und in Hessen in Art.  71 HV. Als Abstimmungsfreiheit bedeutet es, „dass der Bürger aus dem Gesetzentwurf und dessen Begründung die Abstimmungsfrage und deren Bedeutung und Tragweite entnehmen kann (vgl. BayVerfGH vom 13.4.2000 = VerfGH 53, 81/105). Die Entscheidung der Stimmberechtigten über den vom Parlament nach Art.  75 Abs.  2 Satz  1 BV gefassten Gesetzesbeschluss kann nur dann sachgerecht ausfallen, wenn dieser so ausgestaltet ist, dass sie seinen Inhalt verstehen, seine Auswirkungen überblicken und die wesentlichen Vor- und Nachteile abschätzen können“.201 In dieser Entscheidung des BayVerfGH vom 17.11.2005 ist eingehend und anschaulich dargelegt worden, welche Maßnahmen die Bayerische Staatsregierung im Vorfeld der Volksentscheide 1 und 2 ergriffen hatte, um die Bürgerinnen und Bürger sachangemessen zu informieren; die Volksentscheide waren zusammen mit der Landtagswahl am 21.9.2003 durchgeführt worden.202 Das Verfassungsgericht des südlichen Nachbarlandes hat daher festgestellt, dass die verfassungsändernden Gesetze „auch unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit einer ausreichenden Information der Bürger über den Gegenstand der Volksentscheide nicht gegen die Verfassung“ verstoßen.203 Auch wenn das Parlament in Hessen im Rahmen der laufenden Verfassungsreform wider Erwarten ein Artikelgesetz beschließen sollte, hat der Landtag zur Gewährleistung der Abstimmungsfreiheit sowohl über die Begründungstexte der Broschüre als auch die Verschlagwortung des Stimmzettels zu entscheiden,204 damit der mündige und verantwortungsbewusste Bürger sich ausreichend informieren kann.

g)  Beispiel: Volksentscheid in Thüringen Nach der Wiedervereinigung ist die mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Landtags beschlossene Verfassung des Freistaates Thüringen (ThV) vom 25.10.1993205 gemäß Art.  106 Abs.  1 ThV ausgefertigt und verkündet worden und damit nach Abs.  2 vorläufig in Kraft getreten. Verfassungsrechtlich vorgegeben war, dass sie „durch Volksentscheid bestätigt“ werden musste (Art.  106 Abs.  1 Satz  1 ThV).206

  BayVerfGH-Entscheidung (Fn.  191), juris: Rn.  80.   Im Einzelnen: BayVerfGH-Entscheidung (Fn.  191), juris: Rn.  81–83. 203   BayVerfGH-Entscheidung (Fn.  191), juris: Rn.  79. 204   Vgl. Fn.  182. 205   GVBl. S.  625. 206   Art.  106 Abs.  3 ThV hat deshalb das Verfahren bei Zustimmung und Abs.  4 bei Ablehnung durch das Volk geregelt. Das Thüringer Volk hat der Landesverfassung am 16.10.1994 mit 70,1 % der Abstimmenden zugestimmt, so dass Art.  106 Abs.  3 ThV Anwendung fand, wonach sie damit „endgültig in Kraft getreten“ ist. Vom Präsidenten des Landtags ist sie am 26.10.1994 (GVBl. S.  1194) bekanntgemacht worden. 201

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Jentsch, früherer Bundesverfassungsrichter und damals Thüringer Innenminister, hat anlässlich seines HV-Vortrages am 5.9.2016 zunächst darauf hingewiesen,207 dass die von ihm mitverantwortete Thüringer Verfassung nicht nur ein Organisationsstatut sein sollte, sondern dass angesichts der politischen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte auch Landesgrundrechte zum Schutz des Einzelnen normiert werden sollten. Nach seinen Ausführungen war im Vorfeld des Abstimmungsverfahrens der vom Landtag beschlossene Verfassungstext auch in der Thüringer Bevölkerung verteilt und kommuniziert worden. Das Volk hat dann über den Verfassungstext mit seinen 106 Artikeln durch Volksentscheid einheitlich abgestimmt. Für eine Abstimmung über jeden einzelnen Artikel gab es nach Jentsch keine Veranlassung, zumal der Volksentscheid nur der Bestätigung diente. Auch wenn dies keine Verfassungsänderung, sondern eine Verfassungsgebung gewesen ist, war nach diesem Beispiel die Landesverfassung als politisches Gesamtpaket alleiniger Gegenstand des Volksentscheides.

h)  Fazit zum Volksabstimmungsverfahren Für Hessen ist festzuhalten, dass eine Teilrevision der Verfassung statthaft ist, wobei es keine Rolle spielt, wie viele Artikel insgesamt von den Änderungen betroffen sind. Der Landtag kann daher 2018 mit absoluter Mehrheit auch ein umfangreiches Artikelgesetz zur Änderung der Hessischen Verfassung beschließen. Im Zusammenhang mit Art.  123 Abs.  2 HV gab es bis 2002 eine einfachgesetzlich vorgegebene Praxis zur Verfassungsänderung, wonach das Parlament mit seiner gesetzestechnischen „Portionierung“ eines begrenzten Änderungsbedarfs zugleich auch den Modus für das anschließende Abstimmungsverfahren durch das Volk präjudiziert hat. Die Darstellung der 2002 und 2005 geführten Diskussionen hat gezeigt, dass die Annahme eines Koppelungsverbotes keine greif bare landesverfassungsrechtliche Grundlage hat, sondern vielmehr von dem Staatsrechtslehrer Frotscher mitbestimmt worden ist, der sich mit dem Verfahren der HV-Änderungen 2002 auseinandergesetzt hat.208 Die gefestigte Rechtsprechung des BayVerfGH mit seinem Primat des Schutzes des politischen Gestaltungswillens im Rahmen der Parlamentsgesetzgebung ist in diesem Zusammenhang von der Enquetekommission Verfassungskonvent (EKV) nicht wirklich zur Kenntnis genommen worden. Auch für die verfassungsändernde Gesetzgebung in Hessen (Art.  123 Abs.  2 HV) ist diese landesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung heranzuziehen, da der Hessische Landtag ein verfassungsrechtlich geschütztes Erstzugriffsrecht hat und eine auch verfassungsgerichtlich zu beachtende Einschätzungsprärogative. Da dies nach meiner Einschätzung bereits für jede HV-Änderung gilt, besteht erst recht kein Koppelungsverbot, wenn erstmalig eine größere Reform der Hessischen Verfassung im Raum steht.

  Vgl. Fn.  25.   Frotscher in: Franz Zehetner, Festschrift für Hans-Ernst Folz, 2003, S.  89–101.

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Angesichts der lediglich acht punktuellen HV-Änderungen in mehr als 70 Jahren fehlt es bisher an einschlägigen Entscheidungen des Hessischen Staatsgerichtshofes (StGH). Die 2005 erfolgte Einfügung des §  16a VAbstG und insbesondere seines Abs.  2 Satz  1 normiert die einheitliche Abstimmung „über alle vom Landtag beschlossenen Gesetze“ zur Verfassungsänderung. Diese Bestimmung trägt einfachgesetzlich dem Umstand eines Paketes verfassungsändernder Gesetze Rechnung, die dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Auf diese Weise ist das Koppelungsverbot „durch die Hintertür“ im hessischen Landesrecht angekommen. Dargelegt worden ist, dass §  7 Satz  2 VAstG es auch zulässt, ein verfassungsänderndes Artikelgesetz dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Die verfassungsändernde Mitwirkungsbefugnis aller Stimmberechtigten ist in Art.  123 Abs.  2 HV geschützt. Nur wenn weitergehend demokratietheoretisch – und in weiter Auslegung der Art.  70 und 71 HV – die Gleichwertigkeit dieser Mitwirkungsbefugnis im Verhältnis zur Abstimmung des Landtags behauptet wird, liegt es nahe, die verfassungsändernde Gestaltungsbefugnis des Volkes im Rahmen des Abstimmungsverfahrens gegenüber den parlamentarisch beschlossenen Gesetzen zu optimieren. Einer solchen „demokratischen Gestaltungsdichte“, die sich theoretisch auch auf einen Absatz und sogar einen Satz eines HV-Artikels beziehen kann, korrespondiert dann die Verpflichtung des Parlaments, im Gesetzgebungsverfahren die Voraussetzungen dafür durch eine entsprechende „Portionierung“ zu schaffen. Es fehlt jedoch an einer tragfähigen verfassungsrechtlichen Begründung für diesen Eingriff in das Initiativ- und damit Erstzugriffsrecht des Landtags, wenn es um eine Teilrevision der Landesverfassung geht und damit um ein verfassungsänderndes Gesamtpaket als Artikelgesetz. Mit nur einer einheitlichen Abstimmung bei einer Verfassungsreform wird eine „Rosinenpickerei“ seitens des stimmberechtigten Volkes durch Einzelabstimmungen vermieden und der verfassungspolitischen Autonomie des Landesparlaments in Bezug auf die Verfassung als Ganzes angemessen Rechnung getragen. Vermieden werden zugleich auch schwierige Abgrenzungsfragen, die mit der Anzahl der Änderungen noch problematischer werden können. Ausgeschlossen wird zudem das verfassungsrechtliche Risiko einer willkürlichen Verkoppelung von Materien. Im Vorfeld der Volksabstimmung hat die Landesregierung ihrer Informationsund Auf klärungspflicht zu genügen (§  3 Abs.  2 VAstG), um die Abstimmungsfreiheit des Volkes nach Art.  71 i.V.m. 123 Abs.  2 HV und damit die grundrechtliche Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der verfassungsändernden Gesetzgebung zu gewährleisten. Art.  120 HV, wonach der Ministerpräsident fristgebunden nur Gesetze und nicht Teile davon verkünden kann, zwingt bei einem Paket von Verfassungsänderungen dazu, für jede Einzelabstimmung (auch bei Blockbildung) ein eigenes Gesetz seitens des Parlaments vorzusehen. Nur dann können als Ergebnis der Volksabstimmung jedenfalls die verfassungsändernden Gesetze auch verkündet werden, die die mehrheitliche Zustimmung der Abstimmenden gefunden haben, ohne dass dies alle zur Abstimmung gestellten Gesetze sein müssen.

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Dagegen ist bei einer einheitlichen Abstimmung über die vom Landtag geschlossene HV-Reform die Verkündung durch den Ministerpräsidenten unproblematisch. Wenn das hessische Volk mit der Mehrheit der Abstimmenden dem Gesetzesbeschluss des Landtages zugestimmt hat, ist das verfassungsändernde Gesetz vom Ministerpräsidenten und den zuständigen Ministern auszufertigen und im Gesetz- und Verordnungsblatt zu verkünden (Art.  120 HV).209

5.  Zur Bereinigung und Modernisierung Da es in den vergangenen sieben Jahrzehnten keine Revision der Landesverfassung gegeben hat, also eine Überprüfung aller 161 HV-Artikel, ist an sich eine Bereinigung der Hessischen Verfassung veranlasst. Dafür sind die Präambel und jeder Verfassungsartikel auf Änderung- und Ergänzungsbedarf untersucht worden. Dieser Aufgabenstellung hat sich die Enquetekommission in ihren Sitzungen vom 24.6.2016 (EKV 19/3) bis 13.1.2017 (EKV 19/9) unterzogen. Dahinstehen kann, ob dabei auch wissenschaftlich geprüft worden ist, inwieweit durch das Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24.5.1949, die seitherige BVerfGRecht­sprechung sowie durch die StGH-Entscheidungen in diesen vielen Jahren Änderungen geboten sind.210 HV-Bestimmungen können durch Zeitablauf überholt sein; sie können auch durch GG-Vorschriften derogiert, durch BVerfG-Rechtsprechung modifiziert211 oder durch den StGH für verfassungswidrig erklärt worden sein. Da die Hessische Verfassung trotz des ungeheueren Zeitdrucks, unter dem ihre Entstehung 1946 gestanden hatte,212 eine neue Sozial- und Wirtschaftsordnung im Sinne einer sozial-humanitären Ordnung proklamiert, kann gleichwohl ein verfassungsgeschichtliches Interesse daran bestehen,213 überholte Bestimmungen nicht le-

  Die Eingangsformel des Gesetzes lautet: „Der Landtag hat mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder das folgende verfassungsändernde Gesetz beschlossen, dem das Volk mit der Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt hat:“ (zuletzt: GVBl. I 2011 S.  182). 210   In diesem Sinne auch bereits Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 460–463, die zwischen Bestimmungen unterscheiden, die durch Bundesrecht und solchen, die durch Zeitablauf, Erfüllung oder aus sonstigen Gründen obsolet geworden sind. Dagegen hat Reimer für den Fachbereich Rechtswissenschaft der JLU Gießen in seinem Schreiben vom 24.9.2017 an den EKV-Vorsitzenden Banzer unter Ziffer 2 ausgeführt, dass obsolete Verfassungsbestimmungen „Zeitzeugen“ sind, die „auch nicht beseitigt werden“ sollten. 211   Jentsch (Fn.  25) hat in seinem Vortrag auf das „grundgesetzliche Landesverfassungsrecht“ hingewiesen, mit dem das BVerfG seit 1952 über Bundesbestimmungen in Landesverfassungen hineinwirkt. 212  Die Verfassungsberatende Landesversammlung hatte sich am 15.7.1946 konstituiert, die erste Lesung des Verfassungsentwurfs hatte erst am 5./6. August stattgefunden und der Verfassungsausschuss hatte am 7. August seine erste Sitzung. Der historische Verfassungskompromiss zwischen SPD und CDU war am 30.9. innerhalb von „nur vier Stunden“ (so Jentsch (Fn.  25)) erzielt worden und am 29.10.1946 hatte die Verfassungsberatende Landesversammlung namentlich über die Verfassung abgestimmt (vgl. Abschnitt II Nr.  1). 213   Verwiesen wird dazu auf die Ausführungen in der Sitzung der ersten Enquetekommission am 11.2.2004 sowie die Stellungnahmen von vier Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung am 7.7.2004 (Bericht der Enquetekommission vom 8.4.2005, S.  29–33). 209

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diglich zu streichen, sondern sie textlich zu erhalten, auch wenn sie nicht mehr rechtswirksam sein sollen.214 Neben dieser verfassungsrechtlichen Bestandsaufnahme ist Raum für verfassungspolitische Anpassungen und damit für eine Modernisierung der Hessischen Verfassung, um sie für das 21. Jahrhundert „fit“ zu machen.215 Gerade weil die Verfassung auch ein Organisationsstatut für die Landespolitik in Wiesbaden ist, sollte der Landtag selbst ein originäres Interesse an einer gebotenen Modernisierung der eigenen Arbeitsgrundlagen haben und an der angemessenen Beschreibung seines Verhältnisses zur Landesregierung und ihrer Verwaltung. Bereits vor mehr als 20 Jahren ist darauf hingewiesen worden, dass „aus der weitgehenden Unverändertheit der Verfassung zu schließen“ ist, dass „das Änderungsbedürfnis bei den im Land maßgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kräften bisher nicht sehr ausgeprägt war“.216 Indes hat die EKV-Arbeit gerade in ihrer Schlussphase im Herbst 2017 gezeigt, dass – wie bereits im Herbst 2004 − wieder vorrangig die Obleute die aktuell mögliche Schnittmenge der Fraktionen für Verfassungsänderungen bestimmen. In Abgrenzung zu Staatszielbestimmungen können soziale Grundrechte „als verfassungsrechtlich verankerte Forderungen nach positivem staatlichen Handeln“ angesehen werden, die den Bedingungen der freien Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen dienen.217 Die Staatszielbestimmungen und sozialen Grundrechte „verpflichten regelmäßig den Gesetzgeber, dem Art und Weise der Umsetzung in politischer Verantwortung überlassen sind. Zugleich bilden sie Auslegungs- und Abwägungsgesichtspunkte für Verwaltung und Rechtsprechung“.218

6.  Die Änderungsvorschläge der EKV In der 17. EKV-Sitzung am 25.9.2017 sind von den Kommissionsmitgliedern Eckpunkte einer HV-Änderung beraten worden. Orientiert am Einsetzungsbeschluss  In diesem Zusammenhang ist es denkbar, verfassungsgeschichtlich erhaltenswürdige Bestimmungen, die überholt sind, nur für unwirksam zu erklären und ihre Nicht-mehr-Geltung optisch durch Kursivdruck zum Ausdruck zu bringen. Die Unwirksamerklärung orientiert sich dabei an §  4 0 Abs.  2 StGHG, wonach die Nichtigerklärung eines Gesetzes durch den StGH Gesetzeskraft hat. Nach meiner Auffassung ist der verfassungsändernde Gesetzgeber als Landtag und Volk dazu im Hinblick auf Art.  123 Abs.  1 HV befugt, da es sich auch insoweit um eine „Änderung des Verfassungstextes“ handelt. 215   Jentsch (Fn.  25) hat sich in seinem Vortrag am 5.9.2016 dafür ausgesprochen, in Rahmen der HV-Modernisierung gegen die Ökonomisierung der hessischen Gesellschaft kulturelle Standards zu setzen und der Mitwirkung Hessens im Rahmen der EU Rechnung zu tragen. 216   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 449. Aktuell hat Reimer in seinem Schreiben vom 24.9.2017 für den Fachbereich Rechtswissenschaft der JLU Gießen an den EKV-Vorsitzenden Banzer unter Ziffer 1 angemerkt, dass nach seiner Einschätzung der Zweite Hauptteil, „der die hessische Staatsgewalt konstituiert, organisiert und limitiert“, insgesamt gut „funktioniert“. 217   In diesem Sinne Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 467. Eine Staatszielbestimmung ist der Schutz und die Pflege des Sports (Art.  62a HV; vgl. Fn.  233), während das Recht auf Arbeit (Art.  28 Abs.  2 HV) als soziales Grundrecht ausgestaltet ist. Ein soziales Grundrecht ist damit kein subjektives, einklagbares Grundrecht gegenüber der öffentlichen Gewalt, sondern lässt sich als „Persönlichkeitszielbestimmung“ definieren. 218   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 467. 214

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des Landtags sind dies zunächst die Abschaffung der Todesstrafe, die Absenkung des Wählbarkeitsalters, die Erleichterung des Volksbegehrens und des Volksentscheids sowie das Ehrenamt als Staatsziel gewesen.219 Des Weiteren sind in dieser Sitzung als Eckpunkte weitere Staatsziele erörtert worden sowie insbesondere die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Kinderrechte und das Bekenntnis zu einem geeinten Europa. Offen geblieben war zunächst, ob eine Präambel-Änderung vorgeschlagen werden soll. Davon ist dann abgesehen worden.220 Demgemäß ist zur 18. EKV-Sitzung ein Papier der Obleute vorgelegt worden, das diese Eckpunkte (Abschnitte I bis XIV) artikelbezogen als 14 Änderungsvorschläge formuliert hat. Diese sind in der Sitzung am 30.10.2017 im Einzelnen aufgerufen und diskutiert worden 221 einschließlich weiterer verfassungsändernder Vorschläge.222 Zur 19. EKV-Sitzung am 27.11.2017 sind dann Entwürfe von 15 Gesetzentwürfen einschließlich Begründung vorgelegt worden,223 die von der Enquetekommission beraten und zumeist einstimmig beschlossen worden sind. Dies sind im Einzelnen: 1) Förderung und Stärkung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. In Art.  1 soll der bisherige Wortlaut zu Abs.  1 (Gleichheit vor dem Gesetz) werden und als Abs.  2 die Regelung des Art.  3 Abs.  2 GG wortwörtlich übernommen werden.224 2) Stärkung der Kinderrechte. In Art.  4 soll der bisherige Wortlaut ebenfalls zu Abs.  1 (Besonderer Schutz von Ehe und Familie) werden. Als Abs.  2 sollen insgesamt 4 Sätze angefügt werden, die das Recht jedes Kindes auf Schutz und Förderung, das Kindeswohl als wesentlichen Gesichtspunkt und die angemessene Berücksichtigung des Kindeswillen regeln, wobei die elterlichen Rechte und Pflichten unberührt bleiben.225 3) Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Schutz informationstechnischer Systeme. Als Art.  12a Satz  1 HV soll das Selbstbestimmungsrecht über die Preisgabe und Verwendung personenbezogener Daten geregelt werden. Satz  2 gewährleistet dabei die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme226 und Satz  3 bestimmt, dass Einschränkungen dieser Rechte einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. 4) Aufhebung der Regelungen zur Todesstrafe. Als Art.  21 Abs.  1 Satz  2 (Todesstrafe bei besonders schweren Verbrechen) soll wortwörtlich Art.  102 GG übernommen werden, wonach die Todesstrafe abgeschafft ist. Dementsprechend soll Art.  109 Abs.  1

  EKV 19/17, Stenografischer Bericht vom 25.9.2017, S.  22–33.   EKV 19/17, Stenografischer Bericht vom 25.9.2017, S.  33–40. Der CDU-Obmann Heinz hat in der Sitzung am 27.11.2017 deutlich gemacht, dass die von seiner Fraktion gewünschte Änderung der Präambel in der Obleute-Runde nicht mehrheitsfähig gewesen ist, so dass die CDU davon Abstand genommen hat. 221   EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  8 –28. 222   EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  28–36; dazu gehörten insbesondere das Recht der parlamentarischen Minderheit, die kostenlose Bildung (Art.  59) sowie das Konnexitätsprinzip (Art.  137). 223   Gegenüber dem Eckpunkte-Papier der Obleute vom 30.10.2017 ist der Vorschlag hinzugekommen, einen Art.  12a HV einzufügen. 224   EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  8. 225   EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  8 –10. 226   Art.  12a Satz  2 HV-Entwurf orientiert sich nach der Begründung an dem BVerfG-Urteil vom 27.2.2008 -1 BvR 370/07− Online-Durchsuchung (BVerfGE 120, 274–350). 219

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Satz  3, wonach die Bestätigung eines Todesurteils der Landesregierung vorbehalten bleibt, aufgehoben werden.227 5) Aufnahme eines Staatszielbegriffs. Abschnitt IIa soll die Überschrift „Staatsziele“ erhalten und Art.  26a, der bisher den Umweltschutz regelt, soll die Staatsziele definieren, wobei Adressaten der „Staat, die Gemeinden und Gemeindeverbände“ sind.228 Der bisherige Art.  26a soll demzufolge Art.  26b werden. 6) Staatsziel zur stärkeren Berücksichtigung der Nachhaltigkeit. Art.  26c soll regeln, dass diese Adressaten „bei ihrem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit“ berücksichtigen, „um die Interessen künftiger Generationen zu wahren“.229 7) Staatsziel zur Förderung der Infrastruktur. Art.  26d Satz  1 sieht vor, dass die Adressaten „die Errichtung und den Erhalt der technischen, digitalen und sozialen Infrastruktur und von angemessenem Wohnraum“230 fördern. Nach Satz  2 wirkt der Staat „auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land hin“.231 8) Staatsziel zum Schutz und zur Förderung der Kultur. Nach Art.  26e soll die Kultur „den Schutz und die Förderung des Staates, der Gemeinden und Gemeindeverbände“ genießen.232 9) Staatsziel zum Schutz und zur Förderung des Ehrenamtes. Art.  26f soll regeln, dass „der ehrenamtliche Einsatz für das Gemeinwohl“ den „Schutz und die Förderung“ durch die Adressaten „genießt“.233 227   EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  10. Auch in Hessen ist verfassungsrechtlich bereits seit dem 24.5.1949 nach Art.  31 GG und Art.  153 Abs.  2 HV die Todesstrafe abgeschafft. 228  EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  10–15. In diesem Zusammenhang ist thematisiert worden, ob eine Aufgabe, die als Staatsziel bestimmt wird, dadurch von der freiwilligen zu einer pflichtigen Aufgabe der Kommunen wird (S.  11/12). Von kommunaler Seite ist wegen der Konsequenzen auch gefragt worden, „ob die Opulenz bei der Förderung der Staatsziele, wie sie jetzt von den Obleuten vorgetragen wurde, tatsächlich in die Verfassung fließen soll“ (S.  15). 229   In der Begründung des Entwurfes (S.  4 ) wird auf den Bericht der Brundtland-Kommission Bezug genommen und angemerkt, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit dem Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art.  26a: 1991) und der „Aufnahme einer Schuldenbremse“ als Begrenzung der Staatsverschuldung (Art.  141: 2011) „bereits zentrale Gestaltungsfelder der Landespolitik am Grundsatz der Nachhaltigkeit ausgerichtet“ habe. 230   Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 468, haben 1997 in Anlehnung an den Hessischen Verfassungsbeirat folgende Formulierung angeregt: „Das Land trägt Sorge für die Sicherung, Schaffung und Erhaltung angemessenen Wohnraumes“, um das das Land zu einer aktiven Wohnungsmarktpolitik in den Ballungsräumen Rhein-Main und Kassel zu veranlassen. Der EKV-Vorschlag nimmt nunmehr dafür nicht nur das Land, sondern auch die Gemeinden, die Städte und die Landkreise in die Pflicht. 231   Nach der Begründung (S.  5 ) handelt es sich bei Satz  2 um ein „bedeutsames landespolitisches Handlungsziel der Infrastrukturförderung“, das mit Verfassungsrang ausgestattet werden soll (vgl. auch Art.  72 Abs.  2 GG, der für näher bestimmte Politikfelder auf „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ durch Bundesgesetzgebung abzielt: näher dazu Pieroth in: Jarass/Pieroth (Fn.  95), Art.  72 GG Rn.  20). 232   In der Begründung (S.  2/3) heißt es, dass sich Hessen, auf bauend auf einem reichen kulturellen Erbe, „zu einem durch eine große Vielfalt an kulturellen Einrichtungen und Veranstaltungen geprägten Bundesland entwickelt“ hat. Diese Staatszielbestimmung verpflichte das Land und die kommunalen Gebietskörperschaften, „im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und finanziellen Möglichkeiten der Förderung der Kultur besonderes Gewicht beizumessen und ihre Belange bei der Rechtsetzung und im Verwaltungsvollzug zu berücksichtigen“. 233   Anknüpfend an die Aufnahme des Sports (Art.  62a: 2002), mit der seine zunehmende Bedeutung für das Gemeinwohl einschließlich der dortigen Leistungen des Ehrenamtes „gewürdigt“ werden sollte, wird in der Begründung (S.  2 ) darauf abgestellt, dass auch jenseits des Sports „das ehrenamtliche

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10) Staatsziel zum Schutz und zur Förderung des Sports. Der bisherige Art.  62a soll Art.  26g werden, wobei das Wort „Pflege“ durch das modernere Wort „Förderung“ ersetzt wird. Demgemäß soll Art.  62a aufgehoben werden mit der weiteren Konsequenz, dass die Abschnittsüberschrift vor Art.  55 HV von „V. Erziehung, Bildung, Denkmalschutz und Sport“ in „V. Erziehung, Bildung und Denkmalschutz“ geändert wird.234 11) Bekenntnis zur Europäischen Integration. Art.  64 hat seit 1946 folgenden Wortlaut: „Hessen ist ein Glied der deutschen Republik“. Dieser Artikel soll dahingehend geändert und ergänzt werden, dass nach Satz  1 Hessen „ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland und als solcher Teil der Europäischen Union“ ist. In Anlehnung an die Struktursicherungsklausel (Art.  23 Abs.  1 Satz  1 GG) enthält Satz  2 das Bekenntnis zu „einem geeinten Europa“,235 das auch im Interesse des Landes Hessen „die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert“.236 12) Herabsetzung des Wählbarkeitsalters. Trotz der vorgesehenen Neufassung soll in Art.  75 Abs.  2 nur das Wort „einundzwanzigste“ durch das Wort „achtzehnte“ ersetzt werden.237 Diese Regelung soll erstmals „bei der Wahl zum 21. Hessischen Landtag Anwendung“ finden.238 13) Elektronische Verkündung von Gesetzen. Auf Anregung der Staatskanzlei soll Art.  120 um einen Satz  2 ergänzt werden, wonach das Gesetz- und Verordnungsblatt „nach Maßgabe eines Gesetzes in elektronischer Form geführt werden“ kann.239 Demgemäß ist auch Art.  121 sprachlich dadurch anzupassen, dass von „der Ausgabe des die Verkündung enthaltenden Gesetz- und Verordnungsblattes“ abgesehen wird. Ohne eine materielle Änderung soll sein bisheriger Regelungsgehalt durch eine neu-

Engagement der Bürgerinnen und Bürger ein bedeutender Pfeiler“ ist, „auf dem Staat und Zivilgesellschaft ruhen“. 234   Soweit der Begriff „Pflege“ durch den Begriff „Förderung“ aus sprachlichen Gründen ersetzt wird, ist damit nach der Begründung (S.  3 ) „eine Änderung des bisherigen Regelungsinhalts im Sinne einer Verengung auf eine monetäre Förderung“ nicht intendiert. 235   Dagegen stellt Art.  23 Abs.  1 Satz  1 GG, der mit Wirkung vom 25.12.1992 neu gefasst worden ist, weitergehend auf die „Verwirklichung eines vereinten Europas“ ab mit der Folge, dass der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit dort geregelt ist und die deutschen Staatsorgane eine spezifische Integrationsverantwortung haben (näher Jarass in: Jarass/Pieroth (Fn.  95), Art.  23 GG Rn.  10). Diese ist für die EU als hochintegrierter Staatenverbund durch das Integrationsverantwortungsgesetz vom 22.9.2009 (BGBl. I S.  3022) konkretisiert worden 236   Nach der Begründung des Entwurfs (S.  2 ) umfasst der Begriff „geeintes Europa“ neben „der EU auch weitere europäische Institutionen“; in diesem Sinne auch Jarass in: Jarass/Pieroth (Fn.  95), Art.  23 GG Rn.  3. 237   In der Begründung (S.  2 ) findet sich der Hinweis, dass im Bund und in allen übrigen Bundesländern „die Altersgrenze für das passive Wahlrecht 18 Jahre“ beträgt und dies auch bereits „für die Wahl der Kreisbeigeordneten, der Gemeindevertreter sowie der Mitglieder der Ortsbeiräte“ gilt. Es ist schon angemerkt worden, dass diese Herabsetzung des Wählbarkeitsalters für das Landesparlament 1995 durch das Volk mehrheitlich abgelehnt worden ist (vgl. Fn.  42). 238   Dies ist verfahrensrechtlich zwingend und damit lediglich eine Klarstellung, da die erforderliche Volksabstimmung erst mit der Wahl zum 20. Hessischen Landtag durchgeführt werden soll. 239   Zur geführten Diskussion in der Enquetekommission: EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  20–25.

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trale Formulierung ersetzt werden, die nicht an die Ausgabe in Papierform anknüpft.240 14) Stärkung der Volksgesetzgebung. Trotz der vorgesehenen Neufassung soll in Art.  124 Abs.  1 Satz  1 lediglich das Wort „Fünftel“ durch das Wort „Zwanzigstel“ ersetzt werden und damit das Zulassungsquorum von 20 % der Stimmberechtigten auf 5 % reduziert werden.241 Als „Gegengewicht“ zur Erleichterung des Zulassungsquorums soll Abs.  3 Satz  2 durch Einführung eines Zustimmungsquorums neu gefasst werden. Es entscheidet nicht mehr wie seither allein „die Mehrheit der abgegebenen Stimmen“, sondern zusätzlich muss „mindestens jedoch ein Viertel der Stimmberechtigten 242 dem Gesetzentwurf zugestimmt“ haben.243 15) Stärkung der Unabhängigkeit des Rechnungshofs. Die vorgesehene Neufassung des Art.  144 Satz  1 orientiert sich am Wortlaut des Art.  114 Abs.  2 Satz  1 GG. Sie schreibt die richterliche Unabhängigkeit der Mitglieder des Rechnungshofs fest244 und damit die unabhängige Prüfung der „Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung“.245 In der Sitzung am 27.11.2017 ist von Kommissionsmitgliedern mehrfach deutlich gemacht worden, dass es oberstes Ziel aller Gespräche der Obleute246 gewesen ist, zu sämtlichen Änderungsfragen bei der Suche nach Kompromissen alle Fraktionen mitzunehmen, um unbedingt ein erneutes Scheitern einer HV-Reform wie 2005 zu vermeiden. Deshalb ist in dieser Sitzung bezüglich des parlamentarischen Verfahrens für die Regierungsfraktionen auch erkärt worden, dass sie allein keine weiteren ver240   Nach der Begründung (S.  3 ) wird dadurch „mit Blick auf zukünftige rechtliche und technische Veränderungen des Gesetzgebungsverfahrens und des Verkündungswesens im Bund und in den Ländern ermöglicht, auch für Gesetze eine elektronische Verkündung von Rechtsvorschriften einzuführen, ohne erst dann die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen im Wege einer aufwendigen Verfassungsänderung herbeiführen zu müssen. Eine Pflicht zur Einführung einer elektronischen Verkündung wird hierdurch nicht begründet“. 241   In der Begründung zu diesem Gesetzentwurf (S.  4 ) wird offengelegt, dass wegen dieser Anforderung in mehr als 70 Jahren „kein einziges der bislang in Hessen durchgeführten Volksbegehren zustande gekommen ist und deshalb die von der Verfassung anerkannte Volksgesetzgebung in der Verfassungspraxis des Landes Hessen keine Bedeutung erlangt hat“. 242   In der Begründung (S.  4 ) ist ausgeführt, dass ein Zustimmungsquorum von 25 % der Stimmberechtigten in einem Volksentscheid bereits der Rechtslage „in den Ländern Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen“ entspricht. Bereits die erste Enquetekommission hatte 2005 (bei einem Zulassungsquorum von ein Achtel) ein Zustimmungsquorum von „ein Viertel der Stimmberechtigten“ vorgeschlagen: LT-Drs. 16/3700 (Fn.  6 ), S.  39. 243   Sofern diese vorgesehene Verfassungsänderung in Kraft tritt, müssen §  12 Abs.  1 Satz  1 und §  22 Abs.  1 Satz  1 VuVG der neuen Verfassungslage zeitnah angepasst werden. 244   Die Begründung des Entwurfes (S.  2 ) merkt an, das derzeit die Unabhängigkeit der Mitglieder des Rechnungshofs einfachgesetzlich (§  5 des Gesetzes über den Hessischen Rechnungshof ) geregelt ist. Sein Präsident hat in der 18. EKV-Sitzung dazu ausgeführt, dass es „aufgrund der immer verflochteneren Finanzsysteme zwischen Bund und Ländern“ zunehmend schwieriger werde, „als gleichberechtigter Partner gegenüber dem Bundesrechnungshof aufzutreten“ (EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  27). 245   Nach dem StGH-Urteil vom 27.4.1994 –P.St. 1172-, ESVGH 44, 13, enthält Art.  144 HV bereits eine institutionelle Garantie für den Bestand des Rechnungshofs und gewährleistet auch, dass er die Wirtschaftlichkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung prüft. 246   Sie haben nach eigenen Angaben zwischen der 18. (30.10.2017) und 19. EKV-Sitzung (27.11.2017) rd. 25 Stunden „intensiv miteinander gerungen“.

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fassungsändernden Gesetzesentwürfe einbringen werden.247 Nicht ausgeschlossen worden ist, dass die einbringenden Fraktionen sich noch gemeinsam auf ein oder zwei Änderungen während der parlamentarischen Debatte einigen, so dass für die Volksabstimmung die Anzahl von fünfzehn Änderungsgesetzen nicht die Obergrenze sein muss. Zur 19. EKV-Sitzung am 27.11.2017 ist auch der Entwurf eines Stimmzettels248 vorgelegt worden, der unter Abschnitt A eine einheitliche Abstimmung vorsieht und unter Abschnitt B die Möglichkeit, „auch über jedes der 15 Gesetze einzeln“ abzustimmen.249 Die Enquetekommission hat aber keine Veranlassung gesehen, sich im diesem Verfahrensstadium zum Stimmzettel-Entwurf 250 zu positionieren. Dies bleibt dem Landtag vorbehalten.251

7.  Einbringung von 19 Gesetzentwürfen Diese fünfzehn von der Enquetekommission vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe sind von den Fraktionen der CDU, der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP am 15.12.2017 in den Hessischen Landtag eingebracht worden.252 Ferner hat die FDP, die Oppositionsfraktion ist, in das Plenum zwei eigene verfassungsändernde Gesetzentwürfe eingebracht. Zum einen soll in Art.  101 Abs.  1 ein neuer Satz  2 eingefügt werden, der eine nur einmalige Wiederwahl des Ministerpräsidenten vorsieht.253 Zum anderen soll ein neuer Art.  77a eingefügt werden, wonach die parlamentarische Opposition „ein grundlegender Bestandteil parlamentarischer Demokratie“ ist.254 Die Fraktion DIE LINKE, die ebenfalls zur Opposition gehört, hat einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Danach soll der bisherige Wortlaut des Art.  8 (Unverletz247   Mit ihrer Mehrheit könnten sie im Hinblick auf Art.  123 Abs.  2 HV solche Änderungsvorschläge auch im Landtag durchsetzen und damit dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Die Fraktion DIE LINKE hat in der Sitzung am 27.11.2017 bereits einen eigenen Gesetzesentwurf angekündigt, um das Grundrecht auf Wohnen in der Landesverfassung zu verankern (vgl. Fn.  255). 248   Der aktuelle Stimmzettel-Entwurf entspricht im Auf bau dem Stimmzettel-Entwurf von 2005 (LT-Drs. 16/3700 S.  66). 249   Die 15 Gesetzesentwürfe und der Stimmzettel tragen damit dem als verfassungsrechtlich relevant angesehenen Koppelungsverbot Rechnung. Der Landeswahlleiter Hannappel hatte bereits in seiner Stellungnahme vor der EKR-Sitzung am 16.2.2005 ausgeführt, dass „auf dem Stimmzettel wohl eine wenig übersichtliche „Bleiwüste“ entstehen“ würde, wenn „zu jedem zu ändernden Artikel eine Synopse von Alt- und Neufassung abzudrucken“ wäre (LT-Drs. 16/3700 S.  65). 250   Auf dem Stimmzettel-Entwurf heißt es: „Die Änderungsgesetze werden nachfolgend nur mit der Nummer des zu ändernden Artikels und einer Kurzbezeichnung benannt. Der vollständige Wortlaut ist Ihnen mit der Abstimmungsbenachrichtigung zugegangen; er liegt außerdem im Abstimmungsraum aus.“ 251   Bereits 2005 hatte der Landeswahlleiter Hannappel in seiner Stellungnahme dargelegt, dass sowohl die Verschlagwortung des Stimmzettels als auch die Begründungstexte der Broschüre „nicht frei von subjektiven Wertungen erfolgen“ können, so dass deren inhaltliche Ausgestaltung nicht der zur strikten Neutralität verpflichteten Wahlorganisation überlassen werden könne, sondern Broschüre und Stimmzettel textlich vom Landtag festzulegen seien (LT-Drs. 16/3700 S.  65). 252   LT-Drs. 19/5709–19/5723: jeweils erste Lesung. 253   LT-Drs. 19/5729. 254   LT-Drs. 19/5732.

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lichkeit der Wohnung) Abs.  1 werden und ein Abs.  2 angefügt werden, der in Satz  1 ein „Recht auf eine menschenwürdige und diskriminierungsfrei zugängliche Wohnung und auf Versorgung mit Wasser und Energie“ bestimmt und in Satz  2 regelt, dass die Miete „einkommensgerecht sein“ muss.255 Die SPD als größte Oppositionsfraktion hat ebenfalls einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht zur verfassungsrechtlichen Verankerung der „Bildung von Anfang an“ und zum Verbot von Studiengebühren.256 Dieser sieht vor, dass insbesondere in Art.  59 Abs.  1 ein neuer Satz  2 eingefügt wird, wonach Studiengebühren nicht erhoben werden,257 und Satz  4 gestrichen wird. Eingefügt wird auch ein neuer Abs.  2, der verfassungsrechtlich absichern soll, dass jedes Kind „Anspruch auf Erziehung, Bildung und Betreuung durch den unentgeltlichen Besuch einer Kindertagesstätte oder in der Kindetagespflege“ hat.258 Der bisherige Abs.  2 wird daher unter zeitgemäßer Anpassung zu Abs.  3.

V.  Zusammenfassung und Ausblick 1. Zusammenfassung Der Landtag hat der von ihm eingesetzten Enquetekommission Verfassungskonvent (EKV) im Dezember 2015 den Auftrag erteilt, nach Abschluss ihrer Beratungen „einen Gesetzesvorschlag zur Änderung der Hessischen Verfassung zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen“.259 Nach der Konstituierung im März und der Grundsatz-Beratung im Mai hat die EKV im Juni 2016 mit ihrer artikelbezogenen Sammlung für eine Verfassungsreform begonnen. Nach einer dreitägigen Anhörung von Sachverständigen Mitte Februar, einer Schülerbeteiligung im Mai und drei Bürgerforen im Juni 2017 haben sich die Obleute der fünf Fraktionen angesichts von insgesamt 475 Änderungsvorschlägen einvernehmlich auf Eckpunkte verständigt,260 die Ende November 2017 Grundlage der 15 Gesetzentwürfe geworden sind, die die EKV dem Landtag zur Beratung und Beschlussfassung empfohlen hat. Die Beobachtung der EKV-Sitzungen über einen eineinhalbjährigen Zeitraum lässt den Schluss zu, dass die politische Kompromissfähig255   LT-Drs. 19/5734; nach der Begründung (S.  4 ) heißt es, dass es der verfassungsrechtlichen „Verankerung eines einklagbaren Grundrechts auf Wohnen“ bedarf, um der diesbezüglichen sozialstaatlichen Verpflichtung ausreichend Geltung zu verschaffen (vgl. auch Fn.  247). 256   LT-Drs. 19/5737 257   In der Begründung (S.  3 ) zum neuen Satz  2 des Abs.  1 wird auf das StGH-Urteil verwiesen, mit dem das Studienbeitragsgesetz von 2006 mit sechs gegen fünf Richterstimmen für verfassungsgemäß erklärt worden ist (Urteil vom 11.6.2008 –P.St. 2133, 2158-, StAnz. S.  1960). 258   Weiter findet sich n der Begründung (S.  3 ) der Hinweis, dass mit der offenen Formulierung in Abs.  2 „auch den Normen der Sozialgesetzbücher des Bundes und damit übergeordnetem Bundesrecht Genüge getan werden“ soll. 259   LT-Drs. 19/2566 a.E.; vgl. auch §  55 Abs.  4 Satz  1 GO-LT. 260   Auch in der ersten Enquetekommission sind die rd. 200 Änderungsvorschläge in fünf Gesprächen zwischen den vier Obleuten ab dem 29.9.2004 auf Eckpunkte konkretisiert und formuliert worden (LT-Drs. 16/3700 S.  33/34), auch wenn die gemeinsame Kompromissfindung dann in der EKR-­ Sitzung am 10.12.2004 beendet worden ist (näher: Fn.  63).

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keit der Enquetekommission mit den 15 empfohlenen Gesetzesentwürfen „ausgereizt“ worden ist. Angesichts der in der ersten Enquetekommission gescheiterten HV-Reform (2003 bis 2005) ist dieses Ergebnis der zweiten Enquetekommission bereits ein landespolitischer Erfolg.261 Es kann daher festgestellt werden: Eine das Parlament abbildende Enquetekommission, die beauftragt werden würde, die Hessische Verfassung tatsächlich umfassend zu bereinigen, sie zudem zu modernisieren und gegebenenfalls sogar verfassungspolitisch zu experimentieren, wäre damit auch in absehbarer Zukunft parteipolitisch überfordert. Es mag ein Wunsch von Verfassungsjuristen sein, eine bereinigte und modernisierte Landesverfassung zu haben, die zugleich eine „Werkstatt für Verfassungspolitik“ ist262 und „aus einem Guss gearbeitet“ ist. Ein verfassungsänderndes Reformvorhaben im Hessischen Landtag mit fünf Fraktionen, für das der politische Kompromiss unabdingbar ist, kann dies nicht leisten. Die Parlamentsgesetzgebung, die insoweit auf die Volksabstimmung und damit auf die Zustimmung des Volkes angewiesen ist, neigt auch nicht zum Experimentieren. Gleichwohl fehlt auch in diesem Zusammenhang nicht der parteipolitische Hinweis auf geplante landesverfassungsrechtliche Neuerungen.263 261   In der 19. EKV-Sitzung hat deshalb der SPD-Obmann Schmitt sogar auf den historischen Kompromiss zwischen CDU und SPD bei der Verfassungsgesetzgebung am 30.9.1946 Bezug genommen (vgl. Fn.  25). 262   Dazu drei Beispiele: So hätte erstens daran gedacht werden können, Art.  75 Abs.  1 HV dahingehend zu ändern, dass die Zahl der Abgeordneten wieder – wie von 1954 bis 1970 – von 110 (§  1 Abs.  1 LWG) auf 96 MdL verringert und dies – wie in Art.  13 Abs.  1 BV – verfassungsrechtlich festgeschrieben wird (ggf. für den 21. Landtag: voraussichtlich 2024–2029). Es wäre zweitens auch in Betracht gekommen, in Art.  101 Abs.  1 HV zu regeln, dass der Ministerpräsident nicht mehr vom Landtag, sondern vom Volk direkt gewählt wird; damit würde seine Position gestärkt werden (vgl. Dreßler (Fn.  58), HSGZ 2004, 3, 6). Durch die dritte HV-Änderung mit Gesetz vom 20.3.1991 (vgl. oben Fn.  4 0) ist die Direktwahl der Oberbürgermeister, der Bürgermeister und der Landräte (Art.  138 HV) mit einer Übergangsregelung eingefügt worden. Drittens hätte die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative auch personell umgesetzt werden können, indem Art.  101 HV um einen Abs.  5 ergänzt wird, wonach ein Amt in der Landesregierung nicht mit einem Mandat als Abgeordneter vereinbar ist. Auch für die Kreis- und Gemeindeebene gilt, dass Mitglieder des Kreisausschusses nicht gleichzeitig Kreistagsabgeordnete sein dürfen (§  36 Abs.  2 Hs.  1 HKO) und Mitglieder des Gemeindevorstandes nicht gleichzeitig Gemeindevertreter (§  65 Abs.  2 Satz  1 HGO). Dieser Regelung lässt sich nicht entgegenhalten, dass in der Parlamentspraxis nicht der Landtag die Landesregierung kontrolliert, sondern die Oppositionsfraktionen die Regierungsfraktionen (mit den Worten des FDP-Obmannes Hahn: „Die Minderheit der ersten Gewalt versucht, die zweite Gewalt zu kontrollieren“ (EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  29)). Dies ist auch die Praxis auf der kommunalen Ebene, obgleich es sich lediglich um „Kommunalparlamente“ handelt. Wenn die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat für die kommunale Ebene nicht in Frage gestellt wird, ist sie erst recht für die Landesregierung und den Landtag als echtes Parlament zu fordern. 263   Der Obmann Kaufmann von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat in der 19. EKV-Sitzung anmerkt, dass Hessen jedenfalls mit der Aufnahme der Kinderrechte (Art.  4 Abs.  2 HV-E) in die Verfassung „vor dem Bund ist“; man habe sich insoweit entschieden, „in den Wind zu stellen“ (EKV 19/19, Stenografischer Bericht vom 27.11.2017). Indes ist der Staat Adressat der Kindesgrundrechte und sie sind in der Eltern-Kind-Beziehung bedeutsam gegenüber dem Recht der Eltern, einzuwirken und Rechtspositionen des noch nicht grundrechtsmündigen Kindes wahrzunehmen (vgl. von Coelln in: Sachs, GG-Kommentar, 7.  Aufl. 2014, Art.  6 GG Rn.  69–75).

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Da die Enquetekommission ihre Arbeit Ende November 2017 (bis auf den Bericht für die Behandlung im Plenum) unter Kompromissgesichtspunkten erfolgreich und fristgerecht abgeschlossen hat, kann der Landtag die Mitte Dezember eingebrachten verfassungsändernden Gesetzentwürfe beraten, wobei die 15 EKV-Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren „gesetzt“ sind, während dies für die weiteren vier Vorschläge der Oppositionsfraktionen nicht gilt. Die Enquetekommission hat durch ihre mehr als eineinhalbjährige Arbeit ein erneutes Scheitern verhindert und mit ihrer Reform,264 die ein „Reförmchen“ ist,265 ein landesverfassungsrechtliches Desaster vermieden.266 Erkauft hat sie diesen landespolitischen Erfolg mit einem deutlich gebremsten Reformeifer gegenüber der ersten Enquetekommission. Die juristischen Bedenken, die in der 3. EKV-Sitzung am 24.6.2016 geäußert worden sind,267 haben die fünf Sachverständigen der Enquetekommission nicht zerstreut. Ihre „Stellungnahme zur Reichweite von Art.  123 HV unter Berücksichtigung von Koppelungsverboten“ vom 22.8.216 kann − wie dargelegt − inhaltlich nicht überzeugen.268 Nach ihrer vorläufigen Einschätzung erscheint eine weitreichende Teilrevision der Hessischen Verfassung durch den Landtag und die nachgeschaltete Volksabstimmung über den Gesetzesbeschluss als Ganzes nicht verfassungskonform − ohne es zu sein.269 Durchgängig jedoch, von einer mündlichen Äußerung des Staatsrechtslehrers Denninger in der HAA-Sitzung am 17.4.2002 abgesehen,270 wird das Koppelungsverbot auch bei einer Teilrevision der Landesverfassung als faktische Begrenzung der Änderungsmöglichkeiten betrachtet.271 Im Fall der vorgesehenen HV-Änderung (LT-Drs. 19/5710) wird deshalb erst die Zukunft zeigen, ob der StGH den so formulierten Grundrechten der Kinder in Hessen einen über Art.  6 Abs.  2 und 3 GG hinausreichenden Schutz zubilligt und gleichwohl im Hinblick auf Art.  142 GG eine Übereinstimmung und damit ihr Inkraftbleiben bejaht. Die FDP-Fraktion hat in ihrer Presseerklärung vom 15.12.2017 darauf hingewiesen, dass wir „die übrigen Fraktionen von unserer Idee eines Digitalisierungsgrundrechts überzeugen konnten und in einem neuen Art.  12a HV ein Datenschutzgrundrecht und ein Computergrundrecht einführen“ (LTDrs. 19/5711). Für die Fraktion DIE LINKE hat ihr Obmann Wilken in der Pressemitteilung vom 15.12.2017 betont, dass sich seine Fraktion durch ein Grundrecht auf Wohnen (LT-Drs. 19/5734) „für eine wirkliche Verbesserung der Lebensqualität der hessischen Bürgerinnen und Bürger“ stark macht. 264   Richtig ist, dass die 15 gemeinsamen Gesetzentwürfe „eine nie dagewesene Reform der Hessischen Verfassung“ darstellen, so dass die FDP-Fraktion in ihrer Pressemitteilung vom 11.12.2017 aus landespolitischer Sicht zutreffend titelt: „15 Änderungen sind eine Reform und kein Reförmchen“. 265   Durch die verfassungsrechtliche „Brille“ trifft diese Sicht auf die Landesverfassung zu. 266   Im Falle des erneuten Scheitern wäre ein dritter Revisionsversuch für die 20. Legislaturperiode (2019–2024) voraussichtlich kein Thema mehr gewesen und es wäre sogar offen geblieben, ob für den 21. Landtag (voraussichtlich 2024–2029) etwas anderes gelten würde. 267   EKV 19/3, Stenografischer Bericht vom 24.6.2016, S.  11–14. 268   Siehe oben Abschnitt IV Nr.  4 Buchst. e) und f ); entsprechend Wettlaufer, HSGZ 2017, 35, 40–42. 269   Der Umstand, dass der StGH – soweit ersichtlich − bisher keine Entscheidung zu Art.  123 HV getroffen hat, ist darauf zurückzuführen, dass es in 71 Jahren nur fünf erfolgreiche Volksabstimmungen 1950, 1970, 1991, 2002 und 2011 zu verfassungsändernden Gesetzesvorlagen gegeben hat, bei denen sich die Frage nach dem verfassungskonformen Verfassungsänderungsverfahren nicht gestellt hat. 270   Denninger, HAA/15/41 S.  47. 271   Der SPD-Obmann Schmitt hat in der 18. EKV-Sitzung im Zusammenhang mit weiteren wünschenswerten Änderungen ausgeführt: „Wir stoßen auch langsam an Grenzen, Stichwort „Koppelungsverbot“, sodass man sagen muss: All diese Änderungen können wir den Bürgern in der Phase nicht zumuten“ (EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  30).

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Zudem hat sich Enquetekommission gemäß der einheitlichen Stellungnahme ihrer Sachverständigen vom August 2016 darauf verständigt, für das Verfahren der Volksabstimmung von der Geltung des Koppelungsverbotes auszugehen und seine Nichtgeltung als verfassungsrechtliches Risiko zu begreifen. Folglich hat es in der Enquetekommission an der Bereitschaft gefehlt, diese Fragestellung aktuell und umfassend zu überprüfen und dafür sowohl die Sachverständigen der fünf Fraktionen als auch die Staatskanzlei einzubinden. Es überrascht nicht, dass Art.  78 HV, der das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag regelt,272 keinen Eingang in den Änderungskanon der Enquetekommission gefunden hat, auch wenn es drei fraktionelle Änderungsvorschläge dazu gegeben hat.273 Das BVerfG hatte durch Urteil vom 8.2.2001 den Landesgesetzgeber vor die Wahl gestellt, „die Frage der Wirksamkeit der abschließenden Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts nach Maßgabe der aufgezeigten Grundsätze neu zu regeln oder ein zweistufiges Verfahren nach dem Vorbild des Art.  41 GG oder eine personelle Zusammensetzung des Wahlprüfungsgremiums zu wählen, die den Anforderungen der Art.  92 ff. GG entspricht“.274 Im Hinblick auf die dortige Nichtigerklärung von §  17 des Wahlprüfungsgesetzes a.F. hatten sich die Fraktionen für die unkomplizierteste Lösung entschieden und damit, unter Beibehaltung des Wahlprüfungsgerichtes und seiner Zusammensetzung (Art.  78 Abs. HV), durch Gesetz vom 1.10.2002275 die Wahlprüfungsbeschwerde zum StGH eingeführt (§  52 StGHG) und damit die Zweistufigkeit des Wahlprüfungsverfahrens. Es wäre wahrscheinlich heikel gewesen, die vor 15 Jahren vertagte Auseinandersetzung um ein grundsätzlich umgestaltetes Wahlprüfungsverfahren nunmehr ohne Not und lediglich wegen der Verfassungsreform nachzuholen.

2. Ausblick Der EKV-Vorsitzende hat bereits in der 3. Sitzung am 24.6.2016 ausgeführt: „Wir müssen immer schauen, dass wir zusammen bleiben; Verfassungen werden nicht mit knappen Mehrheiten beschlossen. Da müssen wir schon schauen, dass wir nachher auch ein breites Votum haben. Dann muss das zu einem Gesetz umformuliert werden. Das Gesetz wird im Landtag diskutiert, nach den Spielregeln, wie Gesetze gemacht werden: also wieder Anhörungen und entsprechende drei Lesungen. Dann wird es jeweils stark fristenorientiert dem Volk zur Entscheidung vorgelegt“.276

Auch noch in der 19. EKV-Sitzung am 27.11.2017 ist die fraktionsübergreifende Kompromissbereitschaft betont worden.277 Die 15 Gesetzentwürfe sind am 15.12.2017   Instruktiv dazu Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, Einl. Anm. VI 2 Rn.  11, S.  37–41. 273   Nr.  156–158 der Änderungsvorschläge der Mitglieder der Enquetekommission und der Teilnehmer des Beratungsgremiums Zivilgesellschaft (Fn.  122: S.  27; Stand: 6.4.2017). 274   Urteil des BVerfG vom 8.2.2001 -2 BvF 1/00-, BVerfGE 103, 111, 141. 275  GVBl. I S.  602; näher dazu Günther (Fn.  272), §  52 StGHG Rn.  1, der von einer „bewussten Beschränkung auf das Umvermeidliche“ ausgeht (S.  1005). 276   EKV 19/3, Stenografischer Bericht vom 24.6.2016, S.  11/12. 277   In der 19. EKV-Sitzung am 27.11.2017 hat der CDU-Obmann Heinz auf den „fruchtbaren Pro272

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und damit auf den Tag genau zwei Jahre nach Einsetzung der Enquetekommission in den Hessischen Landtag eingebracht worden. Auch gedeckelt durch das „Damoklesschwert“ des Koppelungsverbotes ist die landesverfassungspolitische Schnittmenge der fünf Fraktionen voraussichtlich aufgebraucht worden, selbst wenn noch ein oder zwei Gesetzentwürfe im Gesetzgebungsverfahren hinzukommen sollten. Selbstverständlich haben sich die EKV-Mitglieder während der Dauer der Kommissionstätigkeit kontinuierlich wegen ihrer inhaltlichen Positionen mit ihren Fraktionen abgestimmt und diese insoweit mitgenommen. Daher sind im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren bis zum Sommer 2018 keine besonderen Überraschungen zu erwarten. Soweit die drei Oppositionsfraktionen zur Verdeutlichung ihres Profils insgesamt vier eigene Gesetzentwürfe zu HV-Änderungen eingebracht haben,278 liegt es nahe, dass sie die absolute Mehrheit von 56 Mitgliedern des Landtags nicht erhalten werden.279 Dagegen haben die Regierungsfraktionen in der EKV-Sitzung am 27.11.2017 ausdrücklich angekündigt, im Sinne des parlamentarischen „Zusammenbleibens“ von ihrer Mehrheit zur Durchsetzung weiterer verfassungsändernder Gesetzentwürfe keinen Gebrauch zu machen. Den großen Wurf einer umfassenden Revision der Landesverfassung in den Grenzen von Art.  26 und 150 HV kann und wird es daher nicht geben, auch wenn die investierte Arbeit der Enquetekommission einschließlich des Beratungsgremiums Zivilgesellschaft erheblich gewesen ist, die die erfolgte Anhörung von Experten, von Schülern und von Bürgern eingeschlossen hat. Selbst wenn der Landtag (nach eingehender Prüfung) verfassungskonform gemäß der BayVerfGH-Rechtsprechung die Anwendung des Koppelungsverbotes auf die HV-Reform verneinen und gegenüber der Volksabstimmung im Herbst 2018 sein verfassungsrechtlich geschütztes Erstzugriffsrecht betonen würde, könnte auch ohne das „Damoklesschwert“ Koppelungsverbot angesichts der parteipolitischen Bandbreite im Parlament nicht von einer beachtlichen Weiterung der konsensfähigen Schnittmenge für Verfassungsänderungen ausgegangen werden.280 Die Beachtung des Koppelungsverbotes bedeutet zum einen ein Paket von einzelnen Gesetzentwürfen und damit von einer Anzahl von Verfassungsgesetzen (vgl. Art.  155 HV) statt eines Artikelgesetzes. Zum anderen ist dadurch die technische Durchführung der Volksabstimmung betroffen, also die Gestaltung des Stimmzettels, die eine einheitliche Abstimmung und eine Einzelabstimmung vorzusehen hat (§  16a Abs.  2 VAstG). Da die Enquetekommission in ihrer 21-monatigen Tätigkeit die Berücksichtigung des Koppelungsverbotes nicht ernsthaft in Zweifel gezogen und daher in ihrer 19. Sitzung konsequenterweise dem Landtag ein Paket von 15 Gesetzentwürfen zur Bezess“ in den vielen Gesprächsstunden der Obleute in den vergangenen Wochen verwiesen, der beispielsweise dazu geführt hat, dass seine Fraktion ihren Vorschlag der Präambelergänzung fallengelassen hat. 278   LT-Drs. 19/5729, 19/5732, 19/5734 und 19/5737. 279   Nach §  1 Abs.  1 des Landeswahlgesetzes (LWG) hat der Hessische Landtag 110 Abgeordnete. 280   Problematisch ist daher die Zusage der EKV-Vorsitzenden, die als unzureichend empfundene Beteiligung der Bürger/innen in den drei Bürgerforen in Rüsselsheim, Gießen und Kassel im Juni 2017 im Rahmen des palamentarischen Gesetzgebungsverfahrens durch den Hauptausschuss parallel fortzuführen. Eine solche Vorgehensweise weckt angesichts des unabdingbaren politischen Kompromisses im Landtag Erwartungen, die nur enttäuscht werden können.

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ratung und Beschlussfassung empfohlen hat, fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass das Parlament diese Entscheidung seiner Kommission in den ihm für die Gesetzgebung verbleibenden Monate bis zum Sommer 2018 hinterfragen wird.281 In dem empfohlenen Paket der Gesetzentwürfe der Enquetekommission dominieren die Staatsziele, die einschließlich ihrer Definition sechs der 15 Gesetzentwürfe betreffen. Da bereits der Umweltschutz (1991) und der Sport (2002) als Staatsziele in der Landesverfassung verankert sind, werden es im Falle der Umsetzung 2018 mit der Nachhaltigkeit, der Infrastruktur, der Kultur und dem Ehrenamt insgesamt sechs Staatsziele sein. Nach den Gesetzentwürfen wird durchgängig davon ausgegangen, dass auch diese Staatsziele keine finanziellen Auswirkungen haben.282 In der 19. EKV-Sitzung am 27.11.2017 hat der Sachverständige Neskovic nachdrücklich Bedenken gegen die Aufnahme weiterer Staatsziele angemeldet, da sie den politischen Gestaltungsspielraum des Landtags einschränken.283 Damit werde ein „veritables potemkinsches Dorf “ errichtet, weil das mit ihnen jeweils gegebene Versprechen nicht eingelöst werden könne. Auch wenn die Staatsziele nicht individuell einklagbar seien, könne ihr Inhalt zukünftig durch den Staatsgerichtshof bestimmt und damit entsprechende landesverfassungsgerichtliche Vorgaben nicht ausgeschlossen werden.284 Der CDU-Obmann Heinz hat demgegenüber dargelegt, dass die Staatsziele („Mantel der Zeit“) von den Obleuten nach intensiven Gesprächen als „Leitplanken“ für die Landespolitik gesehen werden.285 Der SV Will hat in dieser Sitzung am 27.11.2017 erneut darauf hingewiesen,286 dass die Staatsziele nach unbestrittener Einschätzung keine Grundrechte und auch keine Rechte sind, so dass der vorgesehene Standort (Art.  26a–26g) inmitten von Grundrechten 287 ein Fehler sei, der korrigiert und nicht perpetuiert werden müsse.

 Offenkundig sind die 15 EKV-Mitglieder und insbesondere die fünf Obleute aufgrund ihres zwischenzeitlich erworbenen Wissens die „geborenen“ Experten für das verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren und ihnen kommt daher die Meinungsführerschaft in ihren Fraktionen zu. 282   LT-Drs. 19/5713–19/5718. 283   Neskovic hat in seinen Darlegungen auf Reimer Bezug genommen, der für den Fachbereich Rechts­w issenschaft der JLU Gießen in seinem Schreiben vom 24.9.2017 an den EKV-Vorsitzenden Banzer unter Ziffer 3 ausgeführt hat, dass sich die Einfügung neuer Staatszielbestimmungen nicht empfiehlt, „weil diese entweder leerlaufen oder – wenn ernstgenommen – zu einer Einschränkung des demokratischen Gestaltungsspielraums des Landtags, d.h. seiner partiellen Entmachtung führen“. Neskovic hat mit dessen Zustimmung auch aus einer E-Mail des ehemaligen BVerfG-Richters Landau zitiert, der die zunehmende „Juridifizierung“ des Politischen beklagt und angemerkt hat, dass die Aufnahme dieses „Sammelsuriums von Wünschen“ in die Verfassung langfristig nur den StGH stärkt. 284   Daher haben Lange/Jobs (Fn.  58), S.  4 45, 468, bereits 1997 empfohlen, die Staatsziele als Zielvorgaben zu formulieren, die noch durch den Gesetzgeber auszugestalten sind, um zu verhindern, „daß im sozial-, wirtschafts- und kulturpolitischen Bereich die Letztentscheidung von den unmittelbar politisch verantwortlichen Institutionen wie vor allem dem Parlament auf die Gerichte verlagert wird“. 285   Der Obmann Wilken der Fraktion DIE LINKE hat hinsichtlich der Staatszielerweiterungen in der Pressemitteilung vom 11.12.2017 von „Symbolpolitik“ gesprochen und in der Presseerklärung vom 15.12.2017 von einer „Politik der großen Gesten“. 286   Bereits in der 18. Sitzung hat er vorgeschlagen, die Staatsziele dogmatisch korrekt „zwischen den Teil der Grundrechte und den Staatsorganisationsteil“ zu verorten (EKV 19/18, Stenografischer Bericht vom 30.10.2017, S.  14) und damit am Ende des Ersten Hauptteils (dann: Abschnitt VII und Art.  63a ff.). 287   Der Erste Hauptteil schließt mit Art.  63 und ihm ist die Abschnittsüberschrift „VI. Gemeinsame Bestimmung für alle Grundrechte“ vorangestellt (GVBl. 1946 S.  229, 233). 281

616

Arno Wettlaufer

Im Hinblick auf die politischen Absprachen der Obleute und damit der Landtagsfraktionen kann in diesem Zusammenhang prognostiziert werden, dass es bei der Ausweitung der Staatsziele ebenso bleibt wie bei ihrer Verortung als eigener Abschnitt zwischen den Abschnitten II („Grenzen und Sicherung der Menschenrechte“) und III („Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten“). Angesichts des in der Enquetekommission bis zuletzt deutlich gewordenen politischen Willens, den „Verfassungskonvent“ diesmal zum Erfolg zu verhelfen, ist es realistisch, dass es dem Landtag und damit der Landespolitik in Hessen gelingen wird, in der verbleibenden Zeit das verfassungsändernde Gesetzespaket mit deutlicher Mehrheit der Abgeordneten zu beschließen. Es wird sich zeigen, ob das hessische Volk, das im Herbst 2018 seinen 20. Landtag wählt, auch mit großer Mehrheit dem ihm vorgelegten Paket von Verfassungsgesetzen zustimmen wird. Die Hessische Verfassung bleibt auch nach diesem „update“ 2018 das „charmante Verfassungsfossil“, das vorrangig mit Staatsziel-Versprechen angereichert worden ist und erst die Zukunft wird zeigen, ob die Änderungen von Art.  124 HV geeignet sind zur erstmaligen Ausübung der einfachgesetzlichen Gesetzgebung durch das Volk (Art.  116 Abs.  2 Buchst. a) HV).

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein von

Priv.-Doz. Dr. Werner Reutter, Universität Leipzig Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 II. Verfassungspolitik zwischen Ost- und Nordsee: eine empirische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . 620 III. Verfassungsändernde Gesetzgebung in Schleswig-Holstein und parlamentarisches Regierungssystem . 627 IV. Zwischen Rede- und Arbeitsparlament: verfassungsändernde Gesetzgebung im Schleswig-Holsteinischen Landtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 V. Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637

I. Einleitung* Verfassungen stehen zu dem, was abstrahierend mit dem Wort „Politik“ beschrieben wird, in einem ambivalenten Verhältnis. Einerseits werden Verfassungen nicht mehr nur in konstitutionalistischer Tradition als Regelsysteme zur Organisierung und Beschränkung von staatlicher Herrschaft verstanden, sondern umfassend als „Ordnung des Politischen“. Verfassungen beschreiben in diesem Verständnis die „institutionellen Bedingungen, unter denen demokratische Politik in ihrer schöpferischen Bedeutung als Medium menschlicher Problemlösungsfähigkeit wiederentdeckt und in ihr Recht eingesetzt werden kann“.1 Verfassungen sind der Politik mithin vorgelagert, sie sind Voraussetzung für „gute“ Politik. Andererseits sind Verfassungen Ergebnis politischer Prozesse und politischer Entscheidungen. Insoweit sind Verfassungen Resultat von Politik. Verfassungsfragen sind dann „Machtfragen“, was Ferdinand Lassalle schon 1862 wusste und auch der nach der Vereinigung 1990 eingerichteten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat nicht verborgen geblieben ist.2 Deswegen mag überraschen, dass genau die wissenschaftliche Dis*   Der Beitrag entstand im Rahmen eines von der DFG finanzierten Forschungsprojektes zur Verfassungspolitik in den Bundesländern (Gz: LO 1424/3-1 und LO 1424/3-2). 1   Ulrich K. Preuß, Einleitung: Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehungen zur Politik, in: ders. (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, 1994, S.  9. 2   Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen. Ein Vortrag gehalten in einem Berliner Bürger-Be-

618

Werner Reutter

ziplin, für die „Macht“ und „Herrschaft“ kategoriale Basisbegriffe darstellen, sich mit der Verfassungspolitik in den Bundesländern bislang wenig beschäftigt hat. Lediglich zur Häufigkeit von Verfassungsänderungen und teilweise zu einzelnen Inhalten wie zur Aufnahme direktdemokratischer Elemente oder der Schuldenbremse in Landesverfassungen liegen – abgesehen von aktuellen Analysen des Autors – einschlägige politikwissenschaftliche Untersuchungen vor.3 Dabei dominiert insgesamt die Auffassung, dass Landesverfassungen und damit Landesverfassungspolitik im „Schatten des Grundgesetzes“ stehen.4 Nach Horst Wuttke galt dies Anfang der 1970er Jahre auch für die Landessatzung Schleswig-Holsteins, die, so Wuttke, „in dem zunehmend größer werdenden Schatten des Grundgesetzes“5 keine Strahlkraft entwickelt habe. Landesverfassungen verfügen danach aufgrund des Homogenitätsgebotes nach Art.  28 Abs.  1 GG und den generellen Unitarisierungstendenzen im kooperativen Föderalismus deutscher Prägung keine eigenständige normative und das Verfassungsleben in den Bundesländern ordnende Kraft. Eine solche Einschätzung kollidiert jedoch mit der vom Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig entwickelten Lehre, dass Länder grundsätzlich über Verfassungsautonomie verfügen und ihre Verfassungen einen konstitutiven Beitrag für die politische Grundordnung leisten.6 Verfassungspolitik in den Bundesländern ist in dieser Perspektive also nicht nur auf die normativ-funktionale Einpassung der Landesgrundordnungen in ein übergeordnetes Verfassungsgefüge angelegt, sondern zirksverein, 16. April 1862, hier zit. nach: Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften, 1987, S.  120–147; Deutscher Bundestag, Drs. 12/6000 vom 5.11.1992. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages – Drucksachen 12/1590, 12/1670 – und Beschluß des Bundesrates – Drucksache 741/91 (Beschluß), S.  14. 3   Otmar Jung, Landesverfassungspolitik im Bundesstaat: ein listiger Umweg der Geschichte?, in: ZParl 26 (1995), S.  41–57; Johannes Rux, Die Verfassungsdiskussion in den neuen Bundesländern – Vorbild für die Reform des Grundgesetzes?, in: ZParl 23 (1992), S.  291–315; Sven Hölscheidt, Die Praxis der Verfassungsverabschiedung und der Verfassungsänderung in der Bundesrepublik, in: ZParl 26 (1995), S.  58–84; Rudolf Steinberg, Organisation und Verfahren bei der Verfassungsgebung in den Neuen Bundesländern, in: ZParl 23 (1992), S.  497–516; Werner Reutter, Verfassunggebung und Verfassungsänderungen in den Ländern, in: Jahrbuch des Föderalismus 2008. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa (2008), S.  239–253; Martina Flick, Landesverfassungen und ihre Veränderbarkeit, in: Freitag/ Vatter (Hrsg.), Die Demokratien der deutschen Bundesländer, 2008, S.  221–236; Astrid Lorenz/Werner Reutter, Subconstitutionalism in a Multilayered System. A Comparative Analysis of Constitutional Politics in the German Länder, in: Perspectives on Federalism 4 (2012), S.  141–170; Roland Sturm, Regeln die Länder ihre Haushaltspolitik neu? Reaktionen auf den Zwang zum Haushaltsausgleich durch die Föderalismusreform II, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 60 (2011), S.  165–170. 4   Markus Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, in: AöR 130 (2005), S.  350 (354); Stefan von Braunschweig, Verfassungsentwicklung in den westlichen Bundesländern, 1993. 5   Horst Wuttke, Die verfassungsrechtliche Entwicklung des Landes Schleswig-Holstein 1957 bis 1971, JöR 21 (1972), S.  361 (362); vgl. auch Horst Wuttke, Die verfassungsrechtliche Entwicklung des Landes Schleswig-Holstein vom 1.1.1972 bis zum 26.5.1979 (Ende der 8. Wahlperiode), JöR 28 (1979), S.  4 49 (450 ff.). 6   BVerfGE 4, 178; Matthias Dombert, §27 Landesverfassungen und Landesverfassungsgerichte in ihrer Bedeutung für den Föderalismus, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt. Band II, 2012, S.  19–29; Andrea Stiens, Chancen und Grenzen der Landesverfassungen im deutschen Bundesstaat der Gegenwart, 1997; Christian Pestalozza, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer mit dem Grundgesetz. 10. Aufl, 2014, S. XVII–CXLVII.

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

619

wird auch als Instrument verstanden zur symbolischen, identitäts- und integrationsbezogenen Politik auf der Ebene der Gliedstaaten.7 Daraus leitet sich unmittelbar die Frage ab nach den Faktoren, die Verfassungspolitik in den Bundesländern prägen. Die folgende Analyse der Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein will eine Antwort auf diese Frage geben.8 Im Unterschied zu den bisher im Jahrbuch veröffentlichten Untersuchungen zur Verfassungsentwicklung in Schleswig-Holstein9 liegt der Schwerpunkt der weiteren Darstellung allerdings nicht auf den angenommenen inhaltlichen Änderungen und Anpassungen. Vielmehr werden im Weiteren die Funktionsprinzipien untersucht, die die verfassungspolitische Willensbildung und Entscheidungsfindung in diesem Bundesland geprägt haben. Es geht also um die Frage, wie Verfassungsrecht in diesem Bundesland entsteht, wobei insbesondere zwei Dimensionen beleuchtet werden: der Einfluss des Parteienwettbewerbs sowie die parlamentarischen Entscheidungsverfahren. Insgesamt soll herausgearbeitet werden, inwieweit Verfassungspolitik in dem zwischen Ost- und Nordsee gelegenen Bundesland von konsens- oder von mehrheitsdemokratischen Funktionsprinzipien des politischen Systems in Schleswig-Holstein beeinflusst ist, inwieweit sich verfassungsändernde von einfachen Gesetzgebungsverfahren unterscheiden und ob das Grundgesetz die Verfassung von Schleswig-Holstein noch immer überschattet. Die Analyse erfolgt in vier Schritten: Zuerst wird eine empirische Bestandsaufnahme der Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein vorgenommen, wobei der Gegenstand der Untersuchung breit verstanden wird. In die Analyse einbezogen werden nicht nur die verabschiedeten Änderungen seit der grundlegenden Novellierung und der Neubekanntmachung der Verfassung am 13. Juni 1990; vielmehr werden alle verfassungsändernden Gesetzentwürfe berücksichtigt, die seitdem in den SchleswigHol­steinischen Landtag eingebracht wurden.10 In einem zweiten Schritt wird überprüft, ob und inwieweit sich verfassungsändernde Gesetzgebung in Schleswig-Holstein in die Funktionsprinzipien parlamentarischer Regierungssysteme und dem damit zusammenhängenden mehrheitsdemokratischen Parteienwettbewerb einordnen lässt. Drittens wird untersucht, ob und inwieweit sich in diesem Politikfeld spezifi  Hans Vorländer, Verfassungstheorie und Transitionsprozess. Der (ost-)deutsche Konstitutionalismus, in: Lorenz (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften, 2011, S.  75–98; Astrid Lorenz, Politische Institutionen: Die ostdeutschen Landesverfassungen als dynamische Integrationsstifter, in: dies. (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften, 2011, S.  75–98. 8   Der Beitrag schließt in Auf bau und analytischer Perspektive an weitere Untersuchungen des Autors an: Werner Reutter, Sächsische Verfassungspolitik, in: Jahrbuch des Föderalismus 2014. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, (2014), S.  255–268; Werner Reutter, Bayerische Verfassungspolitik, in: Jahrbuch des Föderalismus 2015. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, (2015), S.  215–227; Werner Reutter, Verfassungsgesetzgebung in Brandenburg, in: ZParl, 46 (2015), S.  108–127; Werner Reutter, Constitutional Politics in East Germany and the Grand Coalition State, in: Perspectives on Federalism 8 (2016), S.  23–44; Werner Reutter, The Changeableness of Subnational Constitutions: A Qualitative Comparative Analysis, in: Government and Opposition. Zuerst online veröffentlicht am 9. Januar 2017: DOI: https://doi.org/10.1017/gov.2016.45; Werner Reutter/Astrid Lorenz, Explaining the Frequency of Constitutional Change in the German Länder: Institutional and Party Factors, in: Publius: The Journal of Federalism 46 (2016), S.  103–127. Online veröffentlicht am 16. November 2015. DOI:10.1093/publius/pjv041. 9   Vgl. dazu Wuttke (Fn.  5 ), S.  361–382; Wuttke (Fn.  5 ), S.  4 49–468; Hans-Peter Bull, Die Verfassungsentwicklung in Schleswig-Holstein seit 1980, in: JöR 51 (2003), S.  489–512. 10   Vgl. für die 14. Wahlperiode bis 2000 auch: Bull (Fn.  9 ), S.  506 ff. 7

620

Werner Reutter

sche parlamentarische Entscheidungsmuster durchgesetzt haben. Abschließend wird auf Grundlage der dargestellten Befunde diskutiert, inwiefern Willensbildungs- und Entscheidungsfindung in diesem Politikfeld eher konsens- oder eher mehrheitsdemokratischen Mustern entsprochen hat und ob bundespolitische Einflüsse die Verfassungsentwicklung in Schleswig-Holstein prägen konnten.11

II.  Verfassungspolitik zwischen Ost- und Nordsee: eine empirische Bestandsaufnahme Seit ihrem Inkrafttreten am 13. Dezember 1949 ist die Verfassung von Schleswig-Holstein, die damals noch Landessatzung hieß,12 26 Mal geändert worden, zuletzt mit Gesetz vom 16. Dezember 2016. Darunter fällt auch die nach der Barschel/ Pfeiffer-Affäre 1987/8813 verabschiedete umfassende Novellierung, die in der 12. Wahlperiode am 13. Juni 1990 in Kraft getreten ist und in deren Zuge die Landessatzung in Landesverfassung umbenannt wurde.14 Die Umwandlung der „Ministerpräsidenten-“ in eine „Parlamentsverfassung“ war eine Zäsur in der Verfassungsentwicklung Schleswig-Holsteins.15 Sie ließ die Anzahl verfassungsändernder Gesetze aber keineswegs sinken (Tabelle 1). Während von der 1. (1947/50) bis zur 11. WP (1987/88) mit 7 Verfassungsnovellen 15 Artikel aufgehoben, eingefügt oder neu gefasst wurden, wurden in den sechs Wahlperioden, die der Neufassung 1990 folgten, 18 verfassungsändernde Gesetze verabschiedet16 und 50 Artikel novelliert. Bis zur Verfassungsreform wurde somit alle 6,1 Jahre die Verfassung und alle 2,7 Jahre ein Artikel geändert, nach der Reform erhöhte sich die Frequenz auf 2,4 bzw. 0,5 Jahre. Eine solche verfassungspolitische Dynamik findet sich in ähnlicher Weise in anderen – wenn auch keineswegs in allen – Bundesländern.17 Allerdings drückt sich in diesen Änderungen lediglich ein Teil der Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein 11   Erhoben wurden die für die Analyse erforderlichen Daten über die digitale Parlamentsdokumentation des Landtages Schleswig-Holstein: das Landtagsinformationssystem (LIS-SH). Vorgegangen wurde dabei wie folgt: In die Suchmaske eingegeben wurde unter den Suchbefehl „Typ“ der Begriff: „Gesetzentwurf “ (Dokumenttyp und Vorgangstyp), und unter den Suchbefehl „Thema“ der Begriff „Verfassung des Landes Schleswig-Holstein“ (Haupteintrag); die darauf hin angezeigten Vorgänge wurden entsprechend durchgesehen und ausgewertet. 12   Karl Mannzen, Die Landessatzung für Schleswig-Holstein, in: JöR 6 (1957), S.  251–283; Sybille Waller, Die Entstehung der Landessatzung von Schleswig-Holstein vom 13.12.1949, 1988. 13   Josef Schmid, Die „Kieler Affäre“: Symptome eines deformierten Regierungssystems, Tat eines Einzelnen oder Kulminationspunkt einer schleswig-holsteinischen Sonderentwicklung?, in: ZParl 19 (1988), S.  495–505; Bull (Fn.  9 ), S.  490 ff. 14  Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.), Eine neue Verfassung für Schleswig-Holstein, 1990. 15   Kurt Hamer, Von der „Ministerpräsidenten-Verfassung“ zur „Parlaments-Verfassung“, in: Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Hrsg.), Eine neue Verfassung für Schleswig-Holstein, 1990, S.  9 –20; Bull (Fn.  9 ), S.  489 ff. 16   Die Neufassung der Verfassung vom 13. Juni 1990 erfolgte in der 12. Wahlperiode (1988/92); die 13. Wahlperiode umfasste die Jahre 1992 bis 1996, die 14. WP die Jahre 1996 bis 2000, die 15. WP die Jahre 2000 bis 2005; die 16. WP die Jahre 2005 bis 2009; die 17. WP die Jahre 2009 bis 2012 und die 18. WP die Jahre 2012 bis 2017. 17   Vgl. dazu die Quellen in Fn.  8 sowie Lorenz/Reutter (Fn.  3 ).

621

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

Tabelle 1:  Verfassungsänderungen in Schleswig-Holstein (13. bis 18. WP). Antragstellera)

Drs. Nr.

Themen im Entwurf

Gesetz vom

Geänderte Artikel

CDU (O)

14/519

Staatsziele (Förderung Kunst, Sport etc.), Konnexitätsprinzip

20.03.1998

9, 46,49

CDU (O)

14/981

Größe des Landtags, Verlängerung Wahlperiode

11.03.1998

13

SPD, CDU (R+O)

14/1425

Neuwahl des Landtages bei verlängerter Wahlperiode

27.09.1998

13

SPD, CDU, SSW, FDP, Grüne (R+O)

15/980

Eingaben/Petitionen

16.05.2003

17, 19

CDU, SPD, Grüne, FDP, SSW (R+O)

15/1786

Neuwahl des Landtages; Wahlperiode

23.10.2002

13, 59a

SPD, Grüne (R)

15/2154

Volksinitiative und -entscheid

14.02.2004

41, 42

SPD, CDU (R+ O)

15/2578 (neu)

Landtag (Größe; Entschädigung) 13.05.2003

10

CDU, SPD (R)

16/656

Staatsziele (Pflegebedürftige Menschen), Opposition, Informationspflichten LReg, Landesverfassungsgericht

17.10.2006

3, 23, 40, 42, 5a, 59b, 59c, 12, 22, 44

FDP, Grüne, SSW (O)

16/1291

Kinder- und Jugendschutz

20.07.2007

6a

CDU, SPD, Grüne, FDP, SSW (R+O)

16/1817

Geltung der Grundrechte des GG 18.03.2008

2a

CDU, FDP (R)

17/193

Schuldenbremse

22.07.2010

49, 53, 59a

CDU, SPD, FDP, 17/995 Grüne, SSW (R+O)

Kinder- und Jugendschutz

18.01.2011

6a

CDU, FDP (R)

Wahlrecht

29.03.2011

10

SPD, Grüne, SSW, 18/93 FDP, Piraten (R+O)

Staatsziel Minderheitenschutz

28.12.2012

5

SPD, CDU, FDP, 18/283 Grüne, SSW (R+O)

Staatsziel Tierschutz

20.02.2013

7

CDU, SPD, FDP, 18/2115 Grüne, SSW, Piraten (R+O)

Staatsziele (Inklusion, Digitale 12.11.2014 Basisdienste, Transparenzgebot), Klagen vor Bundesverfassungsgericht etc.

Präambel, 7, 12, 14, 15, 23, 25, 30, 46, 49, 52, 53, 62, 66, 59, 59c, 69

SPD, Grüne, SSW (R)

Landesverfassungsgericht

14.06.2016

51

SPD, Grüne, SSW, 18/4622 Landesverfassungsgericht FDP, Piraten (R+O)

16.12.2016

51

a)

17/1081

18/3539

R = Regierungsfraktion, O = Oppositionsfraktion; SSW = Südschleswigscher Wählerverband. Quelle: eigene Zusammenstellung; Landtag Schleswig-Holstein; Landtagsinformationssystem, http://lissh.lvn.parlanet.de/shlt/start.html (Zugriff: 15. Mai 2017).

622

Werner Reutter

Tabelle 2:  Landtag Schleswig-Holstein: verfassungsändernde Gesetzesinitiativen (13. bis 18. WP). Regierung Regierungs­ Oppositions­ Regierungs- u. Oppo- Volks­ Alle fraktionen fraktionen sitionsfraktionen initiativen Erfolgreiche 0 5 3 10 0 18 Initiativen 0 3 26 5 4 38 Gescheiterte Initiativena) Alle 0 8 29 15 4 56 a)

Als gescheitert gelten alle Initiativen, die nicht angenommen, also abgelehnt und zurückgezogen wurden oder sich in anderer Weise erledigten; darunter fallen auch Entwürfe, die in anderen Verfahren aufgegangen sind. Quelle: eigene Erhebung und Zusammenstellung; Landtagsinformationssystem Schleswig-Holstein.

aus. Im Weiteren werden daher zuerst alle verfassungsändernden Gesetzgebungsinitiativen beschrieben, die in den letzten sechs Wahlperioden in den Landtag Schleswig-Holstein eingebracht wurden (a); sodann werden die inhaltlichen Profile von angenommenen und abgelehnten Gesetzentwürfen verglichen (b), um schließlich herauszuarbeiten, inwieweit sich fraktionsspezifische Muster erkennen lassen (c). (a) Der Landtag Schleswig-Holstein behandelte zwischen Juli 1990 und Juli 2017 insgesamt 56 verfassungsändernde Gesetzentwürfe, d.h. mehr als 9 pro Wahlperiode (Tabellen 2 und 3).18 Angenommen wurden davon 18; mehr als doppelt so viele Entwürfe – nämlich 38 – wurden abgelehnt, fanden nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit, wurden zurückgezogen oder erledigten sich in anderer Weise. Die meisten Entwürfe stammten von Landtagsfraktionen.19 Weder Landesregierungen noch das „Volk“ waren formal Ausgangspunkte von Verfassungsänderungen. Zudem fällt auf, dass – mit Ausnahme der Volksinitiativen – die unterschiedlichen Antragskonstellationen in Erfolgen ebenso wie in Misserfolgen endeten. Abgesehen von der 13. Wahlperiode (1992/96), die der Verfassungsnovelle von 1990 unmittelbar folgte und bei der noch kein Änderungsbedarf erkennbar war, zeigt sich dieses Muster in ähnlicher Weise in allen untersuchten Wahlperioden. Landesregierungen wurden in diesem Politikfeld nie gesetzgeberisch aktiv, die wenigen Volksinitiativen blieben allesamt erfolglos, und stets brachten Regierungs- und Oppositionsfraktionen sowohl getrennt als auch gemeinsam verfassungsändernde Gesetzentwürfe ein. Wie in anderen Bundesländern ist somit auch in Schleswig-Holstein Verfassungspolitik ein dezi  Berücksichtigt sind nur die Gesetzgebungsverfahren initiierenden Entwürfe; Änderungs- oder Ergänzungsanträge, die im Laufe eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens eingebracht wurden, bleiben unberücksichtigt. 19   Nach §  22 der GO können sich vier Abgeordnete, die derselben Partei angehören, zu einer Fraktion zusammenschließen; der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der die dänische Minderheit in Schleswig sowie die nationalen Friesen in Nordfriesland vertritt, erfüllte nur in der 16. Wahlperiode diese Voraussetzung, doch stehen den Abgeordneten der dänischen Minderheit gemäß §  22 Abs.  4 GO die Rechte einer Fraktion prinzipiell zu. Der SSW wird daher im Weiteren wie andere Fraktionen behandelt. 18

623

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

Tabelle 3:  Landtag Schleswig-Holstein: verfassungsändernde Gesetzentwürfe. 13. WP

14. WP

15. WP

16. WP

17. WP

18. WP



Anzahl der Fraktionen a)

5

5

5

5

6

6



Anzahl der eingebrachten Gesetzentwürfe

7

7

7

9

10

16

56

–  Von Oppositionsfraktionen

6

4

1

6

6

6

29

–  Von Regierungsfraktionen

0

1

2

2

2

1

8

–  Regierungs- und Oppositionsfraktionen

0

1

3

1

1

9

15

– Volksinitiativen

1

1

1

0

1

0

4

Anzahl der verabschiedeten Gesetze

0

3

4

3

3

5

18

–  Von Oppositionsfraktionen



2

0

1

0

0

3

–  Von Regierungsfraktionen





1

1

2

1

5

–  Regierungs- und Oppositionsfraktionen



1

3

1

1

4

10

Anzahl aller Artikel in Entwürfen

7

25

15

25

13

66

151

Anzahl der geänderten Artikel



5

7

12

5

21

50

WP

a)

Einschließlich SSW. Quelle: eigene Erhebung; Schleswig-Holsteinischer Landtag, Landtagsinformationssystem, http://lissh.lvn.parlanet.de/shlt/start.html (Zugriff: 15. Mai 2017).

diert parlamentslastiges Politikfeld, in dem – zumindest prima facie – sich die Funktionsprinzipien des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates Geltung verschafften. Der Landtag hatte in der Verfassungspolitik in allen drei Stadien eines Gesetzgebungsverfahrens das Monopol oder zumindest ein quasi-Monopol: in der Entwurfsphase (mit Ausnahme der Volksinitiativen), in der Beratungsphase (mit Ausnahme der öffentlichen Anhörungen) und in der Beschlussphase. (b) Die 56 eingebrachten Gesetzentwürfe repräsentieren einen umfassenden Änderungsanspruch (Tabellen 3 und 4). Mit ihnen wurde die Einfügung, Änderung oder Streichung von insgesamt 151 Artikeln angestrebt; da einzelne Artikel mehrfach in Entwürfen aufgeführt sind, war letztlich die Änderung von 47 Artikeln der Schleswig-Holsteinischen Verfassung das Ziel der Gesetzentwürfe. Die weitreichendsten Novellen wurden in der 16. und 18. Wahlperiode verabschiedet. Mit Gesetz vom 17. Oktober 200620 wurde u.a.: ein neues Staatsziel in die Verfassung aufgenommen (Schutz und Förderung pflegebedürftiger Menschen; Art.  5a SchlHVerf alt), die Voraussetzungen für die Errichtung eines Landesverfassungsgerichtes geschaffen (Art.  44 SchlHVerf alt), die Informationspflichten der Landesregierung ausgeweitet und präzisiert (Art.  22 Abs.  1 SchlHVerf alt), und es wurde festgelegt, welche Frak­t ion Oppositionsführerin ist (Art.  12 Abs.  2 SchlHVerf alt).

20  Gesetz vom 17.10.2006; Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 2006, Nr.  12, S.  220–221.

624

Werner Reutter

Tabelle 4:  Verfassungsändernde Gesetzentwürfe im Landtag Schleswig-Holstein: betroffene Abschnitte.21 Anzahl der Artikel, die geändert werden solltenb) Abs.

(%)

Anzahl der Artikel, die geändert wurden Abs.

(%)

Grundlagen öffentlicher Ordnung – Präambel

7

(4,6)

1

(2,0)

–  Grundlagen (Art.  1 und 2) a)

0

(0,0)

0

(0,0)

– Grundrechte, Staatsziele, Gemeinschaftsleben (Art.  3 –15)

39

(25,8)

12

(24,0)

–  Landtag (Art.  16–32)

34

(22,5)

13

(26,0)

–  Regierung (Art.  33–43)

11

(7,3)

0

(0,0)

–  Gesetzgebung (Art.  4 4–49) c)

10

(6,6)

6

(12,0)

– Rechtspflege/Verfassungsgericht (Art.  50 und 51)

10

(6,6)

4

(8,0)

– Verwaltung und kommunale Selbstverwaltung (Art.  52–57)

14

(9,3)

4

(8,0)

Staatsorgane

Staatsfunktionen

–  Haushaltswesen (Art.  58–65)

11

(7,3)

2

(4,0)

Übergangs- und Schlussbestimmungen (Art.  66–70)

15

(9,9)

8

(16,0)

151d)

100,0

50

100,0

Gesamt a)

Mit Gesetz vom 12. November 2014 wurden die Artikel der Verfassung neu nummeriert; die Tabelle beruht auf der aktuellen Fassung; b) mehrere Artikel sollten mehrfach geändert werden, sie wurden auch mehrmals gezählt; c) einschließlich Volksgesetzgebung und Volksinitiativen; d) in den Drs. 18/2361, 18/2116 und 18/2115 werden mit Ausnahme des Art.  69 dieselben Artikel zur Änderung vorgeschlagen; da die Anträge von unterschiedlichen Fraktionen eingebracht wurden, wurden die genannten Artikel mehrfach gezählt. Quelle: eigene Erhebung; Landtagsinformationssystem des Schleswig-Holsteinischen Landtages; http://lissh.lvn.parlanet.de/shlt/start.html. (Zugriff: 15.1.2017).

Acht Jahre später wurde die Verfassung erneut den Zeitläuften angepasst, indem eine Reihe von Staatszielen und sozialen Grundrechten (Inklusion, Digitalisierung, Transparenzgebot) aufgenommen wurde und die Artikel neu nummeriert wurden.22 Besonders umstritten war in diesem Kontext die Frage, ob die Verfassung einen Gottesbezug enthalten sollte. Dies war Gegenstand mehrerer Gesetzentwürfe und Anliegen einer Volksinitiative, die im Nachgang zu der Verfassungsänderung 2014 im 21  Der Auf bau der Landesverfassung von Schleswig-Holstein umfasst die Abschnitte: Land und Volk, Landtag, Landesregierung, Gesetzgebung, Volksinitiativen, -begehren und -entscheid, Rechtsprechung, Verwaltung, Haushaltswesen sowie Übergangs- und Schlussbestimmungen (Tabelle 4). 22  Gesetz vom 12.11.2014; Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 2014, Nr.  27, S.  328–330.

625

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

Tabelle 5:  Landtag Schleswig-Holstein: verfassungsändernde Gesetzentwürfe (13. bis 18. WP). CDU SPD

Alle Gesetzentwürfe a)

21

25

FDP

20

B90/ SSW Grüne 26

21

Linke Piraten DVU/ Volks­ Gesamt a) DLVH initia­ tive 1

7 2

4

4

56

Eingebracht von –  1 Fraktion/Gruppe

7

2

5

2

1



–  2 Fraktionen

5

7

1

5

1



4



23





–  3 und mehr Fraktionen

9

16

14

19

19

1

10

5





Oppositionsfraktion/enb)

6

6

7

9

7

19



2





29

Regierungsfraktion/enc)

3

5

2

4

1









8

Oppositions- und Regierungsfraktionen

12

14

12

13

13

1

5





15

Anzahl genannter Artikeld)

80

79

47

84

66

1

40

4

4

151

a)

Die von mehreren Fraktionen gemeinsam eingebrachten Entwürfe wurden bei jeder Fraktion gesondert gezählt, deswegen weichen die Zeilensummen von der in der Tabelle genannten Gesamtanzahl ab, die zudem Volksinitiativen einschließt; b) alle Gesetzentwürfe, bei denen die genannte Fraktion bzw. alle Initiatoren in der Opposition waren; c) alle Gesetzentwürfe, bei denen die genannte Fraktion bzw. alle Initiatoren Regierungsfraktionen waren; d) Anzahl der in den Gesetzentwürfen zur Änderung vorgeschlagenen Verfassungsartikel. Quelle: eigene Erhebung; Landtagsinformationssystem (Zugriff: 15.6.2017).

Landtag verhandelt wurden.23 Alle Anträge und Initiativen scheiterten am notwendigen Quorum. Auch die Unterstützung des in der 18. Wahlperiode amtierenden Ministerpräsidenten, Torsten Albig, der für die Aufnahme des Gottesbezuges in die Präambel eintrat, konnte die notwendige Mehrheit nicht sicherstellen.24 Vielmehr stimmten am 22. Juli 2016 im Landtag lediglich 45 der in der Sitzung anwesenden 68 Abgeordneten für den Entwurf; notwendig gewesen wären 46 Ja-Stimmen. Ansonsten betrafen die Entwürfe alle Abschnitte der Verfassung. Besonders häufig genannt in den Entwürfen waren die Abschnitte über Grundrechte, Staatsziele und Gemeinschaftsleben, über den Landtag sowie die Übergangs- und Schlussbestimmungen (Tabelle 4). (c) Untersucht man die Initiativen nach dem Antragsverhalten der Fraktionen, fällt auf, dass, abgesehen von DVU bzw. DLVH,25 alle Fraktionen grundsätzlich als Partner in Frage kommen. So wurden von 52 verfassungsändernden Gesetzentwürfen (ohne Volksinitiativen) die Mehrzahl, nämlich 29, von mindestens 2 Fraktionen gemeinsam eingebracht (Tabelle 5). Und alle Fraktionen waren an mindestens einem Entwurf beteiligt, der von einer weiteren Fraktion unterstützt wurde (erneut ausgenommen DVU/DLVH). Das gilt auch für die Linkspartei, die – für eine neu im   Schleswig-Holsteinischer Landtag, Antrag Volksinitiative, Drs. 18/3648 vom 3.12.2015.   Schleswig-Holsteinischer Landtag, PlPr 18/125 (neu) vom 22. Juli 2016, S.  10492. 25   Der rechtsextremistischen Deutschen Liga für Volk und Heim (DLVH) traten im Laufe der 13. WP vier ehemalige DVU-Abgeordnete bei, was ihr vorübergehend einen Fraktionsstatus verschaffte. Noch vor Ende der Wahlperiode verließ ein Abgeordneter die DLVH wieder. 23 24

626

Werner Reutter

Landtag vertretene Oppositionspartei ungewöhnlicherweise – nur an einem verfassungsändernden Gesetzentwurf beteiligt war, mit dem neben der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe auch der „Minderheit der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit“ ein „Anspruch auf Schutz und Förderung“ eingeräumt werden sollte.26 Allerdings scheiterte der von SPD, SSW, Linken und B90/ Grüne eingebrachte Entwurf, weil sich die Abgeordneten von CDU und FDP in der Schlussabstimmung am 29. Juni 2011 geschlossen enthielten.27 Eine mit dem damaligen Entwurf wortgleiche Änderung der Verfassung erfolgte jedoch zwei Jahre später, als SPD, B90/Grüne, SSW, Piraten und FDP gemeinsam einen Gesetzentwurf einbrachten, der vom Plenum am 14. November 2012 „einstimmig“ angenommen wurde.28 Bemerkenswert ist auch die hohe Akzeptanz, die die Piratenpartei in der 18. WP in diesem Politikfeld erfahren hat. Sie war an fünf Vorlagen beteiligt, die von Regierungsfraktionen unterstützt wurden. Insgesamt zeigt die empirische Bestandsaufnahme, dass Landesverfassungspolitik sowohl quantitativ als auch qualitativ ein relevantes Politikfeld in Schleswig-Holstein darstellt. Die Verfassung war mit Ausnahme der Wahlperiode, die der Reform 1990 unmittelbar folgte, in jeder gewählten Volksvertretung mehrfach Gegenstand parlamentarischer Deliberation und Entscheidung. Alle seit 1992 im Landtag vertretenen Parteien brachten mindestens einen verfassungsändernden Gesetzentwurf ein. Folglich findet das in parlamentarischen Debatten immer wieder vorgebrachte Argument, Verfassungen könnten nur dann ihre Ordnungs- und Integrationsfunktion erfüllen, wenn sie möglichst wenig und selten geändert werden, in der politischen Wirklichkeit keinen Beleg. Hinzu kommt, dass auch ein großer Teil der eingebrachten und verabschiedeten Entwürfe sich auf die politische Ordnung des Bundeslandes bezog. Mit Ausnahme der Aufnahme der Schuldenbremse und des Staatszieles des Kinder- und Jugendschutzes29 waren die Verfassungsänderungen nicht bestimmt oder überformt von bundesrechtlichen oder grundgesetzlichen Vorgaben. Sie betrafen landespolitische Angelegenheiten oder übersetzten weltanschauliche Vorstellungen der im Landtag vertretenen Parteien in verfassungsrechtliche Vorgaben. Die Verfassungsänderungen von Schleswig-Holstein standen folglich keineswegs im Schatten des Grundgesetzes.

 Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 17/268 vom 11.2.2010; PlPr. 17/50 vom 29.6.2011, S.  4347. 27   Schleswig-Holsteinischer Landtag, PlPr 17/50 vom 29.6.2011, S.  4347. 28   Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 18/93 (neu 2. Fassung) vom 22.8.2012; PlPr. 18/10 vom 14.11.2012, S.  636–637. 29   Gesetz vom 22. Juli 2010; Gesetz- und Verordnungsblatt von Schleswig-Holstein 2010, Nr.  15, S.  550; vgl. auch: Astrid Lorenz, Rights of Minors and Constitutional Politics in the German Länder. Legal Framework, Party Strategies, and Constitutional Amendments, in: Perspectives on Federalism 7 (2015), S.  1–29. 26

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

627

III.  Verfassungsändernde Gesetzgebung in Schleswig-Holstein und parlamentarisches Regierungssystem Auf Bundesebene gilt Verfassungspolitik als idealtypisches Beispiel für die Funktionsweise des „Staates der Großen Koalition“. Änderungen des Grundgesetzes verlangen eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat und privilegieren folglich konsensdemokratische Entscheidungsmodi. Der „Staat der Großen Koalition“ gründet somit nicht in einer spezifischen Regierungskonstellation, sondern beschreibt eine institutionelle Struktur, die auf Kompromiss und Konsens angelegte Entscheidungsverfahren evoziert.30 Verfassungspolitik ist mithin „consensual politics“; sie entspricht im internationalen Vergleich einem „pragmatic model“, das in der „amending formula, or a consensual political culture, or both“ seine Basis findet.31 Für die Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein kann diese Einordnung schon deswegen nicht gelten, weil der Landtag ein unikamerales Legislativorgan ist. Weder begrenzen in diesem Politikfeld eine zweite Parlamentskammer noch ein Landesverfassungsgericht als effektive Vetospieler die Gestaltungsmacht des Landtags.32 Dennoch gilt: Die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit schließt mehrheitsdemokratisches Durchregieren in diesem Bereich aus. Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein sollte folglich ebenfalls Ergebnis von „consensual politics“ sein. Die weitere Analyse wird gleichwohl deutlich machen, dass die Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein keineswegs ausschließlich geprägt war von konsensdemokratischen Imperativen. Vielmehr verschafften sich in diesem Politikfeld auch Funktionsprinzipien parlamentarischer Regierungssysteme und des Parteienwettbewerbs, also mehrheitsdemokratische Elemente, wirkmächtig Geltung. Anders gesagt: verfassungsändernde Gesetzgebung sollte ähnliche Muster aufweisen wie einfache Gesetzgebung. Und der systematische Vergleich verdeutlicht, dass Verfassungsgesetzgebung im Ergebnis lediglich eine „Fortsetzung des normalen politischen Prozesses mit anderen Mitteln“ darstellt 33 und sie sich nicht grundsätzlich von einfacher Gesetzgebung unterscheidet, die vier Merkmale aufweist:34 – Erstens, in parlamentarischen Regierungssystemen ist die politische Exekutive in legislatorischer Hinsicht aktiv und erfolgreich, d.h. Regierungen bringen viele Gesetzentwürfe ein, die angenommen werden.   Manfred G. Schmidt, Germany: The Grand Coalition State, in: J.M. Colomer (Hrsg.), Compara­ tive European Politics, 3.  Aufl., 2008, S.  58–93; Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands: Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, 2011, S.  4 44 ff.; vgl. auch: Werner Reutter, Verfassungspolitik in Baden-Württemberg: Ergebnis konsensdemokratischer Zwänge oder „normale Politik mit anderen Mitteln“?, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 25 (2016), S.  131–152. 31   Xenophon Contiades/Almene Fotiadou, Models of Constitutional Change, in: Contiades (Hrsg.), Engineering Constitutional Change, 2013, 417 (445). 32   Bis zur Errichtung des Landesverfassungsgerichtes Schleswig-Holstein 2008, konnte das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsstreitigkeiten angerufen werden, vgl. dazu: Martina Flick Witzig, Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht, in: Reutter (Hrsg.), Landesverfassungsgerichte, 2017, 371–388. 33   Andreas Busch, Verfassungspolitik: Stabilität und permanentes Austarieren, in: Schmidt/Zohln­ höfer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, 2006, 33 (51); Reutter (Fn.  30). 34   Vgl. dazu: Reutter (Fn.  30), S.  139 f. 30

628

Werner Reutter

– Zweitens, Mehrheitsfraktionen sind zwar ebenfalls erfolgreich mit ihren Initiativen, bringen aber in der Regel nur wenige Gesetzentwürfe ein. – Drittens, Oppositionsfraktionen sind – vereinfacht gesagt – in legislativer Hinsicht das genaue Gegenteil von Mehrheitsfraktionen, d.h. sie sind aktiv und meist erfolglos, bringen also viele Gesetzentwürfe ein, die nur in Ausnahmefällen eine Mehrheit finden. – Viertens, lagerübergreifende Initiativen sind die Ausnahme, werden aber – wenig überraschend – meist angenommen. Grundsätzlich entspricht das Verhalten der Akteure im Schleswig-Holsteinischen Landtag diesen auch in anderen Bundesländern zu findenden Mustern (Tabelle 6). Landesregierungen sowie Mehrheits- und Oppositionsfraktionen verhalten sich also gemäß den theoretisch abgeleiteten Erwartungen. Auch Verfassungsgesetzgebung entspricht weitgehend diesen Vorgaben, obschon die „amending formula“ aufgrund des Mehrheitserfordernisses verfassungspolitische Entscheidungen in Schleswig-Holstein als konsensdemokratisch qualifiziert. Eine Änderung der Landesverfassung kann nur mit einem Gesetz erfolgen, das den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich ändert oder ergänzt. Eine „Ewigkeitsklausel“ wie im Grundgesetz oder in anderen Landesverfassungen besteht nicht. Notwendig für die Annahme eines verfassungsändernden Gesetzes ist eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages (Art.  40 Abs.  1 und 2 SchlHVerf ) oder – im Rahmen der Volksgesetzgebung – von zwei Dritteln der Abstimmenden, die jedoch mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten ausmachen müssen (Art.  42 Abs.  4 Satz  2 SchlHVerf ). Letzteres ist noch nicht praktisch relevant geworden. Verfassungsgesetzgebung ist in Schleswig-Holstein strikt repräsentativ und ausschließlich Parlamentsgesetzgebung. Unbeschadet des erhöhten Mehrheitserfordernisses zeigt sich, dass Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein vor allem „Oppositionsstrategie“ war. Dies wird deutlich, wenn einfache und verfassungsändernde Gesetzgebung in den letzten sechs abgeschlossenen Wahlperioden im Schleswig-Holsteinischen Landtag verglichen werden. Dann kann herausgearbeitet werden, dass das hier untersuchte Politikfeld, das als Musterbeispiel konsensdemokratischer Entscheidungsfindung gilt, auch durch Funktionsprinzipien landesparlamentarischer Regierungssysteme und dem damit verknüpften Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition gekennzeichnet ist.35 Üblicherweise bringt, wie erwähnt, in landesparlamentarischen Regierungssystemen die politische Exekutive die meisten Gesetzentwürfe ein. Die Regierung verfügt über das demokratische Mandat sowie über die Ressourcen, Gesellschaft zielorientiert zu gestalten und die dafür notwendigen Normengefüge auszuarbeiten. Regierungen besitzen daher im Bund ebenso wie in den Ländern eine gestaltende und initiierende Rolle.36 Spätestens mit der „großen Verfassungsreform“ von 1990 waren auch in Schleswig-Holstein die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für ein sol35  Vgl.: Werner J. Patzelt, Ein latenter Verfassungskonflikt? Die Deutschen und ihr parlamentarisches Regierungssystem, in: PVS 39 (1998), S.  725–727; Werner Reutter, Transformation des „neuen Dualismus“ in Landesparlamenten: Parlamentarische Kontrolle, Gewaltengliederung und Europäische Union, in: Eberbach-Born/Kropp/Stuchlik/Zeh (Hrsg.), Parlamentarische Kontrolle und Europäische Union, 2013, S.  255–284. 36  Vgl. dazu Werner Reutter, Zur Zukunft des Landesparlamentarismus. Der Landtag Nordrhein-Westfalen im Bundesländervergleich, 2013, S.  63 ff.; Sieg fried Mielke/Werner Reutter (Hrsg.), Lan-

629

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

Tabelle 6:  Gesetzgebung im Landtag Schleswig-Holstein (13.–18. WP; 1992–2017). Alle Gesetze (13.–18.WP) Verfassungsändernde Gesetze Abs.

%

Abs.

%

Entwürfe von Regierung

628

53,8 a)

0

0,0

–  Davon verabschiedet

607

96,7

0

0,0

Entwürfe aus dem Landtag b)

532

45,5a)

52

92,9a)

–  Davon verabschiedet

227

42,7

18

34,6

8

0,7a)

4

7,1a)

1

12,5

0

0,0

29

51,8 a)

Volksinitiativen –  Davon verabschiedet a)

a)

337

28,9

55

16,3

3

10,3

129

11,0

a)

8

14,3a)

110

85,3

5

62,5

Entwürfe von Regierungs- und Oppositionsfraktionen a)

66

a)

5,7

15

26,8 a)

–  Davon verabschiedet

62

93,9

10

66,7

Alle eingebrachten Gesetzentwürfe

1168

100,0

56

100,0

–  Davon verabschiedet

835

71,5

18

32,7

Entwürfe von Oppositionsfraktionen –  Davon verabschiedet Entwürfe von Regierungsfraktionen

a)

–  Davon verabschiedet

a)

b)

Anteil an allen Gesetzentwürfen; einschließlich Anträge von einzelnen Abgeordneten. Quelle: eigene Erhebung; Landtagsinformationssystem; Schleswig-Holsteinischer Landtag Drs. 13/3420 vom 23.4.1996, 14/2738 vom 28.3.2000, 15/3987 vom 17.3.2005, 16/2885 vom 27.10.­ 2009, 17/2536 vom 22.6.2012.

ches Regierungssystem vorhanden. In Schleswig-Holstein haben sich die Imperative parlamentarischer Regierungssysteme bereits darin niedergeschlagen, dass die Landesregierungen zwischen 1992 und 2017 die meisten Gesetze, nämlich 53,8 Prozent, in den Landtag einbrachten (Tabelle 6). Abgesehen von acht Volksinitiativen, stammten 45,5 Prozent der Entwürfe aus dem Landtag selbst, was im Vergleich mit anderen Landesparlamenten einen überdurchschnittlich hohen Anteil darstellt.37 Bedeutender ist in diesem Zusammenhang, dass die Landesregierungen mit ihren Entwürfen ganz überwiegend erfolgreich waren. Denn über 96 Prozent ihrer Entwürfe wurden vom Landtag angenommen. In dieser Hinsicht erfüllen Landtag und Landesregierungen in Schleswig-Holstein die Erwartungen, die sich aus den Funktionsprinzipien und der Rollenverteilung in parlamentarischen Regierungssystemen ergeben und die sich auch in anderen Bundesländern in ähnlicher Weise finden.38 Die Verfassungspolitik funktioniert allerdings in dieser Hinsicht nach anderen Regeln. Landesregierungen brachten in den letzten sechs abgelaufenen Wahlperioden desparlamentarismus. Geschichte – Struktur – Funktionen, 2012; für den Bundestag vgl. Wolfgang Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 2012. 37   Vgl. dazu: Reutter (Fn.  36) S.  63 ff. 38   Vgl. dazu: Werner Reutter, Föderalismus, Parlamentarismus und Demokratie. Landesparlamente im Bundesstaat, 2008, S.  230 ff.

630

Werner Reutter

keinen einzigen verfassungsändernden Gesetzentwurf ein (Tabelle 6). Diese legislatorische Passivität der Landesregierungen in diesem Politikfeld setzte sich bei allen Regierungskonstellationen und Mehrheitsverhältnissen durch. Unabhängig davon, ob eine Partei allein regierte (1992 bis 1996 die SPD), ob eine der beiden Volksparteien eine kleine Koalition anführte (1996 bis 2000, 2000 bis 2005 und 2012 bis 2017 die SPD und 2009/12 die CDU) oder ob eine große Koalition amtierte (2005 bis 2009), nie brachte ein Kabinett einen verfassungsändernden Gesetzentwurf in den Landtag ein. Auch in der 16. Wahlperiode (2005/09), in der die regierende große Koalition aus CDU und SPD über 59 von insgesamt 69 Stimmen und damit über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, blieb die Regierung in dem Politikfeld legislatorisch passiv. Zu erklären ist dies durch die Spezifik des Politikfeldes und dessen konsensdemokratischer Dimension, sprich: dem Mehrheitserfordernis. Regierungsvorlagen, die in der Exekutive ausgearbeitet werden, lassen Minderheitsfraktionen in der Regel nur die Alternative der Ablehnung. Sie erschweren damit eine Mehrheitsfindung über politische Lager hinweg. Das Mehrheitserfordernis strukturiert damit nicht nur die Abstimmungsphase eines Gesetzgebungsverfahrens, sondern bereits das Antragsverhalten von einzelnen Akteuren. Für Oppositions- und Mehrheitsfraktionen gilt dies allerdings nur eingeschränkt. Oppositionsfraktionen bringen in parlamentarischen Regierungssystemen in der Regel mehr Gesetzentwürfe ein als Mehrheitsfraktionen, um sich als Alternative zur amtierenden Regierung zu profilieren; mit ihren Initiativen finden sie jedoch nur in Ausnahmefällen eine Mehrheit. So die aus der Theorie abgeleitete Erwartung. Bei einfachen Gesetzgebungsverfahren entspricht die Praxis im Schleswig-Holsteinischen Landtag dieser Annahme (Tabelle 6). In allen sechs untersuchten Wahlperioden waren Oppositionsfraktionen zwei bis drei Mal häufiger als Mehrheitsfraktionen Ausgangspunkt von parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, insgesamt waren sie dies in 337 Fällen, was 28,9 Prozent aller Gesetzesinitiativen entspricht. Davon angenommen wurden 55 oder 16,3 Prozent. In der Verfassungspolitik verhielten sich die Oppositionsfraktionen in ähnlicher Weise. Sie brachten die meisten verfassungsändernden Gesetzentwürfe ein, nämlich 29 von insgesamt 56 (51,8 Prozent), konnten aber nur für drei Initiativen eine Mehrheit finden (10,3 Prozent). Wie bei einfachen Gesetzen waren Oppositionsfraktionen damit in der Verfassungspolitik als Initiatoren deutlich aktiver als Regierungsfraktionen, die acht verfassungsändernde Gesetzentwürfe (14,3 Prozent) initiierten.39 Die verfassungspolitischen Strategien von Oppositionspartien lassen sich somit mit Mechanismen des Parteienwettbewerbs erklären. Wie in anderen Politikfeldern stellten sich die Oppositionsparteien in der Verfassungspolitik als Alternative zur Regierung dar, repräsentierten die Anliegen ihrer Wähler/innen möglichst umfassend und kritisierten die politische Exekutive durch die Einbringung von entsprechenden Gesetzentwürfen. Hinzu kommt, dass von den insgesamt 29 von Oppositionsfraktionen eingebrachten verfassungsändernden Gesetzentwürfen 22 auf einen einzigen Antragsteller zu39   Die Angaben stützen sich auf die im Landtagsinformationssystem Schleswig-Holstein bereitgestellten Daten. Die Datenbank des Landtages ist jedoch eine Verlaufs- und Verfahrensstatistik, die nur bedingt für wissenschaftliche Analysen geeignet ist. So ist es möglich, dass ein Gesetzentwurf zwar formal Ausgangspunkt einer Verfassungsänderung ist, die verabschiedete Version sich aber beträchtlich von dem eingebrachten Entwurf unterscheidet.

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

631

rückgingen. Auch dieser Befund entspricht der theoretisch begründeten Erwartung, nach der es in der Opposition keine Koalition geben kann. Denn Minderheitsfraktionen stehen nicht nur im Wettbewerb mit den die Regierung stellenden Parteien, sondern auch in Konkurrenz untereinander. In aller Regel schließt dies aus, dass Gesetzentwürfe von Oppositionsfraktionen gemeinsam eingebracht werden. Diese Vermutung findet empirisch auch in anderen Landesparlamenten Bestätigung. So brachten im Landtag Baden-Württemberg die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen lediglich in der 14. Wahlperiode und bereits in Sichtweite der in der 15. Wahlperiode erfolgten Regierungsübernahme einen Gesetzentwurf zusammen ein.40 Ansonsten agierten Oppositionsfraktionen in allen Wahlperioden im Landtag Baden-Württemberg in diesem Politikfeld stets allein. Dies verweist auf den instrumentellen Charakter solcher Initiativen. Sie zielen nicht unmittelbar auf Verfassungsänderung, sondern sind Mittel im Parteienwettbewerb. Schließlich gilt in mehrheitsdemokratischen Systemen, dass lagerübergreifende Initiativen die Ausnahme sein sollten. Diese offensichtliche Regel, die keiner weiteren Erläuterung bedarf und sich unmittelbar aus den Prinzipien parlamentarischer Regierungssysteme ableitet, gilt sowohl bei einfacher Gesetzgebung wie bei verfassungsändernden Verfahren. So gab es in den hier untersuchten sechs Wahlperioden lediglich 55 einfache und 15 verfassungsändernde Gesetzentwürfe, die gemeinsam von Regierungs- und Oppositionsfraktionen eingebracht wurden. Doch immerhin ist bemerkenswert, dass mehr als ein Viertel aller verfassungsändernden Entwürfe in den letzten sechs Wahlperioden auf Initiativen zurückging, die von Regierungs- und Oppositionsfraktionen gemeinsam eingebracht wurden. Kurioserweise beträgt der Anteil der von Oppositions- und Regierungsfraktionen gemeinsam eingebrachten Entwürfe, die auch verabschiedet wurden, bei einfachen Gesetzen fast 94 Prozent und lediglich 66,6 Prozent bei verfassungsändernden Gesetzen. Insgesamt zeigt die vorstehende Analyse der Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein, dass dieses Politikfeld keineswegs ausschließlich konsensdemokratischen Imperativen folgte. Funktionsprinzipien des Parteienwettbewerbs und des parlamentarischen Regierungssystems prägten zumindest teilweise die verfassungspolitischen Strategien der Parteien und Fraktionen im Schleswig-Holsteinischen Landtag. Die parlamentarische Minderheit war dabei nicht nur an allen verabschiedeten Verfassungsänderungen als Mehrheitsbeschafferin beteiligt, also im finalen Stadium eines Gesetzgebungsverfahrens. Sie war insbesondere als Initiatorin dominierend. Sie brachte die überwiegende Anzahl der verfassungsändernden Gesetzentwürfe seit der 13. Wahlperiode ein. Wie in anderen Bundesländern war Verfassungspolitik damit Oppositionsstrategie.

IV.  Zwischen Rede- und Arbeitsparlament: verfassungsändernde Gesetzentwürfe im Schleswig-Holsteinischen Landtag Wie der Bundestag gelten Landesparlamente als Mischtypus aus Rede- und Arbeitsparlament. Das Plenum und seine Hilfsorgane – hier: die Ausschüsse – teilen sich   Landtag Baden-Württemberg, Drs. 14/6866 vom 30.8.2010; Reutter (Fn.  30), S.  142.

40

632

Werner Reutter

die parlamentarischen Aufgaben. Während im Plenum öffentlich debattiert und abschließend entschieden wird, findet in den Ausschüssen die sachorientierte Arbeit an Gesetzesvorlagen statt.41 Zwar weicht die Parlamentspraxis durchaus von dieser idealtypisierenden Qualifizierung ab, denn Ausschüsse sind keineswegs nur entscheidungsvorbereitend, sondern nehmen vielfach die Entscheidung des Plenums vorweg. Doch cum grano salis entspricht die parlamentarische Behandlung von verfassungsändernden Gesetzentwürfen im Schleswig-Holsteinischen Landtag der genannten Arbeitsteilung und zwar in formaler wie auch in parlamentspraktischer Hinsicht, die allerdings keineswegs deckungsgleich sind. Wie erwähnt, ist die Verfassung nur durch Gesetz zu ändern. Das Gesetzgebungsverfahren ist mit Ausnahme des in der Verfassung festgelegten Mehrheitserfordernisses in der Geschäftsordnung des Landtages ausgestaltet.42 Vorgeschrieben ist: dass entsprechende Vorlagen grundsätzlich in zwei Lesungen verabschiedet werden, dass eine dritte Lesung erfolgt, wenn dies der Landtag beschließt, dass in der ersten Lesung die Grundsätze der Vorlage diskutiert werden und der Entwurf an einen Ausschuss oder an weitere Ausschüsse zur Beratung überwiesen wird, dass die zweite Lesung in der Regel frühestens 48 Stunden nach Ende der ersten Lesung stattfinden darf, dass in der zweiten Lesung eine Einzelberatung über die entsprechenden Bestimmungen durchgeführt wird und dass die Schlussabstimmung nur dann namentlich erfolgt, wenn dies beantragt wird. Für verfassungsändernde Gesetzentwürfe bestehen keine gesonderten Regeln. Hervorzuheben ist dabei, dass das gesamte verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren nur in der Schlussabstimmung eine Zwei­ drittel­mehrheit verlangt. Empfehlungen des Ausschusses ebenso wie die Abstimmung im Rahmen von Einzelberatungen verlangen lediglich einfache Mehrheiten. Es ist also durchaus möglich, dass eine Einzelbestimmung mit einfacher Mehrheit nicht zur Schlussabstimmung zugelassen wird.43 Aus diesen formalen Vorgaben ergibt sich schon, dass die parlamentarische Behandlung von verfassungsändernden Gesetzentwürfen grundsätzlich der skizzierten Arbeitsteilung zwischen Plenum und Ausschüssen entspricht. Die Detailanalyse der Verfahrensschritte lässt allerdings einige Besonderheiten hervortreten, ohne dass damit die typisierende Qualifizierung des Schleswig-Holsteinischen Landtages als Mischung aus Rede- und Arbeitsparlament in diesem Politikfeld in Frage gestellt wird (Tabelle 7). Nach der Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages und der Verfassung kann ein verfassungsändernder Gesetzentwurf von einem oder mehreren Abgeordneten, einer Fraktion, der Landesregierung oder dem „Volk“ eingebracht werden. Wie dargestellt, waren bisher allein das „Volk“ sowie Mitglieder des Landtages, also Fraktionen und einzelne Abgeordnete, in dieser Hinsicht aktiv.44 Es wäre   Vgl. dazu Reutter (Fn.  38), S.  171 ff.   Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 8. Februar 1991, zuletzt geändert am 6.6.2017, Gesetz- und Verordnungsblatt 2017, Nr.  9, S.  4 04. 43  So hat Art.  1 Nr.  1 des Gesetzentwurfes der CDU (Drs. 14/981 vom 10.9.1997), mit dem die Größe des Landtages auf 68 Abgeordnete begrenzt werden sollte, in der Einzelabstimmung keine Mehrheit gefunden, die Bestimmung, dass der Landtag für fünf Jahre gewählt werden sollte (Art.  1 Nr.  2), allerdings schon. Diese Bestimmung fand auch in der Schlussabstimmung die erforderliche Mehrheit; PlPr 14/53 vom 20. Februar 1998, S.  3739; Gesetz vom 11.3.1998; Gesetz- und Verordnungsblatt 1998, Nr.  5, S.  122. 44   Zwei hier den jeweiligen Fraktionen zugerechnete Gesetzentwürfe wurden von einzelnen Abge41

42

633

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

Tabelle 7:  Parlamentarische Behandlung von verfassungsändernden Gesetzentwürfen in Schleswig-Holstein (1992–2017). WP

Anzahl der Entwürfe

Anzahl Lesungen

Anzahl Protokollseiten a)

Anzahl der Redner/ innen a), b)

Anzahl der beteiligten Ausschüsse

Dauer der Verfahrenc) (in Tagen)

Verabschiedete Gesetzentwürfe 13 (1992/96) 0

0

0

0

0

0

14 (1996/00) 3

7

66

24

3

671

15 (2000/05) 4

8

47

34

4

1442

16 (2005/09) 3

6

67

41

5

388

17 (2009/12) 3

6

132

69

5

280

18 (2013/17)

5

10

115

82

7

523

Summe

18

37

478

260

24

3304

2,1

26,6

14,4

1,3

183,6

13 (1992/96) 7

14

119

86

9

959

14 (1996/00) 4

7

114

34

4

421

15 (2000/05) 3

6

54

40

5

287

16 (2005/09) 6

9

86

50

10

654

17 (2009/12) 7

10

135

89

13

622

18 (2013/17)

11

22

168

114

8

2122

Summe

38

68

676

413

49

5065

1,8

17,8

10,9

1,3

133,3

105

1154

673

73

8369

1,9

21,4

12,5

1,4

155,0

Pro Entwurf Abgelehnte Gesetzentwürfe

Pro Entwurf Gesamt Pro Entwurf

56

a)

Bei in einer Lesung gemeinsam behandelten Entwürfen, wurde die Anzahl der Protokollseiten und Redner/innen nur einmal berücksichtigt; b) gezählt wurden alle im Landesinformationssystem aufgeführten Redner/innen; c) Verfahrensdauer = Datum der Drucksache bis zum Tag, an dem der Entwurf angenommen oder abgelehnt wurde; ist kein entsprechender Beschluss ausgewiesen, wurde der Tag der 1. Lesung als Verfahrensende betrachtet; angegeben sind die addierten Werte für alle Gesetzentwürfe der jeweiligen Wahlperiode. Quelle: eigene Erhebung; Landesinformationssystem des Landtags Schleswig-Holstein (Zugriff: 15. März 2017).

allerdings verkürzt, würde man unterstellen, dass der formal genannte Einbringer auch derjenige ist, der einen Entwurf konzipiert und in eine vorlagefähige Form gebracht hat. Insbesondere bei großen Verfassungsreformen waren dem formal vorgesehenen verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren parlamentarische Delibeordneten eingereicht; dabei handelte es sich um: Drs. 13/2184 vom 29.9.1994, die vom Abgeordneten Kohler (DVU) eingebracht wurde, sowie um Drs. 14/741 vom 21.5.1997, die vom Abgeordneten Haller (CDU) eingereicht wurde.

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Werner Reutter

rations- und Beratungsprozesse vorgeschaltet, die dann Grundlage waren für die eingebrachten Entwürfe. Schon die 1990 verabschiedete Neufassung hatte einen doppelten Vorläufer: Denn der Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“, der mit Beschluss vom 14. Februar 1989 eingerichtet worden war, hatte die Aufgabe, die „Ergebnisse der Enquete-Kommission ‚Verfassungs- und Parlamentsreform‘ mit allen gesellschaftlich relevanten Gruppen und Bürgerinnen und Bürgern intensiv zu diskutieren“ und dem Landtag entsprechende Vorschläge zur Änderung der Landessatzung, weiterer einfacher Gesetze sowie der Geschäftsordnung des Landtages vorzulegen.45 Realisiert hat dies der Sonderausschuss in insgesamt 25 öffentlichen und 5 nichtöffentlichen Sitzungen sowie im Rahmen von 5 öffentlichen Anhörungen. Auch die Verfassungsreform 2014 wurde durch den Sonderausschuss „Verfassungsreform“ vorbereitet, der am 26. April 2013 auf Antrag aller im Landtag vertretenen Parteien (CDU, SPD, Grüne, FDP, Piraten, SSW) den Auftrag erhielt, Vorschläge zur Änderung der Landesverfassung auszuarbeiten. Zusammengesetzt war der Sonderausschuss nicht nach den üblichen Besetzungsregeln; vielmehr bestand er aus dem damaligen Landtagspräsidenten Klaus Schlie (CDU) als Vorsitzendem sowie jeweils eine/n von den fünf im Landtag vertretenen Fraktionen bzw. dem SSW benannte/n Vertreter/in (sowie Stellvertreter/in) und drei mit Beratungsstatus ausgestattete Wissenschaftler/innen. Die insgesamt zehn öffentlichen Ausschusssitzungen wurden dabei in ebenso vielen nichtöffentlichen Arbeitsgruppensitzungen sowie einer Klausurtagung vorbereitet. Die Öffentlichkeit war also eingeschränkt, auch wenn die Arbeitspapiere und Niederschriften der Arbeitsgruppe für öffentlich erklärt worden sind. Darüber hinaus konnten sich Bürger/innen mit Eingaben und Vorschlägen schriftlich an den Sonderausschuss wenden. Hinzu kamen schriftliche Anhörungen zu einzelnen Themen.46 Diskutiert wurde der Bericht des Sonderausschusses im Plenum des Landtages am 9. Juli 2014 zusammen mit zwei verfassungsändernden Gesetzentwürfen, in die die Empfehlungen des Sonderausschusses aufgenommen worden waren und die im Plenum und in drei Sitzungen des Innen- und Rechtsausschusses behandelt wurden.47 Sowohl in der „großen“ wie in der „kleinen“ Verfassungsreform von 1990 und 2014 war dem formal vorgesehenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren also eine Beratungs- und Deliberationsphase vorgeschaltet, die das formale Gesetzgebungsverfahren prägte und inhaltlich vorwegnahm. Analysiert man die einzelnen Phasen verfassungsändernder Gesetzgebungsverfahren im Detail, lassen sich weitere Besonderheiten herausarbeiten. Die erste Lesung eines Gesetzentwurfes soll nach §  25 Abs.  2 der GO „frühestens am dritten Tag nach Verteilung der Vorlage“ erfolgen. Schwierigkeiten sind in dieser Hinsicht nicht öffentlich geworden. Setzt man das Datum, das auf den Drucksachen notiert ist, als Tag der Verteilung, wurde in drei Fällen diese Frist unterlaufen. So   Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 12/218 vom 13.2.1989.   Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 18/2095, Abschlussbericht des Sonderausschusses „Verfassungsreform“ vom 4. Juli 2014; Umdruck 18/3045 vom 4.7.2014, Interne Arbeitspapiere des Sonderausschusses Verfassungsreform, eingesetzt durch Beschluss des Landtags vom 26. April 2013 (Drs. 18/715). 47   Schleswig-Holsteinischer Landtag, PlPr 18/63 vom 9.7.2014, S.  5144 ff.; Drs. 18/2115 vom 4.7.­ 2014 und 18/2116 vom 4.7.2014. 45

46

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

635

wurden die Drs. 18/2361 vom 7. Oktober 2014 mit den Drs. 18/2115 und 18/2116 zusammengeführt und am 8. Oktober 2014 gemeinsam in einer ersten Lesung beraten; die Drs. 18/93 (neu) wurde in zweiter Fassung am 22. August 2012 eingereicht und am nächsten Tag im Plenum behandelt; auch die Drs. 18/283 (neu) vom 14. November 2012 wurde innerhalb von zwei Tagen auf die Agenda des Plenums gesetzt. Ansonsten wurde die in der GO genannte Frist eingehalten. Durchschnittlich benötigte ein verfassungsändernder Gesetzentwurf drei Wochen, bis er im Plenum zum ersten Mal beraten und an einen Ausschuss überwiesen werden konnte.48 Gleichwohl dauerte es 116 Tage, bis das Plenum des Landtages den Entwurf der „Volksinitiative ‚Schule in Freiheit‘ der Aktion mündige Schule e.V.“ beraten und dessen Unzulässigkeit feststellen konnte.49 Ausnahmen bestätigen hier jedoch nur die Regel. In der ersten Lesung werden nach §  25 Abs.  1 der GO des Schleswig-Holsteinischen Landtages in der Regel die „allgemeinen Grundsätze“ des Gesetzentwurfes besprochen. Die Parlamentspraxis zeigt, dass dies auch bei verfassungsändernden Gesetzentwürfen in den überwiegenden Fällen geschehen ist.50 So ergriffen durchschnittlich in der ersten Lesung bei entsprechenden Vorlagen 7,9 Redner/innen das Wort, und die Debatten wurden auf rund 13 Seiten protokolliert. Diese Zahlen erlauben zwar keine Schlüsse über Inhalt und Qualität der parlamentarischen Debatten, aber sie sind doch ein Indiz dafür, dass Vertreter/innen unterschiedlicher Fraktionen in längeren Ausführungen zu den eingebrachten Gesetzentwürfen Stellung bezogen. Im Unterschied zum Sächsischen Landtag, bei dem nach §  44 Abs.  6 der GO eine Gesetzesvorlage schon am Schluss der ersten Lesung sein Ende finden kann, muss im Schleswig-Holsteinischen Landtag jede Gesetzesvorlage grundsätzlich an einen Ausschuss überwiesen werden. Von einer Ausnahme abgesehen, wurden verfassungsändernde Gesetzentwürfe daher meist an den Innen- und Rechtsausschuss überwiesen, der bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren entweder alleine oder federführend der zuständige Ausschuss war. Lediglich in der 14. Wahlperiode wurde ein Sonderausschuss „Verfassungsreform“ eingerichtet, der Vorschläge zur Ergänzung der Landesverfassung unterbreiten sollte.51 Eine Überweisung erfolgte – von einer Ausnahme abgesehen – auch bei Entwürfen der DVU/DLVH, wobei sich hier der prozedurale Aufwand auf ein Minimum beschränkte. Die Überweisung an einen Ausschuss erfolgt mit einfacher Mehrheit. Je nach Gegenstandsbereich wurden die Entwürfe an ein bis zwei weitere Ausschüsse überwiesen, die die Gesetzesvorlagen durchschnittlich 3,8 Mal auf ihre Tagesordnungen setzten und in 13 Fällen insgesamt 22 öffentliche Anhörungen durchführten.52 Diese Befunde verweisen nicht nur darauf, dass auch verfassungsändernde 48   Durchschnittlich lagen zwischen Datum der Drucksache und Tag der ersten Lesung 19,9 Tage; der Median betrug sogar lediglich 14 Tage. 49  Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 14/1627 vom 11.5.1998; PlPr 14/66 vom 4.9.1998, S.  4832 ff. 50   Tabelle 7 weist lediglich die Gesamtwerte aus, differenziert also nicht zwischen den einzelnen Lesungen. Die im Text genannten Durchschnittswerte sind daher in der Tabelle nicht zu finden. 51   Vgl. dazu Bericht und Beschlussempfehlung des Sonderausschusses „Verfassungsreform“; Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 14/1245 vom 3.2.1998. 52  Dies war bei folgenden Entwürfen der Fall: Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 13/2738 vom 26.4.1995, 14/519 vom 5.2.1997, 14/1627 vom 11.5.1998, 15/1670 vom 17.2.2002, 15/2154 vom

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Gesetze, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen, behandelt werden, sondern belegt gleichzeitig, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren der Arbeitsteilung zwischen Plenum und Ausschüssen Rechnung trägt. Es ist also auch in diesem Politikfeld eine Mischung aus Rede- und Arbeitsparlament. Die zweite Lesung besteht grundsätzlich in einer Einzelberatung, in der über jede selbständige Bestimmung diskutiert wird und eine Abstimmung erfolgt, in der mit einfacher Mehrheit eine Einzelbestimmung verworfen oder zur Schlussabstimmung freigegeben wird.53 Wie in anderen Landesparlamenten vollziehen sich diese Debatten in einer stark choreographierten Weise, die wenig Raum lässt für spontane oder von der Tagesordnung abweichende Diskussionen. Gleichwohl verweisen die erhobenen Daten darauf, dass in den zweiten Lesungen zu verfassungsändernden Gesetzentwürfen eine inhaltliche Auseinandersetzung erfolgte. In den hier untersuchten sechs Wahlperioden ergriffen durchschnittlich in der zweiten Lesung rund 4,5 Redner/innen das Wort, hielten also eine eigenständige Rede, stellten eine Zwischenfrage oder machten eine Kurzintervention. Unterschiede zwischen verabschiedeten und abgelehnten Gesetzentwürfen sind wenig aussagekräftig. Beide wurden von ähnlich vielen Redner/innen ähnlich lange diskutiert.54 Ein verfassungsänderndes Gesetzgebungsverfahren dauert im Schleswig-Holsteinischen Landtag in der Regel nicht einmal ein halbes Jahr, nämlich rund 155 Tage. Dies entspricht in etwa der Praxis im Landtag Brandenburg (rund 130 Tage) und liegt deutlich unter dem Wert im Sächsischen Landtag (318 Tage). Worauf diese Differenzen zurückzuführen sind, lässt sich nur schwer abschließend beurteilen, zumal keine der drei Geschäftsordnungen in dieser Hinsicht Vorgaben über die zeitliche Struktur eines Gesetzgebungsverfahrens macht. Von zentraler Bedeutung für die Qualifizierung des Politikfeldes als „konsensdemokratisch“ ist das Erfordernis, dass ein Gesetz mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages angenommen werden muss. Allerdings variiert die Art und Weise, wie ein Gesetzgebungsverfahren formal beendet wird, ganz beträchtlich. Denn von den 56 eingebrachten verfassungsändernden Gesetzentwürfen wurden acht ohne Abstimmung abgeschlossen; die Entwürfe wurden zurückgezogen, für erledigt erklärt (bei Volksinitiativen) oder fielen dem Diskontinuitätsprinzip zum Opfer. Weitere 20 Gesetzentwürfe wurden mit einfacher Mehrheit abgelehnt oder als unzulässig erachtet; 18 wurden mit der erforderlichen Mehrheit angenommen und zehn scheiterten letztlich an dem gesetzten Quorum. Von den 18 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde die Hälfte, d.h. neun, „einstimmig“ angenommen. Eine namentliche Schlussabstimmung erfolgte in fünf Fällen. Die Analyse der parlamentarischen verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren im Schleswig-Holsteinischen Landtag weist – abgesehen von dem erhöhten 25.9.2002, 17/186 vom 13.1.2010, 17/193 vom 14.1.2010, 17/268 vom 11.2.2012, 17/370 vom 3.3.2010, 17/1070 vom 4.11.2010, 17/1081 vom 2.12.2010, 18/3539 vom 5.11.2015 und 18/4622 vom 9.9.2016. 53   Allerdings kann der Landtag nach §  27 Abs.  1 GO eine nochmalige Grundsatzberatung zulassen. 54   Bei drei Entwürfen fand die gemeinsame zweite Lesung an zwei unterschiedlichen Sitzungstagen statt und zwar am 18. und 20. Februar 1998; Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 14/519 vom 5.2.1997, 14/741 vom 21.5.1997 und 14/981 vom 10.9.1997; PlPr 14/51 vom 18.2.1998, S.  3524 ff. und PlPr 14/53 vom 20.2.1998, S.  3736 f.

Politik und Verfassung in Schleswig-Holstein

637

Mehrheitserfordernis – weder in formaler noch in praktischer Hinsicht Besonderheiten im Vergleich zu einfacher Gesetzgebung auf. Gleichwohl lässt der Vergleich mit der Praxis in anderen Bundesländern einige Spezifika hervortreten. Insbesondere sticht in Schleswig-Holstein hervor: dass wie im Sächsischen Landtag grundsätzlich nur zwei Lesungen erfolgen (in Brandenburg sind drei vorgeschrieben), stets eine Überweisung an einen Ausschuss erfolgt (in Sachsen kann ein Entwurf bereits in der ersten Lesung abgelehnt werden) und eine namentliche Abstimmung nur auf Antrag durchgeführt wird. Dies bestätigt die von Rudolf Steinberg herausgearbeitete Schlussfolgerung: „Der Typus Verfassungsstaat hat (…) feste Formen für die Verabschiedung einer Verfassung bislang ebensowenig hervorgebracht wie für deren Änderung.“55 Mehr noch: Sogar in ein und demselben Bundesland finden sich unterschiedliche Formen der Verfassungsänderung, auch wenn in allen Verfahren die festgelegten Minimalbedingungen eingehalten sind. Doch ändert dies nichts an der generellen Schlussfolgerung, dass im Schleswig-Holsteinischen Landtag verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren dem skizzierten Muster folgt. Der Landtag funktioniert in diesem Politikfeld als Mischung aus Arbeits- und Redeparlament. Verfassungspolitik ist aus dieser Perspektive „ganz normale Politik“.

V.  Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein Die Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein wurde für den Zeitraum 1990 bis 2017 in diesem Beitrag zum ersten Mal empirisch umfassend erschlossen und aus politikwissenschaftlicher Perspektive analysiert. Auf dieser Grundlage ließen sich einige Besonderheiten herausarbeiten. Darüber hinaus lassen sich aus den Befunden drei Schlussfolgerungen ziehen, die über den „Fall“ Schleswig-Holstein hinausweisen: Zuerst ist zu betonen, dass Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein Ergebnis war einer „unique combination of majoritarian and consensus democracy“.56 Es war das Zusammenspiel von konsens- und mehrheitsdemokratischen Funktionsprinzipien, die Entscheidungs- und Willensbildung in diesem Politikfeld prägten und die Ergebnisse erklären. Anders gesagt: Das parlamentarische Regierungssysteme definierende Gegenüber von Mehrheit und Minderheit machte sich beim Antragsverhalten ebenso bemerkbar wie bei vielen gescheiterten Entwürfen, auch wenn das erhöhte Mehrheitserfordernis die Gesetzgebungsverfahren sowohl bei den Schlussabstimmungen also auch bei der Einbringung von Entwürfen prägen konnte. Hinzu kommt, dass Verfassungsänderungen parlamentarisch keineswegs grundsätzlich anders behandelt wurden als einfache Gesetze. Auch in dieser Hinsicht war Verfassungspolitik in Schleswig-Holstein nichts anderes als „normale Politik mit anderen Mitteln“.57 Zweitens: Wie in anderen Bundesländern war Verfassungspolitik Landespolitik und damit Ausdruck der Staatsqualität der Bundesländer. Sie war weder inhaltlich überformt oder bestimmt von bundespolitischen oder grundgesetzlichen Vorgaben noch boten die verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren Anknüpfungspunkte   Steinberg (Fn.  3 ) S.  509.   Schmidt (Fn.  30), S.  87. 57   Busch (Fn.  33), S.  51; Reutter (Fn.  30). 55

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Werner Reutter

für eine Ebenen übergreifende Koordination. Darauf verweist auch, dass in der Verfassungspolitik Landesregierungen keine aktive Rolle spielen, was Verhandlungen zwischen politischen Exekutiven ausschließt. In Schleswig-Holstein steht Verfassungspolitik mithin nicht im „Schatten des Grundgesetzes“. Drittens, in Schleswig-Holstein war Verfassungspolitik strikt repräsentativ ausgestaltet. Der Souverän spielt nur indirekt und bei Wahlen eine Rolle. Er legitimiert die Personen, die Entscheidungen treffen. Darüber hinaus war er in Schleswig-Holstein bestenfalls über Eingaben und bei Stellungnahmen in öffentlichen Anhörungen präsent. Das galt für die Verabschiedung und die Änderungen der Landessatzung bis 1990, für die Verfassungsreform 1990 sowie für alle seitdem beschlossenen Novellen. Auch die bisher eingebrachten vier Volksinitiativen, mit denen Verfassungsänderungen angestrebt wurden, bleiben erfolglos. Sie wurden allesamt vom Schleswig-Holsteinischen Landtag abgelehnt. Verfassungsgebung ist Parlamentsgesetzgebung.

II.  Verfassungsrecht in Europa

Protection of Human Rights after the Constitutional Crisis in Poland by

Prof. Adam Bodnar, Ph.D., LL.M. (CEU) Human Rights Chair of the Law Faculty of the Warsaw University; Commissioner for Human Rights (Ombudsman) of the Republic of Poland

Content I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 II. Dismantling the rule of law in Poland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 1. Origins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 2. Constitutional Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 3. Centralization of power . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 4. Judiciary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 5. Challenge to constitutional values . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 III. Current possibilities to protect human rights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 1. Direct application of the Constitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 2. Role of independent bodies in protecting rights and freedoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 3. Exercise of political rights by citizens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 4. International judicial mechanisms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 5. International non-judicial mechanisms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 IV. Polish future constitutionalism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 V. Conclusions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661

I. Introduction In 2015–2017 the attempt to dismantle rule of law guarantees was undertaken in Poland. The new government of the “Law and Justice” party (PiS) won the majority in elections in October 2015. A number of reforms were introduced. Most importantly, the independence of the Constitutional Court was undermined. The paralysis of the typical daily operation of the Constitutional Court allowed the ruling majority to pass legislation that aimed to centralize state power. This legislation (except for

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Adam Bodnar

one law) was never verified by the Constitutional Court. In 2017, the ruling majority passed legislation threatening judicial independence, most notably the Supreme Court and the National Council of Judiciary. All these reforms in Poland were subject of international monitoring and verification. Despite this, they were implemented and the Polish system of government slides towards a system of competitive authoritarianism. One of the major questions these days is about the future of the protection of human rights in Poland. Being a Member State of the European Union as well as party to international human rights’ instruments, with a vibrant civil society and media, Polish citizens still have human rights’ guarantees. However, the Constitutional Court, as the major instrument of protecting rights and freedoms, does not work properly. Yet the vacuum created by this situation may be filled in with other mechanisms of protection. They will not provide for perfect solutions, but still may sustain protection of rights in certain areas. The purpose of this paper is to analyze those alternative options. This describes a situation “after the constitutional crisis”. The process of restricting the ability of the Constitutional Court to act independently has been completed. It means that Poland is currently facing new challenges – how to protect human rights in a country where constitutional review is subject of political manipulation, and where the Constitution of 2 April 1997 was de facto changed via legislative means, while the original text of the Constitution remained intact. The first section of this article outlines the process of dismantling rule of law guarantees in 2015– 2017. The second section analyzes the current possibilities for protecting human rights in Poland, with a special emphasis on the role of different institutions. The third section lays out a suggestion for a future model of Polish constitutionalism – in an attempt to address what we should learn from the Polish road towards a non-democratic country.

II.  Dismantling the rule of law in Poland 1. Origins On 9 October 2011, after failing in parliamentary elections, Mr. Jarosław Kaczyński, the leader of the “Law and Justice” party, made the following statement: “I am deeply convinced that the day of our success will come and we will have Budapest in Warsaw.” When elections were won by the “Law and Justice” party on 25 October 2015 and the party secured the majority of seats in Parliament, this plan of bringing “Budapest to Warsaw” started to be realized. The central point in this plan was the paralysis of the Constitutional Court. An independent Constitutional Court may block any legislation centralizing the state power. Therefore, the idea of the “Law and Justice” party was to secure the control over the operation of the Constitutional Court.

Protection of Human Rights after the Constitutional Crisis in Poland

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During the previous term of Parliament, the “Civic Platform” and its allies managed to adopt a new law on the Constitutional Court.1 In addition to this, five new judges were elected to the Court, to fill seats that were going to be vacant. However, while Parliament at that time had a power to appoint three judges, two additional ones were appointed in advance, thus violating the power of the Parliament of next term. This manipulation, confirmed later by a judgement of the Constitutional Court,2 gave ammunition to the “Law and Justice” party (and to the President of the Republic of Poland), to challenge the appointment of all five judges. In public discourse, the argument was promoted that the “Civic Platform” intends to block any reforms to be adopted by the “Law and Justice” party by relying on “friendly” justices of the Constitutional Court. This argument, exploited a number of times by the ruling party and affiliated media, created fertile ground for the “reform” of the Constitutional Court. Ultimately, the independence of the Constitutional Court was destroyed. Just as in Budapest, the Constitutional Court stopped to be any hurdle in legislative process.

2.  Constitutional Court There was a sequence of events that led to the destruction of the role of the Constitutional Court. Basically, the period between November 2015 and January 2017 should be regarded as a prolonged process of paralyzing of the Constitutional Court. This process had a number of milestones as well as other legal and political actions contributing to the process of dismantling the proper operation of the Constitutional Court. The process was analyzed closely in opinions by the Venice Commission3 as well as scholarly publications.4 There were a number of entities protesting against changes, both domestically5 and internationally. Despite the challenge that there were different laws aimed at the paralysis of different legal actors, despite protests on   Act of 25 June 2105 on the Constitutional Court, Journal of Laws of 2015, item 1064.   Judgement of the Constitutional Court of 3 December 2015, No. K 34/15. 3   Opinion of the Venice Commission of 11 March 2016 and of 14 October 2016. See also opinion of the European Commission on rule of law in Poland of 1 June 2016 and recommendations by the European Commission 2016/1374 on rule of law in Poland of 27 July 2016. 4  See the collection of documents concerning the first period of the constitutional crisis: Piotr Radziewicz, Piotr Tuleja (eds.) Konstytucyjny spór o granice zmian organizacji i zasad działania Trybunału Konstytucyjnego: czerwiec 2015–marzec 2016 [Constitutional dispute on limits of changes regarding organization and methods of work of the Constitutional Court: June 2015–March 2016], Wolters Kluwer, Warsaw 2017. See also Miroslaw Wyrzykowski, Bypassing the Constitution or changing the constitutional order outside the constitution, in: A. Szmyt/B. Banaszak (eds.), Transformation of Systems in Central Eastern and South-Eastern Europe in 1989–2015. Liber Amicorum in Honorem Rainer Arnold, Gdańsk, 2016; Wojciech Sadurski, How Democracy Dies (in Poland): A Case Study of Ant-Constitutional Populist Backsliding, Sydney Law School Legal Studies Research Paper No.  18/01, January 2018, available at http://ssrn.com/abstract=3103491. For a brief account in German, see Peter M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (391–394). 5   Legislative acts changing the operation of the Constitutional Court were challenged by different legal actors, especially parliamentary opposition parties, the First President of the Supreme Court, the National Council of Judiciary and the Ombudsman. Moreover, several actors participated as “amicus curiae” in proceedings before the Constitutional Court: the Polish Bar Association, the National Bar of 1 2

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the streets, and despite negative opinions issued by the Venice Commission and other actors, this paralysis could be achieved. Regarding the argument presented here, the following milestones should be listed.   1. Refusal by President Andrzej Duda to swear in judges of the Constitutional Court that were elected by the previous Parliament. In particular, the President refused to swear in Roman Hauser, Andrzej Jakubecki and Krzysztof Ślebzak  2. Resolution of 25 November 2015 adopted by the Sejm (lower chamber of Parliament) declaring invalidity of elections of the Constitutional Court judges that were elected by the previous Sejm.   3. Election by the Parliament of three new judges, so called “double judges”, and their swearing in by the Parliament. In particular, Marek Muszyński, Henryk Cioch and Lech Jaworski were elected as “double judges”.6 The next day, they were sworn in by President of the Republic of Poland.  4. Judgment of the Constitutional Court of 3 December 2015, by which the Constitutional Court declared that three judges were elected properly, and two judges were not.   5. Passing of the new Act on the Constitutional Court.7   6. Judgment of the Constitutional Court of 9 March 2016, declaring the Act of 22 December 2015 to be unconstitutional (K 47/15). The judgment was issued by a panel of 12 judges while the new Act required having at least 13 judges to adjudicate laws concerning the status of the Constitutional Court.   7. Refusal by the Prime Minister of the publication of the judgment of the Constitutional Court (K 47/15) in the official “Journal of Laws”.   8. Adoption of the new Act on the Constitutional Court of 22 July 20168 and judgment of the Constitutional Court of 11 August 2016 (K 39/16).   9. Refusal by the Prime Minister of the publication of the judgment of the Constitutional Court (K 39/16) in the official “Journal of Laws”. 10. In November and December 2016, passing three legal acts regulating the operation of the Constitutional Court. Those Acts created a possibility to empower “double judges” to adjudicate cases. 11. End of term of President Andrzej Rzepliński – 19 December 2016. 12. Election of the new President of the Constitutional Court, Julia Przyłębska, and empowering “double judges” to adjudicate cases. As a result, the ruling party’s appointees started to achieve a majority in the Court. 13. Submission of a motion by the Prosecutor General challenging the appointment of three judges in November 2010.9 Thanks to this motion, the ProsecuLegal Advisors, the Helsinki Foundation for Human Rights and the Batory Foundation. Also law faculties of Polish universities expressed their concern. 6   It should be noted that Lech Morawski died on 12 July 2017. In his place, the Sejm elected Justyn Piskorski as a new “ judge”. Henrych Cioch died on 20 December 2017. In his place, the Sejm elected Jarosław Wyrembak as a new “ judge”. 7   Act of 22 December 2015 on changing some provisions of the Act on the Constitutional Court, Journal of Laws of 2015, item 2217. 8   Act of 22 July 2016 on the Constitutional Court, Journal of Laws of 2016, item 1157. 9   Case No. U 1/17.

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tor General may claim exclusion of those judges from cases in which he participates. 14. Judgment of the Constitutional Court of 24 October 2017 on three Acts regulating the operation of the Constitutional Court (K 1/17). Despite the motion by the Ombudsman, the “double judges” did not exclude themselves from participating in the case, although the case was of direct consequence for them. The Constitutional Court found that the laws adopted at the end of 2016 were in compliance with the Constitution.10 These events in 2015–2017 are of fundamental importance for the rule of law in Poland. The upshot is the loss of the Constitutional Court’s ability to independently control the constitutionality of legal provisions. This situation concerning the Constitutional Court directly impacts the protection of human rights. After one year of practice of the Constitutional Court under the changes that lead to its loss of independence, one may observe three types of judgments: First, there are judgments in cases of high political relevance. In 2017, the Constitutional Court adjudicated cases concerning, e.g., cyclical assemblies,11 or the status of the National Council of Judiciary.12 In all such cases, “double judges” took part. Second, there are judgments of lower political importance also issued with the participation of “double judges”. In such cases, there were motions to exclude „double judges”, and those judgments might be questionable from the point of view of their legitimacy and validity. Third, there are judgments issued without the participation of “double judges”.13 Overall, the Constitutional Court’s operation is questionable due to a number of circumstances. First, the legitimacy of the Court has been severely undermined. Even when it issues judgments in less relevant cases, it might already be regarded as a “façade” institution. Second, the operation of the Court is strongly controlled by the Court’s new President as well as his deputy, Marek Muszyński, who is one of the “double judges”. They control the case docket and the order of reviewing cases. Third, the Constitutional Court might be used to pursue political purposes of the ruling party, as a method to achieve certain political gains without engaging Parliament.14   Judge Leon Kieres submitted comprehensive dissenting opinion to this judgment.   Judgment of the Constitutional Court of 16 March 2017, No. Kp 1/17. See also comment to this judgment by Monika Florczak-Wątor, available at http://bit.ly/2qpPY1u [last access: 26 January 2018]. 12   Judgment of the Constitutional Court of 20 June 2017, No. K 5/17. 13   See e.g. judgment of the Constitutional Court of 18 September 2017, No. K 27/15, concerning the use of the administrative enforcement proceedings to eviction of tenants from flats belonging to different “uniform” services (such as police, prison guard etc). Provisions did not guarantee protection against eviction, without simultaneous guarantee of alternative housing. The Constitutional Court adjudicated in a panel composed of: Andrzej Zielonacki, Zbigniew Jędrzejewski, Piotr Pszczółkowski, Małgorzata Pyziak-Szafnicka, Michał Warciński. 14   The good example is a motion directed to the Constitutional Court concerning anti-abortion laws. There are two laws being subject of parliamentary works. The first one aims to restrict access to abortion, when the foetus has a genetic disease. The second aims to liberalize existing provision. The Law and Justice party most probably does not want to risk hot political debate on this issue. Therefore, group of the ruling party MPs submitted motion to the Constitutional Court aiming to achieve the similar legal effect as the parliamentary draft law. The case is registered as K 13/17. 10 11

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Such a situation affects the entire system of law. A system of law in which the legislator has almost unlimited power might be subject of steady erosion. A Parliament which does not confront any external legal restrictions may pass legislation that constitutes a direct threat to rights and freedoms or to the independence of any state institutions. One may observe that at the stage of legislative proposals neither the government nor other actors participating in the legislative process take into account the potential threat of constitutional non-compliance. That was clearly visible in the context of recent works on the laws reforming the judiciary. One should also ask about the validity of those Constitutional Court judgments that are issued with the participation of „double judges”. Such judgments are published in the Official Journal of Laws. They produce direct legal consequences, especially when the Constitutional Court declares statutory provisions to be unconstitutional. It is obvious that they have to be followed by the public administration. But common courts have to rely on the Constitution directly themselves, and may therefore ignore such judgments.15 However, the upshot is legal chaos and a lack of legal stability for citizens. It is also challenging the situation of independent actors who are empowered to ask the Constitutional Court for the verification of laws. They face the dilemma whether to use their constitutional power and thus to legitimize the Constitutional Court to act, or whether not to contribute to the risk of legal chaos. The current status of the Constitutional Court might also affect the relationship with the European Court of Human Rights. In some cases, the use of the constitutional complaint is regarded as an effective domestic remedy under the ECHR. But if the Constitutional Court is not any longer an “independent court”, then applicants may not be obliged to use this remedy before turning to the ECHR.16 Moreover, some legislative acts now could be subject to a more stringent verification by the ECtHR than previously. Then, the ECtHR and the Polish Constitutional Court were regarded as a good example of judicial dialogue. But such dialogue may not exist when one of the partners lost the credibility as the independent court.

  See the dissenting opinion of Judge Stanisław Rymar, annexed to judgment of 4 April 2017, P 56/14: “Judgment of the Constitutional Court in case P 56/14, was made with participation of a person who cannot adjudicate. Therefore, such judgment is flawed and thus invalid, because it was in fact issued in a panel of four judges and one unauthorized person. Such composition is not known to the law on the Constitutional Court. According to Article 379 Section 4 of the Code of Civil Proceedings, invalidity of proceedings, and thus a judgment, is when the composition of the court is contrary to legal provisions. By virtue of Article 36 of the law on the Constitutional Court, this provision should be applied accordingly to proceedings before the Constitutional Court.” 16  Ewa Maria Solska v. Poland, Małgorzata Rybicka v. Poland, applications nos. 30491/17 and 31083/17, cases communicated to the Government of Poland on 22 September 2017. The case concerns interpretation of Article 209 of the Code of Criminal Proceedings – whether it should allow for exhumation of bodies of deceased family members just on the basis of decision of prosecutor or whether judicial remedy should be available. The applicants maintain that the examination of this issue by the Constitutional Court cannot be regarded as an effective method of protecting fundamental rights. 15

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3.  Centralization of state power The paralysis of the Constitutional Court enabled the Parliament to pass legislation that curtailed independence of different state institutions or human rights. In the years 2015−2016, the Constitutional Court was overwhelmed with the fight for its own status. As a result, except for one case, it was impossible for the Constitutional Court to verify legislation that fulfilled a strictly political purpose. Later on, in 2017, judges loyal to the ruling party started to control the case-docket in the Court and their adjourned decisions on these pieces of legislation. Specifically, in 2015–2016, Parliament adopted the following laws, centralizing state power: The “Small Media Act” was adopted on 30 December 2015.17 Under this law, a new body was created, the Council of National Media. This body is responsible for the selection and appointment of members of governing bodies of public radio and television companies. The Act, by creating a new body with important powers, circumvented powers of the constitutional organ, namely the National Broadcasting Council. The Act enabled to take over control of public radio and television. It resulted in massive dismissals, or voluntary resignation, by journalists. The Act was reviewed by the Constitutional Court on 13 December 2016.18 It found certain provisions to be unconstitutional in restricting powers of the National Broadcasting Council. Nevertheless, this judgment was not enforced. The situation in public media, being the instrument of governmental propaganda, remains.19 The Amendments to the Civil Service Act, adopted on 30 December 2015.20 Under this Act, the constitutional principle of independent and non-political civil service was violated. The Act provided for expiration of contracts for civil servants and their re-employment upon previous verification. Moreover, higher civil servants are now employed by individual appointment, and not as a consequence of an open competition. The Act was brought to the Constitutional Court, but it has not yet been reviewed.21 The New Act on the Prosecutor’s Office, adopted on 28 January 2016,22 the office of the Prosecutor General was merged with the office of Minister of Justice. Such a system existed in Poland until 2009. However, the new Act on the Prosecutor´s Of17   Act of 30 December 2015 amending the Law on Radio and Television Broadcasting, Journal of Laws of 2016, item 25. 18  Judgment of the Constitutional Court of 13 December 2016, No. K 13/16. The adjudicating panel was composed of Andrzej Rzepliński, Leon Kieres, Stanisław Rymar, Piotr Tuleja and Marek Zubik. It was the last judgment issued with participation of Andrzej Rzepliński, President of the Constitutional Court. 19   See report of Annabelle Chapman, Pluralism under attack. The assault on press freedom in Poland, written for Freedom House, available at https://freedomhouse.org/report/special-reports/assaultpress-freedom-poland [last access: 28 January 2018]. 20   Act of 30 December 2015 amending the Act on civil service and some other laws, Journal of Laws of 2016, No.  34. 21   Motions were submitted by the Ombudsman and group of parliamentary deputies. No. K 6/16. 22   Law on the Prosecutors’ Service of 28 January 2016, Journal of Laws of 2016, item 177. See also the Act of 28 January 2016 – Provisions introducing the Law on Prosecutors Service, Journal of Laws of 2016, item 178.

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fice provided for additional solutions such as a limitation of legal responsibility of prosecutors for their actions, or the possibility for the Prosecutor General to interfere with any actions undertaken by individual prosecutors (including giving instructions, ordering specific legal actions or disclosure to journalists selected evidence from investigation). The Act also created the possibility to make several individual appointments and degradations,23 due to organizational changes in the prosecutors’ service and almost unlimited decision-making power of the Prosecutor General. The Act on the Prosecutor´s Office was challenged before the Constitutional Court, but the judgment has not been issued yet.24 The legislation regulating the operation of the Prosecutor’s Office was also analyzed by the Venice Commission.25 It concluded that reforms of the Prosecutor’s Office in Poland have “direct negative consequences for the independence of the prosecutorial system from political sphere, but also for the independence of the judiciary and hence the separation of powers and the rule of law in Poland.” In 2016, a set of laws increasing the powers of the secret services was adopted by Parliament. These laws collectively increased the powers of the police and the secret services vis-à-vis citizens in terms of surveillance powers. First, amendments to the Police Act and other laws were passed enabling the services to verify internet usage by citizens in addition to the already existing broad competences to check telephone billing information.26 The Parliament also adopted amendments to the Code of Criminal Proceedings concerning the “fruits of poisonous tree” doctrine.27 Under these amendments, a prosecutor may rely on evidence even if it was collected illegally. Finally, in June 2016, the new anti-terrorist legislation 28 was adopted, with extensive powers to collect information, especially on foreigners. The pretext for the adoption being the events coming up in July 2016: the NATO Summit and the Youth Christian Days. It should be noted that there is no independent organ in Poland supervising the operation of secret services. Moreover, the judiciary’s poor account 23   Bilewicz v. Poland, application No.  53626/16, decision on inadmissibility of 30 May 2017. The applicant was moved from the Office of the Prosecutor General to the regional prosecution office, following entry into force of the new legislation. He claimed that there is no effective remedy challenging the decision on degradation. The ECtHR found the application as inadmissible, claiming that the applicant should have a recourse to the labour court. 24   Motion to the Constitutional Court by the Ombudsman and the group of senators, No. K 19/16 and K 20/16. 25  Opinion of the Venice Commission of 11 December 2017, CDL-AD(2017)028, opinion no. 892/2017, available at http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-AD (2017)028-e [last access: 28 January 2018]. 26   Act of 15 January 2016 on amending the Law on Police and certain other acts, Journal of Laws of 2016, item 147. 27   Act of 11 March 2016 on amending the Code of Criminal Proceedings and selected other acts, Journal of Laws of 2016, item 437. Specifically, Article 168a of the Code of Criminal Proceedings was amended. The provision says: “Evidence may not be regarded as inadmissible only because it was collected as a result of violation of procedural rules or in consequence of illegal act defined in Article 1 Section 1 of the Criminal Code, unless the evidence was collected in connection with performing duties by the public functionary and as a result of murder, intentional causing of detriment to health or deprivation of liberty”. The wording of this provision suggests that if, for example, evidence was collected as a result of illegal search and seizure or surveillance, such evidence could be declared as admissible in investigation and further court proceedings. 28   Act of 10 June 2016 on Anti-Terrorist Activities, Journal of Laws of 2016, item 904.

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with regard to the services’ oversight opens almost unrestricted space for secret services operations. The new pieces of legislation were subject of complaints to the Constitutional Court, but they have not yet been examined.29 Some of the surveillance powers were subject to review by the Venice Commission.30 The Venice Commission suggested the adoption of several procedural safeguards, as protection against abuse by both the police and secret services in the collection of data. However, the opinion was not implemented. The legislation remains in place since its adoption. All these pieces of legislation strengthened the power of the central government and restricted rights and freedoms. In the legislative process, the government was not taking into account critical voices of independent actors, opposition parties, NGOs or international organizations. In addition, even if external actors issued opinions (such as the Venice Commission) they did not result in any practical or legislative change. Paralysis of the Constitutional Court and control over the Court’s case-docket, including the composition of adjudication panels, proved to be an ultimate remedy in order to secure legislation against any check.

4. Judiciary The year of 2016 was devoted, by the ruling party, to secure the effective control over the Constitutional Court’s operation, as well as to centralize the state power by adopting the several pieces of legislation described above. In 2016, the ruling party also started to discuss the need to reform the judiciary, and submitted specific proposals in 2017. Eventually, the idea evolved how to enact those reforms. Ultimately, it concerned the organization of common courts, the composition of the National Council of Judiciary, and the Supreme Court. It was clear to public opinion that the real aim was not a reform but rather the political subordination of key judicial institutions. The major change was achieved by the Act on the Organization of Common Courts.31 Its method was the appointment of the courts’ presidents. Previously, this power was in the hands of the Minister of Justice, upon consultation with the relevant collegium of judges working in a given court. Under the amendment, it is the unlimited power of the Minister of Justice to appoint and dismiss presidents of courts, as well as key personnel in any court. It should be noted that this Act was adopted in June 2017 by Parliament, along with the Act reforming the National Judicial Council and the Act on the Supreme Court. However, the two latter laws were subject to the Act on Organization of Common Courts that was signed by the President and en29   Motion by the Ombudsman concerning the Law on Anti-Terrorist Activities (K 35/16); motion by the Ombudsman concerning so-called “surveillance” law (K 9/16); motion by the Ombudsman and the National Council of Judiciary concerning the Code of Criminal Proceedings and the “fruits of poisonous trees” doctrine (K 27/16 and K 30/16). 30   Opinion of the Venice Commission on the Act of 15 January 2016 amending the Police Act and certain other acts, 13 June 2016, CDL-AD(2016)012, opinion no. 839/2016, available at http://www. venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-AD(2016)012-e [last access: 28 January 2018]. 31   Act of 12 July 2017 on changing the Law on Organization of Common Courts, Journal of Laws of 2017, item 1452.

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tered into force. The Minister of Justice, in over 100 cases, already took advantage of his sole power, despite protests by the judiciary and public opinion. When it comes to the Act on the National Council of Judiciary (NCJ), the major idea is to change the way of electing judicial appointees to this body. The NCJ is composed of 25 members. Among them there are 15 judges, 4 Sejm deputies, 2 senators, a representative of the President, the First President of the Supreme Court, the President of the Supreme Administrative Court and the Prosecutor General. Judicial appointees were nominated to the NCJ by their peers. However, the government claimed that it should be the role of Parliament to make such appointments. The first amendments to the Act on the NCJ, adopted in June 2017, were vetoed by the President. However, the second version which did not change the appointment-method significantly was passed by Parliament and signed by the President on 20 December 2017.32 Once again, the ultimate result of this law will be the political subordination of this constitutional organ being responsible for judicial appointments.33 Then, the draft law on the Supreme Court was a surprise to many internal and external observers. It was proposed unexpectedly in July 2017 and provided for the dismissal of all judges of the Supreme Court, and the power of the Minister of Justice to pick and choose those judges that should stay. The law also provided for a shortening of the six years term of the First President of the Supreme Court. This draft provoked public outrage. People were on the streets during demonstrations that took place in more than 200 cities. Despite protests, the Act on the Supreme Court was passed by Parliament within one and half weeks from the moment of its submission. Due to massive protests across Poland, the Act on the Supreme Court was vetoed by the President. When the precedential decision on the veto was announced, President Andrzej Duda promised to prepare his own draft laws on the National Council of Judiciary and on the Supreme Court. These Presidential drafts were announced in September 2017. Although they were far from constitutional compliance and rather repeated the majority of instruments contained in the July legislation, those drafts were subject to further negotiation between representatives of the President and the ruling party. At the end, the Act on the National Council of Judiciary provided that 15 judicial members will be elected by the Sejm. There were some cosmetic changes in the legislative process, but this law was passed by Parliament and signed in by the President. The Supreme Court law provided for a few mechanisms that undermine the rule of law and independence of the judiciary. Despite intensive protests by judicial insti-

32   Act of 8 December 2017 on amending the Act on the National Council of Judiciary and some other acts, Journal of Laws of 2018, item 3. 33   In February 2018, the process of selection of the new judicial members of the National Council of Judiciary is implemented. The Association of Polish Judges “Iustitia” as well as major opposition parties were calling for boycott of this process. As a result, there are only 18 candidates for 15 available positions. Most of them are judges working currently as delegated judges in the Ministry of Justice or new appointees as presidents or deputy presidents of the court.

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tutions and associations,34 the Ombudsman,35 NGOs36 and academia,37 the new Act on the Supreme Court was adopted and signed by the President.38 This time, the demonstrations were not as intense as in July 2017. One could feel that due to the prolongation of the legislative process and a variety of socio-political techniques employed by the ruling party, emotions and engagement have faded away. Thus, it was much easier to adopt those changes. The Act on the Supreme Court will enter into force in April 2018. The law includes following controversial mechanisms: – It lowers the retirement age for judges of the Supreme Court from 70 to 65. Acting judges may ask the President of the Republic of Poland for prolongation of their service by additional three years, and then for another three years. This prolongation however requires the President’s consent and is thus regarded as contrary to standards of judicial independence. Currently, judges at the age of 65 constitute 40 % of the Supreme Court’s composition. This provision also applies to the First President of the Supreme Court, Małgorzata Gersdorf, curently 65 years of age. Despite being elected for the six years term (which ends in 2020), she will not be able to continue as the First President of the Supreme Court. – The law establishes two new chambers in the Supreme Court – the Disciplinary Chamber and the Extraordinary Appeals and Public Affairs Chamber. Both chambers will be composed of new judges, either moved from other chambers of the Supreme Court or promoted from lower instances. The Disciplinary Chamber will have a separate structure. There is a risk that this Chamber will exercise quasi-political control over dissident judges. Under the Supreme Court Act, the Minister of Justice will have a certain influence over the composition of this Chamber, as well as over the appointment of extraordinary disciplinary commissioners. – The Extraordinary Appeals and Public Affairs Chamber will review extraordinary appeals. Such appeals might be brought by selected state bodies, including the Ombudsman and the Prosecutor General. Those appeals may concern any final judgment issued within last 20 years. There is a threat that the extraordinary appeals may undermine the stability of law and court judgments. 34   Both amendments to the Law on the National Council of Judiciary and the new Law on the Supreme Court were subject of criticism not only by those institutions themselves, but also by the Association of Polish Judges “Iustitia” and Association of Judges “Themis”. Judicial institutions and associations used different ways to protest, including official statements when the laws were subject of debate in both chambers of Parliament. Interestingly, the Supreme Administrative Court was not participating in the debate concerning judiciary reform. Statements made by some representatives of the judiciary were regarded as symbolic acts. See Adam Bodnar: Free Men and Genuine Judges will Remember about Free Courts, Verf Blog, 2018/1/26, https://verfassungsblog.de/free-men-and-genuine-judges-willremember-about-free-courts/, DOI: https://dx.doi.org/10.17176/20180126-092235. 35   The Ombudsman submitted official legal opinions, commented on draft laws and made official statements when laws were subject of debate in the Sejm and the Senate. 36   The statement of 28 NGOs protesting against reforms of judiciary, 22 November 2017, available at https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/poland/ngos-statement-on-reforms-of-judici ary-in-poland [last access: 28 January 2018]. 37   A few law faculties (including Jagiellonian University, Warsaw University, Silesian University and Wrocław University) made official statements protesting against the laws. 38   Act of 8 December 2017 on the Supreme Court, Journal of Laws of 2018, item 5.

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– The Extraordinary Appeals and Public Affairs Chamber will be responsible for reviewing all decisions and protests concerning elections and referenda, but also concerning different regulatory acts, such as the Radio and Television Broadcasting Act. Until today, this power was in the hands of the Supreme Court’s Chamber on Labour, Social Security and Public Affairs. Under the new law, the “Public Affairs” is moved to this newly created Chamber.   Certainly the new Supreme Court Act will result in serious personal changes in the composition of the Court.39

5.  Challenge to constitutional values The change in Poland in 2015–2017 was not only about independent institutions and the need to limit their powers. What we observe is a systemic attack on fundamental constitutional values. In order to justify reforms, the language of propaganda was used. For example, the Constitutional Court was going to be “repaired” due to its alleged malfunctioning. The change of method of electing judges to the National Council of Judiciary was justified by the need to “democratize” and “bring more legitimacy” to this constitutional organ. The compulsory early retirement of the Supreme Court judges aimed allegedly to get rid of “post-communist” judges. Please note that such arguments were repeated numerous times in public media as well as in press periodicals supporting the ruling majority. Judges were portrayed as creating a special “cast” with privileges. Protest by judicial associations, bar association or NGOs was named a “conspiracy of lawyers”, a protest of “elites” that want to protect benefits from the past. Importantly, in September 2017, the Polish National Foundation, a typical GONGO financed by state-owned companies, started a media campaign against the judiciary, with a series of commercials and billboards presenting some abuses of their position by individual judges. Such propaganda undermined stability and trust into independent institutions and thus paved the way for legislative reform. The government was also taking advantage of a low level of civic and legal awareness. But most strikingly, the government, via such measures, attacked another independent power, the judiciary. It was a painful example of violating constitutional principles. Another set of anti-constitutional actions by the government was its policy towards refugees and migrants. Poland is one of the most homogenous member states of the European Union, with 98 % of the population belonging to the Polish nation, and over 90 % being Roman Catholic. The migration crisis in Europe coincided exactly with the electoral campaign. Therefore, the topic of migration and relocation of refugees within the EU, according to the scheme agreed on by the EU, was subject of intense discussion during the electoral campaign and its aftermath. The argument of a general fear of the Polish society towards migration was used both as a justification of certain legislative reforms (especially surveillance powers of secret services) as   Adam Bodnar, Free Men and Genuine Judges will Remember about Free Courts, Verf Blog 2018/1/26, https://verfassungsblog.de/free-men-and-genuine-judges-will-remember-about-freecourts/, DOI: https://dx.doi.org/10.17176/20180126-092235. 39

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well as a method to increase popular support of government policies. In consequence, Poland has refused to participate in the EU relocation scheme. Until today, no person was transferred into the territory of Poland under this scheme. Also, and despite international criticism, Poland stopped to accept motions for asylum submitted at the Polish-Belarussian border. Polish authorities also refused to open humanitarian corridors, thanks to which a select number of refugees could be transferred from camps in Greece and Italy. Using fear towards refugees and migrants in public discourse increased the number of racially motivated attacks in Poland. One could expect strong political condemnation of such situations. Instead, in 2016–2017, government representatives downplayed their significance. Importantly, in the debate on the migration crisis, the government also exploited anti-European feelings. For example, some politicians claimed that the EU interest in the rule of law developments is a revenge for the Polish policy towards the EU relocation scheme. Also, examples of terrorist attacks from EU countries were portrayed as a natural consequence of EU migration policy. Some people may ask why it was possible for the ruling party to gain such popular support when implementing policies that threaten democratic values. There are a number of explanations for this, no easy answers yet. However, it seems that the ruling party made a good diagnosis of the existing problems in the Polish society, and that it could provide a good recipe in some situations as to how they can be cured. In this context, the social policy of the government needs an appreciation. The government noted the existence of real problems in the Polish society, especially with regard to family policies, housing, and the labor market. The special program supporting families with children, the so-called “500+”, with approximately 120 EUR paid out of the state budget for every second and next child in a family, became a social policy breakthrough. Also, the government invested more money into policies aimed at protecting the labor market. Then, programs on social housing started to be developed. This investment into social policies gave a sense of dignity and respect to large segments of society. It was also a good response to growing aspirations of the society. In the context of such developments, and coupled with economic prosperity, it was easier for the government to overcome international and domestic criticism and to enjoy steady public support.

III.  Current possibilities to protect human rights in Poland In Poland, the Constitutional Court is no longer the independent guardian of human rights as enshrined in the Constitution. This means that the Court does not fulfill its natural role in a democratic state ruled by law. In consequence, citizens do not have a guarantee that legislative acts will be independently verified by the Constitutional Court, especially when there are serious doubts concerning some provisions’ compliance with the Constitution. Moreover, the Constitutional Court which is now subordinated to political power may, from time to time, legitimize legislative instruments promoted by the government. In this context, one should consider how this vacuum created by the Constitutional Court’s loss of independence may be filled. The vacuum could be partially reme-

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died by the direct application of the Constitution by courts, adjudicating in individual cases, thus by a so-called dispersed control of constitutionality of norms. Another remedy is the use of international mechanisms, such as litigation before the CJEU or the ECtHR. However, one should underline that in a constitutional state ruled by law any remedies may only sustain a process of negative changes or may limit some of its consequences but will not replace the Constitutional Court. No court judgment in an individual and specific case will be able to remedy the lack of independent and abstract review of the legal norm. It does not carry the potential of the norm’s elimination from the legal system, as it would be the consequence of a Constitutional Court judgment. Also, as it was presented, the reform of the judiciary creates a direct danger to judicial independence. As of now, we do not know how this process will evolve and how the change in composition of the Supreme Court and the National Council of Judiciary will impact daily adjudication by lower courts. It should be noted that there are more than 9.000 judges in Poland. For many of them, the current situation is perceived as a challenge to their professional and moral integrity, and they will oppose any form of political subordination. At the same time, the Polish judiciary may not work without those judges.

1.  Direct application of the Constitution The dispersed control of constitutionality of norms denotes a method of direct application of the Constitution in the process of adjudication by common courts, administrative courts, military courts and the Supreme Court. Under Article 178 Section 1 of the Constitution, judges are independent, as they are subordinated only to the Constitution and legislative acts. Before 2015, the direct application of the Constitution was questioned by some legal scholars who claimed that the only authority empowered to interpret the Constitution is the Constitutional Court. Thus, in case of constitutional doubts, the role of a regular court was to make a preliminary reference to the Constitutional Court. However, in view of the 2016–2017 constitutional crisis the idea of dispersed review is widely promoted.40 It means that judges should directly rely on constitutional provisions in interpreting and applying legislative norms. They neither should restrict themselves to rely on obvious examples of unconstitutionality of norms that were previously examined by the Constitutional Court.41 According to Ryszard Balicki, the direct application of the Constitution in view of Article 178 of the Constitution is not only a possibility for the judge, but rather an obligation, taking into account the consequences of the constitutional crisis.42   On 3 March 2017 the Association of Polish Judges Iustitia has organized in Katowice a high-level programme conference on direct application of the Constitution and new role of courts. 41   See judgment of the Supreme Court of 17 March 2016, V CSK 377/15. See also Paweł Lewandowski, Bartosz Karolczyk, Rozproszona kontrola konstytucyjności norm prawnych receptą na kryzys konstytucyjny [Dispersed control of legal norms’ constitutionality as a recipe for constitutional crisis], Rzeczpos­ polita daily, 11 February 2017, http://bit.ly/2CFX2fw [last access: 21 January 2018]. 42   Ryszard Balicki, Bezpośrednie stosowanie Konstytucji [Direct application of the Constitution], Kwartalnik Krajowej Rady Sądownictwa [Quarterly of the National Council of Judiciary], No.  4/2016, pp. 13–19, at p. 18. 40

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However, the direct application of the Constitution by judges might be quite difficult in practice. For years, judges were adjusted to the centralization of their thinking of the Constitution, which results in a rather positivist approach to using predominantly legislative norms in adjudication. In case of constitutional doubts, the role of judges in regular courts was to rely on Article 193 of the Constitution, and eventually to make a preliminary reference to the Constitutional Court. The dispersed constitutionality control of legal norms is based on a completely different assumption. Its principal idea is to decentralize judicial thinking on the law, in order to make an individual assessment as to whether legislative provisions comply with the Constitution. But making such an assessment requires special methodological skills. One should hope that the feeling of responsibility for decisions in individual cases, as well as support by higher courts, will create a sufficient intellectual resource for judges to adjudicate accordingly on a daily basis. It is important that they may rely on the jurisprudence of the “old” Constitutional Court that was issued on the basis of the Constitution. This jurisprudence creates a body of acquis constitutionnel, which might be helpful in adjudication.43 According to Marcin Matczak, courts of higher instance should include the use of constitutional principles in their practice as well. If they will show by specific examples how the principle of proportionality or the right to equal treatment could be used in practice, it might be a convincing pattern for courts of lower instances to follow suit.44 Nevertheless, recent changes threatening judicial independence might interrupt a process of dispersed constitutionality control of legal norms. Fear of political pressure and consequences for judicial service, as in appointments, promotions etc., may cause a chilling effect on judges. Because of the new legislation, they might be afraid of disciplinary sanctions.45 Moreover, if the social perception of the judiciary does not change, such attempts to directly enforce the Constitution will not be met with public sympathy. Therefore, it is an equally important task for judges to shape a positive image of the judiciary.46 The direct application of the Constitution is not the only way to resolve conflicts between legislation and the Constitution. Most of the constitutional provisions concerning rights and freedoms find a counterpart in the European Convention on Human Rights. Under Article 91 Section 3 of the Constitution, norms of an interna43   Marek Safjan, Trybunał Konstytucyjny po trzydziestu latach – doświadczenie i przyszłość [The Constitutional Court after 30 years – experience and future], Przegląd Konstytucyjny [Constitutional Review], No.  1/2017, pp. 25–66, at p. 49. 44   Marcin Matczak, O rozbieżności pomiędzy sędziowskim i powszechnym rozumieniem sprawiedliwości oraz sposobach jej usuwania [On discrepancy between judicial and common understanding od justice and on methods how to eliminate it], Kwartalnik Krajowej Rady Sądownictwa [Quarterly of the National Council of Judiciary], No.  4/2017, pp. 22–28, at p. 28. 45   In the context of the judgment of the Appeals Court in Wrocław ( judgment of 27 April 2017, II AKa 213/66), the deputy minister of justice made a statement that the direct application of the Constitution and the refusal to apply Article 168a of the Code of Criminal Procedure (allowing for using evidence, even if collected illegally). He claimed that the judge should face disciplinary proceedings. See on this topic: Maciej Gutowski, Piotr Kardas, Rozdwojenie jaźni ministra [Split personality of the minister], Rzeczpospolita daily of 18 June 2017, http://bit.ly/2lV8i0b [last access: 21 January 2018]. 46   Adam Sulikowski, Krzysztof Otręba, Perspektywy podjęcia rozproszonej kontroli konstytucyjności przez sądy powszechne [Perspectives for courts to undertake the dispersed control of legal norms’ constitutionality], Państwo i Prawo, No.  11/2017, pp. 33–43, at p. 42.

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tional treaty ratified by Poland take precedence over legislative acts, and might be applied directly. Thus, in some instances, judges will not be required to use the Constitution but instead will be able to rely on the ECHR and the ECtHR jurisprudence. In this regard, judges are much better prepared methodologically, but the situation is still not ideal, especially in courts of lower instances.47 Nevertheless, the analysis of a given legal provision from the point of view of Convention compliance (and not the Constitution) may eliminate potential conflicts with the Constitutional Court, and it may contribute to the legitimacy of court judgments.48 Therefore, judges and courts in Poland today face great challenges, namely in finding ways to use both the Constitution and the European Convention on Human Rights in their daily practice and thus ensure respect for the protection of rights and freedoms. This challenge is not only a methodological one. Due to political pressure on the independence of the judiciary, it also creates a moral challenge. One should hope that the internal independence of judges will be a guide for them to find solutions that realize at best human rights guarantees.49

2.  Role of independent bodies in protecting rights and freedoms The Polish Constitution establishes a set of “checks and balances”-institutions. Their role is to control the government. Despite changes concerning institutions, some of them are still independent, and they may have positive impact on protection of rights and freedoms. One such institution is the Ombudsman of the Republic of Poland. It is responsible for the protection of rights and freedoms.50 By now, it is the organ with 30 years of tradition, with extensive powers to investigate human rights’ violations, review complaints by citizens, participate in court proceedings, as well as bringing motions to the Constitutional Court. The current situation, and especially the operation of the Constitutional Court, limits the typical methods of work of the Ombudsman. Nev  Lech Garlicki, Ireneusz Kondak, Poland. Human rights between international and constitutional law, in: Iulia Motoc, Ineta Ziemiele, The Impact of the ECHR on Democratic Change in Central and Eastern Europe. Judicial Perspectives, Cambridge University Press 2016, pp. 305–329; Jacek Chlebny, How a National Judge Implements Judgments of the Strasbourg Court, in: Anja Seibert-Fohr, Mark E. Villiger (eds.) Judgments of the European Court of Human Rights – Effects and Implementation, Nomos 2014, pp. 237–249. 48   Lech Garlicki, Trybunał Konstytucyjny jako współtwórca polskiej kultury prawnej [The Constitutional Court as co-creator of the Polish legal culture], Przegląd Konstytucyjny [Constitutional Review], No.  1/2017, pp. 7–24, at p. 22. 49   The good example of such approach are decisions issued by the Appeals Court in Warsaw concerning demonstrations in Warsaw. Under the amendments to the Law on Assemblies, the new institutions of “cyclical assemblies” was introduced. The Law provided that any counter-demonstrations should not take place in close vicinity of the “cyclical assembly”. However, the Appeals Court in Warsaw decided that this ban on counter-demonstration does not apply to stationary assembly. Decision of the Appeals Court in Warsaw of 2 June 2017, I ACz 889/17 and decision of the Appeals Court of 16 September 2017, VI Acz 2290/17. The Court relied on Article 57 of the Constitution and Article 11 ECHR. 50   For an overview, see Jan Muszyński, Der polnische Bürgerrechtsbeauftragte. Wie das Amt seine Bedeutung erhielt, JöR 64 (2016), 219–241. 47

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ertheless, the Ombudsman may still voice concern on human rights issues, participate in the legislative process, cooperate with civil society and be in a dialogue with other state institutions. A similar yet more limited role is exercised by the Ombudsman for Children. Also, the Supreme Audit Chamber is responsible for the verification of the activities of different state actors. In a number of cases, audits by the Supreme Audit Chamber concerned human rights’ issues, like rights of elderly people and social care, mental health programs, juvenile justice or rights of persons with disabilities. Here, the Supreme Audit Chamber has a positive impact on changing methods how the public administration operates. As long as the Ombudsman, the Ombudsman for Children and the Supreme Audit Chamber are independent institutions, they may provide a certain safeguard for citizens against violations of their rights. Certainly, their role is limited, as any real change in state practices or legislation depends on the reaction by legislative, executive or judicial branch of government. Also, Parliament at any time may adopt legislation changing the scope of operation of such bodies, including a shortening of the term of office.51 Today, the Polish Constitutional Court does not seem to have sufficient political power to stop any such change.

3.  Exercise of political rights by citizens In times when institutional safeguards of human rights’ protection stop to work properly, there is a growing emphasis on the role of individual citizens. Exercise of their political rights may prevent violations of rights, it may stop legislation threatening their rights and freedoms, or it may disclose abuses by public authorities. Citizens may also contribute to the quality of public discourse. Observing public life in Poland in 2015–2017 indicates that in some cases, the exercise of political rights contributed to the protection of human rights. Namely, there were some situations in 2015–2017 showing that the exercise of the freedom of assembly caused significant changes of state practice. The most notable example were demonstrations in July 2017, organized in more than 200 cities, that resulted in presidential vetoes of two laws concerning the judiciary, as described above. Also, the protest of women during so-called Black Monday prevented Parliament from adopting a total ban on abortion.52 The current situation also empowers numerous citizens to create or support non-governmental activities, thus exercising freedom of association. There is a growing number of non-violence protest movements and citizens’ groups, which appeared mostly as a result of protest against “reform” of the Constitutional Court, “reform” of the judiciary, or the restriction of women’s rights. Nevertheless, some activities of the police, prosecutors’ office or se51   See Commission v. Hungary, judgment of the CJEU of 8 April 2014, C-288/12, concerning the pre-mature bringing to an end of the term of the data protection commissioner, as a result of legislation passed by the Hungarian Parliament. 52   Joanna Berendt, Protesters in Poland Rally Against Proposal for Total Abortion Ban, New York Times, 3 October 2016, available at https://www.nytimes.com/2016/10/04/world/europe/polandabortion-black-monday.html [last access: 28 January 2018].

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cret services might have a chilling effect on such activities, exercising the freedom of assembly53 or freedom of association.54 Due to restrictions on the freedom of assembly, and due to the general rule of law situation in Poland, some movements start to refer to a tradition of civil disobedience. A group of citizens, composing the “Citizens of the Republic of Poland” (Obywatele RP) association, decided to block demonstrations organized to commemorate victims of the Smolensk air crash, by organizing sit-ins. This act of civil disobedience was intended to show that regulations introducing cyclical assemblies are contrary to human rights standards, and that they symbolize an attack on rights and freedoms in Poland. Now, some of the participants in sit-ins face proceedings for committing minor crimes. Another example is the refusal by Mr. Władysław Frasyniuk, a famous “Solidarity”-movement hero, to testify at the prosecutor’s office in the context of one such sit-in. By his civil disobedience, he intends to underline that the Prosecutors’ Office is heavily politicized and does not serve the rule of law any longer.55 He is aware of potential criminal responsibility for failing to cooperate with the prosecutors’ office. Nevertheless, his action has a symbolic dimension in the tradition of Henry David Thoreau.56 Another mechanism to control the government is the use of freedom of speech, and the use of measures at the disposal of citizens themselves. Namely, some disclosures made by independent media resulted in important changes of state practice. The most important example is the case of Igor Stachowiak, aired by private television channel TVN24. The disclosure of brutal torture at the police station in Wrocław, with the use of a taser resulting in death of a victim, gave rise to public outrage, parliamentary debate and personal consequences in the police. This example, along with number of serious watchdog activities undertaken by independent journalist, shows the importance of freedom of speech for guaranteeing other constitutional rights and freedoms. The government took the initiative to restrict freedom of private media to operate with a draft law limiting the level of capital concentration in selected media sectors,57 yet this plan was postponed. In December 2017, the National Broadcasting Council decided to impose significant financial penalty on the American-owned television station (TVN),58 but due to external pressure, the penalty was lifted. Nevertheless, it shows that the government now has a number of 53   Report by Amnesty International, Poland: On the Streets to Defend Human Rights, Harassment, Surveillance and Prosecution of Protesters, 19 October 2017, available at https://www.amnesty.org/en/ documents/eur37/7147/2017/en/ [last access: 28 January 2018]. 54   Report by the EU Fundamental Rights Agency, Challenges facing civil society organizations working on human rights in the EU, 19 January 2018, available at http://fra.europa.eu/en/publication/ 2018/challenges-facing-civil-society-orgs-human-rights-eu [last access: 28 January 2018]. 55   Jerzy Sawka, Frasyniuk otworzył nowy front [Frasyniuk opened a new front], „Gazeta Wyborcza” daily of 15 January 2018, available at http://wyborcza.pl/7,75968,22901551,frasyniuk-otworzyl-nowyfront.html [last access: 28 January 2018]. 56   Henry David Thoreau, Resistance to Civil Government (Civil Disobedience), 1849, available at http://www.gutenberg.org/files/71/71-h/71-h.htm [last access: 28 January 2018]. 57   Michał Kobosko, The Shadow over Media, Visegrad Insights, 14 December 2017, available at http:// visegradinsight.eu/the-shadow-over-media/ [last access: 28 January 2018]. 58   James Shotter, Evon Huber, Polish Broadcaster Fine Sparks Press Attack Claim, Financial Times of 11 December 2017, available at https://www.ft.com/content/f9bc604a-de86-11e7-a8a4-0a1e63a52f9c [last access: 28 January 2018].

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legislative and administrative mechanisms that may result in freedom of speech restrictions. So far, major challenges to freedom of speech were fought met successfully, mostly due to the specific ownership structure of the media market, but this situation may change. There are additional specific instruments of controlling state power at the disposal of citizens. Several individuals59 and NGOs60 have good practice in controlling public bodies by the use of freedom of information requests, by way of participation in administrative proceedings and in court proceedings, or by submission of petitions to state bodies. The use of these mechanisms allows to collect important information and thus to secure transparency of public life. As of now, the government did not attempt to restrict this type of activities. However, one may expect that in the future, such administrative practice may evolve and NGOs may face growing restrictions in the exercise of such rights, especially regarding the right of access to public information. Even today, the practice of administrative courts (which is followed closely by administrative organs) tends to limit rights of access to information.61 There is hope that the use of political rights by individuals, NGOs as well as a variety of formal and informal groups will contribute to the transparency of public life, as well as to control the government and prevent abuse, especially with respect to rights and freedoms. Yet the legal environment is becoming more and more difficult to exercise political rights. Nevertheless, over 25 years of practice of living in a free and democratic Poland created a generation of people who are aware of ways to protect and fight for their rights. Therefore, even if traditional legal and institutional mechanisms will erode, the exercise of political rights may slow down the process of non-democratic changes.

4.  International judicial mechanisms Another alternative to protect rights and freedoms in Poland is litigation before the Court of Justice of the European Union and the European Court of Human Rights. The example of Hungary in certain cases shows that a potential violation of the EU law might have a preventive effect in implementing some changes threatening rights and freedoms. The litigation before the ECtHR will not fulfill a similar preventive function, but at least it may provide satisfaction to individual victims whose rights were violated. 59   See for example blog konstytucyjny.pl led by Maciej Pach, which is an excellent resource on the current practice of the Constitutional Court, based on information obtained via FOI motions. 60   The leading organization is the Citizens Network Watchdog Poland. It is not only watchdog organization, but also resource center to anybody interested in using FOI motions in practice, at central or local level. https://siecobywatelska.pl/?lang=en [last access: 28 January 2018]. 61   For example, by extensive use of the notion of „internal document”, which allows public ad­ ministration not to disclose certain documents. Michał Bernaczyk, “Dokument wewnętrzny” jako ograniczenie konstytucyjnego prawa dostępu do informacji publicznej. Rozstrzyganie kolizji w teorii i praktyce prawa [“Internal document” as a restriction of the constitutional right of access to public information. Resolving the collision in the theory and practice of law], Wydawnictwo C.H. Beck, Warsaw 2017.

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Over the years, EU law is growing in terms of competences. As one result, and in view of the paralysis of the Polish Constitutional Court, the CJEU may become a quasi-constitutional court for Poland, when matters come under the EU umbrella. This may include such issues as migration policies, anti-discrimination, data protection, and guarantees of fair trial in the context of the right to defense, as well mutual recognition of judgments or trans-border aspects of family law. As a result of infringement proceedings initiated by the European Commission or preliminary references made by Polish courts, the CJEU may lead to a certain stabilization of the legal system, and it may prevent its deterioration in some aspects that include matters regulated under the EU law. Starting infringement proceedings is a political decision, and one cannot expect that the European Commission will take such a complex decision in a speedy fashion regarding every aspect of legislative acts that may come into conflict with the EU. Therefore, in order for the CJEU to play a “stabilization” role, the practice of preliminary references by domestic courts is important. Such practice requires, again, specific methodological skills on the part of judges. It also requires activism of lawyers or NGOs.62 Again, there is by now a risk that some judges will refrain from making preliminary references due to potential consequences imposed by superior presidents of courts. Therefore, when European integration is not promoted as a value on its own, it might have a certain “chilling effect” on the cooperation by courts with the EU judicial instances. Currently, Polish courts have extensive practice in making preliminary references in cases related to tax issues, to customs, or to state aid. However, there is a growing practice of making preliminary references in cases relating to judicial cooperation, competition rules, protection of property or consumer rights. A recent precedential judgment on immigration rules in Poland63 shows that the CJEU has the potential to become an important mechanism of protection of human rights. Another possibility is litigation of cases before the European Court of Human Rights. Poland has ratified the European Convention on Human Rights on 19 January 1993, 25 years ago. Poland also has a good track record of cases and cooperation with Strasbourg institutions. Just to note, two early “pilot” judgments originated from Poland,64 and these judgments were examples of successful enforcement proceedings. The ECtHR may also provide a remedy to individual victims of human rights’ violations. Now, there are already cases pending before the ECtHR that relate to events of 2015–2017.65 In one of the most important cases, concerning the situa62   As a response to this need, the Helsinki Foundation for Human Rights, Polish leading NGO, organizes trainings on procedure of preliminary references. 63   C-403/16, Soufiane El Hassani v. Minister Spraw Zagranicznych, judgment of the CJEU of 13 December 2017. According to judgment member states of the European Union (in this case Poland) have to provide for an appeal procedure against decisions refusing visas. Those proceedings must, at a certain stage of the proceedings, guarantee a judicial appeal. 64   Broniowski v. Poland [GC], no. 31443/96, ECHR 2004-V; Hutten-Czapska v. Poland [GC], no. 35014/97, ECHR 2006-VIII. 65  Ewa Maria Solska v. Poland, Małgorzata Rybicka v. Poland, applications nos. 30491/17 and 31083/17; M.K. v. Poland (no. 40503/17), M.A. and others v. Poland (no. 42902/17), M.K. and others v. Poland (no. 43643/17), and D.A. and others v. Poland (no. 51246/17) – cases concerning refusal to accept motions for granting the refugee status at the Polish border.

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tion at the border of Brest/Terespol,66 Poland however refused to follow interim measures by the ECtHR. This has not ever happened before in the history of the Polish relations with the Council of Europe. Another problem could be the length of proceedings before the ECtHR. Even if an individual remedy will be provided by the ECtHR, it will not prevent systemic changes that have already happened. The good example is case of Andras Baka v. Hungary.67 Although the ECtHR found a violation of Article 6 and 10 of the Convention, judge Baka could not be reinstated as the President of Curia. In addition, there is a growing trend of so-called “principled resistance”. One may be afraid that Poland will join the club of states that resist implementing certain judgments, especially regarding general measures aiming to change legislation.

5.  International non-judicial mechanisms Poland is a member state of international organizations and has ratified most of the important international human rights’ agreements. Membership in international organizations and a lack of willingness to denounce international human rights’ treaties, which is mostly due to membership in the EU, offers additional possibilities to watchdog activities of the government. In 2016–2017, Poland was subject of review by the UN Committee on Human Rights,68 UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights69 as well as within the Universal Periodic Review mechanism.70 Polish NGOs as well as the Ombudsman participated in those procedures with their shadow reports. Adopted concluding observations and recommendations have reviewed, with satisfactory precision, the situation in Poland regarding the standards of human rights’ protection. Poland was also subject of monitoring by the Council of Europe Commissioner for Human Rights,71 as well as by the UN Special Rapporteur on Judicial Independence.72 The Venice Commission prepared four legal opinions devoted to different   Lydia Gall, Poland Trapping Asylum Seekers in Unsafe Belarus, Human Rights Watch, 16 May 2017, available at https://www.hrw.org/news/2017/05/16/poland-trapping-asylum-seekers-unsafebelarus [last access: 28 January 2018]. 67   Baka v. Hungary [GC], no. 20261/12, ECHR 2016. 68   Concluding observation of the UN Committee on Human Rights on Poland, CCPR/C/POL/ CO/7, available at http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno =CCPR/C/POL/CO/7&Lang=En [last access: 28 January 2018]. 69   Concluding observations on the UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights, E/C. 12/POL/CO/6, available at http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.aspx? symbolno=CCPR/C/POL/CO/7&Lang=En [last access: 28 January 2018]. 70   The UPR process of Poland took place in 2017. See the letter of the UN High Commissioner on Human Rights of 23 October 2017 as a follow-up of the UPR process concerning Poland, available at http://lib.ohchr.org/HRBodies/UPR/Documents/Session27/PL/PolandHCLetter.pdf [last access: 28 January 2018]. 71   Visit report by the CoE Commissioner for Human Rights, Erosion of rule of law threatens human rights protection in Poland, 15 June 2016, available at https://www.coe.int/en/web/commissioner/-/ erosion-of-rule-of-law-threatens-human-rights-protection-in-poland [last access: 28 January 2018]. 72   The UN Special Rapporteur on Judicial Independence Diego Garcia-Sayan visited Poland between 23 and 27 October 2017, See press release after visit, Poland judicial independence under threat, 66

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pieces of Polish legislation. Also, the OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights submitted opinions on Polish legislation.73 Those actions by independent actors were important for the general understanding of the situation in Poland. However, their major addressees were international stakeholders, including the European Union. In most cases, international opinions and statements did not stop the legislator from pursuing legislation that was found to violate international standards.74 They were not, however, subject of a deep discussion in society, beyond interested groups such as lawyers or judicial associations. It seems that the problem is the low level of internalization of international instruments. After 1989, Poland was following closely recommendations of international bodies in the majority of cases. The process of implementation of human rights’ standards was usually a matter of discussion for experts, diplomats or lawyers. There was no significant public debate concerning the importance of international human rights’ treaties for the daily life of citizens. Therefore, the majority of such instruments were almost unknown to opinion-makers, not even to mention ordinary citizens. Thus, NGOs and other actors should continue to engage in the process of monitoring human rights’ compliance via international non-judicial mechanisms. Both the preparation of shadow reports and follow-up activities provide a good forum for discussion. They are like a “mirror” in which one may see oneself more clearly. There is also a chance that some recommendations may eventually be implemented. Certainly, such mechanisms will not fully stop a further erosion of the rule of law. Yet they may slow down the process or even prevent negative changes in some areas. However, in the future, the purpose of any stakeholder participating in the international non-judicial mechanisms should not be limited to high quality contributions as in shadow reports. One should also focus on promoting the instruments by educational and awareness-raising activities.

IV.  Polish future constitutionalism The current situation in Poland provokes questions about the future of Polish constitutionalism. If the developments continue, Poland most probably will follow the Hungarian model, and the ruling party will aim towards changing the Constitution and eventually achieve a stabilization of the changes already made. The newest amendments to the Electoral Code75 may lead towards winning the constitutional 27 October 2017, available at http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx? NewsID=22321&LangID=E [last access: 28 January 2018]. 73   One of the most important opinions of the OSCE ODIHR concerned establishment of the Centre for Development of the Civil Society (and the law stipulating it). There is a risk that this Centre will have a negative impact on access of independent NGOs to public funding. Opinion No. NGOPOL/303/2017 [AlC], available at http://www.osce.org/odihr/336546?download=true [last access: 11 February 2018]. 74   The exception is the veto by President of two laws on judiciary in July 2017. However, it seems that international criticism was just one of the reasons for veto, along with large protests on streets of Polish cities. 75   Act of 11 January 2018 on changing some legal acts in order to increase participation of citizens

Protection of Human Rights after the Constitutional Crisis in Poland

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majority by the ruling party in coming elections, and this may politicize the very process of elections. Now, there are also discussions whether the current crisis may be overturned. Depending on the result of the next parliamentary elections, it is possible to change some pieces of legislation that violate constitutional principles. This concerns media law, state prosecution, or laws regulating secret services. Yet any such laws could later be verified or nullified by the Constitutional Court, loyal to the currently ruling party. It might be very difficult to exclude “double judges” from such adjudication. Therefore, there is a significant risk that legal chaos will deepen over years, and that even a change of ruling parties in elections will not immediately reinstate rule of law standards. Also, after years of such dramatic changes requiring some level of political subordination by judges, prosecutors, civil servants and other state officials, it will be difficult to rebuild an ethos of independence, the impartiality and the non-political character of different state bodies. Nevertheless, even today one should look into the origins of the current crisis. Only proper diagnosis may help in shaping the future of Polish constitutionalism. Polish sociologists tend to say that after 1989 Polish elites have managed to build rule of law institutions but forgot to explain what they are good for. In Poland, similar to some other CEE countries, rule of law institutions have been a relatively new phenomenon. For decades, people have lived in non-transparent and closed societies, governed by centralized power. Trust, responsiveness, accountability or good communication with citizens might still be missing. Therefore, it is important to build institutions, shape practices of good legislation, and strengthen judicial independence and judicial review. But the regulatory rule of law transplants, such as the Constitutional Court, could not suffice. The rule of law should be shaped as a value integrating the whole society. Principles of transparency and accountability should be integrated into the very operation of every state institution, responsive to citizen’s queries, cooperating with each other and listening to such bodies as the ombudsman or audit chambers, not just in legalistic fashion, but to identify their key concerns. Therefore, in a future Polish constitutional state, one should invest a lot of energy not only in the shape of institutions, but also in the way they operate and respond to the needs of a modern state and its citizens.

V. Conclusions Lack of judicial review undermines the entire system of human rights’ protection in a democratic country. The Polish ruling party has learned the Hungarian lesson. The political promise of “bringing Budapest to Warsaw” was almost fully implemented. The Constitutional Court was regarded as a crucial actor that may stop such changes, and the paralysis of the Constitutional Court enabled Parliament to pass legislation centralizing state power and restricting judicial independence. The Polish example showed that the Constitution, even being supported by the majority of legal stakein the process of selection, functioning and control of some public organs, Journal of Laws of 2018, item 130.

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holders, is not able to protect democratic institutions on its own, when there is a dominant political majority in Parliament with popular support. Despite numerous demonstrations, other means of protest, and international criticism, a number of changes were adopted. Mechanisms of internal protection proved to be weak, and changes were a consequence of the low level of legal culture and awareness of “checks and balances”. As a result, in Poland, the protection of human rights currently is not based on legal means such as the legislative process, constitutional review, access to courts. Rather, it is based on a mix of legal and political guarantees. Some of them might be effective, due to the active role of common courts or to public or international pressure, some others – not. But nobody is able to predict the future of such guarantees, especially when the legislature exercises almost unlimited powers. There are still some institutional islands which are not yet affected by the government. For one, upcoming elections of local self-government bodies are of crucial importance, since local governments are not dominated by the ruling party. The current situation is a challenge to many people believing in the value of a democratic state ruled by law. Polish citizens are in this specific situation when every independent person should consider how to be a constitutional patriot, and how to behave when the hitherto principles of the constitutional state are severely questioned. In many cases, the response by citizens is just giving testimony to current events. And testimonies are important. For our dignity, for our lack of consent, for future generations.

Europäisches Recht in der Judikatur des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik von

JUDr. Marta Breichová Lapčáková, PhD., Pavol Jozef Šafárik Universität, Kaschau (Košice), Slowakei Inhalt I. Grundrechte und Grundfreiheiten in der Rechtsordnung der Slowakischen Republik . . . . . . . . . . . . 663 1. Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 2. Verfassung der Slowakischen Republik und Verfassungsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 3. Grundrechte und Grundfreiheiten im Verfassungssystem der Slowakischen Republik . . . . . . . . . 664 4. Völkerrechtliche Verträge in der Rechtsordnung der Slowakischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . 666 II. Anwendung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 1. Frühe Judikatur des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 2. Wandel in der Dogmatik des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670 3. Die EMRK als Interpretationsausweg für die Verfassung der Slowakischen Republik . . . . . . . . 671 4. Einfluss der EMRK auf die slowakische Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 III. Das Recht der Europäischen Union in der Judikatur des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 1. Verhältnis des innerstaatlichen Rechts zum Recht der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 2. Europäischer Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 3. Entscheidung über Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676 4. Vorrang des EU-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 5. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681

I.  Grundrechte und Grundfreiheiten in der Rechtsordnung der Slowakischen Republik 1.  Einführung in die Problematik Der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten in der Slowakischen Republik ist eng mit der Entstehungsgeschichte des slowakischen Staates verbunden. Die „Samtene Revolution“ im Jahr 1989 bedeutete das Ende der kommunistisch beherrschten

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Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR). Sie wurde durch eine demokratische Bundesrepublik abgelöst, die ab 1990 den Namen „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“ trug (ČSFR). 1993 entstanden infolge der Teilung der ČSFR zwei neue, unabhängige Staaten: die Tschechische Republik und die Slowakische Republik. Die Grundlagen des gegenwärtigen Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten wurden in der ČSFR gelegt. 1991 erließ die Bundesversammlung eine „Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten“ (im Folgenden: Grundrechtecharta) als Verfassungsgesetz der ČSFR. Zusammen mit dem Grundrechtsteil der Verfassung der Slowakischen Republik (SV) bildet sie heute das System des Grundrechtsschutzes auf nationaler Ebene. Dieses System wird insitutionell ergänzt durch europäische Koordinierungs- und Integrationsstrukturen, namentlich den Europarat mit der EMRK und das Recht der Europäischen Union. Hieraus ergibt sich eine pluralistische Grundrechtsjudikatur, an der die nationalen Gerichte, der EGMR und der EuGH beteiligt sind. Dieser Grundrechtspluralismus wirft viele Fragen auf, die insbesondere die Rechtsprechungspraxis des slowakischen Verfassungsgerichts betreffen.

2.  Verfassung der Slowakischen Republik und Verfassungsgesetze Mit Gründung der Slowakischen Republik am 1. Januar 1993 trat auch die Slowakische Verfassung in Kraft. Ihr Art.  152 Abs.  1 ordnet die Fortgeltung sämtlicher Rechtsvorschriften der ČSFR an, soweit diese nicht im Widerspruch zur Verfassung stehen.1 Explizit werden damit auch die Verfassungsgesetze der ČSFR in das slowakische Recht übernommen. Das Verfassungsrecht der Slowakischen Republik umfasst daher neben der Verfassung im engeren Sinne auch weitere Gesetze auf normhierarchisch höchster Stufe,2 darunter auch die Grundrechtecharta der ČSFR. Das Verhältnis der Verfassung zu diesen weiteren Verfassungsgesetzen ist in Art.  152 Abs.  4 SV geregelt. Die Auslegung und Anwendung der Verfassungsgesetze muss demnach „im Einklang“ mit der Verfassung stehen.

3.  Grundrechte und Grundfreiheiten im Verfassungssystem der Slowakischen Republik Nach der Samtenen Revolution im Jahre 1989 ging die demokratische Regierungsform von einer Wertediskontinuität mit dem vorherigen totalitären Regime aus.3

1   Gemäß Art.  152 Abs.  1 S.  2 der Verfassung der Slowakischen Republik können sie nur durch die zuständigen Organe der Slowakischen Republik geändert und aufgehoben werden. 2  Vgl. Marta Lapčáková, Retrospektívny pohľad na postavenie ústavy a ústavných zákonov v systéme normatívnych právnych aktov, in: L. Orosz/G. Dobrovičová (Hrsg.), 15 rokov Ústavy Slovenskej republiky, 2007, S.  139; Ladislav Orosz, K problémom kompatibility ústavného systému Slovenskej republiky, Justičná revue, 2005, Nr.  3, S.  324. 3   Beschluss des Verfassungsgerichts ČSFR Nr.  14/1992.

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Die ČSFR war bestrebt, dem Europarat beizutreten.4 In diesem Zusammenhang erließ die Bundesversammlung die Grundrechtecharta der ČSFR, mit der nach dem Vorbild westlicher Demokratien grundlegende Freiheitsrechte verbürgt wurden.5 Die Grundrechtecharta, die von einer naturrechtlichen Konzeption der Menschenrechte6 ausging, erlangte in kurzer Zeit auch international Anerkennung.7 Ihre Ideenquelle waren wichtige völkerrechtliche Verträge über Menschenrechte und Freiheiten, allen voran die EMRK und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte.8 Die Grundrechtecharta der ČSFR kann über Art.  152 Abs.  1 SV ohne weiteres als Verfassungsgesetz der Slowakischen Republik fortgelten, da ihre Bestimmgen nicht im Widerspruch zur Slowakischen Verfassung stehen.9 Die Verfassung übernahm vielmehr ihrerseits das zentrale Kapitel der Charta („Grundrechte und Freiheiten“) und weicht im Übrigen nur minimal von den Grundrechtsgewährleistungen der Charta ab.10 Auch infolge der Übernahme der Grundrechtecharta wurden die völkerrechtlichen Vorgaben der EMRK direkt in das slowakische Verfassungsrecht transformiert,11 was auch die Begründung des Verfassungsentwurfs verdeutlicht: „Die Regelung der Verfassungsrechte und Freiheiten geht von den internationalen Verträgen und Konventionen über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus […]. Ihre zusammenfassende Verankerung wurde bereits durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte und Freiheiten durchgeführt […]. Der vorgelegte Vorschlag entwickelt die in der Charta beinhaltete Regelung der Grundrechte und Grundfreiheiten weiter.“ Die Slowakische Republik verfügt damit über eine Doppelung des Grundrechtsschutzes, die zu Anwendungsproblemen führen kann, da der Inhalt der Grundrechtskataloge von Charta und Verfassung zwar vergleichbar, nicht jedoch identisch ist.12 Dieses Parallelregime bereitet dem Verfassungsgericht in der Praxis jedoch keine ernsthafteren Schwierigkeiten.13 Infolge der besonderen Entstehungsgeschichte der Slowakischen Republik und der prinzipiellen Einstellung der Slowakei zur Re  Alexander Bröstl, Ústavný vývoj Slovenskej republiky, in: Alexander Bröstl u.a., Ústavné právo slovenskej republiky, 2015, S.  39. 5   Patrik Príbelský, Základné práva a slobody, in: Alexander Bröstl u.a., Ústavné právo slovenskej republiky, 2015, S.  74. 6   Vgl. z.B auch: Alexander Bröstl/Ľudmila Gajdošíková, Grundrechte in der Slowakei, in: D. M./H. J. Papier/R. Arnold (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band IX, 2016, S.  226; Ján Svák/Ľubor Cibulka/ Karel Klíma, Ústavné právo Slovenskej republiky, 2009, S.  48. 7   Ladislav Orosz, Listina základných práva a slobôd ako súčasť ústavného systému Slovenskej republiky, in: Listina a současnost, 2010, S.  155. 8  Vgl. Igor Palúš u.a., Ústavné právo Slovenskej republiky, 2016, S.  46. 9   Štefan Grman, Implementácia európskeho Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd do slovenského právneho poriadku, in: Justičná revue, 1993, Nr.  12, S.  19. 10   Ladislav Orosz, K niektorým problémom ústavnosti zániku ČSFR a vzniku samostatnej Slovenskej republiky, Právny obzor, 1993, Nr.  3, S.  295. 11   Ján Kľučka, Medzinárodné právo a Ústava Slovenskej republiky, 1996, S.  91. 12  Vgl. Ladislav Orosz, Listina základných práva a slobôd ako súčasť ústavného systému Slovenskej republiky, in: Listina a současnost, 2010, S.  156, 160. 13   Ľudmila Gajdošíková, Uplatňovanie Listiny základných práv v konaní pred Ústavným súdom Slovenskej republiky, in: Listina a současnost, 2010, S.  78. 4

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gelung der Grundrechte und Grundfreiheiten14 kann man insgesamt von einer großen Ähnlichkeit der drei Grundrechtsverbürgungen sprechen: der Grundrechtecharta, der slowakischen Verfassung sowie der EMRK. Inhaltliche Widersprüche zwischen der Charta und der Verfassung sind mithilfe des Art.  152 Abs.  4 SV lösbar, nach dem die Verfassung den eindeutigen Anwendungs- und Interpretationsvorrang hat. Widersprüche zwischen Verfassung und EMRK sind jedoch auf andere Weise zu vermeiden.

4.  Völkerrechtliche Verträge in der Rechtsordnung der Slowakischen Republik Zur Bedeutung von völkerrechtlichen Verträgen nahm das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik in einem seiner ersten Beschlüsse Stellung: „Im Verfahren über den Einklang der Rechtsvorschriften vor dem Verfassungsgericht der Slowakischen Republik […] bestehen [grundsätzlich] keine Bedenken zur Interpretation eines Rechtsbegriffs […] eine Auslegungsmethode zu wählen, die nicht nur auf der Verfassung der Slowakischen Republik basiert, […] sondern auch auf den Interpretationsregeln des Völkervertragsrechts. Die Beschränkung der Auslegung auf die innerstaatliche Auslegung könnte im konkreten Fall auch zur Verletzung internationaler Verpflichtungen und einer entsprechenden internationalen Verantwortlichkeit der Slowakischen Republik führen.“15 Art.  11 SV a.F. bzw. Art.  7 Abs.  5 SV n.F. ordnet nämlich einen Vorrang völkerrechtlicher Verträge über Menschenrechte und Grundfreiheiten vor den Gesetzen der Slowakischen Republik an. Die Verfassung der Slowakischen Republik enthält hingegen keine Vorschrift, die geltende völkerrechtliche Verträge generell in das slowakische Recht transformiert.16 Aus Art.  11 SV leitete das Verfassungsgericht aber den Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung im Bereich des Grundrechtsschutzes ab: „Wenn es möglich ist, die Rechtsnorm auf zweierlei Weise zu interpretieren, wobei eine Auslegung im Einklang mit der Verfassung der Slowakischen Republik und den internationalen Konventionen gemäß Art.  11 der Verfassung der Slowakischen Republik steht, und die zweite Auslegung mit ihnen nicht im Einklang steht, dann existiert kein Verfassungsgrund für die Auf hebung dieser Rechtsnorm.“17 Art.  11 wurde durch Art.  2 des Verfassungsgesetzes Nr.  23/1991 inspiriert, durch den die Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten inkorporiert wurde.18 Dieser enthält nur einen „bedingten Vorrang völkerrechtlicher Verträge“. Mit Blick auf den vergleichbaren §  2 dieses Verfassungsgesetzes ließ sich die Stellung völkerrechtlicher Verträge (einschließlich der EMRK) im slowakischen Recht auf verschiedene Arten   Die Tschechische Republik vermied diese Doppelregelung und brachte die Charta der Grundrechte und -Freiheiten durch das Verfassungsgesetz Nr.  2/1993 Gbl. in die Rechtsordnung ein. 15   PL. ÚS 5/93. 16  Weiterführend Ján Kľučka, O ústavnej úprave medzinárodného a vnútroštátneho práva, in: Justičná revue, 1999, Nr.  4, S.  2 . 17   PL. ÚS 15/1998. 18   Bohumil Repík, Postavenie Európskeho Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd a rozhodnutí Európskeho súdu pre ľudské práva v rámci slovenského právneho poriadku, Justičná revue, 1993, Nr.  12, S.  7. 14

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interpretieren: Die Lesarten reichen von einem Rang über der Verfassung über den Gleichrang mit dem Verfassungsgesetz bis zur Annahme eines Vorrangs vor dem einfachen Gesetz, also einer Zwischenstufe zwischen Verfassung und Gesetz.19 Eine ähnliche Diskussion wurde mit Blick auf Art.  11 SV geführt.20 Schließlich setzte sich die Meinung durch, völkerrechtliche Verträge auf einer Zwischenstufe zwischen der Verfassung und den Gesetzen einzuordnen.21 Diese Stellung bewahrten sich die völkerrechtlichen Verträge über die Menschenrechte und Freiheiten auch nach der sog. großen Verfassungsnovelle 2001,22 wobei gleichzeitig der Katalog der internationalen Verträge mit dieser Vorrangstellung vor dem Gesetz erweitert wurde. Die Verfassungsnovelle wurde durch Integrationsambitionen der Slowakischen Republik ausgelöst. Bereits seit 1992 gab es Bemühungen der Slowakei, Mitglied der Europäischen Union und der NATO zu werden.23 Die große Verfassungsnovelle betraf auch das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht ein. War die Slowakei früher Vertreter des sog. gemäßigten Dualismus, ging sie nun zur monistischen Theorie mit dem Vorrang des Völkerrechts über.24 Diese Veränderung ergibt sich aus dem neu eingeführten Art.  1 Abs.  2 SV: „Die Slowakische Republik anerkennt die grundsätzlichen Bestimmungen des Völkerrecht, die von ihr abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge und ihre weiteren völkerrechtlichen Verpflichtungen und hält daran fest.“ Aus diesem Artikel ergeben sich zunächst keine Anwendungsfolgen. Er hat aber Bedeutung für die Auslegung der Verfassung oder des einfachen Rechts.25 Auch wenn Art.  1 Abs.  2 SV sich auf andere Quellen des Völkerrechts bezieht,26 billigt die Verfassung den ausdrücklichen Vorrang nur den völkerrechtlichen Verträgen zu.27 Art.  7 Abs.  5 SV bestimmt: „Völkerrechtliche Verträge zu Menschenrechten und Grundfreiheiten, völkerrechtliche Verträge, die nicht durch Gesetz umgesetzt werden müssen, und völkerrechtliche Verträge, die unmittelbar Rechte oder Pflichten von natürlichen oder juristischen   A.a.O., S.  10.  Siehe z.B. Ján Azud, K otázke rozhodovania Ústavného súdu SR o súlade Ústavy SR s medzinárodnými zmluvami (o ľudských právach), Právny obzor, 1994, Nr.  3, S.  292; Patrik Príbelský, Ústava a medzinárodné zmluvy – od nezáujmu k partnerstvu, in: Medzinárodné zmluvy ako prostriedok globalizácie práva v 21. storočí, 2011, S.  68, S.  73; Ján Kľučka, Medzinárodné právo a Ústava Slovenskej republiky, 1996, S.  64; Ján Čorba, Prednosť medzinárodných zmlúv pred zákonom, Justičná revue, Nr.  6 –7, S.  715 f. 21   I. ÚS 91/99. 22  Verfassungsgesetz Nr.   90/2001 Gbl., durch das die Verfassung der Slowakischen Republik Nr.  460/Gbl. in der Fassung der späteren Vorschriften geändert und ergänzt wird. Das Inkrafttreten war am 1.7. 2001. 23   Ľubomír Fogaš, Ústava Slovenskej republiky – základ stability štátu, in: L. Orosz/G. Dobrovičová (Hrsg.), 15 rokov Ústavy Slovenskej republiky, 2007, S.  39. 24  Weiterführend Juraj Jankuv, Postavenie medzinárodných zmlúv v právnom poriadku Slovenskej republiky, in: Teória aplikácie medzinárodnej zmluvy ako nástroja právnej regulácie na národnej, medzinárodnej a komunitárnej úrovni, 2009, S.  25–40; Ján Kľučka, Miesto a úprava noriem medzinárodného práva v Ústave Slovenskej republiky, 2002, Nr.  4, S.  382. 25   Ján Čorba, Prednosť medzinárodných zmlúv pred zákonom, Justičná revue, 2002, Nr.  6 –7, S.  704– 705. 26  Vgl. Ján Kľučka, Miesto a úprava noriem medzinárodného práva v Ústave Slovenskej republiky, 2002, Nr.  4, S.  382. 27   Lucia Berdisová, Medzinárodnoprávna doktrína Slovenskej republiky, in: Alexander Bröstl u.a., Ústavné právo slovenskej republiky, 2015, S.  93. 19

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Personen begründen, und die ratifiziert und die auf gesetzmäßige Weise verkündet wurden, haben Vorrang vor den Gesetzen.“ Dieser Artikel legt also explizit den Anwendungsvorrang der genannten völkerrechtlichen Verträge vor dem Gesetz fest. Den Grad der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge legt Art.  7 Abs.  4 SV i.V.m. Art.  125 Abs.  1 und Art.  125a SV fest. Art.  7 Abs.  4 SV enthält eine umfassende Auflistung der völkerrechtlichen Verträge, bei denen vor der Ratifikation die Zustimmung des Nationalrates der Slowakischen Republik erforderlich ist. Zu diesen zählen auch Verträge über Menschenrechte und Grundfreiheiten.28 Gemäß Art.  125 Abs.  1 Buchst. a) entscheidet das Verfassungsgericht darüber, ob die Gesetze im Einklang mit der Verfassung stehen, mit den Verfassungsgesetzen und mit den internationalen Verträgen, denen der Nationalrat der Slowakischen Republik zugestimmt hat und die gesetzmäßig ratifiziert und verkündet wurden. Aufgrund von Art.  125a überprüft das Verfassungsgericht auch die Vereinbarkeit von internationalen Verträgen, für die die Zustimmung des Nationalrats der Slowakischen Republik erforderlich ist, mit der Verfassung. Falls das Verfassungsgericht beschließt, dass der internationale Vertrag mit der Verfassung unvereinbar ist, kann ein solcher internationaler Vertrag nicht ratifiziert werden. Ganz oben in der Normenhierarchie stehen also die Verfassung und die Verfassungsgesetze, unter ihnen stehen die internationalen Verträge, denen der Nationalrat der Slowakischen Republik seine Zustimmung erteilt hat (also nicht alle internationalen Verträge), darunter rangieren die Gesetze und andere internationale Verträge und am Schluss stehen die Durchführungsrechtsvorschriften.29 Die internationalen Verträge gemäß Art.  7 Abs.  5 zeichnen sich also neben dem Anwendungsvorrang vor dem Gesetz auch durch eine höhere Stufe der Rechtskraft aus. Den internationalen Verträgen wurde immer nur der Vorrang (sei es Anwendungsvorrang oder die hö­ here Stufe der Rechtskraft) vor dem Gesetz zuerkannt, jedoch niemals vor der Verfassung. Auf der einen Seite lassen sich die verschiedenen Rechtsschichten des Verfassungs-, Völker- und einfachen Rechts in ein klares normenhierarchisches System bringen. Auf der anderen Seite lässt sich eine Dekonstruktion der traditionellen Normenhierarchie als Stufenbaupyramide der Rechtsvorschriften, an der die Verfassung an der Spitze steht, beobachten hin zu einem dynamischen Verständnis der Rechtsordnung.30 Das Recht der Konvention überschreitet nämlich die gedachten Grenzen zwischen dem internationalen und eigenen Recht und weist eher eine Rechtsnatur sui generis auf.31 Die Judikatur des EGMR wirkt indirekt und vermittelt nur einen Teil des Verfassungsrechts der Konventionsstaaten ohne Berücksichtigung ihres Ver28   Siehe auch Miloš Haťapka, K článku „Prednosť medzinárodných zmlúv pred zákonom“, Justičná revue, 2002, Nr.  8 –9, S.  936–645; Radoslav Procházka, Postavenie a účinky medzinárodných zmlúv v právnom poriadku SR, Justičná revue, 2003, Nr.   10, S.   863–871; Radoslav Procházka, Viazanosť všeobecných súdov medzinárodnými zmluvami, Justičná revue, Nr.  11, S.  1005–1013; Robert Lindenthal, Niektoré problémy spojené s postavením medzinárodných zmlúv vo vnútroštátnom právnom poriadku, Justičná revue, 2003, Nr.  1, S.  73–81. 29  Vgl. Gabriela Dobrovičová, Vybrané otázky recentných prameňov práva v Slovenskej republike, 2004, S.  50. 30   Tomáš Ľalík, Záväznosť rozhodnutí ESĽP a dekonštrukcia ústavného práva, Právník, 2013, Nr.  1, S.  60. 31   Ján Šikuta, Význam Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd, jeho povaha a inter-

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hältnisses zum übrigen Völkerrecht.32 Das lässt sich auch in der Judikatur des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik beobachten.

II.  Anwendung der EMRK 1.  Frühe Judikatur des Verfassungsgerichts Die EMRK gehört in der Slowakei zu den wichtigsten rechtlich bindenden internationalen Dokumenten, welche die Frage der Menschenrechte regeln.33 Die Slowakische Republik wurde ein wenig untypisch zum Mitglied des Europarats. Als Nachfolgerstaat der ehemaligen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik übernahm sie deren Verpflichtungen einschließlich der vertraglichen Verpflichtungen, die aus der Konvention resultierten. Zum Mitglied des Europarats wurde sie erst am 30. Juni 1993, jedoch beschloss der Ausschuss der Minister des Europarats, dass die Slowakische Republik die Mitgliedschaft der Konvention mit Wirkung ab dem 1. Januar 1993 erhält, wodurch es zur Sukzession mit rückwirkender Wirksamkeit kam.34 Welcher Modus bezieht sich auf die EMRK? Es ist weder der Modus von Art.  7 Abs.  4 noch der Modus von Art.  7 Abs.  5. Auf die Konvention bezieht sich bis heute der Modus des aufgehobenen Art.  11, der nach der Verfassungsnovelle im Jahr 2001 zum Inhalt des Art.  154c Abs.  1 im Rahmen der vorübergehenden und abschließenden Bestimmungen wurde. Die Konvention hat den Vorrang vor dem Gesetz nur dann, wenn sie einen größeren Bereich der Rechte und Freiheiten als die gesetzliche Regelung absichert. Mit dieser Ansicht schloss sich die Slowakische Republik der Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats mit besagtem Rechtsregime an. Die große Novellierung der Verfassung brachte aber doch eine Änderung im Bereich der Anwendung der Konvention. Vor der Neufassung hat das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik die Konvention nicht als Bestandteil des Verfassungsrechts betrachtet, da nach seiner Meinung „internationale Konventionen zu Menschenrechten eine Sonderstellung im System der Rechtsquellen der Slowakischen Republik haben. Unter den Bedingungen, die im Art.  11 der Verfassung festgesetzt sind, haben sie den Vorrang vor den Gesetzen der Slowakischen Republik. Auch wenn sie den Vorrang vor den Gesetzen haben, haben sie keinen Vorrang vor der Verfassung. Sie können nicht für einen Bestandteil des Verfassungsrechts gehalten werden. Deshalb haben der Schutz der Menschenrechte und die aus ihnen resultierenden Freiheiten nicht den Charakter eines Verfassungsguts. Das Verfassungsgericht akcia s národným poriadkom, in: Postavenie ústavných súdov a ich vplyv na právny poriadok štátu, 2013, S.  123. 32   Tomáš Ľalík, Záväznosť rozhodnutí ESĽP a dekonštrukcia ústavného práva, Právník, 2013, Nr.  1, S.  60. 33  Vgl. Patrik Príbelský, Základné práva a slobody, in: Alexander Bröstl u.a., Ústavné právo Slovenskej republiky, 2015, S.  82. 34  Weiterführend Bohumil Repík, Postavenie európskeho Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd a rozhodnutí Európskeho súdu pre ľudské práva v rámci slovenského právneho poriadku, Justičná revue, Nr.  12, S.  6 –7.

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ist ein Organ des Verfassungsschutzes. Infolgedessen hat das Verfassungsgericht keine Zuständigkeit, wenn das Rechtssubjekt die Verletzung der internationalen Konvention beanstandet, ohne gleichzeitig auch den Schutz eines Grundrechts oder einer von der Verfassung der Slowakischen Republik garantierten Freiheit anzustreben.“35 Die ursprüngliche Fassung des Art.  127 der Verfassung ermöglichte dem Verfassungsgericht nämlich nicht, eine Verletzung der Grundrechte und Grundfreiheiten zu untersuchen, die durch internationale Verträge garantiert sind. Die große Verfassungsnovelle 2001 erweiterte aber grundsätzlich die Derogationsberechtigungen des Verfassungsgerichts und schuf die Bedingungen für ein stärkeres Eindringen der internationalen Verträge in die Rechtsordnung, einschließlich der EMRK und der Judikatur des EGMR.36 Nach Art.  127 n.F. lässt sich heute auch „die Verletzung der Grundrechte oder -freiheiten oder der Menschenrechte und der aus den internationalen Verträgen resultierenden Grundfreiheiten“ anfechten. Anschließend hat das Verfassungsgericht entschieden, auch über die Konventionswidrigkeit des einfachen Rechts zu urteilen, obgleich Art.  127 der Verfassung ausschließlich individuelle Verfassungsbeschwerden betrifft.37 Prozessual erweiterte das Verfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde um eine Konventionskontrolle des einfachen Rechts. Somit hält das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik die Konvention für einen Bestandteil des Verfassungsrechts, welches den Maßstab für die Überprüfung der Gesetze darstellt.38

2.  Wandel in der Dogmatik des Verfassungsgerichts Das Verfassungsgericht hat also seinen Standpunkt neu bewertet und den Anwendungsvorrang der Konvention vor den slowakischen Gesetzen anerkannt. Die meisten Verfassungsklagen in der Gegenwart rügten neben der Verletzung der Verfassung auch die Verletzung der von der Konvention geschützten Menschenrechte.39 Den Anwendungsvorrang der Konvention beachtet das Verfassungsgericht aber aus der Sicht des Art.  11 (dem heutigen Art.  154c Abs.  1). Falls die Konvention eine Freiheitsbeschränkung zulässt, die über den Rahmen dessen hinausgeht, den die Verfassung ermöglicht, hat diese in der Slowakischen Republik nicht den Charakter einer Rechtquelle. Das Verfassungsgericht hat in dem Beschluss mit dem Aktenzeichen II. ÚS 28/96 ausgeführt: „Gemäß Art.  10 Abs.  2 EMRK kann die Meinungs- und Informationsfreiheit aus mehr Gründen eingeschränkt werden als jenen, die Art.  26 Abs.  4 der Verfassung nennt. Die Gründe, die bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit und   II. ÚS 91/99.  Vgl. Ľubica Masárová, Aplikovateľnosť čl. 6 Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd v daňovej oblasti (Právo na spravodlivý proces), 2015, S.  15. 37   Pl. ÚS 25/01. 38  Weiterführend Radoslav Procházka, Európsky dohovor o ľudských právach v slovenskom ústavnom poriadku, in: Časopis pro právni vědu a praxi, 2002, Nr.  3, S.  215–219. 39   Ján Svák/Boris Balog, Vplyv rozhodnutí ESĽP na spravodlivý proces, in: Ochrana ľudských práv a základných slobôd ústavnými súdmi a medzinárodnými súdnymi orgánmi, III. Ústavné dni, 2014, S.  35. 35

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des Informationsrechts gemäß der Konvention, aber nicht gemäß der Verfassung anerkannt werden, haben nicht die Form der Rechtsquelle der Slowakischen Republik, denn die Konvention hat gemäß Art.  11 der Verfassung den Vorrang vor den Gesetzen der Slowakischen Republik nur dann, wenn durch sie weitergehende Grundrechte und Freiheiten gewährt werden.“ Das Verfassungsgericht hat zudem festgestellt, dass es „bei der Abgrenzung der durch die Verfassung gewährten Rechte und Freiheiten, falls es die Verfassung nicht ausschließt, die Fassung der einschlägigen internationalen Verträge und die sich auf sie beziehende Judikatur berücksichtigt.40 Das slowakische Verfassungsgericht hat der EMRK folglich die Stellung einer Rechtsquelle zugestanden, aber nur soweit sie nicht der Verfassung der Slowakischen Republik widerspricht. Aus den erwähnten Beschlüssen des Verfassungsgerichts könnte man auf eine zurückhaltende Einstellung des Verfassungsgerichts zur EMRK schließen. Tatsächlich stellt sich die Interpretationsverbindlichkeit der Konvention aber anders dar.

3.  Die EMRK als Interpretationsausweg für die Verfassung der Slowakischen Republik Das Verfassungsgericht hat an mehreren Stellen verdeutlicht, dass die internationalen Verträge zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten eine unterstützende Bedeutung vor allem bei der Wiedergabe der Auslegung der Verfassung haben,41 wobei die Verfassung nicht auf eine Art ausgelegt werden darf, die die Verletzung eines internationalen Vertrags zu Menschenrechten begründen würde, falls die Slowakische Republik Partei eines solchen Vertrags ist.42 Das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik bemüht sich, die Verfassung im Einklang mit der Konvention und der an sie anknüpfenden Judikatur des EGMR zu interpretieren. „Die Auslegung der durch die Konvention garantierten Rechte und Freiheiten durch den EGMR ist eine der Orientierungsrichtlinien, mittels derer das Verfassungsgericht den normativen Inhalt der Rechte und Freiheiten postuliert, die durch die Verfassung garantiert werden. Im vorliegenden Fall ist diese Auslegungstechnik relevant, sofern es um den Zusammenhang des Rechts aus Art.  46 Abs.  2 Verfassung mit dem Inhalt des Art.  6 Abs.  1 EMRK geht.“43 Aus solchen Beschlüssen folgt, dass das Verfassungsgericht den Artikeln der Verfassung den gleichen Inhalt zuspricht wie ihn die entsprechenden Rechte in der EMRK und in der Judikatur des EGMR haben. Das aber kann problematisch sein, da der Inhalt der Rechte nicht identisch ist. Obige Entscheidung bezieht sich u.a. auf das erwähnte Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art.  46 Abs.  2 Verfassung44 und Art.  6 Abs.  1 EMRK. Das Verfassungsgericht beharrt auf seinem Stand  I. ÚS 49/01.   II. ÚS 48/97. 42   II. ÚS 48/97; Pl. ÚS 15/98. 43   I. ÚS 3/2001. Ähnlich auch: I. ÚS 16/02. 44   Art.  6 Abs.  2 der Verfassung der Slowakischen Republik: Wer behauptet, dass er durch die Beschlüsse der Organe der öffentlichen Verwaltungen in seinen Rechten verletzt wurde, kann sich an das 40 41

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punkt und behauptet weiterhin, dass „die Konvention und die sich auf sie beziehende Judikatur für die innerstaatlichen Organe bindende Vorgaben für die Auslegung und Geltendmachung des Rechts auf gerichtlichen und anderen Rechtsschutz darstellen, die im siebten Abschnitt des zweiten Kapitels verankert sind. Dadurch wird der Rahmen normiert, den die Organe im konkreten Fall nicht überschreiten dürfen.“45 Gleichzeitig ist die ältere Judikatur des Verfassungsgerichts, die der EMRK nur die Stellung des unterstützenden Arguments zugestanden hat, überholt. Während es in seinen früheren Beschlüssen die Verletzung der von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten feststellte und den Anträgen nicht stattgab, zugleich eine Konventionsverletzung festzustellen,46 sieht das Verfassungsgericht inzwischen von der subsidiären Anwendung der EMRK ab und überprüft sowohl die Vereinbarkeit mit der Verfassung der Slowakischen Republik als auch mit der Konvention.47 Auch wenn das Verfassungsgericht die Befugnis hat, eine Konventionsverletzung ohne gleichzeitigen Verfassungsverstoß festzustellen, kommt es eher selten dazu.48 Das Verfassungsgericht verbleibt zwar weiterhin bei seiner Meinung, dass die Verfassung der Slowakischen Republik der Konvention übergeordnet ist.49 Laut dem Verfassungsgericht hat die Verfassung der Slowakischen Republik „den Charakter der Grundrechtsquelle, die anderen Rechtquellen übergeordnet ist“ (II. ÚS 48/97). Die Verfassung übernimmt aber weitgehend die Formulierungen der Menschenrechte und Freiheiten so, wie sie in den völkerrechtlichen Verträgen über Menschenrechte und Freiheiten definiert sind (II. ÚS 91/99). Die Bestimmungen der Konvention, die der EGMR als „Verfassungsinstrument der europäischen öffentlichen Ordnung“ qualifiziert hat, „[…] treten vor der innerstaatlichen Norm in den Hintergrund, wenn diese mehr Schutz bietet (Art.  53 der Konvention), aber im umgekehrten Falle kompensieren die Vorschriften der EMRK die Ungenauigkeiten, Lücken und Mängel der Verfassung.“50 Die Konvention stellt nur Mindeststandards beim Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar. Das Verfassungsgericht ist durch die Konvention und die anknüpfende Judikatur des EGMR nur dann gebunden, wenn durch sie dieser Mindeststandard des Schutzes erfüllt wird. Das Verfassungsgericht nimmt die Konvention nicht etwa als Hindernis bei der Gewährung eines höheren verfassungsrechtlichen Menschenrechtsstandards wahr.51 Das Urteil des Verfassungsgerichts Nr. I. ÚS 5/02 Gericht wenden, damit es die Rechtsgültigkeit eines solchen Beschlusses prüft, wenn das Gesetz es nicht anders bestimmt. Aus der Befugnis des Gerichts darf jedoch die Überprüfung der Beschlüsse in Bezug auf Grundrechte und Freiheiten nicht ausgeschlossen werden. 45   I. Ú 36/02; Vgl. auch I. ÚS 1/03. 46   III. ÚS 411/2010. 47  Vgl. Radoslav Procházka, Európsky dohovor o ľudských právach v slovenskom ústavnom poriadku, in: Časopis pro právni vědu a praxi, 2002, Nr.  3, S.  217–218; Ján Svák/Boris Balog, Vplyv rozhodnutí ESĽP na spravodlivý proces, in: Ochrana ľudských práv a základných slobôd ústavnými súdmi a medzinárodnými súdnymi orgánmi. – III. Ústavné dni, 2014, S.  35. 48   Siehe z.B. PL. ÚS 25/01. 49  Vgl. Ľubica Masárová, Aplikovateľnosť čl. 6 Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd v daňovej oblasti (Právo na spravodlivý proces), 2015, S.  15. 50   I. ÚS 5/02. 51  Vgl. Ivetta Macejková, Vybrané rozhodnutia medzinárodných súdnych orgánov v rozhodovacej činnosti Ústavného súdu Slovenskej republiky, in: Tomáš Majerčák (Hrsg.), Ústavné dni – Implementá-

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entspricht somit dem Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 14.10.2004.52

4.  Einfluss der EMRK auf die slowakische Rechtsordnung Durch den Einfluss der Judikatur des EGMR kam es zu einem deutlichen Eingriff in die materielle Entscheidungshoheit des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik. Gemäß der ursprünglichen Fassung von Art.  133 der Verfassung war der Beschluss des Verfassungsgerichts endgültig. Nach der neuen Fassung der Verfassung gilt jedoch: „Gegen den Beschluss des Verfassungsgerichts kann kein Rechtsbefehl eingelegt werden; das gilt jedoch nicht, wenn durch einen Beschluss des Organs einer internationalen Organisation, die zur Durchführung eines internationalen Vertrags errichtet wurde, an den die Slowakische Republik gebunden ist, die Slowakische Republik verpflichtet ist, im Verfahren vor dem Verfassungsgericht den schon getroffenen Beschluss des Verfassungsgerichts zu überprüfen.“ Die Slowakische Republik hat durch diese Novellierung der Verfassung die geänderte Entscheidungslinie des EGMR vollständig akzeptiert. Während der EGMR in seinen älteren Beschlüssen nämlich keine Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens zum Zweck der Absicherung seiner Rechtsprechung gefordert hatte, änderte er 2006 seine Judikatur. 2012 hat darauf hin der Nationalrat der Slowakischen Republik auf Anlass der Vorsitzenden des Verfassungsgerichts mit der Verfassungsänderung reagiert.53 Die Anwendung der Konvention, ob seitens des EGMR oder des Verfassungsgerichts, hat weitreichende Folgen für die slowakische Rechtsordnung, und das auf mindestens zwei Ebenen. Zum einen kommt es im Anschluss an die Judikatur des EGMR durch die Novellierung der Verfassung der Slowakischen Republik zur direkten Veränderung des Verfassungsrechts (Verfassungsbeschwerden, Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht). Zum anderen hat die Konvention durch die Übernahme der Standards, die vom EGMR geschaffen wurden, indirekten Einfluss auf die Judikatur des Verfassungsgerichts54 und auf die Veränderung der Anwendung des Verfassungsrechts.55

cia rozhodnutí medzinárodných súdnych orgánov vnútroštátnymi súdmi a inými orgánmi verejnej moci – V. ústavné dni, 2016, S.  8. 52   BVerfGE 111, 307. 53   Ivetta Macejková, Vybrané rozhodnutia medzinárodných súdnych orgánov v rozhodovacej činnosti Ústavného súdu Slovenskej republiky, in: Tomáš Majerčák (Hrsg.), Ústavné dni – Implementácia rozhodnutí medzinárodných súdnych orgánov vnútroštátnymi súdmi a inými orgánmi verejnej moci – V. ústavné dni, 2016, S.  10. 54   Vgl. auch Juraj Babjak, Judikatúra Európskeho súdu pre ľudské práva v judikatúre Ústavného súdu Slovenskej republiky, in: Európske právo v judikatúre ústavných súdov, 2001, S.  13–15; Marica Pirošíková, Ústavná sťažnosť a právo na prerokovanie veci v primeranej lehote, Justičná revue, 2008, č. 10, S.  1343–1350; Marica Pirošíková, Rozhodovacia činnosť Ústavného súdu Slovenskej republiky z pohľadu judikatúry ESĽP, in: Tomáš Majerčák (Hrsg.), Ústavné dni – Implementácia rozhodnutí medzinárodných súdnych orgánov vnútroštátnymi súdmi a inými orgánmi verejnej moci – V. ústavné dni, 2016, S.  38–48. 55   Tomáš Ľalík, Ústavný súd a dobiehanie judikatúry ESĽP, Justičná revue, 2010, Nr.  5, S.  618–619.

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In der Ebene der direkten Anwendung hält zwar das Verfassungsgericht an seinem Standpunkt fest und bevorzugt den formellen Rekurs auf die Verfassung der Slowakischen Republik, wobei es die Konvention als Bestandteil „der der Verfassung untergeordneten“ Menge der internationalen Verträge versteht, die einen bedingten Anwendungsvorrang vor dem Gesetz haben. In der Interpretationsebene aber nimmt das Verfassungsgericht die Konvention und die Judikatur des EGMR eher als einen materiellen Bestandteil des Verfassungsrechts wahr. In der Rechtsordnung der Slowakischen Republik kommt es so de facto zur Konstitutionalisierung der Konvention56 und gleichzeitig zur erwähnten Dekonstruktion des Verfassungsrechts, das auf einer genau begrenzten Hierarchie der Rechtsvorschriften gegründet ist.

III.  Das Recht der Europäischen Union in der Judikatur des Verfassungsgerichts 1.  Verhältnis des innerstaatlichen Rechts zum Recht der EU Auch wenn die Slowakische Republik erst am 1. Mai 2004 in den Kreis der Europäischen Union aufgenommen wurde, erging die notwendige Verfassungsregelung, die durch die sog. große Verfassungsnovelle vollzogen wurde, bereits am 1. Juli 2001. Die Slowakische Republik regelte auf diese Weise – ein wenig ungewöhnlich drei Jahre vor dem Eintritt in die EU – das Verhältnis ihres innerstaatlichen Rechts zum Recht der EU. Obwohl die Verfassungsregelung schon am 1. Juli 2001 wirksam wurde, erlangte sie tatsächliche Relevanz erst durch den Beitritt zur EU.57 Im „Zwischenzeitraum“ entstanden in der Praxis keine Probleme: Weder in der Judikatur des Verfassungsgerichts noch des Höchsten Gerichts finden sich Fälle, die auf dem Anwendungsvorrang des Rechts der Europäischen Union gemäß Art.  7 Abs.  2 der Verfassung der Slowakischen Republik gründeten.58 Der zweite Satz dieses Artikels lautet nämlich: „Verbindliche Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union haben Vorrang vor den Gesetzen der Slowakischen Republik.“ Unionale Rechtsakte genießen also in der Slowakei einen verfassungsrechtlichen Anwendungsvorrang vor dem einfachen Recht,59 nicht jedoch vor der Verfassung.60

56   Ľubica Masárová, Aplikovateľnosť čl. 6 Dohovoru o ochrane ľudských práv a základných slobôd v daňovej oblasti (Právo na spravodlivý proces), 2015, S.  18–19; Tomáš Ľalík, Vplyv judikatúry Európskeho súdu pre ľudské práva na rozvoj ľudských práv v Slovenskej republike, Justičná revue, 2009, Nr.  12, S.  1305–1324. 57  Vgl. Ján Azud, K otázke vplyve vstupu SR do EÚ na suverenitu SR v kontexte článku 7 Ústavy Slovenskej republiky, Právny obzor, 2003, Nr.  6, S.  598. 58   Martina Jánošíková, Komunitárne právo v judikatúre ústavných súdov SR a ČR, 2009, S.  4 0. 59  Weiterführend Milan Čič u.a., Komentár k Ústave Slovenskej republiky, 2012, S.  53–54; Gabriela Dobrovičová/Martina Jánošíková, Ústava Slovenskej republiky a primárne právo európskej únie, in: L. Orosz/M. Breichová Lapčáková/T. Maječák (Hrsg.), 20 rokov Ústavy Slovenskej republiky – I ústavné dni, I. zväzok, 2012, S.  186. 60  Vgl. Lucia Berdisová, Medzinárodnoprávna doktrína Slovenskej republiky, in: Alexander Bröstl u.a., Ústavné právo Slovenskej republiky, 2015, S.  98.

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Im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist auch der erste Satz von Art.  7 Abs.  2 wichtig: „Die Slowakische Republik kann durch den internationalen Vertrag […] die Ausübung eines Teils ihrer Rechte auf die Europäische Gemeinschaften und die Europäische Union übertragen.“ Im Sinne seiner wortwörtlichen Fassung kam es durch den Eintritt in die EU nur zur teilweisen Rechtsübertragung, nicht aber nicht zur Übertragung von Souveränitätsrechten kommen, worauf man oft verweist.61 Das Verfassungsgericht stellte jedoch in einem seiner neusten Beschlüsse fest „… die Entstehung der Mitgliedschaft der Slowakischen Republik in der Europäischen Union liegt unter anderem auch im freiwilligen Verzicht auf einen Teil der Souveränität des Staates zugunsten der Europäischen Union. Dabei geht es auch um einen Teil der Souveränität bei der allgemein bindenden Regelung der Gemeinschaftsbeziehungen. Das resultiert eindeutig aus dem zweiten Satz von Art.  7 Abs.  2 der Verfassung.“62 Die das primäre Recht der Europäischen Union bildenden Gründungsverträge zählt das Verfassungsgericht zu den Vorrangverträgen gemäß Art.  7 Abs.  5 der Verfassung der Slowakischen Republik.63 Durch den Beitritt zur EU erlangte auch Art.  1 Abs.  2 der Verfassung der Slowakischen Republik besondere Bedeutung, der zur Grundlage der europarechtskonformen Auslegung der innerstaatlichen Vorschriften wird. Das Verfassungsgericht betont die Notwendigkeit der europarechtskonformen Auslegung, die sich aus dem Art.  1 Abs.  2 ergebe,64 was auch an den folgenden Beschlüssen des Verfassungsgerichts demonstriert wird.

2.  Europäischer Verfassungsvertrag Der erste Beschluss des Verfassungsgerichts zur Anwendung des EU-Rechts war nicht einmal bedeutend genug, um den Weg in die Sammlung des Verfassungsgerichts zu finden.65 Einer der ersten bedeutenderen Beschlüsse des Verfassungsgerichts war ein Beschluss, in dem die Rechtsnatur der EU nach dem Inkrafttreten des Europäischen Verfassungsvertrags bestimmt wurde.66 Der Nationalrat stimmte dem Europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005 zu und kennzeichnete ihn gleichzeitig als Vertrag gemäß Art.  7 Abs.  2 und Abs.  5 der Verfassung. Eine Gruppe von Bürgern reichte gegen diesen Beschluss eine Beschwerde beim Verfassungsgericht ein, gestützt auf eine Verletzung ihres Teilhaberechts an der Verwaltung von öffentlichen 61   Ján Azud, K otázke vplyvu vstupu SR do EÚ na suverenitu SR v kontexte článku 7 Ústavy Slovenskej republiky, Právny obzor, 2003, Nr.  6, S.  609; Ján Drgonec, Ústava Slovenskej republiky, 2015, S.  318. 62   III. ÚS 666/2016. 63   PL. ÚS 10/2014. 64   Ivetta Macejková, Vybrané rozhodnutia medzinárodných súdnych orgánov v rozhodovacej činnosti Ústavného súdu Slovenskej republiky, in: Tomáš Majerčák (Hrsg.), Ústavné dni – Implementácia rozhodnutí medzinárodných súdnych orgánov vnútroštátnymi súdmi a inými orgánmi verejnej moci – V. ústavné dni, 2016, S.  9. 65   Lajos Mészáros/Ján Štiavnický, O u(O)sadení sa európskeho práva v judikatúre Ústavného súdu, in: Radoslav Procházka (Hrsg.), Vnútroštátne súdy a európske súdy: Spojené alebo paralelné svety?, 2010, S.  26. 66   II. ÚS 171/05.

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Sachen. Nach deren Rechtsansicht sollte sich die sog. „Euroverfassung“ unter die Verträge gemäß Art.  7 Abs.  1 der Verfassung einreihen, der ein obligatorischen Referendum fordert für den Fall des Eintritts in einen Bundesstaat mit anderen Staaten. Ein Referendum war beim Beitritt zur EU nicht angesetzt worden. Fallentscheidend war letztlich die Frage, ob man die Europäische Union als Bundesstaat gemäß Art.  7 Abs.  1 der Verfassung der Slowakischen Republik ansehen könne. In der Entscheidung wies das Verfassungsgericht zunächst darauf hin, dass die Verfassung der Slowakischen Republik den Begriff des „Bundesstaats“ (štátny zväzok, wörtlich: staatlicher Bund) nicht näher erläutert. Für unstreitig hielt es aber, dass sich ein Bundesstaat durch unbedingte Attribute der Staatlichkeit kennzeichnet. Andererseits hielt es die Frage nach der Rechtsnatur der EU nach dem Inkrafttreten der sog. „Euroverfassung“ mit den ineinandergreifenden internationalen und innerstaatlichen Aspekten für besonders kompliziert. Das Verfassungsgericht stellte anschließend fest, dass die Entwicklung in der Europäischen Union unstreitig hin zur Staatsform tendiert, also zum Bundesstaat, aber auf seriöse Weise den Zeitpunkt zu bestimmen, wann dies passiere, sei aktuell nicht möglich. Die Europäische Union zeichne sich auch in der Zeit vor der Verabschiedung einer Verfassung durch eine ganze Reihe von Merkmalen und Funktionen aus, die für den Bundesstaat charakteristisch seien, stellte das Verfassungsgericht fest. Ihre Rechtsnatur könne man jedoch unter keine der konventionellen Kategorien einordnen. Auch nach der Analyse der einschlägigen Bestimmungen des Europäischen Verfassungsvertrags resultiere daraus nicht, dass die Europäische Union nach der Ratifizierung „die Rechtsnatur eines „Bundesstaats“ erlangen [würde]; die Slowakische Republik [könne] der Europäischen Union dieses Statut auch nicht alleine zuerkennen. Einen solchen Beschluss können ausschließlich die Organe der Europäischen Union mit der Zustimmung aller Mitgliedstaaten treffen.“ Trotz des Scheiterns der Bemühungen um die Errichtung eines gemeinsamen Europäischen Verfassungsvertrags hat die Stellungnahme des Verfassungsgerichts unbestrittene Bedeutung. Das Verfassungsgericht lehnte mit dem besagten Beschluss nämlich ausdrücklich eine Entscheidung über die Rechtsnatur der EU ab und überlässt diese Entscheidungsbefugnis der Union selbst, was im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten (Deutschland, Italien, Tschechien) relativ ungewöhnlich ist, die sich diese Befugnis vorbehalten haben.67

3.  Entscheidung über Vorfragen Die Offenheit des Verfassungsgerichts gegenüber der EU und ihrem Rechtssystem zeigt sich auch in einem weiteren doktrinären Beschluss des Verfassungsgerichts. Das Urteil des Verfassungsgerichts vom 26. Januar 201168 enthält zwei bedeutsame Argumentationslinien. Die erste Argumentationslinie betrifft die Frage der Kollision der innerstaatlichen Verfassungsregelung des Art.  144 Abs.  2 der Verfassung der Slowakischen Republik   Daniel Krošlák u.a., Ústavné právo, 2016, S.  138.   PL. ÚS 3/09.

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mit dem Vorrangprinzip des Rechts der EU. Art.  144 Abs.  2 legt den ordentlichen Gerichten die Pflicht auf, das Verfahren zu unterbrechen und beim Verfassungsgericht ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsvorschriften zu einzuleiten, sofern eine innerstaatliche Rechtsvorschrift den vorrangigen internationalen Verträgen gemäß Art.  7 Abs.  5 (wozu auch das primäre Recht der EU zählt) widerspricht. Nach dem Prinzip des Vorrangs des EU-Rechts soll jedoch jedes Mal die Unionsnorm den Anwendungsvorrang haben, ohne dass es zu einem Verfahren zur Beurteilung der Vereinbarkeit der Rechtsnormen gemäß Art.  125 Abs.  1 der Verfassung kommen muss.69 Bei Zweifeln sollen die ordentlichen Gerichte hingegen das Verfahren unterbrechen und beim EuGH die Auslegung des Unionsrechts zur Beantwortung der inzidenten Frage beantragen. Das Verfassungsgericht stellte sich in seinem Beschluss also auf die Seite des Unionsrechts Ein ordentliches Gericht könne das Verfahren zur Überprüfung der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit dem internationalen Vertrag, durch den die Slowakische Republik die Ausübung ihrer Rechte auf die Europäische Union übertragen hat, grundsätzlich nicht gemäß Art.  125 Abs.  1 der Verfassung vor dem Verfassungsgericht initiieren, weil es im Rahmen seiner Befugnis das Recht der Europäischen Union anwenden muss und „[…] nicht jede innerstaatliche Bestimmung, […] die im Widerspruch zum Recht der Gemeinschaft steht.“ Auf die Auf hebung einer solchen Vorschrift (durch Vorlage oder durch Gesetz) muss es nicht warten. Als ein solches „Verfassungsverfahren“ könnte man nämlich auch das Verfahren hinsichtlich der Rechtsvorschriften gemäß Art.  125 Abs.  1 der Verfassung zählen. Das Verfassungsgericht räumte durch seinen Beschluss die lange bestehenden Unklarheiten über die Interpretation von Art.  144 Abs.  2 der Verfassung70 zugunsten des Rechts der Europäischen Union aus, womit es sich gleichzeitig gegen die wortwörtliche Auslegung der Verfassung aussprach. Für andere Verfassungsgerichte stellt die Auslegung der Verfassung gegen ihren Wortlaut die Grenze der europarechtskonformen Auslegung der Verfassung dar. Das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik stellte jedoch das Recht der Europäischen Union vor die eigene Verfassungsnorm.71 Die zweite Argumentationslinie hingegen negiert diese positive Einstellung gegenüber dem Recht der EU. Das Verfassungsgericht wählte die „selbsteinschränkende“ Einstellung zur Ausübung seiner Befugnis, und im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines beanstandeten Gesetzes prüfte es nicht mehr die Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union, „da eine mögliche Unvereinbarkeit zum gleichen Ergebnis führen würde und die gleiche Rechtswirkung hervorgerufen würde. […] Nach der Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Verfassung der Slowakischen Republik oder mit dem Verfassungsgesetz erlischt der Gegenstand des Verfahrens über die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften […].“ Im vorliegenden Fall stellte das Verfassungsgericht die Unvereinbarkeit des beanstandeten Gesetzes mit der Verfassung der Slowakischen Republik und der Konvention fest, jedoch nicht mit   Dazu auch Radoslav Benko, Rozprava o princípe prednosti práva Únie – vláda práva za hranicami štátu, Studia iuridica Cassoviensia, 2015, Nr.  1, S.  132. 70   Martina Jánošíková, Komunitárne právo v judikatúre ústavných súdov SR a ČR, 2009, S.  62 f. 71  Vgl. Daniel Krošlák u.a., Ústavné právo, 2016, S.  148. 69

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dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, obwohl die Antragsteller einen solchen Verstoß gerügt hatten. Aus dem Urteil PL. ÚS 3/09 ergibt sich eine widersprüchliche Einstellung des Verfassungsgerichts zum Recht der EU. Bei der Auslegung des Art.  144 Abs.  2 bevorzugte das Verfassungsgericht zunächst das Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts vor der Verfassung, um dieses anschließend bei der Auslegung des Art.  125 Abs.  1 Verfassung vollständig zu ignorieren. Diese unklare Haltung zum Unionsrecht zeigt sich auch an einem weiteren interessanten Aspekt dieses Urteils. Das Verfassungsgericht weist auf seinen früheren Beschluss hin, in dem es festgestellt hatte, dass „es bei der Ausübung seiner Befugnisse in eine Situation geraten kann, in der auch das Gericht verpflichtet sein kann, eine inzidente Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegen“.72 Zur Vorlage einer inzidenten Frage kam es jedoch während der 13-jährigen Mitgliedschaft der Slowakischen Republik in der EU noch kein einziges Mal.

4.  Vorrang des EU-Rechts Die Bindung an Urteile des EuGH zur Beantwortung inzidenter Frage steht im Mittelpunkt eines weiteren entscheidenden Beschlusses des Verfassungsgerichts vom 11. Oktober 2016.73 Das Gericht äußerte sich darin erstmals umfangreich zur Stellung des Unionsrechts in der Rechtsordnung der Slowakischen Republik. Dem Urteil ging eine Debatte um den Beschluss des Höchsten Gerichts74 vom 31.3.201675 voraus, deren Inhalt an dieser Stelle kurz wiedergegeben werden soll. Das Höchste Gericht hatte entschieden, dass Versicherungen bei Schadensersatzklagen wegen immaterieller Schäden durch den Todesfall einer nahestehenden Person nicht passiv legitimiert sind. Im Vorabentscheidungsverfahren C-22/12 in der Sache Haasová hatte der EuGH festgestellt, dass der Ersatz des immateriellen Schadens der Hinterbliebenen nach Verkehrsunfällen durch die Haftpflichtversicherung gedeckt wird. Nicht alle Gerichte folgten dem Beschluss des Höchsten Gerichts und akzeptierten die Auffassung des EuGH. Gegen diese Beschlüsse legte derselbe Beschwerdeführer Beschwerden gemäß Art.  127 Verfassung ein, die das Verfassungsgericht als offensichtlich unbegründet ablehnte. Die fehlende Einheitlichkeit der Rechtsprechung wie auch „die nicht zu vernachlässigende Bedeutung für die Geltendmachung des Vorrangprinzips des Unionsrechts durch slowakische innerstaatliche Organe“ veranlasste das Verfassungsgericht zu den folgenden Rechtsansichten:76 72  IV. ÚS 206/08; weiterführend Daniela Švecová, Inštitút prejudiciálnej otázky a jeho vývoj v slovenskom právnom prostredí, in: Tomáš Majerčák (Hrsg.), Ústavné dni – Implementácia rozhodnutí medzinárodných súdnych orgánov vnútroštátnymi súdmi a inými orgánmi verejnej moci – V. ústavné dni, 2016, S.  53. 73   III. ÚS 666/2016. 74  Vgl. u.a. Jakub Mandelík, Náhrada nemajetkovej ujmy, Analýza rozsudku Najvyššieho súdu Slovenskej republiky, bulletin slovenskej advokácie, 2016, Nr.  9, S.  22–30. 75   3 Cdo 301/2012. 76   Siehe auch Zuzana Fabianová, K prípustnosti výkladu pojmu škoda v zákone o povinnom zmluvnom poistení zodpovednosti za škodu spôsobenú prevádzkou motorového vozidla v kontexte nemajet-

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Durch den Beitritt der Slowakischen Republik zur EU kam es zur freiwilligen Abgabe eines Teils der Souveränität zugunsten der EU und zwar auch im Bereich der Normsetzung. „Deshalb bleibt zwar der Nationalrat der Slowakischen Republik der einzige Gesetzgeber (Art.  72 Verfassung), nicht jedoch das einzige Organ, das den Inhalt der Gemeinschaftsbeziehungen auf Ebene der Gesetzeskraft normieren kann.“ Anschließend führte das Verfassungsgericht aus: „Unter bestimmten Umständen müssen slowakische Organe, die das Recht anwenden (auch Gerichte) nicht nur den Willen des Gesetzgebers, sondern auch den Willen des Unionsgestalters der entsprechenden Rechtsregelung berücksichtigen, die hinsichtlich der rechtlichen Relevanz der Änderung des Verhaltens der Rechtssubjekte auf die Ebene, sogar manchmal auch über den Willen des Gesetzgebers gestellt wird.“ Nach dieser Argumentation folgt das Verfassungsgericht dem weiten Verständnis des Schadensbegriffs des Europäischen Gerichtshofs. Das Verfassungsgericht bestätigte hiermit den Vorrang des Rechts der EU vor dem Gesetz, was auch der Diktion der Verfassung der Slowakischen Republik selbst entspricht. Im besagten Beschluss beschäftigte es sich aber nicht damit, ob sich das Prinzip des Anwendungsvorrangs auch auf die Verfassung der Slowakischen Republik bezieht. Diese Frage blieb weiterhin unbeantwortet. Abschließend sollte hinzugefügt werden, dass der dargestellte Beschluss kein Beschluss des Plenums ist, sondern nur die rechtliche Meinung eines einzigen Senats des Verfassungsgerichts wiedergibt.

5.  Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde nicht als völkerrechtlicher Vertrag angenommen, aber aufgrund des Verweises von Art.  6 Abs.  1 EUV hat sie die gleiche Rechtskraft wie völkerrechtliche Verträge und sollte auch die gleiche Verbindlichkeit wie internationale Verträge im Rechtssystem der EU haben.77 Das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik zählt sie zu den internationalen Verträgen zu Menschenrechten und Freiheiten gemäß Art.  7 Abs.  5 der Verfassung78, auch wenn man daran zweifeln mag.79 Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts spricht der Charta die Stellung der Referenzrechtsvorschrift gemäß Art.  125 Abs.  1 und im Verfahren über Klagen gemäß Art.  127 Verfassung zu.80 Was die Anwendung der Bestimmungen der Europäischen Grundrechtecharta betrifft, lässt sich in den bisherigen Beschlüsse des Verfassungsgerichts eine ähnlich verhaltene Haltung feststellen, wie sie anfangs bei der Anwendung der Konvention kovej ujmy spôsobenej pozostalým po obeti dopravnej nehody, in: bulletin slovenskej advokácie, 2017, Nr.  3, S.  37–39. 77   Gabriela Dobrovičová, Charta základných práv Európskej únie a právny poriadok Slovenskej republiky, in: M. Jánošíková/J. Kubala, Charta základných práv Európskej únie a výzvy s ňou spojené, 2015, S.  8 –9. 78   PL. ÚS 10/2014. 79  Weiterführend Veronika Miková, Systém prameňov práv v premenách času, in: Právo v proměnách času, 2017, S.  291–297. 80   Ladislav Orosz/Alena Angelovičová, Charta základných práv Európskej únie v rozhodovacej činnosti ústavného súdu, in: J. Kubala (Hrsg.), Charta základných práv Európskej únie v súdnej a inej praxi: Prvé rozhodnutia, problémy, hodnotenia, Zborník vedeckých prác z vedeckej konferencie, 2015, S.  10.

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zu verzeichnen war.81 Die Charta wird eher als subsidiäre Rechtquelle angewendet.82 Dies lässt sich am folgenden Beschluss des Verfassungsgerichts PL ÚS 10/2014 (Punkt 76) demonstrieren, in dem das Gericht bei seiner Auffassung blieb, die ursprünglich im Beschluss PL ÚS 3/09 geäußert worden war. Wenn nämlich „das Verfassungsgericht feststellt und entscheidet, dass das angefochtene Gesetz nicht im Einklang mit der Verfassung oder dem Verfassungsgesetz steht, ist es im Grunde nicht mehr notwendig, auch deren Nichtübereinstimmung mit dem Recht der Europäischen Union zu überprüfen. Denn deren eventuelle Unvereinbarkeit würde auch nur zum gleichen Ergebnis und zur gleichen Rechtswirkung führen. Diese „selbsteinschränkende“ Einstellung zur Ausübung der eigenen Befugnisse wird vom Verfassungsgericht damit begründet, dass nach der Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Verfassung der Gegenstand des Verfahrens über den Einklang der Rechtsvorschriften in Bezug auf die angefochtene Nichtübereinstimmung mit dem Recht der Europäischen Union erlischt.“ Der zitierte Beschluss korrespondiert nicht vollständig mit Punkt 68 der Begründung, wo das Gericht mit der Pflicht argumentiert, die Charta und die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. Auch in diesem Falle sollte also nach der europäischen Judikatur der Vorrang des Rechts der EU angewandt werden und die Verfassung und die Verfassungsgesetze nicht angewendet werden.83 Das Verfassungsgericht aber hat die entgegengesetzte Auffassung vertreten, jedoch wieder ohne eine doktrinäre Beschränkung der Beziehung der Charta zur Verfassung der Slowakischen Republik oder zur Konvention.84 In seinem anderen Beschluss85 hat es z.B. festgestellt, dass die angefochtene Rechts­ änderung im Einklang mit der Charta steht, da keine Konventionsverletzung festgestellt wurde. Das Verfassungsgericht hat hier mit Art.  52 Abs.  3 der Charta argumentiert, wonach die sich aus der Charta ergebenden Rechte die gleiche Bedeutung und Reichweite haben wie diejenigen, die sich aus der Konvention ergeben. Dieser Beschluss hat also die Frage nach der Anwendbarkeit der Charta nicht umfasst. Eine ähnliche Auffassung hat das Verfassungsgericht auch bei Verfassungsklagen vertreten, was verständlicherweise auf scharfe Kritik gestoßen ist.86 81   Ján Svák/Boris Balog, Vplyv rozhodnutí ESĽP na spravodlivý proces, in: Ochrana ľudských práv a základných slobôd ústavnými súdmi a medzinárodnými súdnymi orgánmi, – III. Ústavné dni, 2014, S.  35. 82   Lajos Meszároš/Ján Štiavnický, O u(O)sadení sa európskeho práva v judikatúre ústavného súdu, in: Radoslav Procházka (Hrsg.), Vnútroštátne súdy a Európske súdy: Spojené alebo paralelné svety?, 2010, S.  30. 83   Kritische Bewertung des gewählten Vorgehens des Verfassungsgerichts z.B. bei Ján Mazák/Martina Jánošíkova, Charta základných práv v EÚ v konaní o súlade právnych predpisov: Zatiaľ rutina namiesto doktríny, Právny obzor, 2015, Nr.  6, S.  590–602. 84   Ján Mazák, Používanie Charty základných práv Európskej únie: K čomu sme po dvoch rokoch (predbežne) dospeli?, in: J. Kubala (eds.) Charta základných práv Európskej únie v súdnej a inej praxi: Prvé rozhodnutia, problémy, hodnotenia, Zborník vedeckých prác z vedeckej konferencie, 2015, S.  6. 85   PL. ÚS 105/2011. 86  Zu den Beschlüssen des Verfassungsgerichts weiterführend Ladislav Orosz/Alena Angelovičová, Charta základných práv Európskej únie v rozhodovacej činnosti ústavného súdu, in: J. Kubala (Hrsg.), Charta základných práv Európskej únie v súdnej a inej praxi: Prvé rozhodnutia, problémy, hodnotenia, Zborník vedeckých prác z vedeckej konferencie, 2015, S.  10 f.

Europäisches Recht in der Judikatur des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik

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Im neuesten Beschluss des Verfassungsgerichts vom 22. März 201787 kommt es im Zusammenhang mit der Anwendung der Charta zum großen Durchbruch. Das Verfassungsgericht wich von seiner bisherigen Entscheidungslinie ab, und sprach nach Feststellung der Anwendbarkeit der Charta nicht nur eine Unvereinbarkeit mit der Verfassung und der Konvention aus, sondern auch mit der Charta selbst. Dabei ist zu betonen, dass es sich bei diesem Beschluss um eine Plenarentscheidung des Verfassungsgerichts handelt. Das Gericht begründete die parallel festgestellte Abweichung von der Charta ebenso wenig wie die damit einhergehende Veränderung seiner bisherigen Entscheidungsdoktrin. Es stellte nur lakonisch eine Kollision des beanstandeten Gesetzes mit der Charta fest, „da für die Wahlen zum Europäischen Parlament auch der Art.  39 Abs.  2 der Charta anwendbar ist“. Das Problem der fehlenden dogmatischen Klärung der Beziehungen zwischen der Charta und der Verfassung der Slowakischen Republik dauert so weiter an. Das Verfassungsgericht steht der Konvention weiterhin materiell näher als der Charta.88 Es scheint jedoch, dass auch die Charta trotz der anfänglichen Ablehnung allmählich eine konstitutive Bedeutung erlangt. Zumindest ist sie neben der Verfassung und der Konvention ein gleichwertiges Kriterium zur Prüfung der Rechtswidrigkeit von Gesetzen. Ungelöst bleibt freilich das Problem einer möglichen Kollision von Verfassung und Charta, genauso wie die Frage, ob das Vorrangprinzip des Rechts der EU sich auch auf die Verfassung der Slowakischen Republik bezieht.

IV. Schluss Die Slowakische Republik befindet sich zusammen mit anderen europäischen Staaten im abgestuften Prozess einer Dekonstruktion des Verfassungsrechts. Hier stellen sich Grundfragen des Freiheits- und Grundrechtsschutzes im gedachten „Bermudadreieck“ von Verfassungsrecht, Unionsrecht und Völkerrecht, genau wie in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. In diesem Bermudadreieck nicht unterzugehen und den richtigen Kompass für die Judikatur zu finden, ist auch für das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik eine Herausforderung. Den Schwierigkeiten des Verfassungsgerichts können auch die ständigen Änderungen der eigenen Verfassung und die sich allmählich entwickelnde Judikatur des EGMR und des EuGH nicht abhelfen. Die slowakische Verfassung durchlief mehrere Veränderungen zugunsten immer größerer Offenheit der slowakischen Rechtsordnung zum europäischen Recht. Diese Feststellung betrifft die EMRK genauso wie die Europäische Grundrechtecharta. Die Konvention konnte bereits in bedeutendem Maße zur Verbesserung des Schutzes der Grundrechte und Freiheiten in der Slowakischen Republik beitragen. Die Bedeutung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union betont das Verfassungsgericht bis dato nur sehr vorsichtig.

  PL. ÚS 2/2016.   Lajos Meszároš/Ján Štiavnický, O u(O)sadení sa európskeho práva v judikatúre ústavného súdu, in: Radoslav Procházka (Hrsg.), Vnútroštátne súdy a Európske súdy: Spojené alebo paralelné svety?, 2010, S.  30. 87

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Das Verfassungsgericht bezieht gegenüber der Charta ähnlich Stellung wie gegenüber der Konvention und wird sich in Zukunft vor allem weiter um die europarechtskonforme Auslegung der Verfassung bemühen. Auf welche Weise das Verfassungsgericht eine Lösung für Kollisionen von Verfassung und Charta finden würde, können wir voraussehen. Die Charta hat in der Rechtsordnung, ähnlich wie die Konvention, nur den Vorrang vor dem Gesetz zuerkannt bekommen. Das Verfassungsgericht betonte im Zusammenhang mit der Konvention wiederholt den Vorrang des höheren Standards des Schutzes der Menschenrechte. Es ist anzunehmen, dass das Verfassungsgericht im Zusammenhang mit der Anwendung der Charta ein analoges Vorgehen wählen wird.

Verfassungsrecht im Kleinstaat Zur Entwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik in Liechtenstein* von

Univ.-Prof. Peter Bussjäger, Liechtenstein-Institut, Bendern Inhalt I. Annäherung an den Begriff des Kleinstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 II. Die historischen Grundlagen der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 1. Der Erwerb der Grafschaften Schellenberg und Vaduz durch Johann Adam I. von Liechtenstein und seine verfassungsrechtlichen Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 2. Die Erlangung der Souveränität und die Landständische Verfassung von 1818 . . . . . . . . . . . . . 685 3. Der Geist der Revolution von 1848: Der Verfassungsentwurf des Verfassungsrates . . . . . . . . . . 686 4. Die Konstitutionelle Verfassung 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 5. Der elliptische Staat: Die Verfassung von 1921 und ihre Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 III. Verfassungsrecht und Verfassungsdogmatik im Kleinstaat: Das Beispiel Liechtenstein . . . . . . . . . . . 690 1. Der vertikale Blick: Verfassungsschichten in Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 2. Der horizontale Blick: Rezeption und Originalität – Die Säulen liechtensteinischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 3. Verfassungsrechtslehre im Kleinstaat: Die Lehre von beschränkten Ressourcen . . . . . . . . . . . . . 691 IV. Der Online-Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 1. Das Projekt und die Idee dahinter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 2. Die Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 3. Open access als Paradigma moderner Rechtswissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 V. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

Die Wissenschaft vom Verfassungsrecht steht im Kleinstaat vor besonderen Herausforderungen, weil die für die Spezialisierung erforderlichen Ressourcen oft nicht vorhanden sind. Der vorliegende Beitrag zeigt am Beispiel des Projekts „verfassung. li“, wie auch unter den Rahmenbedingungen des Kleinstaates eine wissenschaftliche *   Der Autor war Forschungsbeauftragter Recht am Liechtenstein-Institut in Bendern/Liechtenstein. Er ist Mitglied des Staatsgerichtshofes des Fürstentums Liechtenstein und Universitätsprofessor in Innsbruck. Der vorliegende Text beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 26.1.2017 an der Wirtschaftsuniversität in Wien gehalten hat. Der Autor bedankt sich bei PD Patricia Schiess Rütimann für ihre Unterstützung.

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Kommentierung einer Verfassung in Form eines allgemein zugänglichen OnlineKom­mentars möglich ist. Zum besseren Verständnis werden zuvor die rechtshistorischen Grundlagen des liechtensteinischen Verfassungsrecht und die in Liechtenstein praktizierte Verfassungsdogmatik erläutert.

I.  Annäherung an den Begriff des Kleinstaates Das liechtensteinische Staatsgebiet weist ein Territorium von 161 km 2 auf, was immerhin der Fläche ungefähr eines Drittels des Landes Wien oder der Hälfte des EUMit­g lieds Malta entspricht. Im internationalen Vergleich liegt Liechtenstein damit zwar im Bereich der kleinsten Staaten (…), aber bei weitem nicht am Ende, das von Vatikanstadt gehalten wird. Das gilt auch hinsichtlich der Einwohnerzahl von knapp unter 38.000, allerdings manifestiert sich in diesem Bereich der Abstand zum Durchschnitt doch viel stärker. Es gibt keinen wissenschaftlich einheitlich verwendeten Terminus für diese (sehr) kleinen Staaten. Zu vermeiden ist etwa der pejorativ klingende Begriff „Zwergstaat“, unbefriedigend sind – wegen Abgrenzungsproblemen – auch die Termini „Kleinststaat“ oder „Mikrostaat“.1 Auch der hier verwendete Begriff des Kleinstaates hat seine Schwächen, grenzt er doch eine Staat wie Liechtenstein nur unscharf von einem im internationalen Vergleich ebenfalls häufig als Kleinstaat betrachteten Staat wie die Schweiz oder auch Österreich ab. Die Ökonomie hilft indessen mit einem englischsprachigen Terminus aus und spricht von „very small countries.“2 Die Kleinheit eines Staates ist demnach ökonomisch relevant, weil sie erstens Aussagen über die Grösse des jeweiligen Binnenmarktes trifft und zweitens über den möglichen Grad der Spezialisierung in diesem Land.3 Beide Punkte sind für den Gegenstand des Beitrags von Relevanz: Kriterium 1 zeigt, dass die Nachfrage nach liechtensteinischem Verfassungsrecht eine sehr begrenzte ist, Kriterium 2, dass nur wenig Spezialisierung zur Produktion des Gutes „Verfassungsrecht“ vorhanden ist. Dass dies keine günstigen Rahmenbedingungen sind, bedarf keiner näheren Erläuterung. Die nachstehenden Ausführungen werden indessen demonstrieren, dass es durchaus gelingen kann, „against all odds“4 Verfassungsrecht im Kleinstaat zu betreiben.

1   Waldemar Hummer, Die Kategorie des „Kleinst“- bzw. „Mikrostaates“ im Völkerrecht: „Vom „Kleinststaat“ über den „künstlichen“ zum „virtuellen“ Staat, in: Erhard Busek/Waldemar Hummer (Hrsg.), Der Kleinstaat als Akteur in den Internationalen Beziehungen, LPS 39, 2004, 23. 2   Martin Kocher, Very Small Countries: Economic Success Against All Odds, LPS 35, 2003. 3   Martin Kocher (Fn.  2 ), 18. 4   Damit wird an den Titel des Werkes von Martin Kocher angeknüpft.

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II.  Die historischen Grundlagen der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein 1.  Der Erwerb der Landschaften Schellenberg und Vaduz durch Johann Adam I. von Liechtenstein und seine verfassungsrechtlichen Implikationen Der historische Ursprung des Fürstentum Liechtenstein besteht im Erwerb der Herrschaft Schellenberg 1699 (heutiges Unterland) und der Grafschaft Vaduz 1712 (heutiges Oberland) durch den Fürsten Johann Adam I., welche beiden Landschaften seit 1719 im Reichsfürstentum Liechtenstein vereinigt sind. Der Erwerb der beiden Landschaften erfolgte aus der „Konkursmasse“ der bis zu diesem Zeitpunkt reichsfreien Grafen von Hohenems, womit sich die Chance für die Fürsten von Liechtenstein bot, durch den Erwerb der kleinen Entitäten in den Kreis der reichsunmittelbaren Fürsten aufzusteigen.5 Auf diesen Vorgang, dem eine förmliche Huldigung durch die Landesbevölkerung voraus ging,6 wird noch heute in Art.  1 erster Satz der Verfassung (LV) Bezug genommen, wenn dort statuiert wird, dass das Fürstentum Liechtenstein ein Staatsverband von zwei Landschaften mit elf Gemeinden ist. Der Formulierung haftet etwas „quasi-föderales“ an, indem der Eindruck erweckt wird, dass den beiden Landschaften staatsrechtlich eine besondere Bedeutung ähnlich den Gliedern eines Bundesstaates zukommen würde.7 Indessen ist Liechtenstein ein Einheitsstaat, die Teilung in die zwei Landschaften gewinnt lediglich hinsichtlich der Landtagswahlen und der Zusammensetzung der Regierung eine Bedeutung.8

2.  Die Erlangung der Souveränität und die Landständische Verfassung von 1818 Dem Erwerb der beiden Landschaften folgte etwa 100 Jahre später die nächste entscheidende Weichenstellung, als das Fürstentum Liechtenstein mit der Aufnahme in den Rheinbund seine Souveränität erlangte.9 Mit seinen 5.546 Einwohnern war 5   Fabian Frommelt, Kaiserliches Krisenmanagement an der Peripherie. Zur kaiserlichen Administration in Vaduz/Schellenberg (1684–1712), in: Fabian Frommelt (Hrsg.), Zwangsadministrationen. Legitimierte Fremdverwaltung im historischen Vergleich (17. bis 21. Jahrhundert), 2014, 63, 77; Rupert Quaderer, Politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein von 1815 bis 1848, Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 1969, 5 (13); Volker Press, Das Fürstentum Liechtenstein im Rheinbund und im Deutschen Bund (1806–1866), in: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Liechtenstein in Europa, LPS 10, 1984, 45, 49. 6   Peter Bussjäger, Art.  13 LV, Rn.  4. in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung. Online-Kommentar, Bendern 2016, http://www.verfassung.li/(10.09.2015). 7   Peter Bussjäger, Art.  2 LV, Rn.  47. in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung. Online-Kommentar, Bendern 2016, http://www.verfassung.li/(31.08.2015). 8   Gemäss Art.  46 Abs.  1 LV bilden das Oberland und das Unterland je einen Wahlbezirk, wobei ersteres 15, letzteres 10 Abgeordnete stellt. Darüber hinaus müssen der Regierung gemäss Art.  79 Abs.  5 LV jede der beiden Landschaften wenigstens zwei der fünf Mitglieder stellen. Ihre Stellvertreter müssen derselben Landschaft angehören. 9   Rupert Quaderer (Fn.  5 ), 14.

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Liechtenstein der kleinste in dieser Art Konföderation10 aufgenommenen16 Partner.11 Dem 1815 daraus entstandenen Deutschen Bund gehörten 41 deutsche Staaten an. Man kann es als eine Ironie der Geschichte betrachten, dass ausgerechnet das unscheinbarste und kleinste Mitglied als einziges seine Souveränität und Landeseinheit bis heute bewahrt hat. Verfassungsrechtlich von Interesse ist, dass Liechtenstein mit der Landständischen Verfassung von 1818 erstmals eine geschriebene Verfassung erhielt und zwar als Resultat des Art.  13 der Bundesakte, der bestimmte: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden.“12 Die Landständische Verfassung war keine innovatorische Grosstat, im Gegenteil, ihr wird in der Literatur zugeschrieben, die reaktionärste aller Verfassungen des deutschen Bundes gewesen zu sein.13 Die Gründe dafür mögen in der Rückständigkeit des Ländchens und in der Tatsache, dass das im Österreich des Vormärz ansässige Fürstenhaus, dessen regierende Fürsten das Land, dem sie den Namen gegeben hatten, noch nie in Augenschein genommen hatten, keine Veranlassung sah, eine an demokratischen Grundsätzen orientierte Verfassung zu erlassen, gesehen werden.14

3.  Der Geist der Revolution von 1848: Der Verfassungsentwurf des Verfassungsrates Die Revolution von 1848 ging auch an Liechtenstein nicht vorbei. Sie führte zur Einsetzung eines Verfassungsrates, der dem Fürsten die Erlassung einer liberalen, sich an den fortschrittlichen Dokumenten anderer Länder orientierenden Verfassung, vorschlug. Der Entwurf des Verfassungsrates konnte sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen, teilte jedoch das Schicksal vieler anderer Elaborate aus dieser Zeit und wurde schliesslich vom Neoabsolutismus eingeholt.15

4.  Die Konstitutionelle Verfassung 1862 Freilich dauerte auch in Liechtenstein das neoabsolutistische Zwischenspiel nicht allzu lang: In einem auffallenden Gleichklang mit Österreich, wo das Februarpatent 1861 die Landtage und die Landesverfassungen der österreichischen Länder begründete, trat am 26. September 1862 die Konstitutionelle Verfassung in Kraft.16 10   Alexander Ignor, Monarchisches und demokratisches Prinzip in der liechtensteinischen Verfassungsentwicklung, in: Volker Press/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung 2,1988, 465, 467. 11   Rupert Quaderer (Fn.  5 ), 16. 12   Rupert Quaderer (Fn.  5 ); Alexander Ignor (Fn.  10), 468. 13   Alexander Ignor (Fn.  10), 470. 14   Alexander Ignor (Fn.  10), 470. 15   Peter Geiger, Die liechtensteinische Volksvertretung in der Zeit von 1848 bis 1918, in: Verlag der Liechtensteinische Akademischen Gesellschaft (Hrsg.), Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein, LPS 8, 1981, 20, 34; Herbert Wille, Die liechtensteinische Staatsordnung, LPS 57, 2015, 64. 16   Peter Geiger (Fn.  15), 41.

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Es handelte sich dabei um eine typische Verfassung des konstitutionellen Zeitalters. Im Gegensatz zur landständischen Verfassung war sie kein rückschrittliches Dokument, aber auch nicht gerade eine besonders fortschrittliche Verfassung. Dies wird schon dadurch indiziert, dass sich die Verfassung an einer Rezeptionsvorlage orientierte, die etwa 30 Jahre alt war – und das war im konstitutionellen Zeitalter viel, nämlich der Verfassung des kleinen und schon seit 1850 nicht mehr existierenden süddeutschen Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen von 1833.17 Auch diese Verfassung hatte übrigens ihre Rezeptionsvorlage, nämlich die Verfassung Württembergs aus dem Jahre 1819.18 Aus wissenschaftlicher Sicht ist es ein Glücksfall, dass es zur Verfassung des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen eine rechtshistorische Dissertation gibt,19 die hilft, das Verständnis zahlreicher Bestimmungen des heute geltenden Verfassungsrechts zu fördern. Damit verfügte das kleine, ausschliesslich agrarisch strukturierte Land immerhin fünf Jahre vor Österreich über eine Verfassung. Die Konstitutionelle Verfassung wies auch einen Grundrechtekatalog und ein Rechtsschutzsystem auf, dem freilich eigen war, dass der Instanzenzug in allen Fällen nach einer ersten im Land angesiedelten Instanz an Gerichte oder Behörden im Ausland, konkret in Österreich führte.20 Der Landtag wies 15 Mitglieder auf, von welchen 12 gewählt wurden und drei vom Landesfürsten ernannt wurden.21 Eine gewisse Besonderheit etwa im Vergleich mit dem oktroyierten Februarpatent 1861, mit welchem die Landtage in Österreich eingerichtet wurden, stellte die Präambel dar, verwies sie doch darauf: „Die zwischen Uns und den Ständen erzielte Vereinbarung setzt Uns nunmehr in die Lage, den Anforderungen der Jetztzeit im Einklange mit dem Bundesacte Rechnung tragen zu können, und auf vertragsgemässem Wege der künftigen Landesvertretung eine grössere Einflussnahme auf die Gesetzgebung und auf die innere Verwaltung des Fürstenthumes zuzuerkennen.“ Man kann darüber diskutieren, in welchem Ausmass die Verfassung vertragsmässig ausgehandelt oder oktroyiert wurde, Tatsache bleibt, dass es dem Landesfürsten als Verfassungsgeber wichtig war, den erlangten Konsens mit den Landständen zu betonen.22

  Peter Geiger (Fn.  15), 41.   Peter Geiger (Fn.  15), 41. 19   Roland Kirchherr, Die Verfassung des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen vom Jahre 1833 (1979). 20   Erste gerichtliche Instanz bildete das Landgericht Vaduz, die zweite Instanz das Appellationsgericht in Wien, das aus drei vom Fürsten ernannten, nach österreichischen Vorschriften geprüften Richtern bestand. Als Oberster Gerichtshof fungierte das Oberlandesgericht Innsbruck. In Verwaltungssachen entschied über Rechtsmittel gegen Verfügungen eine Rekursinstanz in Wien, welche aus drei vom Fürsten ernannten Mitgliedern bestand (vgl. Friedrich G. Kleinwaechter, Die neueste Rechtsentwicklung im Fürstentum Liechtenstein, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 42 (1923), 356, 357 f. und 381. 21   Herbert Wille (Fn.  15), 92 f. 22   Herbert Wille (Fn.  15), 86. 17

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5.  Der elliptische Staat: Die Verfassung von 1921 und ihre Entwicklung Das Ende des Ersten Weltkrieges führte auch in Liechtenstein zu politischen Veränderungen, die im Ergebnis in eine neue Verfassung mündeten. Anders als in Österreich blieb die Monarchie erhalten, ja ihre Abschaffung stand im Grunde niemals ernsthaft zur Diskussion. Die neue Verfassung, die seither als „Landesverfassung“ (LV) bezeichnet wird, die vom Landtag mit der nach der Konstitutionellen Verfassung vorgesehenen verfassungsändernden Mehrheit verabschiedet und am 5. Oktober 1921 vom Landesfürsten sanktioniert wurde, stand im Zeichen des in der liechtensteinischen Staatsrechtslehre so bezeichneten „elliptischen Staates“.23 Mit diesem Bild wird auf Art.  2 LV Bezug genommen, wonach die Staatsgewalt in Fürst und Volk vereinigt ist. Der Entstehungsprozess der neuen Verfassung war einerseits geprägt durch das Auftreten einer neuen politischen Gruppierung, der Volkspartei, die deutlich stärker auf eine Änderung der bestehenden Rechtslage drängte als ihr Widersacher, die Bürgerpartei, andererseits durch den Antagonismus zweiter Persönlichkeiten.24 Die erste massgebliche Persönlichkeit bildete Josef Peer,25 in seiner Funktion als „Landesverweser“ der bisherige vom Landesfürsten eingesetzte Regierungschef, auf der anderen Seite Wilhelm Beck, der Anführer der aufrührerischen Volkspartei.26 Wilhelm Beck setzte im Verfassungsprozess mit einem von ihm selbst erarbeiteten und in der Parteizeitung der Volkspartei veröffentlichten Verfassungsentwurf die Traditionalisten unter Druck.27 Schliesslich wurden die Grundlagen der neuen Verfassung in Verhandlungen zwischen Vertretern der Volkspartei und des Fürstenhauses in den sogenannten „Schloss­ abmachungen“ fixiert. Der Entwurf, den Landesverweser Josef Peer dann dem Landtag vorlegte, orientierte sich an den Schlossabmachungen, dem Verfassungsentwurf Becks und der Konstitutionellen Verfassung.28 Die im Wege von Verhandlungen erzielte Lösung rund um die neue Verfassung verleiteten Günther Winkler zu der – et23   Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht (1. Teil), in: Gerard Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staatlichen Organisation, LPS 21, 1994, 15, 42. 24   Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 – 1926, Bd. 2, 2014, 221 f. 25   Josef Peer (1864–1925) war in Vorarlberg bereits Bürgermeister von Feldkirch (1901–1909) und Stellvertreter des Landeshauptmannes von Vorarlberg (1914–1918) gewesen. 1917–1925 war er Mitglied des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes. Der im September 1920 zum Landesverweser bestellte Peer sollte die Funktion des Landesverwesers nach den vom Landesfürsten gegenüber den Parteien gemachten Zusagen nur sechs Monate lang ausüben. Über eine mögliche Verlängerung der Funktion wurde am 28.3.1921 eine Volksabstimmung abgehalten, die mit 61,8 % deutlich zu Gunsten Peers ausfiel. Dieser lehnte jedoch ab (vgl. Rupert Quaderer-Vogt, Stichwort „Peer“, in: Brunhart (Projektleiter), Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd.2, 2013, 696 f. 26   Wilhelm Beck (1885–1936) war Rechtsanwalt und hatte in der Schweiz studiert. Er bekleidete zahlreiche Funktionen in Liechtenstein, u.a. die des Landtagspräsidenten. Er war insbesondere gemeinsam mit seinem Bruder Emil Beck Schöpfer des liechtensteinische Personen- und Gesellschaftsrechtes (PGR). Obgleich eine polarisierende Persönlichkeit, sind seine Leistungen für das Land doch unbestritten (vgl. Gerda Leipold-Schneider, Stichwort „Beck, Wilhelm“, in: Arthur Brunhart (Projektleiter), Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Bd.1, 2013, 82 f. 27   Rupert Quaderer-Vogt (Fn.  24), 235 f. 28   Rupert Quaderer-Vogt (Fn.  24), 269 f.

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was gewagten – These29 eines „demokratischen Grundvertrags“ zwischen Fürst und Volk.30 Demnach hätten sich „der Fürst und – für das Volk – der Landtag von Liechtenstein (…) im Jahr 1921 aufgrund der sogenannten ‚Schlossabmachungen‘ durch einen staatsrechtlichen Vertrag auf die als Grundgesetz des Staates (…) geltende Verfassung geeinigt.“31 Die beiden Antagonisten Josef Peer, Richter des Verwaltungsgerichtshofes in Wien, und Wilhelm Beck, in der Schweiz ausgebildeter Rechtsanwalt, widerspiegeln die massgeblichen, eben österreichischen oder schweizerischen Einflüsse auf die neue Verfassung. Die neue Verfassung zeichnete sich durch den im Wesentlichen an der Konstitutionellen Verfassung orientierten Grundrechtekatalog aus, einen Katalog an Staatsaufgaben, für welchen schweizerische Kantonsverfassungen Pate gestanden waren, ein System einer zwischen Volk, Landtag und Landesfürst geteilten Legislative und eine moderne Normenkontrolle durch einen Staatsgerichtshof, der unverkennbar am österreichischen VfGH orientiert war.32 Die Verfassung von 1921 erfuhr in den fast 100 Jahren ihres Bestehens zahlreiche Änderungen, die jedoch allesamt in der Verfassungsurkunde selbst vorgenommen wurden, fugitives Verfassungsrecht gibt es in Liechtenstein nicht. Die umfassendste Modifikation erfuhr die Verfassung mit der Verfassungsrevision 2003, die auf Grund einer von Landesfürst Hans Adam II. und Erbprinz Alois eingereichten Volksinitiative gemäss Art.  64 Abs.  4 LV im Wege einer Volksabstimmung angenommen wurde. Die umstrittene Verfassungsänderung stärkte grundsätzlich die Rolle des Fürstenhauses.33

  Peter Bussjäger (Fn.  7 ), Rn.  23.   Günther Winkler, Verfassungsrecht in Liechtenstein, 2001, 29; ebenso Günther Winkler, Die Verfassungsreform in Liechtenstein, 2003, 336. 31   Günther Winkler, Verfassungsrecht, 29. Ganz ähnlich Dietmar Willoweit, Die Stellvertretung des Landesfürsten als Problem des liechtensteinischen Verfassungsverständnisses, in: Edwin Loebenstein/ Georg Schmid/Dietmar Willoweit, Die Stellvertretung des Fürsten, LPS 11, 1985, 119, 123 f, wonach die Verfassung in einer bestimmten historischen Situation aus den Verhandlungen der Beauftragten des Volkes (sic!) und des Fürsten hervorgegangen sei. Nach Arno Waschkuhn, Die Mischverfassung Liechtenstein, LJZ 1989, 9, 10, der sich ebenfalls auf die Schlossabmachungen beruft, ist „die liechtensteinische Verfassung von 1921 selbstredend eine paktierte Verfassung“. Hier wird ein konkreter historischer Vorgang mit einer rechtlichen Begründung vermengt. Es trifft vielmehr zu, dass die Verfassung nicht aus eigener Machtvollkommenheit des Landesfürsten (vgl. die irreführende Formel „durch Uns“ im Ingress der Verfassung) geändert wurde, sondern auf dem von der Konstitutionellen Verfassung 1862 vorgezeichneten Weg der Verfassungsänderung, wobei im Vorfeld mit Vertretern der Volkspartei das Einvernehmen gesucht worden war. 32   Siehe auch Edwin Melichar, Die liechtensteinische Verfassung 1921 und die österreichische Bundesverfassung 1920, in: Bernd-Christian Funk et al. (Hrsg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. FS für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, 1992, 435, 443. 33   Wichtige Dokumente zu diesem Vorgang finden sich bei Christoph Merki (Hrsg.), Liechtensteins Verfassung 1992–2003. Ein Quellen- und Lesebuch, 2015. 29

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III.  Verfassungsrecht und Verfassungsdogmatik im Kleinstaat – das Beispiel Liechtenstein 1.  Der vertikale Blick: Verfassungsschichten in Liechtenstein Bereits die vorangegangen Ausführungen haben erhellt, dass das liechtensteinische Verfassungsrecht aus verschiedenen Schichten besteht, die über verschiedene Rezeptionen mitunter 200 Jahre in das Zeitalter des Frühkonstitutionalismus zurückreichen.34 Dies trifft klarerweise vor allem auf jene Bestimungen zu, die sich auf die Monarchie beziehen, wie anhand Art.  13 LV demonstriert werden, der gegenwärtig (seit der Verfassungsrevision 2003) wie folgt lautet: „Jeder Thronfolger wird noch vor Empfangnahme der Erbhuldigung unter Bezug auf die fürstlichen Ehren und Würden in einer schriftlichen Urkunde aussprechen, dass er das Fürstentum Liechtenstein in Gemässheit der Verfassung und der übrigen Gesetze regieren, seine Integrität erhalten und die landesfürstlichen Rechte unzertrennlich und in gleicher Weise beobachten wird.“

Diese Bestimmung unterscheidet sich im Grunde nur in einem einzigen Wort („Thronfolger“ statt „Regierungsnachfolger“) von der Verfassung 1921 und diese wiederum nur in Marginalien von §  123 der Konstitutionellen Verfassung, der wie folgt lautete: „Jeder Regierungsnachfolger wird noch vor Empfangnahme der Erbhuldigung unter Bezug auf fürstliche Ehren und Würden in einer schriftlichen Urkunde aussprechen, dass er das Fürstenthum Liechtenstein in Gemässheit der Verfassung und der Gesetze regieren, die Integrität desselben erhalten und die landesfürstlichen Rechte unzertrennlich und in gleicher Weise beobachten werde.“

§  196 der Verfassung des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen bestimmte: „Jeder Regierungsnachfolger wird bei dem Antritte seiner Regierung den Ständen bei Fürstlichen Ehren und Würden die unverbrüchliche Festhaltung der Verfassung in einer schriftlichen Urkunde zusichern; …“

§  10 der Verfassung Württembergs 1819 sah vor, dass der Huldigungs-Eid gegenüber dem Thronfolger erst abgelegt werde, wenn „… Er in einer den Ständen des Königreichs auszustellenden feierlichen Urkunde die unverbrüchliche Festhaltung der Landes-Verfassung bei Seinem Königlichen Worte zugesichert hat.“

2.  Der horizontale Blick: Rezeption und Originalität – Die Säulen liechtensteinischen Verfassungsrechts Der vertikale Blick allein reicht noch nicht. Schon mehrfach wurde deutlich, dass liechtensteinisches Verfassungsrecht – wie übrigens liechtensteinisches Recht schlechthin – sich an ausländischen Vorbildern orientiert hat. Rezeption bildet eine 34   Gerard Batliner, Schichten der liechtensteinischen Verfassung, in: Alexander Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaat. Grundsätzliche und aktuelle Probleme, LPS 16, 1993, 281, 285.

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wesentliche Säule liechtensteinischen Verfassungsrechts. Das überrascht nicht: Wie Ernst Kramer – gerade am Beispiel Liechtensteins – schreibt: „Je kleiner ein Land, desto rezeptionsanfälliger ist es,“35 denn „es mangelt hier – ähnlich wie in Entwicklungsländern – naturgemäss oft an den für eine komplexe Gesetzgebung erforderlichen fachlichen Ressourcen.“36 Die Verfassung des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen, Schweizerische Kantonsverfassungen, das österreichische B-VG, sie alle beeinflussten und beeinflussen liechtensteinisches Verfassungsrecht. Dies findet im Übrigen nicht nur im Wortlaut der Verfassung seinen Niederschlag, sondern auch in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, dem traditionellerweise je ein Mitglied aus der Schweiz und aus Österreich angehören. In der richterlichen Rechtsfortbildung spielt daher spielen daher auch mehr und mehr europäische Grundrechtslehren eine Rolle. Dennoch wäre es unzutreffend, liechtensteinisches Verfassungsrecht ausschliesslich als Resultat von Rezeptionen zu betrachten. Die Verfassung ist auch originell, nicht nur in ihrem Art.  2, der die konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage verankert, deren Staatsgewalt im Fürsten und im Volk grundgelegt ist. Originell sind etwa auch die föderalen Züge in dem winzigen Einheitsstaat, wenn die Gemeinden wie Bundesländer oder Kantone einzeln aufgezählt werden (Art.  1 LV), wenn die Abgeordneten des Landtages in den beiden Wahlkreisen Unterland und Oberland gewählt werden und es keinen dritten, den Gesamtstaat umgreifenden Wahlkreis gibt (Art.  46 LV), oder wenn der fünf köpfigen Regierung jeweils zumindest zwei Mitglieder aus den beiden Landschaften angehören müssen (Art.  79 LV), von dem international völlig unüblichen Sezessionsrecht der Gemeinden ganz zu schweigen (Art.  4 LV). Sie ist aber auch dort originell, wo rezipiert wird: Der Staatsgerichtshof hatte zwar den VfGH als Vorbild, geht aber weit über ihn hinaus, in dem auch Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und des Verwaltungsgerichtshofes seiner Kontrolle unterworfen sind.

3.  Verfassungsrechtslehre im Kleinstaat: Die Lehre von beschränkten Ressourcen An dieser Stelle ist nochmals auf die angesprochenen ökonomischen Kriterien des Kleinstaates zurückzugreifen, die durch die Kleinheit des Marktes und die Schwierigkeiten der Spezialisierung definiert wurde. Dieser Befund trifft gerade auf das Verfassungsrecht zu. Der Nachfragemarkt ist bescheiden, ebenso der Markt an Anbietenden. Dies wird mit Blick auf die Zeit der Konstitutionellen Verfassung besonders deutlich: Es gibt nicht nur keine monographische Darstellung aus dem 19. Jahrhundert, sondern auch so gut wie überhaupt keine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Das Land war auch von der internationalen Völker- und Staatsrechtslehre weitgehend unbemerkt.37   Ernst A. Kramer, Hauptprobleme der Rechtsrezeption, Juristen Zeitung 2017, 5.   Ernst A. Kramer (Fn.  35), 5. 37   Die völkerrechtliche Literatur um Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erwähnte das Kuriosum, dass während des Krieges zwischen Österreich und Preussen 1866 ein liechtensteinisches Kontingent ausrückte, um am Stilfser- und Wormserjoch die Grenze zu Italien zu sichern. Da der von Österreich und Preussen schliesslich geschlossene Friede von Prag und die Verträge mit Italien Liechtenstein gar 35

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Der bereits erwähnte Wilhelm Beck ist der erste, der 1912 ein „Recht des Fürstentums Liechtenstein“, eine kleine deskriptive Darstellung vorwiegend des öffentlichen Rechts, herausbringt.38 Der Erscheinungsort der Publikation war Zürich, was in gewisser Hinsicht vorwegnahm, was nach dem Ersten Weltkrieg folgen sollte: Das Ausscheiden Liechtensteins aus der Zollunion mit Österreich und das Eingehen einer ebensolchen mit der Schweiz. Die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg, die neue Verfassung von 1921 und die Hinwendung zur Schweiz, brachten erstmals intensivere Auseinandersetzungen mit dem öffentlichen Recht Liechtensteins: 1924 verfasste Otto Ludwig Marxer an der Universität Innsbruck seine Dissertation „Die Organisation der obersten Staatsorgane in Liechtenstein“.39 Ein Jahr zuvor war in der Schweiz der Beitrag des Österreichers Friedrich G. Kleinwaechters erschienen, „Die neueste Rechtsentwicklung im Fürstentum Liechtenstein“ aus Anlass des Inkrafttretens des Zollvertrages Schweiz – Liechtenstein.40 Wiederum ein Jahr zuvor die Darstellung von Lindt über die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein.41 Eine heimische Staatsrechtslehre entwickelte sich mangels Ressourcen noch immer nicht, aber die auch in Liechtenstein politisch unruhigen Zeiten führten zu manchem heftigen Streit über einzelne Verfassungsfragen, zu deren Klärung prominente Personen beauftragt wurden: 1929 gutachteten Hans Kelsen, der Innsbrucker Professor Max Kulisch und der Münchner Staatsrechtslehrer Anton Dyroff kontrovers und im Sinne des jeweiligen Auftraggebers über eine Auslegungsfrage betreffend die Mandatsdauer eines nach Auflösung durch den Landesfürsten neugewählten Landtages.42 Im Zusammenhang mit einer nationalsozialistisch motivierten Spitzelaffäre wurden 1937 Gutachten des schweizerischen Staatsrechtslehrers Walter Burckhardt und des damals an der Handelshochschule St. Gallen lehrenden Hans Nawiasky eingeholt.43

nicht erwähnten, wurde verschiedentlich die Auffassung vertreten, dass der Kriegszustand zwischen Liechtenstein und Preussen nicht offiziell beendet wurde (eingehend dazu Friedrich G. Kleinwaechter (Fn.  20), 361 f.). Tatsächlich beruhte die These des fortdauernden Kriegszustands zwischen Preussen und Liechtenstein auf „müssiger Erfindung“ (vgl. mit entsprechender Begründung Karl v. In der Maur, Die Gründung des Fürstentums Liechtenstein, Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, 1 (1901), 5, 37). 38   Wilhelm Beck, Das Recht des Fürstentums Liechtenstein, 1912. 39   Es handelte sich um eine Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Staatswissenschaftlichen Studien. Die Arbeit wurde nicht publiziert. 40   Friedrich G. Kleinwaechter (Fn.  20), 356 ff. 41   Lindt, Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, in: Archiv des öffentlichen Rechts 42 (1922), 230 ff. 42   Vgl. dazu die Darstellung von Peter Bussjäger, Hans Kelsen und der Verfassungsstreit in Liechtenstein, in: Clemens Jabloner/Thomas Olechowski/Klaus Zeleny (Hrsg.), Das internationale Wirken Hans Kelsens, 2016, 43 f. Der Staatsgerichtshof folgte indessen in seinem Urteil vom 14. März 1931 der Rechtsmeinung Kelsens nicht („Professor Kelsen ist ein Staatsrechtslehrer von allgemein anerkanntem Rufe. Der Staatsgerichtshof vermag sich seiner Ansicht jedoch nicht anzuschliessen.“). 43   Peter Geiger, Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren, Bd.  1 1928–1939, 2000, 465 ff.

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Dass all diese Dokumente wichtige Quellen sind, versteht sich, eine „Lehre“ des liechtensteinischen Verfassungsrechts stellen sie jedoch nicht dar. Nach 1945 änderte sich zunächst nicht viel. Immerhin gab es mit der Dissertation Gregor Stegers aus dem Jahre 1950 „Fürst und Landtag nach liechtensteinischem Recht“ die erste grosse Monographie in publizierter Form.44 1951 erfolgte die Gründung der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft (LAG), eine Vereinigung, die sich unter anderem dem Ziel verschrieb, staatspolitische Fragen aufzugreifen.45 1967 bereicherte der deutsche Verwaltungsjurist Josef Pappermann mit seinem Werk „Die Regierung des Fürstentums Liechtenstein“ das wissenschaftliche Schrifttum.46 Die frühe Verfassungsgeschichte wurde in der 1969 erschienenen Dissertation Rupert Quaderers aufgearbeitet. Eine originäre liechtensteinische Lehre des Verfassungsrechts entwickelte sich mit den Publikationen Gerard Batliners47 und Herbert Willes48 beginnend in den 1970er Jahren.49 Es ist bezeichnend für die Ressourcenknappheit des Kleinstaates, dass beide Forscherpersönlichkeiten zunächst in praktischen Rechtsberufen (als Rechtsanwalt bzw. als Verwaltungsjurist) arbeiteten und dann jahrelang in der Politik tätig waren (Batliner als Regierungschef bzw. Landtagspräsident, Wille als Regierungschef-Stellvertreter), bevor sie ihre Auseinandersetzung mit dem liechtensteinischen Verfassungsrecht intensivierten.50   Rupert Quaderer (Fn.  5 ), 5 f.   Mario Broggi/Manfried Gantner/Wilfried Marxer/Herbert Wille, Das Liechtenstein-Institut (1986– 2011), in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), 25 Jahre Liechtenstein-Institut (1986–2011), LPS 50, 2011, 23, 24. 46   Ernst Pappermann, Die Regierung des Fürstentums Liechtenstein, 1967. 47   Gerard Batliner, Die völkerrechtlichen und politischen Beziehungen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in: LAG (Hrsg.), Beiträge zur liechtensteinischen Staatspolitik, LPS 2, 1973, 21. Gerard Batliner (Fn.  34), 281, Gerard Batliner (Fn.  23), 15; Gerard Batliner, Aktuelle Fragen des liechtensteinischen Verfassungsrechts, 1998; Gerard Batliner, Die Sanktion der Gesetze durch den Landesfürsten unter Berücksichtigung des demokratischen Prinzips und des Völkerrechts, Archiv des Völkerrechts, 36 (1998) 128 ff. 48   Herbert Wille, Landtag und Wahlrecht im Spannungsfeld der politischen Kräfte in der Zeit von 1918–1939, in: LAG (Hrsg.), Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein, LPS 8, 1981, 59 ff.; Herbert Wille, Monarchie und Demokratie als Kontroversfragen der Verfassung 1921, in: Gerard Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921. Elemente der staatlichen Organisation, LPS 21, 1994, 141 ff.; Herbert Wille, Die Normenkontrolle im liechtensteinischen Recht auf der Grundlage der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, LPS 27, 1999; Herbert Wille, Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein – Entstehung, Ausgestaltung, Bedeutung und Grenzen, in: Herbert Wille (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein. 75 Jahre Staatgerichtshof, LPS 32, 2001, 9 ff.; H. Wille, Liechtensteinisches Verwaltungsrecht. Ausgewählte Gebiete, LPS 38, 2004; Herbert Wille, Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum und seine Auswirkungen auf das liechtensteinische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, in: Thomas Bruha/Zoltan Tibor Pállinger/Rupert Quaderer (Hrsg.), Liechtenstein – 10 Jahre im EWR. Bilanz, Herausforderungen und Perspektiven, LPS 40, 2005, 108 ff. 49   In diese Zeit fiel auch das Heranwachsen einer neuen Akademiker-Generation, die sich verstärkt den Gestaltungsmöglichkeiten des Kleinstaates befasste (vgl. Mario Broggi/Manfried Gantner/Wilfried Marxer/Herbert Wille (Fn.  45), 24). 50  Zu den Biografien siehe Georg Malin, Gerard Batliner 1928–2008, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), „Was will Liechtenstein sein?“, LPS 46, 2009, 21 ff.; Alois Ospelt, Porträt des Jubilars, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), Beiträge zum liechtensteinischen Recht aus nationaler und internationaler Perspektive, LPS 54, 2014, 281 ff. 44 45

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Nunmehr entwickelte sich eine zunehmend intensive Auseinandersetzung mit dem Verfassungsrecht, in die eine zunehmend grössere Zahl von Autoren einbezogen wurden.51 Die sich in den 1980er- und 1990er-Jahren intensivierende Judikatur des Staatsgerichtshofes, zu dessen fünf Mitgliedern traditionell je ein Mitglied aus der Schweiz und Österreich zählen, bescherte dem Land nicht nur eine moderne Grundrechtsrechtsprechung, sondern war auch in Bezug auf die Verfassungsdogmatik in vielerlei Hinsicht impulsgebend.52 Nicht übersehen werden darf, dass die liechtensteinische Verfassung in dieser Zeit nun auch auf das Interesse renommierter Rechtsgelehrter aus dem Ausland stösst, die sich teilweise im Rahmen von Gutachtens- oder Forschungsaufträgen mit ihr befassen.53 Die 1986 auf Initiative Gerard Batliners erfolgte Gründung des Liechtenstein-Instituts bescherte dem Land nun auch eine Institution, die sich unter anderem die Er­ forschung des Öffentlichen Rechts zum Ziel setzte.54 Im Umfeld des Liechtenstein-Instituts entstand nun eine Vielzahl, sowohl von Liechtensteinern als auch von Ausländern verfassten Publikationen, die in gewisser Hinsicht einen Auf holprozess einleiteten. Auf der anderen Seite stellte der am 1. Mai 1995 wirksam gewordene EWRBeitritt Liechtensteins nun auch eine europarechtliche Herausforderung dar, die erst bewältigt werden musste. Es ist auch wohl kein Zufall, dass diese intensive Befassung mit der Verfassung in einen Zeitraum fiel, der von tiefgreifenden Auseinandersetzungen um die von Landesfürst Hans Adam II. angestrebte und 2003 in einer Volksabstimmung angenommenen Verfassungsrevision 2003 geprägt war, in welcher wiede-

  Hilmar Hoch, Schwerpunkte in der Entwicklung der Grundrechtsprechung des Staatsgerichtshofes, in: Herbert Wille (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, LPS 32, 2001, 65 ff.; Hilmar Hoch, Staatsgerichtshof und Oberster Gerichtshof in Liechtenstein, in: Hubertus Schumacher/Wigbert Zimmermann (Hrsg.), 90 Jahre Fürstlicher Oberster Gerichtshof. FS für Gert Delle Karth, 2013, 415 ff.; Hilmar Hoch, Einheitliche Eingriffskriterien für alle Grundrechte?, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg.), Beiträge zum liechtensteinischen Recht aus nationaler und internationaler Perspektive. FS zum 70. Geburtstag von Herbert Wille, LPS 54, 2014, 183 ff.; Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, LPS 23, 1998; Andreas Kley, Die Beziehungen zwischen den Verfassungsgerichtshöfen und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen, einschliesslich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane, Landesbericht Liechtenstein, 2001. Manuskript; Andreas Kley, Geschichtliche Entwicklung der Grundrechte in Liechtenstein, in: Andreas Kley/Klaus Vallender (Hrsg.), Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS 52, 2012, 13 ff.; Christine Weber, Das Gegenzeichnungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, 1997. 52   Dazu näher Peter Bussjäger, Eigenständige Verfassungsdogmatik am Alpenrhein? Der Einfluss österreichischer und schweizerischer Staatsrechtslehre am Beispiel des Staatsgerichtshofes, in: Sebastian Wolf (Hrsg.) State Size Matters. Politik und Recht im Kontext von Kleinstaatlichkeit und Monarchie, 2016, 15 ff. 53   Vgl. die Beiträge von Herbert Loebenstein, Georg Schmid und Dietmar Willoweit in: Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.), Die Stellvertretung des Fürsten, LPS 11, 1985; Thomas Bruha, Liechtenstein im europäischen Integrationsprozess, in: Peter Geiger/Arno Waschkuhn (Hrsg.), Liechten­ stein: Kleinheit und Interdependenz, LPS 14, 1990, 181 ff. Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, LPS 20, 1994. 54   Mario Broggi/Manfried Gantner/Wilfried Marxer/Herbert Wille (Anm.  45), 32. 51

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rum zahlreiche ausländische Experten Gutachten erstatteten.55 In diese Zeit fällt auch eine rege Publikationstätigkeit Günther Winklers zum liechtensteinischen Verfassungsrecht,56 der gleichsam ein Antipode zu Batliner und Wille war. Danach verebbte das Interesse wieder etwas, insbesondere wurden die Neuerungen kaum rechtlich analysiert.57 Erst in den vergangenen Jahren hat ein erneuter Aufschwung in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem liechtensteinischen Verfassungsrecht stattgefunden: Neben Monographien zu einzelnen Aspekten wie Tobias Michael Wille, Liechtensteinisches Verfassungsprozessrecht (2007),58 Hugo Vogt, Das Willkürverbot und der Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofes (2008),59 oder Roger Beck, Rechtliche Ausgestaltung, Arbeitsweise und Reformbedarf des liechtensteinischen Landtags (2014),60 sind vor allem die von Andreas Kley und Klaus A. Vallender herausgegebene „Grundrechtspraxis in Liechtenstein“ (2012) 61 sowie das Werk von Herbert Wille, Die liechtensteinische Staatsordnung (2015),62 hervorzuheben. Die jüngst erschienene Sammlung verschiedener älterer Beiträge von Günther Winkler „Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsinterpretation in Liechtenstein“ (2015) ist in diesem Zusammenhang ebenso zu erwähnen wie das von Christoph Maria Merki herausgegebene Quellen- und Lesebuch „Liechtensteins Verfassung 1992–2003“ (2016). Daneben beleuchten zahlreiche jüngere Sammelbände63 sowie verschiedene Publikationen in der Liechtensteinischen

55   Siehe dazu insbesondere die 2000 und 2001 – mit Blick auf die Revisionsvorschläge des Fürsten – erstellten Gutachten von Stephan Breitenmoser, Jochen A. Frowein, Franz Matscher, Bernd-Christian Funk, Rene Rhinow und Günther Winkler, das Memorandum von Gerard Batliner/Herbert Wille/Andreas Kley vom August 2002 und die von Organen des Europarates 2002 und 2003 erstellten Texte. Zu diesen Dokumenten und ihrer Rezeption Christoph Merki (Fn.  33), 462. 56   Günther Winkler, Staatsverträge. Ihre Erzeugung und Geltung in der Rechtsordnung Liechtensteins, LJZ 1990, 105; Günther Winkler (Fn.  30), Verfassungsrecht; G. Winkler (Fn.  30), Verfassungsreform, Günther Winkler, Begnadigung und Gegenzeichnung, 2005. 57  Siehe aber etwa Agostino Carrino (Hrsg.), Rechtsstaat und Demokratie in der Verfassung von Liechtenstein, 2009, mit Beiträgen u.a. von Günther Winkler, Georg Ress und Heinz Schäffer. 58   Tobias M. Wille, Liechtensteinisches Verfassungsprozessrecht, LPS 43, 2007. 59   Hugo Vogt, das Willkürverbot und der Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofes, LPS 44, 2008. 60   Roger Beck, Rechtliche Ausgestaltung, Arbeitsweise und Reformbedarf des liechtensteinischen Landtags, LPS 53, 2014. 61   Andreas Kley/Klaus A. Vallender, Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS 52, 2012. 62   Herbert Wille, Die liechtensteinische Staatsordnung, LPS 57, 2015. 63  Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang etwa Hubertus Schumacher/Wigbert Zimmermann (Hrsg.), 90 Jahre Fürstlicher Oberster Gerichtshof. FS für Gert Delle Karth, 2013, insbesondere mit den Beiträgen von Anna Gamper, Autochthoner versus europäischer Konstitutionalismus 263 ff. und Patricia Schiess Rütimann, Die politische Verantwortung des Landesfürsten, 829 ff.; Liechtenstein-Institut (Hrsg.), Beiträge zum liechtensteinischen Recht aus nationaler und internationaler Perspektive. FS zum 70. Geburtstag von Herbert Wille LPS 54, 2014; Alexander Balthasar/Peter Bussjäger/Klaus Poier (Hrsg.), Herausforderung Demokratie. Themenfelder: Direkte Demokratie, e-Democracy und übergeordnetes Recht, 2014; Sebastian Wolf (Hrsg.), State Size Matters, 2016.

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Juristen-Zeitung (LJZ) 64 und in ausländischen Werken65 ebenfalls Aspekte liechtensteinischen Verfassungsrechts.66 Gravierend blieb jedoch die Lücke, dass es aus dem Gebiet des Verfassungsrechts keinen umfassenden Kommentar der Verfassung gab. Es existierte zwar der Kommentar des ehemaligen Richters Heinz Josef Stotter zur Verfassung aus dem Jahre 2004.67 Ohne dessen Verdienste zu schmälern, bleibt darauf hinzuweisen, dass dieses Werk zwar eine Aufarbeitung der Entscheidungen des Staatsgerichtshofes enthielt, die zum Teil nur schwer zugänglich sind. Stotter wertet indessen weder Literatur noch Gesetzesmaterialien aus, was das Werk in den Bereichen, zu denen wenig Judikatur existiert, zwangsläufig lückenhaft macht.

IV.  Der Online-Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung 1.  Das Projekt und die Idee dahinter Der am 15. März 2016 der interessierten Öffentlichkeit präsentierte, vom Liechtenstein-Institut68 herausgegebene Kommentar zur Verfassung des Fürstentums Liechtenstein69 stellt die erste umfassende Kommentierung der einzelnen Artikel der Verfassung dar.70 An dieser Stelle soll zunächst Sinn und Zweck eines Kommentars näher erläutert werden: Juristische Praxis besteht in erster Linie in der Interpretation von Gesetzestexten.71 Die Rechtsanwender haben ein Bedürfnis nach näheren Erläuterungen, die ihnen grösstmögliche Zertität verschaffen. Die Voraussehbarkeit von behördlichem Handeln und richterlichen Entscheiden soll ein Kommentar zumindest verbessern,72 nicht 64   Siehe etwa Peter Bussjäger, Aktuelles aus der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, LJZ 2014,1 ff. Kuno Frick, Landesbericht Liechtenstein zur polizeilichen Generalklausel, LJZ 2011, 10 ff.; Philipp Mittelberger, Verfassungsmässigkeit der Vorratsdatenspeicherung in Liechtenstein, LJZ 2012, 9 ff.; Reto Näscher/Matthias Schmidle, Die neue liechtensteinische Rechtsprechung zum Rückwirkungsverbot im Bereich der Amts- und Rechtshilfe, LJZ 2013, 153 ff.; Esther Schneider, Internationalrechtliche Verfahrensgarantien (Art.  6 Art.7 EMRK Art.  4 7. ZP EMRK), LJZ 2014, 98 ff.; Sebastian Wolf, Zum Verhältnis von Exekutive und Legislative bei der Organisation der Landesverwaltung, LJZ 2013, 59 ff. 65   Hilmar Hoch, Der liechtensteinische Staatsgerichtshof und Daniel Thürers Beitrag zu dessen Rechtsprechung und Selbstverständnis, in: Giovanni Biaggini/Oliver Diggelmann/Christine Kaufmann (Hrsg.), Polis und Kosmopolis. FS für Daniel Thürer, 2015, 257 ff. 66   Peter Bussjäger/Patricia Schiess Rütimann, Ein neuer Kommentar zur Verfassung des Fürstentums Liechtenstein – verfassung.li, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung, LJZ 2016, 28. 67   Heinz Josef Stotter, Die Verfassung des Fürstentum Liechtenstein 2, 2004. 68  http://www.liechtenstein-institut.li/. 69  http://verfassung.li/. 70   Peter Bussjäger/PatriciaSchiess Rütimann, (Fn.  66), 28, welchem Beitrag dieser Abschnitt folgt; weiters Patricia Schiess Rütimann, Verfassung.li – Der Online-Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung, in: Erich Schweighofer/Franz Kummer/Walter Hötzendorfer/Georg Borges (Hrsg.), Netzwerke. Tagungsband des 19. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2016, 2016, 51 ff. 71   Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre4 2013, 37; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff 2, 1991, 393; Michael Thaler, Mehrdeutigkeit und juristische Auslegung, 1982, 8. 72   Freilich kann auch ein Kommentar diese Zertität zuweilen nicht erreichen, wenn er nämlich z.B.

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zuletzt indem er festlegt, welche Literatur und Judikatur relevant ist,73 und indem er für nur ansatzweise oder gar widersprüchlich entschiedene Einzelfragen Lösungen erarbeitet.74 Ein Kommentar dient der Erläuterung der einzelnen Bestimmungen eines Gesetzeswerkes.75 Oder noch einfacher gesagt mit David Kästle: Ein Kommentar ist ein „Text, der an einen anderen Text anknüpft“.76 Reinhard Zimmermann und Peter Riess rücken demgegenüber die geschilderte Funktion in den Vordergrund, wenn sie Kommentare als „Schaltstelle im Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Rechts­ praxis“77 und „Meinungsfilter und Meinungsbildner“78 bezeichnen. Seinen rechtshistorischen Ursprung findet der Kommentar in der Tätigkeit der Glossatoren, die ab dem 12. Jahrhundert römische Rechtsquellen mit kleinen Erläuterungstexten (so genannten Glossen) versahen, die am Rand des Textes oder ­z wischen den Zeilen geschrieben wurden.79 Später schrieben Juristen, um den praktischen Bedürfnissen gerecht zu werden, ausführlichere Erläuterungen zu den einzelnen Gesetzesstellen.80 Deren Verfasser wurden als Postglossatoren und Kommentatoren bezeichnet.81 Den Bedeutungsgehalt einer konkreten Rechtsnorm kann der Kommentar besser als der Grundriss, das Hand- oder Lehrbuch erläutern, weil in diesen Werken die Systematik eines Rechtsgebietes und seine grundlegenden Inhalte vermittelt werden,82 wobei der Auslegung einzelner Bestimmungen naturgemäss weniger Bedeutung beigemessen werden kann.83 mit dem Problem der Mehrdeutigkeit einer Rechtsregel zu kämpfen hat. Dazu Michael Thaler (Fn.  71), 10 f. 73   Thomas Henne, Die Entstehung des Gesetzeskommentars in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: David Kästle/Nils Jansen (Hrsg.), Kommentare in Recht und Religion, 2014, 317, 318 f, sagt prägnant, Kommentare würden „das Vergessen organisieren.“ 74   Harm Peter Westermann, Glanz und Elend der Kommentare, in: Heinz Eyrich/Walter Odersky/ Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), FS für Kurt Rebmann zum 65. Geburtstag, 1989, 105, 107. 75   Dieter Meyer, Juristische Fremdwörter, Fachausdrücke und Abkürzungen12 2004, 81. Zur Erläuterungsfunktion und den übrigen Funktionen der Kommentare vgl. David Kästle, Juristische Kommentare – theologische Kommentare. Von der Farbe des Chamäleons, in: David Kästle/Nils Jansen (Hrsg.), Kommentare in Recht und Religion, 2014, 426 f. 76   David Kästle (Anm.  75), 396. Peter Riess, Einige Bemerkungen zum Stellenwert und zur Funktion juristischer Kommentare, in: Reinhard Böttcher/Götz Hueck/Burkhard Jähnke (Hrsg.), FS für Walter Odersky zum 65. Geburtstag am 17. Juli 1996, 1996, 81, 82. 77   Reinhard Zimmermann, Juristische Bücher des Jahres: Eine Leseempfehlung, NJW 2011, 3557. 78   Peter Riess (Fn.  76), 90. 79   Birgit Meineke, Stichwort „Glosse“ in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Christa Bertelsmeier-Kierst (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte HRG2, Band II, Berlin 2012, 412 ff.; Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte 6, 2013, 90 ff. 80   Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Glossen und Kommentaren ausführlich Susanne Lepsius, Fliessende Grenzen juristischer Kommentierungstätigkeit im Spätmittelalter, in: David Kästle/Nils Jansen (Hrsg.), Kommentare in Recht und Religion (2014), 141 f. 81   Wolfgang Waldstein/Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte11 2014, §  44 Rn.  20; Wolfgang ­Kunkel/Martin Schermaier, Römische Rechtsgeschichte14 2005, 232 f. 82   Dennoch finden im Kommentar „die Exegese und die dogmatisierende Verfestigung normativen Wissens“ zusammen, Nils Jansen, Einführung, in: David Kästle/Nils Jansen (Hrsg.), Kommentare in Recht und Religion 2014, 1. 83   Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen? Trotz dieser Vorzüge finden sich z.B. für das US-amerikanische und das französische Recht keine Kommentare, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Beiheft 7 zu

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Demgegenüber vermag es der Kommentar weniger, einen Überblick über ein Rechtsgebiet zu geben.84 Der Kommentar setzt im Allgemeinen eine gewisse Kenntnis des Rechtsgebietes und der einschlägigen Begriffe voraus.85 Dadurch, dass er bei der Darstellung der einzelnen Bestimmungen und der zu ihnen ergangenen Urteile tiefer schürfen kann als das Hand- oder Lehrbuch und der Grundriss, benützen Gerichte und Verwaltungsbehörden mit Vorliebe den Kommentar als Auslegungshilfe. Durch den Dialog mit den Gerichten kommt es zu einem stetigen Anschwellen der Informationslast, die Kommentare mit sich tragen.86 Dem Umstand, dass zu viel Information der häufig benötigten raschen Rechtsauslegung abträglich sein kann, trägt die Institution des Kurzkommentars Rechnung. Er versucht, Komplexität auf ein erträgliches Mass zu reduzieren87 und ermöglicht dem eiligen Leser einen raschen Einstieg. Kommentare sind herkömmlicherweise Bücher oder, von Bibliotheksverantwortlichen gefürchtet, Lose-Blatt-Sammlungen. Eine neuere Erscheinung sind demgegenüber Online-Kommentare, die – meistens – von kostenpflichtigen Rechtsdatenbanken angeboten werden. Online-Kommentare ermöglichen auf Grund ihrer Suchfunktionen und des Instruments der Verlinkungen das rasche Auffinden der interpretierenden Ausführungen sowie der von den Kommentatoren benützten Materialien, Literatur und Judikatur.

2.  Die Umsetzung Publiziert wird der Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung vom Liechtenstein-Institut als Herausgeber nicht als Buch, sondern ausschliesslich online auf der eigens geschaffenen Website www.verfassung.li. Damit stellt er im ganzen deutschsprachigen Raum eine Premiere dar. Verwendet wird eine Individualentwicklung auf der Basis von MediaWiki. Pro Verfassungsartikel wird eine eigene Wiki-Seite angelegt, die ihrerseits in verschiedene Abschnitte (Inhaltsverzeichnis, Schlagwörter, Verzeichnis der Materialien, Literaturverzeichnis, Kommentierung, Fussnoten) unterteilt ist, die einzeln aufgeklappt werden können. Der Zugang zum Kommentar ist kostenlos, auch dies ist ein Novum. Die Gestaltung ist nicht nur auf Computerbildschirme ausgerichtet, sondern auch auf mobile Endgeräte. Auf Barrierefreiheit wurde geachtet. Die Kommentierungen zu den einzelnen Verfassungsartikeln können als PDF heruntergeladen und ausgedruckt werden. Die Verwaltung 2007, 319, 345, sowie Thomas Henne (Fn.  73), 320 und Pascal Pichonnaz, Quelques réflexions sur les enjeux et l’impact sur la littérature juridique future, ZSR (Zeitschrift für Schweizerisches Recht) 133 (2014) I, 380. 84   Verfassung.li/, kommt diesem Problem dadurch entgegen, dass der Kommentar einen „Einführende Bemerkungen“ genannten Text enthält, der eine Zusammenfassung des liechtensteinischen Verfassungsrechts vornimmt. 85   Harm Peter Westermann (Fn.  74), 106. 86   P. Pichonnaz, (Fn.  83), 381, T. Henne (Fn.  73), 323. 87   Komplexität zu reduzieren, ist freilich Aufgabe jedes Kommentars: Thomas Henne (Fn.  73), 430 f.

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Am 15. März 2016 wurden erstmals 31 Artikel von insgesamt 122 Artikeln freigeschaltet. Seither wurden weitere 40 Artikel online gestellt. Der Autor und das Datum der letzten inhaltlichen Bearbeitung jeder Kommentierung werden unmittelbar im Anschluss an den Verfassungstext erwähnt. Als Zitiervorschlag gilt: Bussjäger Peter, Art.  1 LV, in: Liechtenstein-Institut (Hrsg): Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung. Online-Kommentar, Bendern 2016, www.verfassung.li (Stand 31. August 2015).

3.  Open access als Paradigma moderner Rechtswissenschaft? Open access ist ein Schlagwort, das im wissenschaftlichen Diskurs immer häufiger verwendet wird. Der Gedanke dahinter besteht darin, die Digitalisierung zu nutzen und Projektergebnisse, die in vielen Fällen mit öffentlichen Mitteln gefördert wurden, auch der Öffentlichkeit gratis zur Verfügung zu stellen. Dass dieser zweifellos überzeugende Gedanke mit den Interessen wissenschaftlicher Verlage, die ihrerseits wiederum erhebliche private Mittel in die Publikation investieren und wirtschaftliche Risiken tragen, konfligiert, liegt auf der Hand. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass verfassung.li zweifellos in die Zukunft weist, weil diese darin bestehen wird, dass immer mehr „content“ von Datenbanken online zur Verfügung stehen wird.

V. Schlussbemerkung In den vorangegangen Ausführungen wurde versucht, eine Verbindung von Verfassungsentwicklung, Verfassungsrechtslehre und Zugänglichkeit wissenschaftlicher Forschung vor dem Hintergrund von Kleinstaatlichkeit darzulegen. Ausgangspunkt bildete das Ressourcenproblem, vor dem der Kleinstaat gerade in der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis zum Verfassungsrecht steht. In der Produktion von Recht ist der Kleinstaat in Besonderem auf das Instrument der Rezeption angewiesen. Er übernimmt in anderen Ländern entstandenes Recht oder knüpft an eigenes Recht an, um seine rechtschöpfenden Ressourcen zu schonen. Dies schliesst nicht aus, dass e auch originale und originelle Regelungen gibt, der Kleinstaat muss aber sorgsam damit umgehen. Verfassungsrechtslehre entsteht nicht von selbst. Der Kleinstaat kann das Ressourcenproblem überwinden und zu einer durchaus auf hohem Niveau stehenden Lehre gelangen. Dass dies aber keine Selbstverständlichkeit ist, sondern auch von Zufälligkeiten und spezifischen Situationen abhängen kann, wurde gezeigt. Die Zugänglichkeit des Rechts ist auch im Kleinstaat ein Problem. Open accessLö­sungen sind wohl nicht die Lösung für alle auftretenden Probleme, aber eine wesentliche Hilfe zu deren Bewältigung.

III.  Verfassungsrecht außerhalb Europas

Der „Krausismus“ in Argentinien und die Radikalen um Hipólito Yrigoyen (1850–1933) von

Priv.-Doz. Dr. Andreas Timmermann, Universität Hamburg Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 2. Der Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 3. Die Ausgangsbedingungen der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 a) Krauses Rechts- und Staatskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 b) Die sozioökonomische Entwicklung Argentiniens und die „Unión Cívica Radical“ . . . . . . . . . . . 708 4. Die Schwierigkeiten der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 a) Der Rekurs auf den Krausismus als „Fortschrittskonzept“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 b) Der Rekurs auf konkurrierende Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 5. Die Positionen Yrigoyens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 a) Das Konzept einer „moralisch-politischen Erneuerung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 b) Das Regierungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 6. Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727

1. Einleitung Die Jahre zwischen 1890 und 1930 haben in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung für die argentinische Geschichte: Die Einwanderung aus Europa erreichte in diesen Jahren ihren Höhepunkt. Es bildete sich eine Mittelschicht, die der Gesellschaft ihre im Grunde bis heute typische Prägung verlieh. Zugleich ermöglichten diese gesellschaftlichen Veränderungen den politischen Durchbruch einer neuen Bewegung, der Radikalen Partei um Juan Hipólito Yrigoyen y Alem (1850–1933), die jedenfalls bis zu dessen Abgang die Geschicke des Landes entscheidend mitbestimmte. In staatstheoretischer und ideengeschichtlicher Hinsicht sind einige Fragen offen oder zumindest umstritten. Das betrifft auch die Frage, in welcher Weise sich die Radikale Partei (Unión Cívica Radical) und besonders Yrigoyen als Präsident Argentiniens, europäische Konzepte zunutze machten, speziell die Schule des sog. Krausismo. Wie diese Solidaritätsethik, die auf den deutschen Idealisten Karl Chris-

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tian Friedrich Krause (1781–1832) zurückgeht, den sozial-liberalen Progressismus in Lateinamerika beeinflusste, ist nicht nur eines der interessantesten Beispiele der Rezeption in Übersee, sondern eben auch einer der am wenigsten eindeutigen Fälle. Die Literatur, die den Krausismus in jener Hochphase der Radikalen behandelt, bietet in dieser Hinsicht – etwas verallgemeinert – vor allem zwei Lösungen an, die sich teilweise auch überschneiden: Zum einen wird vielfach auf ein spezifisches Fortschrittskonzept der Radikalen verwiesen und dieses auf den Krausismus zurückgeführt. Denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog sich der Fortschrittsoptimismus wie ein roter Faden durch den Rekurs maßgeblicher argentinischer Politiker und ihrer Programme, und zwar vor allem auf Seiten der Radikalen Partei. Andere betonen dagegen besonders den ethischen Anspruch der neuen politischen Bewegung und stützen diesen ebenfalls auf die Rezeption Krauses bzw. seiner Schule; zumal der offenkundige Machtmissbrauch und häufige Wahlfälschungen, für die die bis dahin dominierenden Parteien verantwortlich waren, den Aufstieg und die ersten Wahlerfolge der Radikalen Partei beförderten.1 Umgekehrt messen – wenn auch seltener – einzelne Autoren dem Krausismus eine in politischer Hinsicht viel geringere Bedeutung bei und halten dessen Einfluss auf die Radikalen für überschätzt. Dieser Meinungsstand sei eingangs kurz dargelegt (2). Im Folgenden seien dann zunächst jene Faktoren angesprochen, die solche Schlussfolgerungen nahelegen (3), dann aber umgekehrt auch die Schwierigkeiten dieser Ansätze erwähnt (4). Den besten Aufschluss erlauben aus Sicht des Autors die programmatischen Aussagen der maßgeblichen Protagonisten, wofür wegen seiner Schlüsselstellung auf Yrigoyen selber und auf seine Positionen abzustellen ist (5).

2.  Der Meinungsstand Zur Gruppe derjenigen Autoren, die ein spezifisches Fortschrittskonzept der Radikalen auf den Krausismus zurückführen, gehören zum einen Theoretiker der Partei selber. Der bekannteste ist Raúl Alfonsín, der sich hierin regelmäßig auf Yrigoyen bezieht: etwa dann, wenn Alfonsín ihn für die Verwirklichung eines bestimmten, pluralistischen Gesellschaftsmodells und des Mehrparteiensystems in Anspruch nimmt: Yrigoyen sei Anhänger Krauses gewesen und Krause wiederum habe den Parteien in ihrer ganzen Vielfältigkeit die Rolle eines Fortschrittsmotors zugeschrieben. Das Fortschrittsstreben, wie es Krause hier attestiert wird und wie es die Radikalen für sich beanspruchten, bestehe darin, eine zunehmend größere Harmonie zwischen den Gesellschaftsschichten herbeizuführen; ferner jene sozialen Probleme zu lösen, die auf Ungerechtigkeit und materielle Ungleichheit zurückgingen.2 Der Fortschrittsgedanke wurde mit Bezug auf Argentinien zuletzt immer wieder in Teil-Veröffentlichungen oder auf Tagungen betont, wenn es darum geht, Karl Christian Friedrich 1   Für viele Hebe Clementi, El Radicalismo. Trayectoria política, 2.  Aufl., Buenos Aires 1983, S.  21 ff.; ferner David Rock, State Building and Political Movements in Argentina, 1860–1916, Stanford 2002, S.  144 ff., ausführlich zu den eklatanten Misständen und deren Bedeutung für die Radikale Partei. 2   Pablo Giussani/Raúl Alfonsín, ¿Por qué, doctor Alfonsín? Conversaciones con Pablo Giussani, Buenos Aires 1987, S.  4 4 bzw. S.  98; ferner Raúl Alfonsín, Recuperar la capacidad de gobierno. La nueva cuestión social, in: ders. u.a., Política social y democracia, Buenos Aires 1997, S.  173–181, hier: S.  174.

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Krauses als geistigen Urheber des radikalen Programms in Anspruch zu nehmen. Ähnlich wie für Raúl Alfonsín scheint hier die politische Motivation zu dominieren und die sozialwissenschaftliche Frage etwas in den Hintergrund zu treten.3 Aber auch in der gesellschaftswissenschaftlichen Literatur und in ideengeschichtlichen Veröffentlichungen wird häufiger die Fortschrittsidee im Zusammenhang mit dem Krausismus erwähnt. Demnach bezogen sich die Gründungsväter der Radikalen Partei, allen voran Yrigoyen, auf die Vorstellung Krauses und seiner Schüler, wonach Person, Familie, Gemeinde, Nation in organischer Entwicklung einem höheren Ziel zustrebten. Als Ziel und Maßstab dieser Entwicklung gilt das „ideale Recht“. Dieses löse das bloß „formale Recht“ ab; und in ihm spiegele sich „das Gewissen der Gesellschaft“ und eine „fortschrittliche Kultur“ wider.4 Andere betonen, dass der Krausismo deshalb eine so günstige Aufnahme in Argentinien gefunden habe, weil die seit Mitte des 19. Jahrhunderts dort maßgeblichen geistigen Strömungen gerade einem Konzept den Weg bereiteten, das den Glauben an den Fortschritt in den Mittelpunkt stellte. Das Fortschrittsstreben habe besonders an den Orten Argentiniens die Rezeption Krauses stark begünstigt, wo es die auf kommenden Naturwissenschaften erfasste.5 Schließlich gilt der Krausismus aus dieser Perspektive vielen als geistiger Antrieb der Radikalen um Yrigoyen, welche angeblich die die Gesellschaftsstruktur betreffenden Zukunftsaufgaben in den Vordergrund rückten: nämlich das Ziel, ein noch nicht erschlossenes Schwellenland zu entwickeln und – abgesehen von einem besseren Zusammenleben der Bürger aller Gesellschaftsschichten – deren fortschreitend bessere politische und rechtliche Teilhabe in einer noch nicht ausgereiften demokratischen Grundordnung zu erreichen.6 Diejenigen, welche dagegen den Einfluss besonders betonen, den die Ethik des Krausismus auf die Radikalen und auf Yrigoyen ausübte, heben den moralischen Gehalt des Konzepts hervor. Dieser habe in spezieller Weise nicht nur auf politisch-praktische Aspekte abgefärbt, sondern auch auf abstrakt-theoretische Fragen: so in der Auffassung Yrigoyens, dass die Nationen „moralische Persönlichkeiten“ seien.7 Allerdings wird dieser Ansatz nicht immer klar von jenem ersteren abgegrenzt und überschneidet sich teilweise mit diesem. So führen es manche Autoren einerseits auf Krauses Fortschrittsoptimismus zurück – da er eine nahe Verbesserung der Gesellschaftsbedingungen verheißen habe –, dass die Bestrebungen nach einer Sozialreform wie allgemein in Lateinamerika so auch in Argentinien starken Auftrieb erhielten.8 Andererseits betonen sie dort den moralischen Impuls des Krausismus und den positiven Einfluss einer krausistischen Ethik auf die Bemühungen um Redemokrati3  Exemplarisch Osvaldo Alvarez Guerrero, Krausismo y radicalismo, auf dem Symposium der Friedrich – Ebert – Stiftung: Hugo E. Biagini (Hg.), Orígines de la democracia argentina. El trasfondo krausista, Buenos Aires 1989, S.  175–182. 4   Arturo Andres Roig, Los krausistas argentinos, Puebla (Mexiko) 1969, S.  213 ff.; speziell zum Grenzfall des sog. krauso-positivismo S.  412 ff. 5   Carlos Stoetzer, Deutschland und Argentinien. Der geistige Einfluss Krauses in der jüngsten argentinischen Geschichte, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 25 (1988), S.  635–671, hier: S.  649; ders., Karl Christian Friedrich Krause and his Influence in the Hispanic World, Köln 1998, S.  325. 6   Zu diesen und weiteren Gesellschaftszielen: Osvaldo Alvarez Guerrero, Política y ética social: Yrigoyen y el krausismo. Orígines ideológicos de la UCR, Fuerte General Roca 1983, S.  89–103. 7   Coriolano Alberini, Die deutsche Philosophie in Argentinien, Berlin 1930, S.  41. 8   Thomas Neuner, Karl Krause (1781–1832) in der spanischensprachigen Welt: Spanien, Argentinien,

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sierung und das Erziehungswesen.9 Auch Raúl Alfonsín besteht an anderer Stelle auf die Wirkung, welche speziell die Ethik des Krausismus auf Yrigoyen ausübte, wenn es um einen Ausgleich der gesellschaftlichen Gegensätze und eine größere Solidarität der Argentinier gegangen sei.10 Schließlich sind jene Autoren zu berücksichtigen, die zwar der Fortschrittsidee für Argentinien ein großes Gewicht einräumen, diese aber nicht in erster Linie auf den Krausismus zurückführen. Dies gilt etwa für die bekannte Auseinandersetzung des Jorge Enea Spilimbergo mit der Geschichte der Radikalen Partei Argentiniens: Ihm zufolge ist das Programm der Radikalen Partei bzw. ihres wichtigsten Parteiführers Hipólito Yrigoyen Ausdruck jenes Fortschrittsstrebens, das die neue Mittelklasse kennzeichnete und mit dem anhaltenden Modernisierungsprozess verbunden war.11 Den Rekurs der Radikalen und Yrigoyens auf den „Krausismo“ nimmt er aber kaum ernst.12 Insgesamt schätzen die meisten Autoren jedoch den Einfluss auf die Politik der Radikalen und Yrigoyens als sehr hoch ein, so Arturo Roig, Osvaldo Alvarez Guerrero und Carlos Stoetzer, die das Denken und Handeln Yrigoyens in hohem Maße darauf zurückführen.13 Ähnlich, aber etwas differenzierter argumentiert Hebe Clementi, insofern sich seiner Ansicht nach der erhebliche Einfluss des Krausismus auf die Politik Yrigoyens noch stärker als bei den zuvor erwähnten Autoren auf die Reform des Bildungssystems konzentrierte.14 Zugleich erwähnt er andere, in der hier relevanten Zeitspanne einflussreiche Strömungen oder Stimmungen, in denen sich die Abneigung gegen Liberalismus und Kapitalismus mit einem auf kommenden Antiamerikanismus, einem wachsenden argentinischen Nationalismus und der idealistischen Besinnung auf die eigene christlich-katholische Tradition verband.15

3.  Die Ausgangsbedingungen der Rezeption a)  Krauses Rechts- und Staatskonzept Für beide der eingangs erwähnten geläufigsten Interpretationen lassen sich Hinweise im Krausismus finden, wobei zunächst auf das Denken Karl Christian Friedrich Krauses selbst abzustellen und die Krauseforschung einzubeziehen ist. Mit Blick auf den Fortschrittsgedanken weist der bekannte Krause-Forscher, Enrique Ureña, darauf hin, Krause habe durch eine neue Philosophie die menschliche Gesellschaft verändern wollen und die Höherbildung des Menschheitslebens an sich angestrebt: damit Kuba, Leipzig 2004, S.  55, bezogen auf Lateinamerika im Allgemeinen und Argentinien (dazu näher S.  55–101) im Besonderen. 9   Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  11 ff. 10   Giussani/Alfonsín, ¿Por qué, doctor Alfonsín? (Fn.  2 ), S.  38 ff., 98. 11   Jorge Enea Spilimbergo, De Yrigoyen a Frondizi, Buenos Aires 1959, S.  10. 12   Spilimbergo, De Yrigoyen a Frondizi (Fn.  11), S.  20 u. 31, ebenso in den späteren Neuauflagen seiner Parteigeschichte, so ders., El fraude Alfonsinista. Historia crítica del radicalismo 1880/1988, Buenos Aires 1989, S.  77 f. 13   Roig, Los krausistas argentinos (Fn.  4 ), S.  165 ff.; Alvarez Guerrero, Política y ética social (Fn.  6 ), S.  55 ff. u. 64 ff.; Stoetzer, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 25 (1988) (Fn.  5 ), S.  659 ff. 14   Clementi, El Radicalismo (Fn.  1), S.  27 ff. 15   Clementi, El Radicalismo (Fn.  1), S.  27.

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die Gesellschaft seiner Zeit einen wesentlichen Schritt gehe auf dem Wege von dem, wie sie ist, zu dem, wie sie sein soll.16 Tatsächlich ging Krause in rechtlicher und institutioneller Hinsicht von einer Aufwärtsentwicklung aus: Das Recht hat die Aufgabe, die Lebensbedingungen abzubilden, sowohl das Eigenleben der Menschen wie auch das Vereinsleben mit Gott. Das Recht ordnet das Gesamtleben der Menschen teleologisch, damit jedes Individuum sich ungehindert dem Endziel der sittlichen Vollendung nähert. Dieses Ideal zu verwirklichen, dient das Recht, dessen begriffliche Differenzierung in „das Recht des Einzelnen, Familienrecht, Stammrecht, Volksrecht (im Staates eines einzelnen Volks), Völkerrecht (Volksbundrecht im Staatenbunde), Erdtheilrechtvölkerrecht, Menschheitsrecht“ die Höherentwicklung der Menschheit abbilden soll.17 Eine stufenweise Entwicklung vollzieht gleichsam den „Geist in der Geschichte“ nach, den die Einzelnen und ihre verschiedenen Vereinigungen (Bünde) schrittweise erfüllen. Diese Aufwärtsentwicklung durchlaufen die Menschen in Ehe- und Freundschafts-, Tugend- und Wissenschaftsbünden, ferner in Orts-, Stammes- und Volksvereinigungen, bis sich schließlich der alle Menschen der Erde umfassende Menschheits- und Völkerbund verwirklicht. Für die eigentlichen „vier Grundformen alles Lebens“ hält Krause den Tugendbund, den Rechtsbund, den Gottinnigkeitsbund und den Schönheitsbund, die sich nach den jeweils eigenen Gesetzen und als selbständige Ideen herausbilden müssen und dennoch nur „in wechselseitigem Vereine“ in- und miteinander zu vollenden und harmonisch auszubilden sind.18 Die Staaten verbinden sich untereinander, um „das Recht unter sich als höheren Personen (ganzen Völkern) gesellig herzustellen, so dass alle dazu vereinte Völker innerlich und äußerlich frei, gemäß den Gesetzen sittlich freier jedem Volke eigenthümlicher Entwicklung, ihr Leben immer vollkommener entfalten können“.19 Diese Entwicklung ist demnach organisch und stellt einen Fortschritt insofern dar, als sie in einem kontinuierlichen Prozess des Reifens besteht. Die Menschheit entstehe in unendlich vielen „Teilmenschheiten“ immer neu. Jede Teilmenschheit entfalte sich nach dem Lebensgesetz, von ihrer Entstehung bis zur Reife; während der Geschichtsphilosophie die Aufgabe zufalle darzulegen, wie jede dieser Vereinigungen ihren Reifeprozess bis zum Gipfel durchläuft.20 Wenn manche Autoren besonders die ethisch-moralischen Aspekte hervorheben, beruhen diese auf den gleichen Grundannahmen Krauses, aus denen er auch seinen Fortschrittsgedanken ableitete. Das beginnt mit seiner Definition des Rechts, wel  Enrique M. Ureña, K.C.F. Krause: Philosoph, Freimaurer, Weltbürger. Eine Biographie, Stuttgart 1991, S.  54. 17   Karl Christian Friedrich Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas (1814), hier: Ausgabe Leipzig 1920, S.  21. 18   Karl Christian Friedrich Krause, Das Urbild der Menschheit, 2.  Aufl., Göttingen 1851, S.  194 f. 19   Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes (Fn.  17), S.  11. 20   Rogelio García Mateo, Fortschrittsstruktur in der zyklischen Geschichtskonzeption Karl Christian Friedrich Krauses, in: Klaus-M. Kodalle (Hg.), Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832): Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo, Hamburg 1985, S.  72–79, hier: S.  75 ff.; Gerhard Funke, Karl Christian Friedrich Krauses Begründung einer „Lebenskunstwissenschaft“ im Deutschen Idealismus, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause, S.  3 –16, hier: S.  12, 15 f. Krauses „Menschheitsbund“ bzw. „Erdrechtsbund“ ist offenbar beeinflusst durch Immanuel Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), und ders., Zum ewigen Frieden (1795). 16

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ches „das Ganze aller wechselseitigen äußern Bedingungen des sittlich-schönen Lebens der einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit ist“. Das Recht garantiere den Institutionen und Verbänden, so dem Staat „als dem Religionsbunde (Gottbunde, Gottinnigkeitsbunde) und allen geselligen Vereinen für Wissenschaft und Kunst, so wie auch der Familie (dem Ehethume) und der Freundschaft ein selbstständiges, eigenes, und eben dadurch auch ein allseitiges harmonisches Leben“.21 Staat und Staatenbund sind die weiteren Kategorien, in denen Krause zufolge Sittlichkeit und Fortschritt einander bedingen. Denn es müsse „auch das im Staatsbunde constituierte Völkerrecht mit sittlicher Freiheit harmonisch seyn. Gerade in der Anerkennung der persönlichen Freiheit und Eigenthümlichkeit jedes Volkes, gerade in der Durchführung des Grundsatzes: daß auch auf dem Gebiete des Rechts die Völker mit sittlicher Freiheit zum Besseren emporstreben und emporgeleitet werden sollen, gerade hierin ist gegründet die innerste Kraft jedes Staatsvereins und die Bürgschaft seines Bestehens.“22 Häufig heben die Autoren auf die pädagogische Aufgabenstellung ab, der sich der Mensch Krause zufolge stellen muss, wenn er sein Leben der Wissenschaft gemäß einrichte, also eine „Lebenskunstwissenschaft“ ausübe. Die Ausbildung zur Philosophie gehe gleichsam vom Standpunkt des Lebens aus.23 Der tiefere Grund liegt Krause zufolge im Wesen des Menschen. Der Mensch ist demnach das Wesen der Vereinigung schlechthin, ein „Vereinswesen“, das beide Seiten seines Wesens in der so verstandenen Lebenskunstwissenschaft auffinden und praktisch leben muss. Er steht im Verein mit Gott und mit den Anderen: Die Menschen vereinen sich „in geselliger Übung“ zu einem „neuen schönen Leben“. Denn „in Gott, in Vernunft, in Natur und in Menschheit werden sie sich ihrer Einheit, des Glückes ihrer Gegenliebe, bewusst“.24 Sittlich lebt der Mensch dann, wenn er mit den Anderen umgeht und einen Gemeingeist entwickelt. Daraus resultiert ein „praktischer Idealismus“: Eine durch hohe Ideale bestimmte Weltanschauung und Lebensführung, wonach der Einzelne Gott im Leben nachahmt, das Gute als das Gute tut, uneigennützig und aufopferungsvoll für das Wohl der Anderen handelt.25 Diese Ethik beruht auf zwei Vorstellungen: der Idee der Freiheit einerseits und der Vorstellung vom Guten andererseits. Demnach besteht Sittlichkeit erst, wenn sich der objektive Begriff des Guten mit dem subjektiven Begriff der Freiheit verbindet. Denn aus freiem Willen vermag der Mensch das Gute zu wählen, um das Böse zu überwinden. Auf eine höhere, gemeinschaftliche Ebene übertragen, bedeute Freiheit die Möglichkeit, das Leben vernunftmäßig zu führen. Ein sinnvoll geordneter Staat sei nur denkbar, wenn alle Rechtspersonen an der politischen Willensbildung teilnähmen.26 Die Vernunft hat insofern   Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes (Fn.  17), S.  16.   Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes (Fn.  17), S.  12 f. 23   Funke, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  7, 9; García Mateo, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  73; vgl. Krause, Das Urbild der Menschheit (Fn.  18), S.  199 ff., zum „Wissenschaftsbund“. 24   Krause, Das Urbild der Menschheit (Fn.  18), S.  243, ferner S.  246 ff. „Gott wirkt ein in jeden Menschen, in jeden geselligen Verein, in die Menschheit eines jeden Himmelskörpers unmittelbar und mittelbar durch Geist und Leib, durch Vernunft und Natur“ (ders., ebda., S.  255). 25   Funke, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  3 bzw. 11 f.; ferner Peter Landau, Karl Christian Friedrich Krauses Rechtsphilosophie, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.20), S.  80–92, hier: S.  87. 26   Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  17 f., 21 f. 21

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erhebliches Gewicht, als sie den verpflichtenden Charakter der Rechtsordnung bestimmt: Das Recht herzustellen, gilt für den Einzelnen als in der Vernunft begründete Pflicht. Nach Krause haben vor allem seine Schüler, insbesondere Heinrich Ahrens (1808– 1874), die ethische Verantwortung des Staates für eine moralische Höherentwicklung der Bürger besonders hervorgehoben. Demnach ist der Staat die gesamte Rechtsordnung. Sie enthält daher nicht nur das Staatsrecht im engeren Sinne, sondern umfasst nach „ihren rechtlichen Beziehungen zu allen Lebens- und Culturgebieten“ (Gemeinde, Kirche, Schule) auch die „öffentlichen Culturrechte“.27 Hierin wiederum haben alle diejenigen, die sich in der Praxis auf den „Krausismus“ beriefen, einen willkommenen Anknüpfungspunkt sowohl für erzieherische wie auch für sozialpolitische Maßnahmen gefunden. Ahrens zufolge hat der Staat Gegengewichte gegen ein materielles, an ausschließlich wirtschaftlichen Kriterien orientiertes Gewinnstreben zu schaffen und speziell die kultur- und geisteswissenschaftlichen Bestrebungen zu schützen, woraus konkrete Handlungs- und Regelungsaufträge folgten: Der Staat müsse die einzelnen Teilbereiche der Arbeitswelt ebenso normieren wie die konkreten Bedingungen der Gütererzeugung, also ein „eigentliches Arbeitsrecht“ entwickeln, das auch die Belange Gesundheit, Wohnung und Arbeitszeit regelt.28 Zwar erfüllen die öffentlichen Gewalten, diesem Ansatz folgend, nicht unmittelbar selbst jene für die Gesellschaft wesentlichen Zwecke wie Religion und Sittlichkeit, Wissenschaft und Unterricht oder Kunst und Kultur. Doch der Staat setzt das entsprechende Recht und schafft über öffentliche Anordnungen und Anstalten jedenfalls geeignete Bedingungen, damit es den Einzelnen gelingt, diese Zwecke zu verwirklichen.29 Dieser Gedanke bezog auch die soziale Seite des Privateigentums ein und meinte die entsprechenden Verpflichtungen des Eigentümers – ein Ansatz, der im Zuge der Rezeption des Solidarismus und während der weiteren iberischen wie iberoamerikanischen Verfassungsgeschichte noch eine große Rolle spielen sollte: Zwar hielt Ahrens das Privateigentum noch nicht für ein „Amt“, das den Eigentümer für die Gesellschaft in die Pflicht nahm. Jedoch sollte „die Einzelpersönlichkeit auch im Gebrauche ihres Eigenthums Rücksichten auf die Gemeinschaft, von der sie ein Glied ist, nehmen und in freier Weise durch ihre Sachgüter sittliche Pflichten gegen dieselbe erfüllen“.30 Offenbar dem Naturrecht entlehnt ist das Argument, dass der Staat ebenso wenig Grund oder Quelle des Privateigentums sein könne wie er der Schöpfer der menschlichen Persönlichkeit sei, da das Eigentum aus dieser hervorgehe. Allerdings habe der Staat, „auf Grund des ordnenden Rechtsprincips, auch alles Eigenthum in Rücksicht auf alle einschlagenden Lebens- und Culturverhältnisse und   Heinrich Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates auf dem Grunde des ethischen Zusammenhanges von Recht und Kultur, Bd.  1: Die Geschichte der Rechtsphilosophie und die allgemeinen Lehren, Neudruck der 6.  Aufl., Wien 1870 (Aalen 1968), S.  382. 28   Heinrich Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates auf dem Grunde des ethischen Zusammenhanges von Recht und Kultur, Bd.  2 : Das System des Privatrechts, die Staatslehre und die Prinzipien des Völkerrechts, Neudruck der 6.  Aufl., Wien 1871 (Aalen 1968), S.  96 f. 29   Heinrich Ahrens, Juristische Encyclopädie, oder organische Darstellung der Rechts- und Staatswissenschaft, auf Grundlage einer ethischen Rechtsphilosophie, Wien 1855, S.  106 f. 30   Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  111. 27

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für das öffentliche Gesammtinteresse zu regeln, ohne jedoch in die inneren Productionskräfte und Gesetze einzugreifen.“31 Auf diesem Wege sieht Ahrens das Eigentum mit Gesellschaft und Staat organisch verbunden, was seine „gesellschaftliche Seite“ oder auch sein „sociales Element“ ausmache. Auch wenn der Staat demnach von den Privaten Steuern einziehen, einen Zugang zu bestimmten Grundstücken frei- und öffentliche Güter bereithalten dürfe, um diese Mittel für allgemeine Belange wie Bildung und Kultur einzusetzen, bleibe diese gesellschaftliche Seite des Eigentums dennoch sekundär im Verhältnis zur primär personalen Seite.32 Das Bemühen Ahrens’, das idealistische Grundkonzept Krauses an die zur Mitte des 19. Jahrhunderts gewandelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse anzupassen, belegt auch die Modifizierung des Rechtsbegriffs: „Das Recht ist eine Norm, welche den Freiheitsgebrauch in Angemessenheit zu den menschlichen Lebens- und Güterverhältnissen regelt“.33 Daraus leitete Ahrens seine Definition der Rechtsverhältnisse ab, die ihm zufolge wiederum als Bestandteile in Einrichtungen oder Rechtsinstituten enthalten seien. Dabei handle es sich um „nichts anderes als ein von einer rechtlichen Seite aufgefasstes Güterverhältniss, oder ein Verhältniss von Person zu Person in Bezug auf ein Gut als Object, für einen Zweck, bestimmt durch eine Thatsache, geregelt durch eine Rechtsnorm“.34

b)  Die sozioökonomische Entwicklung Argentiniens und die „Unión Cívica Radical“ Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Argentiniens begünstigte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Rezeption europäischer Ideen in Argentinien – und zwar umso mehr, als diese sich einerseits in einen Bezug zum Fortschrittsbelang setzen ließen und andererseits zu den damit einhergehenden sozialen Fragen. Die hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten der argentinischen Wirtschaft zwischen 1860 und 1930 setzte eine Zunahme der Bevölkerung voraus. Abgesehen von einer steigenden Geburtsrate und abnehmenden Sterblichkeit, hatten die Einwanderer daran einen großen Anteil: Zwischen 1869 und 1914 zogen ca. sechs Mill. Personen zu, von denen allerdings 2,7 Mill. in ihre Heimat zurückkehrten. Die Bevölkerung Argentiniens wuchs von 1869 bis 1914 um mehr als das Vierfache.35 Allein zwischen dem zweiten nationalen Zensus von 1895 und dem dritten im Jahr 1914 nahm sie landesweit von 3,9 Mio. auf 7,8 Mio. Einwohner zu. Regional betrachtet, konzentrierte sich die Einwanderung auf die westlichen Provinzen (Litoral). Hinzu kam der Zuzug aus den ärmeren, innerargentinischen Provinzen, was die Konzentration der

  Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  130.   Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  131. 33   Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  1 (Fn.  27), S.  228. 34   Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  1 (Fn.  27), S.  300, 303; ders., Juristische Encyclopädie, oder organische Darstellung der Rechts- und Staatswissenschaft (Fn.  29), S.  48 f. „So enthält das Institut des Kaufes das Rechtsverhältniß zwischen Käufer und Verkäufer“ (S.  49). 35   Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002, S.  359. 31

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Bevölkerung in Buenos Aires und in den Nachbarprovinzen verstärkte.36 Die gesellschaftlichen Eliten versuchten, da sie hierin einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur nationalen Einheit sahen, das dünn besiedelte Land angesichts einer unzureichenden Verkehrsinfrastruktur möglichst rasch nach dem Vorbild der europäischen Industrienationen zu entwickeln. Es handelte es sich um das klar umrissene Konzept einer kleinen vermögenden Elite aus Großgrundbesitzern und städtischen Patriziern, der sog. Generation von 1880, die bis zur Jahrhundertwende Argentinien beherrschte.37 Ihr ging es darum, Argentinien in die Welthandelsströme einzubeziehen und europäisches, v.a. britisches Kapital für die notwendigen Investitionen zu gewinnen. Dieser Waren- und Kapitalimport erlaubte es, die Transportwege (Eisenbahnbau) und die Verarbeitung der Agrarprodukte, die für den Export bestimmt waren, zu entwickeln. Dort bildete sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein Import-Export-System heraus, an dessen Ausbau die einheimische Oberschicht und die ausländischen Kapitalgeber gleichermaßen interessiert waren. Andererseits verfestigten sich eine oligarchische Gesellschaftsstruktur und eine politische Kultur, die Klientelismus und Machtmissbrauch sowie ein besonderes Beharrungsvermögen kennzeichneten.38 Während dieser expansiven Phase zwischen 1880 und 1930 veränderten sich die erwähnten gesellschaftlichen Bedingungen erheblich: In dem Maße, in dem sich eine gewerbliche Wirtschaft entwickelte, der öffentliche Sektor ausweitete und die Bevölkerung durch Zuzug in die großen Städte zunehmend urbaner wurde, bildete sich eine für lateinamerikanische Verhältnisse ungewöhnlich breite und heterogene Mittelschicht heraus. Die Mittelschicht von Buenos Aires bildete im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das größte Bürger- und Kleinbürgertum in ganz Lateinamerika. Aus ihrer Mitte ging in den 90er Jahren eine eigene politische Partei hervor, die Unión Cívica Radical. Sie erzielte daher zunächst in den von der Mittelschicht bewohnten städtischen Bezirken die besten Wahlergebnisse, bis sie dann auch unter den Arbeitern und in den ländlichen Regionen zahlreiche Anhänger fand.39 Obwohl sich ein städtisches Proletariat bildete, konzentrierte es sich in Buenos Aires im Unterschied zu nordamerikanischen Metropolen nicht in ethnischen Ghettos. Auch blieb dank großer Mobilität auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitslosigkeit zunächst relativ gering. Dennoch waren die Wohn-, Lebens- und Arbeitsverhältnisse vielfach prekär. Einzelne Branchen wie die Fleischverarbeitung stachen in einem negativen Sinne besonders hervor.40 Die hieraus erwachsenden sozialen Widerstände beförderten den Aufstieg neuer politischer Parteien, vor allem der Radikalen und Sozialisten, und begünstigten demokratische Reformen. Im Mittelpunkt stand die 36   David Rock, Argentina 1516–1982. From Spanish Colonization to the Falklands War, London 1986, S.  165 f. 37   Zu diesem Konzept und zu seiner Bewertung in der sozialwissenschaftlichen Literatur m.w.N.: Peter Waldmann, Der Peronismus 1943 – 1955, Hamburg 1974, S.  33 ff. 38   Dieter Boris/Peter Hiedl, Argentinien. Geschichte und politische Gegenwart, Köln 1978, S.  20, 22; speziell zum Verhältnis zwischen Argentinien und Großbritanniens im Import-Export-System, in dem dann aber die USA seit dem 1. Weltkrieg eine immer stärkere Rolle spielten: Marta Panaia/Ricardo Lesser/Pedro Skupch, Estudios sobre los orígines del peronismo, Buenos Aires 1973, 5 ff. (bis 1914) bzw. S.  15 ff. (ab dem Weltkrieg). 39   Dazu ausführlich Ezequiel Adamovsky, Acerca de la relación entre el Radicalismo argentino y la „clase media“, in: The Hispanic American Historical Review 89 (2009), S.  209–251. 40  M.w.N. Rock, Argentina (Fn.  36), S.  175 f.

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Forderung nach mehr lokaler und regionaler Autonomie, v.a. aber nach einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht.41 Je mehr die ökonomische Bedeutung und das Selbstbewusstsein der neu zugewanderten Einwanderer wuchsen und je unzufriedener sie sich mit der Vorherrschaft und dem Machtmissbrauch der alten Oberschicht zeigten, desto stärker wuchs zugleich das Bedürfnis nach intellektuellen Alternativen zu den bis dahin dominierenden geistigen Strömungen. Die Radikalen haben dies seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts programmatisch und recht pragmatisch genutzt, insofern sie das Konzept des „radicalismo“ als Voraussetzung dafür ausgaben, dass das Volk wieder in seine Rechte eingesetzt und das „nationale Gewissen“ gestärkt werde. Hinzu kam ein national-ökonomischer Belang: Die Verteidigung der heimischen Ressourcen und nationalen Kultur gegen die vermeintliche Gefahr der Überfremdung.42 Folgerichtig proklamierte die Radikale Partei in ihrem bekannten Manifest von Juli 1890 eine ganze Reihe im Grunde mittelständischer Belange, die aus Sorge um die Nation vordringlich zu lösen seien: den Kampf gegen Korruption und Verschwendung öffentlicher Ressourcen, die Verteidigung individueller politischer und wirtschaftlicher Rechte, die Rückkehr zu einer ordnungsgemäßen Verwaltung und einer seriösen Führung des Staatshaushalts.43 Zeitlich gesehen, fiel der zunehmende Einfluss des Krausismus mit dem Aufstieg der neuen Partei zusammen. Die Periode zwischen den beiden großen Wirtschaftskrisen, 1890 und 1930, bildete nicht nur den Rahmen für einschneidende gesellschaftliche Konflikte in Argentinien, sondern auch für die zunehmende Dominanz der Unión Cívica Radical. Diese Gruppierung war zunächst nicht viel mehr als ein kleiner Zirkel gleichgesinnter „porteños“. Sie nutzten in den neunziger Jahren unter Führung Leandro Alems (1842–1896) eine weit verbreitete Unzufriedenheit, die sich ökonomisch mit der Depression und in politisch-kultureller Hinsicht mit dem Übergewicht der herrschenden Gesellschaftsschicht erklären lässt, zu mehreren, stets erfolglosen Erhebungen. Die Radikalen bezeichneten sich anfangs selbst als zugleich revolutionäre und nationale Bewegung, die den Sturz der herrschenden Oligarchie herbeiführen müsse, weil auf anderem Wege der Untergang des Landes nicht mehr zu verhindern sei.44 Die einflussreichste Person dieses unruhigen Jahrzehnts, Julio Argentino Roca (1843–1914), wurde 1898 ein zweites Mal Präsident der Republik und sah – wie auch die vorausgegangenen Regierungen – den Schlüssel nicht nur zum wirtschaftlichen, sondern auch zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt im vermehrten Zustrom europäischer Einwanderer und im Zufluss ausländischen Kapitals. Mit Blick auf die Provinzen sollte ein Maßnahmen-Mix aus Patronage, gezielter finanzieller 41   Boris/Hiedl, Argentinien (Fn.  38), S.  27, 30: Bis zur gesetzlichen Einführung des allgemeinen Wahlrecht im Jahre 1912 durften nur 8 % der Bevölkerung wählen. Präsidenten, Kongressabgeordnete, oberste Richter u.a. wurden vielfach in den Clubs und Gesellschaften von Buenos Aires (Sociedad Rural, Jockey Club, Club de Armas) kooptiert. 42   José María Rosa, Historia argentina, Bd.  10: El radicalismo (1916–1930), Buenos Aires 1992, S.  27; Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  56 f. 43   Unión Cívica Radical, Manifiesto de la Junta Revolucionaria de la Revolución del Parque vom 26.7.1890, www.citerea.com.ar/documentos_históricos/union_civica_radical_manifiesto_1890.pdf. 44   Unión Cívica Radical, Manifiesto de la Junta Revolucionaria (Fn.  43); ähnlich Unión Cívica Radical, Manifiesto de la Revolución vom 30.7.1893, in: Hipólito Yrigoyen, Documentos de Hipólito Yrigoyen. Apostolado Cívico. Obra de Gobierno. Defensa ante la Corte, Buenos Aires 1949, S.  18 f.

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Förderung und direkter Intervention eine bundesstaatliche Kontrolle absichern. In den stark wachsenden argentinischen Städten erhöhte der Aufstieg neuer gesellschaftlicher Gruppen den Druck, Sozialreformen zu verabschieden und eine tatsächliche politische Teilhabe zu gewährleisten. Die Befürworter umfassender Neuerungen erweiterten das bisher dominierende liberalstaatliche Argumentationsmuster, insofern sie zunehmend organische und idealistische Gesellschaftskonzepte heranzogen, so auch den Gedanken einer sozialen Solidarität. Neben der katholischen Soziallehre und dem aus Frankreich vordringenden Konzept eines „sozialen Solidarismus“ profitierte von diesem ideologischen Bedarf der Krausismus, der gleich mehrere Anforderungen zu erfüllen schien: Er vertrat ein organisches und idealistisches Menschenund Gesellschaftsbild und stand für ein eher harmonisches, solidarisches Miteinander aller Bürger und Schichten ohne Klassenkampf.45 Die neu entstehenden politischen Gruppierungen proklamierten nicht nur die „soziale Solidarität“. Sie nahmen vielmehr für sich selbst in Anspruch, über die stark anwachsende Zahl der Vereine, Interessengruppen und Parteiorganisationen eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, die seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dann auch den öffentlichen Einrichtungen zugeschrieben wurde. Was die Arbeiterschaft anbelangte, spiegelte sich diese Unruhe in den Neugründungen sozialistischer und anarchistischer Gruppierungen; während die Radikalen vorrangig die neue, urbane Mittelschicht mobilisierten.46

4.  Die Schwierigkeiten der Rezeption a)  Der Rekurs auf den Krausismus als „Fortschrittskonzept“ Die erste Schwierigkeit, die sich aus Sicht des Autors ergibt, betrifft den Gebrauch der hier zugrunde gelegten Begriffe, was sich gut an jenem des „Fortschritts“ zeigt. Die eingangs erwähnten Autoren, die ein spezifisches Fortschrittskonzept der argentinischen Radikalen aus dem Krausismus ableiten wollen, beziehen sich auf „Fortschritt“ zumeist im allgemeinsten Sinn des Wortes, nämlich als Fortgang und Fortschreiten zum Besseren statt der Verschlechterung bzw. des Rückschritts, oder sozio­ ökonomisch als eine gewisse Zunahme, ein Gedeihen und Wachstum.47 Sollte aber   Zum Einfluss des „sozialen Solidarismus“ in Lateinamerika, speziell für Kolumbien: Andreas Timmermann, „Soziale Solidarität“ und Agrarreform im 20. Jahrhundert: zur Wirkung der Rechtsschule Léon Duguits – ein überseeischer Vergleich, in: Verfassung und Recht in Übersee 37 (2004), S.  168– 194, insbesondere S.  180 ff. Für den korporativen Ansatz steht die erste kirchliche Darlegung einer christlichen Sozialordnung in der Enzyklika „Rerum novarum“ Leos XIII., am Beispiel Mexikos: Jean A. Meyer, Le catholicisme social au Mexique jusqu’en 1913, in: Revue Historique 260 (1978), S.  143– 159, insbesondere S.  146 ff. 46   Näher zu dieser Entwicklung: Rock, Argentina (Fn.  36), S.  184 ff.; Juan B. Justo gründete 1894 den „Partido Socialista“; unter den verschiedenen anarchistischen Organisationen gewann die 1904 gegründete „Federación Obrera Regional“ (FORA) in Buenos Aires besonderen Einfluss. 47   Zu diesem Wortgebrauch: Joachim Ritter, Fortschritt, in: ders. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  2 , Darmstadt 1972, S.  1032–1059, hier: S.  1032; Georg Henrik von Wright, Progress: Fact and Fiction, in: Arnold Burgen/Peter McLaughlin/Jürgen Mittelstraß (Hg.), The Idea of Progress, Berlin 1997, S.  1–18, hier: S.  1. 45

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der Krausismus die Bedeutung einer Fortschrittsideologie für die Radikalen erhalten, hätten die Radikalen oder zumindest Yrigoyen daraus eine bestimmte historische Entwicklung ableiten müssen, ein bestimmtes, unauf haltsames, irreversibles Fortschreiten allen realen Geschehens und dementsprechend auch der geschichtlichen Prozesse in der Zeit48, so dass dieses Fortschrittsdenken auf einen Idealzustand hinführte und diesem historischen Prozess Ziel und Orientierung gäbe.49 Wer den Begriff Fortschritt solchermaßen zielorientiert interpretiert, erkennt im historischen Ablauf nicht einfach nur gelegentliche, irgendwie messbare Verbesserungen der Si­ tuation einzelner menschlicher Gruppen oder Zivilisationen, denen dann Rückschritte folgen. Vielmehr nimmt er einen großen Gesamtprozess der Geschichte an, interpretiert „Geschichte als Ganzes“ und behauptet eine Kontinuität des Fortschritts, in der dann auch die Argentinier stehen müssten.50 An diesem Maßstab gemessen, erscheint die Bezugnahme der Radikalen auf Krause und seine Schüler zu allgemein und konzentriert sich zu sehr auf die Widergabe einzelner Schlagworte, um ein solches – mehr oder weniger – geschlossenes Konzept formulieren oder anwenden zu können. Auch die hier maßgeblichen Autoren verbinden mit der Rezeption des Krausismus kaum einen in diesem Sinne konkreten aufwärtsgerichteten Prozess oder definieren eine entsprechende Veränderungsstruktur bzw. machen deutlich, inwiefern diese Orientierung irreversibel war.51 Die zweite Schwierigkeit betrifft den Rezeptionsweg. Karl Christian Friedrich Krause hat zumindest unmittelbar wenig Einfluss ausüben können. Sein Werk fand zu Lebzeiten kaum Resonanz – trotz seiner akademischen Lauf bahn, die zu einer Zeit an der Universität Jena begann, als dort die Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) lehrten, trotz seiner Kreativität und seiner umfangreichen Schriften. Er gilt als der am Wenigsten bekannte Denker der klassischen Zeit deutscher Philosophie.52 Hinzu kommt, dass die Ideen Karl Christian Friedrich Krauses weder in Argentinien noch sonst in Lateinamerika auf direktem Wege eingeführt wurden. Voraussetzung hierfür war eine mehrstufige Vermittlung, was eine unmittelbare, noch dazu politische Anwendung erschweren und verzögern musste: Zunächst ging eine solche Verbreitung, speziell im romanischen Sprachraum, vor allem auf die Lehre des erwähnten deutschen Rechtsphilosophen und Krause-Schülers Heinrich Ahrens (1808–1874) zurück, den die Freie Universität Brüssel 1834 als Professor für Philosophie berief, sowie seines belgischen Schülers, Guillaume Tiberghien (1819–1874).53 Krauses Schriften waren vielfach schlecht zu verstehen. Dafür sorgten die vielen Wiederholungen, umständ48  Dazu Friedrich Rapp, Fortschritt: Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992, S.  26. 49   Rapp, Fortschritt (Fn.  48), S.  27, 49 f.; ähnlich Dag Prawitz, Progress in Philosophy, in: Arnold Burgen/Peter McLaughlin/Jürgen Mittelstraß (Hg.), The Idea of Progress, Berlin 1997, S.  139–153, hier: S.  139 50   Zu den Folgerungen: Herbert Lüthy, Geschichte und Fortschritt, in: Rudolf W. Meyer (Hg.), Das Problem des Fortschritts – heute, Darmstadt 1969, S.  1–28, hier: S.  3, 20 f. 51  Vgl. Rapp, Fortschritt (Fn.  48), S.  68. 52   Peter Landau, Karl Christian Friedrich Krauses Rechtsphilosophie, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  25), S.  81. 53  Dazu Rainer Schröder, Zur Rechtsphilosophie des Krause – Schülers Heinrich Ahrens (1808–1874), in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  93–111, hier: S.  96.

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lichen Formulierungen und übertriebenen Eindeutschungen, die eine Lektüre selbst in deutscher Sprache erschwerten. Dagegen erwiesen sich Krauses Gedankengänge im eleganteren Duktus Tiberghiens und Ahrens’ als verständlicher.54 Seit den sechziger Jahren las und lehrte man Ahrens Schriften an den Universitäten in Spanien und seit den achtziger Jahren auch in Argentinien.55 Auch bezüglich der Aufgaben, die der Krausismus dem Staate zuschrieb, wirkte die Vermittlung Ahrens realistischer und moderner, etwa wenn er für diesen bereits gesellschaftliche Funktionen und die positive Förderung aller Kulturbereiche reklamierte.56 Rainer Schröder hat diesen Aspekt wie folgt zusammengefasst: „Diese Ethisierung, die sich bei Ahrens in seiner Bekämpfung des rein negativen Prinzips der herrschenden Kantischen Philosophie äußerte, bot ins Ökonomische übertragen die Möglichkeit, staatlicherseits zugunsten sozial Schwächerer korrigierend einzugreifen.“57 Wenn der Krausismus in erster Linie über französischsprachige Texte in Argentinien eingeführt wurde, so fanden dort etwas später auch die einschlägigen spanischen Texte Resonanz, da die Schriften Krauses bzw. seiner Schüler in Spanien früher rezipiert worden waren.58 Ein Austausch ergab sich, als spanische Krausisten seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus politischen Gründen nach Argentinien emigrierten und dort als Lehrer arbeiteten, sich in Vereinen und in einigen Fällen auch politisch betätigten. Den Einwanderern stand ein vielfältiges Angebot an Zeitungen zur Verfügung, die neben den Beiträgen spanischer Schriftsteller auch solche spanischer Krausisten veröffentlichten.59 Hinzu kamen seit der Jahrhundertwende akademische Austauschprogramme zwischen Instituten und Universitäten beider Länder, die dazu beitrugen, die Philosophie Krauses in der politisch progressiveren spanischen Lesart bekannter zu machen. Den Anfang aber markierten die Reisen und Übersetzungen des Philosophen Julián Sanz del Rio (1814–1869) und sein Kontakt mit den bekanntesten Schülern Krauses und Ahrens’. Worauf er in Spanien eine Gruppe jüngerer Intellektueller um sich scharte, die als Dozenten an spanischen Uni54   Für die argentinische Literatur Alberini, Die deutsche Philosophie in Argentinien (Fn.7), S.  41; für die deutsche: Hans-Christian Lucas, Die Eine und oberste Synthesis. Zur Entstehung von Krauses System in Jena in Abhebung von Schelling und Hegel, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  22–41, hier: S.  22 f. u. Fn.  1. 55  Ausführlich Roig, Los krausistas argentinos (Fn.  4 ), S.  52 ff.; Stoetzer, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 1988 (Fn.5), S.  652 ff.; Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  67 ff. 56  Dazu Enrique M. Ureña, Die Krause-Rezeption in Deutschland im 19. Jahrhundert: Philosophie – Religion – Staat, Stuttgart 2007, S.  255 f. 57   Schröder, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn. 53), S.  110. 58   Julio de Zan, Der Krausismo in Argentinien, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.20), S.  242–262, hier: S.  243. Die Quellen, die die argentinischen Krausisten am häufigsten heranzogen und die auch Yrigoyen bekannt waren, sind Krauses „Ideal de la Humanidad para la vida“ in der spanischen Fassung Julián Sanz del Rios (1. Ausgabe 1860), ferner Tiberghiens „Introducción á la filosofía y preparación á la metafísica“ (Madrid 1875) und Ahrens’ Schrift „Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates“, die in der französischen Ausgabe als „Cours de droit naturel“ und dann auch in spanischer Übersetzung veröffentlicht wurde, Heinrich Ahrens, Curso de Derecho Natural ó de Filosofía del Derecho, hier in der 3. spanischen Ausgabe, Madrid 1873, in der Ahrens sowohl einen ethischen Anspruch wie einen klaren Bildungsauftrag formulierte: Die Schrift wolle die Geisteswissenschaften und speziell die Philosophie fördern, um einer „moralischen Schwäche in den Überzeugungen“ entgegenzutreten, was auch die Wiederbelebung der höheren Bildung erfordere. (S. VI). 59   So zwischen 1906–1909 mehrere Beiträge des spanischen Krause-Anhängers Adolfo Posada in „El Diario Español“, Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  63 f.

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versitäten und in neu gegründeten Reformeinrichtungen den „Krausismo“ zu einer eigenständigen Schule machten, vor allem Francisco Giner de los Riós (1839–1915) und die von ihm 1876 gegründete „Institución Libre de Enseñanza“ (ILE).60 In den Zirkeln der sog. Krausisten gab es jedoch weder in Spanien noch in Argentinien einen „fieberhaften Eifer“, die Schriften des deutschen Philosophen im Original kennen zu lernen. Selbst die spanische wie die argentinische Historiographie des Krausimus entbehrte lange – bis auf Ausnahmen – einer genaueren Kenntnis dieser Schriften. In dem Maße, wie man aber das Original vernachlässigte, relativierte sich die Bedeutung Krauses.61 Hinzu kommt, dass Krause Kernthesen seiner Lehre, so zur Bedeutung des „Menschheitsbundes“, auf seine Freimaurerbruderschaft bezogen hatte – eine Vorstellung, die vielen argentinischen Radikalen fernlag. Er ging von einem engen Zusammenhang seines „Menschheitsbundes“ mit der historischen Entwicklung der Freimaurer aus, insofern auch deren Bruderschaften angeblich darauf beruhten, dass sich die Menschheit in einem „neuen Geiste zu innigerem und harmonischerem Leben“ erheben sollte. Sie sei ein Schritt auf dem Weg zu diesem „neuen, wesentlichen Bund“. Denn auch die Freimaurerbruderschaft bringe, ihrer geschichtlichen Entwicklung gemäß, die „Ideen der Menschheit, des Menschheitslebens und des Menschheitsbundes zur Anschauung“ und solle letzteren vorbereiten.62All dies hat nicht dazu beigetragen, den Krausismus als „rezipierte Philosophie“ eindeutig zu erfassen oder gar als mehr oder weniger geschlossenes Gedankengebäude in Übersee einführen zu können. Umso leichter war es, in der Gesellschaft offenbar verbreitete Bedürfnisse, die schwer zu befriedigen waren, mit einem vielfältig einsetzbaren Vokabular aus den verschiedenen Quellen des Krausismus und mit pädagogischen und moralischen Forderungen zu verbinden. Je weniger eine solche Strömung auf ein bestimmtes Denksystem festgelegt war, dafür aber dem „gesunden Menschenverstand“ ausreichend Raum zu geben schien, desto eher konnten progressive und demokratische Gruppen hieran politische Forderungen knüpfen.63

b)  Der Rekurs auf konkurrierende Ansätze Es liegt zwar nahe, dass die erwähnten sozioökonomischen Faktoren zugleich einen intellektuellen und kulturellen Sachverhalt widerspiegelten. Buenos Aires verkörperte für die Zeitgenossen europäische Kultur und fortschrittliche Zivilisation. Deshalb gewannen, wie Thomas Neuner hervorhebt, „unter den Bedingungen eines europä60   Näher dazu Jaime Ferreiro Alemparte, Aufnahme der deutschen Kultur in Spanien. Der Krausismo als Höhepunkt und sein Weiterwirken durch die Institución Libre de Enseñanza, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  135–151. 61   So kritisch Ureña, K.C.F. Krause (Fn.  16), S.  12 f.; i.d.S. auch Rogelio García Mateo, Das deutsche Denken und das moderne Spanien. Panentheismus als Wissenschaftssystem bei Karl Chr. Fr. Krause, Frankfurt am Main 1982, S.  204. 62   Karl Christian Friedrich Krause, Die drei ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüderschaft I, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd.  II: Philosophisch-freimaurerische Schriften 1808–1832, Stuttgart 2009, S.  1–35, hier: S.  9, 20. Krause verfasste die Schrift als Logenbruder, um die Freimaurer über Wesen und Ziele der Bruderschaft aufzuklären. 63   Juan José Sánchez, Das „Ideal de la humanidad para la vida“ und sein historischer Kontext, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  174–195, hier: S.  176, 178 f.

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isch-argentinischen Kulturtransfers insbesondere individualistisch orientierte Theorien wie der Liberalismus und der Positivismus im Geistesleben Argentiniens an Gewicht“.64 Mit Blick auf die – neben der Fortschrittsfrage – besonders drängenden ethisch-moralischen Probleme fand außerdem die katholische Soziallehre zu dieser Zeit starken Anklang. Folglich mussten die Chancen für die Durchsetzung einer weiteren, zumal einer noch kaum eingeführten und vergleichsweise sperrigen Philosophie, wie es der Krausismus war, eigentlich gering sein – es sei denn, sie diente nur als Vorlage für ausreichend zahlreiche, vielseitig verwendbare Begriffe und Wendungen, ohne dann aber wirklich systematisch angewandt zu werden. Speziell mit der sozialen Evolutionslehre des Positivismus verbanden die Intellektuellen überall auf dem amerikanischen Kontinent die Gesetzmäßigkeit gesellschaftlichen Fortschritts schlechthin. Demnach stieg die Gesellschaft organisch empor, schrittweise wachsend von einfachen zu immer komplexeren, an die Umwelt fortschreitend besser angepassten Formen – und zwar nicht zufällig, sondern notwendigerweise. Diese Lehre erschien vielen Argentiniern überaus plausibel, vor allem in den intellektuellen Zirkeln der Hauptstadt. Dies musste umso mehr in einem Land gelten, das sich seit seinen kolonialen Anfängen wirtschaftlich, technisch und kulturell kontinuierlich fortentwickelt hatte.65 Zur Verwässerung der Rezeption hat der Umstand beigetragen, dass nicht nur Krause selber sich auf sehr verschiedene methodische Ansätze stützte, er im Sinne eines Eklektikers aus den Lehren anderer das ihm Zusagende und Geeignete übernahm und miteinander verband.66 Vielmehr vermischte sich auch der Krausismus seiner Anhänger mit konkurrierenden Ansätzen. Das gilt etwa für den eigentlichen „aufgeklärten“ Eklektizismus (éclecticisme) des französischen Philosophen Victor Cousin (1792–1867), der vor allem bis 1890 die Lehre an der Universität von Buenos Aires und in den höheren Bildungseinrichtungen beeinflusste. Demnach wurden nahezu alle Lehren als gerecht und wohlwollend beurteilt, um dasjenige von ihnen entlehnen zu können, was sie an Gemeinsamkeiten und Wahrheiten aufwiesen.67 Cousin und seine Schüler betonten wie die Krausisten den Harmoniegedanken, nämlich als Ausgleich aller Gegensätze in der Philosophie, verschrieben sich ganz im Sinne des Zeitgeistes dem Fortschrittsglauben und zielten mit ihrem idealistischen Schwung besonders auf die Bildungspolitik ab.68 Im Ergebnis betonten sie also gerade jene Belange, die auch den Krausisten in Argentinien besonders am Herzen lagen, und die die Historiographie und die Parteigeschichte der Radikalen besonders mit Yrigoyen und seiner Programmatik identifizieren. 64   Neuner, Karl Krause (Fn.  8), S.  56. Das gilt ebenso für das benachbarte Uruguay, dazu Arturo Ardao, Espiritualismo y Positivismo en el Uruguay, México 1950; für Lateinamerika insgesamt: Miguel Jorrín/John D. Martz, Latin-American Political Thought and Ideology, Chapel Hill (North Carolina) 1970, S.  29 ff. 65   Allgemein über diesen Zusammenhang: Matthias Waechter, Fortschrittsdiskurse in Frankreich und den USA im 19. und 20. Jahrhundert, in: Saeculum 58 (2007), S.  297–316, hier: S.  304. 66   Wilhelm Raimund Beyer, Krause und Cousin im Schatten von Hegel und Schelling, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  17–21, hier: S.  19. 67  M.w.N. Michael Albrecht, Eklektik: eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophieund Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1994, S.  607. 68   Albrecht, Eklektik (Fn.  67), S.  608 f.

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Die erwähnte Vermischung gilt zum anderen auch für das traditionelle katholische Gedankengut. Die vergleichende Literatur sieht den Vorteil des Krausismus gerade darin, dass sich sein Vernunftgedanken mit christlichen Überzeugungen verbinden ließ. Das hieß aber auch, dass er dank religiöser Bezüge im Vergleich zu anderen europäischen Schulen als weniger streng und weniger ausschließlich als „Philosophie“ wahrgenommen wurde.69 Aufschlussreich ist insofern der Befund, dass keine dieser Richtungen in einen strengen Gegensatz zum harmonischen Vernunftglauben der argentinischen „Krausisten“ geriet.70 Die Gewohnheit, sehr verschiedene Schulen miteinander zu verbinden, spiegelte zugleich den starke Optimismus einer aufstrebenden neuen Gesellschaft wider, die außer ihren materiellen Wünschen auch die intellektuellen Vorlieben am wechselnden Geschmack der Zeit ausrichtete.71 Einwanderung, Modernisierung und allgemein akzeptierte Handelsinteressen hatten dazu beigetragen, liberale Strömungen zu verstärken. Vor diesem Hintergrund bedeutete die Einführung des Krausismus in Argentinien anders als in Spanien „weder eine qualitative Innovation, noch stellte sie einen Bruch mit den herrschenden ideologischen Tendenzen dar“, wie Julio de Zan den Sachverhalt zusammenfasst. Dies gelte allerdings mit der Einschränkung, dass der Solidaritätsgedanke und die ethische Ausrichtung des Krausismus dem individualistischen Liberalismus eine neue Orientierung gegeben haben und ihn stärker sowohl auf gesellschaftliche Fragen wie auch auf die Verteidigung des Nationalen hin lenkten.72

5.  Die Positionen Yrigoyens a)  Das Konzept einer „moralisch-politischen Erneuerung“ In Anbetracht dieser widerstreitenden Erwägungen kommt es aus Sicht des Autors entscheidend auf die Position Yrigoyens an und auf die Weise, wie er den Krausismus programmatisch einsetzte: Mitte der neunziger Jahre ging die Führung dieser noch immer wenig einflussreichen Partei auf Juan Hipólito Yrigoyen y Alem über, den Neffen Leandro Alems. Zugleich wurde er zum Anführer jener Aufstände, die die Radikalen in der Provinz Buenos Aires initiierten.73 Yrigoyen war nach kürzeren Mandaten als Abgeordneter der Provinz in Buenos Aires und als Kongressabgeordneter für den „Partido Autonomista“ ab 1881 als Dozent für Philosophie und argentinische Geschichte an der „Escuela Normal de Maestras de la Provincia“ tätig, einer Bildungseinrichtung der Provinz Buenos Aires. In dieser Zeit beschäftigte sich Yrigoyen mit dem Krausismus, da er nun die spanische Übersetzung der organischen  So Hans-Christian Lucas, Die Eine und oberste Synthesis. Zur Entstehung von Krauses System in Jena in Abhebung von Schelling und Hegel, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  20), S.  22–41, hier: S.  41 f, im Vergleich zur Rezeption Hegels, den „hegelianismo“, im hispanischen Kultur­ kreis. 70   Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  57 f. 71   Vgl. die anschauliche Darstellung bei Alberini, Die deutsche Philosophie in Argentinien (Fn.  7 ), S.  57 f. 72   Zan, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  58), S.  244. 73   Rock, State Building and Political Movements in Argentina (Fn.  1), S.  155 ff. 69

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Staatslehre Ahrens’, den „Curso de Derecho Natural“, sowie die Schriften spanischer Krausisten las. Biographische Untersuchungen zu Yrigoyen legen Wert darauf, dass ihn sowohl Krauses harmonisches Gesetz des Fortschritts inspirierte wie auch der idealistische und moralische Impetus dieser Lehre. Es lag für ihn nah, auf diesem Wege an aktuelle gesellschaftliche Fragen anzuknüpfen und das persönliche Profil zu schärfen. So erwarb und nutzte Yrigoyen den Nimbus der Sittenstrenge und Nüchternheit, den zu Lebzeiten seine Umgebung und bis heute seine Biographen ganz selbstverständlich mit seiner Vorliebe für den Krausismus verbinden.74 Die Lehrtätigkeit Yrigoyens und seine Betonung dieser Werte ist in einem Zusammenhang mit der allgemeinen Aufwertung der Schul- und Hochschulbildung zu sehen und mit den Reformbemühungen seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Dafür standen eine ganze Reihe neuer, höherer Bildungseinrichtungen und Lehrerausbildungsstätten (Escuelas Normales, Escuelas Nacionales) und die bekannte „Ley 1.420“ von 1884, die alle Argentinier zwischen sechs und 14 Jahren zum Besuch der öffentlichen, laizistischen und kostenlosen Volksschule verpflichtete. Wenn auch nicht in demselben Maße wie in Spanien, fanden in diesem Umfeld jene Dozenten, die Krauses pädagogische Grundsätze schätzten, einen umso weiteren Wirkungskreis und größeren Einfluss. Ein Forum boten schließlich die seit 1882 stattfindenden Pädagogenkongresse.75 In diesem für eine Rezeption insgesamt günstigen Umfeld hat Yrigoyen fraglos den Krausismus nicht nur kennen-, sondern auch schätzen gelernt. Schwerer zu beurteilen ist die Frage, wie konkret und unmittelbar diese Lehre sein politisches Denken – noch dazu im Sinne eines konkreten Programms – bestimmte. Yrigoyens Angriffe zielten auf die angebliche Dekadenz, die er der herrschenden Klasse (El Régimen) vorwarf. Diesem „Regime“ stellt er eine zivilisatorische, geschichtsphilosophisch überhöhte „Mission“ (La Causa) entgegen. Er hielt seine Tätigkeit schon vor, aber erst recht nach Antritt der Präsidentschaft (1916) nicht bloß für einen Auftrag im Dienste des Gemeinwohls, sondern für eine in einem fast religiösen Sinne überhöhte „Berufung höchster Bedeutung“ und für „ein Apostolat politischer Moral, das herausragendste und bedeutendste der argentinischen Geschichte“.76 Yrigoyen sah sich an der Spitze einer Bewegung, die eine historische Bestimmung erfülle, nämlich die dritte Stufe der argentinischen Geschichte bewältige: nach der Unabhängigkeit vom 74  Zu den biographischen Aspekten: Félix Luna, Yrigoyen, 5.  Aufl., Buenos Aires 2005, S.  58 f.; Alvarez Guerrero, Política y ética social (Fn.  6 ), S.  59 f.; Guillermo Moreno Huego, Prólogo, in: Hipólito Yrigoyen, La Fuerza de la Ética, Buenos Aires 1999, S.  7–49, hier: S.  18 f. 75  M.w.N. Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  77 ff. Der Krausismus spielte sowohl auf dem ersten lateinamerikanischen Pädagogenkongress von 1882 in Buenos Aires als auch auf dem argentinischen Pädagogenkongress von 1900 eine Rolle. 76   Yrigoyen anlässlich der Eröffnungen der parlamentarischen Jahre 1917 und 1919, in: ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  127–129 bzw. 129–131: Eine Berufung (unapostolado) zum Allgemeinwohl (el bien común) (S.  127, ähnlich S.  130) und ders. in seinem Telegramm an den argentinischen Botschafter in Paris, Marcelo Torcuato de Alvear, vom 30.12.1920, ebda. (Fn.  4 4), S.  166 f.: „ese apostulado de tan eminente esencialidad fundamental“ im Dienste Argentiniens und als dauerhafter Beitrag für die ganze Menschheit bzw. „un apostolado de moral política, el más eminente y trascendental de que haya memoria en la historia cívica de la República“, Hipólito Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (1923), Buenos Aires 1981, S.  54; ferner Absalón Rojas, Informe de la Comisión Encargada de esta Publicación, in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4), S.  9 –14, hier: S.  10, 12.

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Mutterland sowie der staatlichen Neuordnung und Verabschiedung einer Verfassung nun die moralisch-politische Erneuerung (reparación, regeneración), um „die lange Periode unseres moralischen und zivilisatorischen Rückschritts zu beenden.“77 Gleich nach dem Regierungsantritt bekräftigte er, es gehe nun darum, „die Übel zu bannen, die Anomalien zu beseitigen, die Irrtümer zu korrigieren“ und ein in bis dahin unerreichtem Maße betrügerisches Regime zu zerstören. Zur Rechtfertigung dieser Ankündigung rief Yrigoyen erneut den Lauf der Geschichte an, „die Bestimmung der Nation“, mit ihren Statuten, ihrer Kultur und mit der Zivilisation überhaupt, wonach sich die Gesellschaften ausschließlich in Übereinstimmung mit ihren moralischen und positiven Gesetzen entwickeln könnten.78 Wahrscheinlich bezog sich Yrigoyen hierin auf rechtsphilosophische Überlegungen Heinrich Ahrens, ohne diesen jedoch ausdrücklich zu nennen, insofern dieser dem Staat mit seiner Rechtsordnung die Aufgabe zugesprochen hatte, „die Vollständigkeit, Harmonie und das Gleichgewicht in der gesellschaftlichen Culturarbeit zu erstreben und zu erhalten“; und eine einseitige Kulturentwicklung zu vermeiden, in deren Verlauf „etwa das materielle wirthschaftliche Güterstreben die höheren geistigen Bestrebungen ganz zu verdrängen“ drohte. Folglich legte auch Yrigoyen Wert darauf, dass nicht nur die historischen Gesetzmäßigkeiten, sondern auch das positive Recht Grundlage und Garant des menschlichen Fortschritts seien.79 Aussagen wie diese sind so vage und prophetisch formuliert, dass man den Einfluss des Krausismus, der schon selber viel Interpretationsspielräum bot, nicht genau belegen kann. Übereinstimmungen gibt es in allgemeinen Bezügen, etwa wenn Yrigoyen in seinen Stellungnahmen auf den Fortschritt an sich, die Höherentwicklung der Menschheit im Besonderen und die Bedeutung einer neuen Ethik rekurrierte. Die Radikalen führten ein universales ethisches Prinzip an, das alles, was wahr und gerecht sei, als „Höhepunkt des Lebens“ verhieß. Als entscheidend galt, dass die ethische Höherentwicklung des Einzelnen sich auf die politisch-kulturelle Entwicklung der Nation übertrug, um eine fortschreitende Integration Aller und schließlich die vermeintliche Endbestimmung der Nation zu erreichen.80 Zum einen sind es, Yrigoyen zufolge, „die Gesetze einer harmonischen und geordneten Aufwärtsbewe77   Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  104; noch vor seinem Amtsantritt im Sinne der „Mission zur Erneuerung“: Unión Cívica Radical, Manifiesto de la Revolución vom 4.2.1905, in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4), S.  22–29: „defendiendo la integridad de la causa“ und „la causa de la reparación nacional“ (S.  26) oder „la regeneración del país“ (S.  27); nach dem Amtsantritt Yrigoyen, Admonición al Dr. Emilio Giménez Zapiola vom 15.7.1918, in: ders., ebda. (Fn.  4 4), S.  92–94, worin die historische Mission einer Erneuerung der Nation nun mit seinen konkreten Bemühungen identifziert wird, eine ordnungsgemäße Regierung wieder herzustellen (S.  92 f.); ebenso in Yrigoyens Rundbrief (Circular) an die Provinzgouverneure vom 6.3.1922, in: ders., ebda. (Fn.  4 4), S.  95 f., über den Inhalt der Mission (este concepto de la misión histórica), die in dieser Zeit (esta época de renovación de los valores morales y políticos de reparación institucional en todos los Estados de la República) zu verwirklichen sei. 78   Hipólito Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 30.6.1917, in: ders., La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  53–64, hier: S.  53 f. 79  Einerseits Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  96; andererseits Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 30.6.1917, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  54: „Debemos partir desde las bases del derecho común, con el profundo convencimiento de que sólo a su amparo son posibles todas las conquistas de los progresos humanos“. 80   Hebe Clementi, El Radicalismo como doctrina, in: Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  9 –38, hier: S.  23 f.; vgl. bereits Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  9 0 f.

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gung, nach denen sich die Gesellschaften fortschreitend entwickeln und sie zur Vervollkommnung führen“; zum anderen erleuchte Gott selber den einzelnen Menschen, die ganze Menschheit und das Universum mit Moral. Damit führte er jene zwei Quellen einer universalen Ethik an, auf die auch Krause Wert gelegt hatte, und die Yrigoyen wahrscheinlich dessen Schriften bzw. ihren Übersetzungen oder Zitaten entnahm.81 Hierin, zumal in der wiederholten Verbindung mit den Kategorien „Harmonie“ und „Fortschritt“, scheint er auf den „Krausismus“ zu rekurrieren, wobei sich die Aussage auch mit den bereits erwähnten weiteren Ansätzen vereinbaren ließ, die den Politikern dieser Generation die Stichworte lieferten; vor allem mit dem Positivismus und dem Leitgedanken „orden y progreso“, der in dieser und anderen Äußerungen der Radikalen anklingt. Hinzu kommt, dass auch der Positivismus eine gute theoretische Begründung für den politischen und wirtschaftlichen Pragmatismus bot, den eine handlungsfähige Regierung in eben jener Position, in der sich Yrigoyen befand, nutzen konnte.82 Auch musste es sich nicht um eine bloß anonyme Gesetzmäßigkeit, einen sich selbst vollziehenden Prozess handeln, die Yrigoyens Fortschrittsidee Wirklichkeit werden ließen. Dies konnte man durchaus auf die Tätigkeit hervorragender Männer übertragen: „Die Schöpfer dauerhafter politischer und gesellschaftlicher Werke bestimmen den Lauf der Völker in inniger und harmonischer Verbindung mit ihrer Geschichte und ihrer Bestimmung zum Höheren.“83 Wie für Yrigoyen gehörte es für die Radikalen insgesamt zu diesem missionarischen Selbstverständnis, dass sie sich den Konkurrenten gegenüber moralisch überlegen fühlten und nur sie allein in Politik, Verwaltung und Gesellschaft ethische Grundsätze zu vertreten meinten. Bald trat jedoch hinter dem revolutionären Äußeren ein System- und Werte stabilisierender Grundzug hervor, der das nach der Jahrhundertwende entstandene, neu juste milieu verteidigte. Die Voraussetzung hierfür schuf das Wahlgesetz von 1912, das ein allgemeines, geheimes und freies Wahlrecht aller männlichen, mindestens 18 Jahre alten Bürger normierte. Auf der Grundlage einer solchermaßen erweiterten politischen Partizipation wählten die Bürger Hipólito Yrigoyen erstmals zum Präsidenten der Republik. Die Partei behauptete ihre Vormachtstellung danach bis zum Militärputsch von 1930, der einen schweren, folgenreichen Rückschlag für die argentinische Demokratie bedeutete.

81   So einerseits Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  126, und ähnlich Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes (Fn.  17), S.  11; und andererseits Krause, Das Urbild der Menschheit (Fn.  18 u. 24), S.  255, und Unión Cívica Radical, Manifiesto de la Revolución vom 4.2.1905, in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4 u. Fn.  77), S.  23: „La moral y el carácter, esos atributos con que Dios ha iluminado el Universo, revelando al hombre que sobre su frente lleva un rayo de divinidad“. 82   Dazu am Beispiel Mexikos: Arnaldo Córdova, La ideología de la Revolucíon Mexicana. La formación del nuevo régimen, 2.  Aufl., México 1973; für Argentinien siehe nur Yrigoyens „Botschaft an die Jugend Uruguays“ von April 1912 (Mensaje a la Juventud Uruguaya), in: ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  39–42, in der er außer auf dem Naturrecht und Idealismus entlehnte Begriffe auch auf die für den Positivismus so charakteristische Wendung „orden y progreso“ rekurrierte (S.  42). 83   Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  99.

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b)  Das Regierungsprogramm Mit Blick auf die sozioökonomischen Rahmendaten schien Argentinien zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme im Jahr 1916 einen Sättigungspunkt erreicht zu haben, jedenfalls was die bisher vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten anbelangte, auswärtiges Kapital und die Arbeitskraft der Einwanderer anzuziehen. Die Reserven an gutem Farmland wurden knapper; das bereits genutzte Land erbrachte zunehmend weniger die von Investoren und Pionieren erhofften Erträge. Wenn man das Land in der Fläche betrachtet, blieben wesentliche Ungleichgewichte erhalten: so zwischen wenigen Ballungsräumen, geprägt durch technische Modernität und einen hohen Lebensstandard, und den in dieser Hinsicht benachteiligten ländlichen Regionen. Als gesellschaftlich besonders explosiv erwies sich die Kombination aus der verschlechterten Lage auf dem Arbeitsmarkt und einem Inflationsschub zur Mitte des zweiten Jahrzehnts. Zugleich stiegen die Preise für Lebensmittel und Verbrauchsgüter, v.a. Importware, stark an. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass zwischen 1917 und 1921 die Gewerkschaften einen zuvor und danach bis in die vierziger Jahre nicht mehr erreichten Zulauf erhielten. Die Streikbewegungen nahmen an Zahl und Intensität erheblich zu.84 Die weltanschauliche Konsequenz, die Yrigoyen aus dieser Entwicklung zog, bestand allerdings weder in einer Abkehr vom Fortschrittsglauben noch von seinem Bekenntnis zur Immigration. Vielmehr setzte er seine Hoffnungen weiterhin ausdrücklich in die Einwanderergesellschaft, als er dazu aufrief, den eigenen Idealen zu folgen und zur Wohlfahrt der Republik gemeinsam tätig zu werden: „Welche Stärkung bedeutet es für uns und für alle, die in unser Land kommen, unseren Traum von Größe und unsere Fortschrittserwartung zu teilen.“85 Die eigentliche Folgerung bestand darin, dass er das bisher dominierende Fortschrittskonzept neu formulierte. Nach dem erwähnten liberalen und positivistischen Ansatz waren weniger sozialethische Erwägungen als vielmehr solche der Nützlichkeit maßgeblich. Hierauf gründete sich der Wohlstand und ein vorwiegend im materiellen Sinne verstandener Fortschritt. Yrigoyen verkündete dagegen neue, veränderte Prämissen: Zur Maxime seiner Regierung erhob Yrigoyen als „höchstes Ideal Fortschritt und Wohlfahrt der Menschheit“, wozu er auf den Gedanken gesellschaftlicher Harmonie rekurrierte und wie vor ihm Heinrich Ahrens die Arbeit für den Dreh und Angelpunkt eines gesellschaftlichen Gleichgewichts hielt. Erforderlich sei der Ausgleich zwischen jenen beiden Kräften, die in einer beständigen Auseinandersetzung stehen, Kapital und Arbeit. Werde jenen gegeben, die nichts besitzen, trage dies zur Stabilität, zum Fortschritt und zur sozioökonomischen Entwicklung des Landes bei.86 Eine Parallele zu den Vordenkern des Krausismus besteht ferner in der überragenden Bedeutung, die Yrigoyen speziell dem Bildungswesen auf seiner Agenda einräumte. Er kündigte in der Anfangsphase seiner ersten Amtszeit wirksame Maßnahmen gegen den Analphabetismus an und versprach, landesweit 643 neue Primarschulen  Näher Rock, Argentina (Fn.  36), S.  182, 191 ff.   Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  117. 86   Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  50 f., zur Rechtfertigung seiner Politik; vgl. Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  9 0, 96 f., zum Verhältnis von Arbeit und Güterbeschaffung einerseits und zwischen Arbeit und Bildung andererseits. 84 85

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und zahlreiche Berufsschulen zu gründen.87 Selbst das Erlernen weniger grundlegender Fähigkeiten in den Primarschulen sollte einem höheren kulturpolitischen Ideal dienen: nämlich „die nationale Kultur in ihren verschiedenen Formen zu verbreiten“ und auf diesem institutionellen Wege auch im alltäglichen Leben der Bürger den Fortschritt des Landes zu fördern.88 Ausdruck dessen ist die ausdrückliche Verfügung des Präsidenten, im Unterricht und anlässlich bestimmter Feiertage ein spezifisch argentinisches Kulturbewusstsein (el sentido legítimo de argentinidad) zu vermitteln, um auf diesem Wege eine „kontinuierliche Aufwärtsentwicklung der Nation“ und „die höheren Ziele der Menschheit zu erreichen“.89 Die Eckpunkte dieses Konzepts hatte Ahrens in seiner Schrift „Naturrecht oder Philosophie des Rechts“ formuliert: Die Bildung eines Volkes müsse „eine vollmenschliche sein“ und sie beruhe auf der „Sittlichkeit als innerste Wurzel“, was eine Höherentwicklung der Menschen zu einem harmonischen, kulturellen Ganzen befördere und wofür der Staat mit seinen Unterrichts- und Lehrerbildungsanstalten Sorgen tragen müsse.90 Der Einsatz der Radikalen für ein leistungsfähigeres und moderneres Bildungssystem hatte also nicht nur idealistische und pädagogische Gründe, sondern folgte auch eine patriotische, wenn nicht gar nationalistische Zielrichtung. Zugleich war er teilweise taktisch motiviert und gegen die kulturelle Vorherrschaft der Konservativen gerichtet. Um ihre Verbindungen zur Mittelklasse zu stärken, unterstützten die Radikalen die 1918 in Córdoba einsetzende Bewegung für eine Universitätsreform (La Reforma). Die zwischen 1900 und 1918 stark gewachsene Studentenschaft rekrutierte sich vornehmlich aus der neuen Mittelschicht und lehnte sich in teilweise militanten Aktionen gegen die konservative Hochschulverwaltung auf – zunächst nur in Córdoba, dann auch in Buenos Aires und La Plata. Die Regierung unterstützte die Bewegung und setzte unter Hinweis auf die demokratischen und pädagogischen Ideale der Radikalen zahlreiche der geforderten Korrekturen durch. Diese sollten eine größere Hochschulautonomie sowie eine verbesserte studentische Mitbestimmung herbeiführen und mündeten zwischen 1919 und 1921 in die Gründung neuer Universitäten (Santa Fe, Tucumán).91 Argentinische Historiker wie José María Rosa bezweifeln allerdings den Erfolg der Reform. Denn an die Stelle des traditionellen Lehrbetriebs sei ein bürokratisches Unterrichtssystem getreten, ohne in intellektueller Hinsicht an jenen heranzureichen und eine wirkliche Freiheit der Lehre einzuführen. Zugleich sollten die Neuerungen vor allem den Studenten entgegenkommen, was nicht zuletzt die allgemeine Senkung der Prüfungsanforderungen belege.92 In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass sowohl der Rationalismus der französischen Revolution wie auch der deutsche Idealismus Yrigoyen und die Radikalen in ihrer politischen Auffassung von Gesellschaft bestärkten: Der Staat sollte nicht   Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 30.6.1917, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  57 f. 88   Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 16.5.1918, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  65–71, hier: S.  67. 89   Decreto de exaltación del sentimiento nacional vom 4.5.1919, in: Yrigoyen, La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  83 f., und ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  115 f. 90   Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  9 0 f., 502, 504 f. 91   Rock, Argentina (Fn.  36), S.  200 f.; Rosa, El radicalismo (Fn.  42), S.  68 f. 92   Rosa, El radicalismo (Fn.  42), S.  69. 87

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eine einzelne Klasse oder Bevölkerungsgruppe vertreten, sondern die Souveränität des ganzen Volkes verkörpern. Insofern alle Argentinier in ihrer Funktion als Staatsbürger gleich seien, sollten die sozialen Differenzen zurücktreten.93 Folgerichtig galt auch in der Sozialpolitik der Harmoniegedanke als maßgeblich, der die öffentlichen Gewalten zu einem möglichst umfassenden Interessenausgleich anleitete und den Kern der von Yrigoyen so genannten Sozialverfassung (constitución social) bildete: Die Ziele seien „Schutz und Harmonie sämtlicher sozialen Belange, um die Lebensbedingungen aller Bürger zu verbessern“.94 Die (soziale) Gerechtigkeit, die zu schützen die Regierung berufen sei, müsse gleichermaßen allen gesellschaftlichen Klassen und allen Belangen zugutekommen, der allgemeinen Wohlfahrt dienen und Ungleichheiten korrigieren. Auch diesen offenbar an die staatlichen Funktionsträger gerichteten Auftrag verband Yrigoyen mit einem moralischen Appell: Keinesfalls dürften die „egoistischen Interessen“ Einzelner den Vorrang erhalten gegenüber den „berechtigten Belangen“ der Allgemeinheit.95 Die öffentlichen Gewalten haben demnach den Auftrag zur Intervention, der Staat die Funktion eines Regulierers, der den gesellschaftlichen Reichtum verteilt und die besitzlosen Massen gegen den ungebremsten Vorstoß egoistischer Sonderinteressen schützt.96 In der Regierungspraxis versuchten die Radikalen, in den Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Konservativen zu vermitteln. Das erklärt auch die zunächst unentschiedene und zögerliche Haltung Yrigoyens, als der Konflikt aufgrund gestiegener Lebenshaltungskosten, mit denen die Löhne der argentinischen Arbeitnehmer in keiner Weise Schritt halten konnten, nach seinem Amtsantritt eskalierte. Zunächst streikten Ende 1916 die Hafenarbeiter in Buenos Aires, dann folgten im Jahr 1917 Arbeitsniederlegungen in den Munizipien und auf dem Land sowie der große Streik der Bahnbediensteten. Dieser paralysierte, verbunden mit erheblichen Folgen für die argentinische Volkswirtschaft, für zwei Monate das Transportsystem.97 Nach den bewaffneten Auseinandersetzungen während der „Semana Trágica“ im Januar 1919 und angesichts der Sorgen vor einem revolutionären Umsturz, legte die Exekutive dem Parlament eine Reihe sozialpolitischer Initiativen vor, die zwischen 1919 und 1925 nach und nach verabschiedet wurden. Yrigoyens Ansatz zufolge sollten diese die Arbeitsbedingungen nicht nur im Hauptstadtbezirk, sondern auf dem gesamten argentinischen Staatsgebiet verbessern und den Schutz der Arbeitnehmer außer in den Städten auch auf dem Land garantieren.98 Die Regierung schuf Mindeststandards für arbeitsgerichtliche Verfahren, für den Renteneintritt und die rechtlichen Voraussetzungen, um in den Städten Wohnraum für Arbeiterfamilien bereitzustellen. Ferner normierte sie Bedingungen für die Industrie-, Frauen- und Kinderarbeit, Mindestlöhne und eine Sozialversicherung. Schließlich fasste sie zahl  Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  91.   Hipólito Yrigoyen, Mensaje al Congreso Nacional vom 7.10.1920, in: ders., El pensamiento escrito, Buenos Aires 1945, S.  79. 95   Yrigoyen, Mensaje al Congreso Nacional vom 31.8.1920, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  110 f. 96   Alvarez Guerrero, Política y ética social (Fn.  6 ), S.  99 f. 97  Näher Rosa, El radicalismo (Fn.  42), S.  91 ff. 98  So Yrigoyen in der Begründung seiner Initiative vom 24.7.1919 gegenüber dem Kongress, in: ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  180. 93

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reiche Belange in einem Arbeitsgesetzbuch (Código de trabajo) zusammen, bestärkt durch die einschlägigen internationalen Konferenzen der Jahre 1919 in Washington und 1920 in Genf.99 Der Frage des privaten Großgrundbesitzes und Bodeneigentums maßen die Radikalen eine große Bedeutung bei, zumal die neu zugewanderten Mittelschichten hieran ihre Aufstiegserwartungen knüpften: Yrigoyen prangerte den Großgrundbesitz an, soweit dieser häufig auf betrügerische Weise zustande gekommen sei und sich zulasten des öffentlichen Eigentums sowie auf Kosten der ansässigen Bevölkerung, die vielfach ihre Wohnsitze aufgeben musste, in den Händen weniger konzentrierte.100 Umgekehrt ging es Yrigoyen darum, die Basis für das Eigentum zu verbreitern, auf diesem Wege mehr Menschen in Arbeit zu bringen und neue „Einwandererströme“ anzuziehen.101 In diesem Sinne zielte die Regierung darauf ab, die Verwaltung des öffentlichen Landes zu verbessern und neue Siedler mit gutem Farmland zu versorgen, „um den öffentlichen Boden zu einem Faktor des Fortschritts, statt der Spekulation zu machen“.102 Zugleich wandte sich Yrigoyen gegen den Verkauf öffentlichen Landes in den Provinzen mit der Begründung, dass Grund und Boden nicht nur Wirtschaftsfaktoren seien. Vielmehr handle es sich um das „Schlüsselelement der Zivilisation“. Daher könne ein Staat, der eine kulturelle Entwicklung genommen habe wie Argentinien, sich keinesfalls seines Bodens entäußern, sondern müsse es ihn im Dienste des Fortschritts den Vielen zur Kultivierung und Besiedlung überlassen.103 Schon kurz nach dem Amtsantritt 1916 hatte Yrigoyen dem Parlament Initiativen vorgelegt, um Fonds für die Besiedlung öffentlichen Bodens und in Dürrezeiten Nothilfen für Siedler finanzieren zu können; ferner um eine neue Staatsbank zu gründen, die Kredite an Farmer ausreichen sollte. Diese Vorlagen zielten darauf ab, die Popularität der Radikalen unter den Angehörigen der ländlichen Mittelschicht zu steigern – vor allem in der Provinz Buenos Aires, wo die Konservativen nach wie vor den Ton angaben. Da die Radikalen nicht über eine Mehrheit der Abgeordneten im Kongress verfügten, lehnte dieser die Vorlagen ab. Soweit aber im Laufe der folgenden Jahre Kolonisierungsprogramme zustande kamen, zogen sie eine größere Zahl europäischer Siedler an, so dass im Jahr 1930 das Kleinbauerntum weiter verbreitet war als 1914. Allerdings lagen diese Siedlungen vorwiegend in der Peripherie (Rio Negro, Chaco, Misiones), während sich in der Pampa wenig an der Dominanz des Großgrundbesitzes änderte.104 In den programmatischen Äußerungen Yrigoyens tritt jedoch deutlich zutage, worin der neue Aspekt seines Konzeptes bestand: im engen Zusammenhang zwischen materiellen und immateriellen, ökonomischen und kulturellen Aspekten, der einen nun erstmals sozialpolitisch gedämpften Fort  Dazu die Begründungen der einzelnen Initiativen in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4), S.  175 ff.   Yrigoyen, Mensaje al Congreso Nacional vom 3.8.1921, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  82 f. 101   Yrigoyen, Mensaje al Congreso Nacional vom 11.12.1916, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  88; ferner ders., Rede in der Sitzung des Kongresses vom 30.6.1917, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  62. 102   So im Dekret des Präsidenten vom 11.7.1921, in: Yrigoyen, El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  84. 103   Yrigoyen, Comunicación al gobernador de la Provincia de Santiago del Estero vom 17.9.1920, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  85 f.; ders., Comunicación al gobernador de la Provincia de Santiago del Estero vom 7.1.1930, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  86–88, hier: S.  86 f.; i.d.S. bereits Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 16.5.1918, in: La Fuerza de la Ética (Fn.74), S.  70. 104   Rock, Argentina (Fn.  36), S.  197 f. bzw. S.  199. 99

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schrittsoptimismus widerspiegelte. Auf den ungezügelten Expansionsdrang der vorigen Generation folgte eine gewisse Kurskorrektur für nächste Generation der argentinischen Einwanderergesellschaft, deren Fortschritt sich an veränderten Maßstäben zu messen hatte: Je weiter speziell das Bodeneigentum verstreut sei, desto besser gelinge die Entwicklung der Nation in seiner ganzen, auch kulturellen Verfasstheit.105 Im Grunde ist die hier aufgeworfene Frage privates versus öffentliches Eigentum nur zu verstehen, wenn man das von den Radikalen so stark betonte Konzept der Nation mit einbezieht. Yrigoyen überschrieb dieses mit Schlüsselbegriffen, die auch für den Krausismus charakteristisch waren, wie Harmonie, Solidarität und Ethik, und passte sie an die Bedürfnisse der Einwanderergesellschaft an. Allerdings unterschied es sich in seiner Beschränkung auf den nationalen Rahmen und in seiner patriotischen, wenn nicht populistischen Übersteigerung vom universalen Ansatz Krauses. Die Nation galt nun schon begrifflich als Heimat der Zugewanderten, nicht der an einem bestimmten Platz Geborenen. Eine „nationale Bewegung“ war demnach eine solche, die sich der Integration großer Zuwandererkontingente verschrieb, was wiederum die Radikalen als politisches Markenzeichen für sich beanspruchten. Ihr Einsatz für demokratische Partizipation, gleiche und geheime Wahl konkretisierte den übergeordneten Belang einer kulturellen und gesellschaftlichen Integration. Dieses Bemühen stand keineswegs im Widerspruch zum Nationalismus, den die Radikalen vertraten. Denn er folgte einem doppelten Antrieb: dem Bemühen um Integration der Immigranten einerseits und dem Versuch einer Abgrenzung von der gesellschaftlich und politisch tonangebenden Klasse andererseits, die alles Ausländische und Europäische so stark überhöht hatte.106 „Fortschritt“ ist demnach zuallererst die fortschreitende Entwicklung der Nation, woraus er das im Volk bis heute populäre Programm einer nationalen Selbstbestimmung, das er nach dem erwähnten Muster überhöht: Die Selbstbestimmung der Nation sei in dem Maße gewährleistet, wie diese ihre Leitvorstellungen verinnerliche. Erst aus dieser „erhabenen Harmonie“ leite sich die Vervollkommnung ab.107 Hierbei ging es ihm nicht bloß um eine außenpolitische Frage oder aber um eine juristische, nämlich eigentumsrechtliche, sondern um die Verteidigung der eigenen Kultur und der Zivilisation überhaupt: Demnach seien die natürlichen Ressourcen, besonders die Energiequellen in staatliches Eigentum zu überführen und durch die öffentliche Hand auszubeuten. Dasselbe gelte für die Eisenbahnen aus Gründen der „sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Nation.“108 Die argentinische Regierung entzog im Jahr 1917 den britischen Unternehmen die Konzessionen für das Schienennetz und verstaatlichte 30 % des Netzes. Zwei Jahre später erlangte der Staat die Kontrolle über die Kosten- und Tarif berechnung der ausländischen Eisenbahnunternehmen. Was aber die Erdölvorkommen anbelangt, 105   Yrigoyen, Comunicación al gobernador de la Provincia de Santiago del Estero vom 17.9.1920, in: El pensamiento escrito (Fn.  94 u. Fn.  103), S.  85. 106   Alvarez Guerrero, Política y ética social (Fn.  6 ), S.  9 0 f. 107   Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 30.6.1917, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  55. 108   Mit Blick auf die Eisenbahnen: Yrigoyen, Mensaje al Congreso Nacional vom 16.10.1920, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  93–95, speziell S.  95; zu den Erdölvorkommen: ders., Mensaje al Congreso Nacional vom 22.10.1929, ebda., S.  9 0 f.

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versuchten die Radikalen wiederholt, die Erdölvorkommen zu verstaatlichen und sie einer privatwirtschaftlichen Nutzung zu entziehen – unter Hinweis auf die vorrangigen Belange des argentinischen Volkes und der politischen Souveränität gegenüber den zumal ausländischen Partikularinteressen.109 Yrigoyen gelang es während der gesamten sechs Jahre dauernden Amtszeit nicht, eine Abgeordnetenmehrheit in beiden Kammern zu organisieren. Dabei blieb es sowohl während der folgenden Amtszeit des Präsidenten Marcelo Torcuato de Alvear (1868–1942) von 1922 bis 1928 wie auch nach der Wiederwahl Yrigoyens (1928), da die Konservativen im Senat nach wie vor über eine Mehrheit verfügten.110 In seiner Außenpolitik spielte Yrigoyens immer wieder auf ein organisches Welt– und Gesellschaftsbild an, das „Harmonie“ und „Fortschritt“ zugrunde lege. Das Ideal der „gesellschaftlichen Harmonie“ (armonía social) im Binnenverhältnis korrespondierte mit der Vorstellung einer „universalen Harmonie“ (armonía universal) im Weltmaßstab. Als grundlegend für die gesellschaftliche Entwicklung galt ihm jene Kontinuität, die allen, die daran teilhaben sollten, die Gewissheit vermittelte, sich ständig zu vervollkommnen und einander im Alltäglichen ständig zu unterstützen.111 Offenbar in Anlehnung an Krause, meinte Yrigoyen, dass wie die Gruppen einer Gesellschaft (Familien, Körperschaften, Vereine) auch die Völker dank ihrer moralischen Bestimmung als „asociaciones de finalidad universal“ einer Aufwärtsentwicklung unterworfen seien. Im Verlauf dieses Prozesses stärkten sie sich gegenseitig und näherten sich einander immer weiter an, bis sie das Ideal der „vollkommenen menschlichen Harmonie“ (armonía ideal de la humanidad) und der „einen Menschheit“ (humanidad unida) verwirklichen, deren Mitglieder in gleicher Weise an Wohlfahrt und Glück teilhätten.112 Dieses Konzept ist wohl dem „Urbild der Menschheit“ entlehnt, die Krause nach organischen Lebensformen einteilt: ausgehend von den Familien und den darauf gründenden Vereinen über das organische „Ganzleben des Volks“ und den harmonischen Völkerverein bis zur „Vereinigung in eine Menschheit“.113 Yrigoyen zufolge bedürfe wie alle sozialen Bewegungen auch der Fortschritt der Nationen richtungweisender Leitentscheidungen, wozu er selber eine „Schule höherer Ethik“ begründet habe.114 Fast religiöse Züge nimmt sein Sendungsbewusstsein an, wenn er in diesem Zusammenhang nicht nur auf das Prinzip der Gleichbehandlung aller Nationen abhebt, sondern in den Worten Yrigoyens auf „das evangelische

109   Dazu die Begründung Yrigoyens in der Sitzung des Kongresses vom 23.9.1919 und vom 22.10.1929, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  85–87 bzw. S.  92–94, und ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  119–121 bzw. S.  121–123; ferner ders., Mensaje al Congreso Nacional vom 22.10.1929, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  9 0 f. 110  Ausführlich Hipólito Solari Yrigoyen, Testimonios australes, Buenos Aires 2005, S.  7 ff. zur Vorgeschichte dieser Initiativen, und S.  20 ff. zu deren Scheitern; ferner Rosas, El radicalismo (Fn.  42), S.  305 ff., ausführlich zu den Debatten in der argentinischen Öffentlichkeit und in beiden Kammern des Parlaments. 111   Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  100. 112   Luna, Yrigoyen (Fn.  74), S.  60; Alvarez Guerrero, Política y ética social (Fn.  6 ), S.  115. 113   Krause, Das Urbild der Menschheit (Fn.  18), S.  105 ff. (Familien u. Vereine), S.  128 ff. bzw. 135 ff. (Volk bzw. Völkerverein) und S.  155 ff. (Menschheit). 114   Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  80.

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Bekenntnis, dass die Völker allen Völkern heilig, wie auch die Menschen für alle Menschen geheiligt sind“.115 Die Gelegenheit, diese Prinzipien in der Praxis zu erproben, bot sich Yrigoyen während des ersten Weltkrieges. Er entschied, dass Argentinien 1917 neutral blieb und freundschaftliche Beziehungen zu allen Nationen unterhalte, obwohl speziell die Vereinigten Staaten auf einen Kriegseintritt drängten und auch innerhalb der argentinischen Administration die Parteigänger der Allierten (los aliadófilos) ein klares Übergewicht besaßen – eine Position, welche die in dieser Frage eigentlich maßgeblichen außenpolitischen Berater des Präsidenten besonders unmissverständlich vertraten.116 Zugleich befürwortete Yrigoyen einen „solidarischen Bund“ möglichst vieler amerikanischer Staaten, „um den Frieden und gemeinsame Belange zu verfolgen“. Auch hier berief er sich auf „die Harmonie als ein politisches Ideal“, das nun die Staaten miteinander verbinde.117 Die theoretische Grundlage dieser Position lieferte offenbar Krauses Entwurf eines neuen Völkerrechts, insofern es neben dem „Volksbundrecht im Staatenbunde“ ein „Erdtheilrecht“ vorsah.118 Nach dem Weltkrieg setzte sich Yrigoyen unter Hinweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz für die Integration der besiegten Staaten in die Weltgemeinschaft ein und interpretierte Argentiniens Rolle im neu gegründeten Völkerbund in einer Weise, die in der Wortwahl an Krauses Sozialutopie erinnert: Dieser sollte einen gerechten Frieden und ein volles Selbstbestimmungsrecht aller – auch der besiegten – Völker garantieren und auf einen wirklichen „Menschheitsbund“ hinführen, während Yrigoyen den Versailler Vertrag wegen der harten Friedensbedingungen ablehnte.119 Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass Programm und praktische Umsetzung keineswegs immer miteinander in Einklang standen: Yrigoyen stellte, einmal im Amt, selber die Autonomie der Provinzen in Frage und griff wie die Präsidenten vor ihm zumeist auf dem Verordnungswege ein, um die Konservativen und ihre Parteiorganisation zu verdrängen.120 Er begründete die zahlreichen Interventionen des Bundesstaates in die Selbstverwaltung der Provinzen, insofern er seine eigene Rhetorik umkehrte: Die Intervention sei erforderlich, wenn sich die Provinzen in Widerspruch zur „institutionellen Wahrheit“, zur demokratischen Legitimation und „politischen Moral“ stellten, sich auf „Unterdrückung“ und „Betrug“ stützten. Wenn daher die Belange des Volkes Korrekturen erforderten, sei die Autonomie aufzuheben.121 Die Radikalen entwickelten sich selber im Verlauf ihrer längeren po  Yrigoyen, Mi vida y mi doctrina (Fn.  76), S.  66.   Näher zur Entscheidung des Präsidenten sowie zu den internen und externen Auseinandersetzungen in dieser Frage: Rosa, El radicalismo (Fn.  42), S.  35 ff. 117   Yrigoyen, Rede in der Sitzung des Kongresses vom 30.6.1917, in: La Fuerza de la Ética (Fn.  74), S.  56. Die USA und die Bedenken der meisten Adressaten verhinderten, dass sich die Vertreter der neutralen lateinamerikanischen Staaten noch 1917 oder dann im Jahre 1918 in Buenos Aires versammeln konnten, dazu Rosa, El radicalismo (Fn.  42), S.  41 ff. 118   Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes (Fn.  17), S.  21. 119   Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  97. 120   Rock, Argentina (Fn.  36), S.  199, zählt während der ersten sechsjährigen Amtsperiode eine zuvor niemals erreichte Summe von 20 Interventionen, davon 15 durch Verordnung des Präsidenten. 121   Yrigoyen, Comunicación al gobernador de la Provincia de Buenos Aires vom 9.1.1917, in: El pensamiento escrito (Fn.  94), S.  75 f.; mit den gleichen Argumenten: Decreto sobre la intervención a la Rioja vom 2.2.1920, ebda., S.  76. 115 116

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litischen Dominanz während der Administrationen „Yrigoyen – Alvear – Yrigoyen“122 zu einer Patronage-Partei, die ihre Anhängerschaft versorgte und mit kostspieligen Maßnahmen Popularität zu gewinnen hoffte. Ab 1919, als sich die wirtschaftliche Situation und die öffentlichen Einnahmen verbesserten, stiegen die Staatsausgaben beträchtlich und ermöglichten es, eine weit verzweigte Bürokratie aufzubauen.

6.  Ergebnis und Ausblick Yrigoyen kannte Krauses Philosophie. Ohne Frage bezog er sich auf Wendungen und Begriffe des Krausismus, an die er in seiner politischen Arbeit anknüpfte. Es ginge jedoch zu weit, die von ihm geführte Partei als krausistische Bewegung zu bezeichnen, in dem Sinne, dass Yrigoyen als der unumstrittene Anführer oder auch die Parteimitglieder dieser Lehre wie die Anhänger einer Ideologie folgten. Auch die Reichweite des weltanschaulichen Einflusses auf Yrigoyen lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, zumal er Krause nicht ausdrücklich oder gar mit Angabe der Quelle zitierte. Zumeist blieben seine Rekurse und die seiner Anhänger recht allgemein und beschränkten sich auf die Verwendung von Schlagworten, wie besonders häufig der Begriffe „Harmonie“ und „Fortschritt der Menschheit“: sei es, um für neue Organisationsformen wie die Agrarkooperativen zu werben, die demnach als Musterbeispiel einer besonders harmonischen Verbindung der Individuen galten;123 sei es, um die Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. den Prinzipien „Kapital“ und „Arbeit“ auszugleichen;124 oder um auf juristischem Wege und mit moralischen Appellen weltanschaulichen bzw. religiösen Konflikten in den Provinzen entgegenzuwirken.125 Umgekehrt nannte Yrigoyen, so auch im Zusammenhang mit dem Harmoniegedanken, bisweilen ausdrücklich jene Autoren, auf die seine Positionen zurückgingen: etwa im Zusammenhang mit seinem Wunsch nach einem möglichst „harmonischen“ Ausgleich der öffentlichen Funktionen (oder Gewalten) den französischen Schriftsteller Charles de Montesquieu (1689 – 1755).126 Zudem schienen „Harmonie“ und „Harmonisierung“ vielfach nicht mehr als andere Worte 122   So der Titel der gleichnamigen Untersuchung: Fernando Sabsay/Roberto Etchepareborda, Yrigoyen – Alvear – Yrigoyen, Buenos Aires 1998. 123   Yrigoyen in seiner Botschaft an den Kongress vom 2.7.1919, in: ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  217: „El esfuerzo particular encúentrase facilitado por la acción de esas asociaciones, (…) de modo que la conjunción armoniosa de los intereses individuales aumenta el índice de los rendimientos y es la base de la prosperidad colectiva.“ 124   So im Namen Yrigoyens der Innenminister Ramón Gómez in seiner Botschaft vom 16.6.1919 an den Präsidenten der „Asociación del Trabajo“, Pedro Christopherson, in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4), S.  102 f.: „Forzoso es incorporarse a la evolución del progreso humano“; und im Sinne der „armonización necesaria e indispensable“, um eine umfassende Befriedung und allgemeinen Wohlstand zu gewährleisten und „para implantar esa armonía“ (S.  103). 125   Erneut für den Präsidenten Innenminister Ramón Gómez in einer Note an den Gouverneur der Provinz Santa Fe vom 22.4.1921, in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4), S.  114: „La misión de los altos poderes del Estado es de paz y de armonía y este resultado sólo se obtiene desenvolviendo una acción moral y positiva.“ 126   Yrigoyen in seiner Verteidigungsschrift an den Obersten Gerichtshof (tercer escrito de defensa ante la Corte Suprema) vom 22.6.1913, in: ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  286 f., hier: S.  287.

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für jenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu sein, auf den Yrigoyen und seine Administration vor allem während der schweren Arbeitskonflikte und speziell in seiner ersten Amtszeit Wert legten.127 Dazu passt die Beobachtung, dass Yrigoyen und seine radikale Partei offenkundig krausistische, in einem universalen Sinne gemeinte und auf die Bereiche Kultur und Bildung bezogene Kategorien – neben „Harmonie“ und „Fortschritt“ speziell „die Menschen“ und „die Menschheit“– auf ihre sozialpolitische Programmatik anwandten und die neue Interpretation häufig strategischen bzw. taktischen Erwägungen folgte; zumal sie eine Vermittlerrolle zwischen den konservativen Eliten und der Arbeitnehmerschaft beanspruchten. Das bedeutete auch die konsequente Umwidmung der universalen Ansätze Krauses zu einem nationalen Erneuerungsprojekt und die Abwandlung seines Harmonie- und Rechtsbegriffs, um die Kampagnen zur Nationalisierung der Infrastruktur und der natürlichen Ressourcen zu legitimieren. Allerdings hatte bereits Heinrich Ahrens, dessen Sozialphilosophie darin weiter ging als die seines Lehrers, recht konkrete Eingriffe des Staates in das Privateigentum gerechtfertigt, damit dieser öffentliche und gemeinnützige Zwecke erfüllen könne. Das reichte von der umfassenden Beschränkung bestimmter Nutzungsformen im negativen und der Verordnung eines konkreten Gebrauchs im positiven Sinne, bis zu einer öffentlich-rechtlichen Ermächtigung, Eigentum vollständig zu entziehen (Enteignung, Expropriation).128 In diesem Sinne enthielten auch die Gesetzesvorlagen Yrigoyens weitreichende Beschränkungen der Eigentumsnutzung und -verfügung. Ein bekanntes Beispiel war die Ermächtigung zur Enteignung kommunalen und privaten Bodens, um Wohnraum für Arbeitnehmer mit ihren Familien in der Bundeshauptstadt und in den größeren Städten der Provinzen bereitzustellen.129 Wenn man daher die weiterreichenden Konzepte der Krause-Schüler hinzunimmt, dann lässt sich aus Sicht des Autors – trotz der erwähnten Einschränkungen und der insofern berechtigten Einwände in der argentinischen Historiographie – ein direkter Einfluss des Krausismus kaum bezweifeln. Dafür sprechen weniger der idealistische Grundzug und der moralische Impetus in den Stellungnahmen Yrigoyens, da dieser sich ebenso aus manchen anderen Quellen speisen mochte, als vielmehr wesentliche Elemente seines politischen Denkens und deren große Ähnlichkeit mit den Schriften Krauses oder seiner Schüler: also nicht bloß der allgemeine Rekurs auf „den Fortschritt“ oder eine „neue Ethik“, sondern die Vorstellung, dass Argentiniens „Aufstieg in der Geschichte“ stufenweise erfolge und die eigene Gesellschaft eine harmonische und geordnete Aufwärtsentwicklung durchlaufe; nicht allein das Eintreten für „gesellschaftliche Harmonie“, bessere Bildung der Individuen und Sozialpolitik, sondern die Einbettung dieser Ziele in ein konkretes Konzept: nämlich dass sich die Weiterbildung und   In diesem Sinne auch Yrigoyens Begründung der Gesetzesvorlage vor dem Kongress am 2.7.1919, um für die Einrichtung der Landarbeitsausschüsse ( juntas arbitrales del trabajo agrícola) zu werben, in: ders., Documentos (Fn.  4 4), S.  179 f.: „El Poder Ejecutivo, preocupado de (…) evitar los conflictos que tan a menudo turban la armonía de los intereses que comprende, presenta (…) el proyecto de ley“ (S.  179). 128   Heinrich Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts, Bd.  2 (Fn.  28), S.  132. 129   So Art.  1 u. 2 des betreffenden Gesetzentwurfs vom 30.9.1920 (construcción de casas para obreros en la Capital Federal y ciudades principales de provincia), in: Yrigoyen, Documentos (Fn.  4 4), S.  184 f. 127

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Höherentwicklung des Einzelnen über die kulturell-politische Entwicklung der Nation bis hin zur fortschreitenden Integration aller Menschen fortsetze. Nicht zufällig wirkt daher der Bezug Yrigoyens auf Krauses Rechtsphilosophie gerade in seinen außenpolitischen Positionen besonders unmittelbar und erscheint hier bis hin zu den einzelnen Formulierungen fast als originalgetreu. Aber auch seine „Sozialverfassung“ einschließlich der darin vorgesehenen Eingriffsbefugnisse des Staates und die von Yrigoyen besonders stark propagierte „Harmonisierung von Kapital und Arbeit“ gehen offenbar auf den Krausismus zurück, nun in der moderneren Variante Heinrich Ahrens und in Anpassung an die besonderen sozioökonomischen Bedingungen eines überseeischen Einwandererlandes. Die seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erneuerte Debatte um den Einfluss des Krausismus auf die argentinische Ideengeschichte hängt aus Sicht des Verfassers mit dem politischen Umbruch dieser Jahre zusammen. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 und dem Sieg der Radikalen in den Präsidentschaftswahlen ist leicht verständlich, dass sich außer Wissenschaftlern und Parteigängern auch Raúl Alfonsín als Spitzenkandidat immer wieder auf das Vorbild Yrigoyens und eine idealistische Weltanschauung wie den Krausismus bezogen. Das Grundmotiv, das sich Alfonsín und sein erfolgreiches Wahlbündnis „Renovación y Cambio“ auf die Fahnen schrieben, sollte den politischen Neuanfang legitimieren. Deshalb proklamierten sie eine neue Ethik und eine neue Moral angesichts einer allgemein schlecht beleumundeten Regierungs- und Verwaltungspraxis. Diese sollte sich einerseits im Kampf der politisch Verantwortlichen gegen Korruption und Willkür ausdrücken, andererseits im Einsatz für die friedliche, demokratische Lösung sozialer Konflikte und für faire, rechtsstaatliche Verfahren.130 Der ideengeschichtliche Rekurs des neuen Präsidenten hat nicht nur Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt, sondern auch die wissenschaftliche Debatte in Argentinien und Uruguay befruchtet. In beiden Ländern beschäftigen sich seit den achtziger Jahren Forschungsinstitute und Symposien mit dem geistigen Einfluss des Krausismus.131 Dieser hatte seit dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kaum noch Einfluss, weder auf die Programme der Radikalen noch der von ihr gestellten Regierungen; selbst wenn nach wie vor wichtige Repräsentanten, wie Präsident Arturo Illia (1964–1966), persönlich als Anhänger der Philosophie Krauses galten.132 Ein wichtiger Grund für die Renaissance des Krausismus dürfte darin zu sehen sein, dass sich die Unión Cívica Radical – ebenso wie andere politische Gruppierungen auch – in der Umbruchsituation der frühen 80er Jahre ihrer weltanschaulichen Wurzeln zu vergewissern suchte; und dass der Rekurs auf ältere Quellen der eigenen Programmatik mehr Solidität zu verleihen schien.133 Es entspricht durchaus der historischen Erfahrung, dass gerade das Ende eines Unrechtsregimes und die Hoffnung auf eine künftige Erneuerung der Demokratie die moralisch und ethisch gut angeschriebenen Konzepte vergangener Zeiten wiederbeleben 130   So u.a. in der Rede Raúl Alfonsíns in der Yale University (New Haven, USA) vom 12.12.1986, auszugsweise in: Stoetzer, Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 1988 (Fn.  5 ), S.  669 f. 131   Dazu die Beispiele bei Ureña, K.C.F. Krause (Fn. 16), S.  15; und bei Neuner, Karl Krause (Fn.  8 ), S.  15. 132  Dazu Alvarez Guerrero, in: Hugo E. Biagini, Orígines de la democracia argentina (Fn.  3 ) S.  179 f. 133   Zan, in: Kodalle, Karl Christian Friedrich Krause (Fn.  58), S.  261; Stoetzer, Karl Christian Friedrich Krause and his Influence (Fn.  5 ), S.  391.

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helfen. Hierbei ist dann nicht entscheidend, ob dieser Rekurs anachronistisch anmutet oder ob er tatsächlich in bessere politische und soziale Bedingungen mündet. Ideengeschichtlich maßgeblicher ist vielmehr, dass sich die Wortführer häufig im Einklang mit einer bestimmten allgemeinen Stimmung ihrer Zeit äußern.

Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats der VRCh und ihre dialektische Funktion im sozialistischen Rechtsstaat Chinas von

Dr. Xiaodan Zhang, LL.M. (Frankfurt/Main), Beijing* Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 II. Die exekutive Rechtsetzung vor 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 1. Die Formalisierung der Staats- und Rechtsordnung und die Stellung der exekutiven Rechtsetzung in der Anfangsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 2. Die exekutive Rechtsetzung in der Verfassung von 1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 3. Die exekutive Rechtsetzung in der Kulturrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 III. Die Reformalisierung der Staatlichkeit und des Rechtssystems in der Nach-Mao-Zeit . . . . . . . . . . . 741 1. „Chaos beseitigen, zur Normalität zurückkehren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 2. „Der sozialistische Rechtsstaat“ als Höhepunkt der Formalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 a) Die Begriffsgeschichte des sozialistischen Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 b) Die Gesetzgebung im Kontext des sozialistischen Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748 3. Die Grenzen des „sozialistischen Rechtsstaates“ und ihre Einflüsse auf die exekutive Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 a) Von „weniger Partei mehr Staat“ zu „mehr Partei weniger Staat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 b) Das wirtschaftsaufbau-orientierte instrumentalisierte Rechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . 756 c) Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats als das Ergebnis des Zusammenwirkens von politischer Anti-Formalisierung und wirtschaftlich-fachlicher Formalisierung . . . . . . . . . . 758 (1) Die exekutive Rechtsetzung als Aktionsfeld für die unmittelbare Einwirkung der Partei . . 758 (2) Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats als Umsetzung der Anforderungen von Modernisierung und wirtschaftlicher Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 IV. Funktion und Rechtsgrundlagen der Rechtsetzung des Staatrats im gegenwärtigen Recht Chinas . . . 761 1. Die verfassungsunmittelbare exekutive Rechtsetzung des Staatsrats – eine durch exekutive Macht begründete Rechtsetzungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 2. Die exekutive Rechtsetzung aufgrund der Ermächtigung durch den Beschluss des SANVK . . . . 764 3. Die exekutive Rechtsetzung zur Durchführung von Gesetzesbestimmungen des NVK oder SANVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 V. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 *   Der Autor bedankt sich bei seinem Doktorvater, Prof. Dr. Ingwer Ebsen, für seine Vorschläge zu diesem Aufsatz.

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I. Einleitung Durch den 13. Verfassungszusatz vom 15. März 1999 wurde dem Art.  5 der Verfassung der Volksrepublik China (VVRCh) ein neuer Absatz hinzugefügt: „Die Volksrepublik China praktiziert eine Herrschaft des Staates durch Gesetze und errichtet einen sozialistischen Rechtsstaat.“ Dieser verfassungsrechtlich zum ersten Mal benutzte und an westlichem Sprachgebrauch orientierte Begriff „Rechtsstaat“ ist zwar noch durch das Attribut „sozialistisch“ näher spezifiziert – stellt jedoch schon einen großen Fortschritt innerhalb eines durch die Herrschaft einer Partei geprägten Staates dar. Die Verbindung der Wörter „Recht“ und „Staat“ deutet in zwei Hinsichten Trennungen an: Die Trennung des Staates von der Partei und die Trennung des Rechts (der Gesetze) von der Politik der Partei.1 Solche Trennungen sind ein bedeutender Zwischenschritt im langfristigen Prozess der Rationalisierung und Formalisierung der Staats- und Rechtsordnung seit der Ausrufung der VRCh im Jahr 1949. Ein wichtiges Anwendungs- und Problemfeld für diese Rationalisierung und Formalisierung ist die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats als das höchste Exekutivorgan des Staates (Art.  85 VVRCh). Problematisch ist das besondere Verhältnis der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats zur Politik der Partei. Häufig dient diese Rechtsetzung dem direkten Zugriff der Politik der Partei innerhalb der formellen Staatlichkeit und ist insofern ein „Reservat“ der Partei für die direkte Kontrolle über den Staat. Das hierdurch gegebene Problem des Verhältnisses von Partei und Staat tritt umso deutlicher hervor, je mehr die exekutive Rechtsetzung des Staatsrates ihre von Anfang an dominierende Rolle gegenüber der Gesetzgebung des eigentlichen höchsten Gesetzgebers (Art.   57 VVRCh), also des Nationalen Volkskongresses (NVK) und seinen Ständigen Ausschusses (SANVK), aufrechterhält. Eine der Kernfragen der Rationalisierung und Formalisierung der Staats- und Rechtsordnung liegt darin, wie die exekutive Rechtsetzung von der Politik der Partei zu trennen und ob sie tatsächlich in ein hierarchisch organisiertes, formelles Rechtssystem zu integrieren ist. Der Zustand der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats ist somit Prüfstein für den Grad der Rationalisierung und Formalisierung des Verhältnisses zwischen 1   Dass auch in westlichen Ländern, die sich durch Mehrparteiensystem, demokratischen Parlamentarismus auszeichnen, staatliche Gesetze die Politik und den Willen der Regierungspartei darstellen (sollen), steht außer Frage; oder genauer, es ist gerade der Kernbedeutung der demokratischen Politik, dass die in Wahl gewonnene Partei ihre Politik und ihren Willen in Form des staatlichen Rechts durchsetzen kann. Wenn aber trotzdem im chinesischen Kontext von Trennung des Rechts von der Politik der KPCh die Rede ist, gibt es einen besonderen Hintergrund dafür: Langfristig nach der Ausrufung der Volksrepublik China im Jahr 1949 entfaltete die Politik der KPCh in Form von Richtlinien ( fangzhen), Anweisungen (mingling), Ansichten (yijian) usw. unmittelbare Bindungskraft für Bürger und spielte eine entscheidende Rolle in der konkreten Sozialregulierung, auch wenn diese nur durch innere (nicht-öffentliche) Verfahren der Partei erlassen wurden. Im Gegensatz dazu hatte die formelle staatliche Rechtsetzung langfristig stagniert und wurde bezüglich ihrer Funktion durch die Politik-Normen oder politische Beschlüsse der Partei verdrängt. Die Trennung des Rechts von der Politik der Partei verneint nicht, dass staatliche Gesetze die Politik und den Willen der KPCh darstellen, fordert aber, dass die Politik-Normen oder die politischen Beschlüsse der KPCh nur durch formelle staatliche Rechtsetzungsverfahren Gesetze werden können und damit die formelle Staatlichkeit gegenüber der Partei versichert werden kann. Die Redeweise von der Trennung der Politik-Normen der Partei von staatlichen Rechtsnormen ist von großer Bedeutung besonders im Wiederauf bau der formellen Staatlichkeit und des formellen Rechtssystems nach der Kulturrevolution (1966–1976).

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Partei und Staat sowie zwischen dem Legislativorgan und dem Exekutivorgan innerhalb des Staates. Mit anderen Worten, in gewissem Maße ist sie der Prüfstein des sozialistischen Rechtsstaates. Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats gibt es schon seit Beginn der VRCh. Sie wandelte sich aber mit jeweiligen politischen Realitäten und Verfassungsordnungen. Zeitlich hat die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats wesentlich zwei Phase erfahren: die Phase von 1949 bis 1978 und die Phase nach 1978. Dieser Artikel geht zuerst auf die historische Entwicklung vor 1978 ein, analysiert die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats im damaligen politischen sowie rechtlichen Kontext und das historische (auf die Rolle der Partei bezogene) Verständnis (II. Teil). Anschließend wird die exekutive Rechtsetzung auf der Grundlage der sich seit 1978 bildenden gegenwärtigen politischen Ordnung und Rechtsordnung analysiert (III. Teil). In diesem Teil wird zuerst die Geschichte der Reformalisierung der Staatlichkeit und des Rechtssystems in der Nach-Mao-Zeit skizziert. Sodann wird der Kernbegriff des „sozialistischen Rechtsstaat“ als Höhepunkt der Reformalisierung erläutert. Besonders zu analysieren sind die Beschränkungen des sozialistischen Rechtsstaates durch das politische Konzept von „mehr Partei weniger Staat“ sowie eine instrumentalisierte Rechtsauffassung und deren Einflüsse auf die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats. Die hier vertretene These ist, dass die exekutive Rechtsetzung in einem solchen sozialistischen Rechtsstaat eine Vermittlungsfunktion zum Zusammenwirken von politischer Anti-Formalisierung und wirtschaftlich-fachlicher Formalisierung für beide Tendenzen darstellt. Einerseits verhindert sie die völlige Übernahme des fragilen sozialistischen Rechtsstaates durch die Partei auch im verstärkten Modell von „mehr Partei weniger Staat“, indem der Staatsrat aktiv die exekutive Rechtsetzung ausübt, in der die Fachlichkeit und Rationalität des Rechts zum Ausdruck kommt und dadurch die Eigenständigkeit des Rechtssystems gewissermaßen gesichert ist. Andererseits eröffnet sie die Möglichkeit, dass die Partei direkt in die staatliche Verwaltung und Regulierung eingreifen kann und somit das Modell „mehr Partei weniger Staat“ sowie den Herrschaftsanspruch der KPCh im großen Maße umsetzt. Diese besondere Stellung der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats formt ganz erheblich die gesamte Gestalt des sozialistischen Rechtsstaates der VRCh und erklärt weitgehend ihre dominierende Rolle, die sich auch in der Gestaltung der Machtquellen der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats in gegenwärtigen Recht Chinas widerspiegelt (IV. Teil). Im Schlussteil wird die Zukunft der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats analysiert mit der besonderen Berücksichtigung der jüngsten Änderung des Gesetzgebungsgesetzes vom 15. März 2015.

II.  Die exekutive Rechtsetzung vor 1978 Die exekutive Rechtsetzung vor 1978 kann ebenfalls in zwei Phasen eingeteilt werden: Die Phase vor der Kulturrevolution (1966) und die Phase der Kulturrevolution (1966–1978). Die Ansichten der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) über die exekutive Rechtsetzung spiegelten sich besonders in diversen wichtigen politischen Dokumenten und Gesetzen der ersten Phase wider und prägten grundlegend die spätere Entwicklung.

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1.  Die Formalisierung der Staats- und Rechtsordnung und die Stellung der exekutiven Rechtsetzung in der Anfangsphase Kurz nach dem Ende des innerchinesischen Krieges wurde die Formalisierung der Staats- und Rechtsordnung von der KPCh stark vorangetrieben, wobei sich die staatliche Normensetzung im Wesentlichen auf den Auf bau der Staatsorgane konzentrierte. Von 1949 bis 1954 befand sich die neue VRCh in einer Übergangsphase, in der es zwar noch keine formelle Verfassung gab, aber wichtige Organisationsgesetze für die Staatsorgane erlassen wurden.2 Auf der zentralen Ebene war die Kernfrage der Formalisierung die Bestimmung von politischem Führungsorgan und Exekutivorgan sowie die Zuordnung ihrer Befugnisse. Das dafür wichtigste Gesetz ist das am 27. September 1949 von der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (PKKCV)3 erlassene Organisationsgesetz der VRCh über die zentrale Volksregierung (OGZV). Im September 1949 verkündete die PKKCV das Allgemeine Programm (gongtong gangling) der PKKCV, das fünf Jahre als vorläufige Verfassung fungierte und ebenfalls das Verhältnis zwischen Legislativorgan und Exekutivorgan betraf.4 Im OGZV wurde festgelegt, dass die PKKCV bis zur Einberufung des ersten NVK als Vertretung dessen Befugnisse ausübt und den zentralen Volksregierungsrat (ZVRR, zhongyang renmin zheng fu weiyuanhui) wählt, der dann beauftragt wurde, die Staatsmacht auszuüben (§  3 OGZV). Die PKKCV existierte zwar bis zum 15. September 1954 als der höchste Gesetzgeber des Staates, ihre Gesetzgebungstätigkeiten waren aber sehr gering. Sie erließ nur zwei einfache Gesetze5 und das Allgemeine Programm. Der von ihr gewählte ZVRR war hingegen der tatsächlich höchste Gesetzgeber geworden. §  7 OGZV regelte, dass der ZVRR folgende Befugnisse ausübt: (1) Ausarbeitung und Auslegung staatlicher Gesetze, Erlass der Verfügungen ( faling) und Überwachung ihrer Durchführung; (2) Festsetzung der Richtlinien ( fangzhen) für die Durchführung der staatlichen Verwaltung; (3) Auf hebung oder Abänderung der Beschlüsse und Befehle des administrativen Rats (zhengwuyuan), die im Widerspruch zu staatlichen Gesetzen und Verfügungen stehen […]. Der administrative Rat, Vorgänger des Staatsrats, wurde vom ZVRR organisiert und war das höchste vollziehende Organ der administrativen Angelegenheiten des 2   Z.B. drei „allgemeine Regelungen über die Organisation des Kongresses des Volkes aller Bereiche“ auf der Provinz-Ebene, auf der Stadt-Ebene und auf der Kreis-Ebene (2.12.1949), die vorläufige Organisationsverordnung der VRCh über Volksgerichte (4.9.1951), die Organisationsverordnung der VRCh über lokale Staatsanwaltschaften auf allen Ebenen (4.9.1951), das Wahlgesetz der VRCh über den Nationalen Volkskongress und lokale Volkskongresse auf allen Ebenen (1.3.1953) usw. 3   Zhongguo renmin zhengzhi xieshang huiyi. Sie ist Vorgängerin des Nationalen Volkskongresses und war ein vorläufiges höchstes Machtorgan der VRCh bis 1954. Sie entstand nicht durch direkte und allgemeine Wahl, sondern setzte sich aus Vertretern der KPCh, der demokratischen Parteien von Volksvereinen und parteilosen Persönlichkeiten zusammen. Die letzteren drei standen unter der Führung der KPCh. 4   Das Allgemeine Programm traf keine konkreten Regelungen über die Einteilung der Befugnisse zwischen Legislativorgan und Exekutivorgan. Es legte aber das Rangverhältnis zwischen ihnen fest: Der Nationale Volkskongress ist das höchste Regime-Organ (zhengquan jiguan) des Staates und das Exekutivorgan ist ihm untergeordnet (Art.  12 das Allgemeine Programm). 5   Neben dem OGZV nur noch das Organisationsgesetz über die PKKCV (27.9.1949).

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Staates (§  5 OGZV). Anders als die spätere Festlegung des Staatsrats zugleich als „vollziehendes Organ des höchsten Organs der Staatsmacht“ und „höchstes Verwaltungsorgan des Staates“ (Art.  47 VVRCh von 1954) war der administrative Rat in der Anfangsphase nur als vollziehendes Organ des ZVRR vorgesehen. Die Festlegung des administrativen Rats als rein vollziehendes Organ des ZVRR hat zur Folge, dass er keine eigenständigen Rechtsetzungsbefugnisse aus seinen immanenten Kompetenzen besaß, sondern Gesetze der PKKCV und des ZVRR als seine Handlungsgrundlage benötigte. Der administrative Rat konnte nur gemäß dem Allgemeinen Programm der PKKCV, den staatlichen Gesetzen und Verfügungen und den vom ZVRR bestimmten Verwaltungsrichtlinien (shizheng fangzhen), Beschlüsse ( jueyi) und Befehle (mingling) erlassen (§  15 Nr.  1 OGZV). Die Definition von „Beschluss“ und „Befehl“ ist zwar im OGZV nicht angegeben, sollen aber im Kontext des OGZV, insbesondere mit der Berücksichtigung von dessen §  5, §  7 und §  15, keine abstrakten und allgemeinen Rechtsnormen darstellen. Die Betonung der höchsten Stellung von PKKCV und ZVRR und ihres Rechtsetzungsmonopols im Verhältnis zum administrativen Rat war eher politisch deklarativ und symbolisch, um die demokratische Legitimität der PKKCV, des ZVRR und weiterhin des ganzen neuen Regimes unter der Führung der KPCh auszudrücken, als praxisorientiert. Die eigentlich von dem Allgemeinen Programm und dem OGZV bestimmten Gesetzgeber handelten als solche daher selten. Abgesehen von sieben Organisationsgesetzen für die Staatsorgane und vier anderen Gesetzen6 gab es keine Gesetzgebungstätigkeiten des ZVRR oder der PKKCV. Demgegenüber spielte die fehlende Anerkennung einer Rechtsetzungsbefugnis des administrativen Rats in der Praxis keine Rolle, vielmehr dominierte er faktisch die Normenerzeugung des Staates. Von Dezember 1949 bis September 1954 erließ der administrative Rat insgesamt 527 Regelungen, die nach ihrer Rechtsnatur exekutive Rechtsetzung waren und die alle wichtigen sozialen Bereiche abdeckten. Die Handlungsformen des administrativen Rats gehen auch über die von §  15 Nr.  1 OGZV vorgesehenen zwei Formen „Beschluss ( jueyi)“ und „Befehl (mingling)“8 hinaus und umfassen weitere Formen wie

6  Dem Ehegesetz (13.4.1950), dem Bodenreformgesetz (28.6.1950), dem Gewerkschaftsgesetz (29.6.1950.) und dem Wahlgesetz (1.3.1953). Diese vier Gesetze ergaben sich aus der Dringlichkeit der Regelung der jeweiligen Bereiche, deckten daher auch ganz punktuell die Regelungsbereiche der damaligen Gesellschaft. 7   Diese Statistik stammt aus der Datenbank „Beida fabao“ (http://www.pkulaw.cn/), unter der Kategorie „效力级别 — 行政法规 — 行政法规“, von Nr.  1467 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_form. aspx?Db=chl&Gid=160352&keyword=&EncodingName=&Search_Mode=accurate) bis Nr.   1518 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid=1&keyword=&EncodingName=&Search_ Mode=accurate), zuletzt besucht am 26.2.2016. 8   Beschlüsse und Befehle des administrativen Rats waren trotzt des Kontextes des OGZV in der Praxis nicht auf konkrete Fälle beschränkt, sondern betrafen auch allgemeine und abstrakte Gegenstände und stellten insofern exekutive Rechtsnormen dar. Ein Beispiel ist der Beschluss des administrativen Rats über die Aufteilung der zentralen und lokalen Kompetenzen in der Regulierung der Finanz- und Wirtschaftsarbeiten (7.6.1951, zhengwuyan guanyu huafen zhongyang yu difang zai caizheng jingji gongzuo shang guanli zhiquan de jueding). Dieser Beschluss enthält fünf Paragraphen und behandelt das allgemeine Verhältnis zwischen der zentralen Regierung und den lokalen Regierungen in der Finanz- und Wirtschaftsarbeiten.

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„Verordnung (tiaoli)“9, „Methode (banfa)“10, „Programm (gangyao)“11, „Bestimmung (guiding)“12, „allgemeine Regelung (tongze)“13 sowie „Regel (zhangcheng)“14, „Anweisung (zhishi)“15 usw. Daneben gab es auch noch eine spezielle Form der Verordnung des administrativen Rats, die wegen der Wichtigkeit der zu regelnden Gegenstände ausnahmsweise der Genehmigung des ZVRR bedurfte.16 Dieser Fall war aber selten, die meisten Rechtsnormen wurden vom administrativen Rat allein erlassen.

2.  Die exekutive Rechtsetzung in der Verfassung von 1954 In der 1. Sitzung des ersten NVK wurde am 20. September 1954 die erste Verfassung der VRCh angenommen. Durch diese Verfassung wurden die Staatlichkeit der VRCh sowie die Rechtsetzung überdies formalisiert. Bezüglich der Stellung des NVK übernimmt die Verfassung von 1954 die Bestimmungen über die PKKCV im Allgemeinen Programm. Der NVK ist laut der Verfassung das höchste Organ der Staatsmacht (Art.  21 VVRCh von 1954), welchem dem Wortlaut nach allein die gesetzgebende Gewalt des Staates zuerkannt wird (Art.  22 VVRCh von 1954). Der NVK übt insgesamt 14 Befugnisse aus, darunter besonders Verfassungsänderungen, Verabschiedung von Gesetzen und Überwachung der Durchführung der Verfassung (Art.  27 Nr.  1–3 VVRCh von 1954). Dem Monopol des NVK auf die Gesetzgebungsmacht entsprechend wurde dem SANVK, als dem ständigen Organ des NVK, verfassungsrechtlich keine Rechtsetzungsmacht zugeschrieben. Verglichen mit seinem Vorgänger – dem zentralen Volksregierungsrat, stellt dies eine Verringerung seiner Kompetenzen dar. Der SANVK kann hingegen nur Erklärungen zur Aus­ legung von Gesetzen abgeben und Verfügungen ( faling) erlassen (Art.  31 Nr.  3, 4 VVRCh von 1954).17 9  Z.B. Die Verordnung der VRCh über die Arbeitsversicherung (26.2.1951, zhonghua renmin gongheguo laodong baoxian tiaoli); die vorläufige Verordnung über private Unternehmen (30.12.1950, siying qiye zanxing tiaoli). 10   Z.B. die vorläufige Methode über die Registrierung der Zeitschriften (16.8.1952, qikan dengji zanxing banfa); die vorläufige Methode über die Regulierung des Markts der Lebensmittel (23.11.1953, liangshi shichang guanli zanxing banfa). 11   Z.B. das Programm der VRCh zur Umsetzung der regionalen Autonomie der nationalen Minderheit (22.2.1952, zhonghua renmin gongheguo minzu quyu zizhi shishi gangyao); das Programm über die Arbeitsregelungen innerhalb der staatlichen Unternehmen (14.7.1954, guoying qiye neibu laodong guize gangyao). 12   Z.B. die Bestimmung des Arbeitsministeriums über die Verfahren für die Lösung der Arbeitsstreitigkeiten (26.11.1950, laodongbu guanyu laodong zhengyi jiejue chengxu de guiding). 13  Z.B. allgemeine Regeln über die Organisation des Vereins der Industrie und des Handels (16.08.1952, gongshangye lianhehui zuzhi tongze). 14   Z.B. Regeln über die Mittel-Fachschulen (9.7.1954, zhongdeng zhuanye xuexiao zhangcheng). 15   Z.B. Anweisung des administrativen Rats über die Durchführung der Ausbildung der Arbeiter in der Freizeit (1.6.1950, zhengwuyuan guanyu kaizhan zhigong yeyu jiaoyu de zhishi). 16   Z.B. die Verordnung der VRCh über Strafen für Konterrevolutionäre (zhonghua renmin gongheguo chengzhi fangemin tiaoli, angenommen vom administrativen Rat am 9.2.1951, genehmigt vom ZVRR am 20.9.1951); Die Verordnung der VRCh über Strafen für Unterschlagung (zhonghua renmin gongheguo chengzhi tanwu tiaoli, angenommen vom administrativen Rat am 30.3.1952, genehmigt vom ZVRR am 18.4.1952). 17   Das Konzept des Monopols des NVK auf die Gesetzgebungsmacht erfüllte sich aber nicht. Die

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Der Staatsrat wurde als die vollziehende Institution des obersten Organs der Staatsmacht und das höchste staatliche Verwaltungsorgan bestimmt (Art.  47 VVRCh von 1954). Es wurden dem Staatsrat auch weiterhin keine formellen Rechtsetzungsbefugnisse zugeschrieben. Er kann aber, anderes als sein Vorgänger – der administrative Rat, der nur Beschluss und Befehl erlassen durfte – auch „Verwaltungsmaßnahmen (xingzheng cuoshi)“ „in Übereinstimmung mit der Verfassung, den Gesetzen und Verfügungen (des SANVK)“18 festsetzen (Art.  49 Nr.  1 VVRCh von 1954). Die Bedeutung von „Verwaltungsmaßnahmen“ wird in der Verfassung nicht definiert. Die Praxis in dieser Phase deutet aber darauf hin, dass der Begriff der „Verwaltungsmaßnahme“ außer „Beschluss“ und „Befehl“ alle anderen Handlungsformen des Staatsrats umfasst. Es ist klar, dass die neue Befugnis des Staatsrats, Verwaltungsmaßnahmen festzusetzen, eng mit der Anerkennung des Staatsrats als das höchste Verwaltungsorgan des Staates zusammenhängt: Als nicht bloß vollziehendes Organ des obersten Organs der Staatsmacht ist die Kompetenz, eigenständig, direkt auf die Verfassung gestützt, alle notwendigen Mittel zu ergreifen, um seine verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen19 auszuüben, nur konsequent. Darunter fällt auch der Erlass zur Erfüllung der Verwaltungsaufgaben des Staatsrats dienenden abstrakten und allgemeinen Rechtsnormen. Die exekutive Rechtsnorm ist daher auch eine Art von Verwaltungsmaßnahme. Diese, wenn auch nur vage, verfassungsrechtliche Anerkennung der Rechtsetzungsmacht des Staatsrats bedeutete den formellen Anfang der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats in der Geschichte der VRCh und schuf eine der Gesetzgebungsmacht von NVK und SANVK vergleichbare, durch die exekutive Macht begründete, Rechtsetzungskompetenz des Staatsrats. Kompetenz zum Erlass von Verfügungen erweiterte sich faktisch schnell zu einer formellen Gesetzgebungsmacht des SANVK. Und der Bedarf an Rechtsnormen für die Regulierung des Soziallebens machte auch den SANVK als ein effektiveres Gesetzgebungsorgan erforderlich. In dieser Lage ermächtigte die 2. Sitzung des ersten NVK am 30.7.1955 den SANVK dazu, zwischen den Sitzungen des NVK einzelne Gesetze (danxing falü) in bestimmten Bereichen in Übereinstimmung mit „dem Geist der Verfassung und den realen Bedürfnissen“ zu verabschieden. Ab 1954 erließ der SANVK in Form der „Verordnung (tiaoli)“ zahlreiche Rechtsnormen, die nach ihrer Natur Gesetze sind: Die Verordnung der VRCh über Verhaften und Arretieren (20.12.1954, zhonghua renmin gongheguo daibu juliu tiaoli); die Verordnung der VRCh über die Volkspolizei (25.6.1957, zhonghua renmin gongheguo renmin jingcha tiaoli); die Verordnung der VRCh über die Steuern in der Landwirtschaft (3.6.1958, zhonghua renmin gongheguo nongyeshui tiaoli) usw. 18   Die Übereinstimmung der exekutiven Rechtsnormen mit ranghöheren Rechtsnormen ist aber wegen erheblich mangelnder Rechtsetzungstechnik und vor allem des Fehlens eines Systems der Normkontrollen in der Anfangsphase leerlaufend. 19   Insbesondere die von Art.  49 Nr.  3, 4, 7–16 VVRCh von 1954 genannten Befugnisse des Staatsrats, die alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft umfassen: […] 3. einheitliche Leitung der Arbeit der Ministerien und Ausschüsse; 4. einheitliche Leitung der Arbeit der örtlichen Organe der staatlichen Verwaltung aller Stufen im ganzen Lande; […] 7. Durchführung des nationalen Wirtschaftsplans und des Staatshaushaltsplans; 8. Kontrolle des Innen- und Außenhandels; 9. Kontrolle der Arbeit auf kulturellem Gebiet und auf dem Gebiet des Erziehungs- und Gesundheitswesens; 10. Zuständigkeit für Angelegenheiten der Nationalitäten; 11. Zuständigkeit für Angelegenheiten der im Ausland lebenden Chinesen; 12. Schutz der Interessen des Staates, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Schutz der Rechte der Bürger; 13. Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten; 14. Leitung des Aufbaus der bewaffneten Streitkräfte des Landes; 15. Bestätigung der administrativen Einteilung der Autonomen Bezirke, der Kreise, der Autonomen Kreise und der Städte; 16. Ernennung und Abberufung der staatlichen Funktionäre entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen […].

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Wie in der Phase von 1949 bis 1954 blieben die Gesetzgebungstätigkeiten des NVK auch nach dem Erlass der Verfassung von 1954 weiter gering.20 Von 1954 bis 1966 (dem Beginn der Kulturrevolution) erließ der NVK nur fünf Organisationsgesetze über die Staatsorgane21 und ein Gesetz über den Wehrdienst.22 Weitere Gesetze über die Regulierung der konkreten Sozialbereiche, z.B. Zivilrecht, Strafrecht und Prozessrecht, blieben bis zum Ende der 1970er Jahre Entwürfe. Die Gesetzgebungstätigkeiten des SANVK waren zwar umfangreicher als diejenigen des NVK, aber verglichen mit dem Bedarf an Rechtsnormen erscheinen auch sie eher gering. Im Zeitraum von 1954 bis 1966 erließ der SANVK insgesamt nur 22 Rechtsnormen in Form der Verordnung.23 Die Ausarbeitung dieser Verordnungen des SANVK war auch nicht systematisch geplant, sondern reagierte meistens nur auf damalige dringende Probleme des Soziallebens. Das von den eigentlichen Gesetzgebern hinterlassene Vakuum bot dem Staatsrat einen großen Raum für seine exekutive Rechtsetzung. Er erließ insgesamt 80 exekutive Rechtsnormen.24 Abgesehen von Organisationsgesetzen der Staatsorgane, die allein vom NVK erlassen wurden, unterscheiden sich die von diesen Exekutivnormen geregelten Bereiche auch kaum von denjenigen, die durch Gesetze des NVK oder Verordnungen des SANVK geregelt wurden. Ein System der Aufteilung der Rechtsetzungsbefugnisse zwischen NVK (SANVK) und dem Staatsrat existierte weder in der Verfassung noch in der Praxis. Die Verfahren waren kaum gesondert geregelt. Man kann allenfalls in kargen Bestimmungen über allgemeine Organisa­ tionsprinzipien des Staatsrats im Organisationsgesetz des Staatsrats (OGS) von 1954 einige Hinweise dafür finden: Die Tagungen des Staatsrats sind in Ständige Tagun20   Demgegenüber war der „Beschluss ( jueyi)“ eine herrschende Handlungsform des NVK geworden. Der Beschluss des NVK orientiert sich aber wesentlich an konkrete Fragen, z.B. die Einteilung der Verwaltungsgebiete innerhalb des Landes oder die Schaffung oder Abschaffung der Staatsorgane. Er ist kein Gesetz. 21   Das Organisationsgesetz des Nationalen Volkskongresses der VRCh (20.9.1954, zhonghua renmin gongheguo quanguo renmin daibiao dahui zuzhifa); das Organisationsgesetz des Volksgerichts der VRCh (21.9.1954, zhonghua renmin gongheguo renmin fayuan zuzhifa); das Organisationsgesetz der Staatsanwaltschaft der VRCh (21.9.1954, zhonghua renmin gongheguo renmin jianchayuan zuzhifa); das Organisationsgesetz der VRCh über die territorialen Volkskongresse und die territorialen Volksräte aller Ebenen (21.9.1954, zhonghua renmin gongheguo difang geji renmin daibiao dahui he difang geji renmin weiyuanhui zuzhifa) sowie das Organisationsgesetz des Staatsrats der VRCh (28.9.1954, zhonghua renmin gongheguo guowuyan zuzhifa). 22   Das Wehrdienstgesetz der VRCh (30.7.1955, zhonghua renmin gongheguo bingyi fa). 23   Diese Statistik stammt aus der Datenbank „Beida fabao“ (http://www.pkulaw.cn/), unter der Kategorie „(发布部门 — 全国人大常委会)“, von Nr.  1377 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx? Db=chl&Gid=193034&keyword=&EncodingName=&Search_Mode=accurate) bis Nr.  1574 (http:// www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid=162899&keyword=&EncodingName=&Search_ Mode=accurate), zuletzt besucht am 26.2.2016. Diese Kategorie umfasst alle vom SANVK getroffenen Entscheidungen, Beschlüsse, Verordnungen und spätere Gesetze. Ähnlich wie beim NVK waren die Beschlüsse und Entscheidungen die Haupthandlungsformen des SANVK, die sich wesentlich an konkrete Fälle orientierten. 24   Diese Statistik stammt aus der Datenbank „Beida fabao“ (http://www.pkulaw.cn/), unter der Kategorie „(效力级别 — 行政法规 — 行政法规)“, von Nr.  1386 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_ form.aspx?Db=chl&Gid=355&keyword=&EncodingName=&Search_Mode=accurate) bis Nr.   1465 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid=76&keyword=&EncodingName=& Search_Mode=accurate), zuletzt besucht am 26.2.2016.

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gen (changwu huiyi) und Plenartagungen (quanti huiyi) eingeteilt (§  4 Satz  1 OGS von 1954); die Beschlüsse und die Befehle des Staatsrats müssen in Ständigen Tagungen oder Plenartagungen verabschiedet werden (§  5 OGS von 1954). Da die exekutiven Rechtsnormen als landesweit verbindliche Rechtsnormen von größerer Bedeutung als die Beschlüsse und Befehle sind, ist aus diesen Bestimmungen zu folgern, dass die exekutiven Rechtsnormen mindestens auch von der Ständigen Tagung oder Plenartagung verabschiedet werden müssen. Es fehlen aber weitere Bestimmungen über die Verfahren der exekutiven Rechtsetzung. Die aktive Rechtsetzungstätigkeit des Staatsrats bedeutete den Höhepunkt der Rechtsetzung innerhalb des Staates vor der Kulturrevolution und war ein wichtiger Zwischenerfolg der Formalisierung der Staatlichkeit und der Rechtsetzung. Sie begleitete aber eine Schattenseite. Ab 1956 tauchte eine neue Art exekutiver Rechtsetzung auf: Das Zentralkomitee der KPCh griff direkt in die Ausarbeitung ein und verabschiedete exekutive Rechtsnormen im gemeinsamen Namen des Zentralkomitees der KPCh und des Staatsrates in Form der „Anweisung (zhishi)“ oder des „Beschlusses“.25 Anzumerken ist, dass die von solcher exekutiver Rechtsetzung geregelten Bereiche sich nicht nur auf allgemeine wichtige (vor allem politische) Probleme beschränkten, sondern sich auch auf konkrete Probleme in der Regulierung der Gesellschaft erstreckten. Die Partei griff, neben ihren üblichen Mitteln (politische Beschlüsse und Besetzung von Positionen durch Parteimitglieder), direkt zu staatlichen Rechtsnormen, um auch in konkreten Problemen aktiv tätig zu sein und somit ihre Kontrolle über den Staat auszubauen. Dieses direkte Eingreifen der Partei in die exe­ kutive Rechtsetzung des Staates gefährdete die mühsam geschaffene, fragile Trennung von Partei und Staat in der Anfangsphase.

3.  Die exekutive Rechtsetzung in der Kulturrevolution Der Auf bau der formellen Staatlichkeit und die Formalisierung der staatlichen Rechtsetzung wurden ab 1957 von ständigen politischen Bewegungen gefährdet: zuerst der Kampagne gegen „Rechtsabweichler“ (1957, fanyou yundong)26, dann dem „Großen Sprung nach vorne“ (1958–1960, dayuejin) und schließlich zerstört von der 25   Z.B. die Anweisung des Zentralkomitees der KPCh und des Staatsrats über die Verstärkung der Produktionsführung und des Organisationsauf baus der Genossenschaft der Landwirtschaft (12.9.1956, zhonggong zhongyang, guowuyuan guanyu jiaqiang nongye shengchan hezuoshe de shengchan lingdao he zuzhi jianshe de zhishi); die Anweisung des Zentralkomitees der KPCh und des Staatsrats über die Erziehungsarbeiten (19.9.1958, zhonggong zhongyang, guowuyuan guanyu jiaoyu gongzuo de ­zhishi); der Beschluss des Zentralkomitees der KPCh und des Staatsrats über die Verstärkung der Vereinheitlichung der Arbeiten der Banken und die strenge Kontrolle über die Geldemission (10.3.1962, zhonggong zhongyang, guowuyuan guanyu qieshi jiaqiang yinhang gongzuo de jizhong tongyi, yange kongzhi huobi faxing de jueding) sowie der Beschluss des Zentralkomitees der KPCh und des Staatsrats über die Verstärkung der Arbeiten der landwirtschaftlichen Samen (22.12.1962, zhonggong zhongyang, guowuyan guanyu jiaqiang zhongzi gongzuo de jueding). 26   „The onset of the Anti-Rightist Campaign in 1957 brought an abrupt end to any hopes of replacing institutional reliance on Party and state administrative directives with even a basic core of substantive legislation.“ Perry Keller, Sources of Order in Chinese Law, in: The American Journal of Comparative Law, Vol. 42, No.  4 (Autumn, 1994), S.  723.

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Kulturrevolution (1966–1976, wenhua dageming). Zwar verfolgten diese drei politischen Bewegungen verschiedene Hauptziele; ihnen gemeinsam ist aber, dass das Herrschaftsmodell des Staates sich in ständiger Bewegungen unter der Führung der KPCh wandelte und die Herrschaft durch staatliche Rechtsnormen zur Seite gedrängt wurde. Der in der Phase von 1949 bis 1956 mühsam geschaffene, fragile Ausgleich zwischen Partei und Staat war zerstört und mit ihm auch der Versuch unterbrochen, staatliche Kontrollmaßnahmen zu formalisieren und zu verrechtlichen. Die Herrschaft des Staates war verdrängt durch die in Kampagnen ausgeübte Herrschaft der Partei, was die Voraussetzungen für die staatliche Rechtsetzung und ein formelles staatliches Rechtssystem beseitigte und „einen Rückfall in vormoderne Zeiten“27 bedeutete. Die Abschaffung der Staatlichkeit hatte sich in der Kulturrevolution zugespitzt, in der nicht nur ein formelles Rechtssystem, sondern auch formelle Staatseinrichtungen selbst faktisch verschwanden. Alle in der Anfangsphase gegründeten Staatsorgane, also Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizeibehörden und lokale Regierungen, wurden vernichtet. Die ganze chinesische Gesellschaft wurde damals wieder militärisch unter der Führung von Mao Zedong organisiert. Nach der Auffassung von Mao Zedong war die Staatsmacht nicht mehr in Hand des Proletariats, sondern in die Hand der „Capitalist roaders (zouzipai)“ geraten, die wichtige Stellen der Regierung innehatten, aber zum Kapitalismus tendierten.28 Vielerorts wurden staatliche Stellen durch Kulturrevolutionsgruppen oder Kulturrevolutionskomitees verdrängt und deren staatliche Autorität von ihnen erobert.29 Auf der zentralen Ebene hörten NVK und SANVK völlig auf, Gesetze auszuarbeiten.30 Der Staatsrat erließ nur eine Verordnung im Jahr 1967. An die Stelle der staatlichen Rechtsnormen traten hingegen die „Befehle“, „Beschlüsse“, „Zirkulare“, oder „Direktiven“ der Partei.31 Diese ­normativen Dokumente der Partei „amounted to an informal system of law in the 27   Robert Heuser, Sozialistisches Recht“ in der Erprobung. Entwicklungen der chinesischen Rechtsordnung (1949–2009), in: Zeitschrift für Chinesisches Recht, 3/2009, 253. 28  Vgl. Haiting Guan, Der Beginn und das Ende der „Revolutionskomitees (geming weiyuanhui shimo)“, in: Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas (zhonggong dangshi yanjiu), 6/1991, 47; David S. G. Goodman, The Provincial Revolutionary Committee in the People’s Republic of China, 1967–1979: An Obituary, in: The China Quarterly, No.  85 (Mar. 1981), 50: „Mao’s attempt to reform the existing power structure became an all-out frontal attack on the administrative system itself.“ 29   Der 9. Punkt des „Beschlusses des Zentralkomitees der KPCh über die Große Proletarische Kulturrevolution“ regelt: Die Kulturrevolutionsgruppen und die Kulturrevolutionskomitees sind die Machtorgane der Großen Proletarischen Kulturrevolution. 30   Der Zeitraum der Kulturrevolution erlebte zwei NVK, also den 3. und den 4. NVK, wovon die Amtszeit des 3. NVK von 1964 bis 1975, fast elf Jahre, weit über die normale vier Jahre-Amtszeit (Art.  24 Abs.  1 VVRCh von 1954) hinausging. In den elf Jahren tagte er nur einmal, von 21.12.1964 bis 4.1.1965, erließ aber keine Gesetze. Nach dem Ausbruch der Kulturrevolution waren alle seinen Tätigkeiten eingestellt. Die Amtszeit des 4. NVK dauerte von Januar 1975 bis Februar 1978. Er tagte auch nur einmal von 13.1.1975 bis 17.1.1975 und erließ ebenfalls keine Gesetze. Die vom ihm angenommen Verfassungsänderung (die Verfassung von 1975), die wesentlich die Leitlinien der Kulturrevolution, vor allem die Klassenkampf-Theorie festlegte, wurde dann im Jahr 1978 schnell aufgehoben. 31   Robert Heuser, The Legal Status of the Chinese Communist Party, in: D. A. Loeber (Hrsg.), Ruling Communist Parties and Their Status under Law, Dordrecht (Martinus Nijhoff Publishers) 1986, S.  241: „The ‚lines‘ (luxian), ‚directions‘ ( fangzhen), ‚resolutions‘ ( jueding) and other forms of expression of the Party’s will represented the main body of the legal system.“

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broadest possible sense“32 und das formelle staatliche Rechtssystem „declined towards zero.“33

III.  Die Reformalisierung der Staatlichkeit und des Rechtssystems in der Nach-Mao-Zeit 1.  „Chaos beseitigen, zur Normalität zurückkehren“ Die Wiedergeburt der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats setzte die allgemeine Wiederherstellung der formellen Staatlichkeit nach der Kulturrevolution durch die Politik „Chaos beseitigen, zur Normalität zurückkehren (bo luan fan zheng)“ voraus. Die Gleichstellung der Partei mit dem Staat und die Gleichstellung der politischen Beschlüsse der Partei mit staatlichen Rechtsnormen hatten zum Rechtsnihilismus geführt und alle Formalisierungsversuche von Staat und Rechtssystem zunichte gemacht. Für die Rechtsetzung des Staates ist die wichtigste Erfahrung daher, wie Rechtsetzung als eigenständige Staatsfunktion aufrechtzuerhalten und ihre Eigenständigkeit auch gegenüber der Partei und deren willkürlichem Eingreifen34 zu bewahren ist. Der Ansatz der Reformalisierung ist der Ausgangspunkt des heutigen chinesischen Rechtssystems und führt zu „einem neuen China“35. Die Reformalisierung der Staatlichkeit und des Rechtssystems basiert wesentlich auf den Reflexionen über die Kulturrevolution von Deng Xiaoping, höchster Führer der KPCh, und verbindet sich eng mit seinen zwei wichtigen Reden, in denen grundlegend Auffassungen über den Auf bau des Rechtssystems und entsprechende staatliche Rechtsetzung in der Nach-Mao-Zeit ausgeführt wurden. Am 13.12.1978 sagte er auf der Schlusstagung der Zentralen Arbeitskonferenz: Um die Herrschaft des Volkes zu sichern, muss unser Rechtssystem gestärkt werden. Die Demokratie muss institutionalisiert und in Gesetzesform verankert werden, damit sichergestellt wird, dass Institutionen und Gesetze sich nicht mit jedem Führungswechsel oder mit jeder Meinungsänderung oder Aufmerksamkeitsverschiebung seitens der Führer ändern. Heute liegt das Problem darin, dass unser Rechtssystem unvollkommen ist und viele Gesetze noch nicht ausgearbeitet wurden. Häufig gelten die Worte der Führer als „Gesetze“, und wer damit nicht einverstanden ist, wird als „Gesetzesbrecher“ beschuldigt. Derartige „Gesetze“ 32   Perry Keller, Sources of Order in Chinese Law, in: The American Journal of Comparative Law, Vol. 42, No.  4 (1994), 724. 33   Volker Behr, Development of a New Legal System in the People’s Republic of China, in: Louisiana Law Review 67 (2007), 1162. 34   „A tradition of discretionary control by governing officials“, so Perry Keller, Legislation in the People’s Republic of China, in: University of British Columbia Law Review 23 (1988–1989), 654. 35  Vgl. Alice E. -S. Tayt, The Struggle of Law in China, in: University of British Columbia Law Review 21 (1987), 572: „If there was a New China established in 1949, another was established in the years 1979–85.“ Die Umstellung des Verhältnisses zwischen Partei und Gesetzgebung ist eben der „Beginn der Modernisierung des Rechtssystems seit Ende der 1970er Jahre“, so Duanhong Chen, Die demokratische Legitimität und die Höchstheit der Gesetzgebung (lifa de minzhu hefaxing yu lifa zhishang), in: Rechtswissenschaft in China und Ausland (zhongwai faxue), 6/1998, 67. Über die Änderung der Führungsweise der Partei über die Gesetzgebung nach der Kulturrevolution siehe Songshan Liu, Ein Rückblick auf die 30-jährige Staatsgesetzgebung und ihre Perspektive (guojia lifa sanshinian de huigu he zhanwang), in: Rechtswissenschaft Chinas, 1/2009, 47–48.

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ändern sich, wenn die Führer ihre Meinungen ändern. Daher müssen wir unsere Kraft darauf konzentrieren, Straf- und Zivilgesetze, eine Strafprozessordnung und weitere unentbehrliche Gesetze wie etwa ein Betriebsgesetz, Volkskommunengesetz, Forstrecht, Steppenrecht, Umweltschutzgesetz, Arbeitsgesetz und Investitionsgesetz für Ausländer in China auszuarbeiten. All diese Gesetze sollen in demokratischer Weise erörtert und verabschiedet werden. Zugleich sind die Organe der Staatsanwaltschaft und Justiz zu verstärken. All dies wird sicherstellen, dass es zu befolgende Gesetze gibt, dass Gesetze befolgt werden müssen, dass sie strikt durchgesetzt und Gesetzesbrecher unbedingt zur Rechenschaft gezogen werden. Die Beziehungen zwischen Staat und Betrieben, zwischen den Betrieben untereinander, zwischen Betrieben und Einzelpersonen usw. müssen ebenfalls durch Gesetze festgelegt und viele Widersprüche zwischen ihnen juristisch gelöst werden. Es gibt heute eine Unmenge gesetzgeberischer Arbeit zu tun, und wir haben zu wenige Fachleute. Daher dürfen Gesetzesvorschriften zunächst ruhig ein wenig grob formuliert sein, müssen aber später allmählich vervollkommnet werden. Einige Gesetze und Vorschriften sollte man zunächst versuchsweise in einzelnen Regionen anwenden, um sie dann nach Auswertung der Erfahrungen und entsprechenden Verbesserungen im ganzen Land gelten zu lassen. Einzelne Gesetzesvorschriften lassen sich nach Möglichkeit punktuell revidieren und ergänzen. Es ist nicht nötig, auf die vollständige Revision eines Gesetzes zu warten. Kurzum, es ist besser, ein paar Gesetze zu haben als gar keine, es ist besser, sie eher auszuarbeiten als später.36

In dieser Rede erläuterte Deng Xiaoping einerseits das Verhältnis der Politik der Partei zu Gesetzen des Staates und betonte die Eigenständigkeit der Gesetze gegenüber Meinungen der Parteiführer, die häufig in Form politischer Beschlüsse der Partei auftreten. Andererseits formulierte er vier fundamentale Grundsätze für den Wiederauf bau des Rechtssystems, in denen die staatliche Rechtsetzung an erste Stelle gesetzt wurde, nämlich: Das Vorhandensein von zu befolgenden Gesetzen (youfa keyi); diese Gesetze müssen befolgt werden (youfa biyi); sie müssen strikt durchgesetzt werden (zhifa biyan) und Gesetzesbrecher müssen unbedingt zur Rechenschaft gezogen werden (weifa bijiu). Darüber hinaus deutete er auch die damals aktuelle Leitlinie für die staatliche Gesetzgebung an. Die Gesetzgebung soll zuerst grob statt ausführlich sein (lifa yi cu buyi xi), was seinem stetigen Pragmatismus entsprach. Diese Rede wurde als einer der Leitgedanken in das Kommuniqué der 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KPCh aufgenommen, das am 22. Dezember 1978 angenommen wurde und für die Wiederherstellung der staatlichen und rechtlichen Ordnung in der NachMao-Zeit entscheidend war. In dem Kommuniqué wurde besonders betont: Um die Demokratie des Volkes zu sichern muss das sozialistische Rechtssystem gestärkt werden. Die Demokratie muss institutionalisiert und in Gesetzesform verankert werden. Das System der Demokratie und das Rechtssystem müssen Stabilität, Kontinuität und größte Autorität besitzen. Es muss sichergestellt werden, dass es zu befolgende Gesetze gibt, dass Gesetze befolgt werden müssen, dass sie strikt durchgesetzt und Gesetzesbrecher unbedingt zur Rechenschaft gezogen werden. Von jetzt an müssen die Gesetzgebungsarbeiten in die wichtige Agenda von NVK und SANVK aufgenommen werden.

36   Deng Xiaoping, Das Denken befreien, die Wahrheit in den Tatsachen suchen und mit dem Blick in die Zukunft einig zusammenstehen, in: Deng Xiaopings ausgewählte Schriften (1975–1982), Verlag für Fremdsprachige Literatur (waiwen chubanshe), 1985, Beijing, S.  176–177.

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Bezüglich des Verhältnisses der Partei zur Regierung in der Leitung des Staates sagte Deng Xiaoping weiterhin am 18. August 1980 auf einer erweiterten Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der KPCh: Es ist notwendig, vom Staatsrat bis zu den lokalen Regierungen aller Ebenen ein wirklich effektives Arbeitssystem zu errichten. In Zukunft wird alle Arbeit innerhalb der Befugnisse der Regierung vom Staatsrat und von den lokalen Regierungen aller Ebenen diskutiert und entschieden werden, und die diesbezüglichen Dokumente werden von ihnen erlassen werden. Das Zentralkomitee der Partei und die lokalen Parteikomitees aller Ebenen werden in dieser Hinsicht keine Weisungen mehr geben oder Entscheidungen treffen.37

In dieser Rede wurde zwar die Führung der Partei über Staat und Regierung nach wie vor hervorgehoben. Aber Deng Xiaoping versuchte, der Partei gegenüber dem Staat eine Grenzlinie zu setzen und ihre Führung auf die „politische Führung“ zu beschränken. Die Bedeutung der politischen Führung der Partei, wurde dabei nicht weiter erläutert. Hinweise darauf kann man aber im Statut der KPCh38 finden. §  28 Satz  1 des Allgemeinen Programms des Statuts der KPCh bestimmt: „Die Führung durch die Partei bedeutet in der Hauptsache deren politische, ideologische und organisatorische Führung.“ Diese drei Aspekte der Führung beziehen sich wesentlich auf die Angelegenheiten, welche die Herrschaftsstellung der Partei selbst betreffen. Konkrete und sachliche Regulierungsarbeiten innerhalb des Staates, die von weniger politischen, ideologischen oder organisatorischen Belang sind, bleiben hingegen den Staatsorganen überlassen. Dass das Zentralkomitee der Partei und die lokalen Parteikomitees aller Ebenen über die Arbeit innerhalb der Befugnisse der Regierung auf der jeweiligen Ebene keine Weisungen mehr geben oder Entscheidungen treffen sollen, bedeutet zugleich, dass die Politik-Normen und die politischen Beschlüsse der Partei nicht mehr direkt als Handlungsnormen für Bürger oder Organe fungieren dürfen. Vielmehr müssen sie, um als unmittelbare Verhaltensnormen qualifiziert zu sein, zuerst durch formelle Rechtsetzungsverfahren zu staatlichen Rechtsnormen erhoben werden All dies öffnete den Raum für die staatliche Rechtsetzung und ein eigenständiges Rechtssystem.39 Ab 1978 begannen NVK und SANVK wieder damit Gesetze auszuarbeiten. Die erste Gesetzgebungstätigkeit des NVK in dieser Phase waren die Änderung der Verfassung von 1975 und die Ausarbeitung der neuen Verfassung von 1978, die am 5. März 1978 von der 1. Sitzung des V. NVK angenommen wurde.40 Die Ausarbeitung der Organisationsgesetze, die für den Wiederauf bau der Staatlichkeit entscheidend waren, bildete einen weiteren Schwerpunkt der Rechtsetzungsarbeiten von 37   Deng Xiaoping, Über die Reform des Führungssystems der Partei und des Staates, in: Deng Xiaopings ausgewählte Schriften (Fn.  36), S.  369. 38   Zuletzt geändert am 14.11.2012. 39  Vgl. Stanley B. Lubman, Bird in a Cage: Legal Reform in China After Mao, 1999, S.  139: „Legal reform has enlarged the importance of legislation far beyond the minor role it played when the entire Party-state was directed and guided by policies articulated and applied by the CCP. Formal legislation has emerged as a significant, if still frequently secondary, framework for the organization and operation of the Chinese government and for the implementation of new policies.“ 40   Quantitativ gesehen, enthielt die Verfassung von 1978 60 Artikel im Vergleich zu 30 Artikeln der Verfassung von 1975. Sie hielt aber weiter am Personenkult von Mao Zedong und an der Leitlinie des Klassenkampfs fest.

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NVK und SANVK.41 Hinzu kam, dass die Gesetzgebungstätigkeiten von NVK und SANVK weit über ihren bisherigen Umfang hinausgingen und sich auf konkrete Regulierungsbereiche des Staates erstreckten.42 Der NVK und sein SA kehrten 30 Jahre nach der Ausrufung der VRCh endlich zu ihrer „Normalität“ zurück. Und die größte Leistung der Gesetzgebungstätigkeiten des NVK in den 1980er Jahren war die Verfassung von 1982, die am 4. Dezember 1982 von der 5. Sitzung des V. NVK angenommen wurde und die neue Verfassungsordnung für China festlegt.

2.  „Der sozialistische Rechtsstaat“ als Höhepunkt der Formalisierung a)  Die Begriffsgeschichte des sozialistischen Rechtsstaates Rechtlich zeichnet sich die Phase der 1980er Jahren durch den Wiederauf bau des in der Kulturrevolution zerstörten Rechtsetzungs- und Rechtssystems aus. Die staatlichen Rechtsetzungstätigkeiten in dieser Phase ergaben sich wesentlich aus dem realen Bedürfnis, das von der Kulturrevolution hinterlassene Vakuum an Rechtsnormen zu füllen. Die systematischen Überlegungen darüber, wie ein zu errichtendes chinesisches Rechtsetzungs- und Rechtsystem auszusehen habe, die dann später unter dem Begriff des sozialistischen Rechtsstaates zusammengefasst wurden, begannen aber erst in den 1990er Jahren. Die Entstehung des Begriffs des sozialistischen Rechtsstaates verband sich eng mit drei wichtigen Dokumenten: Dem Beschluss des Zentralkomitees der KPCh über einige Probleme beim Auf bau des Systems der sozialistischen Markwirtschaft (hiernach „Beschluss vom 1993“)43, der „Neun-Fünf “ Planung der VRCh für die Entwicklung der nationalen Wirtschaft und der Gesellschaft und dem Programm für das langfristige Ziel bis 2010 (hiernach „Planung und Programm von 1996“)44 sowie dem Bericht von Jiang Zemin „Die große Fahne der Deng Xiaoping-Theorie“ hochhalten, das sozialistische Projekt chinesischer Prägung allseitig 41   Schon im Jahr 1979 erlassen wurden das Gesetz der VRCh über die Organisation der territorialen Volkskongresse und der territorialen Volksregierungen aller Ebenen, das Wahlgesetz der VRCh zum Nationalen Volkskongress und zu den territorialen Volkskongressen aller Ebenen, das Organisationsgesetz der VRCh über Volksgerichte, das Organisationsgesetz der VRCh über Staatsanwaltschaften. Diese Organisationsgesetze wurden dann kurz nach der Verfassung von 1982 geändert und vervollständigt. Das neue Organisationsgesetz über den Staatsrat wurde ebenfalls im Jahr 1982 verabschiedet. 42   Z.B. das Forstgesetz (1979), das Strafgesetzbuch (1979), die Strafprozessordnung (1979), das Gesetz über chinesisch-ausländischen Equity Joint Ventures (1979), das vorläufige Gesetz über Umweltschutz (1979), die Verordnung des SANVK über akademische Titel, die vorläufige Verordnung des SANVK über Rechtsanwälte (1980), das Gesetz über die individuelle Einkommensteuer (1980), das Ehegesetz (1980), das Gesetz über Nationalität (1980), das Gesetz über die Einkommensteuer der chinesisch-ausländischen Equity Joint Ventures (1980), das Gesetz über den Wirtschaftsvertrag (1981), das Gesetz über die Einkommensteuer der ausländischen Unternehmen (1981), die vorläufige Zivilprozessordnung (1982), das Gesetz über Handelsmarken (1982), das Gesetz über den Umweltschutz in Ozeanen (1982), das Gesetz über den Schutz der Kulturgegenstände (1982), das Gesetz über Statistik (1983), das Patentgesetz (1984), Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts der VRCh (1986) usw. 43   Zhonggong zhongyang guanyu jianli shehui zhuyi shichang jingli tizhi ruogan wenti de jueding, angenommen von der 3. Plenartagung des XIV. Zentralkomitees der KPCh am 14.11.1993. 44   Zhonghua renmin gongheguo guomin jingji he shehui fazhan „jiuwu“ jihua he 2010 nian yuanjing mubiao gangyao, angenommen von der 4. Sitzung des VIII. NVK am 17.3.2010.

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nach dem 21. Jahrhundert vorantreiben (hiernach „Bericht von 1997“).45 Das Konzept des sozialistischen Rechtsstaates zieht Lehren aus der Kulturrevolution und folgt zugleich den faktischen Erfordernissen der wirtschaftlichen Reform- und Öffnungspolitik, besonders des Auf baus der sozialistischen Marktwirtschaft. Hinzu kam die bereits von Deng Xiaoping hervorgehobene Bedeutung des förmlichen Rechts. Die politischen Überlegungen fordern, dass die sozialistische Demokratie im Sinne des demokratischen Zentralismus gesetzlich festgelegt und durch Gesetze institutionalisiert werden muss. Der sozialistische Rechtsstaat soll vor allem Chaos wie während der Kulturevolution für die Zukunft abwenden. Durch Funktionen des Rechtssystems wie Stabilität, Kontinuität und Autorität der Gesetze sollen gerade auch die Entartung des demokratischen Zentralismus zum Personenkult verhindert werden. In den offiziellen Formulierungen der 1990er Jahren war daher der Auf bau eines Rechtssystems stets mit der Stärkung der sozialistischen Demokratie verbunden: „Der Auf bau der sozialistischen Demokratie und des Rechtssystems müssen gestärkt werden, damit die sozialistische Demokratie institutionalisiert und in Gesetzesform festgelegt werden kann.“46 „Die Entwicklung der Demokratie muss eng mit der Vervollständigung des Rechtssystems verbunden (sein). […] Es muss nach und nach erreicht werden, die sozialistische Demokratie zu institutionalisieren und verrechtlichen.“47 Die allermeisten, nach der Planung und dem Programm von 1996 und dem Bericht von 1997 geführten, theoretischen Diskussionen bezogen sich auch auf das Begriffspaar „Herrschaft durch Gesetze ( fazhi)“ oder „Herrschaft durch Person (renzhi)“ und hoben die unterstützenden und sichernden Funktionen des Rechtssystems für die Stabilität des gegenwärtigen politischen Systems hervor.48 Die andere, wohl stärkere Antriebskraft für ein sozialistisches Rechtssystem ergab sich aus den Bedürfnissen der Reform- und Öffnungspolitik und des Auf baus einer sozialistischen Marktwirtschaft. Im Beschluss von 1993 wurde schon angedeutet: Die Entscheidung für Reform muss sich mit der Entscheidung für Gesetzgebung verbinden. Die Gesetzgebung muss den Geist der Reform widerspiegeln. Die reibungslose Entwicklung der Reform soll durch Gesetze geleitet, vorangetrieben und gewährleistet werden. Die Gesetzgebungsplanung soll gut gemacht werden. Es sollen mit Vorrang die Gesetze ausgearbeitet werden, die sich um die Normierung der Subjekte des Markts, die Sicherung der Marktord45   Gaoju Deng Xiaoping lilun weida qizhi, ba jianshe you zhongguo tese shehui zhuyi quanmian tuixiang ershiyi shiji, gehalten auf der 15. Parteitagung der KPCh am 12.9.1997. 46   Teil 10 Punkt 2 von der Planung und dem Programm von 1996. 47   Teil 10 Paragraph 3 vom Bericht von 1997. 48   Vgl. dazu Buyun Li, Die Herrschaft des Staates durch Gesetze durchsetzen, den sozialistischen Rechtsstaat auf bauen (shixing yifa zhiguo, jianshe shehui zhuyi fazhi guojia), in: Rechtswissenschaft Chinas (zhongguo faxue), 2/1996, 15, 17, 18–19; Anliang Gu, Eine Versuchsdiskussion über den Begriff der Herrschaft des Staates durch Gesetze (shi tan yifa zhiguo de gainian), in: Forum der Politik und des Rechts (zhengfa luntan), 6/1996, 3; Hainian Liu/ Shengping Liu, Das Protokoll der akademischen Konferenz über die Herrschaft des Staates durch Gesetze, den Auf bau des sozialistischen Staates (yifa zhiguo, jianshe shehui zhuyi fazhi guojia yantaohui jiyao), in: Studien zur Rechtswissenschaft (faxue yanjiu), 3/1996, 4; Guohua Sun/Wenyi Huang, Über die Herrschaft des Staates durch Gesetze des Sozialismus (lun shehui zhuyi de yifa zhiguo), in: Rechtswissenschaft Chinas, 6/1998, 14, 18–19; Limin Wang, Auch über die Herrschaft des Staates durch Gesetze (ye tan yifa zhiguo), in: Kritik der Rechtswissenschaft (faxue pinglun), 2/1999, 43; Zongling Shen, Die Herrschaft des Staates durch Gesetze und der Auf bau des sozialistischen Rechtsstaates (yifa zhiguo jianshe shehui zhuyi fazhi guojia), in: Rechtswissenschaft Chinas, 1/1999, 9, 10.

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nung, die Stärkung der Makrosteuerung, die Vervollständigung der sozialen Sicherung, die Förderung der Reform nach außen handeln. […] Es sollen das Rechtsetzungssystem vervollständigt, die Verfahren der Rechtsetzung verbessert und die Rechtsetzung beschleunigt werden, um der Marktwirtschaft Rechtsnormen zu liefern.49 Die Errichtung und Vervollständigung der sozialistischen Marktwirtschaft muss durch ein vollständiges Rechtssystem normiert und gewährleistet werden. Man muss großen Wert auf den Auf bau des Rechtssystems legen, die Übereinstimmung der Reform und Öffnung mit dem Auf bau des Rechtssystems erzielen, und lernen, durch das Mittel des Gesetzes die Wirtschaft zu regulieren. Das Ziel des Auf baus des Rechtssystems ist […], bis zum Ende dieses Jahrhunderts ein der sozialistischen Marktwirtschaft entsprechendes Rechtssystem nach und nach zu errichten.50

Die dienenden Funktionen des Rechtssystems für Reform und Öffnung sowie die Marktwirtschaft wurden in der Planung und dem Programm von 1996 und dem Bericht von 1997 übernommen: Es soll an der Vereinheitlichung zwischen der Reform und Öffnung und dem Auf bau des Rechtssystems festgehalten und die enge Verbindung zwischen der Entscheidung der Reform, der Entscheidung der Entwicklung und der Entscheidung der Gesetzgebung erreicht werden. Es soll großen Wert auf die Gesetzgebung für die Wirtschaft gelegt werden. Die gesunde Entwicklung der sozialistischen Marktwirtschaft muss durch Gesetze geführt, vorangetrieben und gewährleistet werden. Es sollen weiter die Gesetze ausgearbeitet und vervollständigt werden, die sich um die Normierung der Marktsubjekte und die Markthandlungen, die Aufrechterhaltung der Markordnung, die Verbesserung und Stärkung der Marktsteuerung, die Errichtung und Vervollständigung des Systems der sozialen Sicherung, die Förderung der Reform nach außen […] handelt.51 Ausländische Investitionen anzuziehen hängt wesentlich […] von einem vollständigen Rechtssystem ab.52 Die wichtigen Entscheidungen über Reform und Entwicklung sollen sich mit der Gesetzgebung verbinden.53

Der politische und wirtschaftliche Bedarf an Rechtsnormen und die dadurch geförderte Wertschätzung des Rechtssystems und seiner Funktionen schufen ihrerseits ein Bedürfnis nach systematischer, theoretischer Erläuterung und Zusammenfassung und nach einer Theorie der KPCh über Recht, wie sie im Bereich der Wirtschaft die Theorie der „sozialistischen Marktwirtschaft“ darstellt. Die erste versuchende Zusammenfassung findet sich in der Planung und dem Programm von 1996: „Es soll die Herrschaft des Staates durch Gesetze durchgesetzt und ein sozialistischer Staat mit Rechtssystem aufgebaut werden (shehui zhuyi fazhi guojia, 社会主义法制国家).“54 Die Inhalte des Begriffs des sozialistischen Staates mit Rechtssystem basieren wesentlich auf den vier Grundsätzen für den Auf bau des Rechtssystems in der Deng Xiaopings Rede von 1978, werden aber ergänzt durch die Ziele der Verbesserung der exekuti  Paragraph 45 vom Beschluss von 1993.   Paragraph 44 vom Beschluss von 1993. 51   Teil 7 Punkt 7 von der Planung und dem Programm von 1996. 52   Teil 8 Punkt 3 von der Planung und dem Programm von 1996. 53   Teil 6 Paragraph 4 vom Bericht von 1997. 54   Teil 10 Punkt 2 von der Planung und dem Programm von 1996. 49

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ven Gesetzesanwendung, der Stärkung der Überwachung der Gesetzesanwendung, der Vervollständigung der Organisation der Judikative und der Förderung der Verbreitung der Ideen des Rechtssystems usw.55 Auf die terminologische Verwendung des Begriffs des „sozialistischen Staates mit Rechtssystem“ wurde aber schnell verzichtet. Im Bericht von 1997 heißt es: „Es soll die Herrschaft des Staates durch Gesetze durchgesetzt und ein sozialistischer Rechtsstaat aufgebaut werden.“56 Der Begriff des „sozialistischen Staates mit Rechtssystem“ wurde durch den Begriff des „sozialistischen Rechtsstaates (shehui zhuyi fazhi guojia, 社会主义法治国家)“ ersetzt. Zwar scheint es, dass der Begriff des „sozialistischen Rechtsstaates“ durch das Wort „Rechtsstaat“ dem Begriff des Rechtsstaates im westlichen Sinne angenähert sei, und der Unterschied im Wortlaut wurde auch hoch bewertet.57 Inhaltlich unterschied sich der „法治国家 ( fazhi guojia)“ aber kaum vom „法制国家 ( fazhi guojia)“, vor allem weil diese beiden Begriffe gemeinsam durch die vorangestellte „Herrschaft des Staates durch Gesetze“ eingeschränkt sind. Die Bedeutung des „sozialistischen Rechtsstaates“ ist daher letztlich auf die Bedeutung der „Herrschaft des Staates durch Gesetze“ zurückzuführen. So ist „die Herrschaft des Staates durch Gesetze, […] gemäß den Bestimmungen der Verfassung und der Gesetze, durch verschiedene Wege und Formen Angelegenheiten des Staates zu regulieren […] und es ist zu gewährleisten, dass alle Aktivitäten des Staates gemäß Gesetzen stattfinden.“58 Dies ist auch die Bedeutung des sozialistischen Rechtsstaates. Die vorbereitenden Überlegungen der KPCh über den Auf bau des Rechtssystems in den 1990er Jahren führten schließlich zur Hebung des „sozialistischen Staates“ auf die Ebene der Verfassung. Durch den 13. Verfassungszusatz vom 15. März 1999 wurde dem Art.  5 VVRCh ein neuer Absatz eingefügt: „Die Volksrepublik China praktiziert eine Herrschaft des Staates durch Gesetze und errichtet einen sozialistischen Rechtsstaat.“ Die verfassungsrechtlichen Konnotationen des sozialistischen Rechtsstaates sind durch weitere Absätze des Art.  5 erläutert: „Der Staat erhält die Einheitlichkeit und die Würde des sozialistischen Rechtssystems aufrecht“ (Abs.  2); „kein Gesetz, keine administrative oder lokale Rechtsnorm darf im Widerspruch zur Verfassung stehen“ (Abs.  3); „alle Staatsorgane und Streitkräfte, alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen und alle Betriebe und Institutionen müssen die Verfassung und die Gesetze einhalten. Jede Handlung, die der Verfassung oder den Gesetzen zuwiderläuft, muss untersucht werden“ (Abs.  4); „keine Organisation oder kein Individuum darf das Privileg genießen, die Verfassung und die Gesetze zu überschreiten“ (Abs.  5). Ihrem Wesen nach gehen diese Konnotationen nicht über die von der KPCh anerkannten (oder ausgewählten) Werte „Stabilität“, „Autorität“ und „Kontinuität (Einheitlichkeit)“ des Rechtssystems und auch nicht über den Umfang des „sozialistischen Staat mit Rechtssystem“ hinaus. Trotzdem stellt die Verankerung des „sozialistischen Rechtsstaates“ in der Verfassung einen großen Fortschritt dar. 50 Jahre nach der Ausrufung der VRCh werden   Vgl. dazu Teil 10 Punkt 2 von der Planung und dem Programm von 1996.   Teil 4 §  13 vom Bericht von 1997. 57   Vgl. dazu Zongling Shen, Die Herrschaft des Staates durch Gesetze und der Auf bau des sozialistischen Rechtsstaates (yifa zhiguo jianshe shehui zhuyi fazhi guojia), in: Rechtswissenschaft Chinas, 1/1999, 10. 58   Teil 6 §  3 des Berichts von 1997. 55

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zum ersten Mal die Eigenständigkeit des Staates gegenüber der Partei und die Eigenständigkeit des Rechts (der Gesetze) gegenüber den Politik-Normen und den politischen Beschlüssen der Partei durch die Verbindung von „Recht“ und „Staat“ im Wort „Rechtsstaates“ verfassungsrechtlich anerkannt. Der „sozialistische Rechtsstaat“ stellt durch diese beidseitigen Trennungen somit auch den Höhepunkt der Formalisierung der Staats- und Rechtsordnung gegenüber der allein politischen Steuerung durch die Partei dar.

b)  Die Gesetzgebung im Kontext des sozialistischen Rechtsstaates Der sozialistische Rechtsstaat setzt Gesetze voraus. Wie in Deng Xiaopings vier Grundsätzen für den Auf bau des Rechtssystems in seiner Rede von 1978, in denen „es gibt zu befolgende Gesetze (youfa keyi)“ an die erste Stelle gestellt wurde, wurde die Gesetzgebung im Rahmen des sozialistischen Rechtsstaates auch so viel betont wie nie zuvor. Im Bericht von 1997 wurde sogar die Vervollständigung des Rechtssystems (durch Gesetzgebung) mit dem Auf bau des sozialistischen Rechtsstaates gleichgestellt.59 Durch „die Verstärkung der Gesetzgebungsarbeiten und die Erhöhung der Qualität der Gesetzgebung“ setzte der Bericht von 1997 das Ziel fest, „bis 2010 die Errichtung des sozialistischen Rechtssystems chinesischer Prägung zu erzielen“.60 Die Forderungen nach einem Auf bau des sozialistischen Rechtsstaates wurden dementsprechend auch zuerst durch die Formalisierung der Gesetzgebung des Staates umgesetzt. Gerade ein Jahr nach der Einfügung des „sozialistischen Rechtsstaates“ in die Verfassung im Jahr 1999 wurde das Gesetzgebungsgesetz der VRCh (GGG) am 15. März 2000 vom NVK erlassen. Zwar gab es schon vor dem GGG viele Bestimmungen über Gesetzgebung, aber sie waren zerstreut in der VVRCh und manchen Organisationsgesetzen der Staatsorgane. Das Ziel, ein einheitliches Rechtssystem des sozialistischen Rechtsstaates aufzubauen, machte aber auch eine Systematik der Gesetzgebung selbst erforderlich. Das GGG ist das erste Gesetz, das einschlägige Bereiche der Gesetzgebung systematisch regelt. Es umfasst inhaltlich die Einteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen NVK und SANVK, die Gesetzgebungsverfahren des NVK und des SANVK, die Rechtsetzung des Staatsrats und deren Verfahren, die lokale Rechtsetzung, die Festlegung der Formen der Rechtsnormen und deren Rangverhältnisse sowie die Lösung der Konflikte der Rechtsnormen untereinander. Hiermit sollten die schon seit 1978 wiederbelebten und zunehmend aktiven Rechtsetzungstätigkeiten von NVK, SANVK, Staatsrat und anderen Staatsorganen, die häufig an der Unklarheit der Einteilung der Rechtsetzungskompetenzen, den Konflikten der Rechtsnormen verschiedener Ränge, der Überschreitung der zugeschriebenen Rechtsetzungskompetenzen durch die Rechtsetzungssubjekte, dem regionalen und sektoralen Protektionismus der territorialen und ministerialen Rechtsetzungen und weiteren Mängeln litten, von innen heraus formalisiert und rationalisiert werden.61   Teil 4 §  13 vom Bericht von 1997.   Teil 4 §  2 vom Bericht von 1997. 61   Vgl. dazu Cheng Li/Qigang Wan, Über die Probleme in der Rechtsetzung unseres Landes (luelun 59

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3.  Die Grenzen des „sozialistischen Rechtsstaates“ und ihre Einflüsse auf die exekutive Rechtsetzung Abgesehen von inhaltlichen Unterschieden des „sozialistischen Rechtsstaates“ Chi­ nas gegenüber dem „Rechtsstaat“ oder der „rule of law“ im westlichen Sinne, die häufig zu Missverständnissen und zur Verneinung von dessen Rechtsstaatlichkeit führen, hat der mühsam geschaffene sozialistische Rechtsstaat eigene innere Einschränkungen, die der Erfüllung der vom ihm selbst gesetzten Ziele entgegenstehen, nämlich Stabilität, Kontinuität und Autorität des Rechts, die ihrerseits eine formelle Staatlichkeit und somit auch ein formelles Rechtssystem voraussetzen. Diese Einschränkungen sind zum einen auf die dualistische Struktur des „Partei-Staates“, und zum anderen auf die instrumentalistische Vorstellungen von Recht zurückzuführen. Sie stehen häufig in einem Spannungsverhältnis zum Streben nach einer formellen (eigenständigen) Staatlichkeit und einem formellen (eigenständigen) Rechtssystem. Diese Grenzen des sozialistischen Rechtsstaates spiegeln sich vor allem wider in der Gestaltung der Gesetzgebungskompetenz als der wichtigsten Kompetenz des Staates und besonders in der Gestaltung der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats.

a)  Von „weniger Partei mehr Staat“ zu „mehr Partei weniger Staat“ Der Wiederauf bau der Staatlichkeit und des Rechtssystems in der Nach-Mao-Zeit und auch die offizielle und verfassungsrechtliche Formulierung des sozialistischen Rechtsstaates als dessen Höhepunkt bedeuten nicht die Anerkennung des Vorrangs der formellen Staatlichkeit gegenüber der Partei und die Integration der Partei in den Staat, sondern nur die Wiederherstellung des Dualismus von Partei und Staat mit dem Vorrang der Partei, der in der Kulturrevolution zum Monismus der Partei (oder der Person) entartete. Der Auf bau des sozialistischen Rechtssystems war parallel begleitet von der Verstärkung der Führung der Partei als Organisation gegenüber amorphen Kräften der Bewegung. Frage ist nur, ob, es als Paradigma „mehr Partei weniger Staat“ oder „weniger Partei mehr Staat“62 sein sollte. Und die Antwort darauf war in den Phasen des Wiederauf baus des Rechtssystems unterschiedlich. „Weniger Partei mehr Staat“ war das Paradigma in den 1980er Jahren. Rechtshistorisch gesehen zeichnen sich die 1980er Jahren durch die raschen staatlichen Rechtsetzungstätigkeiten aus, die darauf zielten, die in der Kulturrevolution zerstörte formelle Staatlichkeit durch die Form des Gesetzes wieder aufzubauen. Eine Reaktion woguo dangqian lifa zhong cunzai de wenti), in: Rechtswissenschaft in China und Ausland, 2/1996, 43–44; Wangsheng Zhou, Über das Gesetzgebungsgesetz und seinen historischen Hintergrund (lun lifa fa yu qi lishi huanjing), in: Forum für Rechtswissenschaft (faxue luntan), 5/2001, 6, 9–10; Chenxin Wang, Über den heutigen Zustand des Rechtsetzungssystems unseres Landes und dessen Vervollständigung (shilun woguo lifa tizhi de xianzhuang yu wanshan), in: zhongyang zhengfa guanli ganbu xueyuan xuebao, 5/1999, 45; Songshan Liu, Ein Rückblick auf die 30-jährige Staatsgesetzgebung und ihre Perspektive (guojia lifa sanshinian de huigu he zhanwang), in: Rechtswissenschaft Chinas, 1/2009, 40. 62   „Less party more state or more party less state“. Vgl. dazu Larry Catá Backer, The Rule of Law, The Chinese Communist Party, and Ideological Campaigns: Sange Daibiao (The „Three Represents“), Socialist Rule of Law, and Modern Chinese Constitutionalism, in: Journal of Transnational Law and Contemporary Problems 16 (2006), 147–151.

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auf die Katastrophe des Rechts war die „Reform des Führungssystems der Partei und des Staates“ seit Anfang der 1980er Jahre. Als zentrale Aufgabe der Reform des Führungssystems der Partei und des Staates wurde gefordert, den Staat von der Partei zu trennen und die Vertretung des Staates durch die Partei zu beenden.63 Um diese Reform des Führungssystems zu erfüllen, wurden der Sinn und die Funktionen der Gesetzesform gegenüber den Politik-Normen der Partei erheblich hervorgehoben.64 Das neue Verhältnis zwischen Partei und Staat basierte vor allem auf der schon erwähnten Rede Deng Xiaopings von 1980, in der gefordert wurde, dass die Partei nicht in konkrete Angelegenheiten der Staatsregulierung und -verwaltung eingreifen solle, sondern sie den staatlichen Gesetzen und der Regierung überlassen müsse.65 Dies bedeutet zugleich auch die Transformation von einer direkten zu einer indirekten (d.h. politischen, ideologischen und organisatorischen) Führung durch die KPCh. Diese Selbstzurückhaltung oder Selbstdisziplin der Partei gegenüber dem Staat wurde auch im neuen Statut der KPCh von 1982 festgelegt: „Die Partei muss im Rahmen der Verfassung und der Gesetze handeln. Die Partei muss gewährleisten, dass die staatlichen Organe für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Administration […] selbständig […] arbeiten können.“66 Da Gesetze in der Tat nach wie vor von der Partei initiiert und von den von der Partei kontrollierten Gesetzgebungsorganen erlassen werden mussten, bedeutet dies nicht etwa die Überordnung des Staates über die Partei, sondern nur die Anerkennung der formalen Rationalität des Staates sowie der Gesetzgebungsorgane durch die Partei.67 Um die Politik der Partei verbindlich zu machen, muss sie in formalen und eigenständigen Gesetzgebungsverfahren der Gesetzgebungsorgane diskutiert und beschlossen werden; und nur durch so erlassene Gesetze entstehen verbindliche Normen für die Bürger. Der partielle Rückzug der Partei aus dem Staat und der Gesetzgebung schuf ein Modell von „weniger Partei mehr Staat“ in den 1980er Jahren. Die dadurch hervorgebrachten „legal reforms suggest changing party-state relations und a desire to recast party power: to establish a more indirect pattern of rule in which law and state organs play a larger part.“68 Ein westlicher Beobachter missverstand das Zurückziehen der Partei, das von „the rise of lawmaking since 1978“ begleitet war, sogar als „erosion 63   Vgl. dazu Song Pang/Gang Han, Eine historische Untersuchung zum Führungssystem der Partei und des Staates und ein Ausblick auf dessen Reform (dang he guojia lingdao tizhi de lishi kaocha yu gaige zhanwang), in: Sozialwissenschaft in China (zhongguo shehui kexue), 6/1987, 19. 64  Wie Peng Zhen, der damalige Vorsitzende des VI. SANVK sagte: „In der Vergangenheit kannten und betonten wir die Wichtigkeit des Auf baus eines Rechtssystems nicht genug. Nach dem zehnjährigen inneren Chaos sind wir jetzt nüchtern geworden und haben verstanden, dass das Motto ‚keine Gesetze, kein Himmel‘ (wufa wutian)“ der Kulturrevolution nicht funktionieren konnte und wir es unbedingt in Zukunft vermeiden müssen.“ Peng Zhen, Ausgewählte Schriften (Peng Zhen wenxuan), Volksverlag (renmin chubanshe), 1991, S.  492. 65   Deng Xiaoping, Über die Reform des Führungssystems der Partei und des Staates (Fn.  37). 66   §  19 des Allgemeinen Programms des Statuts der Kommunistischen Partei Chinas von 1982. 67  Wie Kevin J. O’Brien, Is China’s National People’s Congress a „Conservative“ Legislature? in: Asian Survey, Volume 30, Issue 8 (1990), 792, schrieb: „The National People’s Congress has been carving out a role for itself as a rationalizer and legalizer of policy – an institution committed to restoring balance and equilibrium to a political system whose motive forces have long been imbalance and disequilibrium.“ 68   Kevin J. O’Brien, China’s National People’s Congress: Reform and Its Limits, in: Legislative Studies Quarterly, Volume 3, Issue 3 (1988), 368.

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of Party control“, und als Annäherung an das „westliche“ Herrschaftsmodell: „The permanent decentralization of policy-making power within the top Party and state decision-making organs is a key process in the transition from an authoritarian system to one which is more open, consultative and ultimately, perhaps, more democratic.“69 Dem trat seit den 1990er Jahren das Motto „mehr Partei weniger Staat“ entgegen. Da die Rechtsreform in den 1980er Jahren selbst von der Partei initiiert und geführt wurde und in großem Maße von der Selbstzurückhaltung und dem Willen der Partei abhing, blieb der von der Partei verliehene Raum für die formelle Staatlichkeit und die staatliche Gesetzgebung trotz mehrfacher Betonung durch die Parteiführer fragil. Das Modell von „weniger Partei mehr Staat“ erfuhr dann zu Beginn der 1990er eine rasche Wende ins Gegenteil. Im Jahr 1991 erließ das Zentralkomitee der KPCh ein wichtiges Dokument bezüglich der Gesetzgebung mit dem Titel „Einige Ansichten über die Verstärkung der Führung über die Arbeiten der staatlichen Gesetzgebung“70, in dem verlangt wurde, dass die Gesetzesinitiativen oder Gesetzesentwürfe in bestimmten Bereichen, vor ihrer Einbringung in den Nationalen Volkskongress oder seinen Ständigen Ausschuss von den zentralen Organen der Partei (dem Zentralkomitee, dem Politbüro oder dessen Ständigen Ausschuss) überprüft und genehmigt werden müssten.71 Anders als die Steuerung der Gesetzgebung in den 1980er Jahren, die sich in dem Sinne auf „politische Führung“ beschränkte,72 sodass die Organe der Partei als solche nicht direkt in die staatlichen Gesetzgebungsarbeiten eingreifen durften, schuf das Dokument von 1991 formell einen vorgeschalteten Prüfungsmechanismus der Partei für die staatliche Gesetzgebung, legitimierte die unmittelbaren 69   Murray Scot Tanner, The Erosion of Communist Party Control over Lawmaking in China, in: The China Quarterly, 138, S.  381–382. 70   Guanyu jiaqiang dui guojia lifa gongzuo lingdao de ruogan yijian. 71   Es hieß in diesem Dokument: Die Gesetzesinitiativen oder die Entwürfe der folgenden Gesetze müssen vom Zentralkomitee überprüft und genehmigt werden: 1. Die Änderung der Verfassung, Gesetzesentwürfe zu wichtigen Fragen der Politik und Gesetzesentwürfe zu besonders wichtigen Fragen der Wirtschaft und der Verwaltung, müssen, vor ihrer Einbringung zur Beratung im Nationalen Volkskongress vom Politbüro (oder dessen Ständigem Ausschuss) und der Plenarsitzung des Zentralkomitee beraten und überprüft werden; Gesetzesvorlagen bezüglich der Änderung der Verfassung, die von anderen gesetzlich festgelegten Organen initiiert werden, sind auch von der Parteigruppe (dangzu) des SANVK oder der Führungsgruppe der Partei im NVK dem Zentralkomitee zur Beratung und Entscheidung vorzulegen; 2. Leitgedanken und Grundsätze der Gesetze im Bereich der Politik sind, vor der Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen von der Parteigruppe des SANVK dem Zentralkomitee zur Überprüfung und Genehmigung vorzulegen; 3. Gesetze im Bereich der Politik und Gesetze in wichtigen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung sind vor ihrer Einbringung zur Beratung im NVK oder im SANVK von der Parteigruppe des SANVK dem Politbüro und dem Zentralkomitee oder dessen Ständigem Ausschuss zur Beratung und Genehmigung vorzulegen; 4. Das Zentralkomitee sorgt für eine einheitliche Führung bei der Arbeit an den Gesetzentwürfen. Alle Gesetzesvorlagen, die vom NVK und SANVK erarbeitet werden, sind durch die Parteigruppe des SANVK dem Zentralkomitee zur Überprüfung und Genehmigung vorzulegen. Die Gesetzesvorlagen, die von anderen Organen entworfen werden und der Einbringung in den NVK zur Beratung bedürfen, sind ebenfalls ohne Ausnahme durch die Parteigruppe des SANVK dem Zentralkomitee zur Überprüfung und Genehmigung vorzulegen. 72   Deng Xiaoping, Über die Reform des Führungssystems der Partei und des Staates (Fn.  37).

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Eingriffe der Organe der Partei in die staatliche Gesetzgebung und erweiterte formell die bisherige Entscheidungsgewalt über die Richtlinien der Politik zur Entscheidungsgewalt über staatliche Gesetze. Zwar beschränkten sich solche Eingriffe nur auf Gesetzgebung in wichtigen Aspekten der Politik und in besonders wichtigen Aspekten der Wirtschaft und der Verwaltung. Sie entzogen aber faktisch dem NVK als dem höchsten Machtorgan des Staates (Art.  57 VVRCh) seine letzte Entscheidungsmacht über die Angelegenheiten des Staates, was die Vertretung des Staates durch die Partei, die die Rechtsreform in den 1980er Jahren mit allen Kräften zu vermeiden versuchte, wiederaufleben ließ. In der Zeit nach dem Dokument von 1991 intensivierte sich die Tendenz zur Kontrolle der Partei über die staatliche Gesetzgebung. Im Beschluss von 1993 wurden nicht nur „die Vervollständigung des Gesetzgebungssystems, die Verbesserung der Gesetzgebungsverfahren, die Beschleunigung der Gesetzgebungsschritte“, sondern auch, als deren Voraussetzung, „die Verstärkung der Führung der Partei über die Gesetzgebungsarbeiten“ hervorgehoben.73 Im für den „sozialistischen Rechtsstaat“ entscheidenden Bericht von 1997, hieß es: „Die Herrschaft des Staates durch Gesetze bedeutet, dass die Volksmasse unter der Führung der Partei gemäß den Bestimmungen der Verfassung und der Gesetze […] die staatlichen Angelegenheiten verwaltet. […] Die Herrschaft des Staates durch Gesetze verknüpft das Festhalten an der Führung der Partei mit dem streng gesetzeskonformen Erledigen von Aufgaben (yange yifa banshi).“74 Die Einfügung des „sozialistischen Rechtsstaates“ in die Verfassung als Höhepunkt der Anerkennung der formalen Staatlichkeit durch die Partei, beeinträchtigte nicht die weitere Überordnung der Partei über den Staat. Im Gegenteil erfuhr das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts eine erhebliche Verstärkung des Modells von „mehr Partei weniger Staat“. Im Bericht auf dem XVI. Parteitag der KPCh von 2002 und auf dem XVII. Parteitag der KPCh von 2007 hieß es: „Die Führung der Partei […] ist eine grundlegende Voraussetzung für die Herrschaft des Staates durch Gesetze, an dieser und an der organischen Einheit der Führung durch die Partei […] muss festgehalten werden.“75 Diese zuvor nicht verwendeten offiziellen Formulierungen zeigten den stärkeren Willen der KPCh, den (Rechts-)Staat zu kontrollieren. Der verfassungsrechtliche sozialistische Rechtsstaat, der als seine wesentlichen Ziele die Werte „Stabilität“, „Kontinuität“ und „Autorität“ des Rechts zu verwirklichen hat, ist seinem Wesen nach formalistisch, was auch bewiesen ist durch Art.  5 Abs.  2–4 VVRCh in ihrer Konkretisierung des Begriffs des sozialistischen Rechtsstaates. Das grundlegende Spannungsverhältnis im System des chinesischen Partei-Staates, nämlich die Spannung zwischen formaler Staatlichkeit und Führung durch die Partei wurde unter dem Modell von „weniger Partei mehr Staat“ durch die Selbstzurückhaltung der Partei, die sich seit 1980er Jahren durchsetzt, gemildert. Dieses Spannungsverhältnis verschärft sich aber mit der Intensivierung der Kontrolle der Partei über den Staat im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, wie sie sich in den Berichten von 2002 und 2007 zeigt. Diese Intensivierung ist eine Herausforde  §  45 vom Beschluss von 1993.   Teil 6 §  3 vom Bericht von 1997. 75   Teil 5 §  2 vom Bericht von 2002; Teil 6 §  2 vom Bericht von 2007.

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rung des theoretischen Fundaments des formalen sozialistischen Rechtsstaates, der am Ende der 1990er Jahre von vielen chinesischen Juristen als Markstein des Rechtsauf baus betrachtet wurde. Dessen Erklärungsunfähigkeit zur Beziehung zwischen der Partei und dem Staat trat offenkundig zutage angesichts der erwähnten Dokumente der Partei zum Gesetzgebungsverfahren. Die Juristen, die sich gegen einen bloß formell interpretierten sozialistischen Rechtsstaat wenden, tendieren dazu, verfassungspolitisch die KPCh als höchste Autorität Chinas anzuerkennen. Methodisch ist dies ein von den real gegebenen Machtverhältnissen ausgehender Ansatz.76 Dies ist seit 2008 die Schule der sogenannten „politischen Verfassungslehre (zhengzhi xianfa xue)“, die sich explizit auf die Verfassungslehre von Carl Schmitt, insbesondere dessen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt bezieht.77 Die politische Verfassungslehre zieht die nach dem Konzept des formellen sozialistischen Rechtsstaats nicht zum staatlichen Recht gehörenden internen Dokumente der KPCh (insbesondere das Statut der KPCh) wieder ins Forschungsfeld der Rechtswissenschaft, nimmt deren gesetzesgleiche normative Geltung an und sucht nach einer hierzu passenden Position der Partei im sozialistischen Rechtsstaat. Dies ist der Versuch einer Dekonstruktion des formalistischen und der Konstruktion eines weniger formellen (materielleren) sozialistischen Rechtsstaats, in welchem das Verhältnis der Partei zum Staat und das Verhältnis von deren internen Dokumenten zur staatlichen Gesetzgebung stimmig erklärt und gemäß dem verstärkten Modell von „mehr Partei weniger Staat“ gerechtfertigt wird. Ein Vertreter der Schule der politischen Verfassungslehre geht von der Theorie der „geschriebenen und ungeschriebenen Verfassung“ aus, stuft das Statut der KPCh als Teil der ungeschriebene Verfassung ein und räumt ihm eine überstaatliche und gegenüber der geschriebenen Verfassung vorrangige Geltung ein.78 Er argumentiert, das Statut der KPCh sei ein organischer Bestand  Schon Anfang des neuen Jahrhunderts wurde dafür plädiert, einen eigenen, nämlich an der politisch-rechtlichen Realität Chinas orientierten Ansatz der Verfassungslehre zu entwickeln, vgl. Dayuan Han, Das Untersuchungsparadigma der Verfassungslehre und die Sinisierung der Verfassungslehre (xianfa xue yanjiu fanshi yu xianfa xue zhongguo hua), in: Rechtswissenschaft (falü kexue), 5/2003, 9: „Um die Legitimität der Verfassung (Chinas) zu studieren, müssen wir von der grundlegenden Struktur der chinesischen Gesellschaft ausgehen.“ 77  Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5.  Aufl., 1970, S.  22: „Die Verfassung gilt nicht kraft ihrer normativen Richtigkeit oder kraft ihrer systematischen Geschlossenheit. Sie gibt sich nicht selbst, sondern wird für eine konkrete politische Einheit gegeben. […] die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt.“ An diesen Ansatz von Carl Schmitt anknüpfend verweist die Schule der politischen Verfassungslehre Chinas auf die Führung der KPCh und ihren Willen als den legitimierenden Geltungsgrund der Verfassung Chinas, um auf diese Weise die überstaatliche und auch über der Verfassung stehende Position der KPCh theoretisch zu rechtfertigen. In einem repräsentativen Aufsatz der Schule der politischen Verfassungslehre schrieb der Autor: „Die chinesische Verfassung ist die Willensentscheidung des chinesischen Volks unter der Führung der KPCh“. „In der Verfassung Chinas gibt es fünf grundlegende Normen, an deren ersten Stelle die Norm von der Führung des Volkes durch die KPCh steht.“ So Duanhong Chen, Über die Verfassung als das grundlegende und höchste Gesetz des Staates (lun xianfa zuowei guojia de genben fa yu gaoji fa), in: Rechtswissenschaft in China und im Ausland (zhongwai faxue), 4/2008, 485, 486; Quanxi Gao, Die Entstehung und Entwicklung der politischen Verfassungslehre (zhengzhi xianfa xue de xingqi yu shanbian), in: Rechtswissenschaft in Jiaoda ( jiaoda faxue), 1/2013, 24: „Die politische Verfassungslehre versucht, den hundertjährigen Konstitutionalismus Chinas, vor allem die Verfassung, die das chinesische Volk unter der Führung der KPCh geschaffen hat, realistisch zu interpretieren. 78  Vgl. Shigong Jiang, Die ungeschriebene Verfassung in der Verfassung Chinas (zhongguo xianfa 76

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teil des Verfassungssystems Chinas, und versucht, durch schwer verständliche Wortkombinationen, die Theorie des sogenannten „der Realität Chinas entsprechenden Partei-Rechtsstaates“, oder des sogenannten „sozialistischen partei-staatlichen Konstitutionalismus chinesischer Prägung“ aufzubauen.79 In seinem Kernpunkt kritisierte er heftig den „Zentralismus der staatlichen Gesetze (guojia fa zhongxin zhuyi)“, verneinte die formelle Staatlichkeit und die Eigenständigkeit der Gesetze80 und versuchte, den Raum für die Dokumente der Partei innerhalb des normativen Rechtssystems zu öffnen und zugleich ihre gesetzübertreffende Stellung zu begründen.81 Diese die KPCh gewissermaßen als Obrigkeit verstehende theoretische Strömung der politischen Verfassungslehre deutet sich auch im „Beschluss des Zentralkomitees der KPCh über einige wichtige Probleme bezüglich des allseitigen Vorantreibens der Herrschaft des Staates durch Gesetze (23. Oktober 2014, hiernach Beschluss von 2014)“82 an, in dem der faktische Kontrollanspruch der Partei über den (Rechts-) Staat seinen Höhepunkt erreicht hat. Als den ersten Grundsatz des Auf baus des sozialistischen Rechtsstaates legt der Beschluss von 2014 das Festhalten an der Führung durch die Partei fest und betont diese Führung in präzedenzloser Deutlichkeit: Die Führung durch die Partei ist das wichtigste Wesensmerkmal des Sozialismus chinesischer Prägung und die fundamentalste Garantie für den sozialistischen Rechtsstaat. Es ist eine Grunderfahrung beim Auf bau des sozialistischen Rechtsstaates unseres Landes, die Führung durch die Partei im ganzen Prozess und in allen Bereichen der Herrschaft des Staates durch zhong de buchengwen xianfa), in: Öffnungszeit (kaifang shidai), 12/2009, 24: „Um das Funktionieren des Konstitutionalismus in der Realität Chinas zu verstehen, muss man vor allem […] die Führung der KPCh als das erste grundlegende Gesetz (diyi genben fa) […] und das Statut der KPCh als das grundlegende, große Gesetz (genben dafa) verstehen. Aus der Perspektive der formalistischen Verfassungslehre ist das Statut der KPCh nur normatives Dokument, das die Partei normiert, und gehört zu inneren Rechtsnormen der Partei; es ist kein Dokument von Gesetzesnatur, auch kein Dokument von Verfassungsnatur. Aber bezüglich seiner Funktion und Stellung im Leben des Konstitutionalismus Chinas, ist die wirkliche Geltung des Statutes der KPCh wichtiger als die der geschriebenen Verfassung.“ Zusammenfassend versuchte er also die These „Party leadership as the absolute constitution“ zu begründen; vgl. dazu Heike Holbig, China’s Unwritten Constitution: Ideological Implications of a „Non-Ideological“ Approach, in: The German Journal on Contemporary Asia, 2014, S.  56; Donald C. Clarke, New Approaches to the Study of Political Order in China, in: Modern China, 36(1), 2010, S.  93, 97. „Jiang’s essential argument is that it is too formalistic to complain that China has „a constitution without constitutionalism,“ because this complaint focuses on the written constitution.“ „Jiang’s article is a welcome call for more realism and less formalism in the study of what might broadly be termed the Chinese constitutional order.“ 79   Vgl. dazu Shigong Jiang, Das Statut der Kommunistischen Partei Chinas und die Verfassung: Der Auf bau einer pluralistischen, einheitlichen Republik des Rechtsstaates (dangzhang yu xianfa: duoyuan yiti fazhi gongheguo de jiangou), in: Längs und Quer der Kultur (wenhua zongheng), 4/2015, 18, 22, 27. Zu einem ähnlichen Verständnis eines „dualistischen Konstitutionalismus mit der Koexistenz der Verfassung und des Statuts der KPCh“ siehe Huaqing Ke/Rong Liu, Über den Konstitutionalismus unter der Führung der Partei (lun lixian dang dao zhi), in: Strategie und Regulierung (zhanlue yu guanli), 7/2015. 80   Shigong Jiang, Das Statut (Fn.  79), S.  19: „Die auf dem Zentralismus der staatlichen Gesetze basierende formalistische Auffassung über Rechtsstaat betont einseitig […] die Autoritätsstellung der staatlichen Gesetzgebung, übersieht aber die Vorschriften und Gesetze der Partei […].“ 81   Shigong Jiang, Das Statut (Fn.  79) S.  22: „Richtlinien, Direktiven und Politik (der Partei) bilden ein normatives System, ein System ‚ranghöherer Gesetze‘, das über staatlichen Gesetzen steht.“ 82   Zhonggong zhongyang guanyu quanmian tuijin yifa zhiguo ruogan zhongda wenti de jueding, angenommen von der 4. Plenartagung des XVIII. Zentralen Komitees der KPCh.

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Gesetze durchzusetzen. Die Führungsrolle der KPCh ist in der Verfassung unseres Landes verankert. Das Festhalten an der Führung durch die Partei ist die grundlegende Forderung der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit. Die Führung durch die Partei bildet auch die Grundlage und Lebenskraft der Partei und des Landes, dient dem Interesse und Wohlergehen der Bevölkerung aller Nationalitäten des ganzen Landes und stellt den unentbehrlichen Sinngehalt zur umfassenden Durchsetzung der Rechtstaatlichkeit dar. Die Führung durch die Partei und die sozialistische Rechtsstaatlichkeit stehen in Einklang miteinander. Zur Realisierung der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit muss an der Führungsrolle der Partei festgehalten werden, und die Führung durch die Partei muss sich auf die sozialistische Rechtsstaatlichkeit stützen.83

Bezüglich der Gesetzgebung übernimmt der Beschluss von 2014 die wesentlichen Inhalte von „einigen Ansichten über die Verstärkung der Führung über die Arbeiten der staatlichen Gesetzgebung“ von 1991 und sieht intensivere Eingriffe in die staatliche Gesetzgebung vor: Es muss die Führung der Partei über die Gesetzgebungsarbeiten verstärkt werden […]. Solange es sich bei der Gesetzgebung um die Änderung der wichtigen Institutionen und der wichtigen Politik handelt, sind diesbezügliche Probleme der Zentralen Komitee der Partei zur Beratung und Entscheidung vorzulegen. […] Wichtige Probleme in der Ausarbeitung und Änderung der Gesetze müssen von der Parteigruppe des NVK der Zentralen Komitee berichtet werden.84

Auch wenn die formale Trennung von Partei und Staat in diesem Dokument nicht abgeschafft wird – nicht der NVK, sondern die Parteigruppe des NVK wird adressiert, verschärft sich das Spannungsverhältnis zwischen der Führung der Partei und der Eigenständigkeit der formellen Staatlichkeit durch die steigende Betonung der Position der Partei. Sowohl realpolitisch als auch normativ gesehen, wurde die verfassungsrechtlich anerkannte herrschende Stellung der Partei über den Staat auch im Modell von „weniger Partei und mehr Staat“ nicht verneint. Es ist auch folgerichtig, dass die KPCh als allein herrschende Partei ihren Führungsanspruch über die Gesetzgebung behauptet und sich auch auf den Inhalt der staatlichen Gesetzgebung bezieht. Die Kernbedeutung des sozialistischen Rechtsstaates besteht auch nicht darin, solche Führungsansprüche der Partei zu verwerfen, sondern in der Aufrechterhaltung der formalistisch verstandenen Stabilität, Kontinuität und Autorität des Rechtssystems vor allem durch die Selbstbindung der Partei an staatliche Gesetze, die Beachtung der formellen Rechtsetzungsverfahren und die Beseitigung der politischen Rechtsnormen der Partei als direkt verbindlicher Handlungsnormen für Bürger und Gesellschaft. Aber wie schon dargestellt, basieren die sozialistische Rechtsstaatlichkeit und der in ihr errungene fragile Ausgleich zwischen Partei und Staat im Kern auf der Selbstzurückhaltung der KPCh. Das verstärkte Modell von „mehr Partei und weiniger Staat“ bedeutet aber schon den Verzicht auf den bisherigen zurückhaltenden Standpunkt der Partei. Der Beschluss von 2014 fordert zwar auch, dass die Herrschaft durch die Partei sich auf die   Teil 1 §  9 vom Beschluss von 2014. Damit wird doch aber anerkannt, dass zwar die Partei die Gesetzgebungsorgane führt, dass aber die Umsetzung nach außen der Gesetze bedarf. Damit wäre die Führung der Partei ein Internum des Staates. 84   Teil 2 §  5 vom Beschluss von 2014. 83

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sozialistische Rechtsstaatlichkeit stützen muss und die Führung der Partei über Staat und Gesellschaft in Form der formellen Rechtsetzung realisieren soll. Aber verglichen mit dieser eher indirekten Funktion entfaltet die nachdrückliche Betonung der überstaatlichen Position der Partei eher negative Wirkungen den in den oben zitierten Worten Deng Xiaopings ausgedrückten Sinn sozialistischer Rechtsstaatlichkeit, die Staatstätigkeit im Interesse rationaler Führung den Staatsorganen zu überlassen. Wie die Rechtsgeschichte seit der Ausrufung der VRCh zeigt, wurde eine Phase, in der die herrschende Position der Partei überbetont wurde, auch eine katastrophale Phase für den Staat und das staatliche Rechtssystem.

b)  Das wirtschaftsaufbau-orientierte instrumentalisierte Rechtsverständnis Das instrumentalistische Rechtsverständnis ist sowohl der Rechtstradition Chinas, die sich durch den Dualismus von li und fa auszeichnet85, als auch der marxistisch-leninistische Staats- und Rechtslehre86, nicht fremd. In der Nach-Mao-Zeit blieb das Recht zwar nach wie vor ein Mittel vor allem für die Sicherung der Herrschaft der Partei87 und der politischen Stabilität88. Jedoch mit „Verlagerung des Mittelpunkts der Arbeit der ganzen Partei auf den Wirtschaftsauf bau und die Reform und Öff85   Das traditionelle Rechtsverständnis (oder Moralverständnis) Chinas geht allgemein von der Trennung von „li (礼, Ritual)“ und „fa (法, Gesetz)“ aus. Li ist „eine Abspiegelung der kosmischen Ordnung, wird von den vorbildlichen alten Königen der Vergangenheit den Himmelgesetzen abgelauscht und durch eine lange Tradition verfestigt. Es ist nicht veränderbar und bedeutet Herrschen durch die unwiderstehliche Kraft des guten Vorbilds. Es dient zur Anpassung des individuellen/sozialen Verhaltens an die ‚Gesetze des Himmels‘, bringt Tugend hervor sowie Scheu und Scham, schafft Harmonie und Frieden und motiviert zu freiem inneren Gehorsam.“ Fa wird hingegen „von den jeweils jetzigen Herrschern gesetzt und ist den Notwendigkeiten der Entwicklung anzupassen. Es ist Ausfluss der staatlichen Gewalt, dient zur Anpassung des individuellen/sozialen Verhaltens an das im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts verfasste Recht. Fa schafft Ordnung und Befriedung, bedeutet Herrschen durch Gesetz und Verwaltung. Es führt zu äußerem Gehorsam, indem es belohnt und straft,“ so Oskar Weggel, Chinesische Rechtsgeschichte, 1980, S.  17–18. Fa orientiert sich an der li und gewährleistet die Durchsetzung der li durch seine Sanktionsfunktion und Abschreckungswirkung. Vgl. dazu Harro von Senger, Einführung in das Chinesische Recht, 1994, S.  20; Robert Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde, 2002, S.  71. 86   Wie eine Kernaussage der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtslehre lautet: „Die aus den gemeinsamen Interessen einer Klasse hervorgehenden Ansprüche können nur dadurch verwirklicht werden, dass diese Klasse die politische Macht erobert und ihren Ansprüchen allgemeine Geltung in Form von Gesetzen verschafft. Jede kämpfende Klasse muss also ihre Ansprüche in der Gestalt von Rechtsforderungen in einem Programm formulieren.“ Vgl. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd.  21, 1972, S.  509. 87   Karen G. Turner/James V. Feinerman (Hrsg.), The Limits of the rule of law in China, 2000, S.  26, 27: „Law as an instrument of Party control“. 88   Vgl. dazu Youyu Zhang, Über die Vervollständigung des sozialistischen Rechtssystems (lun jianquan shehui zhuyi fazhi), in: Sozialwissenschaft in China (zhongguo shehui kexue), 6/1981, 10–14; Hainian Liu/Shengping Liu, Das Protokoll der akademischen Konferenz über die Herrschaft des Staates durch Gesetze, den Auf bau des sozialistischen Staates (yifa zhiguo, jianshe shehui zhuyi fazhi guojia yantaohui jiyao), in: Studien zur Rechtswissenschaft (faxue yanjiu), 3/1996, 15. Perry Keller, Sources of Order in Chinese Law, Am. J. Comp. L. 42 (1994), 713: „In a further break with the policies of Mao Tse-tung, the leadership included legal modernization within their program of reform. … the recon­ struction of legal order offered protection against further political instability.“

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nung“89 wurde die dienende Funktion des Rechts für die Verwirklichung der streng politischen Ideologie (wie des Klassenkampfs als Programms90 in der Kulturrevolution) erheblich gemildert. In der neuen Zeit von „Economics in Command“91 muss das Recht sich mehr mit den konkreten, fachlichen und technischen Fragen im Wirtschaftsauf bau konfrontieren, die nicht bloß durch rein politisch-ideologische Belehrung gelöst werden können,92 sondern fachlicher und sorgfältiger Behandlung in Form der Rechtsnormen bedürfen.93 Die Reform und Öffnung unter den Bedingungen wirtschaftlicher Globalisierung macht auch erforderlich, dass die Gesetze Chinas an die des Westens anschlussfähiger sein müssen. Die offizielle Festlegung der Theorie der sozialistischen Marktwirtschaft im Jahr 1993 bedeutete die erfolgreiche Wende von dem rein politisch-orientierten instrumentalistischen Rechtsverständnis zu seinem wirtschaftlichen Typus.94 Eben die entscheidende dienende Funktion des Rechts für Wirtschaftsauf bau bildete in Kern die grundlegende Antriebskraft für die Rechtsreform95 und führte schließlich zur verfassungsrechtlichen Anerkennung des „sozialistischen Rechtsstaates“. Dass das Recht, besonders in der rechtspositivistischen Epoche, zur Verwirklichung bestimmter (ethischer oder politischer) Werte, oder allgemein zur Verwirklichung der sozialen Regulierung dient, und in diesem Sinne ausnahmslos instrumentalistisch verstanden werden kann, steht auch im westlichen Rechtskonzept von demokratischer Herrschaft außer Frage und stellt keine „Grenze“ für den Rechtsstaat dar. Trotz der (besonders politischen) Unterschiedlichkeit der durch Recht zu verwirklichenden Werte im Westen und in China, ist das chinesische instrumentalistische Rechtsverständnis grundsätzlich nicht zu beanstanden. Eine besondere Heraus  Das Kommuniqué der 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KPCh von 1978.   Yi jieji douzheng weigang (以阶级斗争为纲). 91  Siehe Stuart R. Schram, „Economics in Command?“ Ideology and Policy since the Third Plenum, 1978–1984, in: The China Quarterly 99 (1984), 417–461. 92  Vgl. Stanley B. Lubman, Bird in a Cage: Legal Reform in China After Mao, 1999, S.  140–141: „Although the CCP remains supreme in the Party-state, the growing number and complexity of problems that are constantly appearing demand specific legislative solutions rather than general policy pronouncements.“ 93  Vgl. Stanley B. Lubman, Bird in a Cage: Chinese Law Reform after Twenty Years, 20 Nw. J. Int’l L. & Bus. 383 (1999), S.  386: „To give concrete form to economic reforms, the Chinese state has generated an extraordinary amount of legislation.“ 94   §  4 4 vom Beschluss von 1993: „Es soll die Gesetzgebung über Wirtschaft beschleunigt […] und bis zum Ende dieses Jahrhunderts ein der sozialistischen Marktwirtschaft entsprechendes Rechtssystem aufgebaut werden.“ „Es soll das Gesetzgebungssystem vervollständigt, das Gesetzgebungsverfahren verbessert und der Gesetzgebungsschritt beschleunigt werden, um der sozialistischen Marktwirtschaft Rechtsnormen zu liefern.“ 95   Es wäre willkürlich zu sagen, alle Gesetze in China müssen unmittelbar dem Wirtschaftsauf bau dienen und können nur wirtschaftlich orientiert interpretiert werden. Richtig ist aber, dass der Wirtschafsauf bau einen grundlegenden Kontext für das Schaffen eines vollständigen Rechtssystems bildet. Die Gesetzgebung im Bereich der Wirtschaft initiierte den Auf bau des Rechtssystems und ermöglichte die Erweiterung der Gesetzgebung auf andere, nicht-wirtschaftliche Bereiche, wie es im Beschluss von 1993 formuliert wurde: „Es soll die wirtschaftliche Gesetzgebung beschleunigt und das Zivil- und Handelsrecht, das Strafrecht und das Recht über Staatsorgane und Verwaltung und Regulierung weiter vervollständigt werden, damit bis zum Ende dieses Jahrhunderts ein der sozialistischen Marktwirtschaft entsprechendes Rechtssystem geschaffen werden kann.“ (§  44) Und „es soll rechtzeitig Gesetze und Verordnungen ändern oder auf heben, die dem System der sozialistischen Marktwirtschaft nicht entsprechen.“ (§  45). 89

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forderung für die sozialistische Rechtsstaatlichkeit bildet aber der wirtschaftsaufbau-orientierte Typus dessen. In der Reform- und Öffnungszeit zeichnet sich die Wirtschaftspolitik der KPCh durch ihre stark experimentellen Merkmale aus.96 Wegen der (Über-)Betonung der dienenden Funktion des Rechts für die Realisierung der Wirtschaftspolitik der Partei bringt auch das Recht stark experimentelle Merkmale mit sich. Dies erleichtert die Ersetzung von Recht durch wirtschaftliche Beschlüsse der Partei, was die Autorität der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit verletzt, und führt zu häufiger Änderung des Rechts, was die Aufrechterhaltung der Stabilität, Kontinuität des Rechtssystems schwierig macht. Drittens erschwert es die innere Formalisierung der staatlichen Rechtsetzung besonders bezüglich des Verhältnisses zwischen NVK (SANVK) und dem Staatsrat. Wegen der einfacheren und leichter handhabbaren Verfahren der exekutiven Rechtsetzung, die der Umsetzung der flexiblen wirtschaftlichen Politik der Partei besser entsprechen können, liegt der Schwerpunkt der staatlichen Rechtsetzung nicht bei den eigentlichen Gesetzgebern (NVK und SANVK), sondern wohl dauerhaft beim Staatsrat.

c)  Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats als das Ergebnis des Zusammenwirkens von politischer Anti-Formalisierung und wirtschaftlich-fachlicher Formalisierung Wie oben ausgeführt, zeigen sich in der Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaates Chinas zwei Tendenzen. Verfassungstheoretisch und in der Programmatik der KPCh erhält das Modell von „mehr Partei weniger Staat“ gerade hinsichtlich der Kontrolle der Partei über die staatliche Gesetzgebung eine klare Gestalt, welche die Trennung des Staates von der Partei und die entsprechende Trennung der staatlichen Gesetze von den politischen Beschlüssen der Partei gefährdet. Andererseits verstärken sich die wirtschaftspolitischen und generell mit der Modernisierung verbundenen immanenten Anforderungen an das Recht als Steuerungsmedium mit der Folge, dass die fachliche Gesetzgebung in der modernen Gesellschaft immer mehr Autonomie und Eigenständigkeit gewinnt. Es ist die exekutive Rechtssetzung des Staatsrates, in welcher die Spannung von politischer, gewissermaßen von außerhalb des Rechts wirkender und insofern informeller Steuerung und die aus den Notwendigkeit der Modernisierung und der globalisierten Wirtschaft erwachsende Autonomie des stärker formalen Rechtssystems aufeinandertreffen und ihr gemeinsames Ak­ tions­feld finden.

(1)  Die exekutive Rechtsetzung als Aktionsfeld für die unmittelbare Einwirkung der Partei Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats zeichnet sich aus durch ihr vereinfachtes und meistens nicht-öffentliches Rechtsetzungsverfahren, durch schnelle Reaktion auf die Probleme in der Übergangsphase seit der Reform und Öffnung, durch häufi96  Siehe Sebastian Heilmann, Policy Experimentation in China’s Economic Rise, in: Studies in Comparative International Development (2008) 43, 1–26.

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ge Änderung und Instabilität sowie durch niedrigere formale Anforderung an die Gesetzessprache und die Rechtsetzungstechnik. Diese nicht-formalen Merkmale stimmen in hohem Maße mit der Formulierung der Politik der Partei überein, die auch starke nicht-formale Elemente enthält.97 Anders als die Gesetzgebung von NVK und SANVK, die vergleichsweise mit mehr Öffentlichkeit und in formelleren Verfahren stattfindet98 stellt die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats ein anwendungsfreundlicheres Mittel für die Partei dar, um in der Verwaltung und Regulierung des Staates stets anwesend sein zu können. Die exekutive Rechtsetzung erleichtert also die direkte Kontrolle über staatliche Angelegenheiten durch die Partei auch in einer formalisierten und rationalisierten Staats- und Rechtsordnung. Sie ist daher das eher nichtformale Element in der zentralen Rechtsetzung, auf welches die Partei auch unter den Anforderungen der Reform und Öffnung kaum verzichten wird. Diese Tendenz der Partei und ihre ungebrochene Kontrolle über die exekutive Rechtsetzung zeigen sich in dem langfristig stagnierenden Formalisierungsprozess der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats. Sie wurde als dessen Kompetenz erstmals in der Verfassung von 1982 geregelt. Das Hauptziel war diese auch schon vor 1978 tatsächlich ausgeübte exekutive Rechtsetzungsmacht in die wiederaufgebaute und rechtlich stärker formalisierte Staatlichkeit zu integrieren. In der Verfassung von 1982 ist der Staatsrat als „die vollziehende Körperschaft des höchsten Organs der Staatsmacht und das höchste Organ der Staatsverwaltung“ (Art.  85) festgelegt und kann exekutive Rechtsnormen „in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Gesetzen“ (Art.  89 Abs.  1) erlassen. Die verfassungsrechtliche Festlegung der exekutiven Rechtsetzung sowie die Festlegung ihrer sekundären Stellung gegenüber der Gesetzgebung von NVK und SANVK hätte eine Rationalisierung im der System der staatlichen Rechtsetzung und eine Stärkung des NVK als des eigentlich vorrangigen Gesetzgebers bedeuten können. Dies mögliche Ziel erfüllte sich aber nicht. Die Bestimmungen über die exekutive Rechtsetzung in der VVRCh, verzichten auf jeg­ liche Einschränkung außer dem Vorrang der Verfassung und der Gesetze, die aber ihrerseits mangels handhabbarer rechtlicher Kontrolle leerläuft. Im Jahr 1989 wurde das Gesetz der VRCh über die Verwaltungsklage (GüVK)99 erlassen, welches von vielen Juristen, ausgehend von seiner vermuteten einschränkenden und verrechtlichenden Funktion auch gegenüber der großen exekutiven Macht des Staatsrats, als ein großer Fortschritt im Ausbaus des sozialistischen Rechtssystems angesehen wurde. Ausgenommen von den Klagegegenständen sind jedoch 97   Vgl. dazu Harro von Senger, Einführung in das Chinesische Recht, 1994, S.  201; Stanley B. Lubman, Bird in a Cage (Fn.  92), S.  147: „Party rule is marked by a tentativeness, rooted philosophically in the Maoist emphasis on experimental policy innovations and the need to adapt policy implementation to specific local conditions.“; Xin He, The Party’s Leadership as a Living Constitution in China, http:// papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2026308, S.   5: „The decisions are still made behind ­closed doors and there are no detailed procedures for the proceedings.“ 98   Während des Auf baus des sozialistischen Rechtssystems und vor allem des späteren sozialistischen Rechtsstaates werden auf die Gesetzgebung von NVK und SANVK große Werte gelegt. Im Gesetzgebungsgesetz von 2000 (§§  7–41) sowie im Organisationsgesetz des NVK von 1982 (§§  1–38) sind die Gesetzgebungskompetenz und Gesetzgebungsverfahren relativ ausführlich geregelt. Der Formalisierungsgrad der Gesetzgebung von NVK und SANVK übertrifft den der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats weitaus. 99   Zhonghua renmin gongheguo xingzheng susong fa.

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die exekutiven Rechtsnormen des Staatsrats (§  13 Abs.  2 GüVK), die einen großen Teil ausmachen. Und auch nach der Änderung des GüVK im Jahr 2012 bleiben sie weiter der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Das Gesetzgebungsgesetz von 2000 regelt in sieben Paragraphen,100 vor allem die in der VVRCh festgelegten Befugnis des Staatsrats zur exekutiven Rechtsetzung ergänzend zu erweitern – einschränkende Bestimmungen blieben erspart. Die jüngste Änderung des GGG im Jahre 2015 änderte daran nichts.101

(2)  Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats als Umsetzung der Anforderungen von Modernisierung und wirtschaftlicher Globalisierung Nach dem wirtschaftsbau-orientierten instrumentalistischen Rechtsverständnis besitzt der sozialistische Rechtsstaat zwar nur begrenzte Eigenständigkeit. Das Rechtssystem erfordert aber aufgrund der wirtschaftspolitischen Notwendigkeit der Regulierung und Verwaltung einer sich seit der Reform und Öffnung wirtschaftlich und technisch rasch wandelnden Gesellschaft Chinas immer mehr Autonomie und Formalisierung. Um sich in dieser modernen, immer komplex gewordenen Gesellschaft realisieren zu lassen, bedarf die Politik der Partei fachlicher Formulierung und Behandlung durch wissenschaftliche und positive Gesetzessprache in der Gesetzgebung. Das Ideal der umfassenden und unmittelbaren Kontrolle der Gesellschaft durch die Partei findet seine Grenze in der immanenten fachlichen Rationalität des Rechts, die ihrerseits zur Erreichung der Modernisierungsziele unvermeidbar ist. Verglichen mit NVK und SANVK leistet die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats eine wichtige Aufgabe der Formalisierung des Rechtssystems. Die Modernisierung und wirtschaftliche Öffnung erfordern, dass die staatlichen Rechtsnormen neu auftretende, wirtschaftliche und technische Probleme in der Reform- und Öffnungszeit so effizient und zielgenau wie möglich regulieren. Der NVK und der SANVK sind zwar die höchsten Gesetzgeber Chinas, halten aber an der Maxime „Gesetzgebung soll grob statt detailliert sein (lifa yicu buyi xi)“102 fest, um tentativen Bemühungen zur Durchsetzung der Reform und Öffnung und dem Aufbau der sozialistischen Marktwirtschaft den notwendigen Spielraum zu geben. Auch sind NVK und SANVK wegen der fehlenden Fachleute und Gesetzgebungserfahrungen und -techniken nicht in der Lage, alle Gesetze mit der erforderlicher Regulierungsintensität und -genauigkeit für die sich rasch wandelnde Wirtschafts- und Technikgesellschaft auszuarbeiten. In der Transformationsphase seit der Reform und Öffnung besteht daher das Hauptziel der Gesetzgebung von NVK und SANVK nur darin, einen grundlegenden Rahmen für das Staats- und Gesellschaftsleben zu liefern.   §§  56–62 GGG von 2000.   Vgl. dazu Xiaodan Zhang, Die Änderung des Gesetzgebungsgesetzes der VRCh und die „neue Normalität“ der Gesetzgebung in China, in: VRÜ 48 (2015), S.  460–461. 102   Vgl. dazu Deng Xiaoping, Das Denken befreien, die Wahrheit in den Tatsachen suchen und mit dem Blick in die Zukunft einig zusammenstehen, in: Deng Xiaopings ausgewählte Schriften (Fn.  36), S.  177. 100 101

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Im Vergleich dazu leistet der Staatsrat die weitaus überwiegenden staatlichen Verwaltung- und Regulierungsarbeiten und besitzt daher ausreichende Erfahrungen für die Rechtsetzung. Gleichzeitig ist er durch seine ihm nachgeordnete Ministerialorganisation mit ausreichenden Fachkräften versehen und kann die zu regelnden Gegenstände rechtsprachlich fachlicher formulieren und hierfür zielgenauere Regelungen treffen. In einer Übergangsphase, in der Pragmatismus und tentative Vorgehensweise im Auf bau des Staats- und Rechtssystem herrschen, ist die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats wegen ihrer einfachen Ausarbeitung- und Änderungsverfahren auch anpassungsfähiger für schnelle Reaktionen auf wirtschaftliche und technische Probleme in der Gesellschaft.

IV.  Funktion und Rechtsgrundlagen der Rechtsetzung des Staatrats im gegenwärtigen Recht Chinas Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats ist wegen der geringen Verfahrensanforderungen und der Nähe des Staatsrates zur Partei weitaus weniger formalisiert als die Gesetzgebung von NVK und SANKV. Sie ist aber wegen der sogleich noch näher zu erläuternden verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen dennoch formelle staatliche Rechtsetzung. Insofern kann sie als Vermittlung zwischen den Antiformalisierung- und Formalisierungskräften in der gegenwärtigen Phase des sozialistischen Rechtsstaats begriffen werden: Einerseits verhindert sie die völlige Ersetzung förmlicher staatlicher Rechtssetzung durch Parteidirektiven auch im verstärkten Modell von „mehr Partei weniger Staat“, indem der Staatsrat aktiv die exekutive Rechtsetzung ausübt, in der die Fachlichkeit und Rationalität des Rechts zum Ausdruck kommt und dadurch die Eigenständigkeit des Rechtssystems gewissermaßen gesichert ist. Andererseits eröffnet sie die Möglichkeit, dass die Partei faktisch direkt in die staatliche Verwaltung und Regulierung eingreifen kann und somit die Realität Chinas gemäß dem Modell „mehr Partei weniger Staat“ berücksichtigt und den Herrschaftsanspruch der KPCh im großen Maße realisiert. Diese spezielle Funktion der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats trägt zu ihrer langfristig dominierenden Stellung in der staatlichen Rechtsetzung103 bei und prägt die gesamte Gestalt des sozialistischen Rechtsstaates. Dies zeigt sich auch in der Entwicklung ihrer rechtlichen Grundlagen. Die förmliche Ermächtigung des Staatsrates 103   Ein Hinweis dafür kann die Zahl der jeweils von NVK und SANVK und Staatsrat erlassenen Rechtsnormen sein: Von 2.6.1978 bis 4.4.2016 arbeitete der NVK und der SANVK insgesamt 693 Gesetze (inklusive noch deren Änderungen) aus. (Diese Statistik stammt aus der Datenbank „Beida fabao“ (http://www.pkulaw.cn/), unter der Kategorie „效力级别 — 法律 — 法律“, von Nr.  0 01 (http:// www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid=266755&keyword=&EncodingName=&Search_ Mode=accurate) bis Nr.   693 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid=44705&key word=&EncodingName=&Search_Mode=accurate), zuletzt besucht am 4.4.2016) Im Vergleich dazu erließ der Staatsrat im gleichen Zeitraum insgesamt 1413 exekutive Rechtsnormen. (Diese Statistik stammt aus der Datenbank „Beida fabao“ (http://www.pkulaw.cn/), unter der Kategorie „效力级别 — 行政法规 — 行政法规“, von Nr.  0 001 (http://www.pkulaw.cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid= 267399&keyword=&EncodingName=&Search_Mode=accurate) bis Nr.   1413 (http://www.pkulaw. cn/fulltext_form.aspx?Db=chl&Gid=442&keyword=&EncodingName=&Search_Mode=accurate), zuletzt besucht am 4.4.2016).

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zur Rechtsetzung findet sich erstmals in der Verfassung von 1982. Nach der Einfügung des „sozialistischen Rechtsstaats“ in die Verfassung wurde sie vom GGG von 2000 erweitert und durch die jüngste Änderung des GGG vom 15. März 2015 weiter geregelt. Gemäß dem GGG gibt es nun drei nach der Art ihrer Rechtsgrundlage unterschiedliche Arten von exekutiver Rechtsetzung des Staatsrats.

1.  Die verfassungsunmittelbare exekutive Rechtsetzung des Staatsrats – eine durch exekutive Macht begründete Rechtsetzungsmacht Art.  89 Abs.  1 VVRCh regelt: „Der Staatsrat kann gemäß der Verfassung und den Gesetzen […] exekutive Rechtsnormen erlassen.“ Ob diese Bestimmung schon eine verfassungsunmittelbare exekutive Rechtsetzungsmacht des Staatsrats begründet, blieb vor dem GGG von 2000 umstritten. Die Juristen, die die Einschränkung der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats und einen Gesetzesvorbehalt für die exeku­ tive Rechtsetzung befürworten, tendierten dazu, diese Bestimmung streng zu interpretieren und neben der inhaltlichen Bindung an die Verfassung eine Gesetzesgrundlage zu verlangen. Diese eher am westlichen Rechtsstaat orientierten Überlegungen wurden aber obsolet aufgrund des GGG von 2000, welches die Bedeutung von „gemäß der Verfassung“ im Art.  89 Abs.  1 VVRCh konkretisierte. §  56 Abs.  2 Nr.  2 GGG von 2000 regelt: „Exekutive Rechtsnormen des Staatsrats können zu Angelegenheiten, in denen der Staatsrat gemäß der Bestimmung des Art.  89 der Verfassung die Verwaltungskompetenz hat, Bestimmungen treffen.“ In dieser konkretisierenden Bestimmung ist „gemäß der Verfassung“ gleichbedeutend mit „gemäß der von der Verfassung festgelegten Verwaltungskompetenz des Staatsrats“. Der Staatsrat kann also allein auf seine eigene Verwaltungskompetenz gestützt, ohne jede Gesetzesgrundlage, exekutive Rechtsnormen erlassen, die er für die Erfüllung seiner Verwaltungskompetenz als notwendig ansieht.104 Hiermit ist jedenfalls durch das Gesetz die verfassungsunmittelbare, auf der exekutiven Macht basierende Rechtsetzungsmacht des Staatsrats anerkannt. Art.  85 Halbsatz 2 VVRCh legt den Staatsrat als das höchste Organ der Staatsverwaltung fest. Dementsprechend räumt die VVRCh ihm eine umfangreiche Verwaltungskompetenz ein. Neben der exekutiven Rechtsmacht nach Abs.  1 nennen Art.  89 Abs.  2–17 VVRCh noch 16 zur Verwaltungskompetenz des Staatsrats gehöhrende Angelegenheiten,105 die fast alle wichtigen Bereiche des Staatslebens umfassen. Diese 104  Vgl. dazu Anbiao Xu, Über den Umfang der Kompetenz der exekutiven Rechtsnormen (lun xingzheng fagui de quanxian fanwei), in: Studien zur Verwaltungsrechtslehre (xingzheng faxue yanjiu), 2/2001, 34. 105   „(2) Unterbreitung von Vorlagen für den Nationalen Volkskongress oder dessen Ständigem Ausschuss; (3) Festlegung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Ministerien und Kommissionen des Staatsrats, einheitliche Leitung der Arbeit der Ministerien und Kommissionen und Leitung aller anderen, das ganze Land betreffenden Verwaltungsarbeit, für die die Ministerien und Kommissionen nicht zuständig sind; (4) einheitliche Leitung der Arbeit der lokalen Organe der Staatsverwaltung aller Ebenen des Landes und Festlegung der genauen Teilung von Funktionen und Kompetenzen zwischen der zentralen Regierung und den Organen der Staatsverwaltung der Provinzen, der autonomen Gebiete und der regierungsunmittelbaren Städte; (5) Ausarbeitung und Ausführung der Pläne für die volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und des Staatshaushalts; (6) Leitung und Verwaltung der

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umfangreiche Verwaltungskompetenz des Staatsrats ermöglicht auch seine umfangreiche exekutive Rechtsetzung, was die Aufteilung der Rechtsetzungskompetenz zwischen NVK und SANVK und dem Staatsrat erheblich erschwert.106 §  8 GGG von 2000 bestimmt zehn nur durch Gesetze zu regelnden Angelegenheiten,107 die für das Staatsleben grundlegend sind. Aber es ist nicht selten, dass die Kompetenz des Staatsrats sich mit dem Gesetzgebungsbereich von NVK und SANVK überlappt und häufig in deren Vorbehaltsbereich eingreift, Ein Beispiel ist die Rechtsetzung zur die staatlichen Besteuerung. Die staatliche Besteuerung gehört zu nur durch Gesetze zu regelnden Angelegenheiten von NVK und SANVK (§  8 Abs.  8 GGG von 2000), fällt aber gleichzeitig auch unter die Verwaltungskompetenz des Staatsrats zur Leitung der landweiten wirtschaftlichen Arbeiten (Art.  89 Abs.  6 VVRCh). In der Praxis hat der Staatsrat die große Mehrheit der steuerlichen Rechtsnormen erlassen und besitzt diesbezüglich eine überragende Stellung gegenüber NVK und SANVK.108 Die Defizite an Detailliertheit und rechtstechnischer Qualität der Gesetzgebung in der akwirtschaftlichen Arbeit und der städtischen und ländlichen Entwicklung; (7) Leitung und Verwaltung der Arbeit in Erziehung, Wissenschaft, Kultur, Gesundheitswesen, Körperkultur und Familienplanung; (8) Leitung und Verwaltung der zivilen Angelegenheiten, der Arbeit der öffentlichen Sicherheit, der Justizverwaltung und Aufsichtsarbeit und anderer Angelegenheiten; (9) Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten und Abschluss von Verträgen und Abkommen mit anderen Ländern; (10) Leitung und Verwaltung des Auf baus der Landesverteidigung; (11) Leitung und Verwaltung der Angelegenheiten der Nationalitäten und Sicherstellung der Gleichberechtigung der nationalen Minderheiten und des Rechts auf Autonomie der Regionen mit nationaler Autonomie; (12) Schutz der legitimen Rechte und Interessen der im Ausland ansässigen chinesischen Staatsbürger, Schutz der legitimen Rechte und Interessen der zurückgekehrten Auslandschinesen und der Familienangehörigen der im Ausland ansässigen chinesischen Staatsbürger; (13) Änderung oder Annullierung von nicht angemessenen Anordnungen, Anweisungen und Vorschriften, die von Ministerien oder Kommissionen erlassen wurden; (14) Änderung oder Annullierung von nicht angemessenen Entscheidungen und Anordnungen, die von lokalen Organen der Staatsverwaltung verschiedener Ebenen erlassen wurden; (15) Genehmigung der geographischen Gliederung von Provinzen, autonomen Gebieten und regierungsunmittelbaren Städten und Genehmigung der Einrichtung und geographischen Gliederung von autonomen Bezirken, Kreisen, autonomen Kreisen und Städten; (16) Entscheidung über die Verhängung des Standrechts in Teilen der Provinzen, autonomen Gebiete und regierungsunmittelbaren Städte; (17) Prüfung und Festlegung der Größe der Verwaltungsorgane und Ernennung, Abberufung, Ausbildung, Prüfung, Auszeichnung und Bestrafung der Verwaltungskader in Übereinstimmung mit gesetzlichen Bestimmungen.“ 106  Vgl. dazu Shufang Zhang, Über die Grenze zwischen den Verwaltungsrechtsnormen und den Gesetzen über die Exekutive (lun xingzheng fagui yu xingzheng falü de jiexian), in: Studien zur Rechtsvergleichung (bijiaofa yanjiu), 2/2012, 10, 12. 107   „(1) Angelegenheiten der staatlichen Souveränität; (2) Bildung, Organisation und Befugnisse der Volkskongresse, Volksregierungen, Volksgerichte und Volksstaatsanwaltschaften auf allen Ebenen; (3) die Regelung der regionalen Autonomie der Volksgruppen, die Regelung der Sonderwirtschaftszonen, die Regelung der Selbstverwaltung der Massenorganisationen auf unterster Organisationsebene; (4) Straftaten und Strafen; (5) die Aberkennung der politischen Rechte von Bürgern, Zwangsmaßnahmen und Sanktionen, welche die körperliche Freiheit beschränken; (6) die Einziehung nicht staatlichen Vermögens; (7) die grundlegende Regelung der Zivilsachen; (8) das grundlegende Wirtschaftssystem und die grundlegende Regelung der Staatsfinanzen, der Steuern, des Zolls, des Bankwesens sowie des Außenhandels; (9) die Regelung des Gerichtsverfahrens und des Schiedsverfahrens; (10) andere Angelegenheiten, die vom Nationalen Volkskongress und vom Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses durch Gesetz festgelegt werden müssen.“ 108  Vgl. dazu Gongren Gan, Bewertung über den Zustand der steuerlichen Rechtsetzung unseres Landes (woguo shuishou lifa xianzhuang pingxi), in: Studien zu steuerlichen Angelegenheiten (shuiwu yanjiu), 1/2003, 43; Xiangju Li, Analyse über die Situation der steuerlichen Rechtsetzung unseres Landes, (woguo shuishou lifa xianzhuang fenxi), in: Studien zu steuerlichen Angelegenheiten, 6/2005, 57.

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tuellen Phase Chinas macht auch die Aufteilung der Rechtsetzungskompetenz zwischen dem Vorbehaltsbereich von NVK bzw. SANVK und dem Staatsrat schwierig und verzerrt diese in der Praxis. Die verfassungsunmittelbare exekutive Rechtsetzung schafft eine der Gesetzgebungsmacht von NVK und SANVK vergleichbare Rechtsetzungsmacht, und bildet die erste Machtquelle der exekutiven Rechtsetzung des Staatsrats. Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist der Kerninhalt der Herrschaft des Staates durch Gesetze häufig von vielen chinesischen Juristen gedeutet als „die Verwaltung gemäß Gesetzen (yifa xingzheng)“,109 um damit die übermächtige exekutive Macht des Staatsrats zu beschränken. Aber wenn der Staatsrat seinerseits schon große Rechtsetzungsmacht besitzt und gleichzeitig Normsetzer und Normdurchführender ist, ist eine solche Beschränkung kaum erreichbar.110

2.  Die exekutive Rechtsetzung aufgrund der Ermächtigung durch den Beschluss des SANVK Die zweite Machtquelle der exekutiven Rechtsetzung bildet die Ermächtigung durch den SANVK in Form des Beschlusses. Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats aufgrund der Ermächtigung durch den SANVK existierte zwar schon vor dem GGG von 2000.111 Aber erst im GGG von 2000 wurde ein relativ vollständiges System der Ermächtigungsrechtsetzung des Staatsrats geschaffen. Im GGG von 2000 wurden zuerst die ausschließlichen Gesetzgebungsbereiche von NVK und SANVK festgelegt (§  8). Diese Vorbehaltsbereiche voraussetzend wurde dann die Ermächtigungsrechtsetzung des Staatsrats als deren „Ausnahme“ geregelt. Das GGG von 2015 sieht die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats durch seine §§  9 –12 vor. 109   Vgl. dazu Liming Wang, Auch über die Herrschaft des Staates durch Gesetze (ye lun yifa zhiguo), in: Kritik der Rechtswissenschaft (faxue pinglun), 2/1999, 45–49; Buyun Li, Die Herrschaft des Staates durch Gesetze durchsetzen, den sozialistischen Rechtsstaat auf bauen (shixing yifa zhiguo, jianshe shehui zhuyi fazhi guojia), in: Rechtswissenschaft Chinas (zhongguo faxue), 2/1996, 24; Xuexian, Huang, Die Zusammenfassung von der akademischen Konferenz über die Herrschaft des Staates durch Gesetze und die Verwaltung gemäß Gesetzen (fifa zhiguo he yifa xingzheng xueshu yantao hui zhongshu), in: Politik und Recht (zhengzhi yu falü), 6/1998, 77; Songnian Ying, Ein Programm für die Verwaltung gemäß Gesetzen (yifa xingzheng lungang), in: Rechtswissenschaft in China, 1/1997, 33. 110   Vgl. dazu Zhuguo Wang, Reflexionen über die „Gesetze“ in „Verwaltung gemäß Gesetzen“ (yifa xingzheng yuanze zhi fa de fansi), in: Studien zu Recht und Kommerz (fashang yanjiu), 2012, S.  131, 135; Xixin Wang, Die Rechtfertigungslogik der Verwaltung gemäß Gesetzen und ihr aktueller Kontext (yifa xingzheng de hefa hua luoji ji qi xianshi qingjing), in: Rechtswissenschaft in China, 5/2008, 66, 67. 111   In den 1980er Jahren ermächtigte der SANVK dreimal den Staatsrat, in entsprechenden Bereichen exekutive Rechtsnormen auszuarbeiten: Die 2. Sitzung des 6. SANVK beschloss am 2.9.1983, dass der Staatsrat ermächtigt wurde, beide von der 2. Sitzung des 5. SANVK genehmigten vorläufigen Methoden, die die Versorgung von alten, schwachen, kranken und behinderten Funktionären sowie die Versorgung der in Rente gegangenen oder arbeitslos gewordenen Arbeiter betrafen, teilweise zu ergänzen und verändern; Die 7. Sitzung des 6. SANVK ermächtigte am 18.9.1984 den Staatsrat, für die Durchführung der Steuererhebung in den staatlichen Unternehmen und für die Reform des Steuersystems in Industrie und Handel steuerliche Verwaltungsrechtsnormen auszuarbeiten; Die 3. Sitzung des 6. NVK ermächtigte am 10.4.1985 den Staatsrat, bezüglich der Probleme in der Reform des Wirtschaftssystems und der Öffnung, in Übereinstimmung mit der Verfassung, den Grundsätzen der Gesetze und den von NVK und SANVK festgelegten Grundsätzen vorläufige Bestimmungen zu erlassen.

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§  9 Satz  1 GGG regelt allgemein die Ermächtigungsbefugnisse von NVK und SANVK: „Hinsichtlich der in §  8 dieses Gesetzes bestimmten Angelegenheiten, die noch nicht durch Gesetz festgelegt worden sind, haben der Nationale Volkskongress und sein Ständiger Ausschuss das Recht zu beschließen, dass der Staatsrat ermächtigt wird, entsprechend den Erfordernissen der Praxis zunächst diese Angelegenheiten teilweise durch exekutive Rechtsnormen festzulegen.“ §  9 Satz  2 GGG regelt als Beschränkung der Ermächtigung die Bereiche, in denen nicht ermächtigt werden darf: Straftaten und Strafen, Aberkennung der politischen Rechte von Bürgern, Zwangsmaßnahmen und Sanktionen, welche die körperlichen Freiheit beschränken, die Gerichtsorganisation und andere Angelegenheiten. §  10 GGG legt dann weiter die Bedingungen für die Ermächtigung selbst (also das Bestimmtheitsgebot für Ermächtigungen) fest. Durch die jüngste Änderung dieser Vorschrift sind die Bedingungen für die Ermächtigung strenger geworden: Neben dem Zweck und Umfang der Ermächtigung müssen jetzt die abgegebenen Angelegenheiten, die Frist für die Ausnutzung der Ermächtigung sowie die Grundsätze, die das delegierte Organ in der Durchführung der Ermächtigung befolgen muss, auch im Ermächtigungsbeschluss klar angegeben werden (§  10 Abs.  1 GGG). Abs.  2 GGG regelt die maximale Frist einer Ermächtigung: „Die Frist zur Wahrnehmung einer Ermächtigung darf nicht über fünf Jahre hinausgehen, sofern nicht der Ermächtigungsbeschluss etwas andres bestimmt.“ §  10 Abs.  3 GGG bestimmt die Berichtspflichten des Staatsrats über die Durchführungsumstände der Ermächtigung: „Das ermächtigte Organ soll sechs Monate vor dem Ablauf der Frist der Ermächtigung dem delegierenden Organ über die Durchführungsumstände der Ermächtigung berichten und eine Einschätzung geben, ob es notwendig ist, nunmehr entsprechende Gesetze auszuarbeiten. Wenn nach Ansicht des Delegatars eine Ermächtigung weiter erforderlich ist, kann dieser eine entsprechende begründete Empfehlung geben, über deren Aufnahme der NVK oder der SANVK beschließt.“ §  11 GGG regelt die Pflicht von NVK und SANVK zum Ausarbeiten eines entsprechenden Gesetzes nach der Umsetzung der Ermächtigung: „Sobald praktische Erfahrungen gesammelt worden und die Umstände zur Festlegung durch Gesetz reif sind, legen der Nationale Volkskongress und sein Ständiger Ausschuss die Angelegenheiten, in denen zur exekutiven Rechtsetzung ermächtigt wurde, unverzüglich durch Gesetz fest. Nachdem das Gesetz festgelegt worden ist, endet dementsprechend die Ermächtigung zur Recht­ setzung in der Angelegenheit.“ §  12 GGG regelt schließlich das Verbot der Weiterübertragung einer Ermächtigung: „Das ermächtigte Organ muss die Befugnis strikt gemäß dem Ermächtigungsbeschluss ausüben. Das ermächtigte Organ darf nicht die Befugnis durch Weiterermächtigung auf andere Organe übertragen.“ Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats aufgrund der Ermächtigung von NVK und SANVK, wie es in §  9 GGG ausformuliert ist, entfaltet wesentlich eine Funk­ tion der experimentellen Rechtsetzung. Sie dient dazu, notwendige Erfahrungen für die spätere landesweit einheitliche Gesetzgebung zu sammeln. Aus diesem Grund wurde in den 1980er Jahren nach der Verfassung von 1982 auf die Ermächtigungsrechtsetzung des Staatsrats großer Wert gelegt. Aber trotz der relativ ausführlichen Regelungen im GGG verliert die Ermächtigungsrechtsetzung des Staatsrats mehr und mehr an Bedeutung in der heutigen staatlichen Rechtsetzungspraxis. Außer den drei Ermächtigungsbeschlüssen in den 1980er Jahren hat der SANVK seit den 1990er

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Xiaodan Zhang

Jahren und auch nach dem GGG von 2000 keine Ermächtigungsbeschlüsse erteilt. Die Gründe dafür liegen einerseits darin, dass nun auch der NVK und besonders der SANVK immer aktiver in der Gesetzgebung sind und das Vakuum der Gesetzgebung immer kleiner geworden ist, andererseits aber darin, dass der Staatsrat sich direkt auf seine immanente Verwaltungskompetenz stützen kann, um ein mögliches Vakuum in Form der exekutiven Rechtsetzung zu füllen.

3.  Die exekutive Rechtsetzung zur Durchführung von Gesetzesbestimmungen des NVK oder SANVK „Exekutive Rechtsnormen können zu Angelegenheiten Bestimmungen treffen, deren Festlegung in exekutiven Rechtsnormen zur Durchführung von Bestimmungen eines Gesetzes erforderlich ist“ (§  65 Abs.  2 Nr.  1 GGG). Diese Art von exekutiver Rechtsetzung wird in China als „durchführende exekutive Rechtsetzung (zhixing xing xingzheng fagui)“ bezeichnet und enthält zwei Fälle: Die einzelne durchführende exekutive Rechtsetzung und die umfassende durchführende exekutive Rechtsetzung. Der erste Fall basiert auf einer konkreten Bestimmung eines einfachen Gesetzes, die fordert, dass der Staatsrat durch exekutive Rechtsnormen gewisse in diesem Gesetz geregelte Inhalte weiter konkretisieren soll, damit die Bestimmungen des Gesetzes vollzugsreif sein können. Beispiele dafür sind zahlreich, hier seien nur drei Bespiele zu nennen. §  14 Abs.  2 des Gesetzes der VRCh über die Vorbeugung gegen und Regulierung der Verschmutzung der Luft112 regelt: „Die Erhebung der Gebühren über Schadstoffe muss die vom Staat festgelegten Kriterien befolgen, deren konkreten Methoden und Verfahren vom Staatsrat zu bestimmen sind.“ §  13 Abs.  2 des Gesetzes der VRCh über die Sicherheit des Straßenverkehrs113 lautet: „Die Überprüfung der Sicherheitstechniken des Kraftfahrzeuges ist von gesellschaftlichen Körperschaften durchzuführen, deren konkrete Methoden vom Staatsrat festzulegen sind.“ In §  62 des Baugesetzes der VRCh114 heißt es: „Auf das Bauprojekt ist das System der Qualitätsgewährleistung anzuwenden. Der konkrete Umfang und die Mindestfrist der Gewährleistung sind vom Staatsrat vorzusehen.“ Gemäß diesen Bestimmungen der Gesetze hat der Staatsrat dann jeweils entsprechende exekutive Rechtsnormen erlassen. Die umfassende durchführende exekutive Rechtsetzung bedeutet, dass der Staatsrat zur Durchführung eines Gesetzes, auch ohne ermächtigende Bestimmungen eines Gesetzes, eigenständig konkretisierende Regelungen erlassen kann, in denen z.B. die vom Gesetz angewandten Begriffe oder Termini erklärt, die durchzuführenden Maßnahmen vorgesehen oder der Umfang einer Buße und Belohnung festgelegt wird. Diese Art von exekutiver Rechtsetzung räumt dem Staatsrat einen großen Spielraum ein, da es völlig vom Staatsrat selbst abhängt, ob oder wie er eine gesetzesdurchführende Regelung ausarbeitet. Ganz häufig ist, dass der Staatsrat eine dem   Zhonghua renmin gongheguo daqi wuran fangzhi fa, Inkrafttreten seit 1.9.2000.   Zhonghua renmin gongheguo daolu jiaotong anquan fa, Inkrafttreten seit 1.5.2004. 114   Zhonghua renmin gongheguo jianzhu fa, Inkrafttreten seit 1.3.1998. 112 113

Die exekutive Rechtsetzung des Staatsrats der VRCh

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eigentlichen Gesetz vergleichbare umfassende Regelung erlässt und die letztere wegen ihrer konkreteren Bestimmungen in der Praxis Vorrang findet und das eigentliche Gesetz vertritt. Um das Gesetz der VRCh über die Bodenregulierung (GüBR)115 durchzuführen, hat der Staatsrat die Durchführungsregelung zum GüBR erlassen. Die Durchführungsregelung des GüBR ist nicht nur strukturell dem GüBR völlig gleich,116 sondern entscheidet über die Kernbegriffe des GüBR durch ihre ergänzenden konkretisierenden Bestimmungen.117 Zwar gibt die Durchführungsregelung des Staatsrats normalerweise ihre Grundlage das Gesetz an, auf welches sie sich stützt. Aber solche Nennung ist häufig ganz grob und abstrakt und kann keine normative Kontrollfunktion entfalten.118

V. Schlussbemerkung Am 15. März 2015 wurde das Gesetzgebungsgesetz geändert. Diese Änderung verstärkt besonders die Kontrolle über die exekutive Rechtsetzung aufgrund der Regelungen über die Ermächtigung durch Beschluss des SANVK. Aber wie gesagt, hat die Ermächtigungsrechtsetzung nur eine marginale Bedeutung in der gesamten Struktur und ändert nichts an der starken Stellung des Staatsrats in der Rechtsetzung und damit auch der zwiespältigen Bedeutung derselben für die Rolle der Partei. Der in der Verfassung bestätigte Herrschaftsanspruch des KPCh im Partei-Staat setzt eine immanente unüberschreitbare Grenze für den sozialistischen Rechtsstaat, indem er den Vorrang der Partei gegenüber dem Staat und den Vorrang der politischen Beschlüsse der Partei gegenüber den staatlichen Gesetzen nach wie vor sichert. Aber das Ziel der Aufrechterhaltung der Legitimität der Parteiherrschaft durch wirtschafpolitische Erfolge relativiert diesen Herrschaftsanspruch und sorgt für eine Trennung zwischen den politischen Beschlüssen („Politik der Partei“) und den auf die sozialistische Markwirtschaft anzuwendenden Rechtsnormen. Eben in diesem Zusammenhang entfaltet die exekutive Rechtsetzung eine Vermittlungsfunktion durch ihren halbformalisierten Charakter. Diese Stellung und Funktion wird auch auf absehbare Zeit unverändert bleiben, soweit der sozialistische Rechtsstaat sich nicht in seinen Kernelementen ändert.

  Zhonghua renmin gongheguo tudi guanlifa, Inkraftgetreten seit 25.6.1986.   Das GüBR enthält 8 Kapitel: „Allgemeine Bestimmungen“, „Das Eigentum und das Nutzungsrecht des Bodens“, „Die gesamte Nutzungsplanung des Bodens“, „Der Schutz des Ackerlandes“, „Der Boden für Auf bau“, „Überwachung und Überprüfung“, „Rechtsfolgen“ und „Nebenbestimmungen.“ Diese Struktur ist unverändert von seiner Durchführungsregelung übernommen. 117   Das GüBR legt als eine seiner grundlegenden Entscheidungen das staatseigene Bodensystem fest (§  2 Abs.  2), lässt aber dessen konkrete Inhalte offen. Die Inhalte des staatseigenen Bodensystems sind erst in §  2 der Durchführungsregelung des Staatsrats über GüBR durch sechs konkrete Fälle erklärt. Verglichen mit der eigentlichen Bestimmung des GüBR ist die erklärende Bestimmung in seiner Durchführungsregelung von größerer Bedeutung, da sie materiell die Bedeutung und den Umfang des „staatseigenen Bodensystems“ entscheidet. 118   In §  1 der Durchführungsregelung des GüBR ist nur grob formuliert: „Diese Regelung ist aufgrund des GüBR ausgearbeitet“. 115 116