Istanbul als Bild: Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten 9783839433287

Images form our imaginations of cities. This study uses the example of Istanbul to show the relevance of images for the

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German Pages 284 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Potenziale einer visuellen Stadtsoziologie
Stadt im Bild
Bildqualitäten
Präsenz
Unbestimmtheit
Gleichzeitigkeit
Visuelle Stadterfahrung
Die Stadt als Gegenstand der Forschung
Die entschwundene Seite der Stadt
Wissenschaftsverständnis und Arbeitsweise der Kultursoziologie
Die Eigenlogik der Städte
Die Stadt als raumstrukturelle Form
Die Stadt als Sinneinheit
Empirische Handhabung
Stadtportrait Istanbul
Beutestadt
Sehnsuchtsort
Die Wehmut der Moderne
Autorität und Emanzipation
Untersuchungsdesign
Reflexion der Bildgenres
Werbeinhaltsforschung als Gesellschaftsanalyse
Die Fotobefragung
Analyse von Kunstwerken
Forschungsfrage und Datenbasis
Auswertungsmethode
Die inszenierte Stadt – Istanbul im Medium der Werbung
Die international ausgerichtete Werbekampagne zum Kulturhauptstadtjahr
Die nationale Werbekampagne zum Kulturhauptstadtjahr
Eine global orientierte orientalische Stadt: Istanbul in der internationalen und nationalen Werbekampagne
Die gelebte Stadt – Istanbul aus der Sicht der Bewohner
Antagonismus
Ambiguitätstoleranz
Dissoziation
Normativitätsbehauptung
Konventionalität
Kohärenzproduktion
Das Meer als Metapher
Die Stadt im Blick ihrer Bewohnerinnen – eine Zusammenfassung
Die ästhetisch verdichtete Stadt – Istanbul im Medium der Kunst
Künstlerische Außenperspektive
Bildserie ›Bustour‹
Bildserie ›Plastik‹
Künstlerische Innenperspektive
Bildserie ›Shell‹
Die Stadt im Blick zweier Künstler – eine Zusammenfassung
Im Geflecht der Bilder
Macht / (Gegen-) Macht
Selbst-/Fremdbild
Persistenz und Wandel
ParaDoxa
Ausblick
Danksagung
Literatur
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Istanbul als Bild: Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten
 9783839433287

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Johannes Marent Istanbul als Bild

Urban Studies

Johannes Marent (Dr. phil.) ist Lektor am Institut für Soziologie der Universität Wien. Er forscht zur Konzeption eines partizipativen Forschungsprojektes mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Visuelle Soziologie, Stadtforschung, Migration, Kultursoziologie und Soziale Medien.

Johannes Marent

Istanbul als Bild Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten

Zeit-Stiftung – Eblin und Gerd Bucerius Land Vorarlberg – Wissenschaftsfonds

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: Teilnehmer/innen der partizipativen Fotobefragung; Istanbul 2010. Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3328-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3328-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung

9

Potenziale einer visuellen Stadtsoziologie Stadt im Bild Bildqualitäten

Präsenz 21 Unbestimmtheit Gleichzeitigkeit

15

15 21

25 28

Visuelle Stadterfahrung

31

Die Stadt als Gegenstand der Forschung

35

Die entschwundene Seite der Stadt 36 Wissenschaftsverständnis und Arbeitsweise der Kultursoziologie 43 Die Eigenlogik der Städte 48

Die Stadt als raumstrukturelle Form Die Stadt als Sinneinheit 53 Empirische Handhabung 55 Stadtportrait Istanbul 59 Beutestadt 61 Sehnsuchtsort 66 Die Wehmut der Moderne 69 Autorität und Emanzipation 73

50

Untersuchungsdesign 79 Reflexion der Bildgenres

79

Werbeinhaltsforschung als Gesellschaftsanalyse Die Fotobefragung 84 Analyse von Kunstwerken 86 Forschungsfrage und Datenbasis Auswertungsmethode 95 Die inszenierte Stadt – Istanbul im Medium der Werbung

79

89

99

Die international ausgerichtete Werbekampagne zum Kulturhauptstadtjahr 99 Die nationale Werbekampagne zum Kulturhauptstadtjahr 133 Eine global orientierte orientalische Stadt: Istanbul in der internationalen und nationalen Werbekampagne 156 Die gelebte Stadt – Istanbul aus der Sicht der Bewohner Antagonismus

163

167

Ambiguitätstoleranz 178 Dissoziation 180 Normativitätsbehauptung Konventionalität 190

184

Kohärenzproduktion

194

Das Meer als Metapher

203

Die Stadt im Blick ihrer Bewohnerinnen – eine Zusammenfassung 206 Die ästhetisch verdichtete Stadt – Istanbul im Medium der Kunst Künstlerische Außenperspektive

Bildserie ›Bustour‹ Bildserie ›Plastik‹

211

211 221

Künstlerische Innenperspektive

Bildserie ›Shell‹

209

233

233

Die Stadt im Blick zweier Künstler – eine Zusammenfassung 248

Im Geflecht der Bilder 253 Macht / (Gegen-) Macht Selbst-/Fremdbild 255 Persistenz und Wandel ParaDoxa 258 Ausblick

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Danksagung

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Literatur

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Einleitung

Der Begriff ›Stadt‹ ruft vielfache Assoziationen und Vorstellungsbilder hervor – eine mittelalterliche Altstadt geschützt durch einen Wehrwall, die Glastürme der Finanzwirtschaft in den sogenannten Global Cities, befahrene Straßen, überfüllte Fußgängerzonen, leuchtende Reklametafeln, ikonische Gebäude wie der Eiffelturm in Paris, das Opernhaus in Sydney oder die Freiheitsstatue in New York. ›Stadt‹ geht einher mit Intensität. Sie kennzeichnet ein eng geknüpftes Geflecht aus Gebäuden und sozialen Interaktionen. Die Datenhighways der Breitbandnetze wie die Verkehrsadern stoßen zu gewissen Zeiten nah an ihre Grenzen. ›Stadt‹ verweist auch auf zeitliche Dimensionen. Vielfach blickt sie auf eine lange Geschichte zurück, wie sie auch Brutstädte für Innovationen und sozialen Wandel ist. Darüber hinaus vereint sie unterschiedlichste Geschwindigkeiten und Rhythmen. In den Metropolen bricht der 24-Stundentakt kaum ein. Morgens, mittags, abends wie nachts wird gearbeitet, konsumiert, Sport getrieben – selten findet man sich allein auf der Straße. Und all dies geschieht gleichzeitig: Ruhephasen und Freizeitaktivitäten, Konsum und Arbeit, Muße und Geschäftigkeit überlappen sich. ›Stadt‹ ist ein Ort extremer Ungleichheit. Armut und Reichtum treffen markant aufeinander. Elendsviertel grenzen an ›gated communities‹ der oberen Einkommensschichten, Straßenkinder verkaufen Wasserflaschen oder Papiertaschentücher in luxuriösen Einkaufsstraßen. ›Stadt‹ steht für Vielfalt. Sie ist der Ort, an dem Wissensarbeiterinnen, Touristen, Migrantinnen, Händler und Investoren1 aus unterschiedlichsten Ländern eintreffen, um Karriere zu machen, Sehenswürdigkeiten zu bewundern, ein neues Leben anzufangen, Waren feil zu bieten und Kapital zu schlagen. Neben diesen allgemeinen Assoziationen, die der Begriff ›Stadt‹ hervorruft und die mit dieser Auflistung keineswegs ausgeschöpft sind, fallen uns ganz

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Zum Zwecke einer gendersensiblen Sprache wird im Folgenden alternierend zwischen der männlichen und weiblichen Form gewechselt. Es sollten sich in jedem Fall alle angesprochen fühlen.

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bestimmte Eigenschaften ein, wenn wir an konkrete Städte denken. Paris ist die Stadt der Liebe, Wien die Stadt der (klassischen) Musik und Berlin die Stadt der Kreativen. Derlei (Stereo-)Typisierungen werden mit Attributen ausgestattet: Emotionalität, Tradition, Gemütlichkeit, Innovation und so fort. Genau diese Zuschreibungen sind es, die die vorliegende Arbeit in den Blick nimmt. Woraus speisen sich derlei Orientierungsmuster, was ist ihre Funktion und was sagen sie uns über die jeweilige Stadt? Es wird davon ausgegangen, dass derlei Typisierungen zu einem erheblichen Ausmaß visuell vermittelt sind. So haben wir Vorstellungen und gar relativ konkrete Bilder von Städten vor Augen, die wir zum Teil niemals besucht haben. Von soziologischem Interesse sind urbane Vorstellungswelten, da sie – wie die Arbeit aufzeigen wird – handlungsstrukturierend wirken: sie prägen Diskurse2, ordnen die Wahrnehmung und wirken auf die Organisation des Alltags in der Stadt (Strauss 1961). Sie haben eine Vergemeinschaftungs- und Orientierungsfunktion (Raab 2012). Bilder können als Objektivationen gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden, die unter Umständen eine Eigenmacht entwickeln (Tuma/Schmidt 2013: 12). In dem hier hergestellten Zusammenhang wird danach gefragt, welche Imaginationen von Stadt durch Bilder erzeugt werden. Die vorliegende Arbeit ist inspiriert von neueren Ansätzen innerhalb der Soziologie des Visuellen, die davon ausgehen, dass Bilder soziale Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch hervorbringen. Dabei geht es darum, das Verhältnis zwischen Sichtbarkeit (der visuellen Präsenz) und Sozialität herauszuarbeiten3. Dominik Bartmanskis und Jeffrey Alexanders Konzept der Ikonizität (»Iconicity«) geht etwa in diese Richtung (Bartmanski/Alexander 2012). Sie verweisen auf das Zusammenspiel zwischen Oberfläche (dem konkreten Bildträger) und Tiefe (die symbolische und atmosphärische Qualität von Bildern), wodurch Bilder über sich hinausweisen: sie sind weder auf ihre Materialität zu reduzieren noch auf das Abwesende, das sie repräsentieren: »An iconic signifier does not just ›communicate‹ the information of the signified; material surfaces do not simply represent hidden data. (…) Icons transmit experience. They have their ›social life‹« (ebd: 3). Nach Bartmanski und Alexander stellt sich der Soziologie die Aufgabe, dieses ›Bildhandeln‹ zu beschreiben. Das Bild verweist

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So zeigt etwa Goffman, wie sich Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterrollen in die Werbekommunikation einschreiben und damit erneut die Alltagswahrnehmung beeinflussen (Goffman 1981).

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Dieses Verhältnis kann im Rahmen dieser Untersuchung nur punktuell und nicht systematisch beschrieben werden. Weitere methodologische Arbeiten sind nötig, um die gesellschaftliche Wirkung von Sichtbarkeit im Detail zu erschließen.

E INLEITUNG I 11

nicht nur auf etwas Abwesendes, das es repräsentiert, es stellt auch dar. Diese Vergegenwärtigung bzw. Sichtbarmachung ist mehr als ein Faktum (physisches Vorhandensein), sie kann als Akt der Symbolisierung beschrieben werden, die auch auf das Unsichtbare referiert4. Darauf verweist auch Gottfried Boehm, indem er festhält, dass durch die Repräsentation das Repräsentierte nicht ersetzt wird. Es geht nicht darum, das Repräsentierte noch einmal zu zeigen. Vielmehr, so Boehm, gehe es um eine Art der Intensivierung: »This intensification adds a surplus to the existence of the depicted« (Boehm 2012: 17). Dieses »Surplus« sowie der ihm zugrunde liegende Prozess der Intensifikation wurden von der Soziologie zumeist übersehen. An einigen Stellen wird diese Arbeit auf den ›Mehrwert‹ verweisen, den (soziale) Sichtbarkeit hervorbringt. Dieser ist unter anderem darin zu sehen, dass Stadtbilder nicht nur die Aktualität, den IstZustand der Stadt (re-)präsentieren, sondern ebenfalls auf ihren Möglichkeitsraum, die Potenzialität, rekurrieren. Damit können unter Umständen neue Sichtweisen und Visionen entstehen. Auch Cornelia Bohn geht davon aus, dass die Wirkung von Bildern nicht nur im Aspekt der Abbildung zu sehen ist. Dabei unterscheidet sie zwischen deiktischen und ikonischen Gesten: »Während die Zeigegeste selbst leer und auf deiktische Verweise angewiesen bleibt, eröffnet die ikonische Geste einen visuellen Sinnraum jenseits des geteilten Wahrnehmungsfeldes« (Bohn 2012: 51). Letztere kreiert etwas Neues. Der Aspekt der Sichtbarmachung bleibt nicht auf die Bildimmanenz beschränkt, sondern wirkt auch nach außen. Dieses kommunikative Moment beschreibt Bohn mit dem Begriff der »instruktiven Bildlichkeit« (Bohn 2012: 59f). Viele phänomenologische und kunsthistorische Arbeiten beschäftigen sich intensiv mit der Präsenz des Bildes, bleiben jedoch auf der Ebene der Bildimmanenz verhaftet. Atmosphärische und perspektivische Eigenschaften werden zwar im Detail beschrieben, die Wirkung visueller Präsenz jedoch außen vor gelassen. Umgekehrt interessieren sich zahlreiche soziologische Ansätze für die gesellschaftliche Wirkung von Bildern. Indem sie das Bild jedoch ausschließlich durch den Produktions- und Verwendungszusammenhang erklären, bleibt die Analyse der ›Macht des Bildes‹ auf die Macht der Bildproduzenten beschränkt. Die Intentionen der Auftraggeberinnen sowie der Bildproduzenten auf der einen Seite und die Bildwirkung auf der anderen können jedoch unter Umständen weit auseinander liegen. Die Analyse der Bildimmanenz sollte, zumindest aus soziologischer Sicht, dazu genutzt werden, der »instruktiven Bildlichkeit« (Bohn 2012) auf die Spur zu kommen: Jenes Moment, in welchem

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Schütz und Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Husserl von »Appräsentation« (Schütz/Luckmann 1994).

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die Sichtbarmachung (die nicht auf den Aspekt der Abbildung beschränkt ist) in einem bestimmten sozialen Kontext mögliche Anschlusshandlungen eröffnet. Schon Baudrillard hat darauf verwiesen, dass das Wesen des Bildes nicht darin besteht, ein Ereignis zu illustrieren, sondern sich selbst zum Ereignis zu machen (Baudrillard 1999: 38). Diese medial produzierten Ereignisse beeinflussen zunehmend die gesellschaftliche Wirklichkeit. Die meisten soziologischen Analyseverfahren schenken dem Bild selbst weit weniger Beachtung als den Bildkontexten. Bilder werden über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beschrieben, in denen sie produziert und rezipiert werden. Über diese Informationen – die Intention der Auftraggeber, das Wissen über das Bildgenre, die Produktions- und Rezeptionskontexte etc. – wird die mögliche Bildbedeutung weitgehend eingegrenzt. Damit wird das Bild nicht über seine Sichtbarkeit beschrieben, sondern über weitgehend unsichtbare Strukturen. In dieser Arbeit geht es jedoch gerade um die visuelle Präsenz der Bilder. Es gilt ihrer Suggestivität auf die Spur zu kommen. Analytisch bedeutet dies, dass der subjektive Deutungsprozess in seiner objektiven Strukturiertheit durch das Bildmaterial oberste Priorität hat (Müller/Raab 2014: 199). Zunächst gilt es die von Hintergrundinformationen weitgehend freigehaltene Bildwahrnehmung reflexiv zu erschließen: Was für Assoziationen löst das Bild aus und wie wirken die unterschiedlichen Bildelemente an dieser Bedeutungsgenerierung mit? Erst nach eingehender Analyse der Präsenz des Bildes wird auf den gesellschaftlichen Kontext eingegangen. Die Auswertung schreitet vom Einzelbild (dem »primären Rahmen«) über die »unmittelbaren« und »mittelbaren Bildkontexte« (d.h. die Produktions- und Rezeptionszusammenhänge) zu der »kulturellen Umwelt« des Bildes (Raab 2012). Es geht darum, zu zeigen, wie Sichtbarkeit in einem konkreten sozialen Zusammenhang Wirkung erzeugt. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, stützt sich die Arbeit auf umfangreiche materiale Analysen, in denen jeweils die konkrete visuelle Erscheinung und das soziale Setting, in dem die visuelle Form Verwendung fand, beschrieben wird. Im theoretischen Teil der Arbeit werden zunächst die Qualitäten von Bildern mit Bezug auf Theorien der Sichtbarkeit – der Phänomenologie und Ikonik – herausgearbeitet und schließlich auf Stadtbilder übertragen. Mediale Stadtbilder, so die These, die mit Bezug auf Überlegungen von Anselm Strauss formuliert wird, prägen die Vorstellungen über Städte und sind unabdingbar für die Organisation des urbanen Alltags (Strauss 1961). Sie konstruieren eine Vorstellung vom Ganzen der Stadt, was dazu verhilft, sich in einem von Komplexität und Kontingenz geprägten Raum zurechtzufinden. Nachdem die Qualitäten von Stadtbildern und ihre soziologische Relevanz beschrieben sind, wendet sich die Arbeit dem Phänomen ›Stadt‹ zu. Ein Blick auf die Entwicklungslinien der

E INLEITUNG I 13

Stadtsoziologie zeigt, dass sich diese als ›hard science‹ bzw. als ›Gesetzeswissenschaft‹ etabliert hat. Der Nachweis von Kausalitäten und die Anwendungsorientierung haben dabei oberste Priorität. Empirische Untersuchungen konzentrieren sich vor allem auf Strukturdaten und textgestütztes Material. Bilder, die als bedeutungsoffen und widersprüchlich gelten, wurden bislang kaum beachtet. Nach dieser Bestandsaufnahme wird auf die kulturwissenschaftliche Tradition der Soziologie verwiesen, um darauf aufmerksam zu machen, welche Aspekte von Stadt durch die derzeitige Ausrichtung der Stadtsoziologie aus dem Blick geraten. Dies sind unter anderem Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster sowie der Symbolkosmos der Städte, der diese beeinflusst. Mit der Erinnerung an kulturwissenschaftliche Traditionen der Soziologie werden neuere Ansätze, die nach wie vor ein eher marginales Dasein innerhalb der Stadtsoziologie fristen, aktiviert. Die Arbeit schließt schließlich an das Konzept der »Eigenlogik der Städte« (Berking/Löw 2008; Löw 2008a) an. Dieser Ansatz erlaubt es, die Stadt als Untersuchungsobjekt zu konzeptualisieren, wohingegen sie bislang lediglich als Kontext der Forschung bzw. als Substitut für Gesellschaft Beachtung fand (Berking 2008). Jede Stadt, so die These, bildet ihren spezifischen Symbolkontext aus und dieser wird im Rahmen dieser Arbeit anhand von Bildern der Stadt analysiert. Nach dem theoretischen Abriss wird den Leserinnen das konkrete Objekt der Untersuchung – die Stadt Istanbul – vorgestellt. Die Beschreibung der Geschichte und der Entwicklungen der Stadt wird an visuelle Darstellungen geknüpft. Angefangen vom Mittelalter, der Zeit der großen Eroberungen über die Belle Epoque des ausgehenden 19. Jahrhunderts hin zu den Modernisierungsbestrebungen und der Industrialisierung der Stadt bis in die Gegenwart, in der Istanbul wieder zu einer Global City erstarkt ist, für all diese Epochen wird das StadtPortrait verschiedene Bilder aufgreifen. Im Verlauf der Arbeit wird ersichtlich, dass die jeweiligen Bilder, die diese Epochen bestimmten, nicht gänzlich abgelöst wurden. Bestimmte Aspekte der Symbolisierung werden noch heute aufgegriffen, mehr oder weniger abgeändert und in neuer Form fortgeschrieben. Die Datenbasis der vorliegenden Untersuchung bezieht sich auf relativ aktuelle Bilder der Stadt: Werbebilder, die zum europäischen Kulturhauptstadtjahr ›Istanbul 2010‹ erstellt wurden, Bilder von Bewohnerinnen, die im Rahmen einer Fotobefragung entstanden sind, sowie Foto-Serien zweier Künstler. Im Kapitel ›Untersuchungsdesign‹ werden diese unterschiedlichen Bildgenres im Detail beschrieben und nach dem Stellenwert des empirischen Materials für die soziologische Analyse gefragt. Durch diese Datenbasis soll eine weitreichende Differenz erzeugt werden. Es geht darum, zu erkennen, ob sich anhand dieser konträren Stadtdarstellungen Istanbuls gemeinsame Vorstellungen darüber iden-

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tifizieren lassen, was und wie Istanbul ist und was ›diese‹ Stadt ausmacht: Rekurrieren die unterschiedlichen Bilder Istanbuls auf einen kollektiven Symbolkosmos ›dieser‹ Stadt? Die Bilder werden mittels der Segmentanalyse nach Roswitha Breckner (2010) analysiert und einem Vergleich unterzogen. Der empirische Teil beginnt mit den Werbebildern. Dabei wird die internationale Werbekampagne, die zum europäischen Kulturhauptstadtjahr ›Istanbul 2010‹ erstellt wurde, mit der nationalen Kampagne dieses Events kontrastiert. In beiden Kampagnen werden durch eine detaillierte Analyse klar benennbare Widersprüche identifiziert, die jedoch im Bildganzen völlig untergehen. Die Qualität der Werbebilder liegt darin, die »Übergegensätzlichkeit« (Bohnsack 2009) kongruent erscheinen zu lassen, ohne den einen Aspekt zugunsten des anderen aufzuheben. Anders als die ›inszenierte‹ Wirklichkeit der Werbebilder dokumentieren die aus einer »Fotobefragung« (Kolb 2008) hervorgegangenen Bilder von Bewohnern die ›gelebte‹ Wirklichkeit der Stadt. Auch diese Bilder thematisieren einen inhärenten Konflikt. So äußern sich die Bewohnerinnen äußerst kritisch über den städtischen Alltag. Gleichzeitig konnte jedoch auch eine sehr hohe emotionale Verbundenheit mit der Stadt festgestellt werden. Dissens und Konsens vermengen sich in den Bilderzählungen. Die ›ästhetisch verdichtete‹ Wirklichkeit, die durch die Serien zweier Künstler vertreten ist, gliedert sich in eine Außenperspektive und eine Innenperspektive auf die Stadt. Distanz und Nähe treffen dabei in einem komplexen Beziehungsgeflecht aufeinander. Die Außenperspektive eines in Köln lebenden Künstlers nähert sich der Stadt vom Zentrum und bleibt zugleich auf Distanz. Umgekehrt sucht die Innenperspektive, vertreten durch einen in Istanbul lebenden Künstler, periphere Orte der Stadt auf, um ihre gegenwärtige Entwicklung festzuhalten. Anhand eines Vergleichs der Bilder Istanbuls lassen sich etliche Überschneidungen erkennen. Diese liegen weniger auf einer thematischen sowie formalästhetischen Ebene, sondern können vor allem an einem latent wirkenden Strukturprinzip festgemacht werden, mittels welchem Machtaspekte aufgegriffen, Selbststilisierung vorgenommen und unterschiedliche Zeitdimensionen verknüpft werden. Die Bilder verweisen über ihre Unterschiedlichkeit hinweg auf einen kollektiv geteilten Symbolkosmos. Obgleich Istanbul das eine Mal einem wohlhabenden internationalen Publikum präsentiert wird, des Weiteren die Bewohner über den beschwerlichen Alltag in der Stadt berichten und schließlich die Kunstserien auf einer ästhetischen Ebene zu dekodieren sind, Istanbul bleibt in gewisser Hinsicht Istanbul: Es sind allesamt Bilder ›dieser‹ Stadt.

Potenziale einer visuellen Stadtsoziologie

S TADT

IM

B ILD

Die frühen Hochkulturen waren der Beginn urbaner Zentren. Zeitgleich mit der baulichen Entwicklung stark verdichteter Siedlungen entstanden auch die ersten Stadtdarstellungen in Form von Hieroglyphen, Stadtplänen und Symbolen. Diese Stadtbilder beinhalten bereits Vorstellungen, die mit dem Begriff Stadt bis heute verbunden sind. Eine Stadtmetapher, die beispielsweise noch vor unserer Zeitrechnung aus der römischen Kultur hervorging, ist die Stadt als Labyrinth. Mit seiner symmetrischen, geordneten Form schafft es ein Regelwerk, das der Orientierung dennoch zuwiderläuft. Das Labyrinth verweist paradigmatisch darauf, wie städtebauliche Planung zu lebensweltlicher Orientierungslosigkeit führen kann, denn nicht nur die Größe und Komplexität der Stadt, sondern gerade auch die idealisierte Symmetrie der Wege und ihre Anonymität sind Kennzeichen städtischer Irrgärten. Damals wie heute bewegen solcherart Stadtutopien die Phantasien (siehe Abbildung 1 und Abbildung 2). Manhattan wird etwa in der graphic novel ›Stadt aus Glas‹ sowohl in seiner Übersichtlichkeit wie in seiner verwirrenden Struktur dargestellt. Das Gitternetz, das von oben betrachtet mehr als nur überschaubar wirkt, entpuppt sich im Alltag Quinns, so der Name des Protagonisten, durch die Gleichartigkeit der Orte als ein undurchdringbares Nirgendwo.

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Abbildung 1: Römisches Labyrinth;

Abbildung 2: Auster, Paul (2005): »Stadt aus

Tafel 9. In: Vercelloni, Virgilio

Glas«, als graphic novel interpretiert und illust-

(1994): Europäische Stadtutopien.

riert von Paul Karasik und David Mazzucchelli.

Ein historischer Atlas. Diedrichs

Reprodukt Verlag: Berlin: Cover sowie S. 10.

Verlag: München: S. 17.

Spätestens seit den Druckgrafiken der Frühen Neuzeit tritt die Stadt als autonomes Sujet der Bildgestaltung hervor und fand durch drucktechnische Innovationen erstmals weite Verbreitung (Bruhn/Bickendorf 2013: 248). Die Stadt war seit diesem Zeitpunkt nicht mehr lediglich Kulisse einer biblischen Szene oder neutral zu vermessendes Objekt einer Planzeichnung. In den großformatigen Stadtansichten, die etwa in der Schedelschen Weltchronik von 1493 oder bei Matthäus Merian zu finden sind, wurde das individuelle Stadtgebilde zum eigentlichen Bildgegenstand, wobei sich neueste Vermessungstechniken mit künstlerischen Gestaltungsansprüchen vermengten. Der Blick des Betrachters wurde perspektivisch geleitet und symbolträchtige Gebäude akzentuiert. Die Stadt war ein Prestigeobjekt, Symbol für politische, wirtschaftliche und religiöse Macht, die einflussreiche Stadtstaaten wie Florenz oder Venedig par excellence verkörperten. Der Blick auf die Stadt war alles andere als ›demokratisiert‹ und ›objektiviert‹. Daran änderte auch der durch perspektivische Errungenschaften neu gewonnene Standpunkt nichts, welcher es erlaubte, die Stadt aus der Vogelperspektive zu zeichnen. Die Stadtherren hatten die Bildrechte inne und die Zeichner mussten sowohl die Erlaubnis der Bebilderung erfragen als sie auch ökonomisch (die Bildproduktion war ein aufwändiges Verfahren) von der finanziellen Unterstützung der Obrigkeit abhingen. Dadurch waren sowohl der Realismus der Darstellung als auch die künstlerische Freiheit eingeschränkt. Die frühen Stadtansichten sind dennoch mehr als hegemoniale Machtdemonstrationen. Mit ihnen lassen sich Idealvorstellungen von Stadt rekonstruieren und gesellschaftliche Veränderungen infolge von Kriegen, veränderten Herrschaftsverhältnissen, technischen Innovationen, wirtschaftlichem und demographischem Wandel, Naturkatastrophen etc. nachzeichnen (ebd.: 252). Zunehmend treten

P OTENZIALE EINER

VISUELLEN

S TADTSOZIOLOGIE

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etwa die Bürgerhäuser in der Bildgestaltung hervor und auch das Rathaus und der Marktplatz werden perspektivisch akzentuiert, was unter anderem auf das steigende Selbstbewusstsein der Bürgerschaft und die Entstehung einer städtischen Öffentlichkeit verweist. Die frühen Städtebilder eines Hartmann Schedels oder Matthäus Merians können auch als erste touristische Bildproduktionen verstanden werden, die die Sehnsucht nach den fremden Städten steigerten. Die Profilansichten und Planzeichnungen mussten nun mit weiteren Inhalten gefüllt werden, die das Leben in den Städten verstärkt erfahrbar machten. Nicht mehr nur die Repräsentationsfunktion von Gebäuden und Plätzen stand dabei im Fokus, sondern auch das Leben des gemeinen Stadtvolks und ihre Präsenz im urbanen Raum wurden Teil der aufkommenden Szenarien (Tönnesmann 2010: 314). Die im neunzehnten Jahrhundert erfundene Daguerreotypie ist eine weitere technische Entwicklung, die zur noch ausgedehnteren Verbreitung von Stadtbildern führte. Großstädte wie London, Paris oder New York und die sich in ihnen manifestierenden sozialen Veränderungen waren seit jeher zentrale Motive der Fotografie (Nilson 2013; Tormey 2013; Rose 2014). Man denke etwa an Haussmanns umfassende Restrukturierung von Paris, die von Charles Marville über fünfzehn Jahre hinweg dokumentiert wurde, oder die Spurensuche Eugène Atgets, der nach der Modernisierung der Stadt in nostalgischer Wehmut jener Atmosphäre der Stadt nachspürte, die von Hausmanns Eingriffen verschont blieb. Und schließlich, um bei Paris zu bleiben, die Fotografien eines Brassai, der sich den versteckten Winkeln der Stadt widmete und dabei – anders als in den Bildern von Marville und Atget – weniger die Architektur der Stadt, als das Leben in ihr festhielt. Neben der Fotografie haben auch Film und Kino das Bild der Stadt geprägt (Marcus/Neumann 2008; Gordon 2010). Fritz Langs 1926 erschienener Film ›Metropolis‹ kann etwa als Pionier des Großstadtkinos angeführt werden. Lang ging es weniger darum, mit dokumentarischen Mitteln die ›Realität‹ der Stadt festzuhalten, als das Verschwimmen der Grenzen zwischen der utopischen Idealstadt und des infernalischen urbanen Molochs sichtbar zu machen. In Metropolis vermengen sich Vorstellungen der Stadt als Maschine, als Ort der totalen Überwachung und Steuerung und als Manifestation eines ausbeuterischen Kapitalismus. Ab den 1980er Jahren differenziert sich schließlich ein neues Subfeld der Ökonomie, das Stadtmarketing, aus. Im Zuge der Deindustrialisierung versuchen Städte, sich auf neue wirtschaftliche Standbeine zu stellen, wozu Investoren, Know-How und Touristen benötigt werden. Städte sehen sich dabei in einem weltweiten Konkurrenzkampf um eine eng definierte Zielgruppe. Dieser Wettbewerb wird ikonisch geführt (Löw 2008a). Sogenannte ›signature buildings‹ international renommierter Stararchitekten sollen die Wiedererkennbarkeit der

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Orte sichern. Das Stadtmarketing nimmt auf die neue architektonische Gestalt der Stadt Bezug und verpackt diese zusammen mit lokalen Narrativen zu einem kommunizierbaren Image der Stadt. Ob Werbebilder, dokumentarische Fotoarbeiten, Stadtfilme, historische Gemälde, Stadtpläne, Comics, architektonische Stadtutopien, ›Beweismaterial‹ von Städtetouristen etc., all diese Bilder beeinflussen unsere Wahrnehmung von Städten (Rose 2014: 5). Man denke etwa an eine Stadt wie New York und schon hat man Bilder vor Augen, seien dies Ikons wie die Freiheitsstatue bzw. die Skyline von Manhattan oder yellow cabs und rauchende Gullydeckel, wie man sie aus Filmen wie Scorseses ›Taxi Driver‹ kennt. Hinter den genretypischen Stilen und Intentionen der Bildproduktion stecken allgemeine Vorstellungen davon, was ›Stadt‹ ist und was sie ausmacht. Handelt es sich um Interpretationen einer bestimmten, real existierenden Stadt, so lassen sich ebenfalls Besonderheiten dieser im Unterschied zu anderen Städten dechiffrieren. Trotz der Omnipräsenz des Stadtbildes sind die visuellen Darstellungen der Städte von der Soziologie bislang marginal erforscht worden (Eckardt 2008: 106; Löw 2008a: 140ff; Marent/Rosenbusch 2014). Die Ursache ist darin zu vermuten, dass der Disziplin schlichtweg die methodischen Zugänge zur Erschließung des Bildsinnes fehlten. 1993 schrieb etwa Stefan Müller-Doohm noch drastisch: »Die Kultursoziologie verfügt über kein geeignetes Besteck, um sich diesen heißen Brei (gemeint ist die Symbolform des Visuellen; Anmerk. JM) so zu Munde zu führen, daß sie sich nicht schon beim ersten Bissen verbrennt« (Müller-Doohm 1993: 442). In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich hinsichtlich methodischer Verfahren der Bildanalyse viel getan 5 und die visuelle Soziologie hat sich zu einem eigenständigen Forschungszweig entwickelt, der über Publikationsorgane und Vereinigungen verfügt. Damit ist eine visuell sensibilisierte Stadtsoziologie auf genügend Fundament gestellt, um sich in ein nahezu unberührtes Forschungsterrain zu wagen. Nun wurde bereits eine Fülle von Bildgenres angesprochen, die allesamt die Stadt in den Fokus rücken, ohne genau zu bestimmen, welche Art von Bilder im Folgenden behandelt werden. Um eine erste Orientierung zu schaffen, soll eine Klassifizierung von W.J.T. Mitchell herangezogen werden (Mitchell 1984). ›Bild‹ kann im Englischen sowohl in ›image‹ als auch in ›picture‹ übersetzt werden. Das Wort ›image« referiert dabei auf die Vorstellung, wobei ›picture‹ auf die konkrete Form, die materielle Bildgestalt, Bezug nimmt. So meint auch

5

Siehe etwa die methodischen Verfahren von Bohnsack (2008) sowie Breckner (2010). Eine Übersicht über die verschiedenen Ansätze bietet Raab (2008: 96ff) sowie Rose (2012).

P OTENZIALE EINER

VISUELLEN

S TADTSOZIOLOGIE

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›to imagine something‹ etwas anderes als ›to picture something‹: Die Idee bzw. die Wahrnehmung wird im Englischen vom konkreten Akt der Bebilderung getrennt. Mitchell wählt nun den Begriff ›image‹ als Oberbegriff, da jeder materiellen Bildgestalt auch eine Idee innewohnt, sich jedoch umgekehrt nicht jede Vorstellung unbedingt in einen materiellen Bildgegenstand übersetzen muss. Mitchell teilt die ›Familie‹ der Images in grafische (Gemälde, Fotos, Diagramme, Statuen usw.), optische (Spiegelungen oder Projektionen), perzeptuelle (Sinnesdaten und Erscheinungen), geistige (Träume, Erinnerungen, Ideen oder Vorstellungen) und sprachliche (Metaphern oder Beschreibungen). Anhand seiner Klassifizierung spiegelt sich auch die Arbeitsaufteilung der wissenschaftlichen Disziplinen. Mit grafischen Bildern beschäftigen sich in erster Linie die Kunstgeschichte und die Architektur, seit einiger Zeit auch die Soziologie. Mit optischen Bildern setzt sich die Physik auseinander, mit perzeptuellen die Kognitionswissenschaft. Mit mentalen Vorstellungen hat es die Psychologie zu tun und verbale Bilder werden von der Linguistik und der Literaturwissenschaft untersucht. Wenn im Folgenden von ›Stadtbild‹ gesprochen wird, so ist die Säule der grafischen Bilder und im Spezifischen jene materialisierten Stadtbilder gemeint, die unter dem Begriff ›picture‹ medial zirkulieren. Diese Festlegung bezieht sich allerdings lediglich auf das empirische Material. Die verschiedenen Arten von Bilder sind nicht ganz so trennscharf zu unterscheiden, wie ihre ›Systematisierung‹ suggerieren mag. Vielmehr durchdringen sie sich gegenseitig. Dies wird auch von Mitchell selbst vermerkt. Er verweist in diesem Zusammenhang etwa auf Arbeiten von Ernst Gombrich, der gemalte Bilder in Hinblick auf ihre optische und perzeptuelle Wirkung untersucht (Mitchell 1984: 506). In der Stadtforschung wurde das materielle Bild der Stadt von Kevin Lynch prominent untersucht (Lynch 1960). Ihn interessierte dabei der Zusammenhang zwischen Stadtgestalt (materielles Bild), kognitiver Orientierung (perzeptuelles Bild) und dem psychischen Wohlbefinden der Bewohner (mentales Bild). D.h., es wurde der Zusammenhang von drei Bildtypen untersucht, wobei von einer linearen Einflussnahme seitens der architektonischen Gestalt der Stadt ausgegangen wurde. In dieser Arbeit soll über grafische Stadtbilder, die ihnen zugrundeliegenden Vorstellungswelten der Stadt und ihr spezifischer Charakter rekonstruiert werden. Als Vorreiter einer solchen Unternehmung kann Anselm Strauss und sein Werk ›Images of the American City‹ (1961) angeführt werden. Für Strauss war die Stadt nicht nur physische Gestalt, sondern vor allem eine symbolisch aufgeladene Form, eine Sinneinheit, die in bildlichen Stadtdarstellungen in verdichteter Prägung zu analysieren ist. Ihn interessierten die Differenzen zwischen den Stadtdarstellungen, und wie sich der jeweilige städtische Symbolkosmos etab-

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liert hatte. Die Stadt als erfahrbare Sinneinheit nutzt nicht nur der Tourismusindustrie, um bestimmte Vorstellungen strategisch zu kommunizieren und Distinktionspotenzial zu schaffen. Auch im Alltag, so Strauss, müssen Bewohner ein »set of associations« (Strauss 1961: 5) ausbilden, die sie der Stadt zuschreiben, um sich in ihr zurechtzufinden. Der Bewohner hat in der Stadt verschiedenste Herausforderungen zu bewältigen: er muss wissen, wie man Bekanntschaften knüpft oder Kontakte vermeidet, er muss eine Arbeit finden und sich in seiner Erwerbstätigkeit bewähren, überhaupt gilt es im Alltag zu wissen, wer für was zuständig ist, wo man was bekommt und wie die jeweiligen Interaktionen anzubahnen sind. In all diesen Tätigkeiten drängt sich die Sinnstruktur der Stadt auf: »In dealing with these tasks, he senses some of the special qualities which seems to mark the city as a whole« (Strauss 1961: 5). In diesem Zitat finden sich drei sehr alltägliche Beobachtungen, die jedoch für eine kultursoziologische Stadtforschung von weitreichender Relevanz sind: Jede Stadtbewohnerin hat eine (wenn auch präreflexive) Vorstellung vom ›Ganzen‹ der Stadt. Diese Vorstellung hilft ihr, ihren Alltag zu strukturieren, und dieses Ganze verweist auf »special qualities«, die sich von anderen Städten unterscheiden, die wiederum ihre eigenen Symbolkontexte ausgebildet haben. Damit ist die Stadt als distinktive Sinneinheit – als vorstellbares Ganzes – konzipiert. Um die Komplexität der Stadt zu reduzieren, werden Städten häufig Attribute zugeschrieben. Wien gilt als gemütlich, Berlin als quirlig, Frankfurt als offen und außenorientiert, Dortmund als geschlossen und nach innen gekehrt. Istanbul wird häufig eine gewisse melancholische Note zugeschrieben, wohingegen New York als ausgelassen und lebensfroh perzipiert wird. Aus diesen Attributen bilden sich nach Strauss ganze Persönlichkeiten6. Die Stadt wird mit einer Biografie und einer Reputation ausgestattet (Strauss 1961: 14). Die Anthropomorphisierung der Stadt vereinfacht es der Bewohnerin, die Stadt als Einheit zu denken, die, wie der Charakter einer Person, vielseitig und z.T. auch widersprüchlich sein kann. Strauss weist an dieser Stelle nochmal explizit darauf hin, dass die Einheitsstiftung und Besonderung nicht nur der ›Bewerbung‹ der Stadt dient, sondern auch der Orientierung im städtischen Alltag: »It is not only the booster who claims that there is no other city like his own; the ordinary citizen may feel this too, regardless of whether he approves of his city or not« (Strauss 1961: 16). Auch wenn der Symbolkosmos der Stadt nicht unbedingt gutgeheißen wird, so drängt er sich dennoch als ›Faktum‹ auf. Der Alltag der Stadt – der

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Wie sich aus Zuschreibungen ganze Stadt-Charaktere formen und wie diese Vorstellungen von Städten urbane Alltagspraktiken prägen, wird in dem Aufsatz »Städte als Sozialfiguren« (Berking et al. 2014) ausführlich beschrieben.

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Handlungskontext – und die Vorstellung davon, was und wie die Stadt ist, sind untrennbar ineinander verwoben. Der städtische Symbolkosmos ist eine zentrale Bewertungsinstanz, die in einem Kontext vielfältiger Eindrücke und Möglichkeiten Handeln realisiert. Strauss geht in seiner Argumentation gar soweit, dass das Fehlen einer Vorstellung vom Ganzen der Stadt zu psychologischen Problemen führen kann: »Characterization of the city, and of the life lived in it, is indispensable for organizing the inevitably ambiguous mass of impressions and experiences to which every inhabitant is exposed, and which he must collate and assess, not only for peace of mind but to carry on daily affairs. (…) Uncertainty about the character of the environment can only engender deep psychological stress« (Strauss 1961: 17).

An dieser Stelle ist eine Parallele zwischen den nahezu zeitgleich erschienenen Werken von Lynch und Strauss zu erkennen. Für beide Autoren ist die Stadt eine Vorstellungswelt, die sich auf die Psyche der Bewohnerinnen auswirkt. Der fundamentale Unterschied besteht jedoch darin, dass Lynch vor allem vom Einfluss der baulichen Gestalt ausgeht, während sich Strauss eher für urbane Narrative und Ideen interessiert, die er anhand symbolischer Repräsentationen der Stadt rekonstruiert. Die Architektur ist zwar durchaus auch symbolhaft aufgeladen, doch Lynch beschäftigte sich eher damit, wie Wege, Knotenpunkte und sogenannte ›landmarks‹ räumliche Orientierung schaffen. Die symbolische Dichte medial kursierender Stadtbilder, denen Anselm Strauss’ Interesse galt, steht ebenfalls im Fokus dieser Arbeit. Worin besteht jedoch das ureigene Potenzial ›bildlicher‹ Stadtdarstellungen?

B ILDQUALITÄTEN Präsenz In Platons Dialog ›Sophistes‹ wird die Qualität des Bildes in seiner Funktion als Abbild einer Idee bzw. einer Vorstellung beschrieben. So definiert die Figur des Theaitetos das Bild als »das einem Wahren ähnlich gemachte andere derartige« (Platon zit. nach Böhme 1999: 13). Auch wenn das Bild wirklich ist, so ist es für Theaitetos, wie er im Verlauf des Dialogs explizit festhält, keineswegs ein Wahres, sondern ein Anscheinendes. Zentral an der platonischen Bilddefinition ist, dass das Bild in seiner Zeichenfunktion aufgeht. Hat es keinen Referenten, auf den es sich bezieht, so geht ihm der Bildcharakter verloren. Doch sind Bilder

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immer (nur) Zeichen für etwas, das außerhalb ihrer selbst liegt? Eine etwas konträre Auffassung vertritt der postmoderne Diskurs, der davon ausgeht, dass Bilder zunehmend autonom werden, sich von ihrer Repräsentationsfunktion losreißen und anstelle der Dinge und Ereignisse treten. Jean Baudrillard, Guy Debord, Jacques Derrida, Villem Flusser und andere verweisen mit allem Recht – wenn auch sehr überspitzt – darauf, dass die Omnipräsenz der Bilder dazu führt, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit eine durch und durch visuell vermittelte Wirklichkeit ist. Die steigende Macht der Bilder liegt nach Ansicht der postmodernen Bildkritik an den technischen Errungenschaften, die nicht nur die Distributionsmöglichkeiten vervielfältigten, sondern ebenfalls die Möglichkeiten zur vollkommenen ›realistischen‹ Darstellung potenzierten, wodurch die Grenze zwischen Medium und Botschaft verwischt wurde. Die »Simulacra«, wie Baudrillard die platonischen Schatten- und Trugbilder bezeichnet, die der Realität so verblüffend ähnlich scheinen, vernichten den Unterschied zwischen Bild und Realität (Baudrillard 1994). Dadurch dass dieser Unterschied aufgehoben wird, ist das Bild auch nicht mehr zur Darstellung der Dinge genötigt, es wird von seiner Zeichenfunktion entkoppelt. Bilder beziehen sich höchstens noch auf andere Bilder. So stellt etwa Hans Belting fest, dass sich die Maxime der Ähnlichkeit umkehrt. Die Qualität des Bildes wird nicht mehr daraufhin beurteilt, wie gut es die Realität abbildet, sondern die Realität dahingehend überprüft, wie nah sie der bildlichen Darstellung kommt: »Wir messen die Welt nach den Ähnlichkeiten, die sie mit den Bildern hat, und nicht umgekehrt« (Belting 2005: 24). Darin erkennt er einen fundamentalen Wechsel in unserer Kultur. Während Bilder traditionell Ereignisse reproduziert haben, um für jene, die nicht daran teilhaben konnten, vorstellbar zu werden, wurde nun das Bild selbst zum Ereignis: »Man produziert Bilder, indem man einen Tatbestand arrangiert, der erst im Bild Wirklichkeit wird und den man der Bildproduktion wegen veranstaltet« (Belting 2005: 18). Städtereisetouristinnen, um ein Beispiel zu bedienen, suchen medial vermittelte ›visuelle hotspots‹ auf, nicht um den Blick zu genießen und der Imagination freien Lauf zu lassen, sondern um erneut ein Bild zu produzieren. Ihre Blicke werden durch im Vorfeld konsumierte Bilder gelenkt und die Suche dient der Reproduktion dieser bereits existierenden Bilder. Derlei Bedeutungsverschiebungen, bei denen die Bildproduktion das Ereignis übersteigert, ließen sich endlos fortführen. Belting geht nicht davon aus, dass Bilder jemals schlichtweg das ›Reale‹ abgebildet hätten, sondern verweist darauf, dass sie selbst an der Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt waren. Nichtsdestotrotz – und darin besteht für ihn der zentrale Unterschied – hatten sie stets einen Referenten (Belting 2005: 15). An diesem Punkt würden phänomenologisch argumentierende Bildtheoretiker widersprechen und darauf hinweisen, dass das

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Bildhafte immer schon mit einer immanenten Selbstbezüglichkeit bestückt war. Um diese Argumentation zu stärken, versucht sich Gernot Böhme an einem äußert ›schwierigen Fall‹, der Portraitmalerei. Beim Portrait, so die gängige Auffassung, ist der Referent in ikonischer Ähnlichkeit besonders präsent. Böhme zeigt jedoch anhand des Bildes der Mona Lisa, dass es weder um die Person geht, die hinter dem Bild steckt, noch um das materielle Bild, das im Louvre hängt (Böhme 1999: 27ff). Wenn wir an die Mona Lisa denken, so geht es in erster Linie um die Darstellung. Weitreichende Nachforschungen von Kunsthistorikerinnen konnten den Referenten, die Person, die das Portrait der Mona Lisa abbilden sollte, nicht eindeutig bestimmen. Durch die Untersuchungen wurde gar immer fragwürdiger, ob eine ›reale‹ Person, die das Bild ›verkörpert‹, jemals existierte. Außerdem, so zeigt Böhme anhand künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Mona Lisa von Warhol, Duchamp und Léger, bezogen sich diese stets auf die Darstellung, nicht jedoch auf einen möglichen Referenten. Die Mona Lisa wird dadurch zu etwas Immateriellem, das in einem Bildgegenstand wirklich wird, sich aber durch die unzähligen Reproduktionen von diesem entkoppelt (Böhme 1999: 43). D.h., dass nicht erst in der postmodernen Gesellschaft Bilder ›eigenständig‹ und ›körperlos‹ werden. Schon anhand des Ölgemäldes von Leonardo da Vinci ist zu hinterfragen, ob es sich jemals um einen Ikon handelte, der eine Lisa del Giocondo oder eine Isabella d’Este repräsentierte. Wozu dienen uns diese Überlegungen? So stark die postmoderne Bildkritik sich in ihrer platonischen Bilderskepsis bemerkbar macht, so weist sie dennoch über diese hinaus: Bilder lassen sich nicht mehr lediglich als Zeichen verstehen, sie produzieren eine Wirklichkeit sui generis. Mit dieser Implikation wird die Bedeutung der Bilder gesteigert, wobei sich die postmoderne Bildkritik in erster Linie für die Bildpragmatik interessiert und ihre Perspektive auf die Entschlüsselung der Machtverhältnisse, die ›hinter‹ den Bildern stecken, verengt. Die Feststellung einer Selbstreferentialität der Bilder führt paradoxer Weise eben nicht dazu, sich mit der bildimmanenten Wirklichkeit auseinanderzusetzen, denn in dieser Hinsicht ist man nach wie vor im alteuropäischen Ikonoklasmus verhaftet: Bilder täuschen. Sie täuschen, indem sie sich nur mehr auf sich selbst beziehen, nicht mehr dadurch, dass sie Wirklichkeit verzerrt abbilden; sie täuschen vielmehr dadurch, dass sie Inhalt simulieren, wo nur mehr Leere herrscht. Die Entkopplung des Bildes von seiner Zeichenfunktion wird von der postmodernen Bildkritik als ›Verlust‹ beschrieben, mit dem auch der Realitätsbezug verloren ging und Bilder zu ›bloßen‹ Simulationen verkamen. Die zunehmende Macht der Bilder, wie sie durch die oben zitierten Autoren vermerkt wurde, dient auch hier als Argument für die eingehende Beschäftigung

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mit dem Bildlichen. Sie wird jedoch nicht als Entwirklichung der ›Realität‹ – ein Begriff, der ohnehin konstruktivistisches Unbehagen auslöst – gedeutet. Vielmehr gilt unser Interesse der bildimmanenten Erscheinung und dem symbolischen Potenzial, das in dieser angelegt ist. Es wird die Feststellung der Autonomie der Bilder übernommen. In dem Maße, wie sich die Bilder von ihrer Zeichenhaftigkeit entkoppeln, setzen sie sich jedoch auch von den Herrscherinnen über die Zeichen frei (Belting 2005: 8) und werden in dieser Hinsicht unbeherrschbar. Diese Vorüberlegungen sprechen – in der hier vertretenen Argumentation – für eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ›Präsenz‹, der Erscheinung des Bildes. Denn wenn Bilder mehr als nur Zeichen sind und eine eigene Wirklichkeit hervorbringen, kann es nicht lediglich um die Entschlüsselung von Referenzen gehen, die auf Äußeres Bezug nehmen. Und wenn sich die Suggestivkraft der Bilder zunehmend weniger beherrschen lässt, kann sich eine fundierte Bildanalyse auch nicht lediglich auf die Bildpragmatik beschränken, die die Intentionen der Auftraggeber und den Verwendungskontext offenlegt. Damit wechseln wir zu einer phänomenologischen Perspektive. Ferner reißen wir uns von der Negationsvorstellung los, die die Leistung der Bilder darin erkennt, dass sie zeigen, was sie selbst nicht sind, und ersetzen die Subtraktionslogik durch eine Additionslogik, wodurch ein bildspezifischer Zusammenhang zum Vorschein tritt: das Bild zeigt etwas und zugleich sich selbst. Diese Verschränkung einer »doppelten Deixis« (Boehm 2010: 19) erzeugt die Bildlichkeit des Bildes, eine Präsenz, die sich nicht mit der Entschlüsselung der Verweisungszusammenhänge hinreichend erschließen lässt. »Das zeigende Verweisen, das Etwas-zeigen und das Sich-zeigen befinden sich mithin in einer engen Austauschbeziehung, sie oszillieren gleichsam« (Boehm 2010: 25; Hvh. i.O.). Diese »doppelte Lesbarkeit« des Bildes verschließt sich, so Boehm, der Semiose, weil sich das Sich-zeigen eben nicht darin erschöpft Etwas zu zeigen (ebd.: 27). Für die Verweisung auf Etwas bedarf es keines Bildes. Diese Aufgabe kann hinreichend von schriftlichen Zeichen erfüllt werden. Die Präsenz, die Verschränkung von (etwas) Zeigen und (sich) Sichtbarmachen ist die Qualität bzw. der Erfahrungsmehrwert des Bildes. Der Akt der Sichtbarmachung und das Sehen selbst werden dabei zu schöpferischen Leistungen, die Erscheinungen hervorbringen, die ohne sie nicht wären: eine Form artifizieller Präsenz (Wiesing 2005: 32). Eine zentrale Errungenschaft der Phänomenologie ist, dass sie der spezifischen Logik der bildlichen Erscheinung nachging und diese von der prädikativen Logik der Sprache unterschied. Damit konnten Fragen danach gestellt werden, wie Bilder mit visuellen Dimensionen, etwa Farben, Formen, Linien, aber auch Perspektiven und Materialitäten, Sinn erzeugen und wie bildliche Atmosphären

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die Wahrnehmung beeinflussen. Die Suggestivkraft der Bilder besteht gerade auch darin, dass sie zeigen, was nicht auf ihnen zu sehen ist: »Jedes Bild deutet, indem es stilisiert, und keines schafft Präsenz ohne den unvermeidlichen Schatten der Abwesenheit« (Boehm 2010: 38f). Die Phänomenologie kann als Gegenposition zum Positivismus verstanden werden, der die These vertritt, dass dem, was sich nicht in bestimmter Weise sagen lässt, keine verbindliche Realität zukommt (Boehm 2010: 46). Gerade unbestimmte und bedeutungsoffene Bilder beleuchten unsichtbare Aspekte von Phänomenen, ohne sie abzubilden, indem sie sinnliche Atmosphären schaffen und mit Mitteln der Appräsentation (Schütz 1971: 343; Breckner 2010: 54) auch Nicht-Sichtbares mitvergegenwärtigen. Gerade durch ihre Opazität (und nicht durch ihre Transparenz!) erzeugen Bilder affektive Wirkung. Damit ist eine zweite Qualität des Bildlichen angesprochen, die Unbestimmtheit. Unbestimmtheit Innerhalb der Bildwissenschaft wird die Bedeutungsoffenheit visueller Darstellungen zumeist als immanenter Nachteil gewertet. Vor allem Vertreter der Visual Studies, aber auch gewisse Stimmen innerhalb der Kunstgeschichte7 hegen eine beachtliche Skepsis gegenüber der Unbestimmtheit und Komplexität der Bilder und versuchen zumeist über ›Umwege‹ (Produktionsbedingungen, Verwendungskontexte, Machtverhältnisse) deren Bedeutungsgehalt zu erschließen. Die interdisziplinäre Ausrichtung der Visual Studies spiegelt das Misstrauen gegenüber Einzeldisziplinen, die sich gewisse Bildkompetenzen – sei es die Kenntnis der Stilgeschichte, die Fähigkeit der hermeneutischen Auslegung oder das Wissen um die historische Gesellschaftsanalyse – zuschreiben. Stuart Hall fordert neben dem Wissen der Produktions- und Verwendungskontexte gar ›beträchtliches Taktgefühl‹ (Hall 2003: 76), das seines Erachtens am ehesten mit der persönlichen/biografischen Betroffenheit einhergeht (was er jedoch nicht explizit erwähnt), um ›mit äußerster Sorgfalt‹ die Bedeutung des Bildes erschließen zu können. Besonders die ›Dekonstruktionsorgien‹ (Hall 2003: 23) interpretativer Zugänge werden von ihm gefürchtet und stützen sich seines Erachtens nicht auf wissenschaftliche Evidenz. Man versucht der Komplexität des Bildes damit zu begegnen, indem man die möglichen Bedeutungshorizonte im Vorfeld einschränkt. Wenn überhaupt der Bedeutung der bildimmanenten Darstellung nachgegangen wird, so geht es zumeist, wie die einführenden Überlegungen bereits gezeigt haben, um die Dechiffrierung von Zeichen im Bild. Dem-

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Etwa Norman Bryson; siehe dazu (Schulz 2009: 122).

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entsprechend war und ist der Fokus auf Figuren und ihre Symbolik, auf bewegte Körper, Gesten usw. gerichtet. Sehr prominent kann etwa Aby Warburgs Begriff der Pathosformel angeführt werden (Schulz 2009: 75). Mit ihm verweist er auf typische Darstellungen von Mimik, Gestik und Haltung, die von der Antike bis in die Gegenwart in ihrer Wirkung fortbestehen. In seinen Bildtafeln setzte er verschiedene Epochen wie auch verschiedene Genres (Kunstbilder und Bilder der Massenmedien) in Bezug zueinander. Jegliche Bildproduktion, so seine Überzeugung, bezieht sich unweigerlich auf ein ›visuelles Gedächtnis‹, das seit der Antike fortbesteht. Die sogenannten »Pathosformeln«, die in ihrer Suggestivkraft erprobt sind, werden immer wieder herangezogen; sie bilden die »Mnemosyne«, die unverlierbare Erbmasse unserer visuellen Kultur. Warburgs Überlegungen sind in ihrer historischen Aufarbeitung im wahrsten Sinne des Wortes weitreichend. Aus phänomenologischer Perspektive widmen sie sich jedoch zu stark der ›konkreten‹ Darstellung, den figurativen Bildelementen. Dabei wird die Qualität formloser Bildelemente, das Rauschen einzelner Farbpigmente, kurz: die Unschärfe des Bildes übersehen. Gottfried Boehm plädiert dafür, dass man sich von der Vorstellung verabschieden muss, dass Ausdruck lediglich ein Phänomen des bewegten Körpers ist und unterstreicht die Bedeutung des vielfach übersehenen, weil häufig »unscharfen« Grundes (Boehm 2010: 190). Konträr zu der vielfach vorgebrachten Kritik der bildlichen Unbestimmtheit, sieht er gerade darin das Potenzial visueller Darstellungen. »Unsere Hypothese besagt ja nicht, dass es scharfe oder unscharfe Bilder gibt, sondern Unschärfe, genauer gesagt: Unbestimmtheit eine Eigenschaft darstellt, die Bildern generell zukommt« (Boehm 2010: 200; Hvh. i.O.). Diese Unschärfe verweigert es dem Auge bestimmte Elemente des Bildes zu fokussieren und »scharf zu stellen« und widerspricht damit der Logik des Identifizierens (Boehm 2010: 207). Man erkennt hier die Schwierigkeit, die die Unschärfe der Ikonologie und besonders der Semiotik bereitet. Was nicht als Zeichen identifiziert werden kann, kann auch nicht in seiner Zeichenfunktion beschrieben werden. Es bleibt sprichwörtlich im Hintergrund der Bildbeschreibung. Um die atmosphärische Qualität des Grundes zu veranschaulichen, zieht Gottfried Boehm ein Gemälde von Monet, die ›Kathedrale von Rouen‹ (1894), heran:

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Boehm zufolge stillt das Gemälde zunächst das Bedürfnis des Wiedererkennens, der Blick spaltet sich jedoch rasch (Boehm 2010: 47f). Man fokussiert zunächst die Fassade der Kathedrale, folgt jedoch alsbald dem Rauschen der Farben und des Lichts und kann schließlich Figur und Grund nicht mehr trennscharf unterscheiden, womit auch der zuvor diskutierte Unterschied zwischen Darstellung und Dargestelltem Abbildung 3: Claude Monet: Katheaufgehoben ist: »Diese Inversion ist das drale von Rouen, 1894. Foundation eigentliche Zentrum des Bildes und Beyerle, Riehen/Basel (In: Boehm seiner Theorie. Unbestimmtheit ist 2010: 48). dafür unverzichtbar, denn sie schafft erst jene Spielräume und Potenzialitäten, die das Faktische in die Lage versetzen, sich zu zeigen und etwas zu zeigen« (Boehm 2010: 211; Hvh. i.O.). Mit dem Begriff der ikonischen Differenz beschreibt Boehm die »›unmögliche‹ Synthese von Sichtbarem und Unsichtbarem, von thematisch Identifizierbarem und unthematischem Horizont« (Boehm 2010: 210). Dieses Zusammenspiel verleiht dem Bild einen atmosphärischen Ausdruck, wie er nicht durch die alleinige figurative Abbildung der Kathedrale zu erzeugen ist. Bedeutung ist also nur in der Gesamtheit des Bildes und in eben diesem Zusammenwirken von Konkretem und Unkonkretem zu erfassen.

Abbildung 4: Website www.birminghamtoolkit.com (13.06.2013).

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Um die Wirkungsweise des Unbestimmten und seine Qualität genauer zu bestimmen, soll ein Stadtbild herangezogen werden8. Dieses zeigt eine Nachtaufnahme Birminghams aus der Vogelperspektive. Es ist von einer Kompositionshoheit der Farben – d.h. Licht und Dunkelheit – bestimmt. Der Hell-DunkelKontrast steuert die Aufmerksamkeit der Betrachtung, die Blicke folgen kurz der beleuchteten Straße und verirren sich dann regelrecht im Lichtermeer einer Großstadt. Die Nachtansicht löst die materielle Raumstruktur visuell auf, wodurch eine atmosphärische Stimmung erzeugt wird (Marent/Rosenbusch 2014: 83). Spätestens ab der Bildmitte verlieren die Gebäude und Straßen ihre Umrisse und Konturen und gehen – um erneut eine Terminologie Boehms heranzuziehen – in einem »tarnenden All-Over« (Boehm 2010: 50) auf. Damit wird die Darstellung dynamisiert. Die ersten Assoziationen, die das Bild auslöst, sind Geschwindigkeit, Dynamik und (wirtschaftlicher) Fortschritt. Diese Vorstellungen sind wohlgemerkt eine zentrale kompositorische Leistung der Verschmelzung von Figur und Grund. Wären lediglich die thematischen und figurativen Referenzen auf ›Fortschritt‹ (Bürogebäude, Straßen, Baukran) sichtbar, so würde das Bild statisch wirken. Es geht hier um mehr als um eine getreue Abbildung der Stadt. Die Perspektive eröffnet zwar einen scheinbaren Einblick in bzw. Überblick über die Stadt. Zu sehen bekommt man jedoch in Hinblick auf ›identifizierbare‹ Objekte wenig. Man sieht einige anonyme Gebäude und es wäre schwer, würde der Bildtext nicht auf die Stadt verweisen, die visuelle Darstellung einem konkreten Ort zuzuschreiben; es könnte sich um jegliche westlich geprägte, postindustrielle Stadt handeln. Es ist die Atmosphäre, die Spannung erzeugt und die bildliche Kraft nutzt: Das Unbestimmte und Potentielle ist der tragende Grund des Bestimmten (Boehm 2010: 46). Und doch, man fragt sich bei der Betrachtung des Bildes, was man hier überhaupt zu sehen bekommt: Kann eine Stadt auf der visuellen Ebene derart anonymisiert werden, dass ihre Materialität auf geradezu unzählige andere Städte verweist? Sie kann. Jedoch markiert das Bild damit auch eine Leerstelle: die sichtbar unsichtbare Geschichte der britischen Industriestadt. Gleichzeitigkeit Die Komplexität von Bildern entsteht vor allem dadurch, dass alle Bildelemente prinzipiell gleichzeitig erscheinen. Prinzipiell meint, dass durch Perspektive und Bildkomposition der Blick durchaus gelenkt werden kann. Dennoch folgt dieser

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Weiterführende Überlegungen zu diesem Bild finden sich in Marent und Rosenbusch (2014).

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im Grunde genommen nie einer durch und durch sequenziellen Wahrnehmung, indem er von links oben schrittweise nach rechts unten fährt. Vielmehr schweift er hin und her, nimmt punktuell bestimmte Elemente wahr, dringt durch verschiedene Bildebenen hindurch oder hinaus. In manchen Bildern kommt er schnell zur Ruhe, während er bei anderen rastlos umherschweift. Diese simultane Logik steht konträr zur Narrativität der Sprache und vermag etwas auszudrücken, was sich letzterer entzieht (Breckner 2010: 48). Ernst Gombrich hat prominent auf ein langes Missverständnis in der Kunstgeschichte hingewiesen, demzufolge ein Bild lediglich ein punctum temporis war, das einen Augenblick der kontinuierlich verfließenden Zeit festhielt (Gombrich 1984). Die Malerei galt im Kontrast zu anderen Kunstformen – etwa der Musik – als bewegungsfrei und die größte Herausforderung war es, so die etablierte Überzeugung, den entscheidenden Moment festzuhalten. Aus phänomenologischer Sicht gibt es diesen einen entscheidenden Augenblick für die Malerin ebenso wenig wie für den Musiker; vielmehr werden im Bild ganze Zeitspannen aufgebaut und zeitlich auseinanderliegende Handlungsabläufe vergleichzeitigt (Gombrich 1984: 49ff). Ein sehr eindrucksvolles Beispiel hierzu liefert Max Imdahl. Anhand einer biblischen Miniatur, der Gefangennahme Christi aus dem Codex Egberti, zeigt er, wie eine textgegebene Sukzession in eine szenische Simultanität transformiert wird (Imdahl 1994: 308). In dem Bild wird Aktivität und Passivität, die die Figur Jesu ausstrahlt, in vier auseinanderliegenden Handlungssequenzen gleichzeitig dargestellt: Jesus lässt sich von Judas umarmen (Passivität), er wird von den Soldaten ergriffen (Passivität), er weist Petrus zurecht, der sich auf einen der Soldaten stürzt (Aktivität), und die Armhaltung Jesus verweist auf die bevorstehende Kreuzigung. Er sieht sein Schicksal voraus Abbildung 5: Codex Egberti ›Ge(Aktivität) und fügt sich diesem (Passivifangennahme Christi‹ (In: Imdahl tät). Imdahl beschreibt die Figur Jesu als 1994: 307). »szenische Konfigurationsfigur« (Imdahl 1994: 309), die Ausdruck einer enormen Geschehensdichte ist. Das Bild bringt neben der szenischen Simultaneität auch die gleichzeitige Unter- und Überlegenheit Jesu zum Ausdruck. Trotzdem er sich der Gefangennahme ohne Gegenwehr ausliefert, dominiert er die Geschichte. Im Bild kommt diese Dominanz unabhängig davon, dass er sein Schicksal vorausahnt, auch dadurch zum Aus-

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druck, dass die Figur Jesu mit seinem Nimbus alle anderen Figuren überragt. Diese Sinnstruktur des Bildes, so Imdahl, lässt sich mit keinem Text, mit keinen Passionsspiel etc. in derselben Intensität darstellen. Die Wirkung visueller Simultanität soll nun ebenfalls an einem Stadtbild vorgeführt werden9. Abbildung 6 zeigt die Stadt Frankfurt bei Tageslicht aus einer frontalen Panoramaperspektive. Das Bild folgt einem figürlichen bzw. plastischen Prinzip. Nahezu alle Bilddetails sind in klar unterscheidbaren Bildsegmenten erkennbar. Was vielleicht auf den ersten Blick auffällt ist, dass hier Heterogenes in einer collagenartigen Inszenierung zusammengeführt wurde. Deutlich wird dies bereits anhand jenem Bilddetail, welches als erstes die Aufmerksamkeit der Betrachterin auf sich zieht: dem Gesicht der Frau. In ihm werden – ähnlich wie in der zuvor behandelten »KonfiguraAbbildung 6: Broschüre des tionsfigur« Jesu – drei, nur schwer vereinbare, Presse- und Informationsamtes Gefühlszustände gekoppelt (Marent/Rosenbusch der Stadt Frankfurt am Main 2014: 76): Die nach oben blickenden, weit geöff(2011): ›Frankfurt auf einen neten Augen bringen eine ›Erwartungshaltung‹ Blick‹. zum Ausdruck. Gleichzeitig kann erkannt werden, dass sich die Frau nicht ganz dem beobachteten Geschehen zuwendet, was auf ›Affektkontrolle‹ schließen lässt. Und trotz ihrer Mimik, die hohe Aufmerksamkeit bzw. Konzentration suggeriert, wirkt sie durch die weichen Gesichtszüge, die keine Falten bzw. Anstrengung erkennen lassen, ›entspannt‹. Betrachtet man wiederum die sattgrünen Blätter, die oben ins Bild ragen, so stehen diese in einem Kontrast zu den herbstlich gefärbten Laubbäumen im mittleren Bildsegment. Was einzeln betrachtet als Widerspruch erscheint, geht im Bildganzen völlig unter. Blickt man auf das Bild als Ganzes, so erkennt man etwa in Hinblick auf die Kategorie Zeit, dass hier nicht nur unterschiedliche Jahreszeiten zusammenkommen, sondern differente Rhythmen und gar verschiedene Zeitzonen. Die Frau mit der Zeitung in der Hand, die gerade an etwas denkt, symbolisiert Muße. Die aufgeschlagene Zeitung verweist demgegenüber auf Aktualität. Die Bankentürme im Hintergrund, die für die

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Weiterführende Überlegungen zu diesem Bild finden sich in Marent und Rosenbusch (2014).

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internationale Geldwirtschaft stehen, suggerieren Prosperität und eröffnen Assoziationen wie die Vernetzung unterschiedlicher Zeitzonen und enorme Geschwindigkeit, ausgelöst durch die immer kürzeren Intervalle des Handels mit Wertpapieren. Das mittlere Stadtensemble und vor allem die auf der Zeitung abgebildete Altstadt verweisen auf die Geschichtlichkeit der Stadt. Frankfurt präsentiert sich hier als »Synchronisationsmaschine« (Nassehi 2002) par excellence. Nicht nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind im Bild präsent, sondern eine Vielzahl nuancierter Zeitebenen und Rhythmen (Frühling und Herbst, Muße und Geschwindigkeit). Die Taktung spannt sich von blitzartigen Geschwindigkeiten bis zur demonstrativen Langsamkeit (Marent/Rosenbusch 2014).

V ISUELLE S TADTERFAHRUNG Die visuelle Präsenz, ihre Unbestimmtheit und ihre Simultaneität wurden als drei zentrale Bildqualitäten beschrieben. Doch inwiefern sprechen diese speziell für die Analyse von Stadtbildern? Welches Erklärungspotenzial bieten Bilder für eine Soziologie der Städte, das sich aus anderen Materialien nicht erschließen lässt? Nochmal zurück zu den drei Qualitäten. Es wurde für eine Hinwendung zur Präsenz des Bildes, seiner Sichtbarkeit plädiert. Dementsprechend gilt auch für Stadtbilder, dass die Aufmerksamkeit etwas verlagert wird. Die Analyse sollte sich nicht nur mit der Entschlüsselung von Referenten beschäftigen und darauf achten, inwiefern das Bild durch spiegelbildliche Ähnlichkeit oder mittels einzelner Symbole auf die Stadt verweist, sondern sie sollte ebenfalls darauf achten, was für städtische Wirklichkeiten die Bilder als Ganzes überhaupt erst hervorbringen, d.h. welches Bedeutungspotenzial in den Bildern angelegt ist. Mit der Ablösung von der Zeichenfunktion haben sich die Bilder, so die Überlegungen, auch etwas von den Kontrollinstanzen über die Zeichen emanzipiert. Die Auftraggeberinnen und Produzenten können die Bedeutungshorizonte ihrer Bildkommunikationen nicht durch und durch überwachen. Gerade durch diese Unkontrollierbarkeit und Eigenständigkeit entwickeln Bilder ihre weitreichende Wirkung. In Bezug auf Stadt gilt es demensprechend, die Affektivität der Bilder auch Jenseits der Intentionen bestimmter Deutungseliten zu untersuchen, um damit der Macht der visuellen Präsenz Rechnung zu tragen. Die Suggestivkraft von Bildern wurde gerade in ihrer Unbestimmtheit erkannt. Nicht darin, dass alles, was die Stadt ist und was sie ausmacht, auf dem Bild klar wiedergegeben wird, liegt ihre Wirkung, sondern in der atmosphärischen Spannung des Grundes. Die Unbestimmtheit generiert auch eine Bedeu-

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tungsoffenheit. Stadtbilder verweisen nicht nur auf das, was ist (Aktualität), sondern referieren auch sehr stark auf Möglichkeit (Potenzialität). Gerade das problemfokussierte und praxisorientierte Feld der Stadtforschung hat sich nahezu ausschließlich mit der Bestandaufnahme von Ist-Zuständen beschäftigt. Dabei wird jedoch übersehen, dass der Möglichkeitshorizont der Stadt (ihre Potenzialitäten) durchaus auch Einfluss auf ihre Gegenwart (Aktualität) und Zukunft nimmt. Vor allem bei der Bewältigung von Problemsituationen ist zu untersuchen, wie weit die Perspektive von bestimmten Akteursgruppen in den Möglichkeitshorizont der Stadt reicht und wie kreativ ›Aktualisierungen‹ vorgenommen, d.h. nicht realisierte Möglichkeiten abgeschöpft werden. Wie weit bzw. beschränkt die Handlungsoptionen sind, lässt sich anhand von Stadtbildern besonders deutlich herausarbeiten. Stadtimaginationen, so die Überzeugung, die anhand subtiler Nuancen visueller Darstellungskonventionen dechiffrierbar sind, haben entscheidenden Einfluss auf die Planungspraxis, politische Diskurse und die Erfahrung des städtischen Alltags; sie formen die Stadt (Marent/Rosenbusch 2014: 96). Damit wird für eine eingehendere Erforschung des Möglichkeitshorizonts der Städte plädiert, die das Wechselverhältnis von Aktualität und Potenzialität beschreibt. Der wirklichkeitskonstituierende Charakter urbaner Vorstellungswelten wird auch von James Donald betont: »Selbstverständlich gibt es reale Städte. Jede Stadt hat ihre eigenen Orte und Klimazonen, Geschichte und Architektur, räumliche und soziale Charakterzüge, eine eigene Vielstimmigkeit von Sprachen, ihren eigenen Soundtrack von Verkehrs-, Handels- und Musikklängen, ihre eigenen Gerüche und Geschmäcker, Probleme und Freuden. Aber weshalb sollte man diese Realität auf ihre Dinghaftigkeit, oder ihre Dinghaftigkeit auf eine Frage von Ziegel und Mörtel reduzieren? Geisteshaltungen haben materielle Konsequenzen. Sie bewegen Dinge« (Donald 2005: 23f).

Die Bilderfahrung kommt der Erfahrung des städtischen Alltags sehr nahe. Sind wir in der Stadt einem dichten Netz an Impressionen ausgesetzt, so transportiert das Bild diese ›Gleichzeitigkeit‹ der urbanen Eindrücke in einer Weise, wie es die textliche, sequenziell geordnete Narration kaum zulässt. Die Logik der Bilder ist präsentativ (Breckner 2010: 47): Alle Bildelemente sind gleichzeitig sichtbar. Bilder können dementsprechend als »Kompaktimpressionen« verstanden werden, die die Vielschichtigkeit, Dichte und Widersprüchlichkeit urbanen Erlebens auf den Punkt bringen (Marent/Rosenbusch 2014: 95). ›Kompakt‹ sind Stadtbilder deshalb, weil sie die Komplexität der Stadt in einem fixierten Medium festhalten und somit der Analyse zugänglich machen. Indem sie vielschichtige Situationen und Eindrücke aus der Flüchtigkeit des städtischen Alltags her-

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auslösen, zeugen sie von jener »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, die seit jeher als Chiffre der Großstadt gilt (ebd.: 95f). Die vorliegende Arbeit macht auf die Bedeutung visueller Stadtdarstellung aufmerksam. Das Interesse gilt den urbanen Vorstellungswelten, die diese Bilder evozieren. Die Stadtimaginationen werden nicht als etwas der Wirklichkeit Entgegengesetztes gefasst, vielmehr werden sie als Teil der städtischen Wirklichkeit verstanden. Schon eingangs wurde mit Bezug auf Anselm Strauss darauf aufmerksam gemacht, dass uns der städtische Symbolkosmos im Alltag hilft, um uns zu orientieren und aus einer Fülle möglicher Handlungen zu selektieren. Ebenfalls dient (oder behindert) er kollektive Akteure, um mit städtischen Problemsituationen und Herausforderungen umzugehen. Doch was ist überhaupt gemeint, wenn wir von ›Stadt‹ sprechen?

Die Stadt als Gegenstand der Forschung

Bevor wir uns der Konzeption von Stadt als ›Gegenstand‹ der Stadtsoziologie widmen, bedarf es einiger Erklärungen, wenn nicht gar ›Rechtfertigungen‹. Was Außenstehende und Novizen im Forschungsfeld überraschen mag, darin besteht innerhalb der Teildisziplin weitreichend Einigkeit: Die Stadt ist kein Gegenstand der Soziologie (Häußermann/Siebel 1978; Saunders 1986; Krämer-Badoni 1991). Erst in den letzten Jahren wurden Argumente laut, die sich explizit für einen Stadtbegriff einsetzen, mit welchem bislang kaum beachtete Phänomene und Aspekte von Stadt beleuchtet werden sollen (Berking/Löw 2005, 2008; Löw 2008a). Damit wurde eine kontroverse Diskussion angefacht (Kemper/Vogelpohl 2011; Frank et al. 2013; Kemper/Vogelpohl 2013). Diese steht jedoch nicht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Vielmehr wird, um auf die Potenziale einer kulturwissenschaftlich sensibilisierten Stadtforschung aufmerksam zu machen, zunächst das Wissenschaftsverständnis der ›etablierten‹ Stadtsoziologie anhand einiger zentraler Schriften evident gemacht. Dieses Wissenschaftsverständnis, so die These, weist von den Anfängen bis in die Gegenwart gewisse Kontinuitäten auf, und diese Dominanz führte zur Marginalisierung alternativer Sichtweisen auf Stadt und Stadtkultur. Es gilt, auf die dadurch ›entschwundene Seite‹ der Stadt aufmerksam zu machen. Gerade diese wird in der vorliegenden Arbeit in den Fokus gerückt. Dabei sollen die verschiedenen Positionen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr stellen sie auf jeweils ihre Art wichtige Fragen, die es von der Stadtsoziologie zu bearbeiten gilt. Eine Annäherung beider Perspektiven wäre wünschenswert, die konzeptuellen Anschlussmöglichkeiten können jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht erschlossen werden.

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Blickt man in Handbücher, Reader und Einführungsskripten der Stadtsoziologie, so erkennt man, dass immer wieder auf dieselben theoretischen Klassiker rekurriert wird; Namen wie Weber, Simmel und Wirth bleiben wohl in keinem Band ungenannt. Neben diesem Fundament steht man einem Themenspektrum gegenüber, das von Kontinuität und Vielfältigkeit geprägt ist. So werden die seit jeher als zentral geltenden Fragen rund um die Begriffe Segregation und Exklusion nach wie vor eingehend diskutiert, wobei sie durch Themen wie Globalisierung, Kreativität, Kunst, Gender, ›neue Medien‹ etc. bereichert und ergänzt wurden. Zwischen den Klassikern und dem Themenspektrum klafft jedoch eine Lücke, denn neben den problemfokussierten Diskussionen lässt sich kaum eine theoretische Weiterentwicklung in Hinblick auf das Phänomen ›Stadt‹ erkennen; ja ihr wurde vielmehr, wie einleitend bemerkt, der Rücken gekehrt. Die Stadtsoziologie gilt als angewandt und praxisnah. Sie beschäftigt sich mit ›konkreten‹ Problemen, die gelöst werden müssen. An jenen Positionen, die sich ausdrücklich als Stadtsoziologinnen verstehen, lässt sich zumeist eine radikal empirische Sichtweise erkennen, deren Ringen um Realitätsnähe eine geisteswissenschaftliche Betrachtung der Stadt kaum zulässt. Damit sind kultursoziologische Sichtweisen nur am Rande des Feldes vertreten. Ob dies nun auf die ›Vorherrschaft‹ etablierter Standpunkte oder auf das mangelnde Interesse letzterer, sich als Stadtsoziologen zu positionieren, zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Welche Vorstellungen darüber, was Stadtsoziologie zu leisten hat und wie sie dieser Aufgabe gerecht wird, liegen der Teildisziplin von der Gründung bis in die Gegenwart zugrunde? Kontinuitäten, Bedeutungsverschiebungen und Brüche von Selbstverständnissen und Perspektiven lassen sich besonders deutlich mit Rückgriff auf sogenannte Gründungsdokumente und den in ihnen enthaltenen Definitionen untersuchen. Als ein derartiges ›Manifest‹ der Stadtsoziologie kann die Textsammlung ›The City‹ verstanden werden, die die Chicagoer Soziologen Robert E. Park, Ernest W. Burgess und Roderick D. McKenzie im Jahr 1925 herausbrachten (Park/Burgess/McKenzie 1925). Noch heute ist der Einfluss der Chicago School in der Stadtsoziologie spürbar und von einer zweiten und gar einer dritten Generation die Rede (Fine 1995; Neckel 1997; Lindner 2004). Kein Lehrbuch oder Reader, der in die Teildisziplin einführt, kommt ohne einen Verweis auf diese Forschungstradition aus. Der erste Beitrag in dem erwähnten Band ist von Park und trägt den Titel »The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment«. Auch wenn Park für die heutige Stadtsoziologie ein zentraler Bezugspunkt ist, so ist es weniger die Definition

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von Stadt, die er in seinem programmatischen Aufsatz vorgab, die spürbare Folgen hatte, als vielmehr eine Forschungsrichtung und ein Selbstverständnis, das mit dem Text einhergeht. Nichtsdestotrotz findet sich eine Definition von Stadt prominent positioniert im ersten Absatz: »The city, from the point of view of this paper, is something more than a congeries of individual men and of social conveniences – streets, buildings, electric lights, tramways, and telephones, etc.; something more, also, than a mere constellation of institutions and administrative devices – courts, hospitals, schools, police, and civil functionaries of various sorts. The city is, rather, a state of mind, a body of customs and traditions, and of the organized attitudes and sentiments that inhere in these customs and are transmitted with this tradition. The city is not, in other words, merely a physical mechanism and an artificial construction. It is involved in the vital processes of the people who compose it; it is a product of nature, and particularly of human nature« (Park 1925: 1).

In dieser Definition wären bereits die Weichen für eine kultursoziologisch ambitionierte Erforschung der Städte gestellt. Die Stadt ist nicht nur physischmaterielle Form, sie geht auch nicht in ihren Institutionen auf, sie ist vor allem ein Geistes- und Gemütszustand, der durch Gewohnheiten, Traditionen, Empfindungen und Alltagshandeln geprägt ist. Damit gilt, neben der physischen Struktur und den ökonomischen Standbeinen der Stadt, vor allem auch der städtischen Lebensweise besonderes Augenmerk. Dennoch, in seiner weiteren Ausarbeitung darüber, was die Stadtsoziologie zu leisten hat und wie sie zu ihren Ergebnissen kommt, dominiert ein Wissenschaftsverständnis, das von einer naturalistischen Logik geprägt ist. Der Begriff »human nature«, der bereits in der Definition enthalten ist, wird weiter ausgeführt. Es gilt die ›Natur‹ der Stadt und ihre ›Gesetzmäßigkeiten‹ zu durchleuchten. Park wagt sich nicht wirklich auf das neue und unsichere Terrain der Kulturwissenschaften, die damals als ›unfertig‹ galten (Rickert 1926: 7), und hegt den Wunsch, die Stadtsoziologie als ›echte‹ bzw. ›harte‹ Wissenschaft zu etablieren. Park fasziniert die Großstadt. Er sieht in dieser nicht nur ›negative‹ Aspekte wie Entfremdungserscheinungen, sondern erkennt in ihr die Ambivalenzen der Moderne und ist begeistert von der Individualisierung, der Emanzipation von Traditionen und den neu aufkommenden Lebensstilen. Als promovierter Philosoph war Park beeinflusst vom amerikanischen Pragmatismus und vom Naturalismus Spencer’scher Prägung (Gerhardt 2000: 42f). Seine Überzeugung war, dass die Soziologie, im Gegensatz zu den historischen Wissenschaften, »seeks to arrive at natural laws and generalizations in regard to human nature and society, irrespective of time and of place«, wie er in seiner Einführung in die Soziologie schreibt (Park 1969 [1921]: 11). Soziolo-

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gie habe als empirische Wissenschaft auf Basis ihrer Beobachtungen Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Diese ›Gesetze‹ sind wiederholbar und haben unabhängig von Zeit und Raum allgemeine Gültigkeit. Mit kulturphilosophischen Reflexionen und abstrakten Prinzipien der Vergesellschaftung, wie sie etwa Georg Simmel vertrat, hatte Parks empirisches Wissenschaftsverständnis nicht viel zu tun (Lindner 2004: 122f). In dem Band ›The City‹ verdichtet sich die naturalistische Denktradition schließlich zu einer »theory of urban ecology«. Dabei wird die Stadt durchaus im Stil eines Sozialdarwinismus Spencer’scher Prägung als Organismus beschrieben, den ein ständiger Kampf um Ressourcen kennzeichnet. Dieser mündet in einer Ausdifferenzierung von distinkten urbanen Zonen, sogenannten »natural areas«, die von Personen mit jeweils ähnlichem sozial-ökonomischen Status bewohnt werden. Das sozialökologische Modell dient zur kausalen Erklärung sozialer Probleme wie Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Verbrechen. Doch lässt sich der Geistes- und Gemütszustand Stadt, the city as »a state of mind«, durch einen darwinistischen Kampf hinreichend erklären? In der vielseitigen Biographie Robert E. Parks verbinden sich verschiedene und z.T. konfligierende Positionen (Lindner 2004: 118ff). So war der Philosoph Park durch den amerikanischen Pragmatismus sozialisiert. Als Journalist, als der er mehrere Jahre tätig war, erlernte er sein methodisches Handwerkzeug: die teilnehmende Beobachtung und den Reportage-Stil seiner Berichtslegung. Der Soziologe Park war fasziniert von der Großstadt. In dieser wurde das soziologische Rüstzeug angewandt und Park war darum bemüht, das Verfahren der teilnehmenden Beobachtung als wissenschaftliche Methode zu legitimieren und dadurch die prestigeschwächere Verwandtschaft mit der journalistischen Recherche abzuschwächen. Dazu bediente er sich naturalistischer Terminologien wie etwa »human nature«, »social forces«, »competition«, »natural laws« etc. Zuletzt war die Stadt schon in diesem Gründungsdokument nicht der eigentliche Forschungsgegenstand, den es zu untersuchen galt, sondern lediglich ein Kontext für die Erforschung des menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Prozesse. Das sozialökologische Erklärungsmodell geriet in der Nachkriegszeit aus der Mode, es galt als simplifizierend. Die empirische Forschungstradition und ihre Verfahren blieben der zweiten Generation der Chicago School jedoch erhalten. Die Beobachtungen und Theoretisierungen, die der dort aufkommende Symbolische Interaktionismus lieferte, betrafen kleine Ausschnitte der gesellschaftlichen Wirklichkeit und es wurde nicht versucht, diese in ein größeres Modell zu überführen. Die Chicago School wurde damit zum Gegenpol des in der amerikanischen Soziologie dieser Zeit stark rezipierten Strukturfunktionalismus, der von

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Talcott Parsons vertreten wurde (Gerhardt 2000). In Hinblick auf Stadt entstanden durchaus interessante Forschungsarbeiten, die jedoch innerhalb der Stadtsoziologie niemals jenen paradigmatischen Status erlangten, den die Chicago School der Vorkriegsära innehatte. Die vom Symbolischen Interaktionismus beeinflussten Arbeiten von Richard Wohl und Anselm Strauss (Wohl/Strauss 1958; Strauss 1960, 1961, 1968) sowie später von Gerald D. Suttles (Suttles 1984) versuchten den Faden, der durch das Erklärungsmodell der Urban Ecology verloren ging, wieder aufzunehmen. Sie nahmen die Definition Parks, die die Stadt als »a state of mind« konzeptualisierte, beim Wort und versuchten den urbanen Vorstellungswelten und dem Symbolkosmos ›Stadt‹ auf den Grund zu gehen. Wohl und Strauss zitieren am Anfang eines Aufsatzes von 1958 gar Parks Postulat und erklären explizit: »It is to this phenomenon that we address ourselves« (Wohl/Strauss 1958: 523). Obwohl Strauss die eingangs rezipierte Studie ›Images of the American City‹ vorlegte und ein ambitioniertes ›Sourcebook of Urban Imagery‹ herausbrachte, ging dieser Forschungsimpuls innerhalb der Teildisziplin völlig unter. In der Stadtsoziologie herrschte ein Unbehagen hinsichtlich der ›Begrenztheit‹ mikrosoziologischer Erklärungen. Die in den 1970er Jahren aufkommende ›New Urban Sociology‹ setzte demensprechend stärker auf strukturelle Komponenten, wobei sie sich auf neo-marxistische Theorien stützte (Eckardt 2004: 52). Der Einfluss der Chicago School der Nachkriegsjahre ist in ihr insofern noch zu spüren, als sie Webers Wertfreiheitspostulat nur wenig abgewinnen konnte und sich explizit auf die Seite der ›Unterdrückten‹ stellte. Ideologiekritik wurde als Teil der wissenschaftlichen Arbeit verstanden. Das Augenmerk wird in der Perspektive der ›New Urban Sociology‹ vor allem auf Produktionsbedingungen und Konsumption gelegt. Die Stadt ist der Kontext erhöhter und effizienter Form der Profitmaximierung, die durch bestimmte infrastrukturelle und ideologische Bedingungen bereitgestellt werden (ebd.: 53). Die ökonomischen Faktoren und die ihnen zugrunde liegenden Machtstrukturen gilt es zu entschleiern. Diese Auffassung darüber, was Stadtsoziologie zu leisten hat, wurde schließlich auch in Deutschland zur dominanten Position. Den Gemeindestudien der 50er und 60er Jahre konnte man immer weniger abgewinnen. Sie würden am Einzelfall haften und deshalb wichtige gesellschaftliche (d.h. v.a. politische und ökonomische) Prozesse übersehen, die über die Gemeinde bzw. die Stadt hinausreichen. Das Feld der Stadtsoziologie wird in den 70er Jahren höchst disparat wahrgenommen. An dieser Stelle soll erneut auf ein Positionspapier Bezug genommen werden, dessen Einfluss, so die These, die deutsche Stadtforschung der letzten Jahrzehnte prägte. Häußermann und Siebel kritisieren in ihrem 1978 erschienenen Artikel ›Thesen zur Soziologie der Stadt‹, dass der Stadtsoziologie

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ein gemeinsames Erkenntnisinteresse fehle und kaum theoretische Innovation zu erkennen wäre. Die Stadtsoziologie sei vielmehr zu einer Stadtplanungssoziologie verkommen (Häußermann/Siebel 1978: 484). Was sie fordern, ist jedoch sehr – wenn nicht gar zu – ambitioniert. Einerseits gilt es, größere Unabhängigkeit gegenüber Auftraggebern zu erlangen, andererseits, so ihre Überzeugung, gewinnt die Stadtsoziologie nur durch die Anwendungsorientierung ihre Legitimation. Vehement kritisieren sie sowohl die akzeptierte Indienstnahme der Wissenschaft, die auf kurzfristiges Reagieren auf sehr spezifische Probleme abzielt, wodurch die soziologische Erkenntnisgewinnung in Banalitäten verfallen würde (Häußermann/Siebel 1978: 485). Ebenso lehnen sie eine ›freischwebende‹ Wissenschaft ab: »Unsere These, wonach die feststellbare Konzentration von Forschungskapazität auf anwendungsorientierte Auftragsforschung zur Dethematisierung gerade politisch relevanter Gegenstandsbereiche beiträgt, erlaubt nicht den Umkehrschluß, die sogenannte freie, akademische Forschung sei ausreichende Basis für die Thematisierung gesellschaftlich relevanter, politischer Probleme, wie sie in städtischen Strukturen auftreten« (Häußermann/Siebel 1978: 494).

Inwiefern die Verquickung beider Forderungen zu bewerkstelligen ist, soll hier nicht thematisiert werden (auch Häußermann und Siebel gehen in ihrem Artikel nicht über die Formulierung des Apells hinaus). Von zentraler Bedeutung für die nachfolgenden Überlegungen ist jedoch die Beobachtung, dass alle Forschung, die nicht eine unmittelbare praktische Verwertbarkeit hat, regelrecht als wertlos empfunden und ihr die Legitimation entzogen wird. Probleme, so die Grundannahme, die von den beiden Autoren vertreten wird, dürfen nicht innerhalb der Wissenschaft formuliert und kreiert werden, sondern sind als gesellschaftliche Probleme bereits erkannt und werden an die Wissenschaft herangetragen bzw. von dieser aufgegriffen: »Was außerhalb der Auftragsforschung gemacht wird, ist dementsprechend uninformiert und kurzatmig« (Häußermann/Siebel 1978: 494). Man muss mitberücksichtigen, dass der Aufsatz zu einer Zeit geschrieben wurde, als unzählige Städte durch die De-Industrialisierung wahrhaft in der ›Krise‹ steckten, insofern sind die Vehemenz und Selbstverständlichkeit, mit der hier diese durchaus diskutierbare Position vorgetragen wird, nachvollziehbar. Vor allem durch das Postulat der Anwendungsorientierung, aber auch durch die Forderung der Ideologiekritik wird einer kultursoziologischen Perspektive auf die Städte das Fundament entzogen. Stadtsoziologie, folgt man dem oben rezipierten Papier, darf nicht ein Staunen bzw. ›bloßes Interesse‹ an bestimmten urbanen Phänomenen als Ausgangspunkt haben. Denn derartige Untersuchungen

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stellen nicht unmittelbare Lösungen von Problemen bereit, die von einer breiten Öffentlichkeit (und d.h. nicht nur der Wissenschaft) als ›dringlich‹ akzeptiert werden. An dem ›Positionspapier‹ ist in aller Deutlichkeit zu erkennen, dass der Erforschung kultureller Phänomene kaum Bedeutungen zukommt, diese werden gar explizit als »cultural lag« abgewertet und seien für die soziologische Forschung unbedeutend (Häußermann/Siebel 1978: 496). Das Papier von Häußermann und Siebel kann deshalb als zentrales Dokument aufgefasst werden, da es auf die Re-Konsolidierung der BindestrichSoziologie abzielt und Grundsätze formuliert, die noch heute als zentrale Richtlinien gelten. Der Text wurde unlängst in der Zeitschrift ›sub\urban‹ (2013/1) erneut abgedruckt und einer kritischen Würdigung unterzogen. An den Basisannahmen – Ideologiekritik und Anwendungsbezogenheit – wurde dabei nicht gerüttelt, wobei in Teilbereichen zu Neukonzeptionen angeregt wurde. Überhaupt bezieht die in Deutschland (und auch international) dominante ›Kritische Stadtforschung‹ aus Anlass eines ›Perspektivenstreits‹ erneut Position. Unter anderem ergreift auch Walter Siebel in einer von der Zeitschrift ›Leviathan‹ aufgegriffenen Debatte wieder das Wort und spricht sich gegen eine Stadtsoziologie aus, die die Stadt als Gegenstand (und nicht lediglich als Kontext) der Forschung konzeptualisieren will. Grundlage für die Auseinandersetzung, ob eine Definition von Stadt sinnvoll ist oder nicht, sind weniger die von beiden Seiten vorgebrachten Für und Wider, sondern vor allem ein unterschiedliches Wissenschaftsverständnis. Die Vorbehalte gegen einen Formbegriff ›Stadt‹ haben mit dem seit den Anfängen der Stadtsoziologie bestehenden Wissenschaftsverständnis zu tun, wonach sie es mit ›konkreten‹ Problemen zu tun hat. Die Anwendungsbezogenheit ist Ausgangspunkt und Legitimation der Forschung. Diese Auffassung richtet sich gegen ein Wissenschaftsverständnis, das es als legitim erachtet, Probleme aus eigenem Forschungsinteresse zu konstituieren. Eine Wissenschaft, so die Überzeugung, darf nicht vorab und aus sich heraus einen (begrifflichen) Gegenstand schaffen, der die Beobachtungen sensibilisiert und lenkt. Mitunter, so könnte ein Gegenargument lauten, könnte eine freiere, von der unmittelbaren Anwendbarkeit entlastete Wissenschaft Innovationen hervorbringen, deren Nutzen erst bei der Reife der Zeit erkannt werden würde. Gewisse Argumente, die Walter Siebel in seinem Beitrag ›Stadt, Ungleichheit und Diversität‹, der 35 Jahre nach den ›Thesen zur Soziologie der Stadt‹ erschien, vertritt, werden im Folgenden aufgegriffen. Sie sollen zeigen, mit welcher Vehemenz an Grundpositionen festgehalten und wie dadurch die Etablierung alternativer Sichtweisen blockiert wird. Die aktuelle soziologische Stadtforschung würde sich, so Siebel, für einen inhaltlich gefassten und damit stets

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wandelnden Stadtbegriff und gegen einen abstrakten, ahistorischen Formbegriff von Stadt aussprechen (Siebel 2013: 240). Ein abstrakter Stadtbegriff bliebe soziologisch leer. ›Die‹ Stadtforschung, wie auch weiter oben anhand des Gründungspapiers ›The City‹ festgestellt wurde, ist nach Siebel von einem nomothetischen Wissenschaftsverständnis geprägt (Siebel 2013: 241). Ihr geht es um die Verallgemeinerbarkeit ihrer Beobachtungen und nur dadurch erhält sie nach Siebel das Recht, sich ›Soziologie‹ zu nennen: »Städte sind unter bestimmten Blickwinkeln kaum vergleichbare Individualitäten. Das gilt für ihre Topographie, ihre Architektur, ihren Städtebau, ihre Geschichte. Und deshalb sind diese Individualitäten auch von Architekten, Städtebauern, Geographen und Historikern gut zu beschreiben und im Bezugssystem ihrer Wissenschaften zu analysieren. Aber die Soziologie ist nicht an Einzigartigkeiten interessiert« (Siebel 2013: 244; Hvh. JM). Für die Besonderheit des Städtischen interessieren sich also andere Wissenschaften, nicht jedoch die Soziologie. An dieser Stelle kann etwa an eine Feststellung von Karl Mannheim erinnert werden, der erklärte, dass sich die naturalistische Denkweise, wie wir sie als Grundlage des dominanten Stranges der Stadtsoziologie seit der Chicago School erkannt haben, so manche sinnvolle Fragen gar nicht fragen traue und diese Fragen auf Bearbeiterinnen gewisser Nachbargebiete abschiebt (Mannheim 1923: 9). Sobald man sich auf Besonderheiten einlässt, hat man es notwendigerweise mit Ganzheiten zu tun. Die Stadt als besonderes Ganzes lässt sich jedoch durch ein Sammelsurium an Klassifikationen ebenso wenig charakterisieren wie durch die kausale Erklärung einzelner Zusammenhänge. Kann, so soll hier gefragt werden, wirklich von der Soziologie behauptet werden, dass sie sich nicht für Individualitäten interessiert, oder ist es eine Soziologie, die von einem bestimmten Wissenschaftsverständnis geprägt ist, die diese Fragen nicht stellen will und/oder aufgrund ihrer methodischen Prinzipien gar nicht kann? Kultursoziologischen Fragestellungen wird in Siebels aktuell veröffentlichtem Text erneut eine Absage erteilt, indem sie als weitgehend (wenn auch nicht mehr vollkommen) irrelevant und unsoziologisch gewertet werden. Sie adressieren Aspekte wie »Gefühle, Einstellungen, alltägliche Verhaltensweisen, Wahrnehmungsmuster … Nicht dass solche Themen gänzlich irrelevant wären, aber was hat man über die Sozialstruktur der Bundesrepublik gelernt, wenn man festgestellt hat, dass sich Armut in verschiedenen Städten verschieden ›anfühlt‹« (Siebel 2013: 245). Die klassischen und zentralen Fragen der Soziologie handelt Siebel in einem Absatz seines Artikels ab, und diese wurden von Comte, Durkheim und Marx gestellt. An ihnen habe die Stadtsoziologie anzuschließen, um soziologisch anschlussfähig zu bleiben. Es ist nachzuvollziehen, dass es nicht gerade jene zitierten Namen waren, die innerhalb der Soziologie nach Gefühlen, Einstellungen, alltäglichen Verhaltensweisen

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und Wahrnehmungsmustern fragten, doch kann man soweit gehen, dass man Fragen danach deshalb als soziologisch irrelevant abwertet? Ist das Fach nicht breiter aufgestellt, als es der Autor wahrnimmt? Und muss die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Alltagswirklichkeit der Städte und ihren Sinnzuschreibungen wirklich zur Frage führen, ob es »eine Stadtsoziologie ohne Soziologie« geben kann (Siebel 2013: 250)? Die Antwort ist nein. Es handelt sich dabei vielmehr um grundlegend verschiedene Wissenschaftsverständnisse zwischen einer bereits formierten Stadtsoziologie und kulturwissenschaftlich sensibilisierten Ansätzen. Letztere machen sich erst seit den 90er Jahren in der Teildisziplin bemerkbar und geraten gegenwärtig vor allem dadurch stark unter Beschuss, da sie sich ebenfalls zu ›formieren‹ begonnen haben. Die kultursoziologischen Ansätze verlagern ihr Interesse von ökonomischen und strukturellen Aspekten der Stadt auf ihre imaginären, symbolischen und atmosphärischen Qualitäten. Worin besteht nun die soziologische Relevanz dieser Perspektive und welches Wissenschaftsverständnis liegt ihr zugrunde?

W ISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS DER K ULTURSOZIOLOGIE

UND

ARBEITSWEISE

Die kultursoziologische Perspektive geht von der anthropologischen Prämisse aus, dass der Mensch ein Kulturwesen ist (Plessner). Alle Handlungen, erscheinen sie auf den ersten Blick lediglich als zweckdienlich und völlig rational, sind mit kultureller Bedeutung aufgeladen. »Erst durch solche Bedeutungen, die der Mensch sich schaffen muß, konstituieren sich für ihn Welt, Selbst und Gesellschaft« (Tenbruck 1979: 401). Eine kultursoziologische Beschreibung kann sich deshalb nicht damit zufrieden geben, gesellschaftliche Strukturen in ihrer Funktion und sozialen Bedingtheit zu erklären, vielmehr muss sie ebenfalls den Bedeutungen nachgehen, den Wertideen und Sinnzusammenhängen, die diese hervorgebracht haben. Die sogenannten ›Kulturtatsachen‹ sind den gesellschaftlichen Strukturen immer schon vorgelagert und man erfasst ein gesellschaftliches Phänomen nicht in seiner Komplexität, wenn man es lediglich funktional beschreibt. Menschliches Handeln geht über die »bloße Berechenbarkeit der äußeren und inneren Wirklichkeit hinaus« (Tenbruck 1979: 405; Hvh. JM). Umgekehrt ist der Mensch auch nicht völlig durch seine Kultur determiniert, denn er schafft dieses Ordnungssystem, das sich ihm zugleich aufzwingt. Darin besteht der Doppelcharakter der Kultur: »Die prinzipielle Gegenständlichkeit und Objektivität von Kultur als einem fertigen und erzeugt vorgefundenen Gebilde einerseits und Kultur als einem ewig sich fortsetzenden Prozess der aktiven

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Aneignung, Überprüfung, Wiederherstellung, Erhaltung und Umarbeitung des Vorgefundenen andererseits« (Soeffner/Raab 2004: 549f). Da sich die Beschreibung des (selbst) gesponnenen Bedeutungsgewebes nicht durch die Beschreibung von Funktionalitäten erfassen lässt, sollte die kultursoziologische Untersuchung weniger nach Gesetzen suchen, sondern interpretierend nach Bedeutungen fahnden. Kultur, so schreibt Geertz, ist »keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind« (Geertz 1987: 21). Damit ist die klassische Unterscheidung zwischen ›Gesetzeswissenschaft‹ und ›Wirklichkeitswissenschaft‹ angesprochen (Weber 1973 [1904]). Während erstere vor allem nach allgemeinen Bestimmungen sucht, geht es letzterer um eine möglichst detailreiche Beschreibung des Phänomens. Die Wirklichkeit, so die kultursoziologische Auffassung, die nach Weber der ›Wirklichkeitswissenschaft‹ zuzuordnen ist, ist von einer konkreten Individualität gekennzeichnet, die niemals in generellen Regelmäßigkeiten aufgehen kann. Die ›Wirklichkeitswissenschaften‹ grenzen sich also insofern von den ›Gesetzeswissenschaften‹ ab, als sie der Besonderheit und Individualität der Erscheinungen Rechnung tragen. »Das Wirkliche haben wir im Besonderen und Individuellen, und niemals läßt es sich aus allgemeinen Elementen aufbauen« (Rickert 1926: 43), schreibt Heinrich Rickert in seiner Abhandlung über ›Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft‹. Nach der Logik der ›Gesetzeswissenschaften‹ gibt es hingegen »keine Wissenschaft vom Einmaligen und Besonderen (…). Es gilt vielmehr, alle Objekte allgemeinen Begriffen, womöglich Gesetzesbegriffen, unterzuordnen« (Rickert 1926: 39). D.h. alles Individuelle und Besondere muss sich einem Allgemeinen fügen und das Besondere ist die Schwelle, an der die naturwissenschaftliche Erkenntnis Halt macht (ebd.: 45). Auch Max Weber bezieht sich in seiner Abhandlung zur Wissenschaftslogik auf Rickert. Er plädiert für eine ›Wirklichkeitswissenschaft‹ als Alternative zur ›Gesetzeswissenschaft‹, ohne letzteren den Sinn der Erkenntnis abzusprechen: »So fußt die ganze WL (Wissenschaftslogik; Anmerk. JM) auf der Einsicht, daß es bei der Wahl zwischen ›Gesetzes-‹ und ›Wirklichkeitswissenschaft‹ letztlich um den Sinn der Erkenntnis geht. Vor die herkömmliche Frage, wie wir die Wirklichkeit erkennen können, schiebt sich in der WL die neue Frage, was wir an ihr erkennen wollen« (Tenbruck 1994: 384; Hvh. i.O.).

Der ›Gesetzeswissenschaft‹ geht es darum, möglichst weitreichende allgemeine Regelmäßigkeiten zu formulieren. Durch die Analyse entsteht ein empirisches

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Nebeneinander, eine Klassifizierung, die dann in ihrer sozialen Bedingtheit erklärt wird. Der ›Wirklichkeitswissenschaft‹ geht es hingegen vor allem darum, konkrete Zusammenhänge sichtbar zu machen. Diese spezifischen Verknüpfungen sind zeitlich wie räumlich weitaus begrenzter als die Klassifikationen der ›Gesetzeswissenschaft‹. Nach Weber sind damit, wie schon angesprochen wurde, unterschiedliche Erkenntnisziele verbunden. Der Kulturwissenschaft als ›Wirklichkeitswissenschaft‹ geht es in seiner Definition darum, die beobachteten Phänomene in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen. »Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff … Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter den Gesichtspunkten ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und separater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen« (Weber 1973 [1904]: 175f).

Diese kulturwissenschaftliche Prämisse führt zu einer differenten Arbeitsweise. Schon bei der Problemformulierung und dem Beginn der wissenschaftlichen Arbeit werden andere Relevanzen gesetzt. Mit dem Ausgangspunkt, dass jedes Handeln – sei es noch so alltäglich, profan oder selbstverständlich – kulturell bedeutsam ist, rückt der Alltag ins Zentrum kultursoziologischer Aufmerksamkeit. Weiter oben, als das dominante Forschungsprogramm der Stadtsoziologie behandelt wurde, wurde auf ein Wissenschaftsverständnis aufmerksam gemacht, das jeweils ein (gesellschaftlich anerkanntes) Problem als Ausgangspunkt hat. Die kultursoziologische Perspektive will nun gerade das Nichtthematisierte (weil Selbstverständliche) zum Gegenstand machen (Soeffner/Raab 2004: 553). Es geht oft weniger um die Analyse gesellschaftlicher (erkannter) ›Krisen‹ als um die Enthüllung der ›Normalität‹. Das Verborgene, das es ans Tageslicht zu rücken gilt, ist zumeist das, »worüber alle Welt sich einig ist, so einig, daß nicht einmal darüber gesprochen wird, ist das, was außer Frage steht, was selbstverständlich ist« (Bourdieu 1993: 80). Wenn das Alltagshandeln stets sinnintendiertes Handeln ist und unweigerlich mit einer kulturellen Bedeutung aufgeladen ist, so sind die Daten des Sozialwissenschaftlers (anders als etwa jene des Naturwissenschaftlers) notwendigerweise vorinterpretiert (Soeffner/Raab 2004: 552). Dieses Wissen, das den Daten bereits inhärent ist, gilt nicht als ›minder‹, vielmehr gilt es, die immanenten Deutungen aufzugreifen und zu beschreiben.

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»Im Gegensatz zum ›Alltagsverstehen‹ geschieht das ›professionelle‹ Verstehen des Sozialwissenschaftlers in einer besonderen, eben nicht-alltäglichen Einstellung: in einer ›theoretischen Subsinnwelt‹. Innerhalb ihrer besteht ein prinzipieller Zweifel an allen sozialen Selbstverständlichkeiten. Leitend ist einzig das Interesse, das fraglos Gegebene, Hingenommene und Vorausgesetzte, nämlich die sozialen Konstruktionen erster Ordnung (…) zu ›entzaubern‹, um die ›Wahrheit‹ – das Zustandekommen – der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erkennen« (Soeffner/Raab 2004: 553 Hvh. i.O.).

Es wird nicht verwundern, dass Auftraggeber wie etwa städtische Verwaltungen weniger daran interessiert sind, über die ›Normalität‹ aufgeklärt zu werden, als vielmehr Lösungen von akuten Problemen verlangen. Umso mehr die Soziologie auf Abnehmer ihres Wissens angewiesen ist, desto eher muss sie sich den nächstliegenden Interessen der Auftraggeber beugen und ein verwaltungsmäßig einsetzbares Wissen produzieren (Tenbruck 1979: 410). Damit wird die Arbeit des Soziologen insofern aufgewertet, da sie soziale Verantwortung trägt, gleichzeitig gehen mitunter auch Themen verloren. Ob man das ›Alltägliche‹ und das ›Selbstverständliche‹ zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Untersuchung macht oder den Fokus auf augenscheinliche Probleme und deren Lösung legt, hängt grundlegend von der Auffassung ab, worin der Wert wissenschaftlicher Erkenntnis liegt. Wenn Soeffner und Raab schreiben, dass lediglich das Interesse forschungsleitend ist, so wird verständlich, dass sich gewisse Forscherinnen, die sich darauf verschrieben haben, gesellschaftlich ›relevante‹ Probleme zu lösen, sich damit nicht identifizieren können. Die Kultursoziologie, die dem Alltag und dem Selbstverständlichen auf die Spur kommen will und die (lediglich) das wissenschaftliche Interesse als Ausgangspunkt der Forschung hat, hat oft mit Vorbehalten wie etwa dem ›Elitismus‹ zu kämpfen (Albrecht/Moebius 2014: 12). Hier wird die Meinung vertreten, dass sowohl die Hinterfragung von ›Selbstverständlichkeiten‹ als auch die Lösung von ›Problemen‹ sinnvoll sind, eine kulturwissenschaftliche Untersuchung jedoch nie alleinig an ihrer Praxisrelevanz gemessen werden kann. Schon Mannheim hat darauf hingewiesen, dass die Kulturwissenschaften ihren Gegenstand jeweils selbst konstruieren (Mannheim 1923: 7). Betrachtet man die Arbeitsweise der Kultursoziologie von einer anderen Perspektive, so grenzt sie sich von den großen Gesellschaftstheorien und auch von umfangreichen Survey-Umfragen dadurch ab, dass gerade sie am Boden der Tatsachen bleibt (Geertz 1987: 35). Sie versucht die Relevanzsetzungen der untersuchten Subjekte bzw. die Bedeutungskontexte der Artefakte zu erschließen. Jene Allgemeinheit, die sie mitunter erreichen kann, so Geertz, resultiert aus der Exaktheit und Ausführlichkeit der Fallanalyse: »Was immer Symbolsysteme ›im Rahmen ihrer

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eigenen Bedingungen‹ sein mögen, wo immer sie bestehen, empirisch werden wir ihrer erst habhaft, wenn wir Ereignisse untersuchen, und nicht, indem wir abstrahierte Entitäten zu einheitlichen Mustern zusammenfügen« (Geertz 1987: 26). Daraus folgt, dass die Arbeit nicht anders als exemplarisch zu leisten ist, da niemals alle Daten erfasst und bearbeitet werden können (Soeffner/Raab 2004: 553). Die kultursoziologische Analyse hat jedes Mal erneut von vorne zu beginnen, da es kein bereits abgesichertes wissenschaftliches Wissen gibt: »Jede ernsthafte Analyse einer Kultur fängt ganz von vorn an und kommt so weit voran, wie es ihr intellektueller Impuls erlaubt. Vorliegende Tatsachen werden dabei mobilisiert, bereits früher entwickelte Begriffe verwendet, ältere Hypothesen ausprobiert; aber die Bewegung führt nicht von bereits bewiesenen Theoremen zu neuen« (Geertz 1987: 36).

Im Gegensatz zu ›Gesetzesbegriffen‹ arbeitet die Kultursoziologie mit Formbegriffen. Ernst Cassirer greift in seiner Abhandlung ›Zur Logik der Kulturwissenschaften‹ (1989; [1961]) die Problematik der wissenschaftlichen Generalisierung auf. Für ihn können die Kulturwissenschaften weder als ›nomothetisch‹ bezeichnet werden, so geht es ihnen nicht um die Aufstellung von allgemeingültigen Gesetzen, noch sind sie rein ›ideographisch‹, denn sie wollen sich auch nicht auf die Erzählung des Gewesenen und Gewordenen einschränken (ebd.: 58f). Die Kultursoziologie arbeitet weder mit ›Allgemeinbegriffen‹ noch mit ›Individualbegriffen‹, sie will eine Synthese leisten und dafür benötigt sie ›Formbegriffe‹. Diese Formbegriffe sind mit »einer eigentümlichen Unbestimmtheit behaftet, die sie (die Kulturwissenschaften; Anmerk. JM) nicht zu überwinden vermögen. Auch hier läßt sich das Besondere dem Allgemeinen in irgendeiner Weise einordnen; aber es läßt sich ihm nicht in derselben Weise unterordnen« (ebd.: 71). Die Formbegriffe der Kulturwissenschaften, so Cassirer, charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht (ebd.: 73). Die soziale Welt, betrachtet man sie aus der Perspektive der Kulturwissenschaften, ist mit Bedeutungen aufgeladen, die keinerlei »Eigenschafts-Konstanz« (ebd.: 74) aufweisen. Dennoch entbehrt sie nicht jeglicher Struktur, auch wenn diese zu komplex ist, als dass sie jemals, sei es auch nur für einen Ausschnitt der Welt, zur Gänze zu erfassen ist. Die kultursoziologischen Formbegriffe sind abstrakt. Es handelt sich nicht um DingBegriffe oder Kausal-Begriffe, mit ihnen soll vielmehr ein Feld aus Relationen, ein System aus Kraftlinien beschreibbar werden (ebd.: 92). Dabei geht sie über die Analyse des rein Inhaltlichen hinaus, denn es geht ihr durchaus um die Identifikation der (Bedeutungs-)Struktur hinter den von ihr untersuchten Phänomene. Die Frage nach der Struktur darf jedoch nicht mit der Frage nach der Kausalität missverstanden werden. Die kulturwissenschaftliche Analyse interessiert sich

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zwar für die Totalität der Formen; sie geht dennoch nicht davon aus, sie in ihrer gesamten Komplexität jemals erfassen zu können. Der Deutung und der hermeneutischen Interpretation geht es zwar darum, bestimmte Grundgestalten herauszuarbeiten; mit dem Blick auf das Ganze wird jedoch nicht der Anspruch erhoben, das Ganze als Ganzes – d.h. zur Gänze – zu erfassen. Dem Formdenken geht es um die Synthese verschiedener Ausdrucksformen. Das Ziel der Kulturwissenschaft »ist nicht die Universalität der Gesetze; aber ebenso wenig ist es die Individualität der Tatsachen und Phänomene. Gegenüber beiden stellt sie ein eigenes Erkenntnisideal auf. Was sie erkennen will, ist die Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Diese Formen sind unendlichdifferenziert, und doch entbehren sie nicht der einheitlichen Struktur« (Cassirer 1989; [1961]: 76). Cassirers Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Synthese, die die Allgemeinheit und Besonderheit der Kulturphänomene zu fassen vermag, fanden in den interpretativen Verfahren kultursoziologischer Forschung Anwendung. Begriffe wie ›Ausdrucksgestalt‹ verweisen etwa darauf, wie sich Fallanalytikerinnen für Details und Singularitäten interessieren, dem scheinbar Belanglosen nachspüren und dabei stets das Ganze, den Sinnzusammenhang im Blick haben. Durch die Verfahren, wie sie etwa von der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik angewandt werden, kann es gelingen, »einerseits die durch die extensive Detailanalyse und die Fallrekonstruktion hergestellte ›Nähe‹ in eine abstrakte, tendenziell generalisierbare Aussage umzuwandeln und andererseits das Individuelle als Allgemeines zu fassen und seine übergreifende Kulturbedeutung offenzulegen« (Soeffner/Raab 2004: 556; Hvh. JM). Die Aufgabe ist dementsprechend die Synthese von einzelnen Erscheinungsformen und die Beschreibung der sich durch sie demonstrierenden Einheit. So schreibt Mannheim, dass es um jene Einheit geht, die zwar jenseits der Sinngebilde liegt und dennoch irgendwie eine durch sie gegebene Ganzheit ist (Mannheim 1923: 13). Die Verallgemeinerung hat im Gegensatz zur ›Gesetzeswissenschaft‹ ein anderes Ziel: Die Formbegriffe wie etwa die Idealtypen Webers haben den Zweck, »nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zu Bewusstsein zu bringen« (Weber 1973 [1904]: 202).

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Mit dem Augenmerk auf die Singularität der jeweiligen Stadt, steht der Ansatz der »Eigenlogik der Städte« (Berking/Löw 2005, 2008; Löw 2008a) konträr zu den etablierten Perspektiven, unter denen Städte untersucht werden. Die bislang

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vorherrschenden Sichtweisen auf Stadt und Städte können mit den Begriffen der »Subsumptionslogik« bzw. »Konkretionslogik« beschrieben werden (Berking 2008; Frank 2012). Dem subsumtionslogischen Ansatz sind Vertreter der New Urban Sociology oder der Global City Forschung zuzuordnen (Frank 2012: 290). Das Interesse, das diese Ansätze der Stadt und urbanen Prozessen entgegenbringen, resultiert vor allem daraus, dass gesellschaftlicher Wandel in urbanen Zentren früher und intensiver beobachtbar wird. Die Beschreibungen, die sie liefern, werden auf der Ebene der Gesellschaft generalisiert, lokale Wissensbestände und ortsspezifische Praktiken sind dabei sekundär, sie gelten als leichte Variationen eines Allgemeinen. Das konkretionslogische Denken wiederum interessiert sich für spezifische Lebenswelten in der Stadt. Beschrieben werden Milieus und Subkulturen, wobei vor allem die Differenz gegenüber anderen Subkulturen und Quartieren von Interesse ist und weniger die verbindenden Elemente, die daraus resultieren könnten, dass sie den Symbolkosmos einer bestimmten Stadt teilen. Bekannt für sehr detailreiche Untersuchungen von Einwanderervierteln, Wanderarbeitern, Jugendbanden, etc. ist wiederum die Chicago School of Sociology. Die wesentliche Bezugsgröße war für sie gewissermaßen das »Dorf in der Stadt« (Lindner 2000: 261), d.h. räumlich abgrenzbare Stadtteile. Auch in Deutschland wurden nach diesem Vorbild zahlreiche quartiersbezogene Milieustudien durchgeführt (Frank 2012: 291). In beiden Ansätzen, in jenem, der die Stadt mit der Gesellschaft gleichsetzt wie in jenem, der Quartier- und Milieustudien betreibt, ist die Stadt der Kontext, in dem geforscht wird, nicht jedoch das Objekt der Untersuchung (Berking 2008). Im Rahmen dieser Situationsdiagnose äußert Helmuth Berking gar die Kritik, dass eine Stadtsoziologie ohne Stadt betrieben wurde (ebd.: 16). Dem Eigenlogikkonzept geht es darum, die Stadt als Untersuchungsgegenstand in die Stadtsoziologie zurückzuholen. Zurück heißt in diesem Sinne, dass es durchaus Studien gab, die sich für die Eigenarten von Städten interessierten, diese jedoch niemals den Status der anderen beiden Perspektivierungen erlangen konnten und ihnen in den letzten Jahrzehnten explizit die (soziologische) Relevanz abgesprochen wurde. Als Ansätze, die die Stadt als Untersuchungsgegenstand hatten, können etwa jene von Anselm Strauss (1961) und Gerald Suttles (1984) angeführt werden. Besonders die Nachbardisziplin Stadtanthropologie versuchte explizit eine ›anthropology of the city‹ der ›anthropology in the city‹ gegenüberzustellen (Hannerz 1980). In der deutschen Stadtforschung machte René König auf die Besonderheit der Städte aufmerksam und verwies darauf, dass »jede Großstadt ein ungeheuer komplexes Gebilde bedeutet, das jeweils die einzigartige Lösung einer einzigartigen Aufgabe darstellt« (König 1969: 124). Städte haben nicht einfach ein- und dieselben (gesellschaftlichen) Probleme. Was als Problem erkannt wird und die Art und Weise, wie

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jeweils damit umgegangen wird, geschieht nach bestimmten Mustern, die gewisse Dauerzüge annehmen können, »welche die Identifizierung der betreffenden Stadt über lange Zeiträume über Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende erlauben« (ebd.). An letzteren Ansätzen schließt das Eigenlogikkonzept an. Die Ausgangsthese lautet, dass sich die Welt in jeder Stadt auf je eigene Weise manifestiert (Marent/Richter 2013). Stadt ist aus dieser (alternativen und nicht einzigen) Perspektive nicht lediglich eine leichte Variation des Allgemeinen (Gesellschaftlichen) oder der Kontext, in dem bestimmte Verhaltensweisen (von Milieus und Subkulturen) beschrieben werden. Vielmehr soll die Stadt in ihrer Singularität erfasst werden. Sie ist damit nicht nur der Ort bzw. eine Adresse vielfältiger und heterogener Prozesse, sondern darüber hinaus ein Raum, eine kulturelle Figuration10, die aus dieser Komplexität eine eigene Ordnung hervorbringt. Und diese gilt es zu beschreiben. Das Eigenlogikkonzept hat die Alltagserfahrung als Ausgangspunkt und ist empirisches Argument für die Untersuchung der Singularität von Städten. Das so selbstverständliche Alltagswissen, dass Wien nicht Istanbul und Birmingham nicht Glasgow ist, eröffnet die Frage danach, wie die Stadt »in dem Zusammenspiel von kulturellen Traditionen, materialer Umwelt und räumlicher Form, von kulturellen Dispositionen und ästhetischen Codierungen die ihr und nur ihr eigene symbolische Ordnung hervorbringt« (Berking 2013: 225). Auch sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass die Stadt damit nicht als ein starres Gebilde, sondern als Figuration im Sinne von Norbert Elias (2006) verstanden wird, die durch ständiges Codieren und Decodieren einem fortschreitenden Wandel unterzogen ist und dessen Keim in der alltäglichen Praxis liegt. Hierin liegt die kulturwissenschaftliche Prämisse, dass der Mensch in seine selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe verstrickt ist (Geertz 1987: 9). Um die Stadt als spezifisches Bedeutungsgewebe zu erschließen konzeptualisiert der Eigenlogikansatz die Stadt als raumstrukturelle Form und Sinneinheit. Die Stadt als raumstrukturelle Form Die Abwendung von der Stadt als Raum hat in der Stadtsoziologie Tradition. Die Stadt, so die durchaus nachvollziehbare Überzeugung, ist weder auf ihre physische Materialität zu beschränken noch kann sie lediglich als administrative Einheit gedacht werden. Die soziologische Beschreibung darf nicht an (diesen) räumlichen Grenzen Halt machen (Häußermann/Siebel 1978; Saunders 1986;

10 Hier verstanden im Sinne von Norbert Elias als ein Spannungsgefüge das aus der Interdependenz von Handlungen und Strukturen entsteht (Elias 2006: 171ff).

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Krämer-Badoni 1991). Paradoxerweise wurden die Impulse des ›spatial turn‹ (Löw 2001; Schroer 2008) innerhalb der Stadtsoziologie jedoch so aufgenommen, dass sie sich in ihrer Haltung – der Abwendung von einer räumlichen Definition der Stadt – bestätigt fühlte, anstatt sich dem Räumlichen unter weniger reduktionistischen Gesichtspunkten zu nähern. Die Soziologie hat sich, so die Auffassung, den sozialen Dimensionen und nicht den räumlichen Dimensionen von Stadt zu widmen. Raum wird also dem Sozialen entgegengesetzt, anstatt ihn als sozialen Raum zu verstehen. Gar Simmel, der geradezu als Vordenker eines relationalen und sozialen Raumkonzeptes angeführt werden kann, wird vorgeworfen, er setze die Großstadt in seinem Aufsatz über die ›Großstädte und das Geistesleben‹ (1995) als räumlichen Container voraus, indem er den städtischen Raum vom ländlichen abgrenzt (Lossau 2012: 191). Die Abwendung von einem räumlichen Stadtbegriff würde jedoch keine Absage an der Verwendung räumlicher Kategorien schlechthin bedeuten (ebd.: 192). So werden weiterhin Analysen von Stadteilen, Quartieren, Nachbarschaften etc. betrieben. Dass die Stadtsoziologie es schafft, sich einerseits von einem räumlichen Stadtbegriff abzuwenden, sich andererseits aber darauf beruft, durchaus räumliche Phänomene zu berücksichtigen, lässt die Vermutung zu, dass sie die Stadt nicht abstrakt genug zu denken vermag. Denn womit hat man es zu tun, wenn weder von der Stadt in ihrer materiellen Erscheinung ausgegangen werden kann, ja nicht einmal eine administrative Grenze gezogen werden soll? Die raumtheoretische Fundierung von Stadt wird im Eigenlogikkonzept äußerst schlicht gehalten. Berking beruft sich auf die bekannte Definition von Louis Wirth, der der Stadt drei räumliche Qualitäten zugeschrieben hat: Größe, Dichte und Heterogenität (Wirth 1938; Berking 2008). Das Zusammenwirken dieser Qualitäten, sei es die Häufigkeit von Kontakten, die Vielzahl und die Oberflächlichkeit von Beziehungen und die erhöhte Mobilität bei gleichzeitig zunehmender Unsicherheit, führen nach Wirth zu einem »urban mode of life« (Wirth 1938: 1). Mit dem Zusammenspiel von Größe, Dichte und Heterogenität wird die Stadt zunächst rein formal von anderen (sozial)räumlichen Einheiten abgegrenzt. Nimmt man als plastisches Beispiel ein Militärfeldlager, so treffen darauf zwar die Dimensionen Größe und Dichte zu, von Heterogenität kann aber keine Rede sein. Ein weiterer Kontrast zeigt sich auch zur räumlichen Form des Territoriums. Während dieses die Grenze braucht und die Homogenität im Inneren steigert, orientiert sich die raumstrukturelle Form ›Stadt‹ an einer Logik des Einschlusses. D.h., sie negiert geradezu die territoriale Grenzziehung und erhöht dadurch Dichte und Heterogenität im Inneren (vgl. hierzu Held 2005; Berking 2008: 19). Die Logik des Einschlusses bzw. Ausschlusses kann anhand von Migrationsprozessen veranschaulicht werden. »Der Nationalstaat als Beispiel für

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das Territorium definiert in den meisten Fällen enge Regeln für den Zuzug von Migranten. Er grenzt sich nach außen ab und behauptet zumeist kulturell relativ homogene Werte. Demgegenüber definieren Städte in der Regel keine administrativen Zuzugsbeschränkungen, im Gegenteil, ihre Existenz verdankt sich gerade den Möglichkeiten zur Immigration« (Marent/Richter 2013: 63). Diversität wird etwa auch im Stadtmarketing als ein wichtiger Standortfaktor gesehen und die Zurschaustellung dieser bleibt in kaum einer Kampagne ausgespart. Wichtig ist nun zweierlei. Erstens werden die drei Merkmale der räumlichen Form ›Stadt‹ nicht nur materiell-physisch gesehen, sondern es sind Werte, die den Sozialraum Stadt prägen. Zweitens werden Größe, Dichte und Heterogenität nicht nur als Quantitäten verstanden, vielmehr werden sie als Qualitäten folgenreich. Der Eigenlogikansatz interessiert sich vor allem dafür, wie die Quantitäten in Qualitäten umschlagen, indem er nach den Prozesslogiken fragt: nach dem Was und Wie der Verdichtung, der Art wie und wann Heterogenisierung stattfindet sowie danach, in welchen Situationen die Logik des Einschlusses zur Ausdehnung von Größe führt. Auch in dieser Hinsicht wird Raum nicht nur als physische Größe verstanden. Die Größe der Stadt kann sich auch in Hinblick auf den Ausbau von Wirtschaftszweigen ausweiten, oder sie kann zum Zentrum einer Musikszene werden und in diesem Bereich ihre Reputation stärken. »Die räumliche Logik des Einschlusses ist eine der systematischen Erhöhung der Kontaktintensität bei niedrigem Verpflichtungscharakter. Stadt organisiert Dichte durch die extreme Steigerung der Kontaktflächen« (Berking 2008: 20). Was für jede Stadt gilt (Größe, Dichte, Heterogenität), führt in ihrer Verarbeitung in jeder Stadt zu einer differenten Konstellation. Keine Stadt, so die These, löst das ›Problem‹ – den Umgang mit Größe, Dichte und Heterogenität – auf dieselbe Weise. Städte sind jeweils Zentren besonderer Art, wodurch ein distinkter Sinnhorizont erkennbar wird: »Man findet in der Regel keinen Bischofssitz auf dem Land, doch nicht jede Stadt ist mit einer solchen Institution gesegnet. Ein einzelner Jazz-Musiker konstituiert noch keine Szene. Aber nicht jede Stadt ist ein Zentrum des Jazz. Die Steuerungszentralen der globalen Finanzmärkte residieren nicht in Dörfern. Doch nicht alle Städte sind London, New York oder Tokio« (Berking 2013: 226). Die Vielfältigkeit, wie Städte mit ihrer raumstrukturellen Besonderheit umgehen, die sie von anderen Räumen abgrenzt, lässt nach der Stadt als Sinneinheit fragen: Was sind die typischen Modi, nach denen das räumliche ›Problem‹, die Gleichzeitigkeit von Größe, Dichte und Heterogenität gelöst wird?

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Die Stadt als Sinneinheit Das, was alle Städte als räumliche Formen miteinander teilen und wodurch sie von anderen Räumen abgrenzbar werden, organisiert sich in der jeweiligen Stadt auf je eigene Weise. Dass nicht alle Städte nach demselben Muster verfahren, um der räumlichen Herausforderung der Gestaltung von Größe, Dichte und Heterogenität zu begegnen, dürfte nachvollziehbar sein. Ob jedoch überhaupt eine gewisse Art des Organisierens dahintersteckt und nicht Chaos herrscht und die kontinuierliche Lösung des Problems jeweils dem Zufall überlassen bleibt, darüber kann gestritten werden. Städte werden häufig als Orte vollkommener Kontingenz perzipiert. Kontingent meint jedoch nicht, dass alles zufällig ist, sondern lediglich ›weder notwendig noch unmöglich‹. Kontingenz ist dadurch zwar schwer mit ›Planung‹ beizukommen (insofern man glaubt, der Plan müsse so wie geplant aufgehen); ›Sinn‹ ist jedoch geradezu unentbehrlich für die Kontingenzbewältigung (Luhmann 1984). Wenn der Eigenlogikansatz nach den bestimmten Modi fragt, wie die räumliche Form ›Stadt‹ das ihr auferlegte Problem löst, so fahndet er nach Sinnzuschreibungen, die in bestimmten Situationen abgerufen werden und nicht nach einer bewussten und strategischen Planung. Um die Art und Weise der stadttypischen Sinnzuschreibungen zu erfassen, bezieht sich Helmuth Berking auf die sozialphänomenologische Theorietradition. Er führt den Begriff der ›Doxa‹ ein. Dieser rekurriert auf die Fraglosigkeit und Vertrautheit der alltäglichen Gewohnheiten und Routinen, die das Handeln prägen (Berking 2008: 24). Fraglosigkeit und Vertrautheit meint nicht, dass das Alltagshandeln nicht sinnintendiert ist. Vielmehr handelt es sich um zumeist präreflexive Orientierungsmuster, die gerade in ihrer Selbstverständlichkeit besonders effektvoll Bewertungen von Situationen und die Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zulässt. Der Begriff ›Doxa‹ hebt in phänomenologischer Tradition die Bedeutung des Alltäglichen und Gewöhnlichen hervor. Außerdem durchringt er alle Lebensbereiche und konzeptualisiert den lebensweltlichen Nahraum. Berking überträgt ihn nun auf die Großstadt: »Jede große Stadt, so die These, evoziert die ihr eigene ‚natürliche Einstellung‘ zur Welt. Jede große Stadt hat ihren lokalen Hintergrund, sie verfügt und verordnet ein Wissen darüber, ›wie die Dinge sind‹ und ›wie man was macht‹« (Berking 2008: 27). Damit ist nicht gemeint, dass jede Bewohnerin die Stadt gleich wahrnimmt. Die doxischen Ortsbezüge variieren und beinhalten eine Vielfalt von Perspektiven. Dennoch werden sie intersubjektiv geteilt. D.h., man versteht sich in Alltagssituationen, obwohl man nicht notwendigerweise eine identische Situationsauffassung haben muss. Ebenfalls kann man sich etwa über Paris unterhalten, ohne dass man dasselbe Paris-Bild haben muss: »Jede(r) hat sein (ihr) eigenes Paris, aber jede(r)

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hat Paris oder anders: Paris bleibt doch Paris« (ebd.: 28). Die städtische Doxa verweist damit auf ein subjektiv erfahrbares und sozial geteiltes Wissen. Der Eigenlogikansatz folgt insofern nicht, wie ihm oft vorgeworfen wird, das Ziel, ein ›widerspruchsfreies‹ Bild einer städtischen Sinneinheit zu zeichnen; unterschiedliche Sinnzuschreibungen werden berücksichtigt. Doch was im Alltag funktioniert, dem muss auch die Wissenschaft (theoretisch-reflexiv) gerecht werden können. Wenn Paris Paris bleibt und sich die Interaktionspartner unterhalten können ohne ganz und gar idente Paris-Bilder vor Augen zu haben, dann gilt es die Überlegung anzustellen, wie und weshalb die wechselseitige Sinnzuschreibung zumeist funktioniert. Zumeist heißt, dass es durchaus Situationen gibt, in denen die Doxa, d.h. die Gewissheit darüber, ›wie die Dinge sind‹ und ›wie man was macht‹, bedroht ist. Dabei wird das fraglos ›Gegebene‹, werden die Selbstverständlichkeiten thematisiert11. Es sind dies häufig Momente des sozialen Wandels. In diesen können sowohl Deutungen revidiert werden als auch die Doxa in Orthodoxie umschlagen kann (Berking 2008: 28). Abgesehen von solchen Ausnahmezuständen funktioniert der Alltag jedoch durch eine Unterstellung von Kohärenz. Erbittert versuchen Interaktionsteilnehmer, wie die Krisenexperimente Goffmans zeigen, so lang wie nur möglich die (unterstellte) Ordnung aufrechtzuerhalten (Goffman 1963). Doxa referiert auf das »konkrete Allgemeine« (Waldenfels 1985: 48), das sich anhand von Alltagssituationen besonders deutlich nachzeichnen lässt. Sie besteht »aus einer Reihung und Verkettung, Verflechtung und partiellen Überschneidung von Deutungsrastern und Regelsystemen« (ebd.). Die Doxa ist damit kein rationales Regelwerk, sondern eine Textur (ebd.). Verwirrung diesbezüglich stiftet der Überbegriff des Forschungsprogrammes ›Eigenlogik‹. Jedoch wies Martina Löw von Anfang an darauf hin, dass damit nicht eine Logik im Sinne einer rationalen Gesetzmäßigkeit gemeint ist, sondern präreflexive Prozesse der Sinnkonstitution (Löw 2008b: 42). »Das Grundmuster, das Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Machbarkeit garantiert, hebt sich ab vom empirischen Einzelfall, in dem sich das Grundmuster wiederholt und konkretisiert« (Waldenfels 1985: 50). Waldenfels spricht hier erneut die Differenz zwischen der Wirklichkeits- und der Gesetzeswissenschaft an, die im vorherigen Kapitel behandelt wurde. Die Wirklichkeit konstituiert sich in jeder Situation aufs Neue und dennoch bezieht sich die Sinnzuschreibung immer auf ›Etwas‹. Die Beschreibung eines Phänomens, sei es ein Stadtbild oder eine Interaktionssituation, sei es die Analyse einer Institution oder eines Mediendiskurses, kann nie dahingehend ›abgeschlossen‹ wer-

11 Alfred Schütz beschreibt, wie die sozialen Automatismen des »Denkens-wie-üblich« aus der Bahn geraten anhand der Figur des Fremden (Schütz 2002: 86f).

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den, dass das Phänomen (etwa die städtische Doxa) ein und für alle mal erfasst wäre. Jede Untersuchung wird neue Erkenntnisse erzeugen, die mitunter zu bisherigen Bearbeitungen in Konflikt treten. Ob die Ergebnisse integriert werden können oder neue Kategorien gebildet werden müssen, das entscheidet immer wieder aufs Neue die Einzelfallanalyse. Die Kohärenzunterstellung liegt also in der Wirklichkeit der Alltagswelt und nicht in der Wissenschaft selbst. Ihr soll mit dem Begriff ›Doxa‹ wissenschaftliche Aufmerksamkeit zugestanden werden. Damit einher geht nicht, dass man Städte und ihre Symbolwelten essentialistisch konzeptualisiert. Die Perspektive des Eigenlogikansatzes macht es vielmehr möglich, Städte als »gelebte Sinneinheiten zu fassen, die der klassischen stadtsoziologischen Betrachtungsweise leicht als ›kulturalistisch‹, ›holistisch‹ und ›essentialistisch‹ erscheinen. Dabei sind es gerade kulturelle Sinnkonstruktionen und ›Essenzen‹, mittels derer sich soziale Akteure in ihrem gelebten Alltag orientieren und mit denen sie auch dem städtischen Raum Bedeutung verleihen. (…) Essentialisierende Wahrnehmungsweisen und Praktiken, die zur Konstitution städtischer Sinnprovinzen bis hin zur ›City as a Whole‹ beitragen, sind – so prekär und verhandelbar die ›Essenzen‹ auch sein mögen – elementarer Bestandteil städtischen Lebens« (Wietschorke 2013: 214f).

Die entscheidende Herausforderung für den Eigenlogikansatz besteht darin, nicht vorherrschende Klischees zu reproduzieren, sondern der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit verschiedener Perspektiven gerecht zu werden und gleichzeitig aufzuzeigen, inwiefern sie auf ein städtisches Ganzes ausgerichtet sind und im Handlungsvollzug eben dieses herstellen. Die widerspruchsfreie Doxa ist insofern »realessentialistisch« (ebd.: 215). Die wissenschaftliche Aufgabe besteht darin, sie in ihrem Vollzug zu beobachten und in ihrer ›Herstellung‹ zu erfassen. Empirische Handhabung Beim Eigenlogikansatz handelt es sich um eine Heuristik, eine forschungsleitende Fragestellung12. Die »Eigenlogik der Städte« ist keine Theorie, mit der es streng abgesteckte Hypothesen zu testen gilt. Einige Kritikerinnen werfen dem Ansatz vor, dass er nicht falsifizierbar wäre. Damit ist ihnen selbstverständlich Recht zu geben, jedoch muss gleichzeitig festgehalten werden, dass es darum auch gar nicht geht (Marent/Richter 2013: 66). Die »Eigenlogik der Städte« setzt

12 Weiterführend siehe hierzu (Marent/Richter 2013).

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auf ein differentes Theorieverständnis. Schon Herbert Blumer hat ›bestimmte‹ Theorien von ›sensibilisierenden‹ unterschieden: «Whereas definitive concepts provide prescriptions of what to see, sensitizing concepts merely suggest directions along which to look« (Blumer 1954: 7). Während erstere getestet und falsifiziert werden können, erlangen sensibilisierende Konzepte ihren Wert dadurch, dass sie neue und unvorhergesehene Aspekte der sozialen Welt sichtbar machen. Sie sind richtungsweisend und lassen Überraschungen zu. Den wechselseitigen »Abstinenz- und Keuschheitsgeboten« (Hirschauer 2008: 168), die zwischen empirischer Forschung und theoretischer Soziologie herrschen, werden im Eigenlogikansatz aufgehoben. Es ist ein Konzept, das von einem Interesse (die Stadt als Objekt des Wissens) geprägt ist, das seine theoretischen Prämissen darüber, was unter Stadt verstanden wird (Stadt als räumliche Form und Sinneinheit), in Anschlag bringt und eine ständige Integration von empirischen und theoretischen Arbeitsschritten vorsieht. Es besteht damit weder theoretische Neutralität (die unter Umständen in der wissenschaftlichen Forschung auch gar nicht erreichbar ist) noch existiert ein derart ausgearbeitetes Theoriedesign, das die Erkenntnis schon im Vorfeld festlegt und das es nur mehr zu testen und zu beweisen gilt. Ein möglicher Schritt, der Singularität der Stadt empirisch auf die Spur zu kommen, besteht in der Suche nach Homologien. Damit werden ›Formverwandtschaften‹ bzw. ›Typenähnlichkeiten‹ verstanden, die über bloße Ähnlichkeiten hinausgehen, da sie eine gemeinsame ›Herkunft‹ haben (Bourdieu/Wacquant 1996: 195; Marent/Richter 2013: 67f). Das Augenmerk der Forscherin richtet sich dabei zunächst auf verschiedene Teilbereiche – seien es Felder, Milieus, verschiedene Bildmedien etc. Nachdem Deutungs-, Handlungs- oder Institutionalisierungsmuster zunächst für das jeweilige Feld, Milieu oder Bildmedium nachgezeichnet wurden, werden die Ergebnisse in Bezug zueinander gesetzt. Gibt es Muster, die aus den verschiedenen Feldlogiken ausbrechen, die etwa die typischen Darstellungskonventionen von bestimmten Bildgenres unterwandern, und tritt dies in ähnlicher Weise in verschiedenen Teilbereichen der städtischen Wirklichkeit immer wieder in Erscheinung, so kann mitunter von einer alltagsweltlichen Sinnprovinz ›Stadt‹ gesprochen werden, die nicht vor Feldgrenzen Halt macht. Ein weiterer Begriff, der im Eigenlogikkonzept Verwendung findet, ist jener der »kumulativen Textur« (Suttles 1984; Lindner 2008). Diese Textur kann sinnbildlich als städtisches Webmuster verstanden werden, das permanent weitergestrickt wird, aber auch Fäden verliert oder neue Formen knüpft. Berking und Schwenk gehen dieser Textur in ihrer empirischen Studie zu den Hafenstädten Rostock und Bremerhaven nach (Berking/Schwenk 2011). Sie widmen sich

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dabei symbolischen Repräsentationen der Stadt, Denkmälern, Texten und Architekturen. Dabei zeigen sie auf, wie früher stadtprägende Ökonomien noch heute als Grundthema von Repräsentationen fortwirken, obwohl deren wirtschaftliche Bedeutung längst Geschichte ist. Die Suche nach Anschlüssen und Brüchen in der kumulativen Textur setzt eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt voraus. In diesem empirischen Zugang zur Eigenlogik der Stadt geht es nicht lediglich darum, Aufschluss über gegenwärtige Besonderheiten der Stadt zu geben. Vielmehr kann man daraus, wie die Stadt geschichtlich mit Krisensituationen umgegangen ist, auch etwas über den städtischen Möglichkeitsraum erfahren und Thesen formulieren, inwieweit dieser Potenziale und Hindernisse für zukünftige Herausforderungen birgt. Ein dritter Zugang zur Singularität der Stadt bietet der Städtevergleich. Untersucht wird ein soziales Phänomen in verschiedenen Städten, wodurch Differenzen ›dieser Stadt‹ durch den Kontrast mit anderen Städten hervortreten können. Zielführend ist dabei, ein Phänomen zu wählen, das möglichst weit verbreitet ist und von dem man annimmt, dass es nach ähnlichen Prinzipien funktioniert. Etwa betreibt fast jede Stadt ein Stadtmarketing und die Expertinnen in diesem Feld sind international vernetzt und arbeiten mit gängigen Marketingtools und vergleichbaren professionalisierten Praktiken. Außerdem ist es hilfreich, Städte mit ähnlichen Strukturbedingungen zu wählen (Einwohnerzahl, vorherrschender ökonomischer Sektor, Stellung als Verkehrsknoten etc.). Denn gerade am ›Härtefall‹, d.h. bei augenscheinlicher Ähnlichkeit, lassen sich Differenzen, sofern sie erkannt werden können, besonders überzeugend beschreiben. Städte, so die Annahme des Eigenlogikansatzes, sind keine unbeschriebenen Blätter. Auch wenn im Zuge der Globalisierung Tendenzen der Homogenisierung zu erkennen sind oder durch die postindustrielle Wende prägende ökonomische Sektoren abgewandert sind, ja gar wenn im Zuge von Kriegen oder Umweltkatastrophen die physische Erscheinungsform der Stadt ganz und gar verschwunden ist, die Vorstellungen über die Stadt, die Assoziationen und Handlungsmuster die sie nahelegt, weisen eine beharrliche Resistenz auf. Sie können zwar um- und überschrieben werden, schlichtes Ausradieren der Geschichte und des Gewesenen ist jedoch kaum möglich. Denn »[a]ls von Geschichte und Geschichten durchtränkter, kulturell kodierter Raum bildet die Stadt einen Vorstellungsraum, der den physikalischen insofern überlagert, als er der durch die begleitenden Bilder und Texte hindurch erlebte und erfahrene Raum ist« (Lindner 2008: 86; Hvh. i.O.). Hier wird auf das Interferenzverhältnis verwiesen, das der Erforschung der Sinnhorizonte der Stadt soziologische Relevanz verleiht. Die Sinneinheit Stadt überlagert ihre Materialität und schreibt sich insofern auch in die Praktiken ein. »Texte und Bilder gehen in Praktiken der Architektur, Raum-

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planung und Raumnutzung ein, diese wiederum wirken zurück auf die Bilder und Texte, die über eine Stadt kursieren« (Wietschorke 2013: 205). Die Aufgabe der soziologischen Analyse besteht darin, dieses Wechselverhältnis zu beschreiben. Einerseits gilt es, die Vorstellungswelten zu erschließen, die den städtischen Repräsentationen zugrunde liegen, andererseits gilt es, die ›Herstellung‹ eben dieser zu beleuchten und sie in ihrem Konstruktionscharakter zu erfassen. Denn »[d]ie Stadt ist sowohl ein historisch gewordenes kulturelles Produkt (…) als auch ein Schauplatz von gelebten Auseinandersetzungen um Deutungen, Bedeutungen und Ressourcen, die wiederum in sie als ein kulturelles Produkt eingehen« (Wietschorke 2013: 217). Mittels kultursoziologischer Prämissen, unter denen hier der Eigenlogikansatz empirisch zum Zug kommt, soll die Prozesshaftigkeit der Sinneinheit Stadt an jeder Stelle erkennbar bleiben: Inwiefern schließen die hier untersuchten Bilder an Narrative und Symboliken an, welche Umschreibungen nehmen sie dabei vor, welche neuen Bilder entstehen durch diesen ›Interpretationsprozess‹ und welche Aushandlungsprozesse stehen dahinter? Bevor nun das Untersuchungsdesign vorgestellt werden wird, wird ein kurzes Stadtportrait die Leserin mit der Stadt Istanbul und ihrem visuellen Symbolkosmos vertraut machen.

Stadtportrait Istanbul

To the right, Galata, her foreground a forest of masts and flags; above Galata, Pera, the imposing shapes of her European palaces outlined against the sky; in the front, the bridge connecting the two banks, across which flow continually two opposite, many-hued streams of life; to the left, Stambul, scattered over her seven hills, each crowned with a gigantic mosque with its leaden dome and gilded pinnacle (…) The sky, in which are blended together the most delicate shades of blue and silver, throws everything into marvelous relief (…) (AMICIS 1896: 29FF)

Bauliche Meisterwerke, ein Lichtschauspiel der Natur, Geschäftigkeit auf der Galata-Brücke und der Wasserstraße – die visuellen Sinneseindrücke Istanbuls lassen wohl niemanden unbeeindruckt. Mit ihren bildlichen Reizen war und ist die Stadt und ihre Entwicklung ein zentrales Motiv der Malerei, der Fotografie und von massenmedialen Bilddiskursen. Angefangen von den großen Eroberungen und Plünderungen des Mittelalters über die Belle Epoque des ausgehenden 19. Jahrhunderts hin zur Gründung der Republik und den mit ihr einhergehenden Modernisierungsbestrebungen bis in die Gegenwart mit dem Erstarken des ökonomischen Stellenwertes der Stadt innerhalb globaler Wirtschaftsbeziehungen, all diese Momente wurden visuell festgehalten. Als ich am Beginn dieser Arbeit stand und eine Auswahl zu treffen hatte, welche Stadt zum Objekt meiner Untersuchung werden sollte, war es, abgesehen vom reichen visuellen Symbolkosmos der Stadt, auch aufgrund eines gerade stattfindenden Events naheliegend, dass die Entscheidung auf Istanbul fiel. Die türkische Metropole war 2010, neben

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Essen und Pécs, als europäische Kulturhauptstadt nominiert. Dies kurbelte die Bildproduktion weiter an und Istanbul war in verschiedensten medialen Formaten stark präsent. Um die Leserin mit dem Untersuchungskontext vertraut zu machen, wird ein knappes Stadtportrait die Entwicklungslinien der Stadt vom Mittelalter bis zur Gegenwart nachzeichnen. Wie der Terminus ›Portrait‹ bereits nahelegt, wird die Stadt nicht nur beschrieben, sondern vor allem ihr visueller Symbolkosmos aufgegriffen. Bilder der Stadt begleiten und strukturieren die Narration. Während die historischen Fakten vornehmlich Brüche markieren – der Austausch von Machthabern, die technischen Entwicklungen und den gesellschaftlichen Wandel – so wird anhand der Bilder ebenfalls die Persistenz der Geschichte evident, die sich zu einer »kumulativen Textur« (Lindner 2008) bzw. für dieses Forschungsvorhaben mitunter treffender formuliert – zu einem ›Geflecht aus Bildern‹ verdichtet. Die jeweiligen Bilder lösen sich nicht ab, vielmehr überlagern sie sich. Nicht zuletzt deshalb, da die Geschichte der Stadt in ihrer materiellen Erscheinung noch stark präsent ist. Das Portrait hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zu umfangreich ist die Geschichte und ihre visuellen Interpretationen, so dass sich weitere umfangreiche Forschungsvorhaben mit der Bildgeschichte Istanbuls beschäftigten müssten. Die Auswahl ist eigenmächtig, aber nicht beliebig. Während der Recherche zeichnete sich eine mögliche Gliederung ab, die etliche Bilder einschließt und eine Struktur der Wahrnehmung wiedergibt. Das Istanbul des Mittelalters war vor allem ›Beutestadt‹, ein Objekt der Begierde zahlreicher Eroberer und Opfer von Plünderungen. Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Istanbul zum ›Sehnsuchtsort‹, der von der Rationalisierung und Technifizierung ›verschont‹ blieb. In zahlreichen romantisierenden Darstellungen der Stadt spiegelt sich das Bedürfnis nach Authentizität und Einfachheit. Mit der Gründung der Republik verliert Istanbul ihren politischen und kulturellen Stellenwert. Die neue Hauptstadt ist Ankara. Die Modernisierung der Türkei zeichnet sich in den Bildern Istanbuls als ›Verlusterfahrung‹ ab. Erst im ausgehenden 20. Jahrhundert erstarkt Istanbul wieder zum nationalen Powerhouse und auch im globalen Kontext nimmt die wirtschaftliche und politische Stellung der Stadt zu. Trotz der positiven wirtschaftlichen Zahlen wächst die innere Unzufriedenheit. Eine Zivilgesellschaft etabliert sich, die die Risiken der einseitigen wirtschaftlichen Ausrichtung der Politik für die nachhaltige Entwicklung der Stadt erkennt und sich gegen den autokratischen Führungsstil auflehnt. Istanbul steht im Spannungsfeld zwischen ›Autorität und Emanzipation‹.

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B EUTESTADT

Abbildung 7: Domencio Tintoretto,

Abbildung 8: Ferdinand Victor Eugène

Eroberung Konstantinopels durch die

Delacroix, Einzug der Kreuzfahrer in Kons-

Kreuzfahrer 1204, 1580, Sala del

tantinopel am 12. April 1204, 1840, Paris,

Gran Consiglio, Dogenpalast Vene-

Musée de Louvre. In: (Daguerre de Hureaux

dig. akg-images. In: (Weibel 2004:

1994: 111).

13).

Der Reichtum des imperialen Herrschersitzes Konstantinopels ist Motiv vieler Gemälde und Stiche, die die imposanten Gotteshäuser, Paläste und Hafenanlagen repräsentieren. Die Pracht der Stadt war legendär, sie »zog den eifersüchtigen Blick Europas, später des Balkans und des Vorderen Orients auf sich« (Keyder 2004: 33). Mitunter waren es nicht zuletzt die zirkulierenden Bilder, die die Gier schürten. Noch bevor die ›Beutestadt‹ Istanbul zum Ziel der Auseinandersetzung zwischen Christen und Osmanen wurde, wurde das christlichorthodoxe Byzanz von den venezianischen Christen überfallen (Weibel 2004: 13f). Am 24. Juni 1203 tauchte eine 200 Schiffe starke Flotte vor den Toren Istanbuls auf (Kreiser 2010: 40). Es war die Aussicht auf materiellen Gewinn, der die Kreuzfahrer von ihrer eigentlichen Mission, der Befreiung Jerusalems, ablenkte. Im April 1204 begann der Sturm auf die Stadt. Dieser endete zugunsten der Angreifer. Als Sold stand den Kreuzrittern öffentlicher, sakraler sowie privater Besitz drei Tage lang zur Plünderung zur Verfügung und zahlreiche Kunstschätze wurden von Konstantinopel nach Venedig geschafft. Zwar ist die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen ein weitaus populäreres Motiv der Bildgeschichte, namhafte Maler wie Tintoretto und Delacroix widmeten sich jedoch auch dem Zerwürfnis innerhalb der abendländischen Kultur. In Tintorettos Interpretation (Abbildung 7) werfen sich die Angreifer wie Ameisen auf die überdimensionalen Mauern der Stadt, die einer derartigen Invasion aber nicht

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standhalten können. Durch die Analogie zum ›Schädlingsbefall‹ wirkt die Eroberung der Stadt in dem Bild wie eine Plage und nicht ehrenwert. Auch Delacroix zeigt das Leid und die Zerstörung der Invasion sowie die Kaltblütigkeit der Eroberer (Abbildung 8). Die Bilder deuten an, dass die Eroberungsversuche Konstantinopels nicht von religiösen Auseinandersetzungen bzw. ideellen Werten getrieben waren, sondern Habgier und Besitzstreben wesentliche Anreizfaktoren waren, die Mauern der Stadt zu erklimmen. Die lateinische Herrschaft über Konstantinopel währte nicht lange. Nachdem die Kunstschätze geraubt und abtransportiert waren, verlor das römische Imperium das Interesse an der Stadt. Schon 1261 gelang es den Byzantinern, Konstantinopel zurückzugewinnen (Kreiser 2010: 42).

Abbildung 9: Fausto Zonaro, Mehmet II,

Abbildung 10: 1 Faruk Aksoy (Di-

1908, Dolmabahce Istanbul, TBMM Natio-

rektor): Fetih 1453, 2012. DVD-

nal Palaces Collection. In:

Cover: http://www.imdb.com/title/

(Damiani/Ferrazza/Serifoglu 2004: 172).

tt1783232/ (25.10.14).

Die Auseinandersetzung zwischen Griechen und Lateinern hatten die militärische und politische Stärke der Stadt nachhaltig geschwächt. 1453 waren es die Osmanen, die die Stadt vereinnahmten und zur Hauptstadt des Reiches auserkoren. Auch wenn Europa zuvor kein großes Interesse an Konstantinopel zeigte und man den Belagerten kaum militärische Unterstützung sandte, so löste die Invasion der Osmanen in Europa dennoch Entrüstung aus. Die heilige Kaiserstadt wurde aus Sicht des christlichen Abendlandes nicht nur ausgeraubt und verwüstet, sondern vor allem befleckt und entehrt. Zentrale Figur in den Bildmotiven ist Mehmet II, der auch unter dem Namen ›Fatih‹ (der Eroberer) bekannt ist. Der Siegeszug des Osmanischen Herrschers wird jeweils sehr unterschiedlich interpretiert. Ein Gemälde von Fausto Zonaro, ein italienischer Maler, der

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einige Jahre seiner Karriere als Hofmaler von Sultan Abdülhamid II tätig war, zeigt Mehmet II als kalkulierenden Strategen (Abbildung 9). Da Kaiser Konstantin XI zum Schutze der Stadt eine eiserne Sperrkette über das Goldene Horn errichtete, die verhinderte, dass die angreifende Flotte die Hafeneinfahrt der Stadt erreichen konnte, war nun der Einfallsreichtum der Angreifer gefordert (Kreiser 2010: 46). Mehmet II machte das Unmögliche möglich. Er ließ 72 Galeeren aus dem Bosporus über die Hügel Galatas ins Goldene Horn ziehen (ebd.), womit der Schutzwall umgangen war und die Feinde direkt vor der Stadt standen. Im Gemälde Zoranos werden die Osmanen nicht als Horde kaltblütiger Wilder dargestellt, vielmehr ist die Militäraktion ein Geniestreich. Mehmet II sitzt vornehm auf einem weißen Schimmel, ist umringt von seiner Gefolgschaft und erteilt ruhig Anweisungen. Zerstörung, Blutrausch und Wirrnis der Kriegshandlung sind im Bild nicht zu sehen. Heroischer wird Mehmet II auf dem Cover der DVD des Films ›Battle of Empires‹ dargestellt (Abbildung 10). Der Eroberer sitzt hier nicht in samtenem Gewand auf einem weißen Schimmel, sondern trägt eine schwere Kampfmontur. Hinter ihm steht die Stadt in Flammen. Die Kampfhandlung gelingt hier nicht mittels eines strategischen Feldzugs, sondern mit körperlicher Kraft, Entschlossenheit und schier ungebremster Waghalsigkeit. Davon zeugt der Blick des Eroberers. Der Film von Faruk Aksoy ist mit 17 Millionen Dollar Budget einer der teuersten Produktionen, die jemals in der Türkei produziert wurden. Das Cover ist keine Negativdarstellung von Mehmet II. Die Furchtlosigkeit und Entschlossenheit dominieren in der Bildgestalt und nicht reine Blutrünstigkeit. Der populäre Film führte zu zahlreichen kritischen Reaktionen. Ihm wurde, vornehmlich in der ›westlichen Welt‹, Verherrlichung von Gewalt und verzerrte Darstellung der Geschichte vorgeworfen. Anders dargestellt wird Mehmet II in einem Bild von Benjamin-Constant, einem französischen Maler. Das Gemälde ist von einer ›orientalistischen‹ Perspektive geprägt (Abbildung 11). Die Gesichter der Invasoren sind dunkler. Mehmet II reitet auf einem schwarzen Ross und trampelt über die Leichen, die auf dem Weg liegen. Der Eroberer triumphiert trotz des Anblicks des Leides und der Verwüstung. Er hebt den Halbmond in die Höhe und blickt die Bildbetrachterin geradewegs an. Überhaupt ist das Bild in düsteren Farben gehalten. Vergleicht man diese Interpretation des Momentes, in dem der ›Sieger‹ durch das Tor in die Stadt schreitet, mit einem Gemälde, das wiederum Zonaro zu seiner Zeit als Hofmaler gemacht hatte, so springt der Unterschied ins Auge (Abbildung 12).

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Abbildung 11: Jean-Joseph Benjamin-

Abbildung 12: Fausto Zonaro, ca.

Constant, 1876, Einzug des Sultans in die

1908, Einzug des Sultans in die

eroberte Stadt. http://upload.wikimedia.

eroberte Stadt, TBMM National

org/wikipedia/commons/7/7c/Benjamin-

Palaces Collection. In:

Constant-The_Entry_of_Mahomet_II_

(Damiani/Ferrazza/Serifoglu 2004:

into_Constantinople-1876.jpg

173).

(25.10.2014).

Es ist exakt derselbe Augenblick auf der Schwelle des Stadttores, doch die Gesichter der Eroberer wirken heller wie auch das Bild im Gesamten. Mehmet II sitzt auf einem weißen Pferd und trampelt nicht über die Leichen. Er blickt die Betrachterinnen nicht an, sondern macht sich ein Bild von der Verwüstung. Ebenfalls ›triumphiert‹ er nicht, seine Arme hängen am Körper herunter, er wirkt besonnen. Das Stadttor selbst ist im Unterschied zum Gemälde von BenjaminConstant nicht zerstört, eine Malerei ziert den Torbogen. Die Angreifer haben, in der Interpretation Zoranos, die Stadt nicht völlig vernichtet und überhaupt nehmen die Leichen im Bildvordergrund weniger Raum ein.

Abbildung 13: Melchior Lorich, 1559, Ausschnitt aus dem Panorama Byzantium sive Constantineopolis‹. Abgebildet in Morkoc 2007: 88.

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Von den Osmanen eingenommen, wurde die Repräsentation Istanbuls streng überwacht. Der dänische Künstler Melchior Lorich freute sich über das rege Interesse, das ihm der Sultan während seiner Zeit in Istanbul entgegenbrachte und die Gefolgschaft, die ihm bei seinen Stadtrundgängen rund um die Uhr Gesellschaft leistete bzw. ihn überwachte (Morkoc 2007: 89). Die prätentiöse Skyline, ihre Größe und Herrschaftlichkeit wurden von ihm auf einer zwölf Meter langen Panoramazeichnung verewigt (einen Ausschnitt dieser zeigt Abbildung 13). Diese zur damaligen Zeit beispiellose Darstellung verknüpft unterschiedlichste Elemente. Zum einen bildet sie etliche Bauwerke realistisch ab, zum anderen fügt sie auch Elemente der Fantasie hinzu, etwa eine ägyptische Pyramide oder einen mesopotamischen Tempel (Morkoc 2007: 88). Dies zeugt von der verzaubernden Wirkung der Stadt im subjektiven Erleben des Künstlers. Zudem ist Lorich selbst im Bild, womit er auf die Realität der Beobachtung verweist und der Betrachterin suggeriert: ›ich bin hier gewesen‹. Repräsentativität des Empires, märchenhafte Kulisse und Objektivität der empirischen Wahrnehmung werden in ein und derselben Darstellung vermischt. Zwei Momente sind in dieser und etlichen anderen Darstellungen Istanbuls besonders evident: ihre Schönheit (Reichtum, Wohlstand ausgedrückt durch die eindrucksvolle architektonische Gestalt sowie durch das Naturschauspiel von Wasser, Hügeln und dem Himmel) und die Macht (Größe der Stadt, Seeflotte, Stadtmauer, Paläste etc.). Istanbul im Mittelalter ist zuallererst eine ›Beutestadt‹. Die Stadt ist aufgrund ihrer Reichtümer und ihrer geopolitisch bedeutenden Lage der ständigen Bedrohung ausgesetzt, jener aus Europa wie jener aus Asien. Die Repräsentativität der Stadt sowie die Schlachten, die um sie geführt werden, prägen die visuellen Darstellungen. Nach der Eroberung von 1453 wächst die politische, religiöse und wirtschaftliche Stellung des imperialen Herrschersitzes zunächst erneut an. Dies wird vor allem in Bildern der Stadtsilhouette zum Ausdruck gebracht. Das erstarkte osmanische Reich führt in Folge etliche Kriege, von den Belagerungen Wiens 1529 und 1683 bis zum türkisch-russischen Konflikt (1768-1774). Diese kriegsreichen Jahrhunderte verzeichneten etliche Niederlagen und schwächten das Reich. Es verschlechterten sich zudem die diplomatischen Beziehungen zu vielen europäischen Staaten (Weibel 2004). Außerdem verschlang der imperiale Herrschaftssitz, die Größe und sein Prunk, ein immenses Ausmaß an finanziellen Mitteln, die die Steuereinnahmen zu diesen Zeiten bei Weitem übertrafen (Keyder 2004: 33). Spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts war die Großmachtstellung der Osmanen endgültig verloren (Weibel 2004: 14). Der Sultan war gezwungen, verschiedene Abkommen und Bündnisse einzugehen, womit die unmittelbare Gefahr vor Militärschlägen seitens der Osmanen in Europa

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gebannt war. Damit wandelten sich der Blick auf den ›Orient‹ und damit auch die Bilder Istanbuls.

S EHNSUCHTSORT

Abbildung 14: Stamboul, soleil couchant, 1864, Félix Ziem, Institute du Monde Arabe, Paris. https://www.flickr.com/photos/ 51366740@N07/13866230013/ (25.10.2014).

Da der ›Orient‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert keine militärische Bedrohung mehr darstellte, machten sich mehr und mehr Schriftsteller und Maler auf die Reise nach Istanbul, um sich diesem ›Unbekannten‹ zu nähern. Technische Innovationen innerhalb Europas bewirkten einen rasanten sozialen Wandel. Industrialisierung und Modernisierung führten zu einer Rationalisierung und Bürokratisierung der Gesellschaft. Neben der Begeisterung für den Fortschritt führte dies zum Teil auch zu Entfremdungserscheinungen. Istanbul war die Schwelle zum ›Orient‹ und in der Vorstellung vieler europäischer Reisender der Zugang zu einer anderen Welt, die gerade wegen ihrer ›Rückständigkeit‹ ihre Schönheit, Unmittelbarkeit, Authentizität und Sensualität bewahrt hatte (Olcay 2000) – allesamt Aspekte, die im sachlich-nüchternen Europa zunehmend abhanden gekommen waren. Und tatsächlich hatte die osmanische Herrschaft zahlreiche Reformen nicht tatkräftig umgesetzt, um mit dem Gang der Zeit Schritt zu halten. Nötige ausländische Investitionen waren vergleichsweise gering und die physische Infrastruktur entsprach nicht dem Stand der Zeit (Keyder 2004: 35). Das ›moderne‹ Leben, bestehend aus Vergnügungslokalen, Hotels, Restaurants, Galerien, etc., beschränkte sich auf den Stadtteil Pera, Aufenthalts-

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ort der Bankiers, Kaufleute und westlicher Besucher: »[D]er Wandel in Istanbul [blieb] ungleichmäßig und unvollendet: Neu errichtete moderne Häuser standen neben alten Hütten, gepflasterte Straßen endeten auf lehmigen Plätzen. Die politische Logik des Osmanischen Reichs war unterminiert, aber ließ sich nicht beseitigen« (ebd.). Die ›Rückständigkeit‹ drückt sich in verschiedensten Bildmotiven aus bzw. drang durch die Darstellung noch stärker ins Bewusstsein. Die orientalistische Malerei des 19. Jahrhundert operiert mit dem Hauptstereotyp eines selbstgenügsamen, langsamen und verträumten Lebens, das von materieller Bedrängnis und Naturkatastrophen beherrscht ist (Olcay 2000: 47). Felix Ziem ist einer jener französischen Maler, die Istanbul als Sehnsuchtsort darstellten. Seine Bilder drücken die Langsamkeit des Lebens aus. Sie zeigen Istanbul als einen Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist, wodurch die Stadt und die Bevölkerung ihre Authentizität und Dignität bewahrt haben. So zeigt etwa das Bild ›Stamboul, Soleil Couchant‹ (Abenddämmerung; Abbildung 14) eine Rückenfigur, die den Blick des Betrachters an sich zieht und dann auf die Landschaft ableitet. Die atmosphärische Qualität der Darstellung liegt in ihrem Einsatz von Unschärfe und Dunkelheit. Konkret erkennbar sind die Umrisse der Rückenfigur, die am Ufer steht, zwei Ruderboote, das ruhige Wasser, eine Anlegestelle auf dem gegenüberliegenden Ufer sowie ein Segelschiff. Diese Szenerie zieht sich von der unteren Bildmitte hin zum rechten Bildrand, sie nimmt weniger als ein Viertel der gesamten Bildfläche ein. Der Himmel ist erleuchtet. Im Dunst der Abenddämmerung ist, trotz der weichen Konturen, eine große Moschee eindeutig zu erkennen. Diese ist überdimensioniert und wirkt bildbestimmend. Für den (europäischen) Betrachter ist im ersten Moment klar: das hier ist eine fremde Welt. Im linken Bildvordergrund herrscht Dunkelheit. Visualisieren die hellen Bilddetails Sakralität, Spiritualität und Reichtum, so zeigt (bzw. verdunkelt) die nahezu schwarze Fläche die Alltagswirklichkeit, das Hier und Jetzt. Alte, wacklige Holzhäuser sowie eine Gruppe von Menschen, die davor im Sand sitzen, sind undeutlich zu erkennen. Das Leben ist von Armut geprägt. Dennoch wirkt die Identifikationsfigur, die mit dem Rücken zur Alltagswelt und zur Betrachterin steht, gelassen. Ihr Blick, ihre Konzentration gilt nicht der Erbärmlichkeit, sondern der Erhabenheit, nicht dem Vergänglichen, sondern dem Ewigen. Sie trägt ihr Schicksal mit Zuversicht. Die Rückenfigur ist dabei alles andere als naiv. Das Bild wirkt durch die ästhetische Relevanzsetzung überzeugend. Der dunkle und mühselige Alltag ist im Verhältnis zur Spiritualität (Mosche und hell erleuchteter Himmel) und der Schönheit der (göttlichen) Natur auch für den rationalen Betrachter vernachlässigbar. Der Genuss der Bildbetrachtung liegt in der Identifikation mit der Rückenfigur, der Einnahme ihres, dem ›Wesentlichen‹ zugewandten Blickes. Die Faszination für das damalige Publikum des 19. Jahr-

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hunderts erhöhte sich zudem dadurch, da man sich sicher war, dass diese Welt, die von konträren Belangen und Relevanzen geprägt ist, im Verschwinden ist. Die abgebildeten Menschen (in Ziems Bild repräsentiert durch die Rückenfigur) sind ihrem Schicksal ausgeliefert und treten ihm nicht aktiv (mit Vernunft und Rationalität) entgegen. Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten in Pera die ersten Fotostudios (Hendrikje/Trost 2001: 8). Die Portraitfotografie florierte und auch der Hof des Sultans war an dem neuen Medium sehr interessiert und ließ die Leistungen und Errungenschaften des Reiches sowie Feste und Feiern dokumentieren. In der Fotografie dominierte dennoch die orientalistische Perspektive. Einerseits stammten viele der Fotografen, die sich in Istanbul niederließen, aus Europa13. Andererseits erkannten auch jene Fotografen, die aus Istanbul stammten, ihre Absatzmärkte in Europa und versuchten die Abbildung 15: Guillaume Exotik des Orients dementsprechend zu inszeBerggren, Fontaine de Sulnieren. So distribuierten etwa die Abdullahtan Ahmet III, ca. 1900. In Brüder, die unter anderem auch als Hoffoto(Olcay 2000: 58). grafen des Sultans tätig waren (ebd.: 10), für die damalige Zeit stark erotisierte Portraits von osmanischen Frauen (dies führte gar zum kurzzeitigen Verlust der offiziellen Position als Hoffotografen). Neben erotischen Fantasien adressierte die orientalistische Perspektive weitere Sehnsüchte. Eine Fotografie von Guillaume Berggren, die im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden ist, zeigt eine Straßenszene am Sultan Ahmet Brunnen vor dem Tor des Topkapi Palastes (Abbildung 15). Das Foto verknüpft Prunk, Verfall sowie die Gelassenheit und Langsamkeit des Alltagslebens. Der Brunnen ist ein funktionales Gebilde, errichtet für die Bevölkerung Istanbuls, um den allgemeinen Zugang zu sauberem Wasser sicherzustellen. Der Funktionsbau ist jedoch gleichzeitig ein repräsentatives Monument von und für den Sultan. Schmucke Ornamente zieren ihn. Im Kontrast dazu steht die Fassade des Palastes, die allmählich abbröckelt und auf den schwindenden Einfluss des Sultans hindeutet. Den Straßenverkäufern und die Gruppe Männer, die am Brunnen stehen und

13 Zu den bekanntesten Istanbul-Fotografen der ersten Stunden zählen etwa Pascal Sébah und Policarpe Joaillier (Hendrikje/Trost 2001).

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sitzen, scheint die Repräsentativität des Brunnens nicht zu beeindrucken. Sie weilen sehr leger auf dem staubigen und ungepflasterten Vorplatz. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Lediglich der schleichende, witterungsbedingte Verfall macht sich an der Fassade bemerkbar. Sind die Momente der Authentizität und Ruhe der Lebensweise hier wie in dem zuvor behandelten Gemälde Ziems evident, so unterscheiden sie sich doch in einem zentralen Detail. Während die Rückenfigur Ziems zur Identifikation der Betrachterin mit der das Bild umhüllenden Aura einlädt, so bleibt sie in der Fotografie Berggrens eine distanzierte Beobachterin. Dadurch, dass wir die Personen ansehen, diese uns jedoch keine Beachtung schenken, ist es schwer, ihre Perspektive einzunehmen. Sie bleiben anonyme Andere. Damit ist auch die Einfühlsamkeit reduziert. Wir wissen nicht, wie sie sehen bzw. denken. Berggrens Ästhetik zielt, anders als Ziems, der gewissermaßen als Advokat der authentischen Lebensform auftritt, auf die registrierende Beobachtung (bei eingehender Analyse könnten auch hier die wertenden Aspekte der scheinbaren Neutralität aufgedeckt werden). Am Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Sultan nur mehr eine Repräsentationsfunktion. Die Bewegung der Jungtürken und die Folgen des ersten Weltkriegs haben fatale Folgen für das Osmanische Reich (Weibel 2004: 16). Am 29. Oktober 1923 wird schließlich die Republik ausgerufen. Damit ist das Sultanat aufgehoben und auch die Besatzungsmächte verlassen den neuen Staat. Von der jungen Türkischen Republik und ihrem ersten Ministerpräsident Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) wird ein radikaler Reformkurs gefahren, in der Vergangenheit und Tradition keinen Platz hatten (Weibel 2004: 17).

D IE W EHMUT

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M ODERNE

Die Reformfotografen, die die Neuordnung der Türkei dokumentierten, waren eher an der neuen Hauptstadt Ankara interessiert. In Istanbul ließen sich die Pläne und Visionen der jungen Republik nicht bildwirksam vermitteln. »[T]he new rulers in Ankara (…) pretended to regard Istanbul with suspicion, as a den of corruption and intrigue with ambivalent allegiance to the nationalist project« (Keyder 1999: 11). Einerseits war die Bevölkerung zu divers, um sich in die Idee einer homogen nationalen Identität integrieren zu lassen, andererseits war die osmanische Tradition spürbar und die Stadt in den Augen der Reformer schon deshalb obskur. Die Stadt verkörperte alle jene »imaginären Hindernisse« (Keyder 2004: 37), die aus der Nation ausgemerzt werden sollten. Nichtsdestotrotz waren einige Fotografen wie etwa der Österreicher Othmar Pferschy, der für die türkische Regierung arbeitete, auch in Istanbul tätig.

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Abbildung 16: Othmar Pferschy, Salacak Istanbul, 1937. In: La Turquie Kémaliste Magazine. https://www.flickr. com/photos/ardac/5849118426/ (25.10.2014).

Zentrale Bildmotive waren technische Errungenschaften wie kulturelle Neuordnungen. Daneben dokumentierte Pferschy auch das Leben der Stadt. Abbildung 16 zeigt einen Badestrand. Der Vordergrund präsentiert alles andere als einen traditionellen Lebensstil. Vielmehr wird die Strandkultur als urbaner Lebensstil hervorgehoben. Männer wie Frauen tragen freizügige Bademode, die Religion ist in den Hintergrund gerückt. Man erkennt zwar die Minarette, die die historische Halbinsel der Stadt zieren, die ästhetische Komposition vermittelt jedoch, dass die Religion aus dem Mittelpunkt des Alltags (v.a. des öffentlichen Lebens) verschwunden ist. Vergleicht man die Bilder Pferschys und die anderer Fotografen, die für die damalige Regierung arbeiteten, so fällt auf, dass die Bilder der Reformfotografen in Bezug auf Istanbul nie jenen ikonischen Status erlangten wie sie ihn für die Türkei im Allgemeinen erreichten – man denke etwa an die Portraits von Atatürk, die in sämtlichen öffentlichen Einrichtungen zu sehen sind und Motive, die die kulturelle Revolution repräsentierten wie zum Beispiel die Einführung des lateinischen Alphabets. Ein Grund dafür kann darin gesehen werden, dass ihnen die Empathie für die Stadt fehlte. Das hier beispielhaft herangezogene Bild Perschys ist die Perspektive eines distanzierten Betrachters. Wie die Bilder zahlreicher Reformfotografen wirkt es objektivierend und reduziert atmosphärische Qualitäten. Konträr dazu stehen jene Bilder, die es geschafft haben, sich in das Bildgedächtnis der Stadt einzuschreiben und die Erinnerungen an Istanbuls Weg in die Moderne noch heute bestimmen.

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Das Bildgedächtnis Istanbuls der 50er und 60er Jahre ist vor allem durch die Fotografien Ara Gülers nachhaltig geprägt. Güler beschäftigte sich zeitlebens aus intrinsischem Interesse mit der Stadt Istanbul. Sein Anspruch war, ihre Veränderung als »visueller Historiker« (Santesso 2011: 73) zu dokumentieren. Dabei ist es weniger der Fortschritt selbst, den er dokumentiert, sondern die Persistenz der Vergangenheit. Es gilt für ihn all jene Momente festzuhalten, in denen die Erinnerungen an die alte Stadt Istanbul noch nachwirken, um sie dem Fluss der Zeit zu entreißen. In diesem Sinne hat er einen klassischen fotografischen Anspruch, nämlich teilzunehmen »an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit« (Sontag 2008: 21). Die Fotografie als »momento mori« im Sinne Susan Sontags bezeugt das unerbittliche Verfließen der Zeit dadurch, dass sie einen Moment herausgreift und erstarren lässt (ebd.). Diese nostalgische Note ist in den Arbeiten Gülers stark präsent. Seine Bilder, die noch heute allerorts abgedruckt werden und die Wände zahlreicher Cafés sowie Wohnungen zieren, konnten deshalb eine derartige Popularität erzielen, weil sie das kollektive Lebensgefühl einer Stadt einfangen. Güler ist vornehmlich in Istanbul ein Star. Auch wenn er zahlreiche internationale Preise für seine Reportagen und Portraits von berühmten Persönlichkeiten gewonnen hat, so sind seine IstanbulBilder vor allem im lokalen Bildgedächtnis eingewoben. Wie stark die Bilder Gülers die Wahrnehmung Istanbuls prägen bringt etwa Orhan Pamuk zum Ausdruck, indem er schreibt: »Ara Güler’s Istanbul is my Istanbul. It is the city where I live; the city I know and think I know; the city I see as a single world and as an indivisible part of myself« (Pamuk 2009: 9). Auch wenn Pamuk in diesem Zitat kritisch anmerkt, dass es das Istanbul ist, das er zu kennen glaubt – die Bilder müssen ja nicht den ›Tatsachen‹ entsprechen –, so ist es auf jeden Fall das Istanbul, das nicht von seiner persönlichen Stadterfahrung zu trennen ist. Bilderfahrung und (alltägliche) Stadterfahrung sind ineinander verwoben, was nicht zuletzt auf die starke Präsenz der Bilder Gülers zurückzuführen ist. »I cannot decide whether I love Güler’s Istanbul as much as I do because his images convey so powerfully the city as I experienced it, or because it was from these photographs that I learned how to look at Istanbul and to recognize its essence« (Pamuk 2009: 12)

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Abbildung 17: Ara Güler, Kumkapi,

Abbildung 18: Ara Güler, Galata

Istanbul 1958 In: (Güler 2010: 60).

Bridge 1957. In: (Güler 2010: Umschlag Rückseite).

Gülers Istanbul-Bilder sind allesamt schwarz-weiß. Lichtkontraste, der gezielte Einsatz von Unschärfe und eine durchdachte Komposition prägen seine Arbeiten. Die Moment-Aufnahmen sind keine klassischen Schnappschüsse, vielmehr erkennt man anhand der Komposition, dass er auf die ›Szene‹ gewartet hat, wobei das ›Setting‹ bzw. die ›Kulisse‹ bereits feststand. Eine seiner Aufnahmen zeigt etwa ein Fischernetz, das zum Trocknen aufgehängt wurde (Abbildung 17). Der Bildbetrachter blickt durch dieses Netz hindurch auf zwei Rückenfiguren, die in die Ferne blicken. Wasser und Himmel formen ein Lichtschauspiel. Auf dem Wasser sind helle und dunkle Flecken zu erkennen und auch in den Wolken des Himmels manifestieren sich etliche Farbkontraste. Handelt es sich bei den Personen um Fischer, die nach getaner Arbeit nochmal aufs Meer hinaus blicken? Wer auch immer die Personen sind, ihr Blick, der jeweils in die Weite gerichtet ist, birgt ein reflexives Moment. Das Bild vermittelt Ruhe und ist dennoch dynamisch. Dies wird zum einen durch die Gelassenheit der sozialen Situation (dem Aufs-Meer-Blicken) deutlich, zum anderen erzeugen die Wolken, der leichte Wellengang des Wassers und vor allem die Falten und die Knoten des Netzes eine Dynamik in der Bildkomposition. Dadurch dass hier Rückenfiguren zu sehen sind, fragt man sich weniger, an wen oder was die zwei Personen am Strand wohl denken, vielmehr lädt das Bild zu eigenen Betrachtungen ein. Es wirkt meditativ. Einerseits verweist es auf ein einfaches Handwerk bzw. mühselige Arbeit, andererseits auf metaphysische bzw. höhere Werte. Ein weiteres Bild Gülers (Abbildung 18) hält die Bewegung und Dynamik der Großstadt fest. Auch dieses Bild ist atmosphärisch aufgeladen. Lichtquellen,

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die die Dunkelheit durchbrechen, sowie die Unschärfe der Nachtaufnahme erzeugen die Stimmung. Man hört regelrecht die Motoren der Autos sowie den Regen, der den Schnee, der am linken Bildrand und auf dem Auto zu sehen ist, in Matsch auflöst. Auch in dieses Bild kann sich der Betrachter hineinversetzen. Es suggeriert etwa einen Moment, in welchem man nach einem langen Arbeitstag durchnässt darauf wartet, dass das Sammeltaxi losfährt und man alsbald nachhause kommt. Die Unschärfe umfasst Vordergrund wie Hintergrund, auch die erleuchteten Bilddetails sind verschwommen. Im Hintergrund ragt sehr dominant eine Moschee in den pechschwarzen, sternenlosen Nachthimmel. Im Vordergrund und der Bildmitte sind die Umrisse der Automobile, die in den 50er Jahren mehr und mehr die Stadt erobern, zu erkennen. Beide Elemente, jene der ›alten‹ und der ›modernen‹ Stadt sind im Bild vorhanden, kein Aspekt hat sich jedoch durchgesetzt (davon zeugt die Unschärfe). Das Istanbul dieser Zeit befindet sich auf der Schwelle des Weder-Noch. Die Vergangenheit (mit Bezug auf weitere Arbeiten Gülers auch der Verlust der imperialen Bedeutung) sowie der noch nicht vollzogene Schritt zu einer modernen Großstadt sind im Bild zu spüren. In der Blütezeit des Republikanismus (1923-1950) war Istanbul völlig isoliert, sowohl auf der internationalen wie auf der nationalen Ebene. Dies ist nicht nur ein Verfall politischer und wirtschaftlicher Macht, sondern auch der Verlust eines kosmopolitischen Lebensstils. Noch in den 1890er Jahren bildeten Nichtmuslime die Bevölkerungsmehrheit (Keyder 2004: 38). Mit der Ausrufung der Republik fand ein Bevölkerungsaustausch statt, der sich in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg nochmal intensivierte. Die Auslegung von ›Nationalität‹ seitens des republikanischen Staates war zwiespältig. Anstatt einer konstitutionellen Definition tendierte man zu einer ethnischen, und wo die nötige Eindeutigkeit fehlte, wurde die Religion trotz des erklärten Säkularismus als entscheidendes Element herangezogen (ebd.). Kulturell war Istanbul in jenen Jahren völlig isoliert. Bedeutende Radiostationen, Verlagshäuser und Printmedien siedelten nach Ankara.

A UTORITÄT

UND

E MANZIPATION

Mitte der 90er-Jahre kam es zu einem entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung Istanbuls. Die politischen Machthaber bekannten sich von nun an zum »Experiment der wirtschaftlichen Liberalisierung« (Keyder 2004: 34). Die nationalen Grenzen öffneten sich für ausländisches Kapital, der staatliche Sektor wurde drastisch reduziert. Eine wichtige Figur in dieser Entwicklung ist Recep

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Tayyip Erdogan. Dieser wurde 1994 Bürgermeister von Istanbul, 2002 Premierminister und gewann schließlich im Sommer 2014 die Präsidentschaftswahlen. Für Erdogan und die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi / Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) hatte Istanbul einen wirtschaftlichen wie symbolischen Stellenwert, den die Stadt für die politische Führung der Türkei vor der Machtergreifung der AKP nicht hatte. Mit der Machtübernahme der AKP wurde die Vergangenheit Istanbuls wiederbelebt. Das kosmopolitische Flair, das die Stadt im Osmanischen Reich verkörperte, konnte zu einem erfolgreichen Image für die Bewerbung Istanbuls als Global City genutzt werden. »What it achieved was a narrative that could be easily appropriated by the global media, the art world, and taste makers who helped to put Istanbul on the map – of investors, discerning tourists, curators of exhibits, real-estate developers, buyers of residences in ›in‹ cities of the world, and sundry consumers of culture« (Keyder 2010: 27). Es vermengen sich positive Bezüge zum globalen Handel, zu Europa, Multikulturalität, zur imperialen Vergangenheit sowie zum Islam (Fuhrmann 2010: 46). Es handelt sich gewissermaßen um einen »städtebaulichen, kulturellen und politischen Aufbruch zurück in die Zukunft, zurück zum Glamour des Fin de siècle und gleichzeitig nach vorne zu zeitgenössischen internationalen Werten und Geschmäckern« (ebd. 50). Istanbul schaffte den Sprung zur Global City und wurde erneut zum nationalen Powerhouse der Wirtschaft sowie zum Hotspot der internationalen Kulturszene. Die Nächtigungszahlen des Tourismus schossen in die Höhe, etliche Luxushotels wurden gebaut, noble Einkaufszentren und Boutiquen mit internationalen Weltmarken fanden Einzug in die Stadt, ein vibrierendes Nachtleben entwickelte sich und das kulinarische Angebot ließ keinerlei Wünsche offen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der AKP fand großen Zuspruch seitens der Bourgeoisie Istanbuls. Politik und Wirtschaftselite bilden seit Mitte der 1990er-Jahre eine eng verwobene Koalition (Keyder 2010: 28). Vor allem die Finanz- und Bauwirtschaft erfuhren einen enormen Aufschwung. Mit diesem wuchs jedoch auch der informelle Sektor, ein Ausdruck davon, dass die Stadt mit ihrer eigenen Entwicklung nicht Schritt halten konnte. Rechtliche Bedingungen, die die Finanzströme kontrollierten, hinken hinterher wie die für das enorme Bevölkerungswachstum nötige Infrastruktur. Korruption, informelle Siedlungen, Verkehrschaos prägen den Alltag der Stadt. Neben infrastrukturellen Problemen konfligieren jedoch auch Wertesphären. Der zur Schau gestellte kosmopolitische Lifestyle trifft ironischer Weise auch auf Restriktionen der politischen Führung sowie Intoleranz im lebensweltlichen Alltag. Istanbul ist in vielerlei Hinsicht eher eine »geteilte«, denn eine »duale Stadt« (Keyder 2004: 44). Die Trennung manifestiert sich vor allem im öffentlichen Raum: Konflikte entstehen überall dort,

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»wo der öffentliche Raum nicht privatisiert werden kann, wo also eine Interaktion unvereinbar ist. Alle großen ideologischen Kämpfe der letzten Jahre wurden um die Beherrschung des öffentlichen Raums und seinen Symbolismus sowie um die öffentliche Moral geführt: Das Tragen von Kopftüchern in der Schule, Standorte von Moscheen, Nacktheit auf Reklameplakaten, Alkoholausschank in Straßencafés und Rockmusik auf öffentlichen Plätzen (…)« (Keyder 2004: 44).

Nicht zuletzt durch die Globalisierung wird dieses Ringen um die Zeichen und Symbole auch auf eine internationale Ebene verschoben. Tourismusindustrie und Kunst sind nur einige jener Foren, in denen der Kampf um die Zeichen und Symbole ausgefochten wird.

Abbildung 19: Filmstill aus einem Werbefilm zur (fehlgeschlagenen) Bewerbung Istanbuls für die Sommerolympiade 2020; www.youtube.com/ watch?v=TyR4n8QOV3Q (26.07.2014)

Abbildung 20: Hamra Abbas, Cityscapes Istanbul 2010. In: (ThunHohenstein/Rees/Vischer 2013: 34).

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Es ist und bleibt die Skyline der Stadt, die die Romantik der Stadt, ihre Macht und Dominanz zum Ausdruck bringt. So wurde sie etwa in einem Imagefilm zur Bewerbung Istanbuls für die Sommerolympiade 2020 als zentrales Sujet eingesetzt (Abbildung 19). Vor allem die Abenddämmerung des Himmels und die Platzierung der untergehenden Sonne über den Spitzen der Minarette erzeugen eine spirituelle Stimmung. Das historische Peninsula und weniger die neuen Glastürme des internationalen Finanzplatzes Istanbul übernimmt die Funktion, die imperiale Stellung der Stadt und damit ihre Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Eine Arbeit der Künstlerin Hamra Abbas greift ebenfalls dieses Motiv auf und zeigt, was passiert, wenn man die Spitzen der Minarette rausretuschiert und die Farben realistisch hält: Es entschwindet die Machtsymbolik und mit ihr auch die Atmosphäre der Stadt. Mit letzterem Bild (Abbildung 20) lassen sich weder die politische Elite noch die Bewohnerinnen der Stadt oder internationale Touristinnen ansprechen.

Abbildung 21: Women in Red. Abgebildet in (Lisiak 2014) bzw.: http://www.theguardian.com/world/2013/jun/05/woman-in-red-turkeyprotests (25.10.2014).

28. Mai 2013, Gezi Park, Istanbul. Es ist 12:30, die Polizei löst eine Versammlung von Demonstranten auf, die gegen den Bau eines Einkaufszentrums auf einer der wenigen erhaltenen Grünflächen im Zentrum der Stadt protestieren. Dies ist der Beginn weitreichender Proteste, die weit über den lokalen Kontext hinaus die gesamte Türkei erfassen. Eine Momentaufnahme geht um die Welt: ›The Woman in Red‹ wurde zu einem politischen Symbol. Das Bild zeigt einen

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Polizisten in schwarzer Uniform und Gasmaske. Er sprüht Tränengas aus nächster Nähe auf eine Frau. Die Uniform nimmt der Person ihre Individualität, sie verkörpert den Staat. Der Polizist ist zudem nicht allein, er hat Rückendeckung, bestehend aus einer Reihe weiterer Einsatzkräfte in voll ausgestatteter Kampfmontur. Die Situation ist für alle, die nicht zur Staatsmacht gehören, gefährlich. Eine Frau am linken Bildrand hält sich die Hand vor den Mund und ringt um Luft, sie hat das giftige Gas bereits abbekommen. Eine weitere Frau mit verzerrtem Gesichtsausdruck wendet sich vom Geschehen ab und flüchtet. Ganz anders als die Staatsmacht, die als Wall aufgestellt ist und Gewalt einsetzt, sowie die Personen, die auf dem Rückzug sind und fliehen, steht eine Frau im roten Kleid isoliert auf der Wiesenfläche vor den Polizisten. Sie verkörpert Individualität, Verletzlichkeit und Stärke. Durch ihr rotes Kleid sticht sie aus dem Bild heraus, sie wirkt wie ein Fremdkörper und fehl am Platz: Sie ist unbewaffnet und ungeschützt in einer gewaltsamen Atmosphäre. Ihrem Outfit nach zu schließen, würde man sie eher auf dem Weg zu einem Picknick vermuten. Sie hebt ihre Arme weder gegen den Angreifer noch schützend vor ihr Gesicht. Ebenso wenig ergreift sie die Flucht. Trotz ihrer offensichtlichen Verletzlichkeit und ihres harmlosen Auftretens ist sie stark. Der Angreifer scheint ihr keine Furcht einzuflößen. Schließlich sind es die Farben, die die Frau zur Identifikationsfigur einer nationalen Emanzipationsbewegung machen konnten. Das rote Kleid und die weiße Stofftasche funktionieren als symbolische Referenten auf die Flagge der Türkei. In Kombination mit dem offen getragenen lockigen schwarzen Haar sowie dem modernen Kleidungsstil ist sie die perfekte Ikone für eine säkularisierte, moderne Türkei, die nun ihre Meinung öffentlich kundtut, für ihre Rechte eintritt und Position bezieht. Das Bild ist nicht an die spezielle Situation gebunden – eine Demonstration gegen ein Einkaufszentrum –, sondern verkörpert das Aufkommen eines neuen Selbstbewusstseins in der Türkei, das sich gegenüber einem autokratischen Führungsstils zur Wehr setzt. Es ist universell und allgemein dechiffrierbar. Es zeigt die Situation plastisch und ist dennoch symbolisch aufgeladen. Auch wenn die wesentlichen Bildelemente – Autorität, Gefahr, Emanzipation – schnell benannt sind, so ist das Foto insofern komplex, als es mit Gegensätzen operiert und dennoch kongruent wirkt. Indem die Frau im roten Kleid Verletzlichkeit und Stärke verkörpert, appelliert sie an all jene, die keine (offizielle, militärische) Macht haben, ihre Stimme zu erheben. Zudem verkörpert sie Individualität (Kleidungsstil, Positionierung im Bild) und steht zugleich allgemein für die moderne, säkularisierte Türkei. Das Identifikationspotenzial des Bildes und seine Universalität führten zur umfangreichen Verwendung und verschiedenen Adaptionen. So setzt etwa die Occupy-Gezi-Bewegung das Image als Banner

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ihres Facebook-Auftritts ein, zahlreiche Street-Artists kreierten Stencils und es zierte die Cover verschiedener Magazine. W.J.T. Mitchell hat auf die Bedeutung des urbanen Raums für die neue Form des Protests, der weitreichend ohne Führerfiguren auskommt, hingewiesen (Mitchell 2012). Die Protestbewegung in der Türkei, die gegen den autokratischen Führungsstil der Regierung aufbegehrte, hatte in Istanbul ihren Ausgangspunkt und die Bilder des Gezi-Parks und Taksim-Platzes sind ihre visuellen Identifikationsquellen. Die Stadt ist im beginnenden 21. Jahrhundert zugleich Prestigeobjekt und Herrschaftssymbol der Regierung, kultureller Hotspot von Touristen und Künstlerinnen sowie Ort einer neu aufkommenden Zivilgesellschaft. Blickt man zurück auf die Bilder, die dieses Stadtportrait begleiteten, so ist erkennbar, dass keine Darstellung die jeweils andere völlig ablöst. Gerade in der Gegenwart (etwa im Bild der Olympiabewerbung, Abbildung 19) wird auf typische Stilistiken der Beutestadt sowie des Sehnsuchtsorts Istanbul zurückgegriffen. Die Herrschaftlichkeit der Stadt, ihre Macht und Schönheit wird mit stilisierten Aufnahmen der historischen Halbinsel zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig wird die Machtdemonstration durch den Vergangenheitsbezug abgeschwächt. Es wird ein Sehnsuchtsort präsentiert, eine Stadt, in die der Kapitalismus und die Rationalisierung noch nicht eingedrungen sind und die nach anderen (metaphysischen) Mechanismen funktioniert (darauf verweist die sakrale Stimmung des Himmels). Damit wird ein typisches Motiv orientalistischer Darstellungen bedient. Die Wehmut der Moderne scheint zunächst überwunden zu sein. Istanbul zeigt in den visuellen Darstellungen mit allem Stolz die neu erlangte Herrschaftlichkeit. Dennoch speist sich diese Symbolik aus der Vergangenheit und es scheint, als habe man noch keinerlei Äquivalent in der Gegenwart gefunden. Damit verbleibt man just auf jener Schwelle, an der die Zukunft noch nicht begonnen hat und die Persistenz der Vergangenheit mit Blick auf das Weltgeschehen langsam brüchig wird. Was hier als geschichtlicher Verlauf nachgezeichnet wurde, soll nun systematisch für die Gegenwart rekonstruiert werden. Wie wird Istanbul in unterschiedlichen Bildern dargestellt? Welche Aspekte des visuellen Symbolkosmos werden aufgegriffen, verdichtet und welche Bedeutungsverschiebungen werden vorgenommen? Im Folgenden wird die Forschungsfrage konkretisiert sowie die Methodik der Analyse und die Datenbasis vorgestellt.

Untersuchungsdesign

Bevor die Forschungsfrage und die methodische Umsetzung vorgestellt werden, sollen diese unterschiedlichen Bildtypen betrachtet werden, die die empirische Grundlage dieser Arbeit bilden: Werbung, Bilder aus einem Forschungsprozess sowie Fotoserien von Künstlern. Welche soziologischen Erkenntnisse können aus der inszenierten Wirklichkeit der Werbung, der reflexiven Auseinandersetzung der Bewohnerinnen mit dem Alltag der Stadt und aus den künstlerischen Erkundungen der städtischen Wirklichkeit gewonnen werden?

R EFLEXION

DER

B ILDGENRES

Werbeinhaltsforschung als Gesellschaftsanalyse Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare. (Oscar Wilde zit. nach Sontag 2003)

Das einführende Zitat bricht mit der abendländischen Denktradition, wonach das ›Seiende‹ und das ›Scheinende‹ als Gegensätzlichkeit konzipiert werden. Das Seiende entspricht dabei dem Wirklichen, das Scheinende dem Unwirklichen. Wer vom ›Äußeren‹ auf das ›Innere‹ schließt, gilt demnach als oberflächlich und fällt einem Trugschluss anheim. Für die soziologische Forschung müsste die einführend zitierte Aussage von Oscar Wilde etwas Entlastendes haben. Denn grundsätzlich hat die empirische Sozialwissenschaft keinen anderen Zugang zur Wirklichkeit als jenen über die Sichtbarkeit sozialer Phänomene. Weder hat sie einen direkten Zugang zum Inneren des Subjekts noch kann sie sich auf rein metaphysische Betrachtungen zurückziehen. Auch die Werbung spielt mit dem

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Image (der Oberfläche) und gilt damit aus der ›kritischen Perspektive‹ als realitätsverzerrend. Dennoch, so die hier vertretene These, ist sie für die kultursoziologische Betrachtung relevant; eine Werbeinhaltsforschung ist als Gesellschaftsanalyse zu verstehen (Jung/Müller-Doohm/Voigt 1992). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Werbung war von großer Zurückhaltung gekennzeichnet (Zurstiege 2007: 27). Diese lässt sich vor allem auf die lange philosophische und geistesgeschichtliche Tradition der Unterscheidung zwischen Abbild und Urbild zurückführen (Zurstiege 2002: 121). Dabei kann auf Platons Höhlengleichnis verwiesen werden, in welchem er den ›trügerischen Schein‹ der Schatten- und Spiegelbilder beschreibt. Der Einwand, der in diesem Zusammenhang der Analyse von Werbeformaten entgegengebracht wurde, war, dass diese die von Platon beschriebene ›Scheinwelt‹ par excellence verkörpern würden und mit der ›Realität‹ nur wenig zu tun hätten. Das Fundament der Kritik besteht jedoch aus der umstrittenen Annahme, man könne Realität präzise und neutral widerspiegeln (ebd.). Zurstiege stellt in den frühen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Werbung, die am beginnenden 20. Jahrhundert zu datieren sind, einen notorischen Rechtfertigungskomplex fest (Zurstiege 2007: 27). Dieser wird von Bücher – dem Gründer des Instituts für Zeitungskunde an der Universität Leipzig im Jahr 1916 – wie folgt auf den Punkt gebracht: »Es ist eine nicht wenig auffallende Tatsache, daß die Wissenschaft gerade mit denjenigen Erscheinungen, welche uns täglich begegnen und unser Nachdenken geradezu herausfordern, am spätesten sich beschäftigt und am schwersten fertig wird. Dieses Schicksal teilt mit vielen andern auch die Reklame in ihren mannigfaltigen Formen (…) Mit solchen Dingen befaßt sich eine Wissenschaft höheren Stils nicht« (Bücher 1917: 461 zit. nach Zurstiege 2007: 27).

Die Psychologie und die Wirtschaftswissenschaften waren die ersten wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Werbung beschäftigten. Die psychologische Auseinandersetzung war von Laborexperimenten gekennzeichnet, in welchen man die Reizwirkung der Werbung untersuchte. Auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen lag das Augenmerk auf der Rezeptionsforschung. Beide wissenschaftlichen Disziplinen gingen dabei ein enges Verhältnis ein; ohne grundlegende Kenntnisse in Psychologie, so der Konsens, sei eine Werbeforschung kaum zu handhaben (Zurstiege 2007: 30). Die sich später etablierende Kommunikationswissenschaft legte ihren Fokus wiederum auf die Produktionsbedingungen, d.h. auf die Organisation und Ökonomie der Werbewirtschaft. Man erkennt an diesem kurzen Abriss, dass

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dem Inhalt der Werbung keine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit galt. Erforscht wurde vielmehr die Wirkung, wie Werbebotschaften individuelle Bedürfnisse schaffen. Von der kultursoziologischen Seite werden Anfang der 1990er Jahre Einwände gegenüber der Dominanz an Rezeptions- und Produktionsanalyse innerhalb der Werbeforschung formuliert und für eine verstärkte Werbeinhaltsforschung plädiert (Jung/Müller-Doohm/Voigt 1992: 245). Die Kritik richtet sich einerseits an die stark quantitative Ausrichtung der Produktanalysen und die ›Verpsychoanalysierung‹ andererseits. Es fehlt nach Ansicht der Autoren eine Rekonstruktion der Eigenstrukturiertheit der Produkte, die erklären würde, »in welcher Weise, d.h. in welcher sprachästhetischen wie bildästhetischen Form kulturelle Deutungs- und Handlungsmuster durch die Werbekommunikation präsentiert werden« (ebd.: 246). Sich dem Inhalt der Werbung zu widmen, stößt auf einen zweiten Einwand, der von einer Disziplin formuliert wird, die sich dezidiert mit »ästhetischen Formen« beschäftigt. Die Rede ist von der Kunsthistorie. Werbebilder, so die Kritik, legen gewissermaßen alles offen, wodurch sie wenig Rätsel enthalten (Boehm 1978: 436 nach Müller-Doohm 1997: 89). Die Werbebotschaft wird so transportiert, dass sie auf den ersten Blick verstanden wird. Da man also vor keinerlei Deutungsproblemen stünde, wäre die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den sogenannten »schwachen Bildern« (Boehm 2010: 245) obsolet. Müller-Doohm vertritt eine konträre Position und stellt fest, dass Werbebilder komplexer sind, als sie prima vista erscheinen: »Weil in der Werbung der Schein täuscht, ja täuschen soll, stellt sich der Soziologie die Aufgabe, solche Täuschungsmechanismen etwa hinsichtlich ihrer verhaltenssteuernden, wertsetzenden, weltbildhaften Implikationen aufzudecken. Darüber hinaus muß die kultursoziologische Analyse den Nachweis führen, in welcher Weise sich die Inszenierungen der Werbung des kollektiven Symbolhaushalts einer objektiven Kultur bedienen und dabei Umdeutungen vornehmen, die kulturell folgenreich sein können« (Müller-Doohm 1997: 89).

In diesem Zitat finden sich für das hier verfolgte Forschungsinteresse zwei zentrale Aspekte. Zum einen geht Müller-Doohm davon aus, dass sich die Werbung aus dem Symbolhaushalt der Kultur bedient. D.h. sie greift gesellschaftliche Normen, Stereotypen und bestimmte Stilisierungen auf. Diese stellt sie nicht einfach dar, sondern nimmt Umdeutungen vor, die wiederum vom gesellschaftlichen Diskurs aufgegriffen werden. Mit den Worten Willems und Kautt liefert die Werbung mit Bildern von der Welt gleichzeitig »Weltbilder« (Willems/Kautt

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2003: 19). Vor allem wegen des hohen Verbreitungsgrades der Werbung und weil sie die Gesellschaft nicht nur beobachten, sondern zugleich gestalten (Berger 1974), ist sie von soziologischer Relevanz. Als erste Autoren, die sich aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive der Werbung näherten, können Roland Barthes und Erving Goffman angeführt werden. Barthes Analyse der Pazani-Werbung kann als methodischer Zugang einer Werbeinhaltsforschung (Bild- wie Textinterpretation) dienen (Barthes 1990). Einem breiten empirischen Vergleich stellt Goffman in seinem Werk »Geschlecht und Werbung« (1981) an. In der Schlussfolgerung seiner Analyse konstatiert Goffman, dass er, indem er die mediale Inszenierung von Geschlechterrollen in Werbeinseraten untersuchte, die ›natürliche‹ Ausdrucksformen der Geschlechter betrachtet habe. Diese ›Natürlichkeit‹ bezieht sich selbstverständlich nicht auf die biologische Natur, sondern er erhebt den Anspruch, dass die Werbeformate die gesellschaftlichen Idealvorstellungen der Geschlechter und ihrer Beziehung zueinander portraitieren (Goffman 1981: 327). Goffman ist sich bewusst, dass es sich um sorgfältig ausgewählte Posen handelt, die im Stil des »ganz Natürlichen« (ebd.) präsentiert werden. Er weigert sich jedoch, diese Posen als etwas der alltäglichen Ausdrucksweise Entgegengesetztes zu betrachten. Für Goffman, der für seine Bühnenmetapher bekannt ist, ist jede Alltagssituation von einer (Selbst-)Inszenierung geprägt. Die Inszenierung, so könnte man Goffman interpretieren, gehört zur ›Natur‹ der Gesellschaft. Es ist also nicht der Gegensatz von Realität und Inszenierung, der die Werbung vom Alltagshandeln unterscheidet. Vielmehr erkannte Goffman in seiner Analyse der Werbebilder eine Ritualisierung von sozialen Idealen, die er wegen der genretypischen Standardisierung, Übertreibung, Vereinfachung und Ausklammerung als »Hyper-Ritualisierung« beschreibt (ebd.). Werbung legt damit nicht einen ›Schleier‹ über die Realität, vielmehr bringt sie gesellschaftliche Werte kondensiert zum Ausdruck. Ähnliches gilt für das Stadtmarketing, ein Subfeld der Werbung, welches sich Anfang der 1980er Jahre ausdifferenzierte. Es war eine Reaktion auf den postindustriellen Strukturwandel, der sich in den Städten bemerkbar machte. Seit diesem Zeitpunkt stehen vor allem die größeren Metropolen in einem globalen Wettbewerb um Touristinnen, knowledge worker und Investoren. Das Stadtmarketing wird hier als eine professionelle und standardisierte Praxis des Verdichtens und Verschiebens dessen verstanden, wie eine Stadt gesehen werden möchte (Berking/Frank 2009). Dabei wird auf den interaktionstheoretisch gefassten Imagebegriff Goffmans zurückgegriffen. Dieser beschreibt Image als »ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild, – ein Bild, das die anderen übernehmen können« (Goffman 1986: 10). An derselben Stelle

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erwähnt Goffman, dass Images variabel sind, d.h. je nach sozialem Kontakt wird eine bestimmte Strategie gewählt. Man gibt sich etwa vor seinem Arbeitgeber etwas seriöser als vor seinen Freunden abends in der Kneipe. Auch das Stadtmarketing segmentiert zunächst die Zielgruppen, um dann zu entscheiden, ob Investoren, Konferenzreisende, qualifiziertere Arbeitskräfte, Touristen usw. mit demselben Image beworben werden sollen oder unterschiedliche Bilder und Slogans zu entwerfen sind. Dennoch gilt in der face-to-face Interaktion wie in der Kommunikation des Stadtmarketings, man muss bis zu einem gewissen Grad ›verkörpern‹, was man vorgibt zu sein. Goffman spricht etwa von einem »falschen Image«, wenn Informationen über eine Person »ans Licht gebracht werden, die selbst mit größter Mühe nicht in die von ihm verfolgte Strategie integriert werden können« (ebd.: 13). Für die Images des Stadtmarketing gilt Ähnliches: »Keiner Imageproduktion ist es gegeben, das Bild einer Stadt jenseits und unabhängig der spezifischen kumulativen Textur dieser Stadt erfolgreich zu stabilisieren« (Berking/Schwenk 2011: 23). Ein vom Marketing verbreitetes Stadtimage ist damit eine komplexitätsreduzierende Kommunikationsofferte, die die Vorstellung über die Stadt beeinflusst. Sie greift bestimmte, bereits fluktuierende Vorstellungen über die Stadt auf (Verdichtung) und nimmt Neuinterpretationen vor (dabei kommt es zu Bedeutungsverschiebungen und der Steigerung der Diversität durch neue Bilder). Anders als bei einer Werbung für ein Produkt sind die Akteure des Stadtmarketings bei ihrer Redundanz- und Variationsleistung weniger flexibel. Da die Stadt kein Produkt ist, das einen bestimmten Eigentümer hat, muss das kommunizierte Image der Pluralität verschiedener Interessensgruppen (Bevölkerung, Wirtschaftselite, Politik etc.) gerecht werden. Das Stadtmarketing ist damit eine Schnittstelle, an der unterschiedliche Sichtweisen ausgehandelt werden; das nach außen kommunizierte Image braucht die innerstädtische Identifikation. Die Konsensfindung darüber, wie die Stadt dargestellt werden soll, ist oft ein langwieriger Prozess. Häufig ist eine corporate identity nicht möglich bzw. auch nicht erwünscht, weshalb in manchen Städten verschiedene Akteure im Feld des Stadtmarketings unterschiedliche Images verbreiten (Richter 2014). Dass das Stadtmarketing nicht unabhängig vom innerstädtischen Diskurs agiert, wird daran deutlich, dass Imagekampagnen vielfach und eingehend in den lokalen Medien diskutiert und kritisiert werden. Anders als bei der Produktwerbung, kann sich die Stadt – d.h. die Bevölkerung – auch gegen das ihr diktierte Image zur Wehr setzen. Zudem ist anhand der Medienberichte, in welchen die Kampagnengestalter ihre Ideen erläutern, zu erkennen, dass diese zumindest versuchen, Eigenarten der Stadt zu visualisieren, wie im empirischen Teil der Arbeit gezeigt werden wird.

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Die Fotobefragung Um die Sichtweisen der Bewohner zu erfassen, wurde eine partizipative Erhebungsmethode gewählt: die Fotobefragung (Kolb 2008). Methodisch hat die Fotobefragung ihren Ursprung in der anthropologischen Forschung. Dort wurden Fotografien zunächst von den Forscherinnen selbst angefertigt und dienten vor allem der Dokumentation des Forschungsprozesses, zum Beispiel zur Illustrierung von Feldnotizen. Zur Datengenerierung wurden Fotografien schließlich von John Collier eingesetzt (Collier [1967] 1986), der eigens erstellte Fotografien als Stimuli für seine Interviews verwendete. Von diesen »researcher-generated« Images lassen sich »respondent-generated« Images abgrenzen (Pauwels 2010: 551f). Das sind Bilder, die von den Untersuchten selbst im Kontext der Forschung angefertigt wurden. Dieser Ansatz, dem auch die Fotobefragung zuzuordnen ist, ist in der Soziologie relativ jung. Popularität erhielt der Begriff ›Photovoice‹, wie er von Wang und Burris (1997) geprägt wurde und der Anstoß für zahlreiche Forschungsprojekte war, die vor allem im Bereich der internationalen Entwicklung sowie der Gesundheitsförderung angesiedelt sind (Bader et al. 2007; Catalani/Minkler 2010; Marent/Marent 2013). Der partizipative Forschungsansatz hebt den Stellenwert von Fotografien an, indem sie weder ergänzend noch illustrierend oder stimulierend eingesetzt werden, sondern Fotos die zentrale Quelle der Erkenntnis sind. Bei der Fotobefragung nach Bettina Kolb werden die Beforschten in den Forschungsprozess involviert und nehmen eine aktive Rolle ein. Zwar wird eine Forschungsfrage an sie herangetragen, jedoch entscheiden sie selbst, wie sie mit dieser umgehen und was sie fotografieren. Dabei handelt es sich um einen zweifachen Reflexionsprozess. Die erste Ebene der Reflexion findet in der Phase des Fotografierens statt, die zweite beim Interview, bei dem die Fotos erneut herangezogen werden. Die Teilnehmerinnen entscheiden selbst, welche Fotos für sie wichtig sind und selektieren das fotografische Material. Anschließend kommentieren sie ihre Bilder. Die Fotobefragung schließt an der verstehenden Soziologie an. Dementsprechend dürfen die Forscherinnen nicht voreingenommen sein und müssen an das Datenmaterial, das letztlich aus Bildern und Texten besteht, offen herantreten. Von zentralem Interesse sind die Relevanzstrukturen der Befragten, die diese zunächst selbst hinterfragen (Kolb 2008, Wuggenig 1990: 112). In der vorliegenden Arbeit soll die Wahrnehmung der Stadt Istanbul aus der Perspektive einiger ihrer Bewohner rekonstruiert werden. Die jeweiligen Fotos, die von den Teilnehmern der Fotobefragung gemacht wurden, werden als individuelle Wirklichkeitskonstruktion verstanden, die jedoch in ihrer Abhängigkeit zu gesellschaftlichen Deutungsmustern erfasst werden. Die subjektiven Eindrücke

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und Überzeugungen darüber, ›was‹ und ›wie‹ die Stadt ist, sind – so die Annahme – konstitutive Faktoren städtischer Wirklichkeit, die in ihrer Bedeutung den Objektivationen der Deutungseliten wie etwa dem Stadtmarketing keineswegs nachrangig sind. Es ist gerade die Alltagswirklichkeit der Stadt, die für die Erforschung städtischer Eigenlogiken von zentraler Bedeutung ist. Zum einen deshalb, weil die Alltagswelt keine – wie Berger und Luckmann es ausdrücken – Enklave ist, keine umgrenzte Sinnprovinz und damit alle Bewohnerinnen Zugang zu ihr haben. Dies steht etwa im Kontrast zu den Werbebildern, die eine bestimmte klar segmentierte Zielgruppe haben, und zu den künstlerischen Bildproduktionen, die ebenfalls nur eine limitierte Rezipientenschicht ansprechen. Zum anderen hat der Nahraum eine zentrale Rolle in der Konstruktion der Alltagswirklichkeit, womit auch ›städtische Sinnstrukturen‹ eingewoben sein müssen: »Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist um das ›Hier‹ meines Körpers und ›das Jetzt‹ meiner Gegenwart herum angeordnet. Dieses ›Hier‹ und ›Jetzt‹ ist der Punkt, von dem aus ich die Welt wahrnehme« (Berger/Luckmann [1966] 2012: 25). Die Alltagswelt formt sich demnach lokal- und ortsspezifisch aus. Ebenso handelt es sich um eine mit anderen Stadtbewohnerinnen intersubjektiv geteilte Wirklichkeit: »Mein ›Hier‹ ist ihr ›Dort‹. Mein ›Jetzt‹ deckt sich nicht ganz mit dem ihren. Dennoch – ich weiß, daß ich in einer gemeinsamen Welt mit ihnen lebe. Das Wichtigste, was ich weiß, ist, daß es eine fortwährende Korrespondenz meiner und ihrer Auffassung von und in dieser Welt gibt, dass wir eine gemeinsame Auffassung von ihrer Wirklichkeit haben« (ebd.: 26).

Wenn in dieser Arbeit subjektive Empfindungen und Einschätzungen des Alltags von Istanbul vorgestellt werden, so sind es vor allem die ›Objektivationen‹, die in diesen zum Ausdruck kommen und die von Interesse sind. Die Forschungsfragen, die an die Teilnehmer der Fotobefragung herangetragen wurden, können mit dem Vokabular von Berger und Luckmann wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Wie drängt sich der Alltag der Stadt als ›zwingende Faktizität‹ auf, d.h. als unhinterfragte Wirklichkeit, die als unabhängig vom eigenen Tun erlebt wird? Welche Selbstverständlichkeiten und Routinegewissheiten führen zu diesem Erleben? Inwiefern überschneiden sich die Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen unterschiedlicher Bewohnerinnen? Und: Lassen sich Muster erkennen, die auf intersubjektiv geteilte Vorstellungen darüber verweisen, was den Alltag Istanbuls ausmacht und wie man sich in ihm zurecht findet?

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Aus den Fragestellungen erschließt sich die Differenz zu Forschungskonzeptionen, die die Stadt kartieren, sie sozial-demografisch erfassen oder historische Epochen beschreiben: Es geht um das ›Hier-und-Jetzt‹ alltäglicher Sinngebungsprozesse, die es erlauben, Istanbul zu denken und sich die Stadt als (Sinn)Einheit vorzustellen. Stadt wird damit nicht als pure Agglomeration von Objekten und Materialitäten sowie Eindrücken, Bildern und Narrativen verstanden, sondern als eine kollektive Erfahrung, die heterogene Elemente in Beziehung setzt, wodurch die Stadt als Einheit emergiert. Trotz oder gerade weil der städtische Alltag von Diversität, Fragmentierung, visueller Inkohärenz usw. geprägt ist, sind Sinngebungsprozesse notwendig, um »Ordnung« zu schaffen. Der Begriff »Ordnung« zielt dabei nicht unbedingt auf Vereinheitlichung oder Komplexitätsreduktion, sondern umfasst ebenfalls die Vergewisserung bzw. die Erklärung von Chaos. Prinzipiell können Bilder und Interviewpassagen, die im Rahmen einer Fotobefragung entstanden sind, unterschiedlich ausgewertet werden. Hier wird die ›Grounded Theory‹ (Glaser/Strauss 1967; Przyborski/WohlrabSahr 2010) mit dem bildanalytischen Verfahren von Roswitha Breckner (2010) kombiniert. Wie die Analyse im Detail umgesetzt wurde, wird im empirischen Teil der Arbeit vorgestellt werden. Analyse von Kunstwerken Was Kunstwerke als empirisches Datum für soziologische Untersuchungen interessant macht, ist zugleich ein epistemologisches Hindernis: die Fiktionalität (Luhmann 2008). Fiktionalität konnotiert in der allgemeinen Überbezeugung einen fehlenden Wirklichkeitsanspruch und eine mangelnde Realitätsnähe (ebd.). Romane können pädagogisch lehrreich sein, Bilder können ästhetisches Entzücken hervorrufen und der Klang eines Musikstückes kann verzaubern, doch die Soziologie kann sich davon nicht leiten lassen. Für sie stellt sich vielmehr die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunstwerk und sozialer Wirklichkeit. Die ›andere Welt‹, die die Fiktion schafft, kann für die Wissenschaft in der Hinsicht von Belange sein, da sie einen alternativen Standpunkt kreiert, von dem aus die Realität neu betrachtet werden kann. In diesem Sinne schreibt Luhmann: »Überall in der Kunst sucht man nach einer virtuellen Realität, die eine Position anbietet, von der aus man die gewohnte Realität beobachten kann. Gesucht wird also eine in die Welt eingelassene Differenz, die es der Welt ermöglicht, sich selbst zu beobachten« (ebd.: 284). Der »Ausgangswelt«, um bei der Terminologie Luhmanns zu bleiben, wird die »Modalform des Möglichen« (ebd.: 277) hinzugefügt. Kunstwerke unterbrechen für die Zeit ihrer Betrachtung die alltägliche Form der Beobachtung und stehen gleichzeitig mit der Realität in Bezug. Nur in

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der Gesellschaft lassen sich mögliche alternative Sichtweisen ausloten, durch die die Routinen des Alltags neu erscheinen. Kunstwerke bergen ein reflexives Potenzial, das den Relevanzsetzungen des Alltags neuen Ausdruck verschafft. In der Moderne drang das Moment der Reflexion zunehmend in die Werke der Kunst ein. Zuvor ging es in erster Linie um Repräsentation. Die Künstlerinnen waren ökonomisch von Mäzenen abhängig, deren Weltsicht sich in den Werken durchsetzte. Mit der Moderne differenzierte sich ein eigenes Kunstsystem aus. Die Künstlerinnen hatten nicht mehr den einen Auftraggeber und Käufer, deren Vorlieben sie im Bild umsetzen mussten. Vielmehr standen sie nun einem Markt gegenüber. Dabei galt es, einen eigenen Stil zu entwickeln, womit die Künstlerin selbst, ihre Persönlichkeit und ihre Weltsicht verstärkt im Werk präsent wurden: »With the emancipation of the aesthetic elements of line, shape and colour from the business of describing objects, the centre of aesthetic of organisation moved to the intra-actional and intra-personal level of experience. There was a further heightening of subjectivity« (Witkin 2005: 70). Die Wahrnehmung und Interpretation der Künstlerin, die in den Werken der modernen Kunst vermehrt Ausdruck findet, ist für die soziologische Analyse insofern von Belang, als das Kunstwerk ein Dialog zwischen Gesellschaft und Künstlersubjekt zum Ausdruck bringt (Loer 1994: 376). Die Analyse des ästhetischen Ausdrucks gehört nicht zu einem weitverbreiteten Strang der Kunstsoziologie. In Abgrenzung zur klassischen philosophischen Ästhetik sowie zur traditionellen Kunstgeschichte, die das einzelne Werk und dessen Stilgeschichte in den Mittelpunkt stellt, ging es der Kunstsoziologie vor allem um die Einordnung der Kunstwerke in einen historisch-spezifischen Zusammenhang (Prinz/Schäfer 2013: 382). Dabei dominieren noch heute Ansätze der Rezeptionsforschung (im deutschsprachigen Raum etwa in Anlehnung an Alphons Silbermann), die quantitativ orientiert sind und Aussagen zur Ästhetik prinzipiell ablehnen, sowie der Production-of-Culture-Ansatz, wie er etwa von Howard Becker vertreten wird, der die Produktionsbedingungen von Kunstwerken in den Mittelpunkt der Analyse rückt (ebd.: 382f). Die ebenfalls weitverbreitete kunstsoziologische Richtung Bourdieuscher Prägung rückt zwar formalästhetische Beschaffenheiten ins Zentrum der Analyse, dabei geht es jedoch weniger darum zu beschreiben was und wie der Künstler wahrnimmt, als vielmehr die Auswirkungen, die die Ästhetik und der Stil auf die Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit haben, zu entlarven (ebd.). Nach Prinz und Schäfer ist an der derzeitigen Ausrichtung der Kunstsoziologie zu erkennen, dass das theoretische Ungleichgewicht der klassischen Ästhetik und Kunstgeschichte, welche die Autonomie der Kunst überschätzten, von der Kunstsoziologie umgekehrt wurde. So liegt nun der Fokus auf der außerästhetischen sozialen Struktur,

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die das Werk und seinen Ausdruck schlichtweg determiniert (ebd.: 384). Etwa wird im Production-of-Culture-Ansatz der ästhetische Ausdruck gänzlich über die Produktionsbedingungen und die Wertsetzungen des Kunstsystems erklärt. Prinz und Schäfer kritisieren dabei, dass damit der möglichen Instabilität gesellschaftlicher Strukturen nicht Rechnung getragen wird. Grenzziehungen wie Kunst-/Nicht-Kunst werden zu starr konzipiert, wie auch die Beschreibung von Ursache/Wirkung – konkret Struktur/Ästhetik – einlinig betrieben werden. Ähnliche Kritik wird auch von objektivhermeneutischen Ansätzen hervorgebracht (siehe etwa Oevermann 1987; Heinze-Prause 1990; Loer 1994; Oevermann 2005). Die Überlegungen gehen dahin, dass sich in Kunstwerken die vermeintlich radikal subjektive Perspektive der Künstlerin materialisiert und damit als Allgemeines erfahrbar ist: »Das vermeintlich Privateste des Künstlers wird so zum Stellvertreter des Allgemeinen, uns alle Betreffenden; Privates und ikonographisch öffentlich Kodifiziertes; Skizze, ausgearbeiteter Entwurf und fertiges repräsentatives Bild; lebensgeschichtlich Besonderes und gesellschaftlich Allgemeines rücken – im Verhältnis zueinander diskontinuierlich – in ein Kontinuum, die Unterschiede relativieren sich mit Bezug auf das Problem der Gültigkeit der Ausdrucksgestalt« (Oevermann 1987: 19).

Das Kunstwerk ist damit ein Träger objektiver Sinnstruktur, die nicht durch die Intentionen der Künstlers erklärt werden können (Heinze-Prause 1990: 117). Um die objektiven Sinnstrukturen zu entschlüsseln, muss das Werk als Träger dieser in den Fokus rücken. Dazu ist eine Reästhetisierung der Kunstsoziologie notwendig, die der affektiven Wirkung von Kunstwerken in ihrer »Abhängigkeit von gesellschaftlich etablierten Weisen der Wahrnehmung« (Prinz/Schäfer 2013: 397) auf den Grund geht. Der individuelle Ausdruck, den die Künstlerin im Kunstwerk hinterlässt, steht in Relation zur gesellschaftlichen Wahrnehmung. Er bietet eine Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit, die in Form des Kunstwerks ästhetisch verdichtet zum Ausdruck kommt. Eine ähnliche Position vertritt Robert W. Witkin (2005). Nicht allein durch die Produktionsbedingungen und die Stilgeschichte, in die das Werk eingebettet ist, sollen Aussagen über die ästhetische Form gemacht werden. Zudem gilt es, den ästhetischen Ausdruck als mögliche Strukturierung der alltäglichen Wahrnehmung ins Blickfeld zu rücken. Das Werk wird dementsprechend in Relation zur sozialen Wirklichkeit gesetzt, ohne anzunehmen, dass es die Produktionsbedingungen völlig determiniert: »The implication of such a strategy is, therefore, that the ultimate purpose does not lie in the work itself nor in its contemplation; it lies, rather, in the mode of being in relation of

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the world that the work provokes; the vision and possibility of the aesthetic as an ordering of everyday experience« (Witkin 2005: 71; Hvh. JM).

Im Kunstwerk steckt ein reflexives Potenzial und es verschafft der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ästhetisch verdichteter Form neuen Ausdruck, was wiederum soziologisch genutzt werden kann. In diesem Sinne sollen auch jene Arbeiten analysiert werden, die dieser Arbeit zur Verfügung stehen. Es gilt der Sichtweise des jeweiligen Künstlers auf die Spur zu kommen. Ein Kontrast zwischen den Kunstserien und den Bildern, die die Bewohner anfertigten, ist, dass sich in ersteren eine formalästhetische Sprache durchzieht. Diese ist Teil des Ausdrucks genauso wie die Thematik der Bildserien. In der Fotobefragung hingegen konnten zwar bestimmte Themen eindeutig identifiziert werden, stilistische Kriterien wechselten jedoch von Bild zu Bild. Kennzeichnend für die Kunstserien ist eine ästhetische Dichte, die sich durch die gesamte Arbeit zieht und mittels derer sich die künstlerische Wahrnehmung Ausdruck verschafft. Form und Inhalt gehen ein enges Verhältnis ein.

F ORSCHUNGSFRAGE

UND

D ATENBASIS

Wie wird Istanbul in verschiedenen Bildgenres dargestellt? Welche Machtansprüche, Sehnsüchte und Alltagserfahrungen amalgieren im visuellen Symbolkosmos der Stadt? Kann eine spezifische urbane Doxa, ein Orientierungswissen darüber, wie man sich in Istanbul zurechtfindet, anhand visueller Darstellungen der Stadt rekonstruiert werden? Ziel der Arbeit ist es, aus der Analyse verschiedener Stadtbilder Vorstellungswelten zu erfassen und ihren Bezug zum städtischen Alltag – dem gelebten Alltag der Bewohner sowie der politischen und medialen Diskurse – nachzuzeichnen. Die Ausgangsthese ist, dass Stadtbilder urbane Vorstellungswelten konstituieren und dabei historische Narrative sowie Aspekte der Alltagswirklichkeit aufgreifen. Mit Bezug auf Überlegungen von Anselm Strauss wurde die Bedeutung von Stadtbildern für die Orientierung im urbanen Raum hervorgehoben. Stadtbilder erzeugen Vorstellungen von der Stadt als Ganzes. Dieser können damit Qualitäten und Eigenschaften zugeschrieben werden, wodurch sie an Diffusität verliert. Auch wenn dieses Ganze konfliktgeladen und diskrepant ist, so wird es in seiner Widersprüchlichkeit ›gekannt‹; man hat Erklärungsmodelle und ein Set an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um sich in verschiedenen Alltagssituationen zurechtzufinden.

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Die Bilder, die in dieser Arbeit untersucht werden, können, wie durch die Reflexion der Genres gezeigt wurde, idealtypisch in eine inszenierte Wirklichkeit (Werbebilder), eine gelebte Wirklichkeit (Fotobefragung) und eine ästhetisch verdichtete Wirklichkeit (Kunstserien) unterteilt werden. Die Werbebilder adressieren eine stark limitierte Zielgruppe. Sie vermitteln eine mehr oder weniger kohärente Wirklichkeit, die zur Identifikation (zur Übernahme der Perspektive) einlädt. Die Ästhetik der Werbebilder arbeitet mit Superlativen (Übertreibung) und Reduktion (Ausblendung bzw. Integration von Widersprüchen). Anders als bei den Werbebildern ist das zentrale Kennzeichen der Alltagswirklichkeit, die mittels einer Fotobefragung erhoben wurde, die Offenheit. Sie ist keine umgrenzte Sinnprovinz. Einzige Voraussetzung ist die Vertrautheit mit dem lokalen Kontext. Es handelt sich um eine Innenperspektive. Die Bildserien der Bewohnerinnen sind insofern weniger ästhetisiert, als sich formalästhetische Kriterien nicht dergestalt durch die Gesamtserien durchziehen, wie dies in den Werbebildern und den Kunstserien der Fall ist. Die Bilder der Bewohnerinnen sind nicht nur affirmativ (im starken Kontrast zu den Werbebildern), sondern auch kritisch. In den Kunstwerken, der dritten Ebene der Analyse, liegt der Fokus vor allem auf der Ästhetik. Im starken Kontrast zu den Werbebildern geht es in ihnen nicht um Bestätigung und Identifikation, sondern um Irritation. Die Gewissheiten des Alltags werden erschüttert, indem das Unsichtbare sichtbar und das Selbstverständliche hinterfragt wird. Durch die Auswahl dieser drei verschiedenen Bildgenres soll der größtmögliche Kontrast erzeugt werden. Die Bilder richten sich an unterschiedliche Zielgruppen, wie sich auch die Produktionsbedingungen und Rezeptionskontexte unterscheiden. Die Analyse wird die Charakteristik der Bilder zunächst beschreiben und anschließend vergleichend über die Bildgenres hinweg nach Ähnlichkeiten fahnden. Dabei wird danach gefragt, inwiefern die verschiedenen Bilder auf gemeinsame Vorstellungen darüber rekurrieren, was und wie Istanbul ist und was ›diese‹ Stadt ausmacht. Erstere Perspektive rückt einen massenmedialen Großevent, das europäische Kulturhauptstadtjahr 2010, in den Fokus. Dabei wird die offizielle Vermarktungskampagne, die den Event begleitete, analysiert. Diese gliedert sich in eine international und eine national ausgerichtete Vermarktungsstrategie. Neben den Kampagnenmotiven greift die Analyse auf zwei Interviews zurück, die im Sommer 2010 mit PR-Expertinnen der Istanbul European Capital of Culture Agency (ECoC) geführt wurden, jener Organisation, die für die Umsetzung des Events zuständig war. Ihre Aufgaben umfassten die Vergabe von Fördermitteln, die Bewerbung und Dokumentation des Festivalprogramms, die Information von Medien und Öffentlichkeit usw. Von der Organisation wurden mir einige Do-

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kumente zur Verfügung gestellt, etwa die Ausschreibung, die an verschiedene Werbeagenturen ging sowie Ziele und Konzeptpapiere zu den beiden Kampagnen. Im Vorfeld war es alles andere als leicht, in Kontakt mit der Organisation zu treten und Ansprechpartnerinnen zu finden. Die Organisation hatte in der europäischen Medienlandschaft schlechte Presse und stand mir als europäischen Wissenschaftler kritisch gegenüber. Die wesentliche Kritik an der offiziellen Imageproduktion war, dass die Initiative zur Bewerbung für den Event aus der Zivilgesellschaft (v.a. Vertreter von Kunst- und Kultureinrichtungen) kam, nach der Nominierung Istanbuls jedoch die Politik die Fäden in die Hand nahm. Die ECoC-Agency war direkt dem Ministerium unterstellt und weisungsgebunden. Damit wären, so die Einwände, nur jene Projekte gefördert worden, die dem Goodwill der politischen Führung folgten. Die lebensweltliche Perspektive wurde mittels der Methode der Fotobefragung (Kolb 2008) erhoben. Dabei handelt es sich um eine partizipative Forschungsmethode, bei der die Beforschten insofern in die Datenerhebung eingebunden werden, als sie selbst Fotos zu einem bestimmten Thema anfertigen. Im Anschluss an die Photoshooting-Phase werden sie zu ihren Bildern befragt. Besonders geeignet ist dieses Vorgehen für diese Arbeit, da die Bewohner selbst die Selbstverständlichkeit des Alltags fotografisch festhalten und kritisch reflektieren. Insgesamt wurden 17 Bewohner mit unterschiedlichem sozioökonomischen Status aus verschiedenen Bezirken eingebunden und beauftragt, ihren Alltag fotografisch zu dokumentieren. Es galt möglichst verschiedene Lebenswelten der Stadt zu erfassen, wobei das Sample von 17 Personen in Hinblick auf die Millionenstadt Istanbul keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit bzw. gar Repräsentativität erhebt. Wenn Erkenntnisse verallgemeinert werden, so beziehen sich diese immer auf das Sample und sprechen nicht für den lebensweltlichen Alltag aller Bewohnerinnen. Für die Rekrutierung nutzte ich zunächst Kontakte, die ich im Vorfeld hatte, und ließ mir von diesen weitere Teilnehmer vermitteln. Die Teilnehmer erhielten jeweils eine Einwegkamera, konnten aber auch ihren eigenen Fotoapparat verwenden, sofern sie einen besaßen. Der Arbeitsauftrag lautete das ›Spezifische im Alltäglichen‹ festzuhalten und nicht in erster Linie das, was für Außenstehende interessant sein mag (etwa touristische Sehenswürdigkeiten). Es galt all jene Momente und Aspekte zu dokumentieren, die aus Sicht der Bewohnerinnen das Leben in der Stadt prägen und was sich ihrer Meinung nach vom Alltag anderer Städte unterscheidet. Nachdem die Phase des Fotografierens abgeschlossen war, wurden die nahezu 300 Bilder entwickelt, ausgedruckt und Interviews mit den jeweiligen Fotografen geführt. Insgesamt konnten während eines einmonatigen Aufenthalts in Istanbul elf Interviews umgesetzt werden. Die meisten Teilnehmerinnen wussten sehr viel über

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ihre Bilder zu berichten. Eine Ausnahme war eine Frau mit niederem Bildungsniveau und sozialem Status. Sie war es spürbar nicht gewohnt, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen und beschrieb ihre Bilder nur mit wenigen Sätzen. Dennoch war zumindest die visuelle Dokumentation dieser Frau der Analyse zugänglich. Während der Interviews wurde das umfangreiche Material selektiert. Alle Teilnehmerinnen wählten fünf Fotos aus ihrer Serie aus, die für sie am bedeutungsvollsten waren. Über diese Bilder wurde dann im Detail gesprochen. Der Gesprächsverlauf wurde dementsprechend von den Bildern und den in ihnen enthaltenen Bedeutungen und Themen strukturiert. Die Interviews wurden in türkischer Sprache gehalten und anschließen ins Englische übersetzt. Schließlich konzentriert sich die Arbeit auf die Bildserien zweier Künstler. Ein Werk stammt von Serkan Taycan, einem Istanbuler Fotografen, auf den ich während der Vorbereitung des Feldforschungsaufenthalts aufmerksam wurde. Taycan beschäftigte sich seit geraumer Zeit mit Fragen zu Raum und Identität und just zu jener Zeit, als ich in Istanbul war, hatte er mit einer Arbeit über die Peripherie der Stadt begonnen. Neben der künstlerischen ›Innenperspektive‹ wird zudem eine künstlerische ›Außenperspektive‹ behandelt. Alexander Basile, ein in Köln ansässiger Künstler, der sich für die Interaktion zwischen bebauter sowie sozialer Umwelt und dem Subjekt interessiert, erstellte weitere zwei Bildserien bei seinem erstmaligen Aufenthalt in der Stadt im Frühjahr 2011. Anhand der Serien ist erkennbar, dass es sich einmal um eine kennerhafte Innenperspektive und das andere Mal um eine distanzierte Außenperspektive handelt. Die zwei Künstler bewegen sich an sehr verschiedenen Orten der Stadt und doch lassen sich einige Berührungspunkte in der ›Stadterfahrung‹ erkennen, die anhand der Visualisierungen evident werden.

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Perspektiven

Bildmedien

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Kontextinformationen

Werbekampagne Istanbul 2010

• Internationale Werbekampagne (1 Bild; 1 Werbefilm) • Nationale Werbekampagne (3 Bilder)

• 2 Experteninterviews (2,5 h Interviewmaterial) • Arbeitsauftrag der an die Werbeagenturen ging • Interne PowerpointPräsentationen der ECoCAgency • 1 veröffentlichtes Interview mit dem Direktor der Werbeagentur RPMRadar • Webauftritt der ECoCAgency

Fotobefragung

• 296 Fotos von 17 Bewohnern

• 11 Fotointerviews

Kunstserien

• Innenperspektive: 1 Bildserie eines Istanbuler Künstlers (32 Fotografien die zu 22 nummerierten Bildern zusammengefügt wurden) • Außenperspektive: 2 Bildserien eines deutschen Künstlers (die erste Serie besteht aus 9 Bildern, die zweite aus 12)

• Webseiten der Künstler sowie der sie vertretenden Galerien und Kunstkollektive

Grafik 1: Übersicht über das Datenmaterial

Istanbul aus der Perspektive des Stadtmarketings, seiner Bewohnerinnen und der Kunst – die in dieser Arbeit behandelten Bildwelten könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Werbebilder konstruieren eine inszenierte Wirklichkeit, ein Image mit einer ganz bestimmten strategischen Ausrichtung. Die Bilder der Bewohner wiederum dokumentieren die ›gelebte Stadt‹: die Schwierigkeiten des Alltags (Verkehrsproblematik, Intoleranz, Entfremdungserscheinungen) sowie ihre emotionale Verbundenheit. Die Bilder, die schon aufgrund ihrer Ästhetik weniger durchkomponiert sind als jene des Stadtmarketings, versuchen nicht Widersprüche und Unstimmigkeiten glatt zu streichen. Die Perspektive der Kunst arbeitet wiederum mit der Ästhetik. Den hier behandelten künstlerischen Arbeiten geht es jedoch im Kontrast zum Stadtmarketing nicht darum, Identifikation zu schaffen, indem sie die Betrachter ihrer Perspektive bestätigen. Die Bildserien wirken vielmehr befremdlich und irritierend. Die Kunst macht dies

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jedoch nicht allein der Irritation willen. Vielmehr wollen die Bildserien die Betrachtenden wachrütteln, um ihnen die gegenwärtigen Entwicklungen Istanbuls vor Augen zu führen. Trotz der offensichtlichen Differenz haben die drei Bildgenres eines gemeinsam: sie alle beanspruchen Bilder Istanbuls zu sein. D.h., es variiert das Genre und dadurch die Zielgruppen, Produktionsbedingungen und die Auftraggeberinnen. Des Weiteren, und ganz offensichtlich ändert sich der Stil der Darstellung. Schließlich fokussieren die Bilder unterschiedliche Aspekte der Stadt. D.h. sie haben jeweils verschiedene Referenten, etwa die Altstadt, das Zentrum, die Peripherie, den Verkehr etc.

Dargestelltes Referent / Gegenstandbezug

Istanbul?

Genre / Kontext

Darstellung

Stadtmarketing

Inszenierte Wirklichkeit

Fotobefragung

Gelebte Wirklichkeit

Kunst

Ästhetisch verdichtete Wirklichkeit

Grafik 2: Bildgenres, Art der Darstellung, Dargestelltes

Sofern die Stadt nicht nur ein Allgemeines ist, wie es in der Stadtforschung weitverbreitet angenommen wird, sondern auch ein ganz spezifischer Sinnzusammenhang, der an den lokalen Kontext gebunden ist, so müssten in den hier behandelten differenten Bildwelten Homologien auftauchen. Auch wenn Istanbul das eine Mal vom Stadtmarketing bei einer klar definierten Zielgruppe beworben wird, ein weiteres Mal Reflexionen von den Bewohnern herangezogen werden und schließlich eine künstlerische Perspektive einfließt, Istanbul bleibt dennoch Istanbul. Auch wenn die Darstellung der Stadt positionsspezifisch variiert, so wird sie dennoch als ›Istanbul‹ erkannt, weil – so die These – auf intersubjektiv geteilte Vorstellungen rekurriert wird. Falls Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Feldern überzeugend nachgezeichnet werden kön-

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nen und Istanbul in der Werbung wie in der Sicht der Bewohnerinnen und der Kunst als ›bestimmter und bestimmbarer Sinnzusammenhang‹ auftaucht, so lassen sich auch Aussagen über den Symbolkosmos ›dieser‹ Stadt generieren. Anhand von Bildanalysen und -vergleichen soll die urbane Doxa hervortreten und die ihr inhärenten Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten beschreibbar werden. Dabei wird zunächst anhand von Einzelbildanalysen gezeigt, was sich wie im Bild verdichtet. Die Ergebnisse werden anschließend im Kontext weiterer Bilder des jeweiligen Genres diskutiert und Thesen in Hinblick auf die Stadt als Ganzes formuliert. Nachdem alle drei Bildgenres ausgewertet sind, wird nach Homologien zwischen ihnen gefahndet. Verweisen die verschiedenen Bilder von Istanbul auf gemeinsam geteilte Vorstellungen oder wird durch die medialen Kontexte Istanbul jeweils als eine ganz und gar andere Stadt visualisiert? Zwei weitere Ebenen der Analyse, die im Programm der »Eigenlogik der Städte« (Berking/Löw 2008) vorgesehen sind, können im Rahmen dieser Arbeit nicht hinreichend ausgeführt werden. So rekurriert das vorliegende Projekt auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit – den Analysezeitraum 2010/2011 – und setzt diesen nur punktuell und nicht systematisch in Bezug zur historischen Entwicklung, wie sie im Kapitel ›Stadtportrait Istanbul‹ vorgestellt wurde. Weitere Forschungsvorhaben wären notwendig, um die »kumulative Textur« (Lindner 2008) Istanbuls, ihr visuelles Bildgedächtnis im Detail zu rekonstruieren. Auch der Städtevergleich, der nötig wäre, um Aussagen in Hinblick auf Unterschiede zwischen dieser zu jener Stadt zu generieren, ist nur begrenzt möglich. Aus forschungspragmatischen Gründen wird lediglich Istanbul eingehend analysiert. An etlichen Stellen wird die Leserin jedoch an Charakteristiken Istanbuls herangeführt, die in anderen urbanen Kontexten nur schwer vorstellbar wären.

A USWERTUNGSMETHODE Als konkretes Analyseverfahren dient hier die soziologische Segmentanalyse nach Roswitha Breckner (2010), die an ikonisch-phänomenologische Bildkonzepte anknüpft. Sie ist für das Vorhaben, urbane Vorstellungswelten anhand visueller Stadtbilder zu analysieren, besonders geeignet, da sie der bildlichen Präsenz Rechnung trägt. Bilder werden zunächst in ihrer Bildlichkeit betrachtet und nicht im Vorfeld auf bestimmte Bedeutungsinhalte reduziert, die aus Wissen über Produktionsbedingungen, den Kontext der Verwendung, die Stilgeschichte, die Rezeption usw. hervorgehen. Die meisten soziologischen Analysen beginnen in umgekehrter Richtung. Indem auf Expertise und Bildwissen rekurriert wird, wird die Bildbedeutung stark eingeschränkt. Die Bilder adressieren jedoch nicht

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allein derlei Bildexpertinnen, vielmehr richten sie sich an ein breites Publikum, das den Bildern weitaus offener gegenüber steht. Um herauszufinden, wie Stadtbilder urbane Vorstellungswelten konstituieren, gilt es, das symbolische Potenzial, das in ihnen angelegt ist und mitunter affektive Wirkungen erzeugt, zu rekonstruieren. Ihrer unmittelbar wirkenden Suggestivität wird durch die Segmentanalyse Rechnung gezollt. Die Analyse beginnt mit der Aufzeichnung des Wahrnehmungsprozesses, den das Bild bei der Erstbetrachtung auslöst. Es wird festgehalten, welche Bildelemente (Segmente) der Blick in welcher Reihenfolge wahrnimmt und welche Assoziationen und Eindrücke das Bild beim Betrachter auslöst. Die Beschreibung der Erstwahrnehmung soll die Verknüpfung von Formalkriterien und Assoziationen zum Ausdruck bringen. Nach dieser Ersteindrucksanalyse wird das Bild in einzelne Bildsegmente gegliedert. Diese werden erst separat und dann in ihren Zusammenhängen interpretiert. Durch das Verfahren werden möglichst viele mögliche Bedeutungen zugelassen und Lesarten gebildet, die in einer schrittweise vollzogenen Analyse reduziert werden. Diese Reduktion möglicher Bedeutungen stützt sich auf die bildimmanente Sichtbarkeit und nicht auf Wissen über den gesellschaftlichen Kontext, den das Bild umgibt. Aufgrund des geschilderten Vorgehens soll verhindert werden, dass Vorannahmen und Hintergrundwissen den Interpretationsweg vorgeben und mitunter gerade den Blick darauf verstellen, was im Bild unterschwellig, z.B. durch Polysemien und Anspielungen, sichtbar gemacht wird. Anschließend an die Segmentinterpretation werden perspektivische Eigenheiten, szenische Arrangements und die planimetrische Komposition im Bildganzen betrachtet. Dabei wird darauf geachtet, wie sich die einzelnen Segmente ins Sinngewebe des Gesamtbildes einschreiben. Ändert sich etwa die Bedeutung bestimmter Segmente, wenn sie im Bildganzen betrachtet werden, und welche Funktion kommt den Einzelelementen in der Sinnstruktur des Bildes zu? Erst nach eingehender Analyse der visuellen Präsenz fließen Hintergrund- und Kontextinformationen in die Analyse ein. Dabei werden alle nur möglichen Informationen zu den jeweiligen Bildern zusammengetragen. Die Bilder werden re-kontextualisiert, womit der Materialität des Auftauchens in der konkreten (gesellschaftlichen) Umgebung nachgegangen wird. Damit wird das Wechselspiel zwischen Bildimmanenz und des »Rahmens« (Goffman 1980; Raab 2012), in den das jeweilige Bild eingebettet ist, beschreibbar: Was realisiert sich durch das Bild im gesellschaftlichen Kontext? Die Segmentanalyse geht davon aus, dass sowohl die Bildlichkeit der Bilder – ihre Präsenz – als auch der gesellschaftliche Kontext für die Bildwirkung verantwortlich sind und Bilder weder rein durch eine Bildbeschreibung noch allein durch das Zusammentragen der Kontextinformationen hinreichend zu erklären sind.

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Anders als Phänomenologie und Ikonik, die sich in erster Linie für das Bild interessieren und die Sozialität der visuellen Repräsentationen etwas außen vor lassen, interessiert sich die Segmentanalyse als soziologische Methode der Bildanalyse vor allem für die ›gesellschaftliche Wirklichkeit‹ der Bilder. Sie nutzt die Überlegungen der Vertreter dieser Theorieströme, um darauf aufmerksam zu machen, wie visuelle Präsenz in einem bestimmten sozialen Kontext Wirkung entfaltet. In der methodologischen Weiterentwicklung der Theorien der Sichtbarkeit für die soziologische Analyse liegt das Potenzial der Segmentanalyse. Nicht nur der Repräsentation der Bilder (ihrer Abbildfunktion) kann nun soziologisch nachgegangen werden, sondern ebenfalls ihrer inhärenten Kraft, symbolische Bedeutungen hervorzubringen. Die Beziehung zwischen Gesellschaft und visuellem Symbolsystem wird als ein wechselseitiger Vorgang beschrieben. Mit Bezug auf Alfred Schütz verweist Breckner auf den gesellschaftlichen Ursprung aller Symbole, die jedoch, sobald sie entstanden sind, ihrerseits die Struktur der Gesellschaft beeinflussen (Breckner 2010: 53).

Die inszenierte Stadt – Istanbul im Medium der Werbung

Das Bild steht am Anfang der nachfolgenden Analyse. Dem Leser wird damit Zeit gegeben, um unbeeinflusst erste subjektive Eindrücke zu diesem Bild zu registrieren.

D IE ZUM

INTERNATIONAL AUSGERICHTETE

W ERBEKAMPAGNE

K ULTURHAUPTSTADTJAHR

Abbildung 22: Motiv Internationale Werbekampagne, ECoC-Agency 2010

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S EGMENTANALYSE

DES ZENTRALEN

B ILDES

Grafik 3: Dokumentation des Wahrnehmungsprozesses

Als erstes erfasste mein Blick die Insel als Ganzes wobei er sogleich auf die zwei Moscheen fokussierte und kurz auf diesen verweilte, um von dort die einzelnen Gebäude der Insel zu untersuchen. Dies geschah in folgender Reihenfolge: zunächst erkannte ich das Gebäude etwas rechts von der Mitte der Landmasse, welches ich sofort als Palast kategorisierte. Dann fiel mein Blick auf die weiteren Turmspitzen hinter dem Palast. Von dort glitt er hinab zur Stadtmauer und wanderte diese entlang bis er die verdichtete Siedlung an der linken Spitze der Insel erfasste und schließlich am Leuchtturm Halt machte. Anschließend wanderte mein Blick den Himmel entlang, den ich als dramatisch und außergewöhnlich empfand. Von der rechten Seite des Horizonts erfasste ich zunächst das Wasser mit den Schiffen. Zuletzt erkannte ich das stärker verdichtete Stadtgebiet in der rechten Bildhälfte, das perspektivisch hinter der Insel liegt. Die Landmasse in der Bildmitte wurde von mir zunächst als Insel identifiziert. Etwas später realisierte ich, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine Landzunge bzw. eine Halbinsel handelt. Im Folgenden wird die Landmasse in der Bildmitte als Halbinsel bezeichnet. Auffallend beim Ersteindruck war die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung zwischen meiner (türkischen) Interpretationspartnerin und mir. Während diese auf den ersten Blick eine Machtsymbolik erkannte, überwogen bei mir malerische, märchenhafte und pittoreske Konnotationen.

DIE INSZENIERTE STADT – ISTANBUL ALS MEDIUM DER W ERBUNG

I 101

Formale Bildbeschreibung Wasser, Landmasse und Horizont teilen das Bild in Vordergrund (dieser nimmt etwas mehr als 1/3 der Bildfläche ein), Bildmitte und Hintergrund (dieser nimmt ebenfalls etwas mehr als 1/3 der Bildfläche ein). Damit sind drei Bildebenen identifiziert. Perspektivisch bildet die Landmasse die hinter der Halbinsel hervortritt, eine vierte Bildebene, die sich zwischen Bildmitte (Halbinsel) und Hintergrund (Horizont) schiebt. Der Fokus liegt eindeutig in der Bildmitte. Aufgrund der relativ großen Flächen, die Vordergrund und Hintergrund – d.h. Wasser und Horizont – einnehmen, ist zu schließen, dass diese wesentlich den Bedeutungsgehalt des fokussierten Segmentes (Landmasse in der Bildmitte) unterstützen. Perspektivisch handelt es sich um ein eher flächiges Panorama ohne Fluchtpunkt. Die horizontalen Feldlinien sind sehr präsent (Landmasse, Horizont, Wasser), während es nicht leicht fällt, signifikante vertikale oder gar schräge Linien auszumachen. Eine leichte Krümmung entsteht durch die ellipsenartige Form der Landmasse in der Bildmitte (Halbinsel). Dadurch entsteht eine Öffnung in der linken Bildhälfte, die den Blick in die ›unendliche Weite‹ schweifen lässt. Dieser Sog nach links, erzeugt eine Dynamik. Damit ist das Bild perspektivisch und flächig zugleich: es operiert – mit Max Imdahl gesprochen – mit einer »Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen«14 (Imdahl 1996: 107). Die Position der Betrachterin befindet sich auf einer leichten Erhöhung frontal vor der Bildmitte. Anhand der symmetrischen Gestaltung (Abstand der Halbinsel zu den jeweiligen Bildrändern sowie der Position der Betrachterin auf selber Höhe zur Bildmitte) kann angenommen werden, dass diese Position sehr sorgfältig gewählt wurde. Es handelt sich mit Sicherheit nicht um einen Schnappschuss. Über die Perspektive ist auch die szenische Konstellation des Bildes erschlossen. Das zentrale Bildsegment ist die Halbinsel in der Bildmitte mit ihren Gebäuden (v.a. die zwei Moscheen etwas links der Bildmitte sowie das etwas größere Gebäude, das als Palast identifiziert werden kann, stechen ins Auge). Thematisch wird die Landmasse in der Mitte von Wasser und Himmel eingerahmt. Auf diese szenische Konstellation wird in der folgenden Interpretation genauer eingegangen. Im Hintergrund rechts im Bild ist eine stark verdichtete Agglomeration von Gebäuden zu erkennen. Thematisch passt diese aufgrund der

14 Die »Übergegensätzlichkeit« ist eine Spezifik des Bildlichen. Ralph Bohnsack erkennt diese u.a. in seiner Analyse von Werbebildern, in denen Zusammengehörigkeit und Individualität zugleich dargestellt werden (vgl. Bohnsack 2009: 69).

102 I ISTANBUL ALS BILD

zwei Moscheen zur Halbinsel in der Bildmitte dazu. Durch die Halbinsel verdeckt, wird dieses Segment erst auf den zweiten Blick wahrgenommen. Auffällig ist eine Lichtquelle, die durch die Wolken hindurch dringt und die zwei Moscheen etwas links von der Bildmitte beleuchtet. Die Aufmerksamkeit wird bei der Betrachtung des Bildes von dieser Lichtkonstellation geleitet, so dass diese Bauwerke auf den ersten Blick wahrgenommen werden. Die Lichtquelle spiegelt sich ebenfalls auf dem Wasser zwischen drei mittelgroßen Passagierschiffen. Die Lichtquelle zieht sich wiederum durch alle Bildebenen (Bildhintergrund, Bildmitte, und Vordergrund) wodurch die zuvor identifizierte flächige Rahmung der Insel verstärkt wird. Sehr einprägsam ist die farbliche Gestaltung des Bildes. Die Farbtöne der drei Bildebenen sind zwar aufeinander abgestimmt, dennoch heben sich die Ebenen erkennbar voneinander ab. Der Himmel ist farblich am facettenreichsten und variiert zwischen Hellgrau, Hellgelb und Weiß. Einige dunkelgraue Wolken stechen hervor. Die Landmasse in der Bildmitte ist von einer relativ großen, dunkelgrünen Vegetation von Laubbäumen geprägt. Dazwischen stechen hellgraue, weiße bzw. braune Fassaden von Gebäuden hervor. Die Wasserlandschaft im Bildvordergrund ist durch relativ einheitliches, metallisches Silberblau geprägt. Das Bild zeichnet sich durch märchenhafte bzw. malerische und weiche Pastellfarben aus. Die Farbtemperatur ist kühl. Satte oder grelle Farben sind nicht vorhanden. Segmentbildung Aufgrund des zuvor beschriebenen Wahrnehmungsprozesses wurden folgende Segmente gebildet: Segment 1

Segment 2

Segment 3

Segment 4

Grafik 4 Segmentbildung

Im Folgenden werden die einzelnen Segmente und bestimmte Segmentzusammenhänge interpretiert. Um den Leser bzw. die Leserin nicht zu ermüden werden, wird die Darstellung »ergebnisorientiert« erfolgen. D.h. die Fülle an Diffe-

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renzierungen und Lesarten wird nicht aufgespannt, sondern gezielt auf die Hauptlinien der Interpretation eingegangen. Dementsprechend wurde auch kein einzelnes Segment für die zwei Moscheen links der Bildmitte gebildet. Diese werden vielmehr im Zuge der Interpretation des ersten Segmentes genau bedacht. Die Reihenfolge der Interpretation muss im Anschluss nicht unbedingt jener des Wahrnehmungsprozesses folgen. Die einzelnen Segmente werden vielmehr »kontrastierend« einander gegenübergestellt.

Grafik 5: Segment 1: Halbinsel

Das Segment zeigt eine antike Stadt. Nichts in diesem Segment (Architektur, Infrastruktur, etc.) deutet darauf hin, dass es sich um eine gegenwärtige Stadt handelt. Zu sehen sind zwei Moscheen und ein großes Gebäude auf einer Anhöhe. Das Gebäude kann, wie schon die Erstwahrnehmung zeigte, als Palast identifiziert werden. Des Weiteren sind eine Befestigungsanlage sowie eine weite Grünfläche aus Bäumen erkennbar. Anhand der Gotteshäuser ist ersichtlich, dass es sich um eine orientalische bzw. islamische Stadt handeln muss. Dass zwei derartig große Moscheen so nah beieinander auf einer Anhöhe liegen, lässt vermuten, dass es sich um eine große Stadt handeln muss und/oder Religion in dieser Stadt (diesem Land) eine große Bedeutung (Macht) hat. Die Machtsymbolik die von den Gebäuden ausgeht konnotiert, dass dieses Reich unter einer hegemonialen politischen und religiösen Führung steht. Welche ›Beziehung‹ politisches und religiöses Machtzentrum zueinander haben, gilt es in der Analyse weiterer Segmente zu beantworten. Für dieses Segment kann festgehalten werden, dass die Sakralbauten ein stärkeres visuelles Gewicht haben. So sind sie weniger durch Bäume verdeckt, liegen höher und werden durch die Turmspitzen, die in den Himmel ragen (und gewissermaßen die einzigen vertikalen Linien im Segment darstellen), hervorgehoben. Aufgrund der ellipsenartigen Form des Segmentes und der Platzierung in der Bildmitte kann vermutet werden, dass es sich um ein Herrscherzentrum auf einer Anhöhe handelt. Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei dem Bild um eine Landschaftsaufnahme einer antiken und bedeutenden Stadt (Zentrum eines großen Reiches). Aufgrund der farblichen Gestaltung lässt sich vermuten, dass es

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sich um eine Malerei handelt. Die Tiefenschärfe wiederum macht wahrscheinlicher, dass es eine Fotografie ist. Betrachtet man die Form dieser Stadtdarstellung, so erkennt man zwei wesentliche Analogien zu den europäischen Profilansichten des 15. Jahrhunderts (De Seta 1999: 11; Michalski 1999: 46ff; Günther 2009: 32ff): Erstens der flächige Aufbau der Stadt, mit der hierarchischen Überhöhung der Sakralbauten, gefolgt von dem weltlichen Machtzentrum. Zweitens die Ummauerung der Stadt, die sie zusammen mit dem stufenweise Aufbau als Ellipse erscheinen lässt und sie als Einheit (in Abgrenzung zum Umland, das vermutlich in einem weiteren Segment zu sehen sein wird) präsentiert. »Der Typus einer Profilansicht des Stadtgebildes (...) eignete sich vornehmlich für die Perzeption der Stadt als Ganzes« (Michalski 1999: 49). Die Form der Ellipse scheint als eine Art Ideogramm zu funktionieren, das die Idee der antiken Polis aufnimmt. Die Form visualisiert sozusagen die Stadt als geschlossene Einheit: sie zeigt, im Sinne der antiken Polis, eine eigenständische politische – in diesem Fall vor allem eine religiöse – Stadt, die von Gleichheit und Übereinstimmung geprägt ist, wodurch Unterschiede bzw. Heterogenität (politische, religiöse, etc.) unter die hegemoniale Macht subsumiert werden. Denkt man hypothetisch weiter, was in einem weiteren Bildsegment auftauchen müsste, so ist es naheliegend, dass irgendwo – vermutlich im Bildvordergrund – die ›eigentliche‹ Stadt auftauchen wird (Bürgerhäuser etc.). Denn das Segment zeigt zwar ein Herrschaftszentrum, dieses ist jedoch von Wäldern umgeben. Dass die Bürgerhäuser auf der hinteren Seite der Erhöhung liegen ist eher unwahrscheinlich, denn dann hätte man mit Sicherheit einen anderen Ausschnitt gewählt. Festzuhalten ist, dass ein derartiger Palast und zwei große Gotteshäuser auf einer solch geringen Ausdehnung auf ein großes Reich hin deuten und nicht alleine in einer Landschaft stehen können. Die leicht verdichtete Siedlung am linken Rand des Segmentes ist ebenfalls zu klein, als dass sie von solch einem Palast regiert werden könnte.

Grafik 6: Segment 4: Großstadt

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Als zweites interpretieren wir das vierte Segment, da sich dabei der größte Kontrast zu ersterem Segment auftut wie in der nachfolgenden Interpretation des Segmentzusammenhanges zu sehen sein wird. Zwei Moscheen auf einer Anhöhe sind deutlich zu erkennen. Sie sind die größten Gebäude oberhalb eines dicht besiedelten Stadtraumes. Zwischen den Gebäuden ragen einige Grünflächen (Bäume) hindurch. Die Architektur ist schwer zu erkennen. Neben den Moscheen sind keine hohen Gebäude (z.B. Hochhäuser) auszumachen. Da Hochhäuser, Industrieschlote etc. nicht zu erkennen sind, kann anhand dieses Segments gefolgert werden, dass es sich nicht um eine gegenwärtige Metropole bzw. eine Global City handelt. Aufgrund der zwei Moscheen auf der Anhöhe wird ersichtlich, dass es sich um eine orientalische bzw. islamische Stadt handelt und Religion eine bedeutende Rolle in diesem Land (bzw. dieser Stadt) hat bzw. bildlich als bedeutsam dargestellt wird.

Grafik 7: Segmentzusammenhang 1 und 5: Halbinsel und verdichteter Stadtraum

Die ›Stadt‹, die bei der Interpretation des ersten Segmentes im Bildvordergrund vermutet wurde, taucht nun unerwartet im Hintergrund auf. Betrachtet man den Segmentzusammenhang von der Anhöhe im Vordergrund mit dem Palast, den Waldflächen, den zwei Moscheen und der Stadtmauer und jene verdichtete Agglomeration von Gebäuden, die hinter der Anhöhe hervor scheint, so ergibt sich ein Kontrast. Während beim ersten Segment noch eindeutig von einer antiken Stadt gesprochen wurde, kann dies mit dem im Hintergrund auftauchenden stark verdichteten Stadtraum nicht mehr mit aller Bestimmtheit behauptet werden. Während im Segment im Vordergrund eindeutig Symbole religiöser (Gotteshäuser) und weltlicher Macht (Palast, Stadtmauer) zu erkennen sind, fehlen letztere Symbole in dem Segment, das im Hintergrund auftaucht (Symbole die etwa auf Handel, Politik, Finanzwirtschaft oder Industrie verweisen). Beachtenswert ist die Platzierung des Herrschaftszentrums exakt in der Mitte zwischen den gut sichtbaren vier Moscheen. Alle vier Sakralbauten überragen den Palast. Es sind die religiösen Speerspitzen, so die Assoziation bei der Bildbetrachtung, die über diese Stadt und ihr Herrschaftszentrum wachen, sie beschützen und beherrschen. Die Stadtmauer wird kaum als hinreichende Fortifikation wahrgenommen (sie wird überhaupt erst bei der genauen Bildbetrachtung

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erkannt). Durch die symmetrische Anordnung des Palastes in der Mitte zwischen den vier Moscheen, wird der zuvor identifizierte Kontrast zwischen dem verdichteten Stadtraum im Hintergrund und der Halbinsel im Vordergrund abgeschwächt. Es ist nun klar, dass beide Gebiete zusammengehören. Dennoch wirkt das Segment im Hintergrund irgendwie moderner (eventuell aufgrund der starken baulichen Verdichtung), es kann jedoch nicht genau bestimmt werden weshalb. Festzuhalten ist, dass es sich nach wie vor um eine antike Stadt handeln könnte. Es könnte sich jedoch ebenfalls um eine gegenwärtige Stadt handeln, die eine lange Geschichte hat. Ihre gegenwärtige Bedeutung im Weltmaßstab wäre jedoch über die historischen (vor allem die religiösen) Reichtümer hinaus (etwa durch politische oder wirtschaftliche Machtsymbole etc.), anhand der in den Bildsegmenten sichtbaren materialen Gestalt, nicht zu bestimmen. Nach dem genauen Studium dieser zwei Segmente wird der Betrachterin spätestens jetzt auffallen, dass diese die Stadt Istanbul zeigen. Zu sehen die historische Halbinsel mit dem Topkapi Palast (in der Mitte der Halbinsel) der Hagia Sophia und der Blauen Moschee (links auf der Halbinsel). Zwischen den zwei Moscheen und dem Topkapi Palast ist die Kuppel der St. Irene, einer orthodoxen Kirche, zu sehen. Die Halbinsel wird von der alten Stadtmauer umrundet. Das Stadtgebiet hinter der Halbinsel zeigt die Süleyman Moschee (mit vier Minarettspitzen) sowie die Eyüp Sultan Moschee (zwei Minaretten). Bei starkem Heranzoomen kann ebenfalls die Galatabrücke erkannt werden, die die Halbinsel und den verdichteten Stadtraum verbindet.

Grafik 8: Segment 2: Himmel

Man sieht einen beeindruckenden, stimmungsvollen Himmel, der das gesamte Bild durchzieht und ca. 1/3 der gesamten Bildfläche einnimmt. Auch anhand dieses Segmentes ist nicht zu entscheiden, ob es sich um ein Foto oder um ein gemaltes Bild handelt. Die Stimmung wird durch Wolken, Licht und Farben erzeugt. Zunächst zu den Farben. Der Eindruck, dass es sich um ein Gemälde handelt, wird vor allem durch die verschiedenen weichen Pastelltönen erzeugt. Hier muss, wenn es sich um eine Fotografie handelt, zumindest eine Bildbearbeitung stattgefunden ha-

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ben, oder es wurde ein spezieller Film verwendet bzw. ein Filter vor die Linse gesetzt. Nichts desto trotz ist der Betrachter mit einem malerischen Himmel konfrontiert, der gewissermaßen einen Vergangenheitsbezug konstruiert. Denn bei diesem Bild könnte es sich aufgrund der verwendeten Farben und der realistischen Darstellung der Wolken um eine historische Landschaftsmalerei handeln. Von den Farben und der Dramatik des Himmels erinnert das Segment an die Romantik des ausgehenden 18. und den Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu nennen wäre etwa Caspar David Friedrich mit seinen, von metaphysisch-transzendenten Stimmungen geprägten, Landschaftsmalereien. Blicken wir zurück auf den konkreten Bildgegenstand, so ist zu erkennen, dass auf grelle Farbtöne gänzlich verzichtet wurde. Die Stimmung verweist auf die Einzigartigkeit des Moments: So einen Himmel sieht man nicht alle Tage und schon gar nicht allerorts. In vielen Bildern wird der Himmel bzw. der Horizont weniger intensiv wahrgenommen. Ein einfach blauer Himmel konstruiert etwa einen Kontrast und hebt ein Bildmotiv hervor. Dabei hat man das Gefühl, dass der Himmel zwar dazu gehört, aber nichts erzählt. Anderes gilt für dieses Bild: Dieser Himmel ist ein wichtiger Teil der bildlichen Erzählung (darauf verweist über die farbliche Gestaltung hinaus die große Fläche, die das Bildsegment einnimmt). Dieser ›Erzählung‹ etwas näher kommt man durch die Eindrücke, die Wolken und Licht bei der Bildbetrachtung auslösen. Die dunklen Wolken, die auf ein Unwetter bzw. einen Sturm verweisen, haben etwas Dramatisches. Das weiße Licht wiederum, das durch sie hindurch dringt und sich etwas links der Mitte des Segmentes bündelt, erzeugt eine sakrale Stimmung (Erleuchtung), wie sie zuvor schon mit Bezug auf die Frühromantik angesprochen wurde. Dieser Himmel könnte etwa für die bildnerische Darstellung des Weltuntergangs verwendet werden. In einem weiteren Segment würden, wenn diese Lesart zutrifft, Flammen, zusammenbrechende Häuser, Wasserfluten etc. auftauchen. Was auch immer in einem weiteren Segment zu sehen sein wird, dieser als dramatisch bezeichnete Himmel ist ein stilistischer Verweis auf ›höhere Macht‹. Auf so ein Naturschauspiel haben Menschen keinen Einfluss. Bezüglich der Macht kann es sich sowohl um Naturgewalten, als auch um göttliche Mächte handeln. Neben der Hypothese, dass es in dem Bild um die biblische Darstellung des Weltuntergangs geht, könnte es auch in anderen Kontexten Verwendung finden: beispielsweise in einem Geo-Magazin. Auch in diesem Medium werden eindrucksvolle Naturereignisse mittels professioneller Aufnahme- und Bildbearbeitungstechniken dargestellt. Gegen diese These spricht jedoch, dass in solchen Magazinen stilistisch eher Hyperrealität inszeniert wird, während hier eindeutig ein malerisches bzw. nostalgisches Flair überwiegt. Die malerische Gestaltung

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nimmt gleichzeitig etwas von der Gefahr (bzw. der Dramatik). Sie suggeriert, dass es sich ›nur‹ um eine Geschichte (ein Gemälde) handelt und das Ereignis (die Gefahr, etc.) gar nicht ›wirklich‹ stattgefunden hat.

Grafik 9: Segment 3: Wasser und Schiffe

Zu sehen ist eine Wasserlandschaft (ein See oder das Meer) mit Schiffen. Auf der Wasseroberfläche ist ein leichter Wellengang auszumachen. Der mittlere Teil des Wassers ist hell erleuchtet. D.h. es muss ein bewölkter Tag abgebildet sein, an dem die Sonne an einem Punkt durch die Wolken bricht. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass es sich um eine Morgen- bzw. Abenddämmerung handelt, bei der die Sonne sich lediglich punktuell auf der Wasseroberfläche spiegelt. Schwer zu entscheiden ist wiederum, ob es sich um eine Fotografie oder eine Malerei handelt. Die Schiffe wirken sehr realistisch, während die Farbtöne (silberblau glänzend) eher auf eine Malerei verweisen. Zwei Schiffe fahren nach links, zwei nach rechts. Das deutet auf einen regen Schiffverkehr hin. Die Schiffe fahren dabei knapp aneinander vorbei. Eventuell überqueren sie einen See, an dessen jeweiligen Enden eine Stadt liegt. Auf jeden Fall handelt es sich um eine breite Wasserstraße. Das Segment befindet sich in der unteren Bildhälfte und durchzieht das gesamte Bild. Es nimmt ca. 1/3 der gesamten Bildfläche ein. Anhand der Größe kann geschlossen werden, dass es die Bildbedeutung wesentlich mitbestimmt. Trotz des abgebildeten Wellengangs wirkt das Segment ruhig bzw. gar statisch. Die Schiffe und der Wellengang wirken eingefroren und scheinen sich nicht zu bewegen. Sie wirken zivilisiert (gewöhnliche Passagierschiffe) und wenig heroisch, wie jene von Abenteurern oder Piraten die ins Meer stechen. Falls es sich um eine Fotografie und nicht um eine Malerei handelt, wurde das Bild mit einer hohen Verschlusszeit aufgenommen. Falls es sich um eine Malerei handelt, ist wiederum die Tiefenschärfe beeindruckend. Bei dem Bild könnte es sich um eine Landschaftsaufnahme (Fotografie wie Malerei) einer bzw. zweier Küstenstädte handeln. Wasser hat in kulturellen Symbolbildungen einen nahezu unerschöpflichen Ausdruck gefunden und assoziiert zahlreiche Mythen und Vorstellungen (vgl.

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Böhme 1988; Selbmann 1995). Auf einige Konnotationen, die im Verlauf der Segmentanalyse von besonderer Bedeutung sind, soll im Folgenden eingegangen werden. Zunächst ist die Symbolik von Wasser stark religiös aufgeladen und kommt in vielen Konfessionen in Verbindung mit Reinheit vor. Es reinigt den Körper und dadurch im übertragenen Sinne der religiösen Semantik Seele und Geist. Außerdem wird Wasser häufig zur Verbildlichung göttlicher Macht verwendet (z.B. Sintfluten als göttliche Strafe etc.): »In sakralen Kulturen ist die Mächtigkeit der Naturreiche ein Fundament der Religionen (...) Das Wasser hatte dabei immer eine überragende Bedeutung« (Böhme 1988: 12). Es ist die vom Menschen nicht beherrschbare (Natur)Gewalt, die die göttliche Macht offenbart. Durch die im Segment dargestellte Verknüpfung von Wasser, Schifffahrt und Verkehr werden weiters mythopoetische Geschichten des Meeres und Seefahrertums hervorgerufen. Als Figuren wären etwa Odysseus oder Neptun zu nennen. Dabei kreisen die Vorstellungen um eine männliche Eroberungslust – sowohl der Eroberung fremder Länder als auch die abenteuerliche Reise in die weiblich konnotierte Welt des Wassers: zu den Nymphen, Nixen, Sirenen, Undinen etc. Obwohl es bei der männliche Eroberungslust, die mit den Mythen des Meeres verbunden wird, auch um die Ausübung von Macht gehen könnte, so scheint es doch plausibler, dass es vor allem um Inspiration und das Erleben von Abenteuern geht. Hartmut Böhme sieht etwa in der »erotisch-mythischen Dimension« des Wassers eine kreative Quelle, die vor allem in den Wassersymboliken der bildenden Künste stilisiert wird (vgl. Böhme 1988: 29). Des Weiteren wird durch Wasser auch weltliche Macht stilisiert. Damit ist eine topologische Dimension angesprochen: die Lage am Meer. Wasserstaaten wie z.B. das Venedig des 15. Jahrhundert oder die englische Seemacht seit dem 17. Jahrhundert stehen für Handel, Kolonialismus, maritime Eroberungskriege etc. Zuletzt soll die gegenständliche Dimension des Wassers angesprochen und assoziativ ausgelegt werden. Wasser tritt in einer Vielfalt von Formen auf: es ist flüssig, fest, steigt als Dunst auf und rieselt als Schnee herab. In der Form wie das Wasser im oben angeführten Segment dargestellt ist, stellt es sowohl ein verbindendes als auch ein abgrenzendes Element dar. Über den Seeweg gelangt man in verschiedene Länder und Gegenden. Gleichzeitig bildet das Wasser eine natürliche Grenze zwischen Kontinenten, und Staaten (topografische Grenzziehungen folgen oft entlang der Wasserwege). Über diese formale bzw. natürliche Grenzziehung werden in ideologischen Debatten mitunter auch Kulturen voneinander abgegrenzt. Welche Bedeutungen die Wassersymbolik im hier analysier-

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ten Bild entwickelt, muss in Relation zu den anderen Bildsegmenten genauer beleuchtet werden.

Grafik 10: Segmentzusammenhang 1 und 3: Wasser und Halbinsel

Denken wir zurück an die Analyse der Halbinsel, mit dem Verweis auf historische Stadtdarstellungen, so wurde anhand etlicher formaler und stilistischer Merkmale deutlich, dass hier die Stadt als Einheit präsentiert wird; religiös aufgrund der hegemonialen Dominanz der Minarettspitzen; politisch aufgrund der Stadtmauer, die sie vom Umland abgrenzt; formal aufgrund der ellipseartigen Form und dem zweidimensionalen, hierarchischen Aufbau. Über das im Vordergrund auftauchende Wasser wird die Stadt ins Verhältnis zur Welt gesetzt und dadurch als globales (bzw. weltliches) Machtzentrum erkennbar. Die Introvertiertheit wird aufgebrochen. Der Segmentzusammenhang demonstriert Einheit bzw. Geschlossenheit nach innen und Austausch bzw. Offenheit nach außen. Um das Verhältnis und die unterschiedlichen Bedeutungskonnotationen von Landmasse und Wasser zu charakterisieren, kann ein Zitat von Hegel herangezogen werden: »Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, die Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen belebende Element das Meer« (Hegel zit. nach Böhme 1988: 32). Das ›Familienleben‹, – (Stadt)Gemeinschaft und Einheit – wird durch die Landmasse repräsentiert, die Interaktion mit der Welt (die wirtschaftlichen Beziehungen etc.) durch Wasser und Schiffe.

Grafik 11: Segmentzusammenhang 3 und 4: Wasser, Schiffe und Himmel

Betrachtet man den Segmentzusammenhang von Wasser und Himmel, so tauchen keine gegensätzlichen Lesarten mehr auf. Vielmehr wird der bisherige

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Interpretationsverlauf gestärkt. Mehr als 2/3 der Fläche des Gesamtbildes werden von Horizont und Wasser eingenommen. Das mittlere und sehr wahrscheinlich das zentrale Segment im Bild (perspektivisch wie thematisch) wird von diesen regelrecht ›eingerahmt‹. Wasseroberfläche und Horizont bilden Vorderbzw. Hintergrund und sind somit die Kulisse, zwischen welcher das wesentliche Motiv zur Geltung kommen wird. Aufgrund der Größe der zwei Segmente (Wasser und Horizont) ist es wahrscheinlich, dass diese das zentrale Motiv wesentlich hervorheben. Es handelt sich höchst wahrscheinlich nicht um ein reines Naturbild; vielmehr könnte die Natur als Verstärker einer kulturellen Symbolik dienen. Hypothetisch könnte es sich um eine Landschaftsaufnahme einer geschichtsträchtigen und bedeutenden Stadt handeln. Die malerische Aufmachung (Pastellfarben) des Bildes verweist auf Vergangenheit (historische Malerei). Die Bedeutung der Stadt könnte sich über die Lage am Wasser erschließen (Handel und Personenverkehr) oder über die weißen Farben im Himmel, die etwas Sakrales haben (ev. handelt es sich um eine ›auserwählte‹ Stadt, die religiöse Bedeutung hat). Durch die Größe der Schiffe ist es eher unwahrscheinlich, dass eine kleine Insel in der Bildmitte auftauchen wird. Durch die malerische Gestaltung wiederum kann ausgeschlossen werden, dass etwa die Skyline von Manhattan auftaucht (dazu passen auch nicht die Schiffe). Interessant ist der Kontrast zwischen den beiden Segmenten: die Ruhe des Wassers und die Dramatik des Himmels.

Grafik 12: Perspektivlinie

Perspektivisch sind einige bedeutsame symmetrische Linien in dem Bild zu identifizieren. Zunächst führt eine Linie durch die Bildmitte, die den Horizont vom Wasser trennt und das Bild in zwei gleichgroße Flächen teilt. Diese Linie führt auch exakt durch die Mitte der Landmasse, die bei der ersten Bildbetrachtung als Insel identifiziert und im Weiteren als Halbinsel definiert wurde (siehe: Dokumentation des Wahrnehmungsprozesses). Die Halbinsel selbst bildet eine Ellipse, die sich zentral im Bild befindet. Der Abstand von der oberen und der unteren Bildkante sowie vom linken und rechten Bildrand ist jeweils nahezu identisch. Der perspektivische Standort des Betrachters muss sich auf einem

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Hügel auf selbiger Höhe zur Bildmitte befinden. Man sieht die Halbinsel frontal und nicht von oben herab bzw. von unten herauf. Es handelt sich um ein flächiges Panorama ohne Fluchtpunkt. Eine leichte Krümmung entsteht, wie schon einleitend erwähnt wurde, durch die ellipsenartige Form der Landmasse in der Bildmitte (Halbinsel). Dadurch wird perspektivisch doch eine Tiefenwirkung erzielt und es entsteht eine Dynamik, die den Blick nach links, in die ›unendliche Weite‹ des Meeres, zieht.

Grafik 13: Feldlinien

Abgesehen von der perspektivischen Konstruktion ist auch die szenische Konstellation interessant. Zwei weitere Linien teilen das Bild in drei mögliche thematische Flächen. Zieht man eine Linie am unteren Rand der Halbinsel sowie eine weitere am oberen Rand, so ergeben sich drei parallel zueinander liegende Flächen die mit den Elementen Wasser (Wasseroberfläche im Bildvordergrund), Erde (Halbinsel sowie verdichteter Stadtraum in der rechten Bildhälfte) und Luft (Horizont) thematisch benannt werden können. Auf das vierte Element, Feuer, könnten die Minarettspitzen der zwei Moscheen links der Bildmitte verweisen. Diese, als signifikante Eyecatcher identifizierte Gebäude, zeigen direkt auf den hell erleuchteten Teil des Horizontes, durch welchen (in Kombination mit den Moscheen) eine sakrale Dramaturgie erzeugt wird. Anhand der szenischen Konstellation könnte, so die Interpretation, auf die vier Elemente verwiesen werden. Durch die gezogenen Feldlinien wird deutlich, dass sich die Minarettspitzen im Himmel befinden und nicht zur Erde gehören, wodurch ihre sakrale Bedeutung symbolisch hervorgehoben wird.

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Grafik 14: Bild ohne Text

Zusammenfassend lässt sich anhand der Segmentinterpretation Folgendes festhalten: Das Bild stellt die historischen Reichtümer einer geschichtsträchtigen Stadt dar: sakrale Bauten, einen Palast als weltliches Machtsymbol und eine Stadtmauer. Der verdichtete Stadtraum ist im Hintergrund gehalten und kaum zu erkennen. Neben den baulichen Beweisen wird die Historizität der Stadt durch die farbliche Gestaltung unterstrichen. Das Bild ist in weichen Pastellfarben gehalten. Es ist schwer zu entscheiden, wie an etlichen einzelnen Segmenten dargelegt wurde, ob es sich um eine Fotografie oder um ein gemaltes Bild handelt. Auch die Zweidimensionalität des flächigen Panoramas, die etwas stärker als die perspektivische Tiefenwirkung zum Ausdruck kommt, erzeugt den Eindruck, dass es sich nicht um eine Fotografie handeln kann. Durch die unentschiedene Frage, ob es sich um eine Fotografie oder eine Malerei handelt, herrscht auch Ungewissheit, ob es ein gegenwärtiges Bild einer Stadt ist, oder eine Darstellung aus einer historischen Epoche. Wasser und Horizont sind wichtige stilistische Elemente, um eine malerische bzw. märchenhafte Landschaft zu konstruieren. Sie gehören, neben den historischen Gebäuden in der Bildmitte, wesentlich zur Darstellung der Einzigartigkeit dieser Stadt dazu (mitunter sogar, wie eine mögliche Interpretation der szenischen Konstellation zeigte, zu den ›Elementen‹ der Stadt). So zeugt, neben den sakralen Bauten, vor allem der Himmel (weiße Farben links der Bildmitte), dass es sich um eine religiös bedeutende – eine ›auserwählte‹ – Stadt handelt. Das Wasser, das in zahlreichen Darstellungen eine religiöse Dimension hat, visualisiert im hier dargestellten Zusammenhang eher, dass es sich um eine wirtschaftlich einflussreiche Stadt – ein globales Machtzentrum – handelt (Außenorientierung). Außerdem wird durch Wasser und Schiffe eine abenteuerliche Reisesemantik konstruiert – eine Expedition ins Unbekannte. Die Phantasien können dabei von der Eroberung bzw. Entdeckung fremder Kontinente bis zur erotischen Exotik fremder (Wasser)Welten (Nymphen, Nixen, etc.) kreisen. Religiös-spirituelle Konnotationen, architektonische Meisterwerke, Vegetation (grüne Hügel, Lage am Wasser) Reise- und Abenteuersemantik sowie Impression der Farben visualisieren eine Stadt, die in ähnlicher Imposanz kaum ein zweites Mal existieren kann. Die Attraktion dieses Bildes liegt in der Vergegen-

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wärtigung einer vergangenen Zeit und Kultur. Das Bild spielt mit der Betrachterin indem es die Frage offen lässt, ob diese Vergangenheit ›wirklich‹, d.h. so wie sie im Bild dargestellt ist, gegenwärtig erfahrbar ist. Analyse der Textelemente

Grafik 15: Bildtext

Bei der Interpretation der Textsegmente beginnen wir mit dem Schriftzug direkt unterhalb des visuellen Segments. Dieser steht in direktem Bezug zum Bild (bildet eine Einheit), während die anderen zwei Textsegmente ebenfalls eine weitere Einheit bilden (Auf die Interpretation der Positionen wird bei der Betrachtung des gesamten Image-Textes eingegangen). Nachdem man das Wort Istanbul ausspricht, bedarf es zunächst einmal einer Pause (drei Punkte und eine Abstufung). Das Wort ›Istanbul‹ alleine, so kann aufgrund der Pause gefolgert werden, ruft schon Bilder bzw. Assoziationen hervor. Etwa: Bosporus, lange Geschichte, Konstantinopel, osmanisches Reich, Brücke zwischen ›Ost‹ und ›West‹, Tradition und Moderne, Bevölkerungswachstum, Wirtschaftsmacht, Inspirationsquelle zahlreicher europäischer Schriftsteller und Reisender, kulturelle Vielfalt und hegemoniale Machtansprüche, etc. Anhand des Folgesatzes ist erkennbar, dass es sich um eine Stadtwerbung für Istanbul handelt, welche die Stadt als »the most inspiring city in the world« anpreist. Istanbul misst sich damit nicht mit anderen Städten der Türkei und auch nicht ›nur‹ mit Städten Europas, sondern mit der ganzen Welt. Das Wort inspiring wird mit dem Superlativ versehen. Auffällig am Folgesatz ist, dass nicht die ›eigentlichen‹ Inspirationsquellen aufgezählt werden, sondern gleich ›zusätzliche‹ (»further«) Quellen der Inspiration – »contemporary art« und »urban culture« – aufgezählt werden. In Kombination mit dem Beginn des ersten Satzes (der Name der Stadt gefolgt von einer Pause) lässt sich vermuten, dass es allgemein bekannt sein müsste, weshalb Istanbul inspiriert und lediglich zusätzliche bzw. neue Quellen der Inspiration angegeben werden müssen. Des Weiteren wird die Kontextinformation gegeben, dass Istanbul 2010 Europäische Kultur-

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hauptstadt ist (war) und der Betrachter aufgefordert wird, an dieser einzigartigen Erfahrung (»unique experience«) teilzuhaben. Dadurch wird ersichtlich, dass sich die Botschaft nach Außen richtet (internationale Touristen, internationale Künstlerinnen etc.). Die Aufforderung adressiert Leute, die nicht in dieser Stadt leben, ansonsten wären sie schon ein Teil dieser Erfahrung. Es wird ein schlichter und moderner Schrifttyp verwendet (ohne Hervorhebung, geradlinig und ohne Schnörkeln). Dieser wirkt sachlich und informativ und zeugt von Selbstbewusstsein: man muss nicht angeben bzw. Überzeugungsarbeit leisten (in Werbeplakaten sind Schrifttypen oft größer und plakativer). Da es sich nur um ein Textsegment des Bildes handelt, könnte die Überzeugungsarbeit von einem anderen Element des Gesamtbildes (dem visuellen Segment) vollzogen werden. Eine gewisse Wertigkeit vermittelt die mattgoldene Farbe des oberen Schrifttyps.

Grafik 16: Logo ECoC-Agency

Die drei Rundbogen über dem Schriftzug »Istanbul 2010« erinnern an Arkaden bzw. an Kuppeln. Im Falle Istanbuls und vor allem in Kombination mit dem zuvor interpretierten visuellen Segment, ist ersichtlich, dass diese Rundbögen die Kuppeln von Moscheen symbolisieren. Die Farbgestaltung sowie die Schriftzüge können als gegenwärtig bzw. modern bezeichnet werden. Damit brechen diese mit der traditionell-religiösen (bzw. mit Bezug auf das visuelle Segment auch geschichtlichen) Konnotation der Rundbögen. Die Farbe ist wenig aufdringlich und zurückhaltend (transparent wirkendes, helles Grau). Außerdem ist das Logo zweisprachig, wobei der englische Text größer abgedruckt ist. Unter dem Logo ist ein weiteres Logo der Fluglinie Turkish Airlines abgedruckt (mit einem Hinweis, dass es sich dabei um »A Star Alliance Member« handelt). Zudem ist ersichtlich, dass dies ein finanzieller Partner (Equity Partner) der Veranstaltung (Istanbul 2010 European Capital of Culture) ist. Die Rundbögen spannen sich über Istanbul 2010 und somit über die ›gegenwärtige Stadt‹. Das Textsegment kann dahingehende interpretiert werden, dass die

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(religiöse) Tradition nach wie vor über der modernen, gegenwärtigen Stadt wacht (eventuell sogar über die säkularisierte). Der Verweis auf die religiöse Tradition zieht sich damit fort: die sakralen Bögen sind, ähnlich wie die zuvor dargestellten Turmspitzen (siehe visuelles Bild), auf höchster hierarchischer Ebene angeordnet.

Grafik 17: Slogan der internationalen Werbekampagne

Auch in diesem Schrifttyp, wird durch die Kombination zweier Stilelemente Modernität und Traditionalität verbunden. Er ist ein Gemisch aus geschwungener, kaligrafieartiger und geradliniger, schlichter, moderner Schrift. Die mattgoldene Farbe erzeugt eine gewisse Wertigkeit, dennoch kommt anhand dieses Segmentes die Dominanz der Religion, im Vergleich zu dem visuellen Segment und dem zuvor interpretierten Logo, nicht in vollem Ausmaß zur Geltung.

Grafik 18: Gesamter Image-Text

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Bei der Anzeige handelt es sich um einen image-text15 im Sinne Mitchells (Mitchell 1994: 91). D.h. das visuelle Bild der Stadt wird durch zwei Logos (jenes der Organisation sowie des Sponsors Turkish Airlines), dem Schriftzug »istanbul inspriations« und einen, das Bild erklärenden, Text ergänzt. Das Werbebild im Gesamten kann als sehr reduziert beschrieben werden. Auffällig ist diesbezüglich die große freie weiße Fläche, die das Augenmerk auf die Fotografie lenkt. Das Bild (visuelle Segment) ist der Eyecatcher des Werbeplakates. Besonders die zwei Moscheen links von der Bildmitte stechen aufgrund des hell erleuchteten Hintergrunds hervor. Logos und Slogan sind im Hintergrund gehalten. Das Gesamtbild ist in zwei Teile gegliedert: (visuelles) Bild und erklärender Bildtext stehen aufgrund der Position in unmittelbare Beziehung sowie das Logo (Istanbul 2010 ECOC Agency) und der »Slogan« (istanbul inspirations). Auffallend ist nun der Kontrast zwischen dem ersten Beziehungspaar: dem Bild und dem das Bild erklärenden Text. Der Schriftzug ist, anders als das Bild, schlicht und modern gehalten. Außerdem wird im Bild eine malerische Landschaft präsentiert, die mit ihren historischen Bauwerken keineswegs an eine gegenwärtige Stadt erinnert. Neben der farblichen Gestaltung verdeckt auch der gewählte perspektivische Ausschnitt auf die Stadt gewissermaßen all jene Elemente, die dem modernen Istanbul zugeschrieben werden: etwa die Bosporusbrücke, der stockende Automobilverkehr, die neuen Geschäftsviertel, die Menschenmassen, die weiten Boulevards etc. Der stärker verdichtete Stadtraum, der sich im rechten Bildhintergrund befindet, wird von der historischen Halbinsel verdeckt. Das Bild verweist damit ausschließlich auf das geschichtliche Istanbul. Anders verhält es sich beim Bildtext. Dieser erwähnt, dass die abgebildete Stadt »further« durch »contemporary art and urban culture« inspiriert. Damit fügt der Bildtext der bildlich inszenierten Historizität Istanbuls moderne Eigenschaften hinzu. Nicht nur das pittoreske und die Schätze des vergangenen Istanbuls sollen inspirieren, sondern auch das gegenwärtige. Dieser Kontrast zwischen Bild und Bildtext wird von dem zweiten Beziehungspaar (Logo und Slogan) ›vereinigt‹. Stilistisch verbinden beide Textsegmente, wie zuvor ausgeführt wurde, Geschichte und Gegenwart bzw. Tradition und Modernität. So ist der Schrifttyp des Slogans »istanbul inspirations« ein Gemisch aus geradlinigen (modernen) und verschnörkelten, kaligrafieartigen

15 Mitchell versteht unter Image-text Relation zwischen Visuellem und Sprachlichem. Neben der Formation Image-text verwendet Mitchell die Konstellationen image/text (unüberbrückbare Differenz zwischen Bild und Text) sowie imagetext (synthetische Bedeutungsentstehung zwischen Bild und Text).

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Elementen. Außerdem werden im Logo traditionelle Elemente (Rundbögen die auf Religion verweisen) und ein moderner Schrifttyp vereint. Das Logo im linken unteren Bildrand und der Slogan im Eck rechts unten runden die Gesamtkomposition ab. Aufgrund ihrer Position konstruieren sie den Rahmen und durch ihre Stilelemente (modern/traditionell) lösen sie einen in der oberen Bildhälfte konstruierten Kontrast bzw. Widerspruch auf. Durch dieses Gestaltungsprinzip wird ein einheitliches Ganzes erzeugt. Istanbul, so das Gesamtbild, ist eine geschichtsträchtige und moderne Stadt. Letzteres kommt bei der flüchtigen Bildbetrachtung jedoch kaum zum Ausdruck. Dennoch wird das Bild durch das Gestaltungsprinzip nicht widersprüchlich wahrgenommen sondern kongruent erfasst. Rekonstruktion des Entstehungsund Gebrauchszusammenhangs Das vorliegende Stadtbild ist Teil der internationalen Werbekampagne, die im Rahmen des Europäischen Kulturhauptstadtjahres von der Istanbul 2010 European Capital of Culture Agency in Auftrag gegeben wurde. Der deutsche Fotograf Rainer Strattman hatte das Bild, oder besser die Bilder, aufgenommen. Mehr als 50 Standorte wurden aufgesucht, um die geeignete Perspektive zu finden. Schließlich wurde es von Salacak Hill, einer leichten Anhöhe auf der anatolischen Seite der Stadt, aufgenommen. Bei dem Werbebild handelt es sich um eine aufwendige Collage, die aus 30 Fotos zusammengesetzt wurde. Der Bildbearbeitungsprozess dauerte drei Wochen. Dabei wurden Baukräne und andere ›störenden‹ Elemente durch Grünflächen ersetzt (Istanbul_Magazine 2010: 56). Das Motto der Kampagne lautet »the most inspiring city in the world«. Für die Umsetzung der (internationalen) Kampagne war die Agentur RPM Radar zuständig16. Paul McMillen, CEO der Agentur, verfolgte die Umsetzung mit starkem, persönlichem Interesse, wie einem Interview zu entnehmen ist, auf welches im Anschluss noch genauer eingegangen wird. Das Bild war an verschiedenen Plätzen, Einkaufsstraßen und Gateways (Flughäfen, Bahnhöfen, Metrostationen, etc.) in Städten wie London, Paris, Venedig, Madrid, Berlin, Frankfurt, etc. auf großformatigen Bannern zu sehen17. Ebenfalls wurde es in

16 Insgesamt wurde das Kulturhauptstadtjahr von drei Werbeagenturen begleitet: RPM Radar (internationale Kampagne), Ajans Ultra (nationale Kampagne) und Dentsu (spezialisiert auf Sprache und Text der Kampagnen) (Interview). 17 Diese sowie folgende Informationen zur Zielgruppe, Zielsetzung und Umsetzung bekam ich durch ein Interview mit der Leiterin der Tourismus- und Promotion-

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verschiedenen europäischen Tageszeitungen annonciert. In Deutschland waren dies beispielsweise Die Welt, die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche Zeitung. Außerdem war die Kampagne auf Webportalen (etwa GMX.de, TimeOut NY, Lonely Planet, etc.) sowie in speziellen Magazinen wie Time, Geo, National Geographics, etc. präsent. Insgesamt wurde die Kampagne in 14 verschiedenen Sprachen umgesetzt und in 16 Ländern beworben. Wichtige Bühnen waren nicht nur Magazine sondern auch internationale Messen. Zielgruppe, Zielsetzung und Umsetzung Als internationale Zielgruppe sollen Kunst- und Kulturbegeisterte, Kreative, Studenten, Opinion Leaders und Decision makers, Wissenschaftler und Pensionisten adressiert werden. Ihr Profil wird wie folgt umrissen: »highly educated, middle or higher income level, frequent travelers, people who are interested in experiencing local tastes, with an intention to gather new information and experiences to satisfy their cultural needs«. Es wird deutlich, dass die Kampagne nicht gerade breit angelegt ist, sondern vielmehr ein sehr spezielles Segment ansprechen soll. Interessant ist, dass derart direkt angesprochen wird, dass es sich auch um Personen handeln soll, die sich inspirieren lassen. Neben der Zielsetzung, ein bestimmtes touristisches Segment zu erreichen, ist ein weiterer formulierter Anspruch der Kommunikationsstrategie, das Ansehen der Türkei in der Europäischen Union zu erhöhen und eine positive Haltung zum EU-Beitritt zu schaffen: »Helping to develop a positive public opinion about Turkey’s accession to European Union«. Der Ton der Werbekampagne soll: »contemporary, self-confident, sophisticated and surprising« wirken. Das Selbstbewusstsein wurde im Bild vor allem durch die zahlreichen Machtdarstellungen deutlich. Überraschend ist das Werbebild vor allem durch den starken Vergangenheitsbezug: eine Reise nach Istanbul ist wie ein Schritt in eine Zeitmaschine, die Geschichte erfahrbar macht. Der hohe Anspruch kommt sowohl durch das Werbebild (etwa: »most inspiring city of the world«) als auch durch das definierte Zielsegment (siehe oben) zum Ausdruck. Was jedoch verwundert ist, dass man mittels dieser Kampagne ›gegenwärtig‹ wirken will, denn dies kommt, bis auf kleine Details, kaum zum Ausdruck.

Abteilung der Istanbul 2010 ECOC Agency und durch eine PowerPoint Präsentation (Titel: »International Communications«), die mir nach dem Interview mitgegeben wurde.

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Darüber, was dem internationalen Publikum von Istanbul gezeigt werden sollte, bestand kein Zweifel und auch die Bedeutung des Ikons wurde von den Machern sehr hoch eingeschätzt. Auf die Frage, ob die Inszenierung der geschichtsträchtigen Halbinsel der Stadt von vornherein feststand, antwortet Paul McMillen in einem Interview: »We had no doubts at all. This is what makes it (Istanbul) incomparable. In Venice, artists choose to iconize the Grand Canal, and now it is a must-see if you go to Venice. That is a result of that iconic photograph« (Istanbul_Magazine 2010: 54). Neben der Übereinstimmung, dass es sich um die Halbinsel handeln muss und der Gewissheit über die Relevanz, die dieses Bild haben wird, ist ebenfalls die Anlehnung an die künstlerische Darstellung der Wasserfront von Venedig auffallend. Sie zeigt, dass die zuvor erkannten Analogien zu geschichtlichen Stadtdarstellungen, keineswegs zufällig im Bild präsent sind. Bekräftigt wird die intentionale gemäldehafte Stilisierung ebenfalls durch die Ausführungen von Paul McMillen zur farblichen Gestaltung des Bildes: »If you pay close attention to the photos of Manhattan and London, they are both romantic and gloomy. Their most familiar photos are black and white, taken during the Second World War. Surely we have some by Ara Güler. We wanted the colour to chime in with the eight thousand years of history« (ebd.).

Durch die farbige Gestaltung (malerische Töne) soll auf die lange Vergangenheit Bezug genommen werden (»to chime in with the eight thousand years of history«). Istanbuls Weg zur Moderne wurde von keinem anderen Fotografen so intensiv dokumentiert wie von Ara Güler. Dieser fotografiert(e) ausschließlich in schwarz-weiß und die visuelle Vorstellung der Istanbuler Bevölkerung von dieser Periode ihrer Stadt ist damit schwarz-weiß grundiert18. Die farbliche Gestaltung ist eine eindeutige Abgrenzung zu der, durch Schwarz-Weiß-Bilder geprägten jüngeren Vergangenheit der Stadt. D.h. jedoch nicht, dass nun das gegenwärtige, postmoderne Istanbul präsentiert werden soll. Vielmehr wird ein noch viel weiter zurückliegendes Istanbul als gegenwärtig stilisiert. Das Osmanische Reich, worauf im Weiteren detailliert eingegangen werden wird. Lediglich durch das Medium der (Farb-)Fotografie wird ein Bezug zur unmittelbaren Vergangenheit hergestellt: Es wird suggeriert, dass es sich um ein fotografisches Dokument einer gegenwärtigen Stadt handelt: Istanbul 2010.

18 Fotos von Ara Güler konnten während des Feldforschungsaufenthaltes in zahlreichen Haushalten, öffentlichen Cafés (zu erwähnen ist auch sein eigenes Café, das Ara Café, in Beyoglu), Postkarten, Ausstellungen und in Magazinen gesehen werden.

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Über lange Zeit wurden in theoretischen Debatten die ikonischen Aspekte der Fotografie – d.h. die bildimmanente Wirklichkeit – zugunsten ihrer Zeichenfunktion vernachlässigt (vgl. Blunck 2010: 12). So hebt Charles S. Peirce die indexikalische Qualität fotografischer Artefakte hervor indem er schreibt: »Photographien (...) sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen« (Peirce 2000: 193). Auch Roland Barthes unterstreicht die Qualität der Fotografie, ein tatsächlich »Dagewesenes« zu repräsentieren. »›Photographischen Referenten‹ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild (...) verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objekt platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe« (Barthes 1989: 86; Hervorh. i.O.). Es geht in der hier vorgelegten Analyse nicht darum, die indexikalische und ikonische Qualität der Fotografie sowie ihr Zusammenspiel zu diskutieren. Vielmehr soll durch diese Überlegungen bewusst werden, dass es in dem hier vorgestellten Bild um eine bildimmanente Konstruktion einer real gegenwärtigen historischen – man könnte fast sagen ›vergangenen‹ – Stadt geht. Besonders deutlich wurde dies durch die immer wieder gestellte Frage, ob es sich um eine Fotografie (Index/Abbild) oder eine Malerei (Interpretation/Fiktion) handelt. Reflexion der politischen Auseinandersetzungen Die Initiative zur Bewerbung zum Kulturhauptstadtjahr wurde von einer Reihe unabhängiger Organisationen und Personen aus dem Kulturbereich angestoßen. Auch im Bewerbungskonzept wurde die partizipative und demokratische Umsetzung des Kulturhauptstadtjahres stark gemacht. Als die offizielle Organisation Istanbul 2010 ECOC Agency 2007 gegründet wurde, kam es zu einer Veränderung der Ausrichtung. Oguz Öner beschreibt die strukturelle Umgestaltung, die mit der Gründung der offiziellen Agentur einherging, mit einem Wechsel von »participation to transform« zu einer »participation to legitimize« (vgl. Öner 2010). Mittels ersterer Beteiligung wird Veränderung angestrebt, während mit letzterer lediglich die vorhandene politische Linie legitimiert und ohnehin geplante Projekte durchgesetzt werden sollen. »The law that enabled the establishment of the Agency called for a strictly bureaucratic and hierarchical structure, directly connected to the Office of the Prime Minister. (...) Decision-making slowly shifted from the actors representing civic bodies to the governmental authorities; the decisions about which projects to fund were increasingly made by the governmental representatives« (Öner 2010: 270).

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Auch die neuesten wissenschaftlichen Publikationen zum Kulturhauptstadtjahr Istanbuls kommen zum selben Befund: »Der partizipatorische Ansatz war zwar ausschlaggebend für die Bewilligung von Istanbuls Antrag als ›Europäische Kulturhauptstadt 2010‹, in der Ausführung verschob sich aber das Gewicht von bottom up zu top down« (Göktürk 2012: 232; Hervorh. i.O.). Während Öner und Göktürk auf die strukturellen Veränderungen verweisen, diagnostiziert Carola Hein einen damit verbundenen Wandel der inhaltlichen Ausrichtung: Während die Bewerbungsdokumente die Integration und Interaktion verschiedener Bevölkerungsgruppen hochhielten, ging es schließlich vorherrschend um die Restaurierung kultureller Bauten: »The shift in emphasis is also reflected in the catalog of projects, which starts by emphasizing the restoration of major historic buildings, such as mosques, palaces, madrasas, and the city walls. These projects, as Yilmaz Kurt, Secretary General of the 2010 ECoC Agency asserts in his introduction, show that ›Istanbul is a great capital of culture and civilization‹ and that the projects listed in the ›program book will serve as the solid evidence of this fact‹« (Hein 2010: 262).

Durch die Analysen dieser Autoren wird klar, dass es bei der Umsetzung des Programms für das Jahr 2010 eine starke Einflussnahme seitens der Politik gab. Es ist nicht auszuschließen, dass ebenfalls bei der Gestaltung der Werbekampagnen politische Ideologien bedacht wurden. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit und die Ausblendung der Gegenwart Mit diesem Hintergrundwissen zum Entstehungszusammenhang wollen wir uns wieder dem Bildgegenstand zuwenden. Durch die Analyse konnte gezeigt werden, dass es im Bild um die Darstellung Istanbuls als eine geschichtsträchtige und bedeutende Stadt geht. Das Bild versetzt die Betrachterin in eine vergangene Zeit. Durch die Textbotschaft wird jedoch klar, dass das Bild die Stadt zeigen soll, wie sie gegenwärtig ist. Das lässt die Betrachterin staunen. Es ist kaum zu glauben, dass solche geschichtlichen Schätze, solch eine Vegetation und solch ein malerischer und sakraler Himmel gegenwärtig erfahrbar sind. Die Einladung lautet jedoch »Be part of this unique experience«. Moderne Elemente Istanbuls werden durch diese Perspektive auf die Stadt systematisch verdeckt. In diesem Zusammenhang kann eine Beobachtung von Anselm Strauss eingeführt werden, der Stadtfotos amerikanischer Städte untersuchte und die Darstellung der Stadt aus dem flächigen Panorama wie folgt beschrieb:

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»(…) these panoramic views serve as masks. They achieve the simplification and impose the limitations which come from looking at a façade. They blot out what lies behind, or invite the viewer to disregard it, in favor of the interpretations presented by the façade itself« (Strauss 1961: 11).

Die vierzehn Millionen Einwohner zählende Stadt Istanbul ist in ihrer räumlichen Dichte lediglich in einem kleinen Ausschnitt im Bildhintergrund zu sehen. Die Stadt (als Ganzes) wird gewissermaßen, so der analytische Eindruck bei der Betrachtung des Bildes, von der Halbinsel verdeckt (die anatolische Seite der Stadt ist gänzlich ausgeblendet) und als kompakte Einheit stilisiert. Der gewählte Ausschnitt ist zwar ein sehr geeigneter Ikon, der die Stadt repräsentiert (die meisten Betrachter werden bei dieser Silhouette sofort an Istanbul denken), er zeigt sie jedoch (zumindest aus dieser speziellen Perspektive) nur anhand einiger bestimmter Facetten. Dass hier einiges ausgelassen wurde, was das gegenwärtige Istanbul kennzeichnet, ist auch den Machern der Kampagne bewusst. Auf die Frage, ob die Stadt dem internationalen Publikum während des Kulturhauptstadtjahres noch durch andere Bilder präsentiert werden wird, antwortet Paul McMillen: »For the time being, we do not reflect the modern face of Turkey and of Istanbul. (...) We considered including our modern, young and developing features in the movie. The peninsula is our first icon; we are thinking of others. This will be the main icon, and others will be added later on.« (Istanbul 2010 Magazine: 55)

»The modern face of Istanbul« wird mittels eines Filmes bzw. durch weitere zusätzliche Bilder dargestellt werden. Klar ist jedoch – aus der Sicht der Macher der Kampagne – dass es sich bei dem analysierten Bild um den zentralen Ikon der Stadt handelt. Das wird auch in der Bilderläuterung auf der Website der Istanbul ECOC Agency festgehalten: »›Istanbul... The most inspiring city in the world‹. The motto of Istanbul 2010 European Capital of Culture’s promotion campaign is accompanied with this equally and uniquely inspiring picture of Istanbul’s Historical Peninsula. Beautifully representing the iconic silhouette of the city, this picture also captures Istanbul’s spirit in an unrivaled way.«19 (Hervorh. JM)

19 Quelle: http://www.en.istanbul2010.org/SILHOUETTEHISTORICALPENINSULA/ index.htm (2010-09-14).

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Bei der flüchtigen Betrachtung wirkt das Bild harmonisch und kongruent. Man kann das Bild jedoch von zwei Seiten betrachten20. Entweder man nimmt es als eine eindeutige zur Schaustellung von Macht (islamischer bzw. osmanischer Herrschaft) wahr, oder man betrachtet es mit einem melancholischen Blick und sieht vor allem die Schönheit (bzw. eine romantisierende Exotik) einer vergangen geglaubten Zeit. Im Folgenden werden die möglichen Betrachtungsweisen (die sich gegenseitig auch nicht ausschließen) mit den Begriffen der ›imperialistischen Logik‹ und der ›orientalistischen Logik‹ benannt. Diese Verschachtelung, so die Annahme, ist nicht nur eine Strategie (der Werbeagentur, der Auftraggeber der Kampagne, der politischen Führung), sondern hat mit der Selbstwahrnehmung der Stadt (der BewohnerInnen, der städtischen Elite, etc.) zu tun. Auch die ›orientalistische‹ Perspektive, so wird im Weiteren argumentiert, ist nicht lediglich eine Außenperspektive, die die Vorstellungen, die ein internationales Publikum über die Stadt hat, bekräftigen soll. Vielmehr handelt es sich um eine internalisierte Fremdwahrnehmung, die zu einem gewissen Grad zur Selbstbetrachtung wurde. Es ist gerade diese Verschachtelung zweier Logiken, die als Sinnstruktur des Bildes verstanden werden soll – als ein, unterhalb manifester Aussagen operierendes, latentes Strukturprinzip. Stefan Müller-Doohm bezeichnet derlei Strukturprinzipien als »kulturelle Metasprache, die in den symbolischen Gebilden (...) gleichsam unsichtbar spricht« (Müller-Doohm 1997: 93). Die ›imperialistische Logik‹ Zahlreiche Verweise auf die islamische bzw. die osmanische Herrschaft über die Stadt wurden während der Segmentinterpretation im Bild erkannt: angefangen von den Minarettspitzen, über den kaligrafieartigen Schrifttyp im rechten unteren Bildrand, hin zum Logo der Agency, dessen Rundbögen mit den Kuppeln von Moscheen in Verbindung gebracht werden können. Beim Heranzoomen an das Bild fallen zudem weitere Minarettspitzen auf. Außerdem wurde mit dem Bau des Topkapi Palastes kurz nach der Eroberung Konstantinopels (1453) durch Sultan Mehmed II. begonnen. Er ist das weltliche Herrschaftssymbol des Osmanischen Reiches.

20 Dies wurde vor allem auch durch die unterschiedlichen Assoziationen bei der Erstwahrnehmung zwischen mir und meiner Interpretationspartnerin deutlich; siehe Wahrnehmungsprozess.

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Grafik 19: islamisch/osmanische Symbole im Bild

Diese Überrepräsentanz (bzw. die alleinige Stilisierung) von islamischen bzw. osmanischen Machtsymboliken überrascht. Denn in der Geschichte der Stadt lebten verschiedenste Religionen und Nationalitäten zusammen (Griechen, Juden, Armenier etc.): »The inhabitants present a remarkable conglomeration of different races, various nationalities, divers languages, distinctive costumes and conflicting faiths, giving, it is true, a singular interest to what may be termed the human scenery of the city, but rendering impossible any close social cohesion, or the development of a common social life« (van Millingen 1910,8 zit. nach Keyder 1999: 5).

Durch das Bild wird diese Pluralität nicht demonstriert. Die Machtsymbolik geht eindeutig von osmanischen Herrschaftssymbolen aus. Auch wenn bekannt ist, dass das Osmanische Reich von einem kosmopolitischen Flair umhüllt war, das sich durch eine gewisse Toleranz gegenüber anderen Konfessionen auszeichnete, so sah das Millet System gleichzeitig die eindeutige Vormachtstellung des Islams vor. Da die Türkei und insbesondere Istanbul eine Reihe von Modernisierungsprozesse durchlaufen hat fragt man sich, weshalb nun wieder eine ausdrückliche Bezugnahme auf die osmanische Herrschaft stattfindet. Tekeli identifiziert etwa vier Perioden der Modernisierung, die alle unter einer mehr oder weniger starken Ausrichtung auf ›den Westen‹ standen (Tekeli 2010): Während des osmanischen Reiches entschied sich Mahmud II für Reformen, um mit den politischen und ökonomischen Entwicklungen Europas auf dem Rad der Zeit zu bleiben. Tekeli bezeichnet diese Periode als »Shy Moderni-

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ty« (1860-1923), da es sich um einen vorsichtigen Versuch handelte. Man betrachtete die Entwicklungen Europas sowohl mit Argwohn als auch mit Bewunderung. Außerdem war es schwer auf Basis einer imperialen Politik, die stark auf Importe ausgerichtet war, ein freies Unternehmertum zu etablieren und damit auch den Export zu stärken. Mit dem Fall des Osmanischen Reiches Begann die »Radical Modernity« (1923-1950) unter Atatürk. Dabei fand eine radikale Homogenisierung (weniger Toleranz gegenüber Minderheiten als im Millet System des Osmanischen Reiches) und eine Ausrichtung auf den Westen statt (Reform der Sprache, Kleidungsvorschriften etc.). Es kam zu einem enormen Bedeutungsverlust von Istanbul. Das politische Machtzentrum übersiedelte nach Ankara und Istanbul verlor durch die Verdrängung von Minderheiten und der Abschottung von außen das kulturelle und kosmopolitische Flair. Von 1950-1980 stand die Stadt unter einem Mehr-Parteien-System und war geprägt von einer »Populist Modernity«. Es kam zu einer starken Landmigration, die Abgrenzungsversuche innerhalb der Stadtbevölkerung zur Folge hatten (zwei verschiedene »Kulturen« – eine ländliche und eine städtische – trafen aufeinander). Ab dem Militärputsch in den 1980ern kam es zu einer De-Industrialisierung und einer postmodernen Stadtentwicklung (»Erosion of Modernity«). Für die hier angestellte Analyse ist das Jahr 1994 ein zentraler Wendepunkt. Mit der Machtübernahme der religiös-konservativen Partei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) und speziell durch die Figur Tayyip Erdogans kam es zu einer Verschärfung des »nostalgischen Diskurses« (vgl. Bora 1999; Keyder 1999; Stemmler 2009). Dieser Diskurs fand in den 1950ern langsam Eingang in öffentliche Debatten und bekam ab 1994 eine politische Mehrheit. Der symbolische Stellenwert Istanbuls in den geschichtlichen Erzählungen des Islams und eines bestimmten türkischen Nationalismus, der das Osmanische Reich (und nicht die Republik) als wesentlichen Bezugspunkt hat, wird von Bora wie folgt auf den Punkt gebracht: »In the popular historical narrative of both political Islam and Turkish nationalism, Istanbul is promised land. It is believed that had God wanted it, the prophet would have conquered the city; but Mohammed actually did give the good news that a great commander and his soldiers would take the city for Islam. Istanbul thus attains holiness, both because the prophet predicted its conquest and because it served as the capital of the Islamic Ottoman Empire. Istanbul is the Islamic city, the jewel of the Islamic universe« (Bora 1999: 48; Hervorh. i.O.).

Vor allem mit der Gründung der Republik und der darauffolgenden Modernisierung verlor die Stadt, wie in der Fußnote zuvor bereits angesprochen wurde, an

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tatsächlicher (politischer, kultureller, wirtschaftlicher) Bedeutung: »(…) by this time the city had lost most of its cosmopolitan character; it had become simply the primate city of a rather poor and isolated nation-state« (Keyder 1999: 11). Das neue Zentrum war Ankara. Istanbul wurde von der dortigen Elite (die zu Großteilen zuvor in Istanbul beheimatet war) mit Argwohn betrachtet: »as a den of corruption and intrigue with ambivalent allegiance to the nationalist project« (ebd. ). Im islamischen Diskurs verlor die Stadt jedoch über die ›reale‹ Bedeutung hinaus »it’s soul and beauty« (Bora 1999: 48). Bereits seit den 1950ern zweifelten sowohl islamische als auch konservativnationalistische Positionen an der Modernisierung und es wurde von diesen Gruppierungen die Meinung vertreten, dass Istanbul erneut ›erobert‹ werden müsse (vgl. ebd.), damit die Stadt wieder zu dem glänzenden Juwel würde, den sie einmal verkörperte. Schon vor seiner Machtübernahme sprach Tayyip Erdogan in der Hurrieyet (26.12.93) über die zweite ›Eroberung‹ der Stadt (»second taking of Istanbul«) (vgl. ebd.). Die durch die Modernisierungsprozesse angestoßenen Veränderungen der Stadt wurden von konservativen Positionen als erneute Vereinnahmung des Westens gedeutet. Dem sollte nun (seit der Machtübernahme Erdogans) ein symbolisches Ende bereitet werden. Nicht nur der Stadtbevölkerung, sondern auch den Touristen sollte dieser, milde formuliert, Wandel vor Augen geführt werden. Um die Identität Istanbuls als ›islamische Stadt‹ zu stärken wurde von Erdogan der Bau einer Moschee und eines islamischen Kulturzentrums im »modernen« Teil der Stadt (Taksim) entschieden und wie folgt argumentiert: »This is the point of attraction of Istanbul’s tourism. The person who comes here should be able to tell that he has arrived in an Islamic city ... As we succeed in uncovering the historical and cultural texture of our city, its Muslim character will become apparent to the visitor.« (Erdogan 1994 zit. nach Bora 1999: 49).

Dabei wird der kulturelle Pluralismus der Stadt durchaus (an strategischen Stellen) gerühmt. So fasst Göktürk die Rede Erdogans zur Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres 2010 wie folgt zusammen: »In Istanbul, so Erdogan, kreuzten sich Wege aus allen Richtungen, hier verschmölzen die Kulturen, Zivilisationen und Rassen. Istanbul reflektiere die Melodien, Geschmäcker und Farben aus fünf Kontinenten, gleichzeitig sei Istanbul so einzigartig, dass diese Stadt für Städte auf fünf Kontinenten zur Inspirationsquelle werden können. Moscheen Kirchen und Synagogen existieren hier friedlich und tolerant nebeneinander im selben Viertel.

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Selbstbewusst adressierte diese Rede ein inländisches und ausländisches Publikum« (Göktürk 2012: 231).

Wichtig scheint der konservativen politischen Elite lediglich die eindeutige Demonstration der islamischen Vormachtstellung zu sein: »the extrolling of pluralism under Islamic hegemony« (Bora 1999: 50). Dass unter der gegenwärtigen politischen Elite eine Synthese zwischen Modernität und Traditionalität bzw. zwischen den geografischen Dichotomien Ost und West möglich ist, kann darin gesehen werden, dass der Global-City-Status unter allen Akteuren außer Frage steht. »The seduction of world-city status articulates with imperial dreams and grandeur and becomes an element of Islamic-nationalist rhetoric« (ebd.: 57f). Die ›orientalistische Logik‹ Auch eine zweite, etwas differente Wahrnehmung des Bildes ist möglich. Neben den visualisierten Machtsymboliken, ruft das Bild märchenhafte und stimmungsvolle Assoziationen hervor. Man hat das Gefühl, in eine vergangene Zeit zurückversetzt zu sein und in eine ›andere Welt‹ einzutauchen. Diese Perspektive soll, wie schon einleitend erwähnt, als ›orientalistische Logik‹ bezeichnet und daraufhin untersucht werden, ob und wie sich die Istanbuler Bevölkerung selbst mit dem westlichen Blick der »otherisation« (Eldem 2010) wahrnimmt – denn, wenn man das hier analysierte Genre der Werbung ernst nimmt (siehe dazu das Kapitel Werbeinhaltsforschung als Gesellschaftsanalyse), müsste es sich bei dieser Form der Darstellung der Stadt auch um eine Selbstbeschreibung handeln, die nicht völlig beliebig von einer städtischen Elite geformt werden kann, sondern ebenfalls mit lokalen Konventionen operiert. Nun muss zu allererst festgehalten werden, dass die Osmanen vielfach Zielscheibe orientalistischer Zuschreibungen waren, »a Western intellectual construct of essentialist otherisation« (Eldem 2010: 27). Abgesehen davon, ob positive oder negative Attribute zugewiesen wurden, ging es um die Konstruktion eines absoluten Anderen. Orientalistische Zuschreibungen kennzeichneten eine Hassliebe und schwankten zwischen Bewunderung und Abscheu. »Ottomans were barbarians who had to civilise (Renan), but their aping of the West meant the destruction of their exotic and somewhat noble self (Loti). Damned if you do, damned if you don’t« (ebd.: 27). Vor allem während der Modernisierungsprozesse seit 1923 (»Radical Modernity«: 1923-1950, und »Populist Modernity« 1950-1980: siehe Tekeli 2010) grenzte sich die türkische Elite von den vom Westen auf die Osmanen projizierten Attributen ab, in dem man diese auf spezifische ethnische und religiöse

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Gruppen der Türkei (Araber, Kurden, Beduinen, ...) übertrug und westliche Standards für sich selbst beanspruchte. Sehr markant sind diese internen Abgrenzungsversuche anhand der Comiczeichnungen in Zeitschriften und Magazinen Istanbuls zu erkennen (Öncü 1999). Eine Figur ist etwa der ›Haciaga‹. Diese zielt auf die nach Istanbul gezogene, religiöse und mit gewissem ökonomischen Wohlstand ausgestattete Landbevölkerung, die nicht weiß, wie sie mit ihrem Vermögen im urbanen Raum umgehen soll. Ein weiteres Sujet vieler Comiczeichner ist die Geschmacksvermischung der arabesken Kultur, die mit Augenzwinkern belächelt wird. Mit der Entstehung des oben beschriebenen ›nostalgischen Diskurses‹, der unter anderem auf ein neu aufkommendes Selbstbewusstsein religiöskonservativer Kreise zurückzuführen ist, wurden Symboliken der osmanischen Kultur wieder reaktiviert. Zunächst wurde im touristischen Bereich erneut mit vergangenen Zuschreibungen geworben, da internationale Besucher gewisse Erwartungen an eine ›orientalische Stadt‹ hatten: »The main external challenge took the form of tourism and its expectation of an Oriental appeal rather than a show of peripheral modernity« (Eldem 2010: 29). Nachdem der westliche Blick derart internalisiert wurde, dass man sich von dem vom Westen zugeschriebenen ›Eigenen‹ distanzierte und diese ›orientalischen‹ Eigenschaften auf andere übertrug und schließlich anfing diese zugeschriebenen Charakteristiken an Touristen (d.h. nach außen) zu vermarkten, werden gegenwärtig einige dieser konstruierten Zuschreibungen wieder mit Stolz getragen. Man fing an, dieselbe Exotik zu konsumieren; eine Form postmoderner »self-exoticisation« (ebd.: 31). Diese Verstrickung der Zuschreibungen von außen und der eigenen Selbstwahrnehmung der Istanbuler Elite, wird in Orhan Pamuks Werk ›Istanbul: Erinnerungen an eine Stadt‹ zum Ausdruck gebracht. In seinem Buch finden sich zahlreiche intertextuelle Verweise auf Schilderungen der Stadt aus der Sicht europäischer Schriftsteller und Reisender (etwa Gérard de Nerval, Gustave Flaubert, Théophile Gautier und Pierre Loti). Diese vermischen sich mit den Darstellungen Istanbuler Literaten (Yahya Kemal, Ahmet Rasim, Resat Ekrem Kocu) den Diskussionen des innerstädtischen Diskurses und eigenen autobiographischen Erfahrungen. Die Auswirkungen der Modernisierungsprozesse werden von Pamuk im selben Atemzug kritisiert wie die Re-Islamisierung. So beschreibt er mit einem »wehmütigen« (nostalgischen Blick) wie die Kopfsteinpflaster mit Asphalt überzogen werden, die alten Holzhäuser (Konaks) abgerissen und moderne Wohnhäuser errichtet werden, armenische oder griechische Läden verschwanden, Straßennahmen türkisiert wurden etc. (vgl. Pamuk 2008; Stemmler 2009: 294). Pamuk kommt zum Schluss, dass die Außenperspektive

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europäischer Reisender (Schriftsteller und Maler) die Selbstwahrnehmung der Istanbuler stark beeinflusste und er gar mit ihren Augen auf seine Stadt blickt: »Tatsache ist, daß wir alle einen teils verborgenen, teils offen lesbaren Text im Kopf haben, der allem was wir tun und lassen irgendwie einen Sinn verleiht. Und in diesem Text nimmt das, was westliche Beobachter über uns sagen, breiten Raum ein. (...) Und wenn ich das Gefühl habe, daß gerade keine westlichen Augen auf mir ruhen, werde ich eben selbst zu meinem eigenen Westler« (Pamuk 2008: 327f).

Nun blicken die von Pamuk rezipierten europäischen Autoren mit einem melancholischen Blick auf die Stadt. Was sie an ihr lieben ist die von Modernisierungsprozessen verschont gebliebene Stadt. Die Inspiration, die sie in der Stadt finden, ist jene, die sie zeitlich zurückversetzt und an den Geschichten, die über diese andere Welt erzählt werden, anschließt. Vor allem Pierre Loti, klagt über die Gefahr des Verlustes des pittoresken Orients, einer der modernen weichenden alten Türkei (Stemmler 2009: 297). Die Melancholie entsteht durch diese im Verschwinden begriffene Schönheit. »Der Reiz, den der ›Orient‹ ausstrahlt, ist immer der vergangene. Dem Anderen wird im Betrachten eine Zeitstelle zugewiesen; noch ist es da, und wenn man es nicht mit dem eigenen Blick einfängt, dann droht es zu verschwinden. Das Verschwinden des Anderen ist aber geradezu die Bedingung für den visuellen und körperlichen Genuss« (ebd.: 296).

Und genau diese ›orientalisierende Melancholie‹ wird durch das analysierte Werbebild konstruiert und schafft dadurch seinen Reiz sowohl für das internationale Publikum als auch für die Istanbuler Bevölkerung. Durch das gewählte Medium der (einer Malerei ähnelnden) Fotografie, wird dieser Akt des Verschwindens nochmals verstärkt. Roland Barthes bringt das Artefakt des Fotos sogar mit dem Tod in Verbindung (vgl. Barthes 1989: 106). Er verweist darauf, dass fotografische Dokumente über »das, was gewesen ist« Auskunft geben (ebd.: 95). Folgt man Barthes so ist, mit den Worten Därmanns, der »Verdacht auf Verfall respektive das Bewusstsein der Sterblichkeit« konstitutiv für den Akt des Fotografierens (Därmann zit. nach Stemmler 2009: 296). Das Bild deutet darauf hin, dass religiöse Macht, wie in Zeiten des Osmanischen Reiches, eng mit der politischen Führung verbunden ist. Das weltliche Herrschaftszentrum (Topkapi Palast) wird von beiden Seiten von Moscheen umstellt. Durch die Analyse wurde eine eindeutige Visualisierung hegemonialer Machtansprüche erkannt. Mit Verweis auf Aussagen der gegenwärtigen politischen Führung und mit Einbezug kritischer Evaluationen des Kulturhauptstadt-

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jahres, die eine starke Einflussnahme des Ministeriums bei der Gestaltung der Kampagnen konstatierten, wurde bemerkt, dass im Bild mitunter eine ›Wiedereroberung‹ Istanbuls zur Schau gestellt werden soll. Wie weit man mit solchen Einschätzungen auch gehen mag, klar am Bild erkennbar ist ein Bruch mit jenen Modernisierungsbestrebungen, die sich vom Osmanischen Reich abgrenzten (Gründung der Republik bis ca. 1980) und eine eindeutige Wiederbelebung der ›Belle Epoque‹ (Fuhrmann 2010: 19) als Istanbul noch Empire war. Diese Rückbesinnung ist auch, wie im Text an mehreren Stellen erwähnt wurde, an einem stärker werdenden nostalgischen Diskurs in Istanbul erkennbar (vgl. Bora 1999: 49). Wie stark auch immer die konservative politische Führung auf diese Selbstdarstellung einwirkte, es ist anzunehmen, dass Istanbul von vielen Akteuren aus Kunst und Kultur eher mit modernen Attributen visualisiert worden wäre. An einzelnen Details des Gesamtbildes (Bildtext, Logo, Slogan) wurden diese auch identifiziert. Daraus lässt sich schließen, dass man bei der Darstellung Istanbuls nicht ohne Bezug auf ihre modernen Eigenschaften auskommt. Eine Stadtmarketingkampagne funktioniert nicht, wenn man das ›Eigene‹ gänzlich durch ein ›Anderes‹ überlagert. Anders formuliert: Man muss, bis zu einem gewissen Grad, auf die städtische Realität Bezug nehmen und kann nicht eine völlig andere Stadt darstellen. Neben dieser ›imperialistischen Logik‹ (der Zuschaustellung von hegemonialer Macht) spiegelt sich gleichzeitig ein pittoresker, im Verschwinden begriffener Orient. Es wurde in der Analyse nachgezeichnet, wie orientalistische Zuschreibungen internalisiert und zur Selbstdarstellung herangezogen werden können. Da sich das Bild vor allem an ein internationales Publikum richtet ist klar, dass eine alleinige Herrschaft- bzw. Machtsymbolik die Zielgruppe abschrecken würde. Das Bild lässt sich deshalb auch von einer zweiten Perspektive betrachten. Touristen, so lässt sich vermuten, sehen das Bild eher weniger kritisch und verknüpfen die sakrale Machtsymbolik mit Inspiration. Durch die Betrachtung des Bildes aus der ›westlichen Perspektive‹ wirkt die imperialistische Darstellung eher latent, obwohl sie so offensichtlich zur Schau gestellt wird. Und auch kritische Stimmen aus der Istanbuler Bevölkerung, so kann vermutet werden (und wurde z.T. mit Bezug auf ein Werk des Schriftstellers Orhan Pamuk veranschaulicht), lassen sich von der Schönheit des Bildes und seiner melancholischen Grundstimmung fesseln. Bezeichnend für die Funktionsweise des Bildes ist, dass in es sowohl eine imperialistische (islamische) Machtsymbolik als auch eine orientalistische Logik eingeschrieben ist. Argumentativ tun sich dabei unzählige Widersprüche auf. Wie operiert etwa eine mehr oder weniger bewusst inszenierte Machtsymbolik mit dem starken Vergangenheitsbezug? Es ist etwa klar, dass der Topkapi Palast

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(nur) ein Museum ist, eine touristische Attraktion und keineswegs ein gegenwärtiges Zentrum politischer Macht. Auch durch die melancholische Note wird die zur Schau gestellte Macht fragwürdig. So glaubt man kaum, dass ein derartiges Reich noch existieren kann, und wenn es dieses noch gibt, wie das Foto suggeriert, dann ist es im Verschwinden begriffen. Es kann sich nicht länger halten, so der ›westliche Betrachter‹, da die Welt heute nach anderen Regeln funktioniert. Die Machtsymbolik kann dementsprechend kippen und es ist keineswegs sicher, ob sie sich durchsetzt. Daran ändert auch ihre stark ausgeprägte Stilisierung nichts. Die Strukturlogik des Bildes ist eine ›imperialistische Darstellung‹ Istanbuls die sich klar von den Modernisierungsprozessen seit der Gründung der Republik abgrenzt. In dem Rückblick auf die Zeiten des Osmanischen Reiches sind jedoch auch vom Westen zugeschriebene Attribute eingeschrieben (ob negativ: rückständig oder positiv: inspirierend, pittoresk). Die Widersprüchlichkeit dieser Verschachtelung steckt darin, dass man sich abgrenzt (imperialistische Darstellung) und gleichzeitig schon wieder vereinnahmt ist (orientalistische Darstellung). Das Bild schafft es, durch diese inhärente Widersprüchlichkeit zugleich die lokale Verbundenheit zu stärken und globale Neugier zu erwecken. Damit wird das bildspezifische Potenzial genutzt Gegensätzliches kongruent erscheinen zu lassen (Bohnsack 2009) und damit eine enorme Geschehensdichte aufzubauen (Imdahl 1994). Zuletzt konnte durch die Analyse gezeigt werden, dass sich selbst in einem vom Stadtmarketing konstruierten Bild der Stadt, das an Inszenierungsgrad nicht mehr zu übertreffen ist und eine exakt definierte, internationale Zielgruppe adressiert, lokale Besonderheiten widerspiegeln.

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K ULTURHAUPTSTADTJAHR

Visuelle Kontraste

Abbildung 23: Bildmotiv der nationalen Werbekampagne. ECoC-Agency 2010.

Während das zuvor interpretierte Werbesujet sich an ein internationales Zielpublikum richtete, adressiert dieses Bild explizit die Bewohnerinnen Istanbuls. Gleichzeitig wurde es (sowie zwei weitere Motive) in der gesamten Türkei verbreitet. Es war auf Hotelbuchungsplattformen zu sehen, in Tageszeitungen inseriert und an ›gateways‹ wie Bahnhöfen, Busstationen etc. angebracht und sollte dementsprechend auch nationale Touristen in die Stadt locken. Wir folgen zunächst meiner Wahrnehmung und den Eindrücken die ich als Außenstehender – d.h. jemand der nicht in dieser Stadt wohnt und die türkische Sprache nicht beherrscht – hatte. Zuerst erfasste mein Blick das gelbe, beleuchtete, alte Gebäude mit der Uhr auf dem Dach, welches sich links, etwas oberhalb der Bildmitte, befindet. Danach erkannte ich den Platz vor dem Gebäude in der Bildmitte. Ich konnte den Platz nicht wirklich einordnen: handelt es sich um eine Verkehrsinsel, um einen Busparkplatz, oder ist es ein Platz, der auch dem Verweilen dient? Dies würde meines Erachtens besser zu dem historischen Gebäude passen, jedoch konnte ich keine Verweilmöglichkeiten wie Sitzbänke erkennen. Ich nahm den Platz als belebt und hektisch war. Dieser Eindruck wurde durch

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die bewegungsunscharfen Busse und Fahrzeuge sowie wegen der vielen Menschen ausgelöst. Von dem Platz wanderte mein Blick zu den Häusern rechts im Bild. Das hohe Gebäude stufte ich als Hotel ein und jene Häuser, die sich weiter im Hintergrund befinden als Wohnblocks. Das Logo auf dem Hotel habe ich dabei noch nicht wahrgenommen. Anschließend erkannte ich das Monument unterhalb des Hotels und die Grünfläche am unteren Bildrand. Letztere machte auf mich einen gepflegten und repräsentativen Eindruck. Außerdem bemerkte ich, dass es auf diesem Platz wiederum keine dafür vorgesehenen Gelegenheiten zum Sitzen gibt, die Umzäunung der Grünfläche jedoch als Sitzbank verwendet wird. Nachdem ich die untere Hälfte des Bildes mit den vielen Details überflogen hatte, erkannte ich den Himmel und den großgeschriebenen türkischen Schriftzug, wobei ich zunächst nur das Wort Istanbul erfasste. Als letztes fiel mir der kleingeschriebene Text auf, welchen ich nicht las (da ich ihn nicht verstehen konnte) und das Logo auf dem Gebäude, das ich zuvor noch nicht identifiziert hatte. Ausschlaggebend bei meiner Erstwahrnehmung war der hektische Platz in der Bildmitte. Das Hektische hatte dabei eine eher negative Konnotation, die ich mit Verkehr, schlechter Luft, Lärm und Chaos verband und weniger mit einem regen urbanen Treiben. Da ich den Text nicht verstand galt meine Aufmerksamkeit den visuellen Elementen. Durch den Bildtext erkannte ich jedoch, dass sich dieses Bild an eine türkischsprachige Zielgruppe richtet und dass hier die Stadt Istanbul präsentiert werden soll. Die Wahrnehmung des Bildes ändert sich fundamental, wenn man die präsentierte Stadt kennt und den Bildtext versteht. Die Diskrepanz der Blicke – der Außenperspektive und der Wahrnehmung der Stadtbewohnerinnen – wird nach Aufschlüsselung des türkischen Textes evident werden. Perspektivisch wird das frontal abgebildete Gebäude fokussiert. Es steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, weshalb es auch als erstes wahrgenommen wurde. Im Wesentlichen lassen sich vier Bildebenen identifizieren: 1) Das Monument mit dem kreisförmigen Platz im Bildvordergrund. 2) Der Platz in der Bildmitte, der von Straßen eingezäunt wird und das Hotel am rechten Bildrand. 3) Das gelbe Gebäude und die Wohnhäuser rechts davon. 4) Der Himmel und der Hügel, der links neben dem gelben Gebäude hervorsticht. Was bei der eingehenden Betrachtung auffällt ist, dass das gelbe Gebäude sich von allen anderen Objekten dadurch abhebt, dass es sehr zweidimensional wirkt. Alle Objekte drehen sich mit ihren Kanten zur Betrachterin während das gelbe Gebäude direkt vor ihr steht. Ich hatte das Gefühl, dass sich das Gebäude mir zuwendet, ich gewissermaßen in einer ›Interaktion‹ mit ihm stehe. Abgesehen von der Zweidimensionalität scheinen auch die Proportionen nicht zu stimmen. Das fokussierte gelbe Gebäude wirkt im Verhältnis zum Denkmal zu klein.

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Man hat den Eindruck, dass es sich bei dem Bild um eine Collage handelt. Gegen diesen ersten Eindruck spricht jedoch, dass hier meines Erachtens Gebäude und Situationen zusammengebracht worden wären, die nicht zueinander passen. Sollten historische Bauwerke und Denkmäler inszeniert werden, weshalb bringt man diese dann mit einem hektischen Gewirr von Menschen und Autos sowie mit modernen, nüchternen und farblich kühler wirkenden Bauwerken zusammen? Wenn man sich die gestalterische Freiheit nimmt, ein Bild aus mehreren Fotografien zusammenzusetzen, weshalb steckt dann ein Kompromiss in der Gestaltung, der zwischen Inszenierung (Vorder- und Hintergrund) und Realismus (Bildmitte) schwankt? Das Bild wirkte auf mich als ob jemand in einen Baukasten griff und beliebige Baukörper und dekorative Elemente kombinierte, die wenig zueinander passen. Inszenierung Wir wenden uns dem ersten Segment zu. Dieses zeigt ein altes Gebäude mit gelblicher Fassade. Neben der Architektur sind auch auf dem Dach einige ›Alterserscheinungen‹ zu erkennen (die Farbe ist abgeblättert). Es hat eine Uhr auf dem Dachgiebel in der Mitte. Rechts und links wird es Grafik 20: Segment 1 Bahnhof von zwei Türmen abgeschlossen, deren Spitzen jenen von Glockentürmen ähneln. Aufgrund der Größe der Türen ist im Inneren des Gebäudes ein geräumige Eingangshalle zu erwarten ist. Ein gewöhnliches Wohnhaus hat keine so großen Türen. Die Uhr in der Mitte suggeriert, dass hier ein öffentliches Gebäude dargestellt wird. Eventuell könnte es sich um ein Rathaus handeln. Da eine Oper bzw. ein Theater oder ein Hotel für gewöhnlich keine Uhr in der Mitte haben, könnte es eventuell noch ein Bahnhof bzw. ein Postamt sein. Das Gebäude wird von einigen Balkonen umrundet auf denen jedoch niemand zu sehen ist. Die meisten Fenster sind geschlossen. Da in vielen Fenstern das Licht an ist, kann vermutet werden, dass es Abend bzw. Nacht ist. Das Gebäude wird zusätzlich zu den Lichtern neben den Eingangstüren von weiteren Scheinwerfern beleuchtet. Dies ist daran zu erkennen, dass die frontale Fassade etwas heller ist. Die Interpretation liegt nahe, dass es sich um ein öffentliches und repräsentatives Bauwerk handelt, welches durch zusätzliche Beleuchtung ›in Szene gesetzt‹

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wird. Stellt das Gebäude einen Bahnhof dar, so könnten in einem weiteren Segment Parklätze, Busse etc. auftauchen. Wenn es sich um ein Rathaus handelt, könnten ein Springbrunnen, ein Marktplatz und Touristen im Bildvordergrund erscheinen. Ein Bahnhof würde Vorstellungen wie Vielfalt, Öffnung, Nähe und Ferne und damit Reisesemantiken hervorrufen. Ein Rathaus würde demgegenüber Herrschaft und Macht konnotieren. Rathausvorplätze sind geschichtlich gesehen auch Orte an denen Märkte abgehalten wurden und Waren von Nah und Fern feilgeboten wurden. Damit waren sie wichtige wirtschaftliche Austragungsorte, die von einer Vielfalt an Sprachen, Produkten, etc. gekennzeichnet waren. Da das Gebäude jedoch eher aus dem frühen 20. Jahrhundert stammt, kann angenommen werden, dass zu jener Zeit die wirtschaftliche Stellung des Markplatzes bereits eingeschränkt war. Nicht mehr Produkte aus fernen Ländern, so die These, werden vor dem Gebäude angeboten, sondern regionales Obst und Gemüse. Stellt man sich etwa den Wiener Rathausplatz vor, so denkt man an die zahlreichen Veranstaltungen und Events, die an diesem Ort stattfinden. Dementsprechend könnten in einem weiteren Segment ein Weihnachtsmarkt, ein Stadtfest, eine Sportveranstaltung oder eine Konzertbühne auftauchen. Für diese Lesart spricht, dass das Gebäude durch Lichtquellen beleuchtet wird, die eine dekorative Funktion haben. Bei dem Gesamtbild könnte es sich um ein Postkartenmotiv oder einen Medienbericht über eine der genannten Veranstaltungen handeln. Realismus Die Bildmitte löst die zuvor gestellten Erwartungen an einen Rathausvorplatz nicht ein. Es ist ein Platz abgebildet, der von einer mehrspurigen Straße eingerahmt wird. Es sind eine Vielzahl von parkenden und fahrenden Autos und Bussen zu sehen. Der Kontrast zwischen stehend und fahGrafik 21: Segment 2 Verkehr rend wird durch die Bewegungsunschärfe verdeutlicht. Des Weiteren sind Menschen zu erkennen, die über den Platz gehen, in kleinen Gruppen stehen sowie eine größere Ansammlung, die die Straße überqueren möchte. Dass M-Schild in der Mitte des Platzes, welches eine Metrostation anzeigt, sticht hervor, da es von zwei Lichtquellen eingerahmt wird. Auf dem Platz befinden sich ebenfalls zwei Krankenwagen, leuchtende

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Werbetafeln und zwei Palmen, die auf eine mediterrane Gegend verweisen. Das Bild zeigt einen Verkehrsknotenpunkt einer größeren Stadt. Es wird nun wieder wahrscheinlicher, dass es sich bei dem zuvor interpretierten Gebäude um einen Bahnhof handelt. Auf der gesamten Fläche lassen sich keine Sitzgelegenheiten erkennen. Dass es auf einem Verkehrsknotenpunkt keine Bänke und markierte Parkplätze gibt, ist merkwürdig, da hier auf verschiedene Anschlussverbindungen gewartet werden muss. Das Bild ist mit einer längeren Verschlusszeit aufgenommen worden, dies zeigen die verschwommenen Fahrzeuge. Tageszeitlich könnte es Abend sein, worauf die Lichter verweisen. Der Kamerastandort befindet sich auf einer Erhöhung. Der Bildbetrachter blickt auf den Platz. Das Segment vermittelt ein eher unruhiges, lautes, ungemütliches und chaotisches Gefühl. Bei der Betrachtung hört man geradezu das Hupen der Autos und das Schallen von Sirenen. Man erkennt keine Flaneure, die das hektische Treiben distanziert betrachten und man ringt selbst als Bildbetrachter damit, die Distanz bewahren zu können. Man wird vom Bild affektiv mitgerissen und fühlt sich trotz des perspektivisch inszenierten Überblicks in die Atmosphäre vor Ort hineinversetzt. Das Segment kennzeichnet ein realistischer Stil; es wirkt wenig inszeniert. Es wird, so das Gefühl bei der Betrachtung des Bildausschnitts, eine reale, ungestellte Großstadtatmosphäre gezeigt. Der Realismus wird durch die Gebäude die rechts an den Platz angrenzen verstärkt. Bei dem höheren Gebäude mit Vorbau könnte es sich um ein Hotel handeln. Obwohl die Perspektive einen Einblick in die Fenster gewährt, ist es schwer zu erkennen, was in dem Gebäude vorgeht. Bei dem unteren beleuchteten Teil könnte es sich um eine Hotel-Launch handeln. Das Gebäude hat außer der Größe eine wenig beeindruckende architektonische Gestalt. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Bauwerk aus der Zeit der architektonischen Moderne, mit einer funktionalistischen Bauweise. Auf der Terrasse sind einige Grünpflanzen zu sehen. Trotz der Pflanzen und dem Licht, das aus dem Hotel strömt, wirkt das Gebäudeensemble trist und grau. Bei den Gebäuden im Hintergrund handelt es sich vermutlich um Wohnhäuser. Aufgrund der scheinbar wenig gestellten, realistischen Situation, die in der Bildmitte dargestellt ist, könnte es sich bei dem Bild um eine Dokumentarfotografie handeln. Es wird eine Verkehrsdrehscheibe einer Stadt gezeigt, auf der Hektik und Verkehr herrschen. Man hat es, so suggeriert die Bildwahrnehmung, mit einer Millionenstadt zu tun (darauf verweisen das Verkehrsaufkommen, die Größe des Platzes, der Straßen und des Hotels). Eventuell geht es um die Darstellung von Urbanität. Bei der dokumentierten Urbanität stehen jedoch weniger die Vergnügungen des städtischen Lebens im Vordergrund als belastende Ele-

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mente. Man sieht auf dem Bildausschnitt keine Menschen die vor Cafés sitzen. Überhaupt sind keine Sitzgelegenheiten zu erkennen. Das Bild unterscheidet sich von Darstellungen anderer zentraler Verkehrsknotenpunkten wie etwa dem Londoner Piccadilly Circus auf dem Reklameschilder auf internationale Brands verweisen, Kinos, Modegeschäfte, Restaurants und Cafés einen Überfluss an Zerstreuungen anbieten und Touristen und Flaneure abgebildet sind. Auf diesem Bildausschnitt stehen einseitig Verkehr, Hektik und Lärm im Fokus.

Betrachtet man die Bildmitte und das gelbe Bauwerk gemeinsam, so tut sich vor allem ein Kontrast zwischen der historischen Architektur des Gebäudes und dem Fehlen geschichtlicher Referenten in den unteren Segmenten auf. Dieser Kontrast wird durch die Farb- und Lichtgestaltung sowie Grafik 22: Segmentzusammenhang 1 die unterschiedliche Schärfe viund 2 Bahnhof und Verkehr suell unterstrichen. Der Vordergrund ist deutlich dunkler und von Bewegungsunschärfe gekennzeichnet; von ihm geht, wie bereits beschrieben wurde, Dynamik, Hektik und Chaos aus. Das Gebäude, auf welchem der direkte Blick des Betrachtes liegt, ist deutlich schärfer und heller dargestellt. Fraglich scheint, wodurch das Gebäude so hell angeleuchtet wird. Die Lichtquellen an den Eingängen des Gebäudes sind dafür zu schwach, was für eine nachträgliche Bildbearbeitung oder eine Collage spricht. Trotzdem sich das Gebäude ziemlich vom Vorplatz abhebt kann es auch nicht gerade als ›fehl am Platz‹ interpretiert werden. Weiterhin bleibt offen, um welche Art von Gebäude es sich handeln könnte.

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Der Kontrast zwischen Bildmitte und Hintergrund wiederholt sich, wenn man die Bildmitte dem Vordergrund gegenüberstellt. Im Vordergrund taucht ein Monument auf das bis in die mittlere Höhe des Bildes ragt. Vor dem Monument befindet sich ein Platz mit einer Grünfläche. Die GrünGrafik 23: Segmentzusammenhang 2 fläche ist umzäunt. Sie ist sehr und 3 Verkehr und Denkmal gepflegt (symmetrische Anordnung, gestutzter Rasen). Auf dem Platz befindet sich keine vorgesehene Sitzgelegenheit. Stattdessen wird die Umzäunung als Sitzbank umgenutzt. Die Gemütlichkeit dieses Sitzes kann bezweifelt werden; sie dient nur für kürzere Pausen. Der Mann, der alleine sitzt, scheint etwas an seinem Telefon zu machen, eventuell schreibt er eine Nachricht. Das ›Paar‹ wartet vermutlich auf Etwas oder Jemanden. Eine Lichtquelle leuchtet dem Bildbetrachter direkt ins Auge. Dabei handelt es sich um einen der Scheinwerfer, die das Monument anstrahlen. An dem Denkmal sind drei Personen zu erkennen, die schnell gehen (sie sind nach vorne gewandt). Eine weitere Figur präsentiert einen Mann, der eine Fahne trägt. Dieser ist dem Betrachter zugewandt. Das Segment zeigt einen Platz der funktional eine rein repräsentative Bedeutung hat. Zu erkennen ist dies an der umzäunten Grünfläche, dem Scheinwerfer der das Denkmahl beleuchtet und dem Fehlen an weiteren Objekten wie Sitzbänken und Mülleimern. Gebrochen wird diese repräsentative Symbolik durch drei Personen, die auf der Umzäunung sitzen (sie umnutzen) und dem eigentlichen Objekt des Platzes, dem Denkmal, keine Beachtung schenken (sie sitzen ihm entgegengesetzt bzw. beachten es nicht). Damit wird die strikte Ordnung des Platzes und die Autorität seiner symbolischen Ausstrahlung etwas aufgelockert.

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Grafik 24: Kontrast: Rahmung und Bildmitte

Schon auf den ersten Blick verwirrt das Bild die Betrachterin. Einerseits zeigt es eine stilistische Rahmung, die durch die idyllischen Farben, das perspektivisch fokussierte historische Gebäude und das Monument im Bildvordergrund einem Postkartemotiv ähnlich sieht. Die zwei Segmente im Vorder- und Hintergrund strahlen Ruhe und Statik aus; sie können distanziert betrachtet werden. Das Sehen ist ein erkennendes aber kein erlebendes Sehen. Auf diesen Segmenten überwiegt eine gewisse Ordnung. Konträres gilt für die Bildmitte. Hier scheint wenig gestellt zu sein. Man bekommt keine touristischen ›sights‹ zu sehen, denen im städtischen Alltag zumeist wenig Bedeutung zukommt. Vielmehr sieht man einen Verkehrsknotenpunkt einer Großstadt, den Hektik, Verkehr, Gedränge und Lärm beherrschen. Diese ungestellte und ungeschönte Szenerie, die ein dokumentarisches und weniger ein touristisches Flair charakterisiert, zieht den Blick der Betrachterin ins Bild hinein. Das Sehen erzeugt regelrecht ein Hören (des Lautstärkepegels) und ein Fühlen (der Unruhe, der Hektik, der Nähe und Berührung). Durch diesen Kontrast zwischen Rahmung und Bildmitte wirkt das Bild zusammengesetzt. Ein Gegensatz zwischen offensichtlicher Inszenierung und inszeniertem Realismus wird evident. Zum einen wird ein malerischer und stimmungsvoller Himmel gezeigt, der farblich mit dem historischen Gebäude und dem Denkmal abgestimmt ist. Es sind Herrschaftssymboliken (ein repräsentatives Gebäude und ein Denkmal) zu sehen. Konträr dazu ist die Bildmitte durch einen realistischen Stil (Unschärfe, dunkle Farben ungestelltes Ensemble) gekennzeichnet, die beispielsweise auf die prekäre Lebensbedingungen in dieser Stadt verweisen könnten. Schlechte Luft, Verkehr, Hektik, etc. waren die ersten Konnotationen, die bei der Betrachtung des mittleren Segmentes ausgelöst wurden. Die traditionelle Dokumentarfotografie zeichnete sich durch die vermeintlich nichtästhetisierte, informationsbezogene Verwendung des Mediums aus (Solomon-Godeau 2003). So sollte die Fotografie Lieferantin visueller Wahrheiten sein und ›ungestellte Szenen‹ zeigen. Gerade in Nachrichten- und Werbebildern wird die Stilistik des traditionellen Dokumentarismus aufgegriffen, um die

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Objektivität der Abbildung zu bekräftigen. Der Dokumentarismus arbeitet mit ästhetischen Konventionen, die Gefühle wie etwa die ›Härte der Realität‹ hervorrufen sollen. Großstadtaufnahmen, die sich dieser Stilistik bedienen bilden nicht eine idyllische Lebenswelt ab, sondern zeigen diese als urbane Wüste (Kautt 2008: 309). »Auch wenn in diesen Inszenierungen immer wieder Reste von ‚natürlicher Natur‘ vorkommen (z.B. Bäume oder Wiesen), fungieren die großstädtischen Kontexte als Sinnbilder für eine künstliche und (daher) harte Umwelt, in der Menschen (über-) leben müssen« (ebd.). Unabhängig davon, ob man mit der Bildmitte positive oder negative Assoziationen verknüpft, stellt sie wenn nicht eine Zumutung so zumindest eine Herausforderung dar. Es fragt sich wie es zu dieser Widersprüchlichkeit im Bild kommt. Zuvor wurde festgestellt, dass es sich um eine Collage handeln könnte. Dies würde umso mehr die Frage aufwerfen, weshalb diese Rahmung mit dieser Bildmitte kombiniert wurde. Wenn es sich um eine Collage handelt, dann ist auch die realistische Darstellung in der Bildmitte lediglich ein Stilelement. Es kann angenommen werden, dass keine indexikalische Beziehung zwischen Kamera und dem abgelichteten Gesamtensemble bestand.

Durch die Einzeichnung der Perspektivlinien wird offensichtlich, dass es sich bei dem Bild um eine Collage handelt. Die Linien, die sich vom Zaun im Bildvordergrund sowie jene die vom Hotel am rechten Bildrand gezogen werden können verfehlen den Fluchtpunkt in dem die BegrenGrafik 25: Perspektivlinien zungslinie des Platzes in der Bildmitte mündet. Hier wurden verschiedene Bilder zusammengefügt. Dadurch, dass wir als Bildbetrachter direkt vor dem historischen Gebäude stehen, entsteht eine Interaktion zwischen der Betrachterin und dem Bauwerk. Gleichzeitig verdeutlichen die Perspektivlinien, dass auch das Monument im Bildvordergrund auf das Gebäude hin ausgerichtet ist; es besteht eine zweifache Interaktion.

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Neben der Perspektive ergeben die Feldlinien einen wohl sortierten Mix aus schrägen Linien, die einen Auftrieb suggerieren, gekrümmten Linien, die Bewegung, Dynamik erzeugen und geraden, horizontalen und vertikalen Linien, die das Bild begrenzen. Die Grenzen werden zum rechten Grafik 26: Feldlinien T Bildrand (vertikale Linien) sowie zum Hintergrund (horizontale Linien) gezogen. Dieses umgedrehte ›T‹ gibt die Kontextinformationen wieder. D.h. es zeigt an wo das Bild aufgenommen wurde. Da die Kontextinformationen an dieser Stelle noch nicht eingeflossen sind, wissen wir nicht um welche Gebäude, bzw. welches Monument es sich handelt. Dennoch beinhaltet die T-Komposition alle signifikanten Landmarks: ein historisches Gebäude, ein Monument und ein alles überragendes Hotel, das vom Bildrahmen abgeschnitten wird.

Die gekrümmten Linien ziehen sich durch alle Bildebenen, wobei sie von unten nach oben etwas abflachen. Am kurvigsten sind die Linien im Bildvordergrund (Umzäunung). In der Bildmitte sind es die Fahrzeuge, die diese Feldlinien konstruieren und im Hintergrund erzeugen die weißen Grafik 27: Feldlinien Krümmung Wolken im Himmel eine nur mehr leichte Krümmung. Diese Linien erzeugen eine Dynamik (ev. auch eine Unruhe), die den Blick vom gelben Gebäude abbringen und nach rechts schweifen lassen.

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Zuletzt sind es die schrägen Feldlinien, die vom Vorplatz des Gebäudes zum Gebäude führen. Sowohl durch die perspektivischen Linien als auch durch die schrägen Feldlinien wird das gelbe, historische Bauwerk links der Bildmitte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zwischen Grafik 28: Feldlinien Trapez Vorder- und Hintergrund besteht eine perspektivische Interaktion (Linien die vom Denkmal zum Gebäude führen). Auch die Feldlinien ziehen sich durch die verschiedenen Bildebenen. So führen einerseits die Achsen des trapezförmigen Platzes direkt vor das Gebäude. Andererseits umspannen die krummen, Dynamik erzeugenden Feldlinien alle Bildebenen. Thematisch wurde bei der Segmentinterpretation erkannt, dass eine gewisse Umnutzung auf beiden Plätzen (Vordergrund und Bildmitte) praktiziert wird. Dies eventuell auch gerade deshalb, weil raumplanerisch auf beiden Plätzen ein Mobiliar fehlt, das zum Verweilen bzw. Parken einlädt. In der Bildmitte fehlt es zudem an Leitlinien (Wege, Parkplätze, Begrenzungen etc.). Das Räumliche wird vor allem in der Bildmitte weit mehr vom Einsatz der Körper (Menschen und Autos) konstruiert als es durch eine raumplanerische Anordnung von Objekten und Markierungen geprägt ist. Obwohl durch die Bildmitte die Interpretation naheliegt, es handle sich um einen Verkehrsknotenpunkt, lässt die Rahmung eine Repräsentationssymbolik erkennen. Das Bild kann (wohlgemerkt nur für den Betrachter, der den Platz noch nicht »erkannt« hat) gewissermaßen als ein ›Kippbild‹ betrachtet werden, das zwischen einem, im Sinne Marc Augés »Nicht-Ort«21 und einem Ort städtischer Selbstdarstellung schwankt. Was hat es mit der Collage auf sich? Welche Orte und Gebäude wurden hier zusammengesetzt? Und: Was ist der Sinn ihrer Verbindung? Diese Fragen lassen sich nur durch ein Insiderwissen beantworten, das wir uns zunächst durch die Übersetzung des Bildtextes aneignen.

21 Als Nicht-Orte bezeichnet Mark Augé (2010) mono-funktionale Orte (v.a. Verkehrsknoten, ›gateways‹ oder Shoppingmalls), die sich von anthropologischen Orten dadurch abgrenzen, dass sie keine Geschichte haben und keine Identifikation zulassen. In der weiteren Analyse wird sich herausstellen, dass dieser Vorplatz von zahlreichen kulturellen Bedeutungen besetzt ist, die der ›unbelastete‹ Beobachter jedoch anhand seiner visuellen Repräsentation noch nicht erschließen kann.

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Die ›Prüfung‹ des Bildbetrachters HAYDARPASA GARI FOR 101 YEARS IN ISTANBUL THERE WHERE IT HAS BEEN. 22 Haydarpasa Gari ist der Hauptbahnhof auf der anatolischen Seite Istanbuls (Kadiköy). Man erfährt durch den Bildtext, dass dieser seit 101 Jahren in Istanbul steht. Der Zusatz, dass dieser Bahnhof seit jeher an dieser Stelle weilt überrascht, da Gebäude zumeist nicht ›wandern‹. Der mittlere Schriftzug ist in schwarzer Farbe abgedruckt und hebt sich von den beiden weißen Schriftzügen ab. Es handelt sich um einen modernen Schrifttyp, der zudem gänzlich in Großbuchstaben gehalten ist. ISTANBUL 2010 EUROPEAN CAPITAL of CULTURE TIME TO REDISCOVER NOW There is an endless energy that enables Istanbul the passion to recreate itself for ages. Now this energy carries thousands years of accumulation and cultural wealth into the future: Istanbul 2010 European Capital of Culture Agency is trying that hundreds of projects are effectuated such as the restorations of the cultural entities, new creations, keeping the traditional culture alive, bringing the contemporary works into the city. What makes Istanbul Istanbul is this energy, all of our energy… Now, it is time to rediscover Istanbul. Die Überschrift des zweiten Bildtextes informiert darüber, dass Istanbul 2010 europäische Kulturhauptstadt ist (war). Außerdem fordert sie dazu auf, die Stadt im Zuge dieser Veranstaltung neu zu entdecken. Da hier von »rediscover« und nicht von »discover« gesprochen wird ist offensichtlich, dass sich diese Aufforderung an die Bewohnerinnen der Stadt (zumindest an jene der Türkei) richtet. Diese kennen die Stadt bzw. glauben zumindest sie zu kennen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass eine relativ lange und kleingeschriebene Erklärung über die Stadt folgt. D.h. man fordert die Bewohner auf etwas neu zu entdecken und gibt ihnen gleichzeitig ein Briefing mit, das sie eigentlich schon haben müssten (je nachdem wie lange sie schon in der Stadt wohnen).

22 Die nationale Kampagne wurde lediglich in türkischer Sprache veröffentlicht. Die Analyse stützt sich auf englische Übersetzungen.

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Es wird von einer unendlichen Energie gesprochen, die es Istanbul (hier wird von der Stadt als handelnde Entität gesprochen) ermöglicht, sich immer wieder neu zu erfinden. Energie wird mit Schaffens- und Tatkraft, mit einem Drive in Verbindung gebracht, der auf Veränderung setzt. Denken wir zurück an die zuvor analysierten visuellen Bildsegmente so wird die Energie dort mittels einer Verkehrsdrehscheibe dargestellt und mit Schnelligkeit und eventuell auch Wandel in Verbindung gesetzt. Jetzt (»Now«) trägt diese Energie die akkumulierte Geschichte und den kulturellen Reichtum in die Zukunft. Die Organisation ›Istanbul 2010 ECOC Agency‹ versucht (»is trying«) nun (im Jahr 2010) hunderte Projekte durchzuführen. Daraus, dass es sich um einen Versuch handelt, lässt sich folgern, dass sich die Agency nicht sicher ist, ob ihr ihre Mission gelingen wird. Außerdem kann die Energie der Stadt erst mit der Arbeit der Organisation in die Zukunft getragen werden, worauf die Formulierung »now this Energy carries ... into the future« verweist. Bei dieser Mission geht es einerseits um die Pflege der Geschichte und Tradition, andererseits sollen neue »creations« (was auch immer damit gemeint ist) in der Stadt umgesetzt werden. Istanbul ist gerade durch die Energie, sich selbst neu zu erfinden, Istanbul und diese Energie geht von den Bewohnerinnen der Stadt aus. An dieser entscheidenden Stelle wird die Handlungskompetenz von der Stadt auf die Bewohnerinnen übertragen. Durch diesen Satz wird versucht deren Stolz bzw. Selbstbewusstsein zu stärken. Es folgt nochmals die Aufforderung Istanbul jetzt neu zu entdecken. Die beiden Logos – jenes auf der Fassade des Hotels sowie der weiße Streifen im unteren Bildsegment – werden hier nicht im Detail besprochen23. Auffällig an ersterem ist, dass Europäische Kulturhauptstadt einmal in großer, türkischer Schrift unter dem Logo und ein weiteres Mal in kleiner, englischer Schrift darunter steht. Daraus wird ersichtlich, dass sich die Botschaft zunächst an eine türkischsprachige Zielgruppe richtet, es sich jedoch gleichzeitig um ein internationales Event handelt.

23 Diese Segmente wurden bereits bei der Analyse der internationalen Werbekampagne behandelt.

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Betrachtet man das Gesamtbild (das visuelle Segment und die Textsegmente) so fällt dem Istanbuler der Witz bzw. Trick des Werbebildes auf. Das Bild zeigt den Taksim-Platz auf der europäischen Seite der Stadt. Anstelle des Atatürk-Kulturzentrums – ein Bau aus den 1930er-Jahren desGrafik 29: Gesamtbild sen architektonischer Stil von der klassischen Moderne geprägt ist – wurde der Haydarpasa-Bahnhof platziert. Nun macht auch der Slogan über dem Gebäude Sinn. Er beteuert, dass dieses Gebäude seit 101 Jahren an derselben Stelle steht. Alle Stadtbewohnerinnen werden auf den ersten Blick merken, dass hier etwas nicht stimmt. Durch den Bildtext wird die Deplatzierung ironisch entlarvt. Diese kurze Irritation – ›Was stimmt hier nicht?‹ – die von dem visuellen Segment ausgeht, welches im Wahrnehmungsprozess zumeist als erstes beachtet wird, soll die Stadtbewohner dafür sensibilisieren, dass sie die Stadt gar nicht so genau kennen wie sie es glauben. Dieser Moment der Unsicherheit, kann nicht durch die Betrachterin selbst überwunden werden, der Bildtext kommt ihr zuvor. Der Bildtext bestätigt zwar das visuelle Segment, bekräftigt dieses jedoch in einem solch übertriebenen Maße, dass kaum eine Bewohnerin der Stadt darauf hineinfallen könnte (oder vielleicht doch?). Insofern löst der Text den Widerspruch auf. Damit gewinnt die zweifache Aufforderung, Istanbul neu zu entdecken (»rediscover«) an Überzeugungskraft. Sie suggeriert, dass man kurz an das Bild (visuelle Darstellung) geglaubt habe. Der Taksim-Platz ist von zahlreichen funktionellen und repräsentativen Bedeutungen besetzt. Historisch war er eine Wasserverteilanlage, an welcher der Großteil der Stadt angeschlossen war. Gegenwärtig stellt er einen der wichtigsten Verkehrsknoten Istanbuls dar, von wo aus stark Grafik 30: berichtigtes Bild frequentierte Straßen in alle Richtungen führen. Hier halten verschiedenste Buslinien und die Metrolinie. Der Platz führt zudem in die sehr touristisch geprägte Istiklal Caddesi mit ihrer histo-

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rischen Straßenbahn (Nostaljik Tramvay). Neben dieser Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt hat der Platz eine stark kulturelle aufgeladene Symbolik. Er verkörpert das moderne Istanbul (Platz der Republik) und ist Schauplatz für Demonstrationen und Zeremonien an Staatsfeiertagen. Das Monument im Bildvordergrund stellt das 1928 errichtete Denkmal der Republik dar. Es zeigt den Staatsgründer Atatürk einmal in Uniform und ein weiteres Mal in zivil. Ein weiteres Symbol für die Gründung der Republik wird von dem Bild durch einen Retuschierung ausgeblendet: das Atatürk-Kulturzentrum. ›Berichtigt‹ man die Bildgestaltung und setzt das Gebäude, das eigentlich auf jenem Platz steht, auf den der Bahnhof positioniert wurde, so erkennt man, dass dieses von den Gestaltungsprinzipien (Farben und architektonischer Stil) eher zur Bildmitte passt. Funktional wurde jedoch bei der Interpretation des mittleren Segmentes eher ein Bahnhof erwartet als ein Kulturzentrum. Zwei Fragen gilt es vorrangig zu beantworten. Erstens wurde durch die Segmentanalyse erkannt, dass das Bild zwischen der Visualisierung von einer ungeschönten, real wirkenden Urbanität (Bildmitte) und einer etwas unbelebten Postkarten-Stilistik, die von der Rahmung ausgeht (Himmel, historisches Gebäude, Denkmal), schwankt. Weshalb kommt es zu diesem Kompromiss in der Bildgestaltung (es könnte sowohl eine Postkarte in Reinform oder eine dokumentarische Fotoarbeit vorgestellt werden)? Zweitens muss der Wahl des Ortes sowie dem Austausch der Gebäude genauer nachgegangen werden. Weshalb wurde gerade dieser Platz als Motiv für die Werbekampagne gewählt und weshalb wurde das Atatürk-Kulturzentrum durch den Haydarpasa Bahnhof ersetzt? Handelt es sich eher um eine zufällige Wahl, die lediglich die Kampagnenidee (Verunsicherung der Stadtbewohner durch die Deplatzierung von Gebäuden) geleitet wurde, oder hat die Retouchierung dieses Gebäudes eine zusätzliche Wirkung (ein zusätzliches Ziel)? Die Intention der Werbekampagne ist sehr deutlich aus dem Briefing herauszulesen, welches die für die nationale Werbekampagne zuständige Agentur (Ajans Ultra) bekam24. Es führt zunächst in die allgemeinen Ziele des europäischen Kulturhauptstadtjahres ein, gleichzeitig wird jedoch angemerkt, dass diese Leitlinien stadtspezifisch ausgelegt werden bzw. wurden. Für Istanbul gilt es vor allem die Beziehungen zu Europa zu stärken, nationale und internationale Touristen anzuziehen und auch die Stadtbevölkerung in Kunst und Kultur einzufüh-

24 Diesen Arbeitsauftrag«, der an die Werbeagentur ging, erhielt ich von meiner Interviewpartnerin, der Leiterin der Abteilung ›Tourism and Promotion‹ der Istanbul 2010 ECOC Agency. Das Dokument war ausschließlich in türkischer Sprache verfasst und wurde auf Englisch übersetzt.

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ren. Durch den einjährigen Event soll zudem der Stolz und die Selbstzufriedenheit der Stadtbewohner gesteigert werden. Letzteres Ziel betrifft einschlägig die nationale Werbekampagne. Das Kulturhauptstadtjahr, so wird weiter argumentiert, birgt die Chance, dass die Bewohner der Stadt ein Bewusstsein entwickeln ›Bürger von Istanbul‹ zu sein und dass sich eine ›urbane Kultur entwickelt‹. In einem zweiten Teil wird die Bedeutung einer guten Kommunikationsstrategie für den Erfolg dieses Vorhabens unterbreitet. Es wird erwähnt, dass viele Kulturhauptstadtjahre an der Schwäche der Kommunikation teilweise gescheitert sind. So wurden etwa zu wenig zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen aufgewendet. Zudem wurden verschiedene Zielgruppen nicht genau definiert und dadurch nicht erreicht. Der Absatz wird damit geschlossen, dass die Kommunikationsstrategie zentral für den Erfolg des Gesamtprojektes ist. In einem dritten Teil wird das Ziel der nationalen Werbekampagne nochmal detailliert beschrieben. Die Istanbuler Bevölkerung soll erkennen, dass sie Stadtbewohner sind (»kentli olma«). Dazu sei es notwendig, dass die Leute, die aus der gesamten Türkei nach Istanbul gezogen sind, zu der Kultur der Stadt beitragen und von ihr profitieren (können). Richtige bzw. akkurate (»dogru«) und angenehme bzw. angemessene (»uygun«) Kulturstadtcodes (»kentsel-kültürel kodlar«) sollen entstehen und verkörpert – bzw. soziologisch übersetzt: »inkorporiert« – werden. An dieser Stelle wird klar, dass es um eine Korrektur der Stadtkultur geht. Es ist offensichtlich, dass die 10 Millionen Menschen, die in den letzten 50 Jahren nach Istanbul migriert sind, die Stadtkultur prägen. Sie beeinflussen diese jedoch, so kann vermutet werden, nicht in der gewünschten und wie auch explizit ausgedrückt, akkuraten Weise. Man muss aus den Stadtbewohnern, so drückt es der folgende Satz aus Städter machen: »Unsere fundamentale Mission ist es, die Stadtbewohner dazu zu motivieren, anstelle nur in Istanbul zu leben, Istanbullu (Anmerk.: so werden die »richtigen« bzw. »alteingesessenen« Istanbuler genannt) zu sein (...)«25 (Quelle: Briefing für die nationale Werbekampagne: 2)

Das Briefing endet damit, dass die Hauptziele nochmal zusammengefasst sowie Parallelziele (die vor allem die internationale Kampagne verwirklichen soll) angesprochen werden. Aus dem Briefing geht hervor, dass es grundlegend um die Vermittlung einer urbanen Lebensart geht, was die Stadtforscherin zunächst

25 »Kent halkını İstanbul’da yaşamak yerine İstanbullu olmaya, bu binlerce yıllık metropolün parçası olmaktan gurur duymaya ve kentine sahip çıkmaya yüreklendirmek en temel misyonumuzdur.« (Briefing für die nationale Werbekampagne: 2).

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äußerst wundert, da Istanbul alle allgemein formulierten Kriterien einer Metropole erfüllt – »size«, »density« und »heterogeneity« (Wirth 1938) – der sich daraus ableitende urbane Lebensstil jedoch mit einer Werbekampagne explizit entwickelt werden soll. Die kulturelle Intervention der nationalen Werbekampagne zielt weniger auf das Bewerben der Kultur der Stadt, als vielmehr auf die Kulturalisierung der Bewohnerinnen, die zu »Istanbullus« werden sollen. Anhand innerstädtischer Diskurse darüber, was einen »Istanbullu« ausmacht, was sozial anerkanntes Verhalten ist und was sozial sanktioniert wird (bzw. werden sollte) soll der Intention der Kampagne auf den Grund gegangen werden. Im Arbeitsauftrag für die Werbeagentur wird eine diskursive Trennlinie zwischen richtigen Istanbulern (Istanbullu) und Menschen, die ›nur‹ in Istanbul leben konstruiert. Erstere, so wurde durch das Briefing vermittelt, leben und haben eine urbane Kultur (Kulturstadtcodes: »kentsel-kültürel kodlar«), während letzteren diese urbanen Lebensformen erst vermittelt werden müssten. Damit wird die Stadtbevölkerung in zwei Gruppen geteilt und vor allem letztere sollen mit der Werbekampagne erreicht werden bzw. die Istanbullus darin bekräftigen, dass eine urbane Lebensweise – was auch immer dies beinhaltet – einen sozial erwünschten Wert darstellt. Dass »Istanbullu« eine rhetorische Figur ist, hält Ayse Öncü fest, indem sie schreibt: »A plurality of social groups and cultures coexist in Istanbul, often separate from one another as the hard-edged pieces of a mosaic. It is a city of immigrants, with three-quarters of its population born elsewhere. In this sense, the question of who is an Istanbulite is a rhetorical question. A true Istanbulite is a ›myth‹« (Öncü 1999: 95). Im Alltag wird »Istanbullu« jedoch keineswegs als Mythos verstanden. Es wird als Faktum gehandelt, das die Werte jener zahlenmäßig geringen, jedoch zumeist privilegierten Gruppen verteidigt, die sich von den zahlreichen Neuankömmlingen verdrängt fühlen. »Istanbullu« wird im Alltag ständig reaktiviert. Die Qualitäten, die das Wort beschreibt, müssen dabei kaum expliziert werden. Vielmehr gehören diese zu der im Berkingschen Sinne »städtischen Doxa« (Berking 2008), einem lokalen präreflexiven Wissen darüber »Wie die Dinge sind« und »Wie man was macht« (ebd. 27). Istanbullu »appears to simultaneously condense and connote an array of distictions, refinements, competencies that are already ›known‹ from daily experience and hence understood without saying. In a metropolis of numerous and fluctuating plurality of cultural hierarchies, the word Istanbullu stands guard over the boundary between high and popular cultures« (Öncü 1999: 95; Hvh. JM). Aus dem Zitat geht explizit hervor, dass mit dem Begriff »Istanbullu« bestimmte kulturelle Werte verteidigt werden. Wie Bourdieu in seinem Werk »Die feinen Unterschiede« (1982) gezeigt hat, gelingt dies am besten durch scheinbar

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natürliche und vermeintlich subjektive Geschmackspräferenzen, die die Kultiviertheit des Individuums hervorheben und die Anfechtbarkeit aufgrund der subjektiven Artikulation außer Kraft setzen, denn: über Geschmack wird nicht gestritten – oder vielleicht doch? Die Debatte um richtige und urbane Verhaltensformen ist in Istanbul häufig Gegenstand medialer Diskurse. Sehr prägnant veranschaulicht wird sie in der Diskussion um Umgangsformen an einem öffentlichen Badestrand wie sie von Derya Özkan beobachtet wurde (Özkan 2008). Baden in Istanbul ist eine Herausforderung. Die Stadt ist zwar vom Meer umkreist, jedoch gibt es gegenwärtig kaum Zugang zum Wasser, öffentliche Badestrände sind eine Seltenheit und ansonsten ist das Wasser bzw. die Umgebung zu schmutzig um sich hinein zu wagen. Das öffentliche Strandbad Caddebostan Beach hat Seltenheitswert. Es wurde zu Zeiten Atatürks eröffnet und war Sinnbild für eine säkulare, urbane und ›westliche‹ Lebensform. 1960 musste der Badestrand jedoch geschlossen werden, da das Wasser durch die Industrie, die sich in Istanbul ansiedelte verunreinigt war. Erst 2005 wurde der Strand mit eingehender medialer Berichterstattung wiedereröffnet. Der Badestrand funktionierte nach der gut vierzigjährigen Unterbrechung des Betriebs anders wie zuvor. Die vormals dominante (bzw. ausschließliche) Gruppe der Nutzer (westlich orientierte Mittel- und obere Mittelschicht) sieht sich durch die migrantische Bevölkerung aus den ländlichen Regionen der Türkei verdrängt. Ein medialer Diskurs über richtiges und falsches urbanes Verhalten wurde wieder entfacht. An dieser Diskussion sind die neuen Nutzerinnen nicht selbst beteiligt, vielmehr wird sie von zwei ideologischen Positionen der Deutungselite bzw., wie Derya Özkan schreibt, von den »hegemonic social classes« (Özkan 2008: 102) ausgefochten. Erstere Position bezeichnet Özkan als »elitist«, womit die Position der »urban secular upper middle classes« gemeint ist, letztere als »populist«, die die Interessen der Migranten aus den ländlichen Teilen der Türkei vertritt. Knapp drei Wochen nach der euphorischen Eröffnung des Strandes findet sich folgende Kolumne in der türkischen Zeitung Radikal, die eine (rassistische) Situationsbeschreibung des Caddebostan Beach vornimmt: »men in their underwear rest ruminating, women in black chadors of headscarves are brewing tea, swinging their babies, fanning the barbecue ... our dark people cooking meat by the sea that they turn their [behinds] toward ... Here it is impossible to find one single family grilling fish. Well, if they liked fish, and if they knew how to grill it, they would not be just lying there in their dirty undershirts, underpants and long johns; they would not ruminate and belch; and they could not in any case be this chubby, short-legged, long-

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armed, and this hairy!« (Mine G. Kirikkanat in Radikal 27.07.2005, zit. nach Özkan 2008: 101).

Der Unmut der Autorin bezieht sich auf vermeintlich falsche Kleidung, falsches Verhalten und falsches körperliches Aussehen. Ebenfalls im Juli desselben Jahres wird an den vormaligen und ›richtigen‹ Kleidungsstil erinnert: »The 1950s were the heyday of the Caddebostan beach. Men and women came to the beach in their modish swimsuits and beach accessories. (...) The beach was run by a manager named Resit Bey, who was an Istanbul gentleman who wouldn’t go out without a tie« (Gazete Kadiköy 07/2005 zit. nach Özkan 2008: 112).

Im Gegensatz dazu sind die Männer nun mit provisorischer Schwimmbekleidung ausgerüstet und die Frauen überhaupt verschleiert und gehen dementsprechend nicht ins Wasser. Auch die Vertreter der populistischen Seite argumentierten mit der Tradition. Die jetzigen Nutzer des Strandes würden die typische türkische Lebensweise aufrechterhalten wie sie durch die Modernisierungsprozesse bzw. die ›Verwestlichung‹ bisher immer mehr verdrängt wurde (ebd. 110). Özkan sieht in der gegenwärtigen Debatte eine wieder entfachte alte Diskussion, die eine Dichotomie zwischen »the citizens« und »the masses« diskursiv konstruierte. In den 1920er Jahre waren die »masses« eine Gefahr für die Modernisierung der Türkei. Gegenwärtig sind sie – aus der Sicht der »elitists« – ein Hindernis für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union (ebd. 112f). Diese Beobachtung deckt sich mit dem Arbeitsauftrag, der für die nationale Werbekampagne vergeben wurde. Dort wurde ebenfalls das Ziel der Etablierung von »Kulturstadtcodes« mit der Erreichung einer positiven Haltung zum EU-Beitritt der Türkei verknüpft. Urbanität als Lebensform Das Briefing, welches der Werbekampagne zugrunde liegt, erhebt den Anspruch, aus Stadtbewohnern (richtige) ›Städter‹ zu machen. Der Bildtext und die Verunsicherung, die durch die Deplatzierung des Gebäudes einhergehen, sensibilisieren die Stadtbewohner dafür, dass sie die Stadt gar nicht so gut kennen wie sie meinen. Es wird eine Prüfungssituation hergestellt, die die Betrachterin daraufhin testet, wie lange sie braucht, den ›Fehler‹ im Bild zu entdecken und das ›richtige Bild‹ in der Vorstellung zu rekonstruieren. Im Vergleich zur Vehemenz, mit der das Briefing urbane Kultur vermitteln will, ist diese aus der Außenperspektive und einem eurozentristischen Verständnis visuell nur sehr mar-

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ginal dargestellt. Vielmehr wird einerseits Dichte durch das Verkehrsaufkommen, die Menschen und das hohe Gebäude im rechten Bildrand realistisch inszeniert (dokumentaristischer Stil). Andererseits wird Kultur durch Historizität (historisches Gebäude, Denkmal) dargestellt. Urbanität als Begriff ist untrennbar mit der Idee der »Europäischen Stadt« verbunden (Siebel 2000; Baum 2008). In der antiken Polis war Urbanität mit Muße verknüpft, die gewährte, dass sich eine feine, dem Geist gewidmete Lebensart entwickeln konnte (Siebel 2000: 265). In den Konversationslexika wird der Begriff heute noch mit einer gebildeten, weltmännischen Art in Verbindung gebracht (Duden 2000). Seit dem Mittelalter kam der Aspekt der Emanzipation hinzu (Siebel 2000: 266). »In der mitteleuropäischen Stadt wird die politische Machtausübung abgelöst von der Verfügung über militärische Gewaltmittel zugunsten der Verfügung über ökonomische Machtmittel und dabei demokratisiert. Nicht die Zugehörigkeit zum (erblichen) Adel oder zum geistlichen Stand, sondern die Mitgliedschaft in einer Zunft und damit in einem ökonomisch fundierten Verband wird entscheidend für das politische Bürgerrecht« (ebd.).

Der Bürger wird ökonomisch selbstständig, er bekommt politische Rechte zugeschrieben und es beginnt sich eine Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zu entwickeln. Dadurch kann sich das Individuum direkten und persönlichen Kontrollen entziehen (ebd.). Wurde Urbanität zunächst vor allem als verfeinerte Lebensart und emanzipatorisches Moment verstanden, so kommen ab dem 20. Jahrhundert auch räumlich-funktionale Dimensionen hinzu (Baum 2008: 41). Urbane Räume zeichnen sich durch Größe, Dichte und Heterogenität aus (Wirth 1938). Weite Freiflächen wie Parks, Boulevards, Sportanlagen etc. stehen dichten Bebauungsstrukturen gegenüber. Auf den Straßen herrscht eine Vielfalt von Sprachen, Milieus, Berufsgruppen etc. Urbane Orte sind gekennzeichnet durch eine Mischung von Funktion wie Arbeit, Wohnen, Freizeit und Konsum. Der Übergang vom Tag zur Nacht führt nicht zum Einbruch der Nutzung, sondern allenfalls zu einer Nutzungsverschiebung – etwa von der Arbeit hin zum Aufenthalt in Restaurants, Kneipen oder Kinos. Baum definiert zudem eine atmosphärische Dimension von Urbanität (Baum 2008: 83). Diese ist für die vorliegende Arbeit vor allem dahingehend relevant, als sie auf die geschichtliche Textur des jeweiligen Ortes verweist, seine spezifischen Symbole und kulturelle Codierungen, die Erzählungen und (Vorstellungs-)Bilder prägen. Urbane Orte besitzen eine »Bildhaftigkeit« (Baum 2008: 72), die erfassbar und lesbar ist. Bevor wir nun nochmals den Analysegegenstand betrachten und darauf achten inwiefern die vier Dimensionen von Urbanität (soziale, räumliche,

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funktionale und atmosphärische Dimension) gezeigt bzw. inszeniert werden, soll uns ein Zitat dafür sensibilisieren, dass Urbanität prinzipiell visualisiert werden kann und mit vielen, zum Teil sehr konkreten, Vorstellungen verknüpft ist: »Das Wort evoziert Bilder. Wer von Urbanität spricht, ruft Sequenzen träumerischer Stadtansichten herbei. Regen auf Asphalt, mild gebrochenes Licht unter Bäumen, der Staub der Strasse. Bildfolgen einer urbanen Utopie, dass das San Gimignano mit dem Boulevard Saint Michel verbindet. Ein ferner Sehnsuchtsort, auf dessen Avenuen kleine Tische stehen, wo Kaffeeduft in der Luft liegt, leichter Wein in beschlagenen Gläsern moussiert und Stimmen, Rufe, Autohupen sich kakophonisch verwirren. Eine Stadt die tags und nachts trubelt, sommers wie winters, bei Wind und Wetter, stets quirlig, laut und lärmend. Eine Stadt der flüchtigen Begegnungen, der welthaltigen Gespräche und zivilen Umgangsformen, wo hinter den großen Fenstern der Cafés und Restaurants die Gabeln klirren und schöne Frauen leise über die Reden der Dichter lachen« (Wefing 1998).

Zunächst betrachten wir das Bild erneut aus der Position des Außenstehenden, der diese Stadt nicht kennt und dadurch nicht über die kulturellen Konnotationen dieses Ortes aufgeklärt ist. Die räumliche Dimension von Urbanität, die sich durch Dichte, Größe und Heterogenität auszeichnet, wird im Bild durch die Bebauung evident. Es ist ein weitläufiger, wenig strukturierter Platz in der Bildmitte zu sehen. Rechts daneben verweist das große Hotel sowie die mehrstöckigen Wohnhäuser auf eine dichte Bebauungsstruktur. Der Bahnhof sowie die Reisebusse verweisen wiederum auf Vielfalt und Heterogenität. Funktional handelt es sich um einen zentralen Verkehrsknotenpunkt einer Stadt, darauf verweist das U-Bahn-Schild in der Bildmitte, die Busse, die Autos und der Bahnhof. Der Platz wird sich nicht an einer peripheren Stelle der Stadt befinden. Ein repräsentatives Denkmal und ein Bahnhof, der durch weitere Lichtquellen dekorativ beleuchtet wird, vermitteln das Gefühl, dass es sich um einen Platz im Stadtkern handelt. Die soziale Dimension von Urbanität kann als Außenstehender, der den Bildgegenstand betrachtet, kaum erfasst werden. Zwar handelt es sich um einen zentralen Platz in der Stadt, er scheint jedoch nicht Mittelpunkt des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens zu sein. Da keine Verweilmöglichkeiten, keine Restaurants und Cafés auszumachen sind, ist hier weder ein Ort der Muße noch der Zerstreuung abgebildet. Die Aufnahme aus der Distanz sowie das gewählte Szenario, lassen distinguierte Lebensformen wie angeregte Unterhaltungen, Lektüre von Zeitungen und den Modestil der Menschen dieser Stadt nicht erkennen. Die atmosphärischen Qualitäten der bildlich inszenierten Urbanität beschränken sich auf Hektik, Lärm und Abgase. Der Duft von Café, ver-

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schiedenen Gewürzen und Gerichten steigt einem bei der Bildbetrachtung nicht in die Nase. Erschließt sich die Urbanität dieses Ortes als Außenstehende lediglich über ihre räumlich-funktionale Dimension, so wird die Stadtbewohnerin beim Anblick dieses Platzes und des Denkmals im Bildvordergrund die emanzipatorische Kraft der Zivilgesellschaft erkennen. Der Platz ist ständiger Austragungsort von Protesten, auch wenn etliche Male Demonstrationsverbote verhängt wurden (Baykan/Hatuka 2010: 64). Während nationaler Feiertage finden Militärparaden und andere demonstrativen Machtdemonstrationen der politischen Führung statt. Das Atatürk-Denkmal war das erste Monument der neu gegründeten Republik (ebd. 55). Auch durch die Umbenennung von Straßennamen sollte die neue Epoche symbolisch demonstriert werden. So wurde aus der ›Cadde-I Kebir‹ die ›Istiklal Caddesi‹ (Straße der Unabhängigkeit). Zudem führt die ›Cumhuriyet Caddesi‹ (Straße der Republik) direkt zum Taksim Platz. Diese Namen demonstrier(t)en das neue Selbstverständnis der Republik. Ebenfalls verknüpft die ›Kennerin‹ auch jene Elemente die durch das Bild zwar nicht gezeigt werden, auf welches es jedoch verweist. Es handelt sich bei dem abgebildeten Platz in Hinblick auf die soziale Dimension von Urbanität um den urbansten Ort der Stadt. Unmittelbar hinter dem Denkmal beginnt die ›Istiklal Caddesi‹. Hier grenzt ein Café und Kino an das nächste, hier hört man verschiedenste Sprachen, es sind unterschiedlichste Kultureinrichtungen ansässig und zahlreiche Menschen strömen aus den Geschäften, die alle sieben Tage der Woche und zumeist bis 22:00 Uhr geöffnet haben. Durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Wahrnehmung (Innenund Außenperspektive) wird ersichtlich, dass die urbanen Qualitäten zum Teil nicht durch das Bild visualisiert sind, jedoch auf sie verwiesen wird. Für die Istanbulkennerin erschließt sich die, in der phänomenologischen Terminologie gesprochen, appräsentierte Urbanität auf den ersten Blick. Sie assoziiert das emanzipatorische Moment des Platzes und vermag es, sich die urbanen Umgangsformen, die dort herrschen, auszumalen. Dadurch, dass das Atatürk-Kulturzentrum durch ein älteres Bauwerk ersetzt wurde und auch dem Denkmal der Republik etwas weniger visuelle Dominanz gegeben wird, kann zudem die These formuliert werden, dass durch dieses Bild von der Zeit der Gründung der Republik Abstand genommen wird26. Wenn dem so wäre fragt sich, weshalb dann überhaupt der Taksim-Platz visualisiert wird. Neben dieser Unklarheit zieht sich durch das Bild eine weitere Unstimmigkeit.

26 Der Bau des Bahnhofs wurde noch im Zuge der Stadterneuerung durch die osmanische Dynastie in Auftrag gegeben (Fuhrmann 2010: 25ff).

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Diese manifestiert sich in einem Kompromiss in der Gestaltung, der zwischen offensichtlicher Inszenierung und inszeniertem Realismus schwankt. Dieser Kompromiss entsteht nicht zuletzt durch den Antagonismus, Istanbul als moderne, urbane Metropole zu stilisieren und dem Bild gleichzeitig eine geschichtliche Rahmung zu geben, die sich von der jüngeren Vergangenheit (Gründung der Republik) abgrenzt und auf eine weitere zurückliegende Epoche rekurriert. Es offenbart sich dabei ein diskrepantes Selbstverständnis, das verschiedene Orientierungspunkte miteinander verknüpft. Durch den nun folgenden Vergleich der verschiedenen Kampagnenmotive (internationale und nationale Werbebilder bzw. –filme) wird ersichtlich, welches Selbstverständnis und welche Strategie hinter diesen verschiedenen Orientierungspunkten stecken.

156 I ISTANBUL ALS BILD

E INE

GLOBAL ORIENTIERTE ORIENTALISCHE

INTERNATIONALEN UND NATIONALEN

S TADT : I STANBUL

IN DER

W ERBEKAMPAGNE

Die Belle Epoque – Aktualisierung der imperialen Vergangenheit:

Werbemotiv historische Halbinsel Internationale Werbekampagne

Eingangsmotiv internationaler Werbeclip

Schlusssequenz internationaler Werbeclip

Werbemotiv deplatzierte Hagia Sophia nationale Werbekampagne

Werbemotiv deplatzierter Galata Turm; nationale Werbekampagne

Reinterpertinterpretation (Historisierung) des Platzes der Republik Werbemotiv deplatzierter Haydarpasa Bahnhof; nationale Werbekampagne Grafik 31: Überblick über die Motive zur Bewerbung des Kulturhauptstadtjahres 2010

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Vom Bildaufbau, der Perspektive und den thematischen Referenzen passen die internationale Kampagne und die nationalen Werbemotive gut zueinander (siehe Grafik 31: Überblick über die Motive zur Bewerbung des Kulturhauptstadtjahres). Perspektivisch kennzeichnet alle Motive (bis auf die zuvor erwähnte Ausnahme) eine Frontalansicht sowie ein flächiger Bildaufbau. Im Vordergrund nimmt das Wasser eine große Fläche ein, im Hintergrund der Himmel. Die Lichtgestaltung des Himmels und die glitzernden Farben des Wassers sind wichtige ›Atmosphärenerzeuger‹. Das Naturschauspiel von Himmel und Wasser in Verknüpfung mit den visuell hervorgehobenen Moscheen symbolisieren göttliche Mächte. Diese werden im Gegensatz zu den vom Menschen gestalteten zivilisatorischen Fortschritten visuell hervorgehoben. Auch die Claims der internationalen wie der nationalen Kampagne ähneln sich. »Inspiration« bzw. »Energy« gehen von der Spiritualität des Ortes aus. D.h. die Kulturhauptstadt wird weniger mit den vom Menschen erzeugten Kulturgütern (Museen, Galerien, Konzerthäusern, etc.) beworben als mit metaphysischen Qualitäten. Kultur wird mit Sakralität, Glauben (Islam) und der Vergangenheit (dem osmanischen Reich) verknüpft. ›Istanbul 2010‹ zeigt sich nicht mit dem Gesicht einer gegenwärtigen Stadt, sondern mit Referenzen auf die Zeit des Osmanischen Reiches. Die Inspiration und die Energie, die von diesem Ort ausgeht, ist in erster Linie das Eintauchen in eine ›andere Welt‹, das es ermöglicht, neue Erfahrungen zu machen. Muss die Werbebotschaft in den Einzelbildern eine klare und unmissverständliche Aussage haben, so können durch den Werbefilm parallellaufende Geschichten erzählt werden. Die Hauptbotschaft – Ankunft in einer anderen Welt (orientalischen Stadt) – wird auch im internationalen Werbeclip unmissverständlich kommuniziert. Ein Segelboot mit zwei Passagieren (einem Mann und einer Frau) erreicht im Morgengrauen die Stadt. Aus Dunst und Nebel treten im ersten Frame, der die Stadt zeigt, die Hagia Sophia und die Blaue Mosche hervor (Grafik 31). In der Schlusssequenz, die ein Motorboot mit einer Frau in den Armen eines Mannes beim Verlassen der Stadt bei Morgengrauen zeigt, schwenkt die Kamera ebenfalls auf die historische Halbinsel mit den zwei Moscheen. Im unteren Bildsegment formt sich aus einer Feuerwolke der Schriftzug »Istanbul Inspirations«. Im Film werden jedoch zwei Dinge miteinander Verknüpft: Tradition und Moderne. Der erste Besuch an Land führt eine ›westlich‹ gekleidete, blonde Frau in eine Moschee. Vor dem Eintritt in das sakrale Gebäude zieht sie sich ein Kopftuch über. Nach dieser Filmsequenz beginnt das Wechselspiel. Die Vielfalt der Stadt wird durch einen kontinuierlichen Wechsel zwischen modernen Bürohäusern, der Bosporus Brücke, Innenansichten von Clubs, Bars, Restaurants, Museen mit moderner Kunst einerseits und die Fokussierung

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auf Moscheen, den Grand Basar und traditionelles Kunsthandwerk andererseits dargestellt. Überraschend ist, dass im gesamten Videoclip, bis auf das Kopftuch, das sich die blonde Frau beim Eintritt in einer Moschee überzieht, nicht eine verschleierte Frau zu sehen ist. Es wird im Film offensichtlich eine Großstadt mit modernen Lebensformen inszeniert, die sich ihrer Tradition bewusst ist. Man hört etwa an einigen Stellen einen Gebetsgesang, der mit den Klängen traditioneller Instrumente sowie mit Beats moderner elektronischer Musik vermischt ist. An verschiedensten Stellen im Film erklingt zudem die vielseitige Geräuschkulisse der Stadt (Wasser, Möwen, Schiffhupen, Muezzin, etc.). Die Rahmung – das Ankommen und das Verlassen der Stadt – ist jedoch nicht durch Vielfalt, sondern mit einem klaren Bild einer orientalischen Stadt, in der Religion eine große Bedeutung (Macht) hat, besetzt. Während im Werbefilm zwei parallel laufende Geschichten klar identifizierbar sind verdichten sich diese in den Werbebildern relativ kongruent zu einem Bild. Das internationale Werbesujet der historischen Halbinsel sowie die zwei nationalen Kampagnenmotive, die deplatzierte Hagia Sophia sowie der Galata Turm, der an die Stelle des Mädchen Turms (Kiz Kulesi) gesetzt wurde, sind durch eine relativ einheitliche Darstellungsform gekennzeichnet. Die gewählte Perspektive, die Architektur der Gebäude, die verwendeten Farben, das inszenierte Naturschauspiel etc. sind aufeinander abgestimmt. Konträres gilt für die Darstellung des Haydarpasa Bahnhof, der an den Taksim Platz gestellt wurde. Dieses Motiv passt weder zu den anderen Bildern als auch das Bild selbst von starken Kontrasten (Widersprüchen) gekennzeichnet ist. Es ist das einzige Bild der zwei Werbekampagnen, das einen Platz in der Stadt fokussiert. Die Perspektive ist nicht frontal, sondern man betrachtet die Situation von oben herab. Hier ist der Bosporus nicht zu sehen und das Naturschauspiel (malerischer Himmel) tritt in Konkurrenz zu einem Großstadtszenario (Verkehr, Hektik). Wird in ersteren drei Bildern die imperiale Vergangenheit des osmanischen Reichs stilisiert, so ist im Vordergrund des Bildes, das den Taksim-Platz abbildet, das Denkmal der Republik zu sehen. Wie in der Analyse gezeigt wurde, steht dieses jedoch nicht im Fokus der Bildbetrachtung. Der Blick gleitet von dort vielmehr auf den Haydarpasa Bahnhof der an Stelle des Atatürk Kulturzentrums gesetzt wurde. Dies ist der Moment, der die Widersprüchlichkeit erzeugt. Es wird der Platz der Republik gezeigt obwohl, wie aus der Mehrzahl der gewählten Motive sowie auf Basis des Werbeclips geschlossen werden kann, die imperiale Vergangenheit in Szene gesetzt werden soll. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass der TaksimPlatz zu einem der signifikantesten Orte der Stadt gehört. Wenn es drei Motive zur nationalen Kampagne gibt, dann darf dieser Platz nicht fehlen. Er lässt sich jedoch nicht im Sinne der anderen Motive darstellen. Diese Widersprüchlichkeit

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sollte mittels der Bildgestaltung und Bearbeitung relativiert werden (durch die gewählte Perspektive sowie dem Austausch des Atatürk Kulturzentrums mit dem Haysarpasa Bahnhof). Bei der Darstellung geht es, wie in der Analyse gezeigt wurde, um eine Re-Traditionalisierung: der Platz der Republik – und damit der Türkischen Moderne – wird eine Epoche zurückversetzt: Von der »radical modernity« (Tekeli 2010), die durch Atatürk geprägt war, und durch das deplazierte Atatürk Kulturzentrum repräsentiert wird, zur »shy modernity« (ebd.), die noch unter Osmanischer Herrschaft stand, und im Werbebild durch den Hadarpasa Bahnhof repräsentiert wird. In farblicher Hinsicht unterscheidet sich die internationale Werbekampagne von der nationalen. Sind die Farben in ersterer in Sepia gehalten, so sind jene der nationalen aggressiver und gewissermaßen popkulturell angehaucht. Mittels der farblichen Gestaltung wird in der internationalen Werbekampagne eine Historisierung betrieben, wobei die Farbkomposition der Bilder, die sich an die nationale Zielgruppe richten, den Blick auf Istanbul bzw. die historischen Bauten modernisieren. Sie kontextualisieren die Vergangenheit in der Gegenwart. Die Hinwendung zum Zeitalter des Imperialismus ist das zentrale Ergebnis der Untersuchung. Dieselbe Darstellung erzeugt dabei für unterschiedliche Bildbetrachterinnen unterschiedliche Bedeutungen. Je nachdem wie kritisch man dieser ›offiziellen Selbstdarstellung‹ der Stadt gegenüber steht und wie genau man die Stadt und ihre Geschichte kennt, überwiegen Aspekte einer demonstrativen Machtsymbolik oder jene einer inspirierenden Zeitreise in eine vergangene Zeit und an einen fremden Ort. Sowohl die internationale Kampagne, die auch an zentralen Orten in der Türkei platziert war, als auch die nationale Kampagne funktioniert sowohl als ein Eigenbild, mit welchem sich weite Teile der Stadtbevölkerung zu identifizieren vermögen, als auch als ein Bild der Anderen, das für Außenstehende (Touristen) die nötige Exotik erzeugt. Insofern wurde durch die Analyse nachgezeichnet, wie etwas (Istanbul) als etwas (die Belle Epoque des ausgehenden 19. Jahrhunderts) für jemanden (Bewohnerinnen und Touristen) dargestellt wird (Breckner 2012: 146). Weshalb inszeniert sich die Kulturhauptstadt Europas, die sich mehr und mehr auf den globalen Markt hin ausrichtet, mit dem Zeithalter des Imperialismus? Wie passt diese »erfundene Tradition« (Fuhrmann 2010: 19) zu einem für die Postmoderne adäquaten Image? Und: weshalb wird gerade diese Epoche der Stadt, die auf eine mehrere tausend Jahre alte Geschichte zurückgreifen könnte, herausgepickt (ebd.)? Istanbul wurde seit der Gründung der Republik bis zu den 1980er Jahren mehr und mehr isoliert (kulturell, wirtschaftlich und politisch) und homogenisiert (Vertreibung von Minderheiten) sowie durch die Migrationsströme ab den 1950er Jahren zunehmend provinzialisiert. So entstand ab den

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1920ern eine Kluft zwischen dem nicht-osmanischen, türkischen Istanbulbild und dem, dem osmanischen Kontext entstammenden, kosmopolitischen Istanbulgegenbild (Tischler 2010: 110). Letzteres steht heute für Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Werten und Lebensweisen, wie sie vor allem das Leben im Stadtteil Pera prägten (ebd.). Ab den 1980er kam es zu einer Liberalisierung der Wirtschaft und der Öffnung des türkischen Marktes als Standort für ausländische Investoren. Dabei wurde Istanbul auch für den Städtetourismus zunehmend relevant. Just in jener Umbruchsphase kam es zu einem Nostalgieboom in der Stadt (vgl. dazu etwa Bora 1999; Keyder 1999; Eldem 2006; Stemmler 2009; Tischler 2010). Es »bestand für Istanbul (…) das Verlangen, die über das 20. Jahrhundert hinweg verlustig gegangene kosmopolitische Urbanität, kentsoylu, wie überhaupt ihr identitätsbestimmendes Image als Welt(haupt)stadt und Drehscheibe zwischen Ost und West wieder zurückzugewinnen« (Tischler 2010: 110). In diesem Zitat stecken zwei zentrale Aspekte, die auch in der Analyse der Werbebilder zum Ausdruck kamen. Einerseits geht es um die Wiedererlangung eines urbanen Lebensstils. Damit werden etwa Werte wie Multikulturalität und Vielsprachigkeit verknüpft, die mit der Gründung der Republik und der Folgejahre verlorengingen (Türkisierung von Straßennahmen, Vertreibung von Minderheiten, ›Provinzialisierung‹ durch den Zuzug der anatolischen Landbevölkerung) und mit dem Zeitalter des Osmanischen Reiches verknüpft werden. Andererseits geht es um die Zurschaustellung eines neu erlangten Selbstbewusstseins, das ebenfalls zu jener Zeit passt als man ein ›Empire‹ war, das globale Resonanz genoss. Die Istanbuler werden durch den Anblick der Spuren des osmanischen Reiches von einem »Hüzün-Gefühl« eingeholt, »ein Gefühl, das durch Armut, Niederlagen, Verluste, Schwermut, Orientierungslosigkeit und identitäre Unsicherheit ausgelöst wird, die der Zerfall des Osmanischen Reiches ebenso wie der Verlust von Geschichte (z.B. durch die Zerstörung von Denkmälern) gleich der Entwurzelung über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts über Istanbul gebracht hat, und das seine Ableitung in der Nostalgie findet« (Tischler 2010: 112).

Orientierung geben den Istanbulern bestimmte Bilderwelten, so die These Tischlers, die die Sehnsucht nach der stolzen Hauptstadt des Osmanischen Reiches, nach der kosmopolitischen, urbanen und bourgeoisen Dimension Istanbuls stillen indem sie es wiederbeleben. Dieser empirische Befund, zu welchem Tischler auf Basis der Auswertung verschiedener Filme sowie anhand von Analysen des Wandels der Stadtgestalt kommt, deckt sich mit den Ergebnissen der hier untersuchten Werbebilder. Es wird vom national-türkischen Istanbul-Bild (der Zeit ab der Gründung der Republik) Abstand genommen und die imperiale Vergangen-

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I 161

heit wiederbelebt. Diese Vergangenheit passt insofern zu den postmodernen Werten einer globalen Stadt, als diese Epoche Inbegriff kosmopolitischer, synkretistischer, pluralistischer und moderner Werte ist (ebd. ). Zudem ist dieses Image für eine Städtereisedestination attraktiv, da die Zeit der Osmanen mit exotischen und erotischen Vorstellungen assoziiert wird. Die Bilder suggerieren eine ›fremde Welt‹, die es zu entdecken gilt und die den ›Westler‹ inspirieren wird.

Die Gelebte Stadt – Istanbul aus der Sicht der Bewohner

Wurden im vorherigen Abschnitt Images von der »Stadt als Ganzes« (Strauss 1961) rekonstruiert, die von einer Deutungselite – dem Feld des Stadtmarketing – konzipiert wurden, so interessieren im Folgenden die Relevanzsysteme der Istanbuler Bevölkerung und wie diese die soziale Wirklichkeit – konkret: den Alltag dieser Stadt – beschreibt und imaginiert. Zur Erfassung der Alltagswirklichkeit wurden 17 Bewohner beauftragt, Fotos vom Alltag in der Stadt anzufertigen und anschließend über ihre Bilder zu sprechen (sie Kapitel Untersuchungsdesign). Die Auswertung folgte der »Grounded Theory« (Glaser/Strauss 1967; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010), die mit dem bildanalytischen Verfahren von Roswitha Breckner (2010) kombiniert wurde. Das Text- und Bildmaterial aufeinander bezogen werden ist ein Charakteristik der Fotobefragung (Kolb 2008). Vor allem Bilder, die entweder nur wenig von den interviewten Personen kommentiert wurden, oder anhand derer zentrale Kategorien gebildet wurden, wurden segmentanalytisch vertieft analysiert. Im Rahmen der Fotobefragung, die im Sommer 2010 in Istanbul stattfand und bei der 17 Bewohner der Stadt teilnahmen entstanden rund 300 Bilder (siehe Kapitel: Forschungsfrage und Datenbasis). Während der Interviews wurden die Teilnehmer gebeten, fünf Fotos aus ihrer Serie auszuwählen und über diese Bilder zu sprechen, womit das umfangreiche Material aus der Sicht der Interviewpartner selektiert wurde. Elf Interviews konnten während des einmonatigen Aufenthalts in Istanbul realisiert werden. Es wurde versucht in Hinblick auf Geschlecht, Alter, Bezirk und sozioökonomischen Status eine höchstmögliche Varianz zu erzielen. Dennoch kann ein Sample von 17 Personen nicht beanspruchen die Alltagswirklichkeit einer Millionenstadt wie Istanbul in all ihren Facetten zu erfassen. Verallgemeinerungen die im Folgenden gemacht werden beziehen sich somit stets auf das Untersuchungssample.

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Name

m/w

Alter

1

Zeynep

w

30

Beruf

Bezirk

Interview

Bibliothekarin

Bariköy

X

2

Amila

w

28

Studentin

Chihangir

X

3

Düsün

m

21

Student

Kadiköy

X

4

Gökcer

m

30

Raumplaner

Sisli

X

5

Nursen

w

50

Haushälterin

Kartal

X

6

Funda

w

45

Angestellte

Kadiköy

X

7

Ilker

m

67

Pensionist

Kadiköy

X

8

Asli

w

40

Angestellte

Maltipe

X

9

Cem

m

24

Student

Sisli

X

10

Suay

w

22

Studentin

Besiktas

X

11

Deniz

w

20

Studentin

Kadiköy

X

12

Hatije

w

26

Angestellte

Kadiköy

-

13

Serzan

m

19

Student

Kartal

-

14

Bülent

m

35

Geschäftsmann

Bariköy

-

15

Deniz

m

32

Wissenschaftler

Kartal

-

16

Muammer

m

-

-

Kadiköy

-

17

Akin

m

-

-

Üsküdar

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Grafik 32: Untersuchungssample Fotobefragung

Die Auswertungsstrategie soll anhand eines Beispiels veranschaulicht werden: Zunächst wurde jedes Bild sowie die einzelnen Aussagen dazu mit sogenannten ›In-Vivo-Codes‹ versehen. In diesem ersten Schritt, der auch als ›offenes Kodieren‹ beschrieben wird, ging es bereits um eine ›Theoretisierung‹. Aussagen wurden nicht ›klassifiziert‹, sondern in theoretische Konzepte ›übersetzt‹. Aus der Kodierung der einzelnen Aussagen zu den Bildern wurde schließlich ein Überblick über die ›Bild-Erzählungen‹ erstellt. Die untenstehende Tabelle listet beispielhaft ›Konzepte‹ auf, die anhand der Thematisierungen einer Interviewpartnerin zu den von ihr ausgewählten fünf Istanbul-Bildern identifiziert werden konnten:

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Fall 1 Beobachtung

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Bildthema1 Aufeinandertreffen von vermittelter und (selbst) erfahrener Wirklichkeit a) Faszination des ›Nichterlebten‹ b) Unsicherheit: welches ist das echte Istanbul? Suche des authentischen Istanbul

Bildthema2 1) Aufeinandertreffen von vermittelter und (selbst) erfahrener Wirklichkeit 2) Freiheit und Zwänge des Stadtlebens Zu 1) -> siehe Bildthema1

Bildthema3 1) Wertekonflikt 2) Chaos

Zu 2) i) Identifikation möglicher Fluchtwege ii) Subjektivierung des, und Identifikation mit dem Mikrokosmos

Kritik: i) Männliche Autorität, Einschränkung der Frau ii) Einschränkung der Individualität (Frau kann nicht anziehen was sie will) iii) Doppelsinnigkeit

Konsequenzen

Nostalgie

Emotionale Bindung

Fall 1 Beobachtung Auswirkung Taktiken / Strategien

Bildthema4 1) Chaos 2) Armut Zu 2) a) Solidarität

Bildthema5 Unterdrückung von Emotionen und Individualität Keine freie Meinungsäußerung i) Anonyme Meinungsäußerung ii) Indirektheit

Auswirkung

Taktiken / Strategien

Unsicherheit

Grafik 33: Überblick Bilderzählungen Fall 1 Fotobefragung

An diesem Fall wurde erkannt, dass zwei Beobachtungen durch das gesamte Interview hinweg immer wieder thematisiert werden und zu einer ›Wahrnehmungstypik‹ der Person verdichtet werden können (siehe Grafik 34). So wurden an unterschiedlichen Stellen im Interview immer wieder thematisiert, dass im Alltag Istanbuls unterschiedliche Wirklichkeitsauffassungen aufeinandertreffen, was zu Wertekonflikten führt. Zum einen hinterfragt diese Teilnehmerin ihre Auffassung selbst (›ihr‹ Istanbul kommt ihr ›steril‹ vor und sie flüchtet sich in ein Istanbul, das sie aus Erzählungen und Romanen kennt), zum anderen beobachtet sie Konfliktsituationen im Alltag, bei denen Normen und Auffassungen vehement verteidigt werden. Ein Rückzug in eine imaginierte Wirklichkeit und eine vehemente Abgrenzung zu bestimmten Werten konnten als Konsequenzen identifiziert werden.

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Beobachtung

Differente Wirklichkeiten

Auswirkung

a) In-Frage-Stellen der Wirklichkeitserfahrung b) Unsicherheit

Taktiken /

i) Suche nach dem authentischen Istanbul

Strategien

Konsequenzen

Nostalgie

Wertekonflikte (Normativitätsansprüche) a) Konfliktsituationen im Alltag b) Chaos c) Unterdrückung von Emotionen und Individualität d) Unsicherheit i) Identifikation von Fluchtwegen ii) Anonyme und indirekte Meinungsäußerung iii)Konstruktion von einer ›Masse‹ und Abgrenzung von dieser i) Rückzug ii) Distinktion

Grafik 34: Verdichtung der Bilderzählungen Fall 1 Fotobefragung

Nachdem die ersten fallspezifischen Kategorien erstellt waren, wurde ein Fallvergleich unternommen. Es wurde die Frage gestellt, wie und ob sich das, was anhand eines Falles erkannt wurde, auf andere Fälle übertragen lässt: Welche Gemeinsamkeiten gibt es im Erleben des Alltags der Stadt? Mittels des Fallvergleichs wurden erste Schlüsselkategorien gebildet. Schließlich wurden die bereits kodierten Stellen rekodiert, wobei vor allem darauf geachtet wurde, wie sich die Schlüsselkategorien ausprägen: Wie manifestiert sich die Schlüsselkategorie X in bestimmten Situationen? Beziehungsweise: Wie wird mit X umgegangen? An dieser Stelle der Auswertung wurde die Ebene der Analyse einzelner Fälle verlassen und das Abstraktionsniveau weiter gesteigert. Es galt nicht mehr lediglich zu beurteilen, wie eine bestimmte Person mit gewissen Situationen umgeht, sondern welche Strategie-Typen sich generalisieren lassen. Dies war insofern hilfreich, als die interviewten Personen nicht nur über sich selbst sprachen, sondern ebenfalls das Handeln anderer beobachteten und bewerteten. Außerdem wurde ersichtlich, dass zum Teil zwei oder mehrere der identifizierten ›Strategien‹ von ein und derselben Person angewandt werden. Im Folgenden werden die Vornamen der Personen zum Teil dennoch angeführt, da der Text damit lesbarer und nachvollziehbarer wird, als wenn ausschließlich von ›Falltypen‹ die Rede wäre. Insgesamt ließen sich zwei Schlüsselkategorien identifizieren. Die eine, ich nenne sie ›Antagonismus‹, zeugt von einer sehr kritischen Perspektive auf den städtischen Alltag und von der Schwierigkeit, sich in ihm zurechtzufinden und zu orientieren. Die zweite, ›Kohärenzproduktion‹, ist demgegenüber idealisierend, zuversichtlich und bringt ein Grundvertrauen und eine persönliche Beziehung zur Stadt zum Ausdruck. An ihr kann ein psychologisches Bedürfnis erkannt werden, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche zu verabschieden, Bedeutungen zu stabilisieren und Kontingenz zu bewältigen.

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A NTAGONISMUS

Fotobefragung 1: Düsün_527

Zentrales Thema der Bilder und Bilderzählungen Düsüns ist das Aufeinandertreffen von Gegensätzen. Eines seiner Bilder zeigt einen globalen AccessoiresArtikel-Anbieter (Accesorize) neben einer Moschee. Er kommentiert das Bild mit der Feststellung: »For us that’s weird. In Europe it might be normal that a shopping mall is beside a church. For us this synthesis is difficult, but Istanbul has somehow managed it«. Düsün macht nicht nur eine allgemeine Beobachtung über die Werte(-konflikte) einer Kultur, sondern er ist selbst Teil seiner Beobachtung; sie ist selbstreflexiv. Er identifiziert sich mit dem Dilemma (»For us that’s weird« bzw. »For us this synthesis is difficult«) und grenzt sich von einer anderen Wertekultur ab (»Europe«). Nicht die Bewohner selbst haben es geschafft, mit dem Wertekonflikt umzugehen, sondern der Stadt wird die Bewältigungskompetenz zugeschrieben (»Istanbul has somehow managed it«). Betrachtet man das Bild, so kann der Wertekonflikt mit einer Opposition von ›traditionellen‹ (Moschee) und ›globalen‹ bzw. ›modernen‹ Werten (globales Unternehmen) verallgemeinert werden. Nicht jede Stadt der Türkei ist von der gleichen Situation betroffen; Istanbul hat eine Sonderstellung: »Ismir for example is more on the east side, Ankara is more conventional and at the black sea coast people are divided into two. It seems that in Istanbul all the positions are existing at the 27 Die Codierung der Bilder zeigt wer das Bild gemacht hat und ob es sich um eines der fünf Fotos handelt, die im Interview eingehend besprochen wurden (Nummer 1-5).

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same time together: right, left, conventional, intellectual, western minded«. Während sich die anderen Städte auf eine Richtung hin ausrichten bzw. die Bevölkerung spalten, bleiben in Istanbul die Gegensätze bestehen. Sie werden nicht integriert und damit aufgelöst, vielmehr werden sie inkludiert, so dass die Gegensätzlichkeit bestehen bleibt, jedoch zum Ganzen gehört. Die Moschee befindet sich direkt neben dem ›Accesorize-Store‹ und, wie Düsün festhält, »a man can go out of his Friday prayer and go in to this accessory shop and buy a pair of earrings for his girlfriend«. Die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen ist für Düsün ebenfalls im Stadtbild evident. Auch wenn manche Personen gewisse Elemente, wie etwa die Gecekondus, als störend empfinden, gehören sie für ihn zu dieser Stadt. Die Unübersichtlichkeit bereitet den Bewohnern einige Schwierigkeiten wie sie auch die Faszination der Stadt ausmacht. Hat Düsün seine Beobachtung – die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem – zunächst als ›Dilemma‹ eingeführt, so hält er einige Erzählminuten danach fest: »In my Istanbul this is a beautiful synthesis«. Am Ende des Interviews führt er Idealisierung und Ablehnung überhaupt zusammen: »The greatest characteristic of Istanbul is it’s diversity. It is the one I love the most and it is the one I hate the most at the same time«. In der Geschichte der Türkei, so Düsün, hat sich immer wieder gezeigt, dass dieses Land Schwierigkeiten damit hat, mit Diversität umzugehen. Es handelt sich also zunächst nicht um ein stadtspezifisches Problem, sondern um ein nationales. Stadtspezifisch ist jedoch, wie mit dem Dilemma umgegangen wird. Gegenwärtig nimmt Düsün eine Zuspitzung des Konflikts wahr. In Istanbul ist er deshalb besonders spürbar, weil in der Stadt nicht eine Richtung dominant ist, sondern sie zwischen den verschiedenen Positionen steht. Auch wenn Istanbul verschiedene Positionen ›synthetisiert‹, führt dies im Alltag nicht zu Toleranz. Dementsprechend ist die alltägliche Erfahrung nicht von Ambivalenz geprägt, in dem Sinne, dass verschiedene, zum Teil gegensätzliche Werte gelten. An den Ausführungen Düsüns wird deutlich, dass es sich eher um einen andauernden Zustand doppelter Negation handelt: Die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem in der Stadt zerstört zunächst Gewissheiten (erste Ebene der Negation), ja noch mehr, sie stört das Urteilsvermögen und führt zu Orientierungslosigkeit: »Because so many things happen here at the same time it is very hard to be clear what is right and what is wrong (…) it is difficult to choose your own way«. Um Halt zu finden orientieren sich viele Bewohnerinnen, wie Düsün ausführt, an Traditionen und an ihren Familien: »We are experiencing so many things so harshly that we cannot move forward, we are standing still. We are standing were our families left us«. Das Festhalten an Werten der Familie und Traditionen führt zur ›Bewegungslosigkeit‹. Die von Düsün verwendeten Ausdrücke, um

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das ›Festgefahren-Sein‹ zu bekunden, lassen auf gewisse Normativitätsansprüche schließen, die möglicherweise mit der Berufung auf Traditionen verteidigt werden. Die Orientierungssuche mündet somit in einer zweiten Negation. Die heterogene Bevölkerung Istanbuls beruft sich ja nicht auf dieselben Normen, vielmehr treffen unterschiedliche Normativitätsansprüche aufeinander. Düsün spricht explizit an, dass er beobachtet, wie unflexibel man mit der Diversität der Stadt umgeht. Er verwendet also erneut eine Formulierung, die auf eine Verhärtung der Standpunkte verweist. Ständig werden im Alltag Abweichungen registriert. Sei es, dass die Leute hinterrücks Bemerkungen über das (falsche) Verhalten oder das (falsche) Aussehen machen oder, dass sie es direkt sanktionieren. Kontinuierlich ist man im Alltag der Stadt bemüht, nicht aufzufallen und unterdrückt seine Individualität. Die Anstrengungen, die damit einhergehen, verhindern wiederum die Konzentration: »One of the most difficult thing in Istanbul is that you cannot concentrate on one thing very well, you always have to think about many things, that’s why our people are different«. Düsün erkennt eine für den Alltag in Istanbul charakteristische Verhaltensweise: Ständig beobachtet man die Reaktionen anderer und spürt ihre Blicke. Das markiert für Düsün einen Kontrast zu Europa: »if you are in Europe the gazes of other people would not disturb you. You would not care«. In Istanbul muss man jedoch auf der Hut sein, weil schon der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit als Angriff auf die Persönlichkeit anderer gewertet werden kann. In Düsüns Bild-Beschreibungen kommt eine Erfahrung von Antagonismus zum Ausdruck. Der Alltag in Istanbul ist durch ein ›Gegen-Einander-Kämpfen‹, ein Widerstreit von Akteuren gekennzeichnet. An vielen Stellen des Interviews wird erwähnt, dass man aufeinander ›Druck ausübt‹, dass man die Individualität, Verhaltensweise, Ethnizität, Religion, Sprache und Hautfarbe anderer nicht akzeptiert und eine gegenseitige Angst dominiert. Er antizipiert demgegenüber die urbane Kultur europäischer Städte, wie in einem zuvor angeführtem Zitat zum Ausdruck gebracht wurde, als erleichternd: Man muss sich nicht um die Blicke anderer scheren. Die »Blasiertheit«, die Simmel als Charakteristikum für die großstädtische Lebensart beschrieben hat (Simmel 1995) bzw. die »civil inattention« von welcher Goffman sprach (Goffman 1963), scheinen für den Alltag Istanbuls nicht zu gelten. Hier fühlt man sich im Zentrum der Aufmerksamkeit von Millionen anderer Menschen, die konträre Werte vertreten, Abweichungen registrieren und mitunter gar sanktionieren. Die »spezifische Form urbaner Wahrnehmung«, die Stefan Hirschauer in der Entwicklung eines »kurzsichtigen Kabinenblicks« erkennt (Hirschauer 1999: 234), scheint in Istanbul nicht geübte Praxis zu sein. Hirschauer beschreibt diesen Blick anhand einer Fahrstuhlfahrt und damit in einer Situation die programmatisch ist, für physische

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Enge und soziale Distanz. Spezifische Taktiken der Blicksteuerung sind dabei ein geheucheltes Interesse an der Stockwerkanzeige, damit die Mitreisenden verstehen, dass man wartet und nicht herumlungert sowie kurzfristige Vergaben von »Blicklizenzen« (ebd.: 232), die jedoch nicht überschritten werden dürfen. Das Signalisieren von ›Mit-Sich-Selbst-Beschäftigt-Sein‹ und das Dementieren von Interesse an den zufälligen Wegbegleitern werden gegenseitig als Erleichterung erfahren. Diese Entlastungspraktik wird von Düsün in Istanbul vermisst. An ebenso vielen Stellen, wie Düsün Kritik übt, zeigt er sich von seiner Beobachtung der Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem begeistert. Die positiven Aspekte werden jedoch weniger explizit ausgeführt (»it‘s difficult but also beautiful«). Düsün identifiziert sich mit seiner Stadt, indem er sich explizit auch im »Dazwischen« verortet: »My mental map is neither turning us to the east nor to the west«. Die ›Versöhnung‹ verschiedener Standpunkte, die gleichzeitig eingenommen werden können, wird als Glücksmuster, als »beautiful synthesis« dargestellt. Sie eröffnet ebenfalls eine gewisse Freiheit: »Both, believer and intellectual we can be at the same time«. Die Paradoxie in der Erzählung Düsüns besteht darin, dass gleichzeitig eine ›Verhärtung der Fronten‹ und die ›Flexibilität‹, verschiedene Standpunkte einnehmen zu können, thematisiert werden. Die Antagonismus-Erfahrung drückt sich auch in einer zeitlichen Dimension aus. Cem thematisiert in allen seinen Bildern einen, von ihm als unsolid beschriebenen, urbanen Wandel. Diese »crude urbanization« (Özkan 2008) führt zur Verdrängung der Natur, zur Umweltverschmutzung und zur Beeinträchtigung des Alltags, etwa durch Baustellen und Verkehr sowie ästhetische Zumutungen. Die sich im Stadtbild ausbreitenden Wohnsiedlungen, Hotelanlagen, Business Districts sowie die immer größeren Yachten an den Ufern des Bosporus führen dazu, dass Cem den Alltag häufig als artifiziell und künstlich erfährt. Ein Foto Cems zeigt ein Hochhausensemble, an dem türkische Nationalflaggen befestigt sind:

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Fotobefragung 2: Cem_5

Die Gebäude verweisen auf Büroarbeit. Sie scheinen sich etwas außerhalb der Stadt zu befinden, da nichts im Bild auf ein Stadtzentrum verweist (z.B. Cafés, Wohnhäuser, Geschäfte, Parkanlagen etc.). Die Gebäude benötigen sehr viel Platz, den es eventuell im Stadtzentrum nicht gibt. Hier wird ein Bild einer rasch wachsenden Stadt gezeigt. Die Gebäude und dieser Distrikt sind nicht von Zeit zu Zeit und über die Jahre hinweg hier entstanden, sondern sie wurden schlagartig ›hingestellt‹. Deshalb wirkt das Foto etwas unrealistisch wie eine Cut&PasteCollage. Die Lesart des raschen Wachstums wird außerdem dadurch unterstrichen, dass im Bild zwei Schichten von Gebäuden existieren: die drei Betonklötze im Vordergrund sowie die noch höheren und noch demonstrativeren Gebäude im Hintergrund. Der Abstand dieser zwei baulichen Etappen dürfte kaum mehr als 20 Jahre betragen haben. Außerdem türmt sich ein dritter Hochhauskomplex hinter den schon fertig gestellten Gebäuden empor. Das Bild zeigt eine chronologische und kurze Geschichte. Zu den Glasbauten konnten zusätzliche Informationen gewonnen werden, indem die Aufschriften, die auf zwei der Gebäude zu sehen sind, in eine Informationswebseite zu weltweiten Immobilien eingegeben wurden (vgl. emporis.com 2011-01-04). Der Glasturm ganz links mit der Aufschrift Veko Giz wurde 2007 fertig gestellt und ist ein Bürogebäude. Das Glasgebäude rechts daneben mit der Aufschrift Spring Giz wurde 1994 erbaut und dient demselben Zweck. Das größte Gebäude mit dem abgerundeten Dach ist das Princess Hotel (bzw. Sheraton Hotel), das höchstwahrscheinlich vor allem dem Konferenztourismus dient und 1992 erbaut wurde. Maslak, der Bezirk zu welchem die Gebäude gehören, ist ein Business District von Istanbul.

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Einen Kontrast zum ›Wandel‹ bilden die Fahnen, die eher den Eindruck von Bestand und Stabilität von traditionellen, nationalen Werten vermitteln. Das Bild zeigt, dass die nationale Flagge und damit traditionelle Werte, große Bedeutung (bzw. Macht) für die Nation haben. Gewissermaßen tut sich damit (zunächst) eine Kluft zwischen Liberalität (bzw. Autorität) der Ökonomie und Autorität der Traditionen auf. Die Gebäude demonstrieren ›konkrete‹ – d.h. wirtschaftliche Macht (Kapital). Die Fahnen wiederum zeigen kulturelle bzw. symbolische Macht. Das Bild zeigt sehr deutlich ein Ineinandergreifen der Sphären Ökonomie und Politik durch die Anordnung der Fahnen auf den Bürogebäuden. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen nationalen Feiertag, an dem Fahnen vor Gebäude gehängt werden. Dass jedoch vor Gebäuden, in denen privatwirtschaftliche Firmen ansässig sind, die nationale Flagge hängt, ist keines Falls selbstverständlich. Eine Recherche über die Verwendung der türkischen Flagge in der Türkei ergab, dass Unternehmen und Geschäfte an nationalen Feiertagen die türkische Flagge an ihre Gebäude anbringen müssen28. Damit wird ersichtlich, dass die Politik einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die ökonomische Sphäre hat. Das Bild verdeutlicht somit eine Gleichzeitigkeit von Wandel (symbolisiert durch die Gebäude, die in kurze Zeit hier aufgebaut wurden und die globale Unternehmen beherbergen) und Bestand (symbolisiert durch die nationale Flagge). Für Cem selbst, der das Foto gemacht hatte, dokumentiert das Bild: »the vulnerability of nature in front of technology«. Die Hochhäuser wirken auf ihn künstlich und abstoßend: »It seems really artificial and repulsive to me (…). It is something that doesn’t exist in the origin, in the kernel of earth. Somehow it is dug in there«. Wie man anhand seiner Aussagen erkennt, beunruhigt Cem die Transformation der Stadt. An etlichen Stellen des Interviews thematisiert er etwa, dass Grünflächen verloren gehen. Als Konsequenz erinnert er sich gerne an frühere Zeiten. Ein weiteres Bild kommentiert er mit dem Satz: »Little boats like this and a place where no yachts exist with their loud music. I’ve shot this photo because I miss the previous condition of Bebek« (so der Name eines Stadtteils von Istanbul). Trotz der an vielen Stellen des Interviews zu erkennenden Beunruhigung Cems, überwiegt am Ende des Interviews die Zuversicht bzw. der Glaube an die Widerstandsfähigkeit der Stadt: »I mean it’s (Istanbul) still on it‘s feet, standing, without having been ruined. Despite the fact that there are those skylines, the nature, the earth has somehow resisted«. Die Erde, auf der Istanbul erbaut wurde, wird von Cem als sehr geduldig« beschrieben, auch wenn

28 (http://www.mevzuat.adalet.gov.tr/html/5140.html; 22.07.11).

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ihr (zu) viel zugemutet wird, wiedersteht sie dem Lärm, der Verschmutzung und den Abgasen. Das ›Chaos‹ und die ›Unordnung‹ der Stadt werden von Cem auch positiv wahrgenommen; die Stadt kann ihn immer wieder überraschen (Kritik und Faszination verschränken sich in vielen Interviews). Für ihn ist es die Kompetenz der Stadt, die Unordnung zu verarbeiten, die Istanbul von anderen (europäischen) Städten unterscheidet: »How to put it into words, it seems as if Istanbul is able to digest all these things. Or rather, its digestion potential is quite high. In Europe, for instance, or in some other cities, when something is not put into its proper place it looks unpleasant. This happens so in Istanbul too, but since there are many unpleasant things already being put here, you come to say ›gecekondu‹ fits to ›gecekondu‹ in the end«. Cem akzeptiert demnach am Ende des Interviews, dass sich in der Stadt Transformationen bemerkbar machen, die einzeln betrachtet nicht unbedingt als angenehm empfunden werden (etwa die informellen Siedlungen, oder die von ihm dokumentierten Business Districts und Yachten). In Istanbul passt jedoch auch das Unpassende zum Ganzen; zum einen gerade deshalb, wie er sagt, weil ohnehin so viel ›Unordnung‹ besteht. Der Stadt wird ein großes ›Verdauungspotenzialzugeschrieben‹, sei es, um mit Umweltbelastungen umzugehen oder (vermeintliches) Chaos in eine Ordnung eigener Art zu transformieren. Vereinzelt flüchtet Cem in die Nostalgie, um den ›unsoliden Wandel‹zu verarbeiten. So sucht er Orte auf, die ihn an seine Kindheit erinnern und die vom rasanten Wandel der Stadt verschont blieben. Im Gesamten überwiegt jedoch die Zuversicht, dass die Stadt mit den Veränderungen zurechtkommen wird. Die Antagonismus-Erfahrung, d.h., das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Werte und ihre Negation, sowie der rasche, unsolid erlebte Wandel der Stadt, zieht sich durch sämtliche Bilder und Interviewsequenzen. Die zuvor ausführlich dargelegten Alltagserfahrungen sollen nun mit einigen prägnanten Bildern und Zitaten auf den Punkt gebracht werden. Zeynep visualisiert die Widersprüchlichkeit der Stadt mittels einem Paar Schuhe auf einer staubigen Straße:

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Fotobefragung 3: Zeynep_5

Die Schuhe symbolisieren eine Regel, eine Norm. Sie wirken durch ihre Anordnung wie ein Zeichen, eine Aufforderung, ein Wegweiser. So stehen sie nicht ganz parallel zueinander, sondern bilden einen Pfeil. Diese Regel ist jedoch widersprüchlich. Das ist daran zu erkennen, dass die Schuhe seitenverkehrt nach vorne zeigen: So wie sie angeordnet sind, kann man mit den Schuhen kaum gehen, man muss sie vertauschen, um weiterzukommen. Die Schuhe, die dazu gedacht sind das Fortkommen zu erleichtern erschweren es in der Form wie sie hier dargestellt sind. Die gewählte Perspektive verdeutlicht zudem, dass diese Schuhe bzw. der symbolisierte Richtungspfeil die einzigen Medien zum Fortkommen bzw. zur Orientierung sind, weitere Alternativen sind ausgeblendet. Auch Amila beobachtet sowohl Einschränkung als auch Mehrdeutigkeit. In einem Foto zeigt sie eine Verkehrstafel, die das Links- wie das Rechtsabbiegen verbietet. Wie Düsün (siehe weiter oben), bewertet Amila ihre Beobachtung nicht nur negativ: die Mehrdeutigkeit der Stadt wird auch positiv wahrgenommen. Im Gegensatz zu Düsün überwiegt hier jedoch eindeutig die Kritik. Amila spricht weit expliziter das Moment der Eigeninitiative an, der es bedarf, um mit dem Antagonismus zurechtzukommen. Bei ihr ist es nicht die Stadt, die den Widerspruch auflöst und ›synthetisiert‹. Die Stadtbewohnerin selbst muss ihren Weg finden. So zeigen die von ihr fotografierten Verkehrsschilder »that you have to find your own way. Nothing comes out of the options which are given to you«. Auf den ersten Blick deuten die Verkehrsschilder darauf hin, dass es nur einen Weg gibt. Bei genauer Betrachtung, sind sie überhaupt ein Hindernis – zumindest für Fußgänger –, da sie mitten auf dem Gehsteig und nicht am Rand angebracht sind:

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Fotobefragung 4: Amila_4

Deniz greift ebenfalls auf die Symbolik der Verkehrsschilder zurück, um die Widersprüchlichkeit der Stadt zu symbolisieren:

Fotobefragung 5: Deniz_5

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Im Bildmittelpunkt stehen zwei Verkehrsschilder (und die Rückseite eines dritten), die durch die perspektivische Inszenierung zunächst widersprüchlich erscheinen: zum einen ist das Rechtsabbiegen verboten, zum anderen wird ein Linksabbiegeverbot angezeigt; die Richtung Geradeaus einzuschlagen, ist aus der Position des Betrachters jedoch nicht möglich, da sie geradewegs in die Stange führen würde. Es ist anzunehmen, dass die Fotografin diesen Standpunkt bewusst so gewählt hat, um auf eine ›Widersprüchlichkeit‹ aufmerksam zu machen. Von der Straße aus (als Verkehrsteilnehmer), würde dieser Widerspruch nicht auffallen (man würde, so ist zu vermuten, ›nur‹ ein Verkehrsschild erkennen). Aufgrund der zentralen Positionierung der Verkehrsschilder im Bild sowie der perspektivisch inszenierten Widersprüchlichkeit ist anzunehmen, dass das Bild weniger auf Verkehrsregeln im spezifischen Sinne verweist, als vielmehr ganz allgemein Verbote thematisiert und hinterfragt. Das Bild ist symbolisch aufgeladen. Da die Verbote, auf die durch das Bild verwiesen wird, nicht mit ihrer Verkehrsfunktion zufriedenstellend zu erklären sind, ist anzunehmen, dass sie einen Bezug zu den Wohnhäusern im Hintergrund haben. Diese Häuser verweisen auf das alltägliche Leben (Wohnen) sowie auf die Privatsphäre (zu Hause). Die Verkehrsschilder hingegen verweisen auf die Sphäre der Öffentlichkeit (öffentliche, standardisierte Normen). Im Bild überlagert eine (widersprüchliche) öffentliche Regel die private Sphäre: Man kann sich der Öffentlichkeit nicht entziehen; auch das ›Private‹ unterliegt gesellschaftlichen Normen. Dies bringt Deniz, die das Bild angefertigt hat, mit ihrer Bildbeschreibung auf den Punkt. Individuelle Ausdrucksformen sind potentielle Angriffsflächen im öffentlichen Alltag der Stadt. Sie kann etwa mit ihrem Tattoo nicht ungestört ein Sonnenbad am Strand genießen. Anhand des dargestellten Bildes erzählt sie, dass sie während des Ramadans öffentlich kein Wasser trinken kann, ohne die strafenden Blicke anderer auf sich zu ziehen, die so tun, als ob alle zu einer ›Familie‹ gehörten: »People are much too involved in other people’s live. People are thinking a lot about other people, they pay too much attention. According to how they act it looks like we are all brothers and sisters«. Für das Leben in Istanbul bedeutet das, dass man sich nirgendwo starker normativer Muster entziehen kann und zugleich der Widersprüchlichkeit verschiedener Restriktionen ausgesetzt ist. Der Alltag Istanbuls scheint einen hohen Grad von Institutionalisierung aufzuweisen, die meisten Relevanzstrukturen werden als Gemeingut gehandelt und dementsprechend gibt es zahlreiche gemeinsame Probleme, die alle etwas angehen. So ist etwa die Einhaltung bestimmter religiöser Vorschriften nicht auf eine bestimmte Religionsgemeinschaft begrenzt, sondern Solidarität mit den aus religiöser Überzeugung Hungernden und Durstenden wird von allen gefordert. Man kann

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zu Fastenzeiten nicht unbeschwert Wasser trinken, auch wenn man sich nicht als Teil der Glaubensgemeinschaft sieht. Dasselbe gilt für Körperbemalungen wie Tattoos. Die eigene Haut gilt nicht als autonome Zone, die nach eigenem Belieben gestaltbar ist. Überhaupt, so kann anhand des oben dargestellten Bildes gefolgert werden, existiert in Istanbul keine Privatsphäre, in der Hinsicht, dass es keine Zone gibt, die einen weitaus geringeren Grad von Institutionalisierung aufweist (Berger/Luckmann [1966] 2012: 86). Taktiken im Umgang mit dem Antagonismus Durch die beobachtete antagonistische Grundstruktur der Stadt, tun sich die an der Fotobefragung beteiligten Personen schwer, ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. In anderen Großstädten ist die Stilisierung von Individualität von großer Bedeutung, da man damit aus der Masse herausstechen kann und die Anonymität und das Gefühl »eine/r unter vielen« zu sein, etwas überwindet. Die Stilisierung und die Ausformung einer Ich-Identität erfordert jedoch, folgt man Krappmann, »flexible Normensysteme, die Raum zu subjektiver Interpretation und individueller Ausgestaltung des Verhaltens, zu ›role making‹, offenlassen, sowie (den) Abbau von gesellschaftlicher Repression, der verbürgt, daß diese Um- und Neuinterpretationen von Normen und ihre Übersetzung nicht negativ sanktioniert werden« (Krappmann 1973: 132). Diese gesellschaftliche Toleranz scheint in Istanbul nicht gegeben zu sein, auch wenn die befragten Personen alle individuellen Voraussetzungen zur Herausbildung einer solchen Identität besitzen, und zwar sowohl »aktive Fähigkeiten, wie Antizipation von Erwartungen anderer, Interpretation von Normen und Präsentation eigener Erwartungen, als auch passive, wie Toleranz für Erwartungsdiskrepanzen und für unvollständige Bedürfnisbefriedigung (...)« (ebd.). Die Antizipation von Erwartungen und die Zurückstellung eigener Bedürfnisse sind derart ausgeprägt, dass sie die Konzentration auf die eigenen Interessen verhindert. An dieser Stelle kann die Aussage Düsüns erinnert werden, der feststellte, dass man ständig die Reaktionen anderer abwägt. Aufgrund der darüber hinaus festgestellten selbstreflexiven Haltung der Befragten kann auch nicht behauptet werden, dass diese voll in den von ihnen antizipierten »Erwartungserwartungen« (Luhmann 1984) aufgehen – etwa im Sinne des »overattachement« mit ihrer Rolle (Goffman 1966). In den Interviews wird schon aufgrund der Beobachtung, Kommentierung und zum Teil auch erheblichen Kritik von Erwartungen bei so gut wie allen am Forschungsprojekt teilnehmenden Bewohnerinnen eine Rollendistanz bemerkbar. Damit wird die Wahrung von Identität unter zwanghaften bzw. zumindest als zwanghaft erfahrenen Lebensbedingungen ermöglicht (vgl. Goffman 1966; Krappmann 1973).

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Anhand der Bilder und Interviews konnten vier Taktiken erkannt werden, die aufzeigen, wie mit der antagonistischen Grundstruktur der Stadt umgegangen werden kann. Diese Grundstruktur der Stadt wird als Faktum erlebt, als etwas, das ohne das eigene Zutun existiert. Nichtsdestotrotz bedarf es des eigenen Handelns, um mit diesem Faktum umzugehen. Der Begriff Taktik referiert auf das Wissen, das sich die Personen selbst oder anderen zuschreiben. Auf der Wahrnehmungsebene der Akteure handelt es sich dabei um eine »personalisierte Praxis« und nicht um ein unveränderbares Faktum. De Certau schreibt: Die Taktik »muss mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert (...) sie ist eine Bewegung ›innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‹« (de Certeau 1988: 89). Die Grundstruktur der Stadt, das Terrain, ist von einem Antagonismus geprägt, der aus einer sich ›negierenden Pluralität‹ entsteht. In diesem Schlachtfeld, um die Kriegsmetapher des Zitates zu übernehmen, muss sich der oder die Einzelne zurechtfinden. Ambiguitätstoleranz Düsün nimmt die Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit der Stadt zwar wahr, sie scheint ihn dennoch weniger persönlich zu belasten als viele der anderen befragten Personen. Er tappt – nach seiner Selbstbeschreibung – nicht in die Falle, sich ausschließlich auf einer Seite zu positionieren. In seiner Selbstreflexion situiert er sich in der Mitte, wie schon oben beschrieben wurde. Im Verlauf des Interviews besetzt er dann durchaus mal eine Position (damit ist die Berufung auf spezifische Werte gemeint), gleichzeitig wechselt er jedoch auch die Seiten. Ein Beispiel ist die türkische Trinkkultur, mit der er sich voll und ganz identifiziert: »›Raki Culture‹ is very important for us«. Im Folgesatz hebt er die Differenz zu der deutschen Trink- bzw. Bierkultur explizit hervor. Dabei wird auf die Komplexität der Raki-Kultur im Kontrast zur weniger elaborierten BierKultur angespielt. Die türkische Trinkkultur wäre sogar komplexer als die türkische Esskultur. Dass es beim Raki-Trinken nicht nur um Konsum, ja nicht mal in erster Linie um Genuss geht, erklärt er damit, dass es eines Grundes bedarf, um sich zu einem Glas Raki zu verabreden. Raki-Trinken wird mit einer langen und qualitativen Gesprächssituation in Verbindung gebracht. Dabei kann es sowohl um das Erzählen positiver Erlebnisse gehen als auch um die Suche nach Rat bei einer Person. Wie wichtig die Feinheiten sind, die der Situation ihre Bedeutung geben, zeigt die detaillierte Aufzählung der Regeln29: Der Jüngste am Tisch

29 Genderdifferenzen wurden während dieser Erzählung nicht thematisiert, so werden hier die männliche wie die weibliche Form gleichermaßen verwendet.

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bedient und schenkt ein, der Älteste beginnt zu trinken. Beim Anstoßen berührt das Glas des jüngeren, das der älteren Tischgenossen weiter unten. Man lässt immer einen letzten Rest im Glas und trinkt es nicht ganz aus. Zum Raki isst man leichte Kost (Fisch) und man isst nicht so viel, dass man gänzlich satt ist, sondern ausschließlich ›für den Geschmack‹. Außerdem sollte man sich auf einen Raki-Abend vorbereiten indem man Zaziki isst, was den Magen schützt. Soviel zur Trink-Kultur. An einer anderen Stelle des Interviews führt Düsün eine Einkaufsstraße an, an der nicht mehr viel von der traditionellen Kultur zu finden ist. Dies scheint ihn wenig zu stören, vielmehr erwähnt er, wie modern und kultiviert diese Straße ist, und dass sich die Umgangsformen hier von vielen anderen Gegenden der Stadt (im positiven Sinne) unterscheiden. So fühlt man sich hier weniger beobachtet, da die Blicke der anderen nicht auf einem lasten. Außerdem kann man sich ›frei‹ bewegen, ohne befürchten zu müssen ausgeraubt oder belästigt zu werden. Er positioniert sich dabei wiederum unmissverständlich auf der Seite westlicher (»turning it’s ways towards west«) und moderner Werte. Dieses Changieren-Können bedeutet für ihn Freiheit. Wie auch die Person seiner Eingangserzählung, die nach dem Moscheebesuch das Accessoire Geschäft betritt, kann auch er situationsbedingt die Positionen wechseln, ohne dass dies mit seiner Persönlichkeit in Konflikt gerät. Düsün ist tolerant gegenüber Mehrdeutigkeiten und weiß sich in verschiedenen Situationen zurechtzufinden und seinen Standpunkt zu behaupten. Dieses Verhalten beschreibt Krappmann als ambiguitätstolerant: »Ein Individuum, das Ich-Identität behaupten will, muß auch widersprüchliche Rollenbeteiligungen und einander widerstrebende Motivationsstrukturen interpretierend nebeneinander dulden. Die Fähigkeit, dies bei sich und bei anderen, mit denen Interaktionsbeziehungen unterhalten werden, zu ertragen, ist Ambiguitätstoleranz« (Krappmann 1973: 155). So belastend die Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Stadt auch wahrgenommen werden, sofern man es schafft, sie zu verstehen und sich ›frei‹ zu bewegen – sprich mit der Ambiguität umzugehen –, erlebt man ein Erfolgsgefühl. »Once you managed all those complicated procedures and meanings, you really feel like you have succeeded, you can survive in this city« (Deniz). Auch Amila beschreibt Istanbul als »too lively«. Verbringt sie jedoch längere Zeit in Izmir, wo sie geboren wurde, so fühlt sie sich aufatmen, wenn sie wieder in Istanbul ist. Und das, obwohl »there are many contrasts in Istanbul and although there are many reasons which keep me away from breathing«. Dass Vielfalt, Mehrdeutigkeit, Negierung etc. nicht nur als Belastung wahrgenommen werden, wird anhand etlicher Interviewstellen deutlich. Um sich in dieser Stadt zurechtzufinden ist es unabdingbar, sie zu versehen und mit ihren Widersprüchen umzugehen zu wissen. »If you want to live in Istanbul you real-

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ly, really have to understand Istanbul. If not, it’s not possible to live in Istanbul. You don’t have to understand the people but you have to understand what Istanbul gives to you and you also have to give something back to it. You have to get used to this cycle« (Deniz). Dieses Verstehen beinhaltet auch eine gewisse Offenheit und Flexibilität. Dies bringt Gökcer schön mit seiner Beobachtung der chaotischen Planungssituation in Istanbul auf den Punkt: »You can see these different textures in the city. There is a huge variation. So we cannot talk about one identity. Because of this variety I cannot say ›oh it should not be like this‹, or I cannot say ›the architecture of Istanbul is bad‹. We can see all of these different styles at the same time together. That is also a very attractive thing. It gives us an opportunity to rethink our own opinion about what is right and wrong«. Dass in der Stadt nicht alles geordnet ist, ist für ihn eine Bereicherung, die Uneindeutigkeit hilft ihm, seinen eigenen Standpunkt neu zu überdenken. Dissoziation Zeynep differenziert Istanbul in jenes, das sie selbst erlebte und das, das ihr aus Büchern und Erzählungen vermittelt wurde. In ihren Bildern versucht sie beide Seiten festzuhalten. Zum Teil probiert sie die zwei Erfahrungswelten in den Bildern auseinander zu halten. Es ist ›ihr‹ aber auch bei einigen Bildern nicht ganz klar, ob es sich jetzt um ein Bild ihres (selbst erlebten) Istanbuls handelt, oder um ein Istanbul, das ihr ›vermittelt‹ wurde. Vermittlung (Wirklichkeitsvermittlung) und Erleben (Wirklichkeitserleben) sind damit verschränkt. Sie zeigt sich von dem Istanbul, das sie nicht selbst erlebt hat, zugleich fasziniert wie verunsichert. Die Faszination liegt darin, dass sie dem vermittelten Istanbul eine Authentizität zuschreibt, die ihrem zu fehlen scheint. Es kommt ihr oft steril und kostümiert vor. Diese Feststellung sticht in dem Interview besonders hervor, denn zumeist wird das, was man selbst erlebt hat authentischer wahrgenommen als Ereignisse, die einem vermittelt werden. Hier scheint jedoch gerade die eigene Erfahrung von einem aufgesetzten Schleier umhüllt zu sein. Die von Zeynep angefertigten nostalgischen Bilder dokumentieren Einblicke in eine andere Welt. Diese, so denkt sie, ist mitunter ›echter‹ wie jene, die sie tagtäglich erfährt. Gegenwärtig macht sie sich auf die Suche nach dem unbekannten und echten Istanbul; für ihre Fotos spürte sie geeignete Protagonisten auf. Ein Bild zeigt etwa einen älteren Mann im Zug, der sehr adrett, wenn auch altmodisch und einfach, gekleidet ist. Diesen beschreibt sie als »Old IstanbulGentlemen«. In einem weiteren Foto schaut man durch einen Durchgang hindurch in eine in Sepiafarben gehüllte Welt.

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Fotobefragung 7:

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Fotobefragung 6: Zeynep_1

Zeynep_09

Auch wenn Zeynep eine Vorstellung davon hat, wie das authentische Istanbul aussehen mag, so ist es ihr doch unvertraut: »it’s an Istanbul I haven’t accessed and which I don’t know but which exists. And it is beautiful at least to know that it exists«. Das Istanbul ihrer »story people« beschreibt sie als fundamental verschieden von dem ihren. An den Aussagen Zeyneps erkennt man ihre Faszination und die Idealisierung dieses ihr unbekannten, nur durch Bücher und Erzählungen vermittelten Istanbul. Gleichzeitig handelt sich es auch um eine Zone, in der sie sich unsicher fühlt. Den von ihr fotografierten dunkeln Durchgang, der in eine in Sepia-Farben gehüllte Welt führt, kommentiert sie mit: »This is the picture of the situation we are all scared of: the moment when we step out of our central Istanbul; we don’t feel safe anymore«. Der Übertritt von der bekannten Welt in die unbekannte wird somit auch als Schockerfahrung thematisiert, auch wenn das Unbekannte idealisiert wird. Der dunkle Durchgang in Zeyneps Bild konnotiert diesen Moment der Angst, der entsteht, wenn die Routinewirklichkeit verlassen wird: »Wenn man diese Routineexistenz als ›Tagseite‹ des menschlichen Lebens ansehen will, dann sind die Grenzsituationen seine ›Nachtseite‹, die ständig unheimlich an den Rändern des Bewusstseins lauert« (Berger/Luckmann [1966] 2012: 105). Die gespenstische Nachtseite, die weniger gesichert und rational ist, hat durchaus ihren Reiz und drängt sich mitunter der Alltagswirklichkeit auf: »Ganz von selbst stellt sich der Gedanke ein (der ›ungesunde‹ Gedanke par excellence), die helle Wirklichkeit der Alltagswelt sei vielleicht nichts als eine Täuschung und jeden Augenblick in Gefahr, von den heulenden Gespenstern der anderen, der Nachtwirklichkeit, verschluckt zu werden« (ebd.). Persönliches Erleben und literarische Vermittlung, ein aufgesetztes und ein authentisches Istanbul, eine sterile und eine bunte Stadt, Angst, Sehnsucht und

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Faszinationen greifen in dem von Zeynep dokumentierten Istanbul ineinander. Oft ist sie sich nicht sicher, welches Istanbul sie gerade vor sich hat: »Is this my Istanbul or is it the one that is shown to me«? Im gesamten Interview ist sie sich nie ganz gewiss, welches Istanbul es ist, das sich ihr zeigt. Man könnte hinterfragen, ob sich Wirklichkeitsvermittlung und die erlebte Wirklichkeit überhaupt trennen lassen; greifen sie nicht vielmehr ineinander? Tatsache ist jedoch, dass Zeynep dieses Problem über ihr ganzes Interview ausbreitet. Im Rahmen dieser Arbeit gilt es nicht, den Widerspruch aufzulösen, sondern die Frage zu stellen, weshalb Zeynep dieses Thema so sehr beschäftigt. Fest steht, dass Zeynep ihr eigenes alltägliches Erleben als unecht wahrnimmt; sie misstraut ihrer eigenen Erfahrung. Gleichzeitig ist sie sich sicher, dass ein ›authentisches‹ Istanbul existiert. Sie begibt sich aktuell (und nicht nur für die vorliegende Fotobefragung) auf die Suche nach dem echten und authentischen Istanbul. Dieses sieht sie in der Vergangenheit, sie trifft es überall dort an, wo die Vergangenheit noch nicht der Moderne gewichen ist. Die Auffassung, dass die eigenen Sinneswahrnehmungen und der lebensweltliche Nahraum täuschen und das wirkliche Istanbul sich versteckt und danach gefahndet werden muss, kann als Dissoziation beschrieben werden. Dabei wollen wir nicht näher auf die psychologische Bedeutung des Begriffs eingehen, vielmehr soll er hier als soziologischer Typus herangezogen werden. Dieser Typus steht für die Flucht in eine andere Welt, die hier die assoziierte Vergangenheit darstellt. Diese aus Büchern und Erzählungen vermittelte Wirklichkeit steht im Kontrast zur eigenen Erfahrung. Der Begriff der Dissoziation wird auch von Berger und Luckmann verwendet. Dissoziation entsteht vor allem durch den Prozess der Verdinglichung. D.h., der Mensch erlebt die von ihm geschaffene Welt als auferlegtes Faktum, was eine Unwirklichkeitserfahrung des eigenen Alltags, wie im Falle Zeyneps, ermöglicht. »Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen, und weiter, daß die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten für das Bewußtsein verloren ist. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt. Der Mensch erlebt sie als fremde Faktizität, ein opus alienum, über das er keine Kontrolle hat, nicht als das opus proprium seiner eigenen produktiven Leistung« (Berger/Luckmann [1966] 2012: 95). Die Paradoxie besteht darin, dass der Mensch dazu fähig ist, »eine Wirklichkeit hervorzubringen, die ihn verleugnet« (ebd.). Dieses Paradoxon wird bereits von Simmel angesprochen. Die »Krisis«, die sich in einer Entfremdungserfahrung manifestieren kann, entsteht, wenn die Synthese objektiver und subjektiver Kultur misslingt (Simmel 2000; [1916]). Gerade in sich rasant entwickelnden bzw. transformierenden Gesellschaften, machen sich diese Entfrem-

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dungserscheinungen bemerkbar. In Bezug auf Stadtentwicklungen kann an Cems Bild von den Hochhäusern des business districts Maslak erinnert werden. Er beschrieb das Hochhausensemble als artifiziell und abstoßend. Gleichzeitig handelte es sich dabei auch um seinen lebensweltlichen Nahraum. Die Hochhäuser kann er vom Fenster seiner Wohnung aus sehen, er fährt tagtäglich an ihnen vorbei. Die baulichen Objekte ziehen eine neue Arbeitnehmerschaft an. Viele der Bewohner der Stadt werden diese Gebäude noch nie betreten haben und können sich mitunter kaum vorstellen was darin verrichtet wird und wie sich der Arbeitsalltag in ihnen gestaltet. Dementsprechend können sie als unvertraute Objekte wahrgenommen werden, als Fremdkörper in der Stadt. Nichtsdestotrotz beherbergen die Gebäude Konzerne, deren Produkte man tagtäglich konsumiert. Umgekehrt kann sich die Verdinglichung nach Berger und Luckmann auch derart äußern, dass man gänzlich in seiner (gesellschaftlichen) Rolle aufgeht und keine »Rollendistanz« mehr möglich ist. Mit George Herbert Mead gesprochen würde das subjektive »I« voll und ganz im gesellschaftlichen »Me« aufgehen (Mead 1973). Das Individuum ist dann ganz das »Rollen-Selbst« und identifiziert sich vollkommen mit den gesellschaftlichen Typisierungen (Berger/Luckmann [1966] 2012: 97). Dissoziation, der Rückzug in eine von der Alltagswirklichkeit entzogene Sphäre, in der man nicht lediglich ein Zahnrad im Getriebe ist, ist eine Fluchtstrategie vor Verdinglichung.

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Normativitätsbehauptung

Fotobefragung 8: Zeynep_2

Das oben angeführte Bild zeigt einen Mann, der eine Frau mit einer Autoritätsgeste zurechtweist. Dieses Verhalten, das als Normativitätsanspruch gedeutet werden kann, wird von Zeynep wie folgt kommentiert: »This is about the manner of man in the Turkish culture«. D.h. es findet eine Generalisierung statt. Wir betrachten zunächst die Straßenszene ohne die weiteren Kommentare miteinzubeziehen. Das Bild zeigt einen Konflikt, der im öffentlichen Raum ausgetragen wird. Sichtbar wird dieser Konflikt durch eine Autoritätsgeste von einer männlichen Person (Zeigefinger, Gesichtsausdruck) und durch das Stehenbleiben der Frau und ihre Blickrichtung zum Mann. Dieser Konflikt scheint zum Alltag zu gehören. Darauf verweisen die Blicke der im Bild dargestellten Personen: manche Personen interessiert die Situation, sie nehmen sie ernst, bleiben stehen und schauen zu. Andere wiederum interessiert die Situation gar nicht, sie schauen nicht hin und bleiben nicht stehen. Zu diesem Konflikt kam es aufgrund des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Sicht- und Ausdrucksweisen. Dass der Mann einer so plakativen Autoritätsgeste bedarf und die Frau sich nicht seiner ›Autorität‹ angemessen verhalten hat, lässt vermuten, dass die autoritätszeigende Person formell bzw. funktionell (d.h. von Amts- bzw. Berufswegen) gar keine Autorität besitzt. So verweist weder die Situation, die auf der offenen Straße stattfindet, noch die Kleidung und das Aussehen der Person (offenes, kurzärmliges Hemd), auf eine formelle bzw. funktionelle Autorität. Vielmehr muss es sich um eine latente, kulturell ein- bzw. zugeschriebene Autorität handeln, die die

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Person mit der Zeigefingersymbolik einfordert. Blickt man auf die zwei am Konflikt beteiligten Personen so erkennt man, dass der Mann vom Aussehen her – aufgrund seines Alters, Kleidung, Haarschnitt, Schnauzbart und der Gestik – eher auf Tradition verweist, während die Frau eher Modernität verkörpert (offene Haare, sommerliches ärmelloses Kleid). Die zur Interpretation gebildeten Typen Tradition und Modernität verweisen auf Zeitlichkeit, auf Wandel. Folgt man dieser Auslegung, so wird der Konflikt als Situation konkurrierender institutionaler Bedeutungen beschreibbar, die womöglich aufgrund eines sozialen Wandels entstanden sind. Folgt man Berger und Luckmann, so können Probleme bei der Integration von Bedeutungen auftauchen, wenn sich Institutionen und Subsinnwelten nicht im Gleichschritt verändern und allgemeinverbindliche Rechtfertigungen der institutionellen Ordnung empfindlich gestört werden (Berger/Luckmann [1966] 2012: 94). Vor allem die Experten der Tradition stellt dies vor ernsthafte theoretische Probleme, sie müssen Wege finden, die Entmonopolisierung ihrer Deutungsansprüche theoretisch zu legitimieren und mitunter ist gar die »Expertise dieser Experten« nicht mehr gewünscht (Berger/Luckmann [1966] 2012: 134). Die Situation kann einen Geschlechterrollenkonflikt darstellen, eine Auseinandersetzung über differente Wertvorstellungen. Zeynep, die das oben dargestellte Foto gemacht hat, erwähnt, dass sie im Alltag Istanbuls ständig auf diese negativ perzipierten Aspekte ›der türkischen Kultur‹ stößt. Dies bringt sie mit der Überbevölkerung der Stadt in Verbindung: »It is too crowded. You really feel that the oxygen is getting less. Crowded places in Istanbul make me feel that I don’t belong here, that I have to escape from here: All those swear words that people use, the bad way of talking plus the abuse you feel for being a woman« (Zeynep). Sie positioniert sich eindeutig auf der Seite der modernen, westlich gekleideten Frau. Die hier diskursiv konstruierte Masse (in den Bildern sind kaum ›Massen‹ direkt abgebildet) von Zugezogenen nimmt einem die Luft und vermittelt einem das Gefühl, nicht mehr hierher zu gehören. Masse wird mit schlechtem Benehmen und Diskriminierung von Frauen diskursiv verlinkt. Eine ähnliche Beobachtung macht Amila, indem sie die Nutzung öffentlicher Parks in Istanbul mit der Nutzung von Grünanlagen in europäischen Städten vergleicht. Auch sie generalisiert eine von ihr beobachtete Verhaltensabweichung mit der Aussage, »This shoot is not just standing for Istanbul but is more a picture of Turkey«:

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Fotobefragung 9: Amila_3

Betrachten wir das Bild genauer, so erkennen wir eine relativ große Fläche (ca. ¾ des Bildes) die im Schatten liegt (Bildvordergrund). Ein Schlauch taucht auf, der sich hinter dem Kopf des Mannes um den Baum schlängelt (Handelt es sich um ein Bewässerungsschlauch? Oder um etwas Weggeworfenes?). Obwohl die Person im Vordergrund im Schatten liegt, wird sie als erstes wahrgenommen. Dies liegt zum einen an ihrer Position im Bildvordergrund, zum andern an der Umrandung der Person durch die Karton-Matte, die sie etwas von der dunkeln Wiese abhebt. auffällig ist auch die zweite Person. Beide Personen bilden eine Referenz zu Liegen bzw. Schlafen. Der Bildhintergrund baut den Verweis auf Liegen bzw. Schlafen im Park auf. Die Karton-Matte verweist ebenfalls darauf, dass dieses Liegen bzw. Schlafen im Park spontan geschieht, so wurden keine Vorbereitungen getroffen in der Form, dass man etwa eine Decke eingepackt hätte. Überhaupt fällt auf, dass die Personen nichts bei sich haben wie z.B. Taschen, Getränke, zusätzliche Kleidung, etc. Dadurch wird ausgeschlossen, dass es sich um Touristen bzw. Obdachlose handelt, die gewöhnlich immer »zu viel« mit sich herumtragen. Die Personen scheinen nur zum Schlafen in den Park gegangen zu sein, und dieser Entschluss wurde spontan gefällt. D.h. die Personen sind nicht etwa durch Lesen oder Essen im Park müde geworden. Das Bild hat etwas Ungestelltes. Es wirkt bis zu einem gewissen Grad auch unspektakulär. Dadurch bekommt das Foto einen »objektiven«, dokumentarischen Charakter. Da der Fokus zentral auf die zwei liegenden Männer gerichtet ist, kann angenommen werden, dass das Bild ›spontanes Liegen im Park als Alltagspraxis‹ dokumentieren will. Was könnte das außergewöhnliche dieser Praktik sein, dass sie von der Fotografin festgehalten wurde? Das Liegen auf der Kartonmappe

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wirkt sehr improvisiert und konnotiert geringe ästhetische Ansprüche. Während man zwar an den Promenaden, Wasserfronten und Parks vieler Städte verschiedene Leute beim Erholen, Relaxen und Pick-Nicken sieht, so erkennt man gleichzeitig, dass es genauso um das ›Sich-Inszenieren‹ in der Öffentlichkeit geht. D.h. ästhetische Kriterien haben an den meisten jener Orte eine mindestens ebenso große Bedeutung wie die eigentliche Tätigkeit (z.B. das Sich-Sonnen). Im Gegenzug dazu spielen ästhetische Überlegungen und Besonnenheit darüber, wie man sich im öffentlichen Raum inszenieren soll, für die im Bild dargestellten liegenden Männer gar keine Rolle. Amila, die das oben besprochene Bild angefertigt hat, bemerkt, dass in Europa der Gang in den Park zweckgebunden und zeitlich begrenzt ist. Es herrscht eine Gewissheit darüber was dort passiert und welchem Verhalten man begegnen wird. Man hängt dort nicht einfach so rum. Die Ungewissheit über das, was man in den Parks in Istanbul vorfindet und die Antizipation schlechten Benehmens verhindern, dass Amila die Parks der Stadt aufsucht: »here (in Istanbul) I am afraid of going into the parks. You don’t know what you encounter. The way Turkish people use parks is very strange«. Sie kritisiert etwa das Grillen von Fleisch als störendes Verhalten und geht so weit zu behaupten, dass es in Istanbul überhaupt keine echten Parks gäbe: »people here don’t know how to use a park, real parks belong to Europe!«

Fotobefragung 10: Deniz_1

Eine dritte Erzählung spricht die Badekultur in Istanbul an. Deniz kommentiert das obige Bild wie folgt: »This beach has been made public a few years ago. In

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the first year after it opened people went there. But since some people were hanging around with their underwear, other people were not comfortable anymore«. Im ersten Jahr, nachdem der Strand öffentlich gemacht wurde wäre man noch hingegangen. An dieser Stelle wird deutlich, dass sie für eine Gruppe spricht. Eventuell handelt es sich dabei um die Mittelschicht. Schon bald haben sich jedoch die ästhetischen Gepflogenheiten (die Bademode) verschlechtert, so dass man sich hier nicht mehr wohl fühlt. Auch sie fühlt sich (aufgrund ihres Tattoos, das die Blicke auf sich zieht) dort nicht wohl, wie sie im Folgesatz ausdrückt. Anhand des ersten Bildes haben wir einen Normativitätsanspruch eines ›traditionellen‹ Mannes gegenüber einer ›modernen‹, ›westlich gekleideten‹ Frau erkannt. Im zweiten Bild wurde schlechtes Benehmen von Männern visualisiert und durch die Kommentare der Bildproduzentin ›richtigem‹, ›europäischem Verhalten‹ gegenübergestellt. Im dritten Bild wurden die Sitten an einem Badestrand thematisiert, die sich verschlechtert haben und dazu führten, dass man dort nicht mehr hingeht. Sowohl Zeynep als auch Amila machten eine Generalisierung, indem sie das negative Verhalten einer Masse zuschrieben und sich von dieser abgrenzten. Auch Deniz führt das Aufeinandertreffen differierender Vorstellungen von Badekultur an, ohne jedoch auf der Seite des schlechten Benehmens eine Generalisierung vorzunehmen, jedoch generalisiert sie das Meiden des Ortes: nicht nur sie, sondern man geht dort nicht mehr hin. Geht man über die Feststellung bzw. das implizite Formulieren von Normativitätsansprüchen hinaus, mit der eine Masse von einer anderen Gruppe unterschieden wird, so kann konstatiert werden, dass alle Teilnehmer an den Fotointerviews durch zumindest ein Foto bzw. innerhalb einer Interviewsequenz die Masse thematisieren. Die Feststellung einer ›Überbevölkerung‹ der Stadt geht mit der Thematisierung von Problemen einher. Sie wird, vor allem und besonders von Frauen (wie die oben angeführten Beispiele zeigen), mit Unwohlempfinden und schlechtem Benehmen verknüpft, steht jedoch im Weiteren auch für Umweltverschmutzung, Verkehrsprobleme etc. Wie aber kann die ›Masse‹ bestimmt werden, auf die in den Interviews des Öfteren verwiesen wird und welche Funktion hat die starke Generalisierung, die mit dem Begriff der Masse einhergeht? Für John Carey ist die Masse eine »Metapher für etwas Unsichtbares und Unfaßbares« (Carey 1996: 34). Eine Ansammlung von Menschen kann man nach seinen Überlegungen sehen wie eine Menge von Leuten, die Masse jedoch sei eine »Menge in metaphysischer Perspektive« und damit »die Summe aller möglichen Menschenmengen«, sie ist eine Vorstellung bzw. eine Metapher (ebd.). Dies belegt Carey mit Zitaten von Intel-

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lektuellen30, die auch einzelne Personen als Massen-Typen identifizieren, wodurch die diskursive Konstruktion der Masse evident wird. Auch in den Bildern, die auf die Masse verweisen sollen, ist keine Menge zu sehen, sondern eben nur eine Person mit einem erhobenen Zeigefinger, oder zwei schlafende Männer, die für die ›gesamte türkische Kultur‹ stehen. Carey fasst drei zentrale Folgen zusammen, die der Philosoph José Ortega y Gasset in seinem Werk »Der Aufstand der Massen« von 1930 festhält (Carey 1996: 13). Die Erste ist Überfüllung, eine Feststellung die auch die hier befragten Personen teilen und die existenzielle Ängste hervorruft. So entwickeln einige eine Phobie gegen übervölkerte Orte. Ein Interviewpartner stellt sogar fest: »We are very crowded now and the sea cannot feed us all anymore. Now it (das Meer) is polluted, the fish route changed and you can’t swim in it« (Cem). Der zweite Befund Ortegas ist ›Invasion‹, womit er meint, dass sich die Menge der Orte bemächtigt habe, »die von der Zivilisation einzig für die Besten geschaffen worden seien« (ebd.: 13), wie Carey ihn zitiert . Diese Art Invasion wird anhand des Bildes vom Park und jenem des Strands deutlich, mit welchen die an der Fotobefragung teilnehmenden Personen feststellen, dass sich die ästhetische Alltagspraxis verschlechtert hat und nun andere Werte herrschen, wodurch die Orte von der vormalig dominanten Gruppe, mitunter gar von jener Gruppe, für die man diese Orte geschaffen hat, folgt man der Meinung Ortegas, gemieden werden. Der Dritte Aspekt, der auch als dritte Stufe bezeichnet werden kann, ist die »Diktatur der Masse«. Damit spricht Ortega die für ihn bevorstehende Gefahr an, dass die Masse unumschränkte gesellschaftliche Macht erlangt und diese »Hyperdemokratie« letztlich das Individuum und damit die Zivilisation vernichte. Die Bedrohung der Individualität wurde in den Interviewausschnitten bereits evident. Nicht festgestellt werden konnte, ob diese von der Masse ausgeht oder von den herrschenden Normen. Ortega führt hegemoniale Macht und die Masse zusammen. An dieser Stelle kann bereits vermerkt werden, dass in Istanbul jene Bevölkerungsschichten, die auf Grund bestimmter Werte der Masse zugeschrieben werden, seit geraumer Zeit auch die politische Mehrheit stellen.

30 Carey betreibt in seinem Werk eine sehr starke Verallgemeinerung. Er spricht ständig von ›den Intellektuellen‹ ohne auf die vielseitigen und zum Teil widersprüchlichen Bedeutungen des Begriffs einzugehen. Außerdem ist seine methodische Vorgehensweise etwas willkürlich, da es sich eher um eine Zitatsammlung handelt und er wenig auf die verschiedenen Kontexte der Autoren eingeht (siehe dazu auch Andreas Nentwich in »Die Zeit« Nr. 22 24.05.1996: 46). Dennoch identifiziert er einige zentralen Funktionen der Masse, die auch in dem vorliegenden Material auftauchen. Auf diese soll hier verwiesen werden.

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Konventionalität Folgt man weiterem Bild- und Textmaterial, so ist es in Istanbul schwer, für seine Meinung zu stehen und seine Emotionen zu zeigen. D.h. nicht, dass es persönliche Meinungen und Gefühle nicht gibt. Das zeigen schon die Lieder türkischer Musiker, die Gedichte Istanbuler Schriftstellerinnen und die Arbeiten von Künstlerinnen, die voll von Emotionen sind. Folgt man den antizipierten Erwartungserwartungen der interviewten Personen, so kann man seine Gemütsbewegungen jedoch im Alltag nicht offenbaren. Zeynep produzierte ein Bild von Graffitis unter einer Brücke. Die Perspektivlinien führen auf ein aufgesprühtes Herz auf einer weißen Wand, in dem zwei großgeschriebene Lettern (»EE«) zu sehen sind. Dadurch, dass dieses Herz alleine auf der Wand zu sehen ist, sticht es als Symbol hervor, während die Wand links daneben einfach als eine mit Graffitis versehene Wand gedeutet wird. Schon aufgrund der formalen Gestaltung des Bildes ist zu erkennen, dass es der Fotografin um Graffitis im Allgemeinen und um das Herz-Symbol im Besonderen geht. In ihrem Kommentar zum Bild erklärt sie, dass man in der Türkei auf alles schreibt, was man finden kann. Sogar Bäume und historische Gebäude werden beschrieben. Das Bild steht für die Anonymisierung der eigenen Meinung und Gefühle, da man, Zeynep zufolge, sich diese nicht »offen« auszudrücken traut: »instead of saying: ›I love you‹, its more suitable to them (gemeint sind die Bewohnerinnen) to write it somewhere«. Die Graffitis haben zwar einen Autor, dieser ist jedoch nicht einer konkreten Person zuzuordnen. Lediglich die Handschrift bzw. der Stil ist von Expertinnen dechiffrierbar. Die Person selbst operiert im Schutze der Dunkelheit. Es herrscht also eine sehr große Diskrepanz zwischen der Allgegenwärtigkeit der Zeichen und vor allem der Symbole von Liebe und der völligen Absenz der Subjekte und damit von emotionalen Interaktionen.

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Fotobefragung 11: Zeynep_4

Einen ähnlichen Befund macht auch Düsün indem er feststellt: »in terms of emotion we are shy«. Dadurch, dass man sich überall und ständig beobachtet fühlt und Klatsch verbreitet wird, traut man sich nicht, Gefühle zu zeigen. Überhaupt versucht man nicht aufzufallen, etwa mit Tattoos, wie zuvor erwähnt wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung von Deniz beachtenswert. Sie fotografiert eine Werbekampagne eines Farbherstellers, der Hausbesitzerinnen aufruft, ihre Wände bunter zu gestalten. Sie hält fest, dass die Bewohner der Stadt Angst vor neuen Dingen haben. Dies gehe so weit, dass man nicht nur selbst versucht, nicht aufzufallen (eben mit Tattoos, extravaganten Kleidungsstilen oder Frisuren), sondern auch die Wohnhäuser nicht individualisiert. »They even don’t want to paint the walls of their houses. They are used to them, they are born into them and so they don’t want to change it«. So haben alle Häuser dieselbe Farbe. »They look very much the same although they are different. If you would colour one of it, it (die Differenz) would step out very much«. Farbige Häuser sind für Deniz ein Symbol für Veränderungsfähigkeit und Individualität. Schon bei der Explikation der Schlüsselkategorie ›Antagonismus‹ wurde auf die Beobachtung Düsüns verwiesen, dass viele Menschen in Istanbul nicht ihren eigenen Weg gehen und vielmehr in die Fußstapfen ihrer Familien treten, was nun auch von Deniz thematisiert wird. Von beiden wird dies als resignative Haltung gewertet; als ein Zurückgelassen-Sein und als ein Nicht-Vorwärtskommen. Im Rahmen dieser Arbeit gilt auch diese Passivität als Strategie, um mit der antagonistischen Grundstruktur der Stadt klar zu kommen. Sie wird mit dem Typus ›Konventionalität‹ erfasst. Der konventionelle Typ hat, folgt man

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Krappmann, gewisse Regeln voll und ganz internalisiert und bemüht sich diese unter allen Umständen einzuhalten (Krappmann 1973: 138). Solange keine Normkonflikte auftreten, handelt das Individuum, das dieser idealtypischen Strategie folgt, ohne Schwierigkeiten, jedoch auch notwendigerweise rigide und ohne Reflexionsmöglichkeit (ebd.: 139). An dieser Stelle wird klar, dass zwar die Interviewten selbst nur schwer unter diesem Typus zu fassen sind. Beeinflusst hat sie dabei sicher auch die an sie herangetragene Aufgabenstellung, die sie zu Beobachtern machte, was auch ein Maß an Reflexion verlangt. Im Alltag der Stadt identifizierten sie jedoch viele Konventionalisten. Deniz findet es zum Beispiel verblüffend wie folgsam die Menschen dieser Stadt agieren. Sie zeigt das Foto einer präparierten Joggingstrecke und erzählt folgende Geschichte. Bevor dieser Weg offiziell als Joggingstrecke eröffnet wurde, sei niemand im ganzen Bezirk Joggen gegangen. Nun, seit es diese Strecke gibt, wird zwar gelaufen, aber nur dort und nirgendwo sonst. Auch die Initiative selbst sei nicht von der Bevölkerung ausgegangen. Nach Deniz hätten die Menschen zwar Bedürfnisse, würden diese jedoch nicht artikulieren. Man fügt sich seinem Schicksal bzw. wartet ab, bis ein anderer aktiv wird: »we are not active individuals, we are passive, we do not express what we want, we just wait for something to be done by someone else«. Diese Beobachtung ist insofern überraschend, als dass Istanbul auch als »Self Service City« gilt (Esen/Lanz 2004), in der nichts geschieht wenn man es nicht für sich selbst erledigt. Mitunter kann man diesen Widerspruch dahingehend einebnen, dass man bei der Selbstbedienung sich selbst bedient und nicht Veränderungen anstößt, die einer größeren Allgemeinheit zugutekommen. Die Konventionalität könnte dementsprechend als Strategie gedeutet werden, die individuelle Kräfte spart, gleichzeitig aber auch zur Folge hat, dass alles nur von oben, d.h. von offizieller Seite, gesteuert wird. Deniz spricht mit ihrer Erzählung somit auch das TrittbrettfahrerProblem an.

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Fotobefragung 12: Deniz_18

Wie schwer es ist gegen die Strömung zu schwimmen und Dinge anders zu machen, als wie sie angeordnet wurden, erzählt Deniz_D mittels eines persönlichen Erlebnisses. Dadurch, dass die Straßen in Taksim so überfüllt sind, wurde angeordnet, dass die Fußgängerinnen auf der rechten Seite zu gehen haben. Sie kann sich zwar nicht erinnern, was genau sie dazu bewogen hat (vielleicht wollte sie sich nicht dem Zwang des ›Rechts-Gehen-Müssens‹ unterwerfen), jedenfalls ging sie ziemlich mittig auf der Haupteinkaufsstraße, just auf jener Stelle, an der auch die Tram entlang fährt. Sie hatte Kopfhörer auf und blendete das Gedränge und den Lärm, der um sie herum herrschte, völlig aus. Plötzlich zog sie ein Passant auf die Seite, da sie fast in die Straßenbahn gelaufen wäre. Danach fragte ihr ›Retter‹, woher sie komme. Aus Istanbul, so seine Überzeugung, konnte sie jedenfalls nicht stammen, da sie die Regeln der Stadt nicht kannte. Auf die Idee, dass sie sich ihnen widersetzte (wenn auch mehr im Unterbewussten), ihren eigenen Weg ging und sich damit Risiken aussetzte, kam der Passant nicht. Dies wäre auch zu absurd. Obwohl Deniz natürlich froh sein muss, nicht unter die Räder der Bahn gekommen zu sein, will sie mit dieser Erzählung ausdrücken, wie stark die ›Repression der Stadt‹ ist. Sie wollte sich außerhalb der Masse bewegen, so schließt Deniz ihre Erzählung, aber weder die Menschen noch die Situationen erlauben dies. All jenem, das vom Status quo abweicht, wird misstraut bzw. bekommt nicht den angemessenen Platz zugesprochen. Dass das Konzertposter von Grace Jones auf einem Mülleimer angebracht wird zeigt für die Fotografin, welchen Wert (ausländische) Kunst in dieser Stadt hat. Sie bezweifelt gar, dass man die Künst-

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lerin überhaupt kannte und ihr deshalb diesen ›Un-Ort‹ zugewiesen hat, was angesichts ihrer Berühmtheit kaum zu glauben ist. Angesichts dieser ›Ignoranz‹ zeigt sie sich entrüstet.

Fotobefragung 13: Deniz_2

K OHÄRENZPRODUKTION In den vielen unterschiedlichen Bildern, die die Bewohner von ihrer Stadt anfertigten, taucht ein Motiv immer wieder auf: Das Meer. Nun ist die Meerenge, die die Stadt in einen asiatischen und einen europäischen Teil gliedert, sicherlich ein dankbares Bildsujet. Dennoch, so kann man vermuten, müssten die Bilder mehr zeigen als malerische Perspektiven auf Sonnenuntergänge, Schiffe, Vögel und die Wellen des Meeres. Oder anders formuliert: es gilt herauszufinden, was diese pittoresken Ansichten für den Alltag dieser Stadt und ihre Bewohnerinnen bedeuten. Zunächst wird das Meer als Alleinstellungsmerkmal der Stadt gewertet. »What makes Istanbul Istanbul is the sea«, hält eine der interviewten Personen fest. Es gäbe keine andere Stadt in der man beobachten könne, wie die Sonne auf einem Kontinent untergeht, während man selbst auf dem gegenüberliegenden Kontinent sitzt. Die Istanbuler Bevölkerung, so ein weiterer Gesprächspartner, habe immer in einer engen Beziehung zum Bosporus gestanden. Im selben Atemzug wird jedoch erwähnt, dass diese Beziehung getrübt wäre. Die Stadt ist zwar vom Meer umzingelt, gleichzeitig fehlen jedoch die Möglichkeiten, es zu erreichen: »So a great part of Istanbul is Bosporus, although we cannot expe-

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rience it so much. You see it also in that photograph: We can only communicate through tiny spaces«:

Fotobefragung 14: Gökcer_2

Auf dem erwähnten Foto verstellt der Dolmabahce Palast, der links im Bild zu sehen ist, den Zugang zum Meer. An anderen Orten in der Stadt, so setzt Gökcer seine Kritik fort, sind es die Villen am Bosporus, touristische Konsumzonen, Museen, Sightseeing-Schiffe, etc., die der Istanbuler Bevölkerung den Zugang zum Meer verwehren. Ein weiterer Gesprächspartner zeichnet noch ein drastischeres Szenario. Durch die Übervölkerung der Stadt wäre das Meer verschmutzt und hätte gar die Beziehung zu den Menschen verloren: »The ›Istanbulian‹ has no relationship with the sea anymore. The sea stopped the relationship with us. We are very crowded now and the sea cannot feed us all anymore. The sea was always very important. Now it’s polluted, the fish-route changed, you cannot swim in it. Now we are just looking at it, we get melancholic and just talk about it«. Es wird eine innige Beziehung zum Meer festgestellt und gleichzeitig erwähnt, dass man nur noch durch schmale Lücken mit diesem kommunizieren könne bzw. dass gar das Band zerrissen sei. Dabei handelt es sich jedoch um eine Überspitzung, denn am Ende des Zitates wird ersichtlich, dass sich die Beziehung lediglich verändert hat. Man bleibt auf Abstand. Es kommt zu keiner Berührung mehr; sowohl die Fische haben ihre Route geändert, als auch die Menschen nicht mehr ins Wasser springen. Die Beziehung lässt sich als platonisch beschreiben. Sie ist innig und nahe und gleichzeitig distanziert. Man blickt aufs Meer und spricht über das Meer, ohne dass es zum körperlichen Kontakt

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käme. Einige Bilder rücken explizit diese distanzierte Betrachterperspektive in den Fokus; in ihnen geht es um das ›Aufs-Meer-Blicken‹:

Fotobefragung 15: Ilker_1

Die Silhouetten zweier Menschen, die dem Wasser zugewandt sind, stechen aus der Bildkomposition hervor, obwohl sie ein relativ kleines Segment bilden. Auch wenn die Belichtung zu wünschen übrig lässt, erzeugt das Bild dennoch eine atmosphärische Stimmung. Rechts im Bild sind eine Fährenstation und ein Schiff, das gerade den Hafen verlässt, zu sehen. Auf der anderen Seite der Hafenanlage sind die Umrisse eines größeren Gebäudes erkennbar. Der Himmel nimmt viel Platz ein. Der Untergrund wiederum, auf dem die zwei Beobachter stehen, ist abgeschnitten. Aus der Bildkomposition ist zu schließen, dass es um das Beobachten des Meeres, der Abendstimmung und des Hafengeschehens geht. Danach gefragt, was auf dem Bild zu sehen ist und was es für ihn bedeutet, antwortet der Bildproduzent: »The ferry station. Well, the ship. I mean nostalgia. The important thing here is nostalgia. Haydarpasa train station. You can see a girl and a boy being together for instance. The sea, I like the sea a lot«. Es geht um Nostalgie, um das Erinnern vergangener Zeiten. Durch die Aussage von Ilker sensibilisiert, ist nun offensichtlich, dass keinerlei moderne Elemente im Bild zu sehen sind. Der Haydarpasha Bahnhof und die Fährenstation sind in ihrer historischen Bauweise erhalten, außerdem handelt es sich bei dem Schiff um eine jener alten Fähren, die bereits teilweise durch größere und moderne Schiffe ersetzt wurden. Einen Zeitsprung macht der Interviewpartner auch damit, dass er die zwei Silhouetten als ein Mädchen und einen Jungen identifiziert und nicht als Frau und Mann. Er identifiziert sich mit dem jungen Paar und ihrem Blick.

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Der Anblick von der alten Hafenanlage, des Fährendampfers und des Haydarpasha Bahnhofs versetzten ihn in seine Jugend zurück, da sie nach wie vor in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten sind.

Fotobefragung 16: Suay_4

Auch in einem weiteren Bild geht es um das ›Aufs-Meer-Blicken‹ und die schöne Perspektive. Gleichzeitig thematisiert die Bildproduzentin jedoch auch störende Elemente. Suay kritisiert, dass man an all diesen attraktiven Orten am Bosporus die selben weißen Plastikstühle findet und die gleichen billigen Sonnenschirme, die den Betreibern der Cafés von Firmen zu Marketingzwecken günstig angeboten werden. Diese würden die Ästhetik ›verschmutzen‹. Die Inhaber der Cafés und Teegärten zeigen, indem sie diese Schirme und Stühle aufstellen, so die Bildproduzentin, dass sie den einfachsten Weg wählen, was sie als »personality« der Stadt verallgemeinert, da diese Stühle und Schirme an den Ufern des Bosporus omnipräsent wären. Das Gesamtensemble des Bildes unterstreicht, dass der Standort der Betrachterin und damit die Stadt von geringen ästhetischen Qualitäten gekennzeichnet ist, was aus der Sicht Suays das Ergebnis legerer Alltagspraktiken ist. Eine Meinung, die im vorherigen Abschnitt im Kontext der Park- und Strandkultur bereits thematisiert wurde. Im starken Kontrast zu den z.T. geringen ästhetischen Qualitäten in der Stadt steht das, was man vom Strand aus zu sehen bekommt. Um dies zu sehen verlassen wir den Blick auf die Blickenden und wenden uns dem zu, was sich ihnen offenbart und was es für sie bedeutet.

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Fotobefragung 17: Zeynep_3

Ein Bild, das einen solchen Meeresblick festhält, ist in romantisierende Farben gehüllt. Er zeigt einen Vogel, der auf ein Schiff zusteuert. Die Umrisse des Vogels, der das Schiff mit seinen Flügeln umspannt, sind scharf fokussiert. Bei dem Schiff, das weniger kontrastreich in der Bildmitte zu sehen ist, handelt es sich um eine Fähre, die dem Personenverkehr dient. Es handelt sich dabei um dasselbe Modell, das schon in einem der vorherigen Bilder zu sehen war. Das Schiff stößt dunklen Rauch aus und wird von einem Schwarm von Vögeln begleitet. Im Hintergrund sind ein Gebäude und eine Kaimauer zu erkennen. Wahrscheinlich verlässt das Schiff gerade seine Anlegestelle. Das Wasser ist unruhig. Dynamik wird zudem dadurch erzeugt, dass die Kamera bei der Aufnahme leicht schief gehalten wurde, wodurch ein Kippeffekt entsteht. Kann bereits aufgrund der Rauchwolke und der Flugstellung des Vogels geschlossen werden, dass starker Wind weht, so wird diese Bewegung durch die Bildkomposition verstärkt. Das Bild setzt Symboliken von Natur und Zivilisation in Beziehung. Der Vogel (Natur) im Bildvordergrund fliegt auf das Schiff zu, die Möwen im Hintergrund folgen ihm. Das Schiff (Zivilisation) wiederum verlässt den (sicheren) Hafen und setzt sich der Natur aus, es wird vom Meer getragen. Nicht nur die stürmische See ist ein Risiko für die Passagiere, sondern auch der dunkle Rauch eine Bedrohung für Luft und Wasser. Das Schiff wurde als Linienschiff identifiziert und nicht als Ozeandampfer oder Frachtschiff. Damit sind sowohl die Risiken als auch die potentiellen Abendteuer auf ein Minimum reduziert. Es fährt seinen täglichen Kurs, Gefahren wie auch die Freiheiten sind damit begrenzt. Ebenfalls die Möwe im Vordergrund hält Kurs. Es ist jedoch abzusehen, dass sie, wie die Vögel im Hintergrund, die weniger symmetrisch abgebildet sind,

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gelegentlich einhakt, die Richtung ändern wird und sich nach Lust und Laune treiben lässt. Insofern symbolisiert sie Freiheit. Das Beziehungsverhältnis zwischen Vogel und Schiff, mit dem ein gegenseitiges Durchdringen von Freiheit und Zwang symbolisiert werden soll, wird auch von der Bildproduzentin explizit angesprochen: »The ship and the sea gull are perceptively on each other, they touch each other. This photograph is a bit about independency because of the bird. The bird shows freedom. The ship symbolizes city life«. Im Bild werden Polaritäten überlagert. Der Wunsch nach Freiheit kann als Grundmotiv der Bildproduzentin festgehalten werden wie auch die rationale Einsicht, dass man Zwänge nicht völlig abwenden kann. Das Schiff ist ein menschliches Produkt, das es erlaubt, sich dem Meer (der Natur) auszusetzen und die Stadt für eine gewisse Zeit zu verlassen. Wie es den Raum und die Freiheit ausweitet, limitiert es beide zugleich. Man ist auf dem »schaukelnden Stück Raum« (1990), wie Foucault das Schiff beschreibt, zugleich gefangen.

Fotobefragung 18: Amila_2

Auf einem weiteren Bild ist ebenfalls die stürmische See zu sehen. Anstatt eines Linienschiffes, wie es auf dem vorherigen Foto abgebildet war, fährt nun ein monumentales Kreuzfahrtschiff auf dem Meer. Im Fokus stehen eine Küstenlinie und Kinder, die im Wasser spielen. Die Kaimauer ist nass, das Wasser scheint hin und wieder überzuschwappen. Im Bildhintergrund sind weitere Schiffe und eine Landzunge zu erkennen. Obwohl die Kinder im Fokus stehen wirken sie und damit auch ihre, die kindliche Welt, im Verhältnis zum Schiff geradezu winzig. Sie stehen für das Hier und Jetzt, für den Moment, während das Schiff

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die ›weite Welt‹ repräsentiert. Das Schiff und die durch es symbolisierte Dimension, nehmen die Kinder gar nicht zur Kenntnis. So wenig sie sich vom Ozeandampfer imponieren lassen, so wenig lassen sie sich von den Wellen einschüchtern. Sie fordern die Gefahr heraus und scheinen gleichzeitig mit der Situation vertraut zu sein. Der Mann, der am rechten Bildrand noch zu sehen ist, schenkt den Kindern keinerlei Beachtung, wodurch eine ernsthafte Gefahrensituation auszuschließen ist. Die Gesamtkomposition des Bildes setzt Elemente der ›Weite‹ bzw. der ›großen Welt‹ mit Elementen der Begrenztheit bzw. der ›kleinen Welt‹ in ein Verhältnis. Schiff und Meer symbolisieren ersteres, die spielenden Kinder, die ganz im Moment aufgehen und auf sich selbst konzentriert sind, letzteres. Auch der Bildproduzentin geht es um jene zwei Bildsegmente. Sie sagt: »In this picture the interesting thing is the ship and the kids. The ship is travelling the world. The courage of the Kids swimming in the Bosporus has always fascinated me. There is a strong currant«. Kombiniert man die Bildinterpretation mit der Aussage der Bildproduzentin, so scheint es um zwei Dinge zu gehen. Zum einen um das Betrachten der Weite und der Bewegung (symbolisiert durch das Schiff und das Meer), von einem festen Standpunkt (dem Ufer) und um die Bewunderung von Mut. Die Kinder bleiben nicht wie Amila auf der Betrachterinnenposition stehen. Sie überschreiten die Grenze des Festlandes und wagen sich ins Wasser. Diesem (Grenz-) Übertritt wird Respekt gezollt, wobei er zugleich als Wagnis eingestuft wird. In den Bildern und Aussagen wurde deutlich, dass die hier befragten Bewohnerinnen eine platonische Beziehung zum Meer unterhalten. Es geht um das ›Aufs-Meer-Blicken‹ von einem sicheren, entfernten Standpunkt. Der Grenzübertritt der Kinder, die den Beobachterposten verlassen und mit dem Wasser in Berührung kommen, wird idealisiert, aber nicht nachgeahmt. Die Ästhetik des Blickes ist von zentraler Bedeutung. Sie befreit etwa von weniger geschmackvollen Reizen der Stadt oder entfacht Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Freiheit des Blickes hilft zudem mit der Begrenztheit des Daseins zurechtzukommen, das wurde vor allem durch das Bild mit der Möwe und jenes mit den spielenden Kindern deutlich. Die psychologische Funktion des Meeres wird anhand weiterer Anmerkungen ausgeführt: »The sea calms you down. It pushes you to think about things«, hält Düsün fest. Der Blick von der Küste aufs offene Meer ist ein Ort der Reflexion, ein Ort des Nachdenkens. Überhaupt vermisst er Istanbul, wenn er wegen seines Studiums längere Zeit nicht in der Stadt ist. Nirgendwo, so seine Überzeugung, könne er denselben Duft einatmen, wie ihn der Bosporus versprüht. Der Bosporus wird häufig mit dem Moment des Atmens in Verbindung gebracht. Unter anderem wird die Überfahrt mit der Fähre von

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der einen Seite der Stadt auf die andere als ›Zeit-Raum‹ beschrieben, der es dem Passagier ermöglicht durchzuatmen, Luft zu holen und dem Chaos der Stadt für dreißig Minuten zu entkommen. Eine weitere Interviewpartnerin hält etwa fest: »Istanbul is too lively. I am from Izmir. The real Izmir is said to be very beautiful, but I still feel like breathing again when I come to Istanbul. Although there are many contrasts in Istanbul, although there are many reasons which keep me away from breathing, it is the sea which passes through from the middle of it; that sea makes me breathing«. Das Meer ist sowohl das Entree in die Stadt, als auch der Fluchtweg aus ihr hinaus. Wenn man sich woanders aufhält will man wegen dieses Meeres, trotz aller Belastungen, die das Leben in Istanbul mit sich bringt, in die Stadt zurück. Ist man hingegen in der Stadt, so bietet das Meer einen Raum des Rückzugs, was sehr deutlich aus folgender Interviewpassage hevorgeht: »Whichever part of Istanbul you are passing through somehow you get the chance to reach the sea, the possibility to reach the water. And this means, that you can get rid of your pessimism. Leaving your troubles on the water and restart your life. You burry this pessimism into the water and let it go to the other side of the shore«. Durch das Zitat wird die reinigende bzw. befreiende Wirkung des Meeres angesprochen. Zu beachten ist, dass es nicht dazu dient – wie etwa in der Semantik von Auswanderergeschichten – seine Probleme, sein bisheriges Leben, Freunde, Familie etc. zurückzulassen und selbst fortzugehen, um ein neues Leben anzufangen. Vielmehr hat das Meer die Funktion, seine Probleme und seinen Pessimismus wegzuschicken, wobei man selbst hier bleibt. An dieser Stelle tritt die platonische Beziehung erneut zum Vorschein. Das Meer wird nicht als Medium des Abenteuers und des Aufbruchs perzipiert. Es ist Ort des Rückzugs und der Beständigkeit zugleich. Es hilft, jenes Leben neu zu beginnen, das man hier hat. Das Meer ist Flucht- und Ankerpunkt der Stadt. Der Blick aufs Meer referiert auf Kontemplation, Erinnerung, Erneuerung, Sehnsucht und nicht etwa auf Abendteuer, Schwimmen und Badekultur etc. Damit hat das Meer vor allem eine geistige bzw. metaphysische Qualität für die Bewohner. Der Meeres-Blick scheint eng mit dem von Orhan Pamuk populär gemachten Begriff »hüzün« verknüpft zu sein (siehe hierzu die Kapitel ›Stadtportrait Istanbul‹ sowie ›Die inszenierte Stadt‹). Hüzün hat mit Verlust, Sehnsucht und einer Art Melancholie zu tun. Der Begriff unterscheidet sich, so wie ihn Pamuk einführt, von der gewöhnlichen Melancholie, da er nicht auf ein subjektives, sondern ein kollektives Gefühl referiert, das die Bewohnerinnen von Istanbul spüren (vgl. Pamuk 2008: 112 und 120). Isin übt mehrfache Kritik an dem Begriff. Hüzün, das von Pamuk als Gefühlszustand der Istanbuler beschrieben wird, würde sich nicht so sehr von kollektiven Gefühlen anderer Städte

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unterscheiden (vgl. Isin 2010: 38). Außerdem wäre er als ziemlich stabile Entität konzipiert, obwohl es sich augenscheinlich um eine diskursiv geformte Kategorie handelt (ebd.). Zuletzt wertet Isin Pamuks Beobachtung als »orientalistisch«. Dies deshalb, weil es sich, seiner Ansicht nach, bei hüzün nicht um das Selbstbild der Bewohnerinnen handeln würde, sondern um ein Bild, das von außen, d.h. von europäischen Reisenden, die in Istanbul Halt machten, verbreitet wurde (vgl. ebd.: 40). Von anderer Seite wird jedoch gerade der reflexive und analytische Umgang Pamuks gelobt. Pamuk zeigt, wie sich die Beobachtungen von europäischen Reisende mit den Beschreibungen Istanbuler Literaten und schließlich mit seiner eigenen Autobiografie vermischen und sich somit ein komplexer Intertext entwickelt hat, der nun als Selbstbild der Stadt firmiert (vgl. Stemmler 2009: 290). Mit hüzün, so Pamuk, hätte sich Istanbul und seine Bewohner im letzten Jahrhundert »infiziert« (Pamuk 2008: 110). Damit wird ersichtlich, dass der Begriff mit einer Verlustgeschichte, konkret mit dem Verfall dreier großer Imperien – Byzanz, Konstantinopel und dem Osmanischen Reich –, korreliert. Diese wird jedoch nicht lediglich negativ erlebt, sondern Istanbul ist stolz auf diese Verlustgeschichte und der damit einhergehenden Wehmut (ebd.). Der Gefühlszustand ist unter anderem auch Inspirationsquelle verschiedener Kunstschaffender, woran erkennbar wird, dass Istanbul sein »›Hüzün-Gefühl‹ nicht wie eine ›vorübergehende Krankheit‹ oder einen ›zu überwindenden Schicksalsschlag‹, sondern wie etwas Selbstgewähltes« (ebd.: 123) trägt, auf das die Bewohner stolz sind, ja mit dem sie sogar prahlen, wie Pamuk feststellt. Dieses Gefühl unterscheidet sich somit von melancholischen Grundstimmungen, denen mit Besorgnis oder Ironie begegnet wird. So ist man stolz auf seine Lebensumstände, auf die Erfolgslosigkeit, die Entschlusslosigkeit und Mittellosigkeit, die viele der in Istanbul lebenden Menschen betreffen (ebd.: 124). Pamuk schreibt aus seiner autobiografischen Erfahrung: »In meiner Kindheit und Jugend verhielten sich denn auch sowohl die Protagonisten türkischer Filme als auch die Helden zahlreicher wahrer Geschichten (…) gegenüber geliebten Menschen, Geld und Erfolg so, als interessiere sie das alles nicht: ›Hüzün‹ macht den Istanbuler handlungsunfähig« (Pamuk 2008: 124 Hvh. JM). Und weiter: »Erfolgsgier und Individualismus, wie etwa Balzac sie mit Figuren wie Rastignac für das moderne Stadtleben salonfähig gemacht hat, sind von ›hüzün‹ meilenweit entfernt. Der Istanbuler ›hüzün‹ läßt jede Art von Eigeninitiative, die sich den Werten und Lebensformen der Gemeinschaft entgegenstellt, unweigerlich verkümmern und propagiert eine Moral des Sichbegnügens, des Konformismus und der Bescheidenheit« (ebd.). Pamuk bringt hier gewisse ›Symptome der Stadt‹ auf den Punkt, die auch anhand der Interviews erkannt wurden, vor

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allem jene, die im Typus ›Konventionalismus‹ zusammengeführt wurden. So wird eine Handlungsunfähigkeit und eine Passivität konstatiert. Der Gefühlszustand ›hüzün‹ unterscheidet sich von der in anderen Großstädten erlebten Melancholie, die ein subjektives Gefühl ist und aus dem zunehmenden Individualismus resultiert. Das hier beschriebene Gefühl ergibt sich aus gemeinsam geteilten Werten; seine Grundlage ist nicht, folgt man Pamuk, ein persönliches, sondern ein kollektives Schicksal. Damit ist es ein psychologischer Rückzug, nicht aus der Gemeinschaft, sondern in die Gemeinschaft, auch wenn man ihn in physischer Einsamkeit erlebt. Hüzün ist mit dem Blick auf die Stadt und vor allem auch auf das Meer verwoben. Auch in Pamuks Erzählung durchzieht der Blick auf den Bosporus den gesamten Text und auch er – wie die interviewten Personen – erlebt ein Gefühl der Freiheit, wenn er am Meeresufer dem Trubel der Stadt entkommen ist (Stemmler 2009: 291). Es sind Bilder und nicht Interaktionen bzw. Handlungen, die die Bewohner in den Zustand ›hüzün‹ versetzen. D.h., man benötigt Abstand und gerade nicht den direkten Kontakt, was sich auch in der platonischen Beziehung der befragten Personen zum Meer widerspiegelt. Der Panoramablick, der vielerorts zumeist touristisch genutzt wird, scheint für den Alltag dieser Stadt bedeutsam zu sein. Verknüpft man ihn mit den Überlegungen Pamuks, steht er zugleich für eine Distanzierung und Passivität. Diese, zumindest kurzfristig, handlungsentlastende Funktion wird dem ›Blick aufs Meer‹ auch in den hier vorliegenden Interviews zugerechnet. Das Meer als Metapher Um die zuvor dargestellten Bedeutungen der Bilder und der Aussagen der befragten Bewohner weiter zu verdichten, wird der Bedeutungsgeschichte des Meeres als Metapher nachgegangen. Dies soll die nötige Differenzierung schaffen, um die Art der Beziehung zwischen der Stadt Istanbul und ihrer Bewohner mit dem Meer genauer zu bestimmen. Zunächst gilt es festzuhalten, dass die maritime Metaphorik sich aus sehr konträren Zuschreibungen zusammensetzt: »dem Gegensatz von Schönheit und Schrecken, Zerstörung und Gebären, Männlichem und Weiblichem, Oberfläche und Tiefe, Bewegung und Ruhe, Grenzenlosigkeit und Grenze. Diese Gegensätze konstituieren ein fortwährendes, fast schon allzu offensichtliches Spiel der Oppositionen, welche die geologischen Formationen des Meeres mit Sinn belegen« (Baader 2010: 29). Um diese konträren Konnotationen etwas zu systematisieren, ist die Konzeption von Makropoulos hilfreich, der das Meer als Prototyp einer doppelten Bewegungsmetapher versteht: Einer aktiven, unternehmerischen

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und einer passiven, schicksalhaften (Makropoulos 2007: 239). Erstere steht für das emanzipative Moment des Meeres. Makropoulos bezieht sich dabei auf eine Aussage von Hegel, der erklärte, das Meer »gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte« (Hegel. zit. nach Makropoulos 2007: 236, Hvh. JM). Vor allem die Meerfahrt galt dabei als Innbegriff der menschlichen Selbstverwirklichung. Diesen Stellenwert bekam sie jedoch erst allmählich durch neue technische Errungenschaften. Zuvor galt die Fahrt ins offene Meer als unlautere Grenzüberschreitung und Selbstüberschätzung (Makropoulos 2007: 237), lediglich die Küstenschifffahrt wurde als legitim erachtet. Die Weite des Meeres steht dabei »nicht nur für Unendlichkeit und Grenzlosigkeit, sondern auch für Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit und Orientierungswidrigkeit« (ebd.: 239). Damit wenden wir uns bereits dem zweiten Moment, der passive Bewegungsmetapher des Meeres, zu. Diese unterstreicht »das Schicksalhafte, letztlich Unbestimmbare des menschlichen Lebens« (ebd.: 239). Inbegriff dieser Bewegungsmetapher ist der Blick aufs Meer, ein Blick in die Unendlichkeit. Dieser ist ein Blick von der Wirklichkeit in die Möglichkeit (vgl. ebd.: 240). Das Land markiert die Aktualität, das Wasser und der Horizont die Potenzialität. Anders als der Seefahrer, befindet man sich am Ufer auf einer Zuschauerposition, auf Distanz zum Geschehen. Nimmt man die zuvor dargestellten Bilder und Aussagen ernst, so scheint es für die Rekonstruktion der Bedeutung des Meeres im Alltag der Bewohnerinnen Istanbuls ergiebiger, der Bedeutungskonnotation der »passiven Bewegungsmetapher« weiter zu folgen. Paul Valéry widmete einen ganzen Essay dem ›Blick aufs Meer‹. Am Beginn seiner Darlegung hält er zwei Gedanken fest, die der Blick aufs Meer in ihm auslöst. »Der erste ist der der Flucht, der Flucht um der Flucht willen; ein Gedanke, hervorgerufen von einer seltsamen Lockung des Horizonts, einem uns innewohnenden Drang ins Ferne, einer Art von Leidenschaft oder blindem Trieb zur Fahrt« (Valéry 1995: 502 Hvh. i.O.). In seinem zweiten Gedanken spezifiziert er, wovor geflüchtet werden soll. Er hält fest, dass man nur vor dem flüchten kann, was sich wiederholt und die »ermüdeten Seelen« der auf das Meer Blickenden wollen, so Valéry, von eben dieser »ewigen Widerkehr« flüchten (ebd.). Der Zauber des Meeres beinhaltet für ihn, dass es seinen Augen »unablässig Möglichkeiten zeigt« (ebd. Hvh. i.O.). Das Meer wird in dieser Darlegung als Ort des Entrinnens von den alltäglichen Routinen konzipiert. Damit sind wir den Aussagen und den Bildern der Befragten schon sehr nahe. Auch sie sehen das Meer als Rückzugsort, der sie ›durchatmen‹ lässt und die Hektik des Alltags, das Getriebe der Stadt außer Gang setzt. Valéry spricht von Möglichkeiten, die das Meer aufzeigt. Wie bei den befragten Bewohnerin-

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nen der Stadt sind diese Möglichkeiten der Flucht nicht tatsächliche Wege, der Stadt zu entrinnen, sondern vielmehr Optionen, mit ihr zurechtzukommen. Denn lediglich darin, was nicht abwertend verstanden werden darf, erfüllt sich der Blick aufs Meer. Um wirklich auszubrechen bedürfte es einer aktiven Handlung und nicht des distanzierten Blickens. Auch bei Valéry steht dieses versöhnliche bzw. integrative Moment im Zentrum. Lediglich deshalb kommt er in seinem Essay mit dem Akt des Blickens und der Imagination aus, ohne etwa auf den Tatendrang und die Abenteuerlust der Seefahrer eingehen zu müssen. Das Blicken selbst wird bei ihm zu einer eigentümlichen Art des Herrschens, ein Beherrschen der Gegensätze, eine Macht, sie gleichzeitig zu erfassen und gemeinsam zu denken: »Kein noch so herrlicher Ort – kein Hochgebirge, kein Wald, keine erhabene Landschaft, kein zauberhafter Garten – kommt für meinen Blick dem gleich, was man von einer freien Terrasse über einem Hafenplatz erschaut. Das Auge beherrscht Meer und Stadt in ihrem Gegensatz, beherrscht alles was der durchbrochene Ring von Dämmen und Molen zu jeder Tagesstunde umschließt, einläßt, entläßt. (...) Vom Horizont bis zu der reinen Linie des künstlichen Ufers und von den duftigen Bergen der fernen Küste bis zu den idyllisch weißen Signal- und Leuchttürmen umfängt das Auge zugleich das Werk des Menschen und das Element. Ist nicht eben hier die Grenze, an der das ewig Wilde, die nackte Naturkraft, das immer Ursprüngliche und die völlig unberührte Wirklichkeit sich begegnen mit dem Gebilde von Menschenhand, mit der umgestalteten Erde, der erzwungenen Symmetrie, der geordneten, der emporgetürmten Materie, der übertragenden und gebändigten Kraft, mit allem Rüstzeug eines Willens, der sichtlich von Zweckmäßigkeit, Ökonomie, Anpassung, Vorausschau, Hoffnung bestimmt wird?« (Valéry 1995: 507f).

Die ›Flucht‹ hat die Funktion, die Gegensätze wieder in Einklang zu bringen. Der Blick führt das Element des Wassers, das hier für Freiheit, Wildheit, das Ursprüngliche und die Natur steht, mit der Erde, die hier für die Zivilisation, die Stadt, Zwänge und Zweckmäßigkeit steht, in eine idyllische und trotz ihrer Gegensätzlichkeit harmonische Einheit zusammen. Denken wir an dieser Stelle an das Bild zurück, das eine Möwe zeigt, die mit ihren Flügeln ein Schiff umspannt und die Assoziationen, mit denen die Bildproduzentin das Foto beschrieb, so scheint die hier beschriebene Funktion des Blickens mit jener, die der Anblick des Meers im Alltag der Bewohner Istanbuls hat, erhebliche Ähnlichkeiten aufzuweisen. Das Meer ist Ort des Rückzugs. Das Betrachten des Meeres – von einem Standpunkt aus der Stadt heraus, d.h. aus einer sicheren Beobachterperspektive, wo man weder der Natur, noch der Stadt ausgeliefert ist – hat eine ordnungsstiftende Funktion, insofern, als sie den Einklang mit dem Alltag der Stadt

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wiederherstellt. In den Bildern, die die an der Untersuchung teilnehmenden Istanbulerinnen anfertigten, geht es nicht um die Abkehr von der Zivilisation und auch nicht um den Aufbruch zu Abenteuern. So werden keine landschaftlichen Idyllen fernab der Zivilisation gezeigt. Ebenso wenig stehen große Container- oder Kreuzfahrtschiffe im Bildmittelpunkt. Die Dokumentation von körperlicher Berührung mit dem Wasser und überhaupt die Badekultur stellen eine Ausnahme in den Bildthematiken dar. In den Meeresbildern geht es vielmehr ums Blicken, und dieser Blick hat eine harmonisierende und integrierende Wirkung. Der Meeresblick ermöglicht eine holistische Perspektive, die Natur und Zivilisation als Einheit denkt. Dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis von Meer und Stadt und kommt in den Bildern zum Ausdruck.

D IE S TADT IM B LICK IHRER B EWOHNERINNEN – EINE Z USAMMENFASSUNG Die Bilder und Aussagen der interviewten Istanbuler wurden hier in zwei deutlich kontrastierenden Abschnitten vorgestellt. Der erste Abschnitt unterstreicht die Unsicherheit, die auf Grund der Gleichzeitigkeit autoritärer Strukturen und Diversität entsteht. Antagonismus ist die Schlüsselkategorie, die die alltäglichen Erfahrungen der Bewohner auf den Punkt bringt. Sie verdeutlicht, dass eine Vielzahl gegensätzlicher und konfligierender Werte vorherrscht, die ›richtiges‹ Handeln in dem Sinne ausschließen, als dass man immer gegen bestimmte Wertesysteme verstößt, ganz einerlei, wie man sich verhält. Diese ›Verstöße‹ werden fühlbar registriert und zum Teil öffentlich ausgehandelt. Es fehlt eine Distanziertheit der Blicke und ein blasiertes Auftreten wie sie Simmel für die großstädtische Lebensform beschrieben hat (Simmel 1995). Ebenfalls wurden Taktiken angeführt, wie die Bewohnerinnen mit dem Antagonismus umgehen. Diese waren etwa pro aktiv in dem Sinne, dass man versucht, seine eigenen Werte und Sichtweisen durchzusetzen, diplomatisch in der Hinsicht, dass unterschiedliche Werte als legitim und wünschenswert wahrgenommen werden und unter Umständen gar integriert werden, und konventionalistisch in dem Verständnis, dass man versucht, nicht aus der Masse herauszustechen und nicht aufzufallen. Ebenfalls wurde eine Form von Dissoziation festgestellt. So erscheint einigen Bewohnerinnen das vermittelte und erzählte Istanbul (das vor allem das vergangene Istanbul ist) realer, als das von ihnen alltäglich erlebte. Im Kontrast zur Konflikthaftigkeit der geschilderten Alltagssituationen steht der zweite Abschnitt des Kapitels. Anhand der Bilder und Aussagen, die das Meer betreffen, konnte eine weitreichende Kongruenz erkannt werden, die über die

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unterschiedlichsten Standpunkte und Weltsichten hinaus auf ein gemeinsames Erleben und Fühlen schließen lässt. Das vorgestellte Material macht deutlich, dass das Meer trotz der schier uneingeschränkten Anzahl möglicher Bedeutungen und Konnotationen eine ganz bestimmte Bedeutung und Funktion für den Alltag Istanbuls hat. Es stellt einen Fluchtweg dar, der jedoch nicht dem Entrinnen dient. Vielmehr ist jener Standpunkt, von dem aus man von der Stadt auf das Meer blickt, ein Ort der Reflektion und Meditation, der die Verbundenheit mit der Stadt aufrechterhält. Es ist kein Ort der Handlung, sondern der Handlungsentlastung. Die Interaktion wird blickend geführt und bedarf keines physischen Kontakts. Folgt man Anselm Strauss und seiner Implikation, dass es für das Leben in der Großstadt unabdingbar ist, sich eine Vorstellung vom »Ganzen der Stadt« zu machen, um sich in ihr zu orientieren und den Alltag zu organisieren (Strauss 1961: 5), so ist der Blick auf den Bosporus ein signifikantes Element dieser Kohärenzproduktion. Wirkt der Alltag undurchsichtig und chaotisch, so hat das Meer eine integrative Wirkung. Aufgrund dieses Effekts, der Produktion von Kohärenz, ist das Meer ein signifikanter Baustein in den Vorstellungen und Bildproduktionen der Bewohnerinnen. Hätten wir nur die Bilder und Aussagen des ersten Teils, so wäre der Alltag in dieser Stadt nur sehr schwer denkbar. Das »Ganze der Stadt« wird hier einerseits als Auslöser von Mehrdeutigkeit und Unsicherheit gedacht, andererseits jedoch mit dem Meer eine symbolische Sinnwelt erschlossen, der eine »nomische Funktion« zukommt und die »jedes Ding an seinen rechten Platz rückt« (Berger/Luckmann [1966] 2012: 105). Diese Kohärenzproduktion ist notwendig, um den Alltag in der Stadt zu meistern. Damit kann erneut auf ein eingangs eingeführtes Zitat von Strauss verwiesen werden, um noch einmal ganz allgemein auf die Bedeutung von Vorstellungsbildern zu rekurrieren: »for organizing the inevitably ambiguous mass of impressions and experiences to which every inhabitant is exposed, and which he must collate and assess, not only for peace of mind but to carry on daily affairs« (Strauss 1961: 17). Ungewissheit darüber, wie die Stadt ist und was sie ausmacht, würde nach Strauss psychologischen Stress verursachen: »Uncertainty about the character of the environment can only engender deep psychological stress« (ebd.). In Istanbul nimmt nicht eine bestimmte Infrastruktur, ein architektonisches Ensemble oder eine soziale Organisation einen signifikanten Platz in der Perzeption vom »Ganzen der Stadt« ein, sondern das Meer. Die Panoramaansicht der Stadt von der Weite hat eine ordnende Funktion.

Die ästhetisch verdichtete Stadt – Istanbul im Medium der Kunst

Aus einer Vielzahl möglicher künstlerischer Reflektionen über Istanbul (Performances, Theaterstücke, Installationen, Malereien, etc.) entschied ich mich für gegenwärtige fotografische Arbeiten über die Stadt. Dies deshalb, da sie dem bisherigen empirischen Material (Werbebilder, Fotos von Bewohnern) am medial ähnlichsten und auch mit der hier verfolgten Auswertungsstrategie der Bildanalyse, am besten zu analysieren sind. Die Fotoserien umfassen eine Innenperspektive eines in Istanbul ansässigen Künstlers sowie eine weitere Arbeit eines Künstlers, der sich zum ersten Mal in der Stadt befand (Außenperspektive). Schon in den Werbebildern verschränkte sich Selbstbild und Fremdbild, womit sich die Frage eröffnet, ob und inwiefern dies auch für die künstlerischen Betrachtungen gilt. Überschneiden sich Innen- und Außenperspektive auch im Medium der Kunst? Durch ein damals, als ich mit der Konzeption der vorliegenden Arbeit begann, neu erschienenes Buch, das die Transformation und den Imagewandel Istanbuls beschreibt (Göktürk/Soysal/Türeli 2010), wurde ich auf die Arbeiten von Serkan Taycan aufmerksam. Dieser beschäftigt sich in seiner künstlerischen Auseinandersetzung eingehend mit dem Zusammenhang von Raum, Identität und Zugehörigkeit31. In seiner Arbeit ›Europe?‹ fragt er etwa nach den Assoziationen und Bedeutungen, die die Menschen in Istanbul mit dem Begriff Europa und der europäischen Identität verknüpfen. Als ich ihn im Sommer 2010 kontaktierte und ihm mein Anliegen schilderte – eine künstlerische Arbeit, die sich mit der Stadt Istanbul auseinandersetzt, als empirisches Material einer wissenschaftlichen Analyse heranzuziehen – willigte er sofort ein, an meinem Vorhaben zu partizipieren. Er habe just zu diesem Zeitpunkt mit einer Arbeit begonnen und könne mir das erste Rohmaterial zusenden.

31 http://www.serkantaycan.com.

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Anders als Serkan Taycan, der mir eine Arbeit lieferte, die er bereits geplant und begonnen hatte, konnte ich Alexander Basile, ein in Köln ansässiger Künstler, mit meiner Projektidee animieren, für eine Woche in die Stadt zu reisen und sie fotografisch zu erkunden. Die Arbeit des zweiten Künstlers wurde dementsprechend durch meine Anregung realisiert. Basile kannte ich zuvor. Er war am Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst interessiert und hatte mich bereits zu Vorträgen eingeladen, in denen ich aus soziologischer Perspektive seine bzw. von ihm kuratierte Werke kommentierte. Durch diese Begegnungen war ich mit seiner künstlerischen Perspektive vertraut. In seinen Arbeiten widmet er sich Fragen zur Raumwahrnehmung und der Interaktion zwischen bebauter sowie sozialer Umwelt und dem Subjekt32. Besonders beeindruckt war ich von der Fotoserie cognitive mapping sao paulo (2006). Diese besteht aus kühlen Schwarzweißbildern, die in schweren Betonrahmen stecken. Sie zeigen die Stadt bei Nacht, dokumentieren die gated communities mit ihren Überwachungskameras, Mauern, Stacheldrähten und verdeutlichen in aller Härte das Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. In der folgenden Analyse wird zunächst auf die Stadtwahrnehmung und Reflexion von Alexander Basile eingegangen. Die Serien ›Bustour‹ und ›Plastik‹ entstanden im Frühjahr 2011. Für Basile war dies der erste Aufenthalt in der türkischen Metropole. Bei seinen Erkundungen bewegt er sich in den Kernzonen der Stadt, einmal mit dem Bus und der Straßenbahn (›Bustour‹), ein andermal zu Fuß (›Plastik‹). Anschließend wird die künstlerische Innenperspektive herangezogen. Die Bilder von Serkan Taycan, der die Stadt wie kaum ein anderer kennt, führen uns an die Ränder der Stadt. Die Arbeit ›Shell‹ dokumentiert die Rundgänge, die den Künstler an versteckte und periphere Orte der Stadt verschlugen, die kaum jemand, der nicht dort wohnt, geschweige denn Touristen, je aufsuchen. Anders als die Außenperspektive auf die Stadt von Alexander Basile, der sich in der Stadt bewegt, erkundet Taycan als Istanbul-Kenner die Vororte, um die gegenwärtige Entwicklung und Transformation der Stadt in den Blick zu nehmen. So paradox dies zunächst klingen mag, nähert sich die Außenperspektive auf Istanbul von innen während die Innenperspektive die Stadt von außen erschließt.

32 http://alexanderbasile.com; www.ssz-sued.de.

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K ÜNSTLERISCHE A UßENPERSPEKTIVE Bildserie ›Bustour‹

#001

#002 #003

#004 #005 #006 #007

#008

#009 Grafik 35: Index ›Bustour‹; Alexander Basile 2011

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Die Abbildung zeigt den Index der Serie ›Bustour‹. Die Serie besteht aus neun Einzelbildern und wurde vom Künstler nicht nummeriert. Die Ordnung wurde vielmehr von mir, nach eingehender Auseinandersetzung mit der Serie, erstellt. Die Sortierung referiert auf jeweiligen Beobachtungsebenen, wie im Folgenden ausführlich dargelegt werden wird. Basile selbst verwendete die Bilder bislang in keinem anderen Zusammenhang.

Abbildung 24: Bild #001, Serie ›Bustour‹, Alexander Basile 2011

Zunächst erfasste mein Blick die Frau, die ein Mädchen am Arm hält. Beide Personen haben einen ernsten, kritischen bzw. gar einen grimmigen Blick. Ist die Frau besorgt, dass sie das Mädchen so unsensibel festhält? Will sie es schützen und wovor? Das Mädchen blickt die Betrachterin an während die Frau, die noch verärgerter zu sein scheint als das Mädchen, leicht zur Seite schaut. Der weiße Lichtklecks wendete schließlich meine Aufmerksamkeit von den zwei Frauen ab. Ich identifizierte den Fleck sogleich als Blitzlicht und schloss daraus, dass die Fotografie durch eine Scheibe hindurch gemacht wurde. Da es draußen taghell ist und man auch durch eine Glasscheibe hindurch kein Blitzlicht einsetzt, wirkt das Foto zunächst sehr amateurhaft. Es könnte von einem ›Knipser‹ gemacht worden sein, der in der Eile vergessen hat, das Blitzlicht auszuschalten. Damit wäre das Foto sehr spontan (und damit eventuell auch unüberlegt) entstanden. Was könnte den Fotografen so an dem Szenario fasziniert haben? Mein Blick schwenkte zurück zur Rahmung. Ich erkannte, dass das Bild durch ein Fenster eines Busses heraus gemacht wurde. Auf der rechten Seite

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befindet sich ein Vorhang, der das ganze Szenario theatralisch arrangiert. Die zwei Personen, die sich etwa einen Schritt weit auf der Straße befinden, sind die ›Protagonisten‹. Sie bleiben wie angewurzelt stehen, während eine Bildebene weiter hinten, die ›Statisten‹ ziemliches Tempo machen: Die Fußgänger auf dem Gehsteig schreiten mit weiten Schritten in beide Richtungen. Es herrscht Geschäftigkeit. Diese steht im Kontrast zur Statik der ersten und zweiten Bildebene. Die erste Bildebene ist in sehr kühlen Farben gehalten und suggeriert Distanz. Der Vorhang und die Glasscheibe, die sich zwischen Betrachterin und Geschehen befindet, trennen den Raum in jenen Ort des Publikums und jenen der Akteure. Außerdem ist die Position des Betrachters bzw. der Betrachterin erhöht. Die zweite Bildebene wirkt wie eingefroren. Die zwei Personen sind abrupt stehen geblieben. Sie sind im Geschehen und einer Bedrohung ausgesetzt (Gestik und Mimik). Zwischen der ersten und zweiten Bildebene herrscht eine Interaktion. So ist der Blick der Betrachterin frontal auf die zwei Menschen auf der Straße gerichtet und umgekehrt richtet sich der aufmerksame und kritische Blick dieser zwei Personen in Richtung Betrachterin bzw. Bus. Im Kontrast zur Statik der ersten zwei Bildebenen wirkt die dritte geschäftig und dynamisiert. Die Menschen bewegen sich nicht nur in alle Richtungen, sondern ihre Blicke sind auch kreuz und quer gerichtet. Die dritte Bildebene ist von einer gegenseitigen Nicht-Zur-Kenntnisnahme geprägt. Jede Person auf dem Gehsteig richtet ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Der Mann vor dem Geschäft links im Bild schaut vom Betrachter aus gesehen nach links aus dem Bild hinaus. Der Mann mit dem Mädchen an der Hand überblickt die Gruppe Fußgänger. Das Mädchen wiederum wendet ihr Interesse dem Jungen, der vor ihr steht, zu. Der Junge selbst blickt auf die Früchte, die vor einem Geschäft stehen. Der Mann neben ihm betrachtet den Boden, die Frau, die weiter rechts im Bild zu sehen ist, blickt in die offene Tür des Cafés und so fort. Keiner der Blicke auf der dritten Bildebene trifft auf einen der anderen. Herrscht zwischen den ersten zwei Bildebenen, trotz der Distanz der Glasscheibe und der Überhöhung der ersten Ebene, eine Interaktion, so markiert der Randstein, der Fahrbahn und Straße trennt, eine Grenze, die weder perspektivisch noch durch eine erkennbare Interaktion im Bild in Beziehung gesetzt wird. Die dritte Bildebene sowie die vierte, die die Häuserfassade einnimmt, werden damit zur ›Kulisse‹ des Geschehens. Die Frau und das Mädchen sind zwischen den Ebenen auf einem sehr knappen Spalt eingeklemmt. Sie werden im übertragenen Sinne durch den Fotografen, der das Geschehen mit der Kamera einfriert und in dem Bus sitzt, der die zwei Frauen am Überschreiten der Fahrbahn hindert, regelrecht festgehalten. Sie sind seiner und damit auch unserer Betrachtung ausgeliefert.

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Das Bild wurde spontan aufgenommen und ist damit sicherlich ohne die Einwilligung der zwei Personen, die im Zentrum der Aufnahme stehen, entstanden. Gilt es als Kavaliersdelikt, im Urlaub Fotos von Personen zu machen, die zufällig vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten stehen und von der Aufnahme nichts bemerken, so wird das direkte Anknipsen mit einem Blitz als ein Vergehen gewertet, das, wenn auch zumeist nicht rechtlich, so doch sozial sanktioniert wird (verbal oder zumindest mit einer ablehnenden Geste). Ausgeübt wird diese Praxis von Paparazzi oder unsensiblen Touristen, die sozial ein geringes Ansehen haben. Das hier behandelte Bild könnte einer solchen Praxis entstammen. Der Bildbetrachter fühlt sich trotz der sicheren Position (distanzierte Perspektive) unangenehm berührt, wird er doch in die Situation eines unsensiblen Touristen hineinversetzt. Unterstrichen wird das Unwohlsein durch die kühlen Farben, die perspektivisch beklemmt wirkende Situation der zwei Frauen auf der Straße und vor allem durch die anklagende Mimik des Mädchens. Was ist der Sinn der Aufnahme, was will das Bild zeigen? Die zwei Personen sind höchst wahrscheinlich keine Stars, sie wirken durch ihre Kleidung und den Kontext mehr als nur gewöhnlich bzw. unscheinbar. Auch sind keine Sehenswürdigkeiten im klassischen Sinn zu sehen. Will der Fotograf das bunte Treiben dieser Stadt festhalten? Geht es um die Dokumentation des städtischen Alltags? Exotisiert der Fotograf durch die Aufnahme aus einem Touristenbus und die Distanz, die damit aufgebaut wird, die zwei Personen? Die reservierte Haltung, die Trennung zwischen Fotograf bzw. Betrachterin und Geschehen, wird durch weitere Bilder der Serie hervorgehoben. Es werden Alltagssituationen, Passantinnen, Fußgängern, Leute die auf den Bus warten, der Verkehr, etc. abgelichtet. Da dieses Thema, die Anziehungskraft des Alltäglichen und seine Exotisierung durch Distanz zum eigenen Standpunkt, in der Serie durchgehalten wird, bringt sich der Fotograf selbst als Tourist ein. Darauf verweist vor allem auch der Titel der Serie: ›Bustour‹. Versetzten wir uns also kurz in die Lage von Touristen und reflektieren was und wie sie sehen. Touristen sind durchaus engagierte Erkunder fremder Städte, sie sind begierig darauf, deren Zeichen zu lesen und die Symboliken zu dekodieren. Nicht selten werden jedoch die Eindrücke allzu rasch in ein vorgefertigtes Symbolsystem eingeordnet. Alles erscheint schon immer als etwas Bestimmtes und Bestimmbares. Das ›Fremde‹ wird zwar als fremd wahrgenommen, ist jedoch nicht wirklich fremd, da man schon weiß – zumindest zu wissen glaubt – was und wie es ist. So stellt etwa Peter Osborne in seinem Werk Travelling Light fest: »Tourist photography is more a process of confirmation than of discovery; a practice which takes place within the system of tourism« (Osborne 2000: 79). Die touristische Wahrnehmung unterliegt einem bestimmten symbolischen Universum. Touristinnen

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hegen bei ihren Streifzügen durch die Stadt nicht immer das Ziel, das Pittoreske wahrzunehmen und abzulichten, sondern interessieren sich durchaus auch für das alltägliche Leben der Stadt. Das Gewöhnliche ist ebenfalls das Thema der vorliegenden Serie. Wie das Zitat von Osborne nahelegt, ist es in der Position eines Touristen bzw. einer Touristin schwierig, mitunter gar unmöglich, den Alltag in seiner Alltäglichkeit zu fassen. In der touristischen Fotografie wird das Alltägliche, indem es fotografisch festgehalten wird, zu etwas Außergewöhnlichem und damit exotisiert. Dieses Moment, die Kontextgebundenheit der Wahrnehmung, die hier eine touristische Wahrnehmung ist, wird auch in der Serie durch die bühnenhafte Rahmung objektiviert. Die Exotisierung, die in dem oben dargestellten Bild stark präsent ist, wird durch die Farbgestaltung etwas relativiert. So wirken die Bilder kühl und dadurch eher informativ als verzaubernd und exotisierend. Außerdem wird der Fotograf selbst sowie sein Blick durch das Blitzlicht thematisiert. Der Blitz als »Schatten des Fotografen« (Lethen 2014) ist in etlichen Bildern der Serie präsent. Der Fotograf setzt bewusst ein Zeichen im Bild:

Abbildung 25: Bild #002, Serie

Abbildung 26: Bild #003, Serie

›Bustour‹; Alexander Basile 2011

›Bustour‹; Alexander Basile 2011

Noch einmal, worum könnte es in der Serie gehen? Die Stilistik ist touristisch – d.h. klischeehaft, exotisierend und distanziert – und dokumentarisch – d.h. aufdeckerisch und reflexiv – zugleich. Es werden nicht traditionelle Sehenswürdigkeiten gezeigt, sondern flüchtige Alltagssituationen der Stadt festgehalten. Der Fotograf begibt sich jedoch nicht in diesen Alltag. Er bleibt auf Distanz, in einem Verkehrsmittel, sei es ein Sightseeing-Bus oder eine Tram, das ihn von diesem Alltag fern hält und zu einem reinen Beobachter macht. Der Fotograf scheint weder ganz Tourist zu sein, noch jemand, der ein näheres Wissen über die Stadt und ihre Kultur hat. Diese Wissenslücke wird in den Fotografien thematisiert. Alles wird besondert (fotografisch festgehalten) und bleibt gewöhnlich

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zugleich (sporadische Alltagssituationen). Ihm bleibt die Stadt, ihre Kultur verschlossen, er sieht sie durch Glasscheiben, Sonnenblenden, und Vorhänge hindurch, und doch sind gerade diese Stadt und ihr Alltag in seinen Bildern präsent. Er dokumentiert sie, sucht sich jedoch keinen direkten Zugriff. Er begibt sich nicht einmal auf das Deck des Busses, um die Glasscheibe zu überwinden, er sucht auch nicht den Kontakt mit der Stadt, indem er sein Vehikel verlässt. Er beobachtet die Stadt von diesem, seinen Beobachterposten und thematisiert damit die Unmöglichkeit, die eigene Standortgebundenheit zu überwinden. Weitere Bilder der Serie greifen den Aspekt der Standortgebundenheit und der Wissensvermittlung auf. Ein Bild zeigt zwei Audioguides, die in acht verschiedenen Sprachen operieren. Links und rechts im Bild ist ein Schatten zu sehen sowie eine weitere, quer durch die Bildmitte verlaufende, Schattierung. Betrachtet man die Perspektive und die Konstellation der Schatten, so könnte es sich bei den zwei Streifen um einen Kameragurt handeln. Die Kamera selbst ist nicht als Spur präsent. Auch hier ist sowohl der Fotograf als Vermittler, als auch der Einfluss, dem er ausgesetzt ist, präsent (Sightseeing-Bus, Audioguide).

Abbildung 27: Bild #004, Serie ›Bustour‹; Alexander Basile 2011

Waren die vorherigen Bilder von den Seitenfenstern der Fahrzeuge aufgenommen, so sind die unten abgebildeten Fotos frontal aus der Windschutzscheibe heraus gemacht. Perspektivisch wird damit ein Eindringen in die Stadt suggeriert, wobei man mitten auf der Fahrbahn bleibt. Auf dem Audioguide, auf dem

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in jedem Bild ein Lichtklecks (ev. vom Blitzlicht) zu sehen ist, ist die Nummer ›3‹ ausgewählt. Wenn man noch mal auf das oben abgebildete Foto blickt, so ist klar, dass dies der Kanal für die Deutsche Sprache ist. Ebenfalls sind die Kopfhörer nun eingesteckt. Ausgeprägter als zuvor wird durch diese Bilder die Einflussnahme deutlich, unter welcher der urbane Raum hier wahrgenommen wird. In allen drei Bildern ist der Himmel bedeckt und insgesamt wirkt die Atmosphäre sehr grau. Das erste Bild zeigt in aller Deutlichkeit eine unspektakuläre Straßenszene. Was dennoch auffällt ist, dass keinerlei Leitlinien auf der Fahrbahn eingezeichnet sind und damit die Abstände nicht gleichmäßig eingehalten werden, was etwas chaotisch wirkt. Erst das dritte Bild mit dem Audioguide zeigt einen touristischen hotspot, den Taksimplatz. Wie alle Bilder der Serie ist auch dieses mit derselben Brennweite aufgenommen. Der Taksimplatz wird nicht herangezoomt und geht hinter dem festgehaltenen Verkehrsszenario völlig unter.

Abbildung 28: Bild #005, #006, #007, Serie ›Bustour‹; Alexander Basile 2011

Die zwei letzten Bilder der Serie kontextualisieren die Szenerie in aller Deutlichkeit. Mit ihnen wird jedoch die Ebene der Beobachtung gewechselt. Man beobachtet nun nicht mehr die Stadt, sondern die Beobachtung der Stadt. Der Fotograf hält in diesen Bildern die Blicke fest, die auf die Stadt gerichtet sind. Das erste dieser zwei Bilder zeigt ein Fenster, das fast zur Gänze durch einen Plastikvorhang verdeckt ist. Lediglich ein kleiner Spalt ist frei. Aus diesem blicken ein Mann und eine Frau. Man erkennt die Architektur eines Sakralbaus (eine Mosche oder eine Kirche). Da den größten Teil des Bildes der Plastikvorhang einnimmt, kann gefolgert werden, dass das Bild die Beschränktheit der Beobachtung thematisiert. Perspektivisch wird die Geschlossenheit des Fensters ins Zentrum rückt. Die Beobachter erster Ordnung (die Touristen) betrachten die Stadt lediglich aus einer kleinen Lücke. Wir als Bildbetrachter und Beobachter zweiter Ordnung, die unsere Beobachtung auf die Beobachtung der beiden Touristen richten, erkennen den eingeschränkten Ausschnitt ihrer Wahrnehmung, den Umfang ihres ›blind spot‹.

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Abbildung 29: Bild #008, Serie Bustour; Alexander Basile 2011

Auch ein weiteres Bild zeigt einen Touristen wie er mit dem Audioguide im Ohr und dem Smartphone vor den Augen die Winkel und dunkeln Gassen der Stadt erkundet. Die Gasse, auf die sich seine Aufmerksamkeit richtet, ist für die Betrachterin verdeckt (durch seine Person wie eine Strebe des Busses). Die Aufmerksamkeit wird geteilt. Sie schwenkt zwischen der fotografischen Handlung des Touristen und dem Werbeplakat auf der linken Bildhälfte. Über dem Werbeplakat erkennt man ein Haus, das vermutlich leer steht und eine Plakatwand. Der Tourist scheint Angst um sein Hab und Gut zu haben. Obwohl er sich im Bus befindet hat er seine Tasche um den Hals gehängt.

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Abbildung 30: Bild #009, Serie ›Bustour‹; Alexander Basile 2011

Es bestätigt sich, dass die Serie die Wahrnehmung der Stadt von außen thematisiert, den touristischen Blick. Alexander Basile weist dabei darauf hin, wie selektiv, beschränkt und beeinflusst diese Art der Wahrnehmung ist. Man sieht nur Ausschnitte, man blickt durch ein Glas, es kommt zu keiner wirklichen Begegnung, kein Austausch bzw. Dialog ist möglich, man sieht was man durch den Audioguide vermittelt bekommt. Die Standortgebundenheit ist nicht zu überwinden. Die hier behandelte Serie führt touristische Schnappschüsse vor, sie vermittelt eine »staged authenticity« (MacCannell 1976), die gewissermaßen das Momenthafte und Flüchtige komponiert. Die Rhetorik der Bilder überzeugt durch ihre Transparenz, die die Selektivität der Beobachtung und den Fotografen selbst in die Gestaltung mit aufnehmen. Die Bühnensituation wird durch die sichtbare Distanzierung und Verschleierung objektiviert. Man blickt von oben herab, durch Sonnenblenden, Glasscheiben und Vorhänge. Man erlebt die Stadt wie bei einer Theaterinszenierung aus der schützenden Dunkelheit des Zuschauerraumes. Wenn die Menschen den Betrachter dennoch erblicken, so bleibt die Gewissheit, dass der Bus jeden Moment weiterrollt und jede potentielle Interaktion abbricht. Obwohl der privilegierte Standpunkt des Beobachters als limitiert und distanziert entlarvt wurde, so spiegelt sie dennoch ein wirkliches und ein authentisches Erleben. Die Bilder sind dokumentarisch (›echt‹) und inszeniert (›unecht‹) zugleich und gerade aufgrund dieser paradoxen Kombination ist die Serie glaubhaft.

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In ›Bustour‹ reflektiert der Fotograf seine Beobachtung der Stadt. Um die Stadt selbst ins Bild zu rücken, bedarf es jedoch einer zweiten Serie. Bei dieser verlässt er den Bus und wagt sich etwas näher an die Ausschnitte heran.

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Bildserie ›Plastik‹ #001

#002

#003

#004 #005 #006

#007 #008 #009

#010 #011 #012

Grafik 36: Index Serie ›Plastik‹; Alexander Basile 2011

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Die Serie ›Plastik‹ besteht aus 12 Einzelbildern. Auch diese Serie wurde vom Künstler nicht nummeriert. Anders als bei ›Bustour‹ arbeitete der Künstler mit einzelnen Bildern weiter. Bild #003, #004, #005 und #012 wurden in eine andere Serie mit dem Titel ›Emerging Sculptures‹ aufgenommen. Dabei wurden sie hochformatig zugeschnitten und farblich bearbeitet. ›Emerging Sculptures‹ war 2013 in der Galerie EG Null der Generali Deutschland AG in Köln zu sehen und wurde anschließend als Fotobuch im Spontan Verlag (2013) veröffentlicht. Im Folgenden wird die weniger konzeptualisierte, eher spontan entstandene und unbearbeitete Serie ›Plastik‹ herangezogen. In ihr ist der Stadtbezug zu Istanbul vorhanden, wohingegen die Serie ›Emerging Sculptures‹ mit der Ästhetik spielt und die Bilder vom lokalen Kontext entkoppelt. Sie beinhaltet weitere Bilder, die in den Arbeitsräumen des Künstlers und anderen Städten entstanden (Basile 2013).

Abbildung 31: Bild #001, Serie ›Plastik‹; Alexander Basile 2011

Das Bild zeigt eine Nahaufnahme. Der Blick fällt zunächst auf den Kreis, der sich wie ein Stempel in den Boden gedrückt hat. Der Kreis wird sowohl durch die Schärfe akzentuiert, als er auch in der helleren Hälfte des Bildes situiert ist. Zunächst dachte ich, dass eine Lichtquelle auf diese Bildhälfte scheint, aber der Boden wirkt an dieser Stelle insgesamt weniger abgewetzt. Farbe, Lack oder ganz einerlei, um welche Schutzschicht es sich handeln mag, scheinen hier noch vorhanden zu sein, während sie auf der, vom Betrachter bzw. der Betrachterin aus gesehen, linken Bildhälfte verblasst ist. Eventuell könnte ein Möbelstück auf

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diesem Bereich gestanden haben, das den Boden vor Sonnenlicht und Abnützung geschützt hat. Hier wurde etwas verschoben, von seinem Platz gerückt. Die Zuschreibung des Platzes zu einem Artefakt macht insofern Sinn, als ein derartiger Abdruck nur entstehen kann, wenn etwas längere Zeit an dieser Stelle weilte und ihn insofern in Besitz genommen hat, indem es Spuren hinterlassen hat. Die Stelle ist gekennzeichnet und wurde insofern auch geschützt, als die Farbintensität blieb erhalten. Das schwarze Tischbein, das aller Wahrscheinlichkeit nach den Abdruck auf der rechten Bildhälfte hinterlassen hat, wirkt krumm und zerbrechlich. Die Last, die das Bein zu tragen hat, ist außerhalb des Bildes. Der tatsächliche Verursacher des Abdrucks, das Gewicht, das vom Tischbein auf den Boden übertragen wird, ist somit nicht zu sehen. Der Boden hat ein Holzmuster. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein billigeres Imitat. Das Laminat oder Linoleum wellt sich wie Pappe, was der minderen Qualität Ausdruck verschafft. Auch das Stuhlbein wirkt alles andere als stabil und dauerhaft. Im Bild wird Unechtheit und Unbeständigkeit in den Fokus gerückt und dadurch gewissermaßen entlarvt. Die unsoliden Materialien zeigen sich im Bild. Die äußeren Einflüsse wiederum sind nicht direkt zu erkennen. Weder die Last, die die schwarze Stütze zu tragen hat, noch das Wasser, das den Boden gewellt hat oder die Sonneneinstrahlung, die die Farbintensität verbleichen ließ, sind sichtbar, auf sie wird jedoch verwiesen. Dieses Spiel mit dem Unsichtbaren verleiht dem Bild, das auf den ersten Blick stark reduziert wirkt, eine atmosphärische Qualität. Es wird eine Dramaturgie erzeugt, die die Betrachterin nach einem symbolischen Sinnzusammenhang fragen lässt. Was für eine Art Kritik wird hier vorgebracht? Weshalb wird der Verursacher des Schadens nicht direkt abgebildet? Ist es überhaupt das Gewicht, die Last, das Wasser, die Sonne, die Schuld haben an der Verwüstung, oder wird eine ›Kultur des Provisorischen‹ angeprangert, sprich die Minderwertigkeit der verwendeten Materialien? Blickt man auf die Ästhetik des Bildes, so ist erkennbar, dass der Fotograf das Bild sorgfältig komponiert hat. Die Linien, die parallel zueinander schräg nach rechts oben verlaufen, erzeugen eine Dynamik. Das Stuhlbein sowie der Abdruck sind exakt in der mittleren Linie platziert. Das Bild ist stark reduziert und doch nicht leer. Obwohl keine Bewegung direkt wahrnehmbar ist, wirkt es alles andere als statisch. Das Dargestellte und die Art der Darstellung konfligieren, sie erzeugen einen Kontrast. Die thematischen Verweise im Bild deuten auf Unechtheit, Unbeständigkeit und eine ›Kultur des Provisorischen‹ hin. Im Gegensatz dazu ist die Bildkomposition ästhetisiert und alles andere als leger. Im Folgenden werden nicht alle Bilder der Serie im Detail behandelt. Anhand der einzelnen Bilder wurde schnell klar, dass sich der Fotograf in der Serie mit einem Thema beschäftigt, auch wenn sich die Stilistik der Bilder z.T. unter-

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scheidet. Ein Bild, das aus dem ›ästhetisierenden Blick‹ des Fotografen ausbricht, soll kontrastierend vorgestellt werden. Das Bild wurde, anders als das zuvor behandelte, schnell, gewissermaßen ›aus der Hand‹ geschossen und bei weitem nicht derart komponiert.

Abbildung 32: Bild #002, Serie ›Plastik‹; Alexander Basile 2011

Hier wird der Blick sofort von einem farbigen Muster gefangen. Schal und Handtasche, die aufeinander abgestimmt sind, stechen besonders hervor, da die Frau ansonsten sehr gewöhnliche Kleidung trägt, eine blaue Jeans und eine unauffällige, gemusterte Stoffjacke. Auch ihre Frisur, mittellanges schwarzes Haar, das nach hinten gebunden ist, ist sehr schlicht. Vom Bildfokus ist klar, dass es vor allem um das Stoffmuster geht, es soll auf etwas hindeuten. Eine kurze Recherche ergab, dass es sich um das populäre Burberry-Karo Nova Check handelt. Dieses schmückte ursprünglich das Innenfutter des BurrberryTrenchcoats. Bald wurde es jedoch zu einem Massenphänomen, wodurch die Marke an Exklusivität einbüßte. Eine Google Suche nach dem Image zeigt, dass es vermutlich kein Kleidungsstück gibt, das nicht in dieser Musterung erhältlich ist. Zwar findet man vermehrt Schals und Handtaschen, darüber hinaus sind aber auch Hüte, Geldbörsen, Regenstiefel und Flipflops in Nova Check erhältlich. War der Burberry-Trenchcoat mit dem Nova-Check Innenfutter zunächst ein Designerstück, das einer begrenzten Käuferschicht vorbehalten war, so wurde das Muster über die Jahre hinweg zu einem kulturellen Breitenphänomen. Das distinktive und verborgene Innenfutter wurde im wörtlichen Sinne nach außen

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gewendet, womit die Marke leichter decodierbar wurde. Man musste nicht mehr die Form der Schnitte, die Qualität der Stoffe und den Habitus der Trägerinnen und Träger entschlüsseln, um zu erkennen, dass es sich um ein Produkt von Burberry handelt. »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982) der Haute Couture werden ansonsten nur von einem kleinen Kreis von Eingeweihten erkannt. Hier wurde jedoch ein Muster zum Logo und dieses wird, wie das hier vorliegende Foto zeigt, plakativ getragen. Mit der Popularität des Musters entstanden zahlreiche Plagiate. Im Kleidungsstil der Frau sind es die Asseccoires, die hervorstechen. Da es sich bei Hose und Jacke mit aller Wahrscheinlichkeit nicht um Designerprodukte handelt, ist es naheliegend, dass Schal und Handtasche ebenfalls keine Originale sind. Weshalb sollte man für Asseccoires mehr Geld ausgeben als für die Kleidung, die man direkt an sich trägt? Handelt es sich um eine Fälschung oder um ein Original? Wird hier ein distinktiver Kleidungsstil visualisiert oder ein Massenphänomen? Die Plakativität der Bildkomposition und die dokumentarische, wenig ästhetisierte Darstellung haben eher einen entlarvenden Charakter. D.h., es wird angezeigt, dass etwas nicht ist, was es zu sein scheint: Ein angebliches Markenprodukt ist ein Imitat. Doch zeigt das Bild noch mehr? Welche Funktion könnte die Mode für die im Bild erkennbare Frau haben? Mit dem hier getragenen Stil wird weniger der individuellen Persönlichkeit Ausdruck verschafft, als die Subsummierung unter den Massengeschmack deutlich. Die Aufmerksamkeit wird von der Person weg auf die Accessoires gelenkt. Im Mittelpunkt steht was die Person trägt und damit hat. Überhaupt überdecken Schal und Handtasche die anderen Kleidungsstücke. Eine subtilere Verwendung von Kleidung und Modeaccessoires könnte durchaus dazu verwendet werden, die Aufmerksamkeit auf die Person zu lenken und dem Charakter bzw. der Selbstdefinition der Frau Ausdruck verschaffen. Hier wird jedoch etwas Auffälliges getragen, um Blicke anzuziehen, die jedoch von der Person und ihrem ›Selbst‹ ablenken und sie dem Massengeschmack unterordnen. Das Paradox dabei ist, dass der Dresscode, d.h. das Muster, auf eine Designermarke verweist, die zugleich für den Massengeschmack steht. In dem Bild kommt eine widersprüchliche Verknüpfung von Subversivität (der Aneignung eines symbolischen Musters, dass für eine elitäre Käuferschicht stand), Distinktion (das Muster hebt sich ab, es sticht aus dem Bild heraus) und Konformität (der Kleidungsstil der Frau wurde als Massengeschmack interpretiert) zum Ausdruck. Diese Widersprüchlichkeit wurde bereits von Simmel als ureigenes Prinzip der Mode definiert. Nach ihm genügt die Mode: »einerseits dem Bedürfnis nach socialer Anlehnung, insofern sie Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das

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Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben, und zwar sowohl durch den Wechsel ihrer Inhalte, der der Mode von heute ein individuelles Gepräge gegenüber der von gestern und morgen gibt, wie durch den Umstand, daß Moden immer Classenmoden sind, daß die Moden der höheren Schicht sich von denen der tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlassen werden, in dem diese letzteren sie sich aneignen.« (Simmel 2008/1895: 104).

Durch den bereits erwähnten entlarvenden bzw. gar anklagenden Charakter der Bildkomposition wird deutlich, dass diese Frau, trotzdem sie sich abhebt und trotzdem sie sich ein symbolisches Gut aneignet, im entdifferenzierenden Nebel des Massengeschmacks aufgeht. Die Funktion des Bildes beruht in diesem aufdeckenden Erkennen. Das dauerhaft Vorläufige und der charakterisierende Fake Das erste Bild zeigte auf symbolhafte Weise das Interieur eines Raumes, das zweite rückte den Kleidungsstil einer Person in den Fokus. Zwei Momente kamen in beiden Bildern unterschiedlich stark zum Ausdruck: das Vorläufige, nicht Dauerhafte minderer und unechter Materialien sowie die Transformationen exklusiver Symbolik zum Massengeschmack. Beide Momente, die hier mit den Kategorien des ›dauerhaft Vorläufigen‹ und des ›charakterisierenden Fakes‹ benannt werden sollen, durchziehen die gesamte Serie. Um diese Argumentationslinie weiter zu stärken, soll ein weiteres Bild im Detail betrachtet werden.

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Grafik 37: Wahrnehmungsprozess Bild #003, Serie ›Plastik‹

Bei der Erstwahrnehmung des Bildes erkannte ich zunächst den Kühlergrill des Autos sowie den Mercedesstern und die Handtasche. Von dort aus wanderte mein Blick über das gesamte Auto, das das Bild sehr dominant ausfüllt. Anschließend erkannte ich die Taschen im Bildvordergrund, den grauen Asphalt und zuletzt das Straßenszenario im Hintergrund. Im ersten Segment sind eine Handtasche und der Kühlergrill eines Autos zu sehen. Die Marken-Symbole, der Mercedesstern und das Versace-Logo stechen optisch hervor und überblenden den Gebrauchswert der Gegenstände mit ihrem Symbolwert. Beide Marken stehen für ein Hochpreissegment und haben einen Prestigewert, der über den reinen Nutzen hinausgeht. Die Tasche hängt Grafik 38: Segment 1 Bild #003 an dem Mercedesstern über dem Kühlergrill, ›Plastik‹ ein sonderbarer Ort, um die Tasche abzulegen. Eventuell wird die Tasche präsentiert und somit ein Prestigegegenstand (mit Gebrauchswert) mit einem anderen Prestigegegenstand (mit Gebrauchswert) kombiniert. Das Auto würde in diesem Fall den Wert der Handtasche akzentuieren, so wie umgekehrt bei vielen Automobilmessen ›schöne Frauen‹ auf die Kühlerhauben gesetzt werden, um die Attraktivität der Autos (bzw. das Erobe-

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rungspotenzial, das diese zu steigern suggerieren) hervorzuheben. Die Kombination der Gegenstände könnte dementsprechend für eine sexualisierte Darstellung sprechen. Der Mercedesstern wirkt phallisch, die Handtasche könnte ein weibliches Symbol für Öffnung darstellen. Die Lesart, dass es sich um eine Präsentation bei einer Automobilmesse handelt, würde für die Professionalität des Settings sprechen. Nun sticht zwar die Aufdringlichkeit der Markensymbole durch das Arrangement, bei dem der Mercedesstern als Haken für die Tasche verwendet wird, hervor, dabei wird der Prestigewert der Produkte jedoch nicht unbedingt gesteigert. Zum einen befindet sich die Tasche eben nicht auf der Kühlerhaube und wird dadurch erhöht, sondern sie hängt an ihr herunter und ist damit alles andere als in Sichthöhe, wodurch der Prestigewert der Tasche verringert wird. Damit ergibt sich eine alternative Lesart. Man könnte die Tasche aus Flüchtigkeit über den Stern gehängt haben, womit der Mercedesstern als improvisierte Garderobe dienen würde. Betrachtet man die Textur und Beschaffenheit der Gegenstände genauer, so fällt auf, dass der Name der Marke auf der Tasche mit zwei S, einem regulären und einem gespiegelten geschrieben ist. In dieser Weise wird das Versace-Logo vom Unternehmen selbst nicht verwendet. Überhaupt zeigt sich bei einer Google-Imagesuche keine Tasche aus dem Hause Versace, auf der das Logo in dieser Größe abgedruckt ist. Es könnte sich somit um eine Fälschung handeln. Neben der Fehlerhaftigkeit des Logos und der Bodenständigkeit der Präsentation (improvisierter Ort) sieht auch die Materialität der Tasche nicht gerade formvollendet aus. Sie ist verknittert und Schnitt und Trageriemen wirken sehr gewöhnlich. Die Marktforschung unterscheidet zwischen zwei Arten von Fälschungen (Gentry et al. 2001): Im Falle von Handtaschen gibt es einerseits die »same-name-but-different-style-positive-feel-bag«. Bei dieser Art Taschen handelt es sich um offensichtliche Fälschungen, bei der oft auch der Markenname falsch geschrieben ist und sehr schlechte Materialen verwendet werden. Der andere Typ ist die »up class fake bag«. Bei diesem handelt es sich um eine 95-prozentige Replikation der »echten« Tasche, die dem Original in der Qualität nichts nachsteht. Bei der im Segment abgebildeten Tasche handelt es sich wohl eher um ersteren Typus. Dementsprechend geht es nicht um die Qualität (das Produkt), sondern um den symbolischen Wert (den Markennamen bzw. den brand). Betrachtet man den Kühlergrill des Autos, so fällt auf, dass dieser nicht geputzt ist, er wirkt staubig und mit Ausnahme jener Stelle, in der sich das Licht reflektiert, verblasst. Dennoch verweist beim Kühlergrill des Autos nichts darauf, dass das Fahrzeug nicht echt wäre. Dient das Auto, so könnte man fragen, als Garant für die Originalität der Tasche?

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Das Segment zeigt sehr frontal ein stehendes Auto. Die Lichter sind ausgeschalten und es sitzt niemand am Steuer. Der Fotograf dürfte in die Knie gegangen sein, um das Bild aufzunehmen. Die Kühlerhaube steht direkt vor der Betrachter. Neben der Perspektive erregen Grafik 39: Segment 2 Bild #003, der Rosenkranz, der über dem RückspieSerie ›Plastik‹ gel hängt, sowie die Taschen, die auf der Motorhaube liegen, Aufmerksamkeit. Die Taschen scheinen leer zu sein. Das Auto könnte sich in einer Garage befinden und kaum gebraucht werden, weshalb die Taschen auf der Kühlerhaube liegen. Der Rosenkranz könnte eine Schutzfunktion haben. Wenn es sich um einen gläubigen bzw. abergläubischen Menschen handelt, fährt dieser unter Schutz der Dreifaltigkeit bzw. mit einem Glücksbringer. Die Gebetskette könnte aber auch eine rein ästhetische Funktion haben, der Autobesitzerin einfach gefallen und dekorativ eingesetzt werden. Ästhetische Aspekte würden damit in Kontrast zu den funktionellen (Schutz, Ablagefläche) stehen. Die Ablagefunktion des Autos wird durch den Segmentzusammenhang evident. Was noch nicht ganz klar ist, ist ob gleichzeitig etwas präsentiert werden soll. Dafür spricht sowohl die Perspektive, aus der der Fotograf das Bild aufgenommen hat, sowie der Einsatz von Prestigesymbolen (Versace-Tasche, Mercedesstern und ev. auch der RosenGrafik 40: Segmentzusammenhang kranz). Der Darbietung haftet die Aura der Bild #003, Serie ›Plastik‹ Improvisierung an. Außerdem ist eine Diskrepanz zwischen Originalität (Auto) und Fälschung (Handtasche) vorhanden, wodurch das Szenario sehr unprätentiös wirkt.

Grafik 41: Segment 3 Bild #003, Serie ›Plastik‹

Zu sehen ist eine Tasche, die an einer anderen hängt. Daraus ergeben sich Konnotationen wie Reisen, (zu)viel Gepäck haben, Beschwerlichkeit, etc. Die Farben sind sehr bunt und sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Funktionalität und nicht das Design steht im Vordergrund.

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Wenn man die Kombination der einzelnen Segmente betrachtet, kann die Lesart, dass es sich um die Präsentation auf einer Automobilmesse handelt, mit Gewissheit verworfen werden. Auch ist es unwahrscheinlich, dass sich das Auto in dieser Aufmachung in einer Grafik 42: Segmentzusammenhang 2 Garage befindet. Es scheinen sich auch Bild #003, Serie ›Plastik‹ Straßenlichter und Schaufenster von Geschäften, in der Windschutzscheibe zu spiegeln. Eine weitere Lesart wäre, dass es sich um einen improvisierten Verkaufsstand im öffentlichen Raum handelt. Dafür spricht, dass sowohl ästhetisierende Aspekte der Warenpräsentation (Männlichkeit/Weiblichkeit, Prestigesymbolik) erkannt wurden, als auch funktionelle (Ablage).

Abbildung 33: Bild #003, Serie ›Plastik‹; Alexander Basile 2011

Das Gesamtbild stützt die Lesart des Straßenverkaufs, die sowohl Aspekte der Ästhetisierung (Produktpräsentation) als auch der Funktionalität und Improvisation beinhaltet. Das Auto dient als Transportmittel, um die Ware an den Mann zu bringen, als Ablagefläche und als Verkaufsstand. Perspektivisch wirkt das Auto breit und dominant. Es füllt den urbanen Raum aus, es eignet ihn sich an. Obwohl der Mercedes keine Übergröße hat (es handelt sich nicht um einen Lastwagen) und lediglich sechs Taschen deutlich zu erkennen sind, wird durch die

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fotografische Inszenierung vermittelt, dass der improvisierte Verkaufsraum Straße wie Gehweg ausfüllt. Links zwängt sich ein Auto an dem Verkaufsstand vorbei, rechts Fußgängerinnen, die nun beiderseits von Schaufenstern umgeben sind, jenen der offiziellen Auslagen der Geschäfte sowie dem improvisierten. Durch die Perspektive wie das szenische Arrangement wird deutlich, dass hier nicht die kreative (Um-)Nutzung des öffentlichen Raums geehrt werden soll (ein Aspekt dem sich viele Fotografinnen widmen), sondern eine ästhetische Kritik geübt wird. Lediglich ein kleines Fleckchen Boden ist im Bildvordergrund vorhanden und zwei sehr schmal wirkende Pfade (Gehweg und Straße) führen an dem Verkaufsstand vorbei. Überhaupt verschwinden die goldgelb leuchtenden Schaufenster und die Atmosphäre des Stadtraums in den Hintergrund. Die Stadt, der öffentliche Raum, die Bewohnerinnen sind nicht zu erkennen. Die Atmosphäre des Stadtraums ist vollkommen durch einen provisorischen Verkaufsraum überlagert und damit von Flüchtigkeit (das Auto wird seine Produkte alle Tage woanders anbieten), Unechtheit (gefälschte Markenartikel werden zum Verkauf angeboten) und Improvisation (Zweckentfremdung des Autos sowie des Ortes) dominiert. Das Arrangement setzt den (echten) Mercedes (als Prestigeobjekt) in Kontrast zu den billigen (und unechten) Waren und entwertet diesen dadurch. Auch die weiteren Bilder der Serie (siehe Abbildung: Index ›Plastik‹) zeigen Gegenstände und Materialien minderer Qualität sowie Fälschungen und Imitate (etwa Parfüm, Gürtel, etc.). Die Serie trägt den Titel ›Plastik‹. Diese Materialart löst ganz bestimmte Assoziationen aus. Plastik ist der synthetische Stoff der Massenproduktion. Nach dem zweiten Weltkrieg erobert es den Alltag, das »Plastikzeitalter« löste gewissermaßen das eiserne Zeitalter der ersten Industrialisierung ab (Wagner 2001: 186). Wie in der Serie etwa der Mercedes als improvisierter Verkaufsstand, den öffentlichen Raum ›kolonialisiert‹, so drang das Plastik in die Privathaushalte der 50er und 60er-Jahre ein. Der Titel ›Plastik‹ referiert dementsprechend auf das Infiltrieren einer bestimmten Atmosphäre; hier jedoch nicht in den privaten Haushalt, sondern in den öffentlichen Raum der Stadt. Plastik stand damals aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit und universellen Verwendbarkeit in der Kritik und wurde der Charakterlosigkeit bezichtigt (ebd.: 188). Die mangelnde ästhetische Qualität des Stoffes wird von Roland Barthes wie folgt auf den Punkt gebracht: »Es ist geronnene Substanz; welchen Zustand es auch annimmt, das Plastik behält ein flockiges Aussehen, etwas Trübes, Sämiges und Erstarrtes, eine Unfähigkeit jemals die triumphale Glätte der Natur zu erreichen. Doch am verräterischsten ist der hohle und

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zugleich nichtssagende Ton, den es von sich gibt, sein Geräusch ist vernichtend (...)« (Barthes 2012: 224).

Barthes beschreibt die niedrigen ästhetischen Ansprüche, die das Material in sich birgt. Für ihn ist es eine Substanz des Haushalts, die völlig im Gebrauch aufgeht. Auch die hier behandelte Serie greift den Aspekt des Eindringens und die Ausweitung minderer Qualitäten, eine Kultur des Provisoriums auf. Das Unechte und das Unbeständige erobern den öffentlichen Raum dieser Stadt und haben das Echte und Dauerhafte ersetzt. Das ist, so vermitteln die Fotos, in der Alltagsästhetik spürbar. Im Medium der Kunst findet jedoch gleichzeitig eine Transformation statt, eine Re-Ästhetisierung bzw. Wiederverzauberung der ›entzauberten‹ Welt. Alexander Basile konzentriert sich in ›Plastik‹ auf die materielle Kultur, auf die Ästhetik des Alltags und des Konsums. ›Plastik‹ dokumentiert die (scheinbar) reizlose Präsentation trivialer Gegenstände. Der Künstler nähert sich dem städtischen Alltag mit einem ›fotografischen Blick‹. Seine Bilder verwandeln vorgefundene Alltagsgegenstände in künstlerische Skulpturen. Sämtliche Artefakte, Parfümflaschen, Metalldetektoren, gefälschte Gürtel und Handtaschen, werden zu ›objets trouvés‹. Fotografisches Sehen setzt nach Susan Sontag die Fähigkeit voraus, in dem, was jedermann sieht, aber als zu gewöhnlich beiseite schiebt, Schönheit zu erkennen (Sontag 2008: 88). Schönheit wird dabei nicht nur erkannt, sondern durch den Akt des Fotografierens erzeugt. Die Bilder, die in der Serie ›Plastik‹ zusammengestellt wurden, suggerieren, dass die Objekte zufällig gefunden und nahezu beiläufig festgehalten wurden, ja sich gewissermaßen dem Fotografen aufdrängten. Komposition, Beleuchtung, Farbgebung spiegeln wie intuitiv die Bilder gefertigt wurden. ›Plastik‹ ist nicht das Ergebnis einer analytischen, wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern eine emotionale Reaktion. Diese ist wertend distanziert und drückt dem Erlebnis einen subjektiven Stempel auf. Das ästhetisch Fragwürdige wird ästhetisiert, das Unechte und Falsche wird identifiziert und zum Kennzeichnenden und Typischen überführt. Das Provisorische wird visuell fixiert und nicht zuletzt dadurch zum Dauerhaften erklärt. Was in der Serie kaum zu unterscheiden ist, ist auf welcher Ebene sie die Atmosphäre der Stadt dokumentiert und wo es sich bereits um eine vom Fotografen erzeugte Ästhetik handelt.

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K ÜNSTLERISCHE I NNENPERSPEKTIVE Bildserie ›Shell‹

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#022 Grafik 43: Index der Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

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Die Serie ›Shell‹ besteht aus 32 Fotografien, die zu 22 nummerierten Bildern zusammengefügt wurden. Die Ordnung wurde vom Fotografen selbst erstellt. Man erkennt auf den ersten Blick die Narration der Bilder. Jede Fotografie hat ihren Platz in der Serie und ist Teil einer sequenziellen Argumentationslinie. Anders als bei den Serien von Alexander Basile konzentriert sich die Analyse hier auf das Resultat eines über drei Jahre hinweg vollzogenen Arbeitsprozesses. Lediglich eines jener Bilder, welche mir Serkan Taycan im Sommer 2010 zukommen ließ, als er am Beginn dieser Arbeit stand, wurde schlussendlich in die Serie aufgenommen. Überraschender Weise handelt es sich dabei gerade um das erste Bild der Serie. Erstmals wurde die Arbeit von der Galerie Elipsis in Istanbul ausgestellt33.

Abbildung 34: Bild #001 Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Mein Blick erfasste zunächst die Wiese im Bildvordergrund. Diese identifizierte ich als ungenutztes bzw. unberührtes Land, als Stück Natur, in die die Zivilisation noch nicht eingegriffen hat. Das Gras ist satt und ungemäht. An manchen Stellen schimmert ein Stein- bzw. Erdboden hindurch, was die Assoziation einer »rauen« Landschaft stärkt. Nach der Wiesenfläche untersuchte ich den Himmel. Wie die Ebene wirkte auch dieser auf mich sehr leer. Lediglich eine leichte

33 http://www.elipsisgallery.com.

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Quellwolke konnte ich ausmachen. Dadurch, dass der Stand der Sonne nicht zu erkennen ist, ist es nahezu unmöglich, auf die Tageszeit zu schließen. Nach dem sehr kurzen Blick auf den Himmel, bei dem ich, aufgrund mangelnder Aufmerksamkeitserreger, schnell das Interesse verlor, schwenkte mein Blick zurück auf die Wiese. Ich erkannte nun den Pfad und die vier bis fünf Bäume an seiner Seite. Ich folgte dem Pfad mit den Augen und erkannte in undeutlichen Umrissen eine große Stadt, die wie aus dem Nichts plötzlich und unerwartet auftaucht. Dieses Erscheinen ist nicht nur deshalb ganz unvermittelt, als die Stadt nahezu gespenstisch aus dem Dunst hervortritt, sondern auch deswegen, da nichts im Bild thematisch auf das Auftauchen eines stark verdichteten urbanen Raumes hinweist. Keine Autobahn, ja nicht einmal eine Landstraße führt zu dieser Stadt, sondern ein staubiger Trampelpfad. Im Vordergrund sind keine Farmhäuser und auch keine suburbane Zone zu sehen, die einen sanften Übergang von der Natur zur Zivilisation aufbauen würden. Man wird der Stadt ganz und gar unvermittelt gewahr. Hat man die Stadt erkannt, so eröffnet die Dunstwolke, die sie umgibt, Assoziationen wie Smog und schlechte Luft. Das Bild ist sehr reduziert. Auf einer gegenständlichen Ebene bekommt die Betrachterin wenig zu sehen. Umso stärker ist es atmosphärisch aufgeladen. Der Himmel wirkt wie ein Schleier, der gerade mal so viel zeigt, dass man erkennt, dass er etwas verbirgt: eine große Stadt, der stilistisch die Umrisse genommen sind, was sie jedoch keineswegs unbedeutend macht, sondern im Gegenteil dramaturgisch umso stärker hervorhebt. Die Stadt geht im Bild fast unter und wirkt dennoch dominant. Sie breitet sich über eine weite Strecke aus und wirkt wie ein Wall. Auch die Leere im Vordergrund und das Licht, das punktuell auf die Wiese scheint, haben eine atmosphärische Wirkung. Hier liegen der Fokus und das Licht. Dies ist insoweit merkwürdig als damit das ›Nichts‹, die Weite, die Leere und die Wildnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Fast unbemerkt schleicht sich der Pfad hinter einem kleinen Hügel vorbei. Die Ebene wirkt weit, kein Dorf ist in Sicht, keine Wegweiser, die anzeigen wohin der Weg führt, sind zu sehen. Blendet man die Bildmitte und den Hintergrund aus, so stellt sich die Frage, wohin man auf so einem Pfad gelangt: Zu einer Raststädte, einem abgelegenen Bauernhaus, oder nur mehr weiter hinein in die Wildnis? Hinter der Ebene könnte etwa ein Berg auftauchen, den es zu besteigen gilt. Auf keinen Fall würde man sich in der unmittelbaren Nähe einer Großstadt gewahren.

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Grafik 44: Segment 1 Bild #001 Serie ›Shell‹

Zurück zum Gesamtbild. Das Foto spielt mit den Gegensätzen Leere/Dichte sowie Natur/Zivilisation. Das größte Bildsegment nimmt der dunstige Himmel ein, der als ›Schleier‹ eine zentrale Bildfunktion übernimmt. Er erzeugt eine unheimliche Atmosphäre. Er zieht durch die große Fläche, die er einnimmt, die Aufmerksamkeit auf sich. Die Konzentration der Betrachter wird jedoch, wie zuvor beschrieben, nur kurz festgehalten und droht sich insofern zu verlieren, als sich ein nur wenig eindrucksvolles Schauspiel von Licht, Farben und Wolken zeigt. Kaum ist das Interesse entschwunden, so stellt es sich erneut ein: man erkennt, dass etwas durch den Dunst hindurch scheint: eine Skyline, die von immenser Größe ist: Die Bildmitte hat Analogien zu Aufnahmen eindrucksvoller Skylines wie jener von New York oder Shanghai, beides Hafenstädte, bei denen zu gewissen Zeiten der Dunst und die Morgenröte, die Großstadt optisch nahezu zum Verschwinden bringen. Auch hier sind kaum Konturen auszumachen, die Hochhäuser wirken gespenstisch und sie sind von einer großen Entfernung aufgenommen. Blendet man den Bildvordergrund aus, so wäre es höchst wahrscheinlich, dass diese Aufnahme vom Wasser aus gemacht wurde, denn anderenfalls wäre die Perspektive mitunter von Gebäuden, Hügel, Bäumen, etc. verstellt. Man hat jedoch keineswegs den Eindruck, dass hier ein sicherer Hafen auftaucht. Vielmehr wird das Gefühl einer dystopisch wirkenden Fata Morgana vermittelt.

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Grafik 45: Segmentzusammenhang Bild #001 Serie ›Shell‹

Leere/Dichte sowie Natur/Zivilisation – Diese Gegensätze sind in die Ästhetik eines klassischen Panoramas verpackt. Die Perspektive wurde sehr sorgfältig gewählt. Die Stadt befindet sich etwas unterhalb der Bildmitte, mit Abstand zum linken und rechten Bildrand. Links wird sie etwas von den Bäumen und einer leichten Anhebung verdeckt. Nach rechts hin wird sie zunehmend konturloser. Es ist nicht zu erkennen, ob es sich beim gräulichen Streifen noch um die Stadt oder einen Hügel bzw. Berg handelt. Dystopisch wirkt das Bild insofern als sich die Menschen, so eine mögliche Assoziation, in die Stadt, die wie ein Wall wirkt, zurückgezogen haben. Die Natur scheint unwirtlich und ganz sich selbst überlassen. Die Stadt wiederum wie ein Fremdkörper, der sich in diesem Niemandsland festgesetzt hat. Es besteht außer dem kleinen Trampelpfad, der zur Stadt hinführt, auf dem jedoch kein Mensch zu sehen ist, keine Beziehung zwischen diesen zwei Bildebenen (Vordergrund und Bildmitte). Das Bild könnte dementsprechend auf diese abgekappte Beziehung zwischen Natur und Zivilisation verweisen. Natur und Stadtlandschaft bilden in dem hier zu sehenden Bild unüberwindbare Gegensätze. Die Natur wurde gewissermaßen wilder oder auch unmenschlicher wie auch die Stadtlandschaft bedrohlicher, gespenstischer und unnatürlicher wurde. Wer sich im übertragenen Sinne aus dem ›Fort‹ hinaus wagt, ist dem Niemandsland ausgesetzt, wer in den Stadtwall hineingelangt ist gerettet und gefangen zugleich.

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›Shell‹ thematisiert, wie im Weiteren noch im Detail ausgeführt werden wird, die städtebauliche Transformation Istanbuls. Um den Wandel in aller Deutlichkeit festzuhalten, begibt sich Taycan in die Peripherie und kreiert damit eine ganz neue Perspektive auf die Stadt. Nicht von Innen und nicht aus der Nähe, sondern von außen und aus der Distanz, wird der Wandel markant. Dabei kombiniert er das aufdeckerische, investigative Moment vieler dokumentarischer Arbeiten zu Istanbul, die den unsoliden Wandel der Stadt thematisieren, mit der Ästhetik der klassischen Istanbul-Panoramen. Diese fokussieren die Stadt von der Weite und sind stark ästhetisiert. Mit dieser Verknüpfung schafft er etwas Neues, eine alternative Sichtweise. Seine Panoramaaufnahmen zeigen Istanbul nicht von der Waterfront, nicht von der Perspektive, von der aus die damaligen europäischen Touristen, Händler und politischen Gesandten die Stadt erreichten und die sich bis heute in den Köpfen festgesetzt hat. Taycan erzeugt seine Panoramaansichten vom Landesinneren, von jenem Standpunkt aus, von dem die Migranten aus den ländlichen Regionen der Türkei die Stadt erreichen. Damit nimmt er zugleich Bezug auf eine seiner früheren Serien ›Homeland‹, in der er seine eigene Herkunft aus Anatolien thematisiert. Der nostalgische Blick, der noch heute in der Bilderwelt Istanbuls sehr dominant ist, wird in einen nahezu futuristischen umgewandelt und hebt gerade dadurch die gegenwärtigen Entwicklungen hervor. Verweisen die malerischen und idyllischen BosporusAnsichten auf die Konstanz und vermitteln, dass die Vergangenheit der Stadt nach wie vor präsent und erfahrbar ist, so offenbaren Taycans Bilder die Transformation der Stadt. Taycan wandelt das klassische Istanbul-Panorama subversiv um. Er zeigt mittels denselben formalen und atmosphärischen Stilistiken (Panoramaansicht, die die Stadt aus der Ferne zeigt und viel Vordergrund und Himmel festhält) etwas anderes (die Wohnsiedlungen am Stadtrand und nicht den Topkapi Palast und die Moscheen) von einem anderen Standpunkt (dem Landesinneren und nicht vom Meer). Gerade die formale Bezugnahme Taycans auf die tradierte Perspektive auf die Stadt, die jedoch die Stadt durch und durch anders erscheinen lässt, bewirkt, dass der Betrachter realisiert, dass ein fundamentaler Wandel stattgefunden hat. Andere Bilder, die die Suburbs der Stadt dokumentieren, lassen die Betrachter – seien es Bewohner oder Tourstinnen – erleichtert zurücklehnen: Es ist ja nicht ›ihr‹ Istanbul, das so aussieht: Sie müssen weder dort wohnen noch diese Teile der Stadt besuchen. Taycans Fotografien inszenieren jedoch diese ›fremden‹ Gegenden als »Stadt als Ganzes«. Die gewohnten Repräsentanten, wie etwa die historische Halbinsel, werden ausgetauscht und ersetzt. Dadurch alarmieren die Bilder auch Bewohnerinnen sozio-ökonomisch besser gestellter Stadtteile und Touristinnen. Es ist nicht mehr ›ihre‹ Stadt bzw. die Stadt, die sie aus den vermittelten Fotografien kennen, die Istanbul repräsen-

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tiert. Vielmehr wird in den Bildern Taycans die Periphere zum dominanten Symbol, das als Ikon auf die Stadt als Ganzes verweist. Die oben behandelte Fotografie ist das erste Bild der Serie. Dies deshalb, da es die Grundidee, wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, par excellence wiedergibt. An ihr werden sowohl thematisch als auch in Hinblick auf die Ästhetik sämtliche Anspielungen der Serie manifest, während weitere Bilder das ein oder andere Detail zugunsten eines weiteren verstärken bzw. abschwächen. Wir folgen nun der Gliederung der Serie und reflektieren anschließend ihre Serialität.

Abbildung 35: Bild #002, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Abbildung 36: Bild #003, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Abbildung 37: Bild #004, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

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Abbildung 38: Bild #005, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

In diesen Bildern tritt die Kontur der Gebäude hervor. Gleichzeitig nimmt das Grün der Wiese im Vergleich zum ersten Bild ab und es tritt das Braun des Erdbodens hervor. Die Stadt zeigt sich nicht in einem dichten Ensemble von Häusern, sondern in Form von bauklotzartig hingestellten Gebäuden. Die Größe der Gebäude steht im Kontrast zur Abgeschiedenheit und Leere, die sich um sie breit macht. Hier wird keine Stadt gezeigt, sondern isolierte Bauklötze. Ein dichtes Netz von sozialen Interaktionen und von Infrastruktur, das einen urbanen Raum prägt, fehlt. Auf diese Abwesenheit verweisen die Bilder vehement. Umgekehrt passen die Gebäude auch nicht in eine rurale Landschaft. Durch die Baukräne wird ersichtlich, dass der Prozess der Urbanisierung nicht abgeschlossen ist. Dies lässt vermuten, dass noch weitere Gebäude und Straßen gebaut werden. Hier entsteht jedoch keine Stadt im »europäischen Sinne« (Häußermann 2001), die historisch um einen Marktplatz wächst und sich nach und nach verdichtet. Es handelt sich geradezu um die umgekehrte Entwicklung. Es entstehen zunächst Wohnraum und Büros und nach und nach werden Straßen, Begrünung, Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten unter Umständen hinzugefügt. Man lebt bzw. arbeitet hier – so suggerieren die Bilder – in einer Oase, die weder ländlich noch urban ist; in einer suburbanen Zone par excellence.

Abbildung 39: Bild #006, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

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Abbildung 40: Bild #007, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Schließlich rückt der Fotograf näher heran, es ändert sich die Perspektive. Die Bilder gewinnen an Tiefe. Straßen tauchen im Bildvordergrund auf und führen den Blick des Betrachters bzw. der Betrachterin zu einem Ort, der bereits als ›Stadt‹ bezeichnet werden kann. Die planierten Erdflächen sind nun mit Asphalt versiegelt bzw. begrünt und bepflanzt. Es schimmert wieder kurzes Gras hervor und kleine Bäume säumen den Straßenrand. Auf einem Bild sind Menschen zu sehen, Bauarbeiter in oranger Arbeitsmontur. Abgesehen von dieser Gruppe, wirken die Bilder gespenstisch leer. Man hält es kaum für möglich, dass sich diese Wohnblöcke mit Leben füllen werden. Erzeugen die Wolken eine leichte Dynamik, so wirken die Motive ansonsten wie eingefroren. Man sieht keine Autos und keine mit Leben gefüllte Straßen. Es eröffnet sich die Frage, wessen Werk diese großen Bauformen überhaupt sind. Die Gruppe Arbeiter, die im Bildvordergrund von Bild #006 zu sehen sind, kann dies unmöglich aus eigener Kraft errichtet haben. Dadurch, dass das Schaffen selbst in den Bildern nicht präsent ist, entsteht der Eindruck, dass sich dieser Urbanisierungsprozess schlagartig und ›wie von selbst‹ vollzogen hat.

Abbildung 41: Bilder #008, #009, #010, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Die Serie kombiniert schließlich drei Einzelbilder, um das Zusammenwachsen der isolierten Bauklötze hervorzuheben. Betrachtet man die drei Einzelbilder als ein Bild so wird eine Dramaturgie erzeugt. Diese spielt damit, dass etwas zusammengefügt wurde, das nicht so recht zusammenpasst. Das mittlere Segment (bzw. Bild) dramatisiert dies mittels eines Abgrunds, der das, was als Stadt zusammenwachsen soll, in zwei Hälften teilt bzw. von dem gar die Gefahr aus-

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geht, dass die Stadt regelrecht ›verschlungen‹ wird. Auch ist die Lücke zwischen den drei Ensembles noch relativ groß.

Abbildung 42: Bild #011, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Blättert man im Ausstellungskatalog weiter, so wird zunächst suggeriert, dass die Stadt den Urbanisierungsprozess gemeistert hat. Es zeigt sich in aller Deutlichkeit ein verdichteter Stadtraum, den die Betrachterin von einem unbefestigten Pfad aus, hinter einigen Baumkronen erblickt. Durch den Standpunkt der Beobachtung bleibt der Kontrast zwischen Natur und Stadtraum nach wie vor erhalten.

Abbildung 43: Bild #012, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Bei der nächsten Fotografie verändert sich der Bildausschnitt. Mit drei EinzelBildern wird ein durchgängiges Stadtpanorama angefertigt. Die perspektivische Tiefe wird reduziert, das Bild wirkt sehr flächig. Dadurch wirkt das Stadtensemble erneut ›dünn‹ und ›ausgefranst‹. Vor allem auf der linken Bildhälfte bis zur hin zur Bildmitte sind Abstände zwischen den Gebäuden deutlich zu erkennen. Im Vordergrund ist eine Schneelandschaft zu sehen, durch die Bildmitte schlängelt sich eine Straße an den Gebäuden vorbei. Die Winterlandschaft wirkt kahl und ausgestorben.

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Abbildung 44: Bild #013, Serie ›Shell‹;

Abbildung 45: Bild #014,

Serkan Taycan 2013

Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Abbildung 46: Bild #015, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Abbildung 47: Bild #016, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Erst jetzt wird dem Betrachter erlaubt in die Stadt einzudringen. Die folgenden Bilder fokussieren den urbanen Raum und verlassen, im wörtlichen Sinne, den peripheren Standpunkt. Die Frontalansicht wird von einer Vogelperspektive abgelöst. Bild #014 zeigt etwa die ›Bosporus City‹, eine gated community auf der europäischen Seite Istanbuls. Die Perspektivlinie zieht sich vom Bildvordergrund bis weit über die Bildmitte. Durch sie werden die Wasserfläche und die roten Dächern der Yalis (so der Name traditioneller Sommerresidenzen am Bosporus) in den Fokus gerückt. Was man hier in der Stadt erkennt, ist nicht jene raue Natur, die man vor der Stadt erkannte, sondern eine domestizierte. Die ›Bosporus City‹ liegt etliche Kilometer entfernt von der namensgebenden Meerenge. Der nachempfundene Bosporus ist ein kleiner Teich, der keinerlei Strömungen und Gefahren birgt. Die domestizierte Natur wie die inszenierte Traditi-

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on (nachgebaute Yalis), die in der Bildmitte fokussiert werden, fügen sich geradezu perfekt zu den Luxusresidenzen, die sich hinter ihnen hochbäumen. Was jedoch fehlt ist die soziale Dimension. Man erkennt kein Boot auf der Wasserfläche (was im krassen Gegensatz zu der dicht befahren Wasserstraße des »echten« Bosporus steht), kaum ein Auto, keinerlei Menschen, kein Licht in den Wohnungen, kein Flugzeug am Himmel und keine Möwe verirrt sich vor die Linse. So leblos die Stadt und ihre suburbanen Zonen von der Ferne wirkten, so leblos ist sie auch in den Innenansichten und Nahaufnahmen der Serie. Von außen wie von innen zeigt sich die Stadt wie eine Computersimulation eines Architekturbüros, bei der auf ›dekorative Elemente‹ (Menschen, Tiere, Autos und andere Verkehrsmittel, etc.) verzichtet wurde.

Abbildung 48: Bild #017, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Ab nun geschieht ein dramaturgischer Bruch. Beim nächsten Bild der Serie verliert die Betrachterin im wörtlichen Sinne an Boden. Die Stadt ist verschwunden. Sie zieht sich nicht mehr in die Höhe oder die Weite. Die Perspektivlinie saugt den Blick vielmehr in die Tiefe. Auf einem schmalen Pfad winden sich LKWs, die, aufgrund der relativen Größe zur Landschaft, wie triebhafte Ameisen wirken. Die Fotografie birgt gewisse Analogien zu Bruegel’s malerischer Interpretation des Turmbaus zu Babel. Hier folgt die Baubestrebung allerdings in die entgegengesetzte Richtung, nicht nach oben, sondern nach unten. Vergleichbar ist die Instabilität der Konstruktion. Auch hier wirken Teile der Grube wie abgebrochen, auch hier ist erkennbar, dass man die Aktion nicht unendlich fortsetzen sollte. Ziel, so könnte man die umgekehrte Richtung der Baubestrebung deuten, ist nicht ein Zugang zum Himmel, sondern die totale Beherrschung der Natur (der Erde). Als Resultat dieser Entwicklung, so demonstriert das Bild, gräbt man sich im wahrsten Sinne die Erde unter den Füßen weg.

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Abbildung 49: Bild #018, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Die weiteren Bilder sind weitaus symbolträchtiger. Sie entkoppeln sich von ihrer Abbildfunktion, von der dokumentarischen Bildsprache einer fotojournalistischen Arbeit. Zunächst sehen wir einen Steinhaufen. In Bezug zu den vorherigen Bildern fragt man sich, ob dieser Steinhaufen Baumaterialien repräsentieren soll, die man aus der Grubenarbeit gewonnen hat, oder vielmehr den Zusammenbruch der Stadt bzw. der Gebäude, die in etlichen Bildern der Serie präsent waren. Aufgrund der formalen und perspektivischen Qualitäten des Bildes, ist die Referenz zur gesamten Serie deutlich erkennbar. Auch hier handelt sich um ein komponiertes Panorama, bei dem Vordergrund und Himmel etwa einen gleichgroßen Bildausschnitt belegen und das Sujet in der Bildmitte einen gleichmäßigen Abstand zum linken und rechten Bildrand lässt. Beim Bildgegenstand handelt es sich nun jedoch nicht um eine Stadt bzw. isolierte Gebäude, sondern um einen Steinhaufen. Es ist offensichtlich, dass dieser Haufen auf die vorherigen Bauwerke referiert. Prinzipiell sind nun zwei Interpretationsmöglichkeiten offengelassen: Entweder soll aus diesen Steinen die Stadt geformt werden, oder sie ist kollabiert und liegt nun in Schutt. Der Steinhaufen wirkt zunächst zu sortiert und die Steine selbst sind zu wohl geformt, um letztere Interpretation zuzulassen.

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Abbildung 50: Bild

Abbildung 51: Bild #020,

#019, Serie ›Shell‹;

Serie ›Shell‹; Serkan Taycan

Serkan Taycan 2013

2013

Nimmt man jedoch die Symbolik ernst und betrachtet das nächste Bild der Serie, so wird letztere, ›negative‹ Interpretation zulässig. Hier ist die Ästhetik der Bildkomposition gebrochen und man erkennt nur mehr einen Schutthaufen. Es ist sichtbar nichts mehr von der Stadt übriggeblieben. Ein weiteres Bild der Serie rückt das Loch, das die Stadt im übertragenen Sinne verschluckt hat in den Fokus. Was bleibt ist das Nichts und die Leere. Auch Wiese und Landschaft sind in diesem Bildern nicht zu sehen, sondern nur mehr ein mit Walzen plattgedrückter Boden.

Abbildung 52: Bild #021, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Am Schluss der Serie wird noch einmal das formale Prinzip der Serie aufgegriffen. Man sieht einen Erdhügel, der sich durch drei Bilder hindurch zieht. Dieser repräsentiert die Substanz, die von der Stadt zurückgeblieben ist, ihre Überreste. Diese sind stark fokussiert, sie nehmen etwa zwei Drittel der gesamten Bildfläche ein, wobei Vordergrund und Himmel auf kleinere Ausschnitte reduziert sind. Es handelt sich wieder um eine flächige Frontalaufnahme. Hier blitzt die Stadt für den Betrachter ein weiteres Mal für kurze Zeit auf, bevor sie im letzten Bild der Serie implodiert und sich in Staub auflöst.

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Abbildung 53: Bilder #022, Serie ›Shell‹; Serkan Taycan 2013

Die Serie baut eine Narration auf, sie visualisiert eine Entwicklung und diese ist negativ. Der Fotograf dokumentiert zunächst die Transformation der Stadt und nimmt ab der Mitte der Serie Stellung zu diesem Wandel. Er zeichnet ein negatives Zukunftsszenario. Die Stadt zerstört in ihrem unsensiblen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen letztlich sich selbst. Die Serie trägt den Titel ›Shell‹ (auf Türkisch: ›Kabuk‹). Shell kann sowohl als Schutz- und Panzerhülle gedeutet werden, wie als zerbrechliche Hülse bzw. Gefäß, etwa eine Porzellanschale. Der Name der Serie thematisiert somit gleichzeitig das Moment der Resistenz, der Abwehr und Überlebensfähigkeit wie jenes der Schutzbedürftigkeit und Zerbrechlichkeit. Führen wir uns erneut die Bilder vor Augen, so thematisieren sie die Verletzlichkeit der Natur und auch der Stadt sowie die Unnatürlichkeit der neugeschaffenen Siedlungen. Gleichzeitig wirkt auch die Natur in vielen Bildern widerborstig. Anstatt eine Symbiose einzugehen, versuchen Natur wie die menschliche Hand jeweils ihren Panzer zu stärken und den jeweils anderen zu knacken. Dies führt zu der hier vorgeführten Dystopie, einem Szenario, in welchem die Verbindung zwischen Gesellschaft und Natur gekappt wird. Auch der Kokon, die Stadt als Lebensraum der Menschen, scheint diesen immer weniger zu gehören, er wird gar menschenleer präsentiert. Serkan Taycan spielt mit dem Außen. Es ist jedoch ein (ästhetischer) Blick von Innen, er erschließt sich eine Welt (die Peripherie), indem er zunächst fotografisch in sie eindringt und seine Eindrücke in einem weiteren Schritt durch abstrakt wirkende Fotografien interpretiert. Die Peripherie selbst und nicht das Zentrum wird in der ›Shell‹ zum Ikon der Stadt. Besondere Bedeutung hat dabei das erste Bild der Serie. Indem es auf das klassische Istanbul-Panorama Bezug nimmt und die Stadt als Ganzes repräsentiert (dicht bebautes und zusammenhängendes Stadtensemble), verweist es darauf, dass die folgenden Entwicklun-

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gen nicht nur periphere Orte betreffen, sondern die Stadt als Ganzes erschüttern, und wenn sie nicht gebremst werden, sie letztlich einstürzen lassen.

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EINE

Z USAMMENFASSUNG

Alle drei der hier behandelten Serien greifen eine Art der ›Künstlichkeit‹ der Stadterfahrung auf und vermitteln gleichzeitig, dass diese gefühlte Künstlichkeit die lebensweltliche Realität bestimmt. In ›Bustour‹ reflektiert Alexander Basile seinen eigenen Standpunkt, jenen eines Touristen, der sich zum ersten Mal in der Stadt bewegt. Das Thema von ›Bustour‹ ist die Beschränktheit dieser Betrachtung. Sie spielt auf die Distanziertheit des Beobachterpostens an, die Unmöglichkeit, in den Alltag der fremden Stadt einzudringen, geschweige denn einzugreifen. Dies spiegelt sich vor allem in der ästhetischen Komposition der Serie. In dieser wird die Stadt zur Kulisse und mit dem Bus erfahren. Obwohl ›Momente des Alltags‹ fotografiert werden und nicht klassische Sehenswürdigkeiten, ist die Künstlichkeit der Erfahrung in den Bildern spürbar. Man befindet sich sozusagen auf Safari. Auch wenn die Serie ironisch überspitzt ist, so wird dennoch kein Ausweg, keine Alternative angeboten. Gerade dadurch erhalten die Bilder ihre Wirkung. Sie sind unecht, d.h. sie erfassen den Alltag nicht wie er etwa von den Bewohnerinnen erlebt wird. Zugleich sind sie echt, denn sie spiegeln die Außenperspektive auf die Stadt in aller Deutlichkeit: diese sucht das Fremde und erkennt jedoch nur das Bekannte, das sich in ein vorstrukturiertes Symbolsystem einordnet. Nachdem Basile in ›Bustour‹ den Standpunkt seiner Beobachtung reflektiert hat, wagt er sich in ›Plastik‹ in die Stadt hinein. Hier überträgt sich die Erfahrung von Künstlichkeit von der Reflexion auf die subjektive Empfindung. Basile erkennt allerlei Imitate: Ein Holzboden entpuppt sich als Kunststoffboden, Designerstücke als Imitate. Nichts ist was es vorgibt zu sein und dennoch ist es. Das Künstliche, das Unechte, das Imitat und das Provisorium sind dermaßen in den Alltag der Stadt verwoben, dass sie diesen prägen und zu seiner typischen Atmosphäre werden. Schließlich erkennt Basile in diesen gefakten Objekten eine anziehende Ästhetik. Es ist gerade das ästhetisch Fragwürdige, das ihn anzieht und durch den Akt des Fotografierens zu einem reizvollen Sujet gemacht wird. Er eignet sich den entästhetisierten Alltag der Stadt an, indem er mit ihm spielt, seinen Reiz erkennt bzw. gerade durch seine Bilder eine Atmosphäre erzeugt. ›Shell‹ dokumentiert die rasche Transformation der Stadt. In der Peripherie Istanbuls wird unbebautes Land von heute auf morgen zu Business Plazas und Wohnraum umgewandelt. Diese Bauwerke stehen im wahrsten Sinne isoliert in

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der Landschaft. In der gesamten Serie fehlt das Leben, die Menschen. Die Atmosphäre ist bedrohlich, die Gebäude wirken unreal. Der erste Teil der Serie vermittelt jedoch, dass das, was auf den Betrachter unwirklich wirkt, doch wirklich existiert. Man hat nicht den Eindruck, dass hier mittels Fotomontage manipuliert wurde. Die Dystopie ist bereits Wirklichkeit. In der zweiten Hälfte der Serie nimmt Taycan eine Interpretation vor. Die Fotos werden abstrakter, er zeichnet ein Zukunftsszenario. Wenn die Entwicklung nicht gestoppt wird (sofern sie überhaupt noch zu stoppen ist), dann nimmt sich die Stadt ihre eigenen Ressourcen und zerstört sich selbst. Als Bildbetrachter stellt man sich schließlich die Frage, ob man sich erleichtert zurücklehnen soll, dass dieser dystopisch wirkende Ort wieder dem Erdboden gleich ist, oder ob man umgekehrt entsetzt sein soll, da es sich ja um Istanbul, eine real existierende Stadt, handelt, deren Entwicklung hier künstlerisch interpretiert wird. Blickt man auf das Gesamtwerk der beiden Künstler, so erscheinen der Stil der Arbeiten sowie die Thematiken, die sie verhandeln, jeweils sehr unterschiedlich. Serkan Taycan setzt sich mit der Frage der Zugehörigkeit und Raum auseinander. Der Aspekt der Zeitlichkeit – etwa der biografische Rückblick oder der soziale Wandel – nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Was ist Heimat? Jener Ort von dem unsere Eltern stammen, die Stadt in der wir aufwuchsen, oder das Hier und Jetzt des Lebensumfelds? Sind Heimat und Zugehörigkeit überhaupt Konstrukte, die wir imaginieren, diskursiv konstruieren und die nicht gänzlich an bestimmte Orte und Erlebnisse gebunden sind? Das Grundthema Heimat und Zugehörigkeit durchzieht die Arbeit ›Homeland‹ (2009). Dort wird ebenfalls, ähnlich wie später in der Serie ›Shell‹, ein Wechselverhältnis zwischen Natur und Zivilisation bearbeitet. Taycan visualisiert starke Kontraste, wobei Natur und Zivilisation nie eine wirkliche symbiotische Beziehung eingehen. Nationale Symbole (wie die türkische Flagge oder Bilder von Atatürk) passen nicht wirklich in die Landschaft und heben sich auch als Inneneinrichtung oder in Form von Kleidungsstücken (z.B. ein rotes T-Shirt mit Halbmond und Stern) von der Landschaft bzw. der Person ab. Die jüngere Arbeit ›Shell‹ intensiviert diesen Kontrast, es wird gar ein parasitäres Verhältnis, das letztlich zur Bedrohung der Natur wie der Zivilisation führt dargestellt. Was in ›Shell‹ noch symbolisch festgehalten wird, wird schließlich in der Arbeit ›Between two Seas‹ (2013) im Detail nachrecherchiert und auch räumlich ausgeweitet. Letztere Arbeit demonstriert die Auswirkungen, die der Wandel der Stadt Istanbul auf die gesamte sie umgrenzende Region hat. Da sich Istanbul immer mehr ausdehnt, setzt Taycan in der Nachfolgearbeit zu ›Shell‹ bereits an der Schwarzmeerküste an. Er verfolgt die Lastwägen, die die Materialien und Rohstoffe zum Bau der Stadt in der

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Region abtragen. In umgekehrte Richtung führen die LKWs die Abfälle der Stadt und füllen damit die Löcher, die in der Landschaft hinterlassen wurden. »These trucks were coming from Üsküdar, Kartal, Beyoglu, etc., and so pieces of Istanbul were [coming together] again at garbage dumping locations. The coves [the gigantic holes dug in order to use the materials to build the new Istanbul] are filled with [pieces of] current Istanbul and a new Istanbul is built on top of them. It is a quite interesting process to observe«34

berichtet Taycan in einem Interview. Für die Arbeit ›Between two Seas‹ erstellte Taycan detaillierte Karten und organisierte ebenfalls Führungen. Wenn die Entwicklungen so weitergeführt werden, wird sich der urbane Raum bald vom Marmara Meer bis zur Schwarzmeerküste ausdehnen. Damit geht der Grüngürtel, der gewissermaßen auch die Lunge der Stadt ist, verloren. Mit Heimat/Zugehörigkeit, Wandel sowie dem Verhältnis von Natur und Zivilisation sind die wesentlichen Thematiken der fotografischen Arbeiten Taycans benannt. Taycans Kunst ist dabei persönlich (biographisch: Homeland) wie politisch (›Shell‹ und ›Between two Seas‹). Die Arbeiten sind einerseits dokumentarisch, wobei er gerade die Ästhetik dazu verwendet, seine Meinung auszudrücken, wie es besonders an der hier behandelten Serie ›Shell‹ zum Ausdruck kam. Anders als Serkan Taycan, der ausschließlich mit dem Medium der Fotografie arbeitet, verwendet Alexander Basile unterschiedlichste Ausdrucksformen. Neben der Fotografie sind dies vor allem Videoinstallationen und Performances. Basile ist nicht nur Künstler, sondern auch Kurator (er betreibt den Ausstellungsraum SSZ Sued in Köln), Mode- und Skateboardfotograf. Zur Kunst kam er deshalb, da er sich besonders für den Rahmen bzw. den Kontext von sozialen Situationen interessierte. In seinen Auftragsarbeiten (Mode-, Skateboardfotografie) ging es hingegen darum, die ›wesentliche‹ Situation bzw. einen bestimmten Augenblick zu beleuchten und die Rahmung (ihre Inszenierung) auszublenden. Dem Medium der Fotografie ist, nach Ansicht Basiles, unweigerlich das Moment der Inszenierung inhärent. Er nutzt die Freiheit der Kunst, um mit der Inszenierung zu spielen. Dabei geht es ihm nicht darum, sie zu entlarven, sondern Sujet und Rahmung, Drinnen und Draußen, Kunst und Nichtkunst in Interaktion zu setzen. Das eine ist die Bedingung des Anderen. Basile distanziert sich von der politischen Kunst und der dokumentarischen Fotografie meiner Meinung nach vor allem deshalb, da diese sich für sein Empfinden zu stark festlegt und

34 http://www.todayszaman.com/news-331608-artist-serkan-taycan-draws-map-ofistanbul-between-two-seas.html (18.08.14).

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eine Meinung klar kommuniziert. Seine Kunst hingegen ist weniger eindeutig. Seine Arbeiten lassen immer auch gegenteilige und konfligierenden Interpretationen zu. So sieht man etwa in ›Bustour‹ die Art und Weise wie Basile Istanbul wahrgenommen hat (was und wie seine Wahrnehmung geformt wurde) und in ›Plastik‹ Objekte, die sich regelrecht der Kamera aufgezwungen haben, doch was und wie Istanbul ist, obliegt der Interpretation eines weiteren Betrachters. Basile nimmt dazu keine Stellung. Die Perspektive der Kunst ist geprägt von einem analogen Denken wie es Ursula Brandstätter mit einem schönen Beispiel veranschaulicht: »Ich blicke aus dem Fenster, sehe Schnee fallen und schließe daraus, dass wir uns in der Jahreszeit des Winters befinden. Aber das lautlose Fallen der Schneeflocken erinnert mich gleichzeitig an das Fallen der Blätter im Herbst, an die Vergänglichkeit allen Lebens insgesamt. In diesem scheinbar zufälligen Assoziationen wird eine andere Art des Denkens wirksam: das Denken in Analogien« (Brandstätter 2008).

Dasselbe gilt für die hier behandelten Bildserien. Sie alle wählen eine metaphorische (Bild-)Sprache, um die (subjektive) Erfahrung ›Istanbul‹ und die gegenwärtige Entwicklung der Stadt auf den Punkt zu bringen. Die unterschiedlichen Perspektiven und Standpunkte der Künstler – außen (Basile) vs. innen (Taycan) sowie distanziert (Basile) vs. engagiert (Taycan) – führen zur Verwendung unterschiedlicher Metaphern. Dies spiegelt sich nicht zuletzt an den Titeln der jeweiligen Serien: ›Bustour‹, ›Plastik‹ und ›Shell‹. Dennoch, und das sollte durch die Analyse der Serien deutlich gemacht werden, ähnelt sich die Konstitution der Erfahrung der beiden Künstler. Sie erleben eine Künstlichkeit. Das eine Mal wird diese mit einer vorstrukturierten Erfahrung in Verbindung gebracht, die eigenes Erleben verhindert (›Bustour‹) sowie mit ästhetischer Minderwertigkeit verknüpft ist (›Plastik‹). Das andere Mal wird eine einseitig orientierte Entwicklung visualisiert, die vor allem das globale Kapital im Blick hat und die ohne Rücksicht auf die Menschen und die Natur vollzogen wird. Sie mündet in einer Dystopie. Das ›bekannte‹ Istanbul (wie es etwa in den hier behandelten Werbebildern präsentiert wird) ist nicht mehr wiederzuerkennen. Auf der abstrakteren Ebene der Bedeutungsstruktur (Oevermann 1987; Loer 1994), die die detaillierte Analyse der Form bzw. Ästhetik zum Ausdruck brachte, offenbart sich damit eine ähnliche Form der Stadterfahrung: Die Realität ist von Künstlichkeit geprägt, alles (scheinbar) authentische, wie es etwa von den Werbebildern präsentiert wird, gehört der Vergangenheit an.

Im Geflecht der Bilder

Werbebilder, Reflexionen von Stadtbewohnerinnen und künstlerische Arbeiten über Istanbul waren Gegenstand dieser Untersuchung. Bislang wurden diese drei differenten Perspektiven unabhängig voneinander untersucht. Nun fragt sich, inwiefern sie alle auf einen, für Istanbul typischen, Symbolkosmos zurückgreifen: taucht Istanbul in den verschiedenen Bildern als bestimmter und bestimmbarer Sinnzusammenhang auf? Zeigen die Ergebnisse mehr als allgemeine Strategien für die Bewerbung eines Großevents (dem europäischen Kulturhauptstadtjahr), subjektive Eindrücke und Empfindungen vom Leben in einer Großstadt und eine besondere Kunstpraxis, die das Medium der Fotografie nutzt, um urbane Raumerfahrungen und -entwicklungen festzuhalten? Um das zu überprüfen, müssen die Ergebnisse in Bezug zueinander gesetzt werden. Dazu ist es nötig, einige der hier analysierten Bilder und Momente Revue passieren zu lassen.

M ACHT / (G EGEN -) M ACHT Zunächst zum Werbebild. Die internationale Werbekampagne ist von einer imperialen Herrschaftssemantik durchzogen. Das Kampagnenmotiv demonstriert religiöse Machtsymboliken, die mit dem politischen Machtzentrum verlinkt sind: Der Topkapi Palast ist beidseitig von zwei gut sichtbaren Moscheen umgeben, die ihn jeweils perspektivisch überragen. Die Spitzen der Hagia Sophia und der Blauen Moschee zeigen in einen, von einer sakralen Lichtstimmung erhellten, Ausschnitt des Himmels (Abbildung 28). Auch im Logo der European Capital of Culture Agency (ECOC) und im Slogan »Istanbul Inspirations« tauchen islamisch/osmanische Symboliken auf. So findet sich im Logo die rundbogenartige Form der Kuppeln von Moscheen und der Slogan ist in einem kalligrafieartigen Schriftzug geschrieben. Gleichzeitig ist die Machtdemonstration brüchig. Das Bild wirkt wie ein Gemälde (farbige Gestaltung) und gewissermaßen ›aus der

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Zeit‹. Heute funktioniert die Welt nach anderen Regeln. Gegenwärtige globale Machtzentren stehen konträr zu jenem, das im Bild der Kampagne visualisiert wird. Kennzeichnend für sie ist eine Architektur aus Glas und Beton. Die Thematisierung von Widersprüchen im Zusammenhang mit normativen Machtdemonstrationen durchzieht auch die Fotobefragung. Ein signifikantes Bild diesbezüglich zeigt einen Mann, der mit einer Autoritätsgeste vor eine Frau tritt, indem er den Zeigefinger erhebt (Fotobefragung 8). Der Mann trägt einen Schnauzbart und ein kurzärmeliges Hemd, die Frau hat ein luftiges Sommerkleid an, ihr langes schwarzes Haar fällt offen über ihre Schultern. Die Geste, das demonstrative Ausüben dieser, suggeriert, dass die Autorität des Mannes hinterfragt wurde. Formell, d.h. von Amts- bzw. Funktionswegen, hat der Mann auch überhaupt keine Autorität. So spielt sich die Situation auf der Straße ab und der Mann trägt keinerlei Uniform. Der Mann und die Frau symbolisieren konfligierende Wertesysteme: Tradition vs. Moderne. Das Foto kann als Sinnbild für eine Normativitätsbehauptung stehen: ein Einfordern von Macht, das deshalb so vehement und geradezu theatralisch wirkt, da die Macht selbst verloren ist. Die Bewohner teilen nicht dieselben Werte, gleichzeitig herrscht aber keine Ambivalenz – in dem Sinne, dass verschiedene Werte gelten –, sondern Antagonismus, d.h. verschiedene Werte, die sich gegenseitig negieren. In den Interviews wurde deutlich, dass, anders als in vielen anderen Großstädten, keine Blasiertheit bzw. kein distanzierter Lebensstil vorherrscht, sondern auch das Private und der persönliche Ausdruck öffentlich ausgehandelt, ja geradezu als Angriffsfläche auf die eigene Persönlichkeit gewertet werden (etwa Körperbemalungen oder das Trinken von Wasser zur Fastenzeit). Im öffentlichen Raum Istanbuls ist man Teil einer Familie, wie eine Interviewpartnerin im negativen Sinn bemerkte. Emanzipation sowie demonstrativer Individualismus werden als Vergehen gedeutet. Eine subversive Umdeutung der Machtsymbolik wird in der Serie ›Shell‹ vollzogen. Serkan Taycan tauscht in seiner Arbeit den Ikon der Stadt aus. Er ersetzt die Waterfront-Perspektive durch den Blick vom Landesinneren auf die Stadt. Der Machtaspekt der klassischen Istanbulansicht geht dabei nicht verloren, sondern kehrt sich um. Die Stadt sowie die Aktualität ihrer Vergangenheit werden in ein Zukunftsszenario überführt. Die Utopie wird zur Dystopie. Stadt und Natur stehen nicht mehr in Einklang wie es das Werbebild suggeriert, sondern markieren einen vehementen Bruch. Die Aufnahmen wirken gespenstisch leer, die Natur erscheint unwirtlich und die Stadt, die etwa im ersten Bild der Serie dunstig aus dem Nebel tritt (Abbildung 34), trist und abweisend. Naturgewalt und die Dominanz des urbanen Zentrums gehen in dem Bild keine Symbiose ein, sondern stehen einander als Oppositionen gegenüber.

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Der Machtaspekt tritt in allen Ebenen der Analyse stark hervor. Die Webebilder stilisieren eine hegemoniale Herrschaftssymbolik, die Bewohnerinnen verwiesen darauf, wie im Alltag ständig Normen eingefordert werden. Der Istanbuler Künstler Serkan Taycan kehrt den Machtaspekt der hegemonialen Herrschaftssymbolik schließlich um. So stark die Macht in den Bildern hervortritt, allen ist auch die Gegenmacht inhärent.

S ELBST -/F REMDBILD Neben dem Machtaspekt wurde in dem Bild zur internationalen Bewerbung des Kulturhauptstadt-Events (Abbildung 22) auch eine ›orientalisitsiche Logik‹ erkannt (siehe Kapitel: ›Die international ausgerichtete Werbekampagne zum Kulturhauptstadtjahr‹). Diese geht aus der Aura, die das Bild kreiert, hervor. Die Landschaft, die Stadt, der Himmel und das Meer wirken verzaubernd schön, die modernen Eigenschaften Istanbuls sind nicht erkennbar. Damit erzeugt das Bild eine Faszination, die in der ›Rückständigkeit‹ liegt. Istanbul, so die Konnotation, ist von der Modernisierung verschont geblieben, wodurch die Authentizität erhalten blieb. Anhand der Analyse wurde deutlich, dass Fremdund Selbstbild ineinander übergehen. Das Bild ist mehr als nur ein Bild für Touristen, die in ihrer Auffassung bestätigt werden sollen. Es dient nicht nur als Eyecatcher, der Besucher zu einer Zeitreise in eine vergangene Welt animieren soll. Auch die Bewohnerinnen identifizieren sich mit dieser Perspektive. Besonders deutlich wurde dies dadurch, dass die befragten Istanbulerinnen Bilder von eben dieser Ansicht kreierten. Das Meer und die Ansicht der Stadt von der Weite haben eine ordnende Funktion (siehe Kapitel: ›Das Meer als Metapher‹). Sie erstellen einen Einklang (Kohärenzproduktion), den man im Alltag der Stadt häufig vermisst (Antagonismuserfahrung). Dabei geht es vor allem um den Blick. Der Blick von der Küste aufs Meer und die andere Seite der Stadt kennzeichnet einen Moment der Reflexion, des Nachdenkens. Er ist passiv, nicht aktiv. Diese meditative Wirkung wird von etlichen der hier interviewten Personen in ähnlicher Weise beschrieben. Der Meeresblick ist ein Akt kollektiver Melancholie, die zwar in physischer Einsamkeit erlebt, jedoch mit anderen Bewohnern Istanbuls geteilt wird. Eingehend wurde dieses Moment von Orhan Pamuk beschrieben und mit dem Begriff »Hüzün« auf den Punkt gebracht. Der Blick aufs Meer – als passive Bewegungsmetapher – bewirkt, dass man sich seinem Schicksal fügt. Anders als bei der aktiven Bewegungsmetapher (Makropoulos 2007), überwiegt nicht der Aspekt des Abenteuers und des Aufbruchs. Denken wir zurück an die Bilder, die für das Stadtportrait herangezogen

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wurden, so wird diese Passivität ebenfalls von den orientalistischen Malern (Felix Ziem: Abbildung 14) sowie vom Istanbuler Fotografen Ara Güler (Abbildung 18) stilisiert. Man akzeptiert sein Schicksal (Ziem) und verharrt auf der Schwelle zwischen Tradition und Moderne (Güler). Orhan Pamuk macht auf die Verwobenheit von Selbst- und Fremdzuschreibung aufmerksam. In Istanbul, so seine Überzeugung, sieht man sich immer auch mit den Augen der ›Anderen‹. Nun ist es offensichtlich, dass zur Definition des Eigenen immer das Fremde gehört. Die Bezeichnung, wer und was man ist, unterscheidet zugleich was und wer man nicht ist. In Istanbul ist eine starke Abgrenzung vom ›Anderen‹ jedoch nicht vorhanden. Zudem ist bezeichnend, dass das Fremdbild nicht internalisiert und damit zum ›Eigenen‹ gemacht wird. An etlichen Stellen der hier vorgelegten Analyse wurde deutlich, dass ständig hinterfragt wird: Sind das wir? Bin das ich? Ist das mein Istanbul? Oder sind es vielmehr vermittelte bzw. gar ›fremde‹ Zuschreibungen, die mir, uns oder der Stadt aufgedrängt werden? Besonders deutlich wurde dies an einer Stelle der Fotobefragung. Die Befragte beschreibt ein Bild (Fotobefragung 6), das einen dunkeln Durchgang zeigt, an dessen Ende ein einfach gekleideter, schwer bepackter Mann, der Betrachterin entgegentritt, mit den Worten: »This is the picture of the situation we are all scared of: the moment when we step out of our central Istanbul; we don’t feel safe anymore«. Es ist ein ihr unbekanntes Istanbul, das sie jedoch, wie sie weiter ausführt, für authentischer hält wie jene Umgebung, in der sie sich tagtäglich bewegt. Die ›fremde‹ Welt ist die ›echte‹ Welt und die erlebte die ›falsche‹ bzw. – schwächer formuliert – die ›auferlegte‹. Auch jene Debatten, in denen über richtige und akkurate Umgangsformen diskutiert wird, enden in Auseinandersetzungen darüber, ob hier ›westliche‹ Standards reklamiert werden, die die eigene bzw. traditionelle Lebensweise diskreditieren. So hatte etwa die hier analysierte nationale Werbekampagne zum Ziel, aus Stadtbewohnern ›Städter‹ zu machen. Durch den Zuzug von Migranten aus den ländlichen Regionen der Türkei sei die Stadtkultur verloren gegangen. Die Stadtkultur wird hier mit einer urbanen Lebensform gleichgesetzt, dessen Kriterien sich aus europäischen Standards speisen. Dies wurde auch anhand der Auswertung der Fotobefragung deutlich. Die Kritik von Verhaltensweisen in städtischen Parkanlagen führte etwa eine Interviewpartnerin zur Aussage: »People here don’t know how to use a park, real parks belong to Europe!« Die künstlerische Außenperspektive Alexander Basiles greift ebenfalls das Eindringen ›westlicher‹ Symboliken in den städtischen Raum auf. Unechte Materialien, gefälschte Designerprodukte von Marken wie Versace, Armani oder Chanel überfluten den Stadtraum. Die Produkte sind weder ›echt‹ (sie sind nicht wirklich ›westlich‹, wie die Aufdrucke suggerieren, sondern billigere Imitate),

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noch ›unecht‹, da sie Teil der städtischen Atmosphäre sind. Das spezifische Arrangement der Produkte, die Ästhetik des Provisorischen, prägt den Alltag der Stadt. Sie werden in der Serie ›Plastik‹ zum Kennzeichnenden und Typischen. Keine Wahrnehmung der Stadt, weder in der Werbung, noch im Alltag der Bewohnerinnen oder im Blick der Künstler, scheint sich sicher zu sein, was und wie die Stadt wirklich ist. Die Schwierigkeit, in die Stadt einzudringen und sie zu erschließen, wird auch in der Serie ›Bustour‹ thematisiert. Das Fremde ist und bleibt zu einem gewissen Anteil fremd und gehört gleichzeitig zum Eigenen. Dies wird in den hier analysierten Bildern ständig reflexiv mitverhandelt. Für die Perspektive der Kunst ist dies nicht ungewöhnlich, Werbebilder sind jedoch häufig eindeutiger wie auch die Erfahrung des Alltags zumeist von einer weitreichenden Kohärenzunterstellung geprägt ist.

P ERSISTENZ

UND

W ANDEL

Die Werbekampagne für das Kulturhauptstadtjahr stilisiert die Geschichte zu einem für die Gegenwart und die Postmoderne adäquaten Image. So wird das neu gewonnene Selbstbewusstsein der Stadt (und auch der Politik), das Erstarken der Wirtschaft und die Bedeutung Istanbuls als Zentrum im globalen Raum, in der Werbung mit der Reaktivierung von Symboliken der Osmanischen Herrschaft stilisiert. Die jüngere Vergangenheit, die Modernisierungsbestrebungen Istanbuls ab der Gründung der Republik, kann als Bild nicht herangezogen werden. Einerseits deshalb, da von industrieller Fertigung im Zeitalter der Postindustrialisierung Abstand genommen werden soll, andererseits aber auch, da das kosmopolitische Flair der Stadt während dieser Periode verschwunden ist und sie national wie international isoliert war. Gleichzeitig wird jedoch auch nicht – und das verwundert bei einer Kampagne für das europäische Kulturhauptstadtjahr – auf die gegenwärtige, stark ausgeprägte Kunst- und Kulturszene der Stadt Bezug genommen. Der rasante städtebauliche und soziale Wandel bewirkt eine Transformation der »Doxa« in »Orthodoxie« (Berking 2008). Die Veränderung führen zu Verunsicherungen, die bewirken, dass lebensweltliche Selbstverständlichkeiten, d.h. unhinterfragte Normalitätsauffassungen, plötzlich explizit und neu kodifiziert werden. Die Werbekampagne zum Kulturhauptstadtjahr 2010 zeigt wie demonstrativ an traditionellen Werten festgehalten und die Vergangenheit wiederbelebt wird. Auch in der Fotobefragung macht sich diese Persistenz als Folge der Veränderungen bemerkbar. So ist eine wesentliche Taktik im Umgang mit der antagonistischen Grundstruktur der Stadt die Konventionalität. Man bleibt wer man

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ist bzw. wer man war. »We are experiencing so many things so harshly that we cannot move forward, we are standing still. We are standing were our families left us«, stellt ein Bewohner fest. Besonders deutlich wurde diese Beharrlichkeit anhand symbolischer Bilder, die Verkehrszeichen zeigen (Fotobefragung 4, Fotobefragung 5), die jeweils nur eine Option lassen: den Weg geradeaus (Links- und Rechtsabbiegen ist verboten). Auch das Bild einer Rennstrecke (Fotobefragung 12) macht darauf aufmerksam, dass man Istanbul auf vorgefertigten Pfaden begeht und nicht seinen eigenen Weg einschlägt. Dass man erst zu Joggen begann, als eine dafür vorgesehene Rennstrecke gebaut wurde und nun nur hier und nirgends sonst läuft, führt die Interviewpartnerin zum Schluss: »We are no active individuals, we are passive, we do not express what we want, we just wait that something is done by someone else«. Auch im positiveren Sinne wird der Beharrlichkeit der Stadt Ausdruck verschafft. Die Stadt (und nicht ihre Bewohner) wird als widerständig beschrieben. »I mean it’s (Istanbul) still on it’s feet, standing, without having been ruined. Despite the fact that there are those skylines, the nature, the earth has somehow resisted«. Der als unsensibel beschriebene städtebauliche Wandel, der mit der Zerstörung natürlicher Ressourcen und zum Teil auch mit unschönen gestalterischen Prinzipien einhergeht, bringt die Stadt nicht zu Fall. Zum Teil bringt gar das Unschöne eine reizvolle Ästhetik hervor: »Since there are many unpleasant things already being put here, you come to say gecekondu fits to gecekondu in the end«. Eine derartige Re-Ästhetisierung wird auch in der Serie ›Plastik‹ vollzogen.

P ARA D OXA In den Bildern Istanbuls vermengen sich drei Aspekte mit ihrem jeweiligen Gegenteil. Expliziten Machtdemonstrationen ist ihre Brüchigkeit (verflossene Zeit, Wertewandel) bzw. die Gegenmacht (subversive Umdeutung) inhärent. Die Stilisierung des Selbstbildes schließt das Fremdbild mit ein. Dabei grenzt man sich von der Fremdperspektive nicht völlig ab (sie dient nicht als Unterscheidung), noch internalisiert man sie (sie wird nicht zum Eigenen). Vielmehr verharrt man auf der Schwelle. Ähnliches gilt für die Zeitperspektive. Die Werbekampagne Istanbuls versucht ein zukunftsfähiges Image der Stadt zu konzipieren. Dazu wird die Vergangenheit reaktiviert. Diese steht sowohl für ein kosmopolitisches Istanbul als auch für die internationale Bedeutung der Stadt. Auch in den Fotointerviews trifft ein rasanter (sozialer und städtebaulicher) Wandel auf Beharrlichkeit (Normativitätsbehauptung, Konventionalismus, Dissoziation).

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Und trotz der vielen Konfliktsituationen im Alltag funktioniert die emotionale Identifikation mit der Stadt (Kohärenzproduktion). Die Figur des Meeres und der mit ihr verknüpfte meditative Blick in die Weite bewirkt eher ein Ausharren als ein Verändern. Die urbane Doxa Istanbuls, das prä-reflexive Handlungswissen darüber, wie die Stadt ist, thematisiert das jeweils Unterschiedene – formtheoretisch gesprochen, die ausgeschlossene Seite der Beobachtung – mit. In vielen Bildern von Städten mögen Machtdemonstrationen zum Ausdruck kommen, Fremdzuschreibungen zur Selbststilisierung werden, auf die Vergangenheit rekurriert bzw. Veränderung visualisiert werden. Dass jedoch Positionierung und die jeweilige Opposition in dieser spezifischen Konstellation im Bild enthalten sind, ist alles andere als selbstverständlich. Der Modi der Verdichtung und Heterogenisierung wie sie die Sinneinheit »Istanbul« vollzieht, kann als ParaDoxa beschrieben werden. Es wird ein Einschluss des jeweils Ausgeschlossenen vollzogen35. Was die urbane Doxa, wie sie im Abschnitt ›Die Stadt als Sinneinheit‹ beschrieben wurde, kennzeichnet, scheint in Istanbul zu einem gewissen Grad nicht gewährleistet zu sein. So wurde argumentiert, dass, um im Alltag handlungsfähig zu bleiben, nicht immer alle Handlungsalternativen berücksichtig bzw. alle Zuschreibungen und Bewertungen hinterfragt werden können. Vielmehr werden zuvor getroffene Unterscheidungen wiederholt (ohne sie in Frage zu stellen) und damit institutionalisiert und bestätigt. Diese Selbstverständlichkeit scheint in Istanbul nicht gegeben zu sein. »One of the most difficult thing in Istanbul is that you cannot concentrate on one thing very well, you always have to think about many things, that’s why our people are different«, hält ein Bewohner fest. Die Blasiertheit, das Sich-Nicht-Kümmern, das Nicht-Wahrnehmen bzw. das Darüber-Hinwegsehen ist, anders als in vielen Metropolen der Welt, in Istanbul keine geläufige Praxis. Anstatt weitreichender Bestätigung intersubjektiver Situationseinschätzungen kommt es entweder zu dezidierten Kreuzungen (z.B. durch Normativitätsbehauptungen), wodurch eine differente Situationsdefinition eingeführt wird, oder es werden alle möglichen Situationsdefinitionen berücksichtigt, was das Entscheiden und Handeln erschwert. Dennoch haben die Bewohnerinnen Routinen entwickelt, um sich im Alltag Istanbuls zurechtzufinden. D.h. auch in Istanbul ist man dazu genötigt eine ›natürliche‹ Einstellung zur Welt (Berking 2008: 24) zu entwickeln, um handlungsfähig zu bleiben. Dazu haben etwa die hier befragten Bewohnerinnen ein Set an Handlungsalternativen herausgebildet, die auf ein gemeinsam geteiltes und lokalspezifisches Hintergrundwissen schließen lassen; auf »vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend

35 Der Terminus ›Para‹ bedeutet im Altgriechischen ›außen‹ bzw. ›neben‹.

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wirksame, präreflexive Prozesse der Sinnkonstitution« (Löw 2008b: 42). Das sind etwa bestimmte Taktiken im Umgang mit dem Antagonismus wie Ambiguitätstoleranz, Dissoziation, Normativitätsbehauptung und Konventionalität (siehe Kapitel ›Antagonismus‹), sowie gewisse Fluchtwege (der Blick aufs Meer), die handlungsentlastend wirken (siehe Kapitel: ›Kohärenzproduktion‹).

Macht I (Gegen) Macht

ParaDoxa

Persistenz I Wandel

Selbstbild I Fremdbild

Grafik 46: ParaDoxa

Grafik 46 zeigt jene Momente, die den hier behandelten Bilderwelten Istanbuls inhärent sind. Dabei stehen Macht und (Gegen-) Macht, Selbst- und Fremdbild, Persistenz und Wandel sich nicht wirklich gegenüber: Das Unterschiedene wird nicht ausgeschlossen, sondern mitthematisiert. Der Pfeil, der das jeweils Unterschiedene auf die Seite des Bezeichneten zurückführt, visualisiert diesen »reentry«36.

36 So bezeichnet George Spencer-Brown den Wiedereinschluss des Ausgeschlossenen (Spencer-Brown 2008).

Ausblick

In dieser Arbeit ging es darum, die Bedeutung von Stadtbildern für die Stadtsoziologie hervorzuheben. Ein Verständnis, das Bilder lediglich als Abbilder und Repräsentationen von Wirklichkeit versteht, greift dabei zu kurz. Bilder zeigen die Stadt nicht nur wie sie ist, sondern erzeugen visuelle Vorstellungswelten, die weit über den Ist-Zustand hinausreichen. So auch die hier behandelten Stadtbilder Istanbuls. Es wurde beschrieben, wie Herrschaftssymboliken, Vergangenheit, Wandel, Antagonismus etc. durch Bilder zum Ausdruck gebracht werden. Dabei wurde ein bestimmter Modus der Verdichtung identifiziert, der das Ausgeschlossene einschließt (ParaDoxa). Ebenfalls wurde darauf geachtet, welche Bedeutungsverwerfungen bzw. -verschiebungen durch die bildimmanente Verdichtungsleistungen vorgenommen werden (etwa die Abwendung von der jüngeren Vergangenheit, bzw. die subversive Umkehrung der Panorama-Perspektive). Die Bilderwelt Istanbuls wurde dabei nicht als in sich geschlossener Symbolkosmos beschrieben. Auch wenn im Rahmen dieser Arbeit aus forschungspragmatischen Gründen kein systematischer Städtevergleich angelegt war, wurde an etlichen Stellen deutlich, dass die hier behandelten Bilder auf ›andere‹ bzw. ›fremde‹ Bilder zurückgreifen. So wurden etwa anhand des Werbebildes für das Kulturhauptstadtjahr 2010 Analogien zu europäischen Stadtdarstellungen evident. Der CEO der Werbekampagne sprach in einem Interview auch explizit an, von welchen Bildern man sich abgrenzen wollte (den klassischen Ansichten von Manhattan und London) und welche Stilisierungen man aufgegriffen hat (historische Ansichten des Canal Grande in Venedig). Was die Stadt als raumstrukturelle Form kennzeichnet ist die Offenheit. Auch Istanbul ist zahlreichen Einflüssen ausgesetzt. Europa bzw. die »europäische Stadt« (Häußermann 2001) und die mit diesen Begriffen verbundenen Urbanitätsvorstellungen sowie die Bilder und Narrative, die von reisenden Malern und Schriftstellern erstellt wurden, durchzogen als Referenz alle drei der hier analysierten Bildgenres. Dennoch, und das sollte durch die hier vorgestellte Analyse deutlich werden, werden die (äußeren) Einflüsse lokalspezifisch verarbeitet. Dass der wechselseitige Aus-

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tausch nicht dazu führt, dass jede Stadt gleich ist, hält auch Doreen Massey fest: »Moreover it is through this spatial openness and interconnectedness of cities that they are both held together in interdependence and enabled to pursue their distinctive individual trajectories« (Massey 1999: 161). In Hinblick auf das neu erstarkte Selbstbewusstsein der Stadt, den Umgang mit dem Fremdbild sowie mit dem sozialen und städtebaulichen Wandel, die allesamt Reaktionen auf die zunehmende Bedeutung Istanbuls als Global City sind, folgt Istanbul einer individuellen Bahn. Dennoch könnten weitere Untersuchungen aufzeigen, ob gewisse Aspekte der hier beschriebenen ParaDoxa auch in anderen urbanen Kontexten auftreten bzw. wie markant sie sich von anderen Städten unterscheidet. Weitere Stadtvergleiche könnten Typenbildungen vornehmen und Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten noch genauer beleuchten. Die Stadtforschung ist in ihrer bisherigen Ausrichtung stark auf die Analyse von Ist-Zuständen ausgerichtet. Dabei wird demographischen Entwicklungen, Wirtschaftsstatistiken und ökologischen Einflüssen weitaus mehr Bedeutung geschenkt als Bildern. Die Berücksichtigung von Bildern als empirisches Material, so die hier vertretene Position, könnte die derzeitige Perspektive um die Erforschung des Möglichkeitshorizontes von Städten erweitern. Dieser beinhaltet Chancen und Hindernisse im Umgang mit gewissen Situationen, wie etwa das Zusammenleben im öffentlichen Raum, die Entwicklung von Strategien zur Bewältigung des Strukturwandels, die städtische Kulturförderung oder die politische Partizipation der Stadtbevölkerung. In dieser Hinsicht könnten zukünftige Projekte, die die Bildwelten von Städten untersuchen, dieses Forschungsinteresse mit ganz bestimmten Problemstellungen verlinken und aufzeigen, wie die urbane Doxa in spezifischen Diskursen, (Problem-)Situationen und Feldern wirkt. Auch wenn urbane Vorstellungswelten, wie sie hier für die Stadt Istanbul untersucht wurden, bestimmte Richtungen ermöglichen oder behindern, die die Stadt einschlagen kann, sie determinieren diese nicht. Städte wandeln sich. In diesem Zusammenhang passt etwa die Passivität und Konventionalität, wie sie im Jahr 2010 von den Bewohnerinnen thematisiert und kritisiert wurden, nicht ganz zu der neu erstarkten Emanzipationsbewegung, die mit den Protesten rund um den Gezi Park in Istanbul ihren Anfang nahm. Dennoch bringen die Bilder der an der Fotobefragung beteiligten Istanbuler die Unzufriedenheit gegenüber normativen Machtdemonstrationen zum Ausdruck, die jeglichen Dialog und Aushandlungsprozess verunmöglichen. Ein emanzipatives Moment ist ebenso in der Serie ›Shell‹ angelegt. Serkan Taycan bezieht Position und kritisiert die Unnachgiebigkeit mit der in Istanbul natürliche Ressourcen zerstört werden. Zu einem Machtwechsel hat die Gezi-Bewegung dennoch noch nicht geführt. Der

AUSBLICK

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konservative Premierminister Recep Tayyip Erdogan, der die Unnachgiebigkeit der Macht par excellence verkörpert, gewann im Sommer 2014 die Präsidentschaftswahlen. Weder die Protest-Bewegung, noch die öffentliche Distanzierung einiger Erdogan nahestehender Gruppierungen (etwa die Gülen-Anhänger), die Bestechungsskandale oder das Grubenunglück in Soma konnten die Popularität des Politikers bei seinen Anhängern trüben. Will man weiterhin von einer starken Hand geführt werden, die einen klaren Weg vorgibt? Wie auch immer die Bilder aus dem Jahr 2010 in Hinblick auf die gegenwärtige Situation der Stadt interpretiert werden, sicherlich würden die Bewohnerinnen zum heutigen Zeitpunkt auch andere Bilder erstellen. Die Proteste in Istanbul und die Bilder, die international darüber kursierten, werden als neue Fäden das visuelle Webmuster der Stadt weiter knüpfen. In dieser Hinsicht wäre es spannend, Verlaufsstudien zu konzipieren, die die kumulative Textur in den Blick nehmen und diese als »Viskurs« (Knorr-Cetina 1999) systematisch analysieren. Über die Fragestellung des kollektiv geteilten Symbolkosmos von Istanbul hinweg, ging es in der Arbeit darum, die Eigenstrukturiertheit der Bilder – ihre Präsenz – in den Blick zu nehmen und zu beschreiben, wie diese in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten Wirkung erzeugen. Der soziale Effekt von Sichtbarkeit konnte an einigen Stellen deutlich gemacht werden. So wurde etwa anhand des Werbebildes eine visuelle Strategie der Politik erkennbar. Das Bild wirkt als »substitutiver Bildakt« (Bredekamp 2013: 192f) sowohl vergemeinschaftend (Identifikation) als auch die Stellung Istanbuls als Kulturhauptstadt Europas beglaubigt wird. Die Vergemeinschaftungsfunktion von Bildern wurde ebenfalls anhand einer kollektiven »Sehpraxis« (Raab 2008) beschrieben. Der Panoramablick von der Küste auf die andere Seite der Stadt ist in Istanbul nicht auf ein touristisches Sehen zu reduzieren. Er hat eine ordnende Funktion. Er ist eine Alltagspraxis die gleichsam in physischer Einsamkeit erlebt und mit den anderen Bewohnerinnen geteilt wird. Damit ist auch die Orientierungsfunktion von urbanen Vorstellungswelten angesprochen, um die es in dieser Arbeit ganz zentral ging. Der Alltag Istanbuls wird von den befragten Bewohnern antagonistisch erfahren. Dennoch kennen sie die Stadt in ihrer Widersprüchlichkeit, womit intuitiv ganz spezifische Handlungsstrategien entworfen werden, um sich in ihr zurechtzufinden. Die Vergemeinschaftungs- und Orientierungsfunktion von Bildern wurde zwar erkannt, ist jedoch in Hinblick auf die Art und Weise wie diese Bildwirkung erfolgt noch genauer zu untersuchen. Es konnte gezeigt werden, dass Bilder zugleich individuell und allgemein sein müssen, um ihre Wirkung zu erzeugen. Anhand von Werbebildern wurde etwa gezeigt, inwiefern die offizielle Perspektive einer Deutungselite individuell anschlussfähig ist. In anderer Rich-

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tung wurde bei den Bildern aus der Fotobefragung deutlich, dass die subjektiven Eindrücke der Bewohner auf gemeinsame Vorstellungen darüber verweisen, was den Alltag Istanbuls auszeichnet und charakterisiert. Auch die Bildserien der Künstler spiegeln eine subjektive Wahrnehmung, wobei sie gleichzeitig auf ein Allgemeines referieren und sich unter Umständen sogar vom Kontext (Istanbul) lösen (so wurden etwa die Bilder aus der Bildserie ›Plastik‹ in die Serie ›Emerging Sculptures‹ übernommen, die nicht mehr Istanbul als zentrales Thema hat). Was macht das »puctum« (Barthes 1989) aus, das individuell berührt, was die Allgemeinheit, die die Bilder intersubjektiv anschlussfähig macht, und wie werden diese Aspekte im Bild verknüpft? Diese Fragen gilt es von weiterführenden Forschungsarbeiten bildtheoretisch genau zu bestimmen.

Danksagung

Das vorliegende Buch entstand als Dissertation am Institut für Soziologie der Universität Wien. Für die hervorragende Betreuung bedanke ich mich bei Professorin Roswitha Breckner und Professor Helmuth Berking. Zentrale inhaltliche Anregungen erhielt ich darüber hinaus aus dem Projektumfeld des Forschungsschwerpunkt ›Stadtforschung‹ an der Technischen Universität Darmstadt, insbesondere von Professor Sybille Frank und Dr. Ralph Richter. Für konzeptionelle Überlegungen und das Lektorat danke ich Dr. Benjamin Marent sowie Sabine Freudhofmaier. Ebenfalls möchte ich mich bei den Teilnehmerinnen der Fotobefragung sowie den Künstlern Serkan Taycan und Alexander Basile bedanken. Ihre Bilder und Erzählungen bilden das empirische Fundament der hier entwickelten Ideen. Die Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius unterstützte zwei meiner Forschungsaufenthalte in Istanbul sowie die Veröffentlichung des vorliegenden Buches. Die Drucklegung wurde zudem vom Wissenschaftsfonds des Landes Vorarlberg gefördert. Beiden Fördergebern sei an dieser Stelle herzlichst gedankt. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern und meinem Bruder Karl-Heinz Marent für ihre emotionale Unterstützung.

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Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer, Julia Gill, Constanze A. Petrow, Netzwerk Architekturwissenschaft (Hg.) z.B. Humboldt-Box Zwanzig architekturwissenschaftliche Essays über ein Berliner Provisorium (mit einem Geleitwort von Kurt W. Forster) 2014, 214 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2671-1

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