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German Pages 1075 [1080] Year 2007
Hans Joachim Schneider (Hrsg.) Internationales Handbuch der Kriminologie Band 1 : Grundlagen der Kriminologie
Hans Joachim Schneider (Hrsg.)
Internationales Handbuch der Kriminologie Band 1: Grundlagen der Kriminologie
W DE
G
RECHT
De Gruyter Recht · Berlin
Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
Broschierte Ausgabe: ISBN 978-3-89949-128-9 Gebundene Ausgabe: ISBN 978-3-89949-130-2
Bibliografische
Information
der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2007 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Bercker Graphischer Betrieb GmbH & Co. KG, Kevelaer
Gustav Aschaffenburg (1866-1944) Hans von Hentig (1887-1974) Hermann Mannheim (1889-1974) in Dankbarkeit gewidmet
Vorwort / Preface This Handbook is amazingly comprehensive in its coverage of many different topics within criminology. It includes chapters on numerous different types of crime, from more traditional sexual and violent crime to more recent concerns such as terrorism and high tech crime. In addition, it includes chapters on measurement, methods, theories, prediction, co-offending, development, ecology, fear of crime and numerous other interesting criminological issues. The editor, Hans Joachim Schneider, should be congratulated for his heroic efforts in bringing together so many experts, from over ten different countries, in two volumes. Professor Schneider has qualifications in law and psychology and is a very well known and productive scholar. Remarkably, he has written many of the chapters himself, demonstrating his impressive breadth of knowledge. He has been very successful in communicating important findings between English-speaking and Germanspeaking scholars, and this Handbook achieves the laudable aim of integrating criminological findings in English-speaking and German-speaking countries. When I first became familiar with the work of German-speaking colleagues, more than twenty years ago, I was very surprised by the high quality of their research, and by their extensive knowledge of criminological studies by English-speaking colleagues. Sad to say, many English-speaking colleagues were (and are) not aware of important criminological research published by German-speaking colleagues because of language difficulties. I hope that this Handbook might be published in English as well as in German, to spread the word about German research throughout the English-speaking world. Over the years, German research, like criminological research in general, has become more empirical, more scientific and more international and interdisciplinary. All these trends can be seen in this Handbook, which is perhaps the most wide-ranging book on criminology that has ever been published. Anyone who is interested to learn the most up-to-date information about any particular topic (and especially about a type of crime) should read these volumes. They should be of great interest to all criminologists (and sociologists, psychologists, lawyers, and criminal justice practitioners) in all countries. Cambridge/UK, June 2007
David P. Farrington
VII
Inhaltsübersicht Vorwort/Preface (David P. Farrington)
VII
Einleitung Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie (Hans Joachim Schneider)
1
Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft
1.1 1.2 1.3
1.6 1.7
Kriminologie: Begriff und Aufgaben (Günther Kaiser) Geschichte der Kriminologie in Europa (Helmut Kury) Geschichte der Kriminologie in Amerika/The History of Criminology in America (Theodore N. Ferdinand) Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) (Hans Joachim Schneider) Die Entwicklungs- und Lebenslaufkriminologie/Developmental and Life-Course Criminology (David P. Farrington) Methoden der Kriminologie (Hans Joachim Schneider) Vergleichende Kriminologie (Hans-Jörg Albrecht)
2
Kriminalitätsumfang, -Verbreitung und -vorhersage
2.1
2.3
Kriminalitätsmessung: Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung (Hans Joachim Schneider) Sozialökologie des Verbrechens/The Social Ecology of Crime (Per-Olof Wikström) Kriminalprognose (Heinz Schöch)
3
Dimensionen der Kriminalität
3.1 3.2 3.3 3.4
Viktimologie (Hans Joachim Schneider) Frauenkriminalität und Mädchendelinquenz (Hans Joachim Schneider) Kinder- und Jugenddelinquenz (Dieter Delling) Seniorenkriminalität und -viktimität: Alte Menschen als Täter und Opfer (Ernst-Heinrich Ahl/)
1.4 1.5
2.2
1
25 53 99 125 183 209 255
289 333 359
.
395 435 469 509
IX
Inhaltsübersicht 4
Formen der Kriminalität
4.1 4.2 4.3 4.4
4.7
Gewaltkriminalität {Michael Walter) Eigentums- und Vermögenskriminalität (Josef Kürzinger) Sexualkriminalität (Helmut Kury!Joachim Obergfell-Fuchs) Wirtschafts- und Umweltkriminalität/Economic and Environmental Crimes {Gilbert GeislByung-Sun CholJoseph F. C. DiMento) Organisiertes Verbrechen (Hans Joachim Schneider) Politische Kriminalität - Dimensionen, Typologien, Verhaltenssysteme {Hans Joachim Schneider) Politische Kriminalität - Terrorismus {Hans Joachim Schneider)
5
Reaktionen auf Kriminalität
5.1 5.2
Verbrechensverhütung - Die deutsche Situation (Edwin Kube) 833 Verbrechensverhütung - Die ausländische Forschung (Hans Joachim Schneider) 863 Polizeiwissenschaft, -theorie und -forschung (Hans Joachim Schneider) . . 893 Sanktionsforschung (Bernd-Dieter Meier) 971 Behandlung von Sexualstraftätern (Rudolf Egg) 1011
4.5 4.6
5.3 5.4 5.5
551 587 613 667 691 739 793
Anhang Autorenverzeichnis Sachregister Inhaltsübersicht Band 2
X
1037 1043 1063
Einleitung Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie H A N S JOACHIM SCHNEIDER
Inhaltsübersicht 1 Entwicklung der gegenwärtigen Kriminologie 2 Phänomenologische Fortschritte 2.1 Dunkelfeldstudien 2.2 Der Stand der Kriminalität in den deutschsprachigen Ländern im europäischen Vergleich 2.3 Selbstbericht- und Längsschnittstudien zur Jugendelinquenz 3 Ätiologische Fortschritte 3.1 Sozialstrukturelle, lern theoretische und Kontrolltheorien 3.2 Entwicklungs- und Lebenslaufkriminologie 3.3 Die sozialpsychologische Weiterentwicklung der Labeling-Theorie 3.3.1 Die symbolische Interaktionstheorie 3.3.2 Die reintegrative Schamtheorie 3.3.3 Die Trotztheorie 3.4 Die Routine-Aktivitäts-Theorie 3.5 Eine integrative Theorie des Verbrechens 4 Methodologische Fortschritte 4.1 Die systematische sozialwissenschaftliche Methodologie 4.2 Experimentalforschung 4.3 Metaanalysen 4.4 Programm-Evaluation 5 Kriminalpolitische Fortschritte 5.1 Kriminalpolitik in Europa und den USA 5.2 Die Entwicklungsprävention 5.3 Die Effektivität der Frühprävention 5.3.1 Längsschnitt-Experimental-Studien 5.3.2 Auf Beweis gegründete Frühpräventions-Programme 5.4 Das différentielle Behandlungs-Modell 5.5 Auf Beweis gegründete Behandlungsprogramme 5.6 Restaurative Justiz
Hans Joachim Schneider
2 3 3 4 4 6 6 7 8 8 9 9 9 9 10 10 11 11 12 12 12 13 14 14 15 16 17 18
1
Einleitung 1
Entwicklung der gegenwärtigen Kriminologie
Die Geschichte der Kriminologie erschöpft sich in zahlreichen deutschsprachigen Kriminologie Lehrbüchern in Hinweisen auf die klassische Schule von Cesare Beccaria (1738-1794) und auf die positivistische Richtung von Cesare Lombroso (1835-1909). Von der italienischen kriminalbiologischen Schule ist viel die Rede. Es wird von der „Unsterblichkeit" des „homo criminalis", des kriminellen Typs, in der deutschsprachigen Kriminologie gesprochen {BrüggerlCapusICimichellalAÍaaglQuelozlSchmid 2004, 21). Die französische kriminalsoziologische Richtung wird schon weniger erwähnt. Die deutsche kriminalpsychologische Schule wird gänzlich ausgeblendet (Ausnahme: Kürzinger 1996, 20-29). Dass Gustav Aschaffenburg (1903) das erste deutschsprachige Lehrbuch der Kriminologie veröffentlicht hat (Kaiser 1996, 116), ist nur wenigen Kriminologen bekannt. Dass das Aschaffenburg-Pamdigma ( Wetzeil 2000, 144/45; 298/99), die Integration von Kriminalsoziologie und Kriminalpsychologie, durch die englische Übersetzung seines Buches (Aschaffenburg 1913) zur Grundlage der nordamerikanischen Kriminologie geworden ist (Reckless 1970, 3-20; 1973, 691), haben weltweit nur wenige Kriminologen zur Kenntnis genommen. Überhaupt bleibt die Entwicklung der nordamerikanischen Kriminologie im 20. Jahrhundert zur Führung in der Welt weitestgehend unbeachtet (Ausnahme: H.J. Schneider 2005; 1987, 115-131). Die Geschichte der nordamerikanischen Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eine Fülle guter kriminologischer Lehrbücher (Auflistung bei H. J. Schneider 2004,173), die vergessen worden sind. Auf ihnen und auf den folgenden vier „Wendepunkten" (Laub 2004) baut die englischsprachige internationale und europäische Kriminologie indessen auf: In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wendete die Forschungsarbeit von Clifford R. Shaw und Henry D. McKay (1931) die Aufmerksamkeit weg von individuellen Merkmalen der Delinquenten und Nichtdelinquenten (einem populären Fokus im frühen 20. Jahrhundert) und hin zum sozialstrukturellen Ansatz. Ein System, eine Gemeinschaft, ein Subsystem einer Gesellschaft, ist sozial desorganisiert, wenn sein Gemeinschafts-Zusammenhalt zerfallt, wenn seine soziale Kontrolle zusammenbricht und wenn antisoziales Verhalten unter seinen Mitgliedern geduldet wird. Soziale Desorganisation ruft Delinquenz und Kriminalität hervor. Den Grundstein zur Anomie-Theorie der Kriminalitätsentstehung hat der französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) gelegt. Er verwandte den Begriff Anomie, um in einer modernen Gesellschaft auf einen Zustand der Normlosigkeit und auf einen Mangel an sozialer Regulation als Bedingungen für höhere Selbstmordraten Bezug zu nehmen. Der nordamerikanische Soziologe Robert Merton (1968) wandte diesen Ansatz auf die modernen Industriegesellschaften an. Für Merton hält nur eine integrierte Gesellschaft das Gleichgewicht zwischen Sozialstruktur (anerkannten sozialen Mitteln) und Kultur (gebilligten Zielen) aufrecht. Anomie ist eine Form der sozialen Fehlintegration, die in einem Zerfall anerkannter kultureller Ziele und legitimer Mittel zu diesen Zielen besteht und die Kriminalität entstehen lässt. Edwin H. Sutherland (1947) wurde zum einflussreichsten Kriminologen des 20. Jahrhunderts. Er setzte sich dafür ein, dass kriminelles Verhalten wie jedes andere Verhal2
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Schneider
Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie
ten gelernt wird. Er erteilte damit der kriminologischen Richtung eine Absage, die in Kriminellen eine ontologisch unterschiedliche menschliche Kategorie sieht ( Warr 2001, 185). Sutherlands Ansicht über die Rolle der Theorie in der Kriminologie, seine Beurteilungen, wie man eine Theorie evaluiert und wie empirische Forschung betrieben wird, dominierten die Kriminologie in großen Teilen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In den letzten 25 Jahren hat die Forschungsarbeit von Travis Hirschi (1969) - wie die keines anderen Kriminologen - die intellektuelle Diskussion beherrscht und substanziell die Forschungstagesordnung der Kriminologie bestimmt. Hirschis Kombination der Theorie-Konstruktion, der Konzeptualisierung, der Operationalisierung und der empirischen Prüfung ist zu seiner Zeit fast einzigartig gewesen und dient auch heute noch als Modell. Es ist keine Überraschung, dass die Theorie der sozialen Bindung zur dominierenden Theorie der letzten 25 Jahre geworden ist. Sie ist die am häufigsten diskutierte und getestete aller kriminologischen Theorien (So AkerslSellers 2004, 116/17). Die internationale und europäische Kriminologie der Gegenwart sind auf der Grundlage der skizzierten Haupttheorien offen für neue Theorien und Theoriekombinationen. Die nordamerikanische Kriminologie hat den Mehrfaktorenansatz des frühen 20. Jahrhunderts bereits in den 30er-Jahren hinter sich gelassen (Laub 2004, 6; Laubl Sampson 1991). Sie ist zur theoriegeleiteten Kriminologie geworden, in deren Mittelpunkt die theoretische Integration (MessneriKrohnlLiska 1989) steht.
2
Phänomenologische Fortschritte
2.1
Dunkelfeldstudien
Die vier „International Crime Victims Surveys", die in 24 industrialisierten Ländern und in 46 Großstädten von Entwicklungs- und Übergangsländern durchgeführt worden sind (BoutenIGoudriaanlNieuwbeerta 2002; Kesteren/Mayhew/Nieuwbeerta 2000), spielen in der europäischen und internationalen kriminologischen Diskussion eine große Rolle. Durch sie ist aufgrund von persönlichen und Telefoninterviews nach elf Delikten (Vermögens-, Sexual- und Gewaltstraftaten) eine Datenbasis von 220.000 Fällen geschaffen worden (Frate 2004). Drei Hauptergebnisse werden als Beispiele genannt: - In Europa werden 28 Prozent der Bevölkerung Kriminalitätsopfer. - Nur etwa die Hälfte der Delikte gelangt ins Hellfeld. - Gewalt- und Sexualdelikte werden am wenigsten polizeilich angezeigt. Die Anzeigerate bei Sexualdelikten beträgt nur 15 Prozent. Gewalt- und Sexualdelikte machen nahezu ein Viertel der Kriminalitätsstruktur aus und nicht nur 4 Prozent, wie es die Polizeiliche Kriminalstatistik anzeigt. Gewalt gegen Frauen hat die höchste Dunkelzahl. Regelmäßige Dunkelfeldstudien werden auch in Großbritannien und in den Niederlanden unternommen (KershawIChivite-MatthewslThomaslAust 2001; Boutellier 2004): Hans Joachim Schneider
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Einleitung - Zwischen 1995 und 2000 ist die Kriminalität in England und Wales um ein Drittel zurückgegangen. In der Polizeilichen Kriminalstatistik ist nur ein Rückgang um 10 Prozent verzeichnet. Die Polizei hat in dieser Zeit wahrscheinlich mehr Anzeigen aufgenommen. - 55 Prozent der Kriminalität liegen in England und Wales im Dunkelfeld. - In den Niederlanden hat man im Jahre 1999 - bei einer Bevölkerung von rund 16 Millionen - 4,8 Millionen Straftaten im Dunkelfeld gezählt. Etwa 1,3 Millionen Delikte wurden von der Polizei registriert. Im Dunkelfeld wurden 980.000 Gewaltstraftaten begangen, von denen 86.000 (weniger als 10 Prozent) der Polizei angezeigt worden sind. Der Rückfall der Sexualdelinquenten ist hoch. Die langfristigen Basisraten für den einschlägigen Rückfall der sexuellen Kindes-Misshandler und Vergewaltiger liegen bei jeweils 52 und 39 Prozent (Doren 1998, 108; PrentkylBurgess 2000, 230). Rückfällige Sexualstraftäter geben an, dass sie zwei- bis fünfmal mehr Sexualdelikte verübt hätten als bekanntgeworden seien (WeinrottlSaylor 1991; GrothlLongolMcFadinl Bradley 1982). 2.2
Der Stand der Kriminalität in den deutschsprachigen Ländern im europäischen Vergleich
Ein Expertenteam des den Vereinten Nationen angegliederten „Europäischen Instituts für Verbrechensverhütung und -kontrolle" in Helsinki hat einen internationalen Kriminalitätsvergleich unternommen (Aromaa/Leppä 2003). Es hat verschiedene Datenquellen als Indikatoren benutzt, die Indikatoren gebündelt und in eine Rangordnung der Länder sowie in eine Indikatorenskala gebracht, die von 1 bis 100 reicht. Das Expertenteam hat sich nach der Methode der Triangulation außer der internationalen Viktimisierungs- und offiziellen Datenquellen noch einer dritten Form von statistischen Daten, z.B. Daten der Weltgesundheitsorganisation, bedient, um die internationale Kriminalitätsbelastung herauszufinden. Es hat folgende Deliktsformen der westeuropäischen, der zentral- und osteuropäischen und der nordamerikanischen Länder in Indexübersichten zusammengefasst: Einbruch, Kraftfahrzeugdelikte (Diebstahl des Kfz und aus ihm), Kleinkriminalität (z.B. Vandalismus, Fahrraddiebstahl), Gewaltdelikte, Gewalt gegen Frauen (einschließlich schwerer sexueller Gewalt) und Korruption. Für die deutschsprachigen Länder ergibt sich, dass Deutschland mit Einbruch und Kraftfahrzeugdelikten durchschnittlich, mit Gewaltdelikten unterdurchschnittlich und mit Gewalt gegen Frauen überdurchschnittlich belastet ist. Insgesamt kann man im europäischen Vergleich von einer durchschnittlichen Kriminalitätsbelastung ausgehen. Als relativ sichere Länder können demgegenüber Österreich und die Schweiz gelten. 2.3
Selbstbericht- und Längsschnittstudien zur Jugendelinquenz
In einer vergleichenden Selbstreport-Delinquenz-Studie werden Selbstbericht-Delinquenz-Daten aus elf Ländern, zehn europäischen Staaten und einem US-amerikanischen Staat, zusammengetragen (Junger- TasiMarshall!Ribaud 2003). Diese umfangreiche Forschung hat gezeigt, dass - obwohl viele junge Menschen einige delinquente 4
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie Handlungen während ihrer Jugendzeit begehen - die meisten von ihnen dieses Verhalten aufgeben, sobald sie ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Eine kleine Gruppe (etwa 7 Prozent) beständiger Täter, die dazu tendieren, mit ihren Straftaten in jungen Jahren zu beginnen, lassen sich schwere Rechtsbrüche zuschulden kommen und setzen sie in ihrem Erwachsenenalter fort. Diese Karriere-Kriminellen verüben die Hälfte aller Delikte und insbesondere die schweren Straftaten. Die überwiegende Masse des selbstberichteten Fehlverhaltens wird niemals von der Polizei erkannt. In etwa zwei Drittel delinquenten Verhaltens wird von der Polizei weniger als zehn Prozent entdeckt. Das verbleibende Drittel hat eine Entdeckungsrate zwischen 10 und 18 Prozent, mit einer Ausnahme: Autodiebstahl mit 35,8 Prozent. Seit Ende der 80er-Jahre werden in den USA drei koordinierte, prospektive (vorausschauende) Längsschnitt-Forschungs-Projekte durchgeführt: in Pittsburgh/Pennsylvania, in Rochester/New York und in Denver/Colorado. Diese drei Studien stellen einen Meilenstein in der kriminologischen Forschung dar. Denn sie bilden den größten gemeinsamen Messungsansatz, der jemals bei Delinquenzstudien erreicht worden ist (PiqueroiFarringtonlBlumstein 2003). Kindliches Fehlverhalten geht Erwachsenenkriminalität voraus (Glueck/Glueck 1968, 170). Gleichwohl werden die meisten verhaltensgestörten Kinder keine antisozialen oder kriminellen Erwachsenen (Robins 1966). Es gibt also Kontinuität und Wandel in der Delinquenz und Kriminalität während des Lebenslaufs. Das „Seattle Social Development Project" fand Folgendes heraus (HawkinslSmithlHilllKostermanICatalanolAbbott 2003): Eine Gruppe Jugendlicher (24 Prozent) berichtete über überhaupt keine Straftaten. Eine andere Gruppe (etwa 7 Prozent) bestand aus chronischen Delinquenten, die von ihrem 13. bis zu ihrem 21. Lebensjahr schwere Rechtsbrüche verübt hatten. Zwei ertragreiche Längsschnittstudien gibt es außerhalb der USA: die Cambridge Studie (Farrington 2002) und die Montreal-Längsschnitt- und Experimental-Studie (Tremblay!VitarolNagini Pagani/Séguin 2003). Mit dieser Studie wurden vor allem Kindheitsprobleme als Vorläufer und Vorboten antisozialen Verhaltens erforscht. Körperliche Aggression während des Kindergartenalters ist der beste Verhaltensprädiktor für spätere Delinquenz. Drei Hauptergebenisse prospektiver Längsschnittstudien werden im Folgenden als Beispiele erwähnt: - Je früher die Kinder mit ihrer Delinquenz beginnen, desto wahrscheinlicher werden Karrieren chronischer Lebenslauf-Straftäter. Hierbei hat das Vorschulalter eine besondere Bedeutung. - Eine effektive Erziehung im Kindes- und Jugendalter ist von unschätzbarem Wert für die Delinquenzverhütung. Überwachung und Aufsicht sind die wichtigsten Erziehungsvariablen. - Mangelnde schulische Leistungen und schwaches schulisches Engagement sind konsistente Prädiktoren für Delinquenz und Problem verhalten.
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Einleitung
3
Ätiologische Fortschritte
3.1
Sozialstrukturelle, lerntheoretische und Kontrolltheorien
Mit seiner kollektiven Wirksamkeitstheorie will Robert J. Sampson (2002, 232/33) die Frage beantworten, die Shaw und McKay (1931) unbeantwortet gelassen haben, was zwischen unerwünschten sozialstrukturellen Bedingungen und Verbrechen geschieht, um Menschen zu veranlassen, das Recht in einem hohen Maße zu brechen. Für seine Theoriebildung stützt er sich auf empirische Daten, die er in einer sechsjährigen Längsschnittstudie durch die Befragung von 8.782 Bewohnern in 343 Nachbarschaften Chikagos gesammelt hat. Kollektive Wirksamkeit ist seine Schlüssel-Gemeinschaftsbedingung, die zwischen sozialstrukturellen Faktoren und Kriminalitätsraten liegt. Es ist die Verbindung von wechselseitigem Vertrauen und der Bereitschaft, für das Gemeinwohl einzutreten, die den Nachbarschafts-Zusammenhalt kollektiver Wirksamkeit ausmacht, die die Kriminalitätsentstehung verhindert. Die institutionelle Anomietheorie von Steven F. Messner und Richard Rosenfeld (2001) ist eine Weiterentwicklung der Anomietheorie von Robert K. Merton. Ihre grundsätzliche Behauptung geht dahin, dass das institutionelle Ungleichgewicht innerhalb einer Sozialstruktur hohe Raten krimineller Aktivität hervorbringt. Anomie ist speziell wahrscheinlich in marktkapitalistischen Gesellschaften, wenn die Wirtschaft Vorherrschaft im institutionellen Machtgleichgewicht beansprucht. Die Rollen anderer Institutionen werden im Vergleich zu denen der vorherrschenden Institution entwertet. Die nichtökonomischen institutionellen Rollen müssen sich den ökonomischen Bedürfnissen und Anforderungen anpassen, wenn sie miteinander in Konflikt geraten. Die allgemeine Drucktheorie von Robert Agnew (2006 a) ist gleichfalls eine Weiterentwicklung der Mertonschen Anomietheorie. Die Grundidee hinter der allgemeinen Drucktheorie ist ziemlich einfach: Wenn Menschen schlecht behandelt werden, fühlen sie sich gekränkt, verletzt und begehen Delikte. Es gibt drei Haupttypen des Drucks. Individuen können - etwas verlieren, das ihnen wertvoll ist, - von anderen in einer aversiven oder negativen Weise behandelt werden, - unfähig sein, ihre Ziele zu erreichen. Druck verursacht mit großer Wahrscheinlichkeit Verbrechen, wenn sein Ausmaß hoch ist, wenn er als ungerecht empfunden wird, wenn er mit niedriger Kontrolle verbunden ist, wenn er Spannung und Anreize erzeugt, sich in krimineller Reaktion zu betätigen. Im Jahre 1966 haben Robert L. Burgess und Ronald L. Akers die Neuformulierung der Theorie der differentiellen Assoziation von Edwin H. Sutherland nach den behavioristischen Prinzipien der Lerntheorie vorgeschlagen. In der weiteren Entwicklung hat sich Akers den kognitiv-sozialen Lerntheorien von Albert Bandura (1979) und Gerald R Patterson (1992) angeschlossen und seine Lerntheorie auf sozialstrukturelle Grundlagen (1998) gestellt. Das Prinzip der differentiellen Assoziation hat Sutherland (1947, 6-9) herausgearbeitet: Eine Person wird delinquent wegen des Überwiegens von Definitionen, die dem Gesetzesbruch freundlich gegenüberstehen, über Definitionen, die solchen Rechtsbruch ablehnen. Kriminelles Verhalten wird in einem Prozess der 6
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie symbolischen Interaktion mit anderen gelernt. Akers' Entwicklung der Theorie macht die soziale Lerntheorie zu einem „weichen Behaviorismus", der näher an der kognitiv-sozialen Lerntheorie von Bandura als am orthodoxen operanten Behaviorismus von B. F. Skinner steht, mit dem Burgess und Akers begonnen haben. Die Forschung hat ergeben, dass der beste Prädiktor für den Beginn, die Fortdauer und das Abstandnehmen (Aufhören) von Kriminalität und Delinquenz différentielle Assoziation mit prosozialen oder delinquenten Gleichaltrigen ist ( Warr 2002). Michael R Gottfredson und Travis Hirschi haben (1990) die Selbstkontrolltheorie entwickelt. Das Konzept im Kern der Theorie ist die Selbstkontrolle. Darunter versteht man die Tendenz, Handlungen zu vermeiden, deren langfristige Kosten ihren unmittelbaren und kurzfristigen Nutzen überschreiten. Niedrige Selbstkontrolle ist natürlich. Selbstkontrolle wird in den frühen Jahren des Lebens erworben. Sorgfältige Überwachung und angemessene Disziplin sind unter den wichtigsten Prädiktoren der Nichtdelinquenz. Menschen begehen kriminelle Handlungen, ohne ihre langfristigen Konsequenzen zu bedenken. Interventionsbemühungen in der Kindheit bieten die größten Erwartungen in der Verbrechensverminderung. Defekte Familienstrukturen, unzulängliche Familienbeziehungen und ungute Kindererziehungs-Praktiken sind wichtige Prädiktoren devianten Verhaltens. 3.2
Entwicklungs- und Lebenslaufkriminologie
Straftaten fügen sich in zeitliche Entwicklungsverläufe ein. Sie entstehen und verschwinden während des Lebenszyklus. Die Entwicklungs-Kriminologie („Developmental Criminology") richtet ihre Aufmerksamkeit auf Entwicklungspfade, -bahnen und -wege; sie bezieht Entwicklungsvorläufer und Risikofaktoren als Prädiktoren in ihre Betrachtung ein. Nach den Lebenslauftheorien („Life Course Theories") entfalten sich Delinquenz und Kriminalität im interaktiven Prozess, der während der gesamten Lebensspanne abläuft. Die Vertreter der Lebenslauftheorien studieren die Entwicklung und Dynamik des Problemverhaltens und der Kriminalität unter Berücksichtigung des Alters des Täters. Das soziale Interaktions-Modell konzentriert sich z.B. auf die Zusammenhänge sozialen Lernens während aufeinander folgender Entwicklungs-Phasen. Individuelle Faktoren stehen in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren, mit Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe. Diese Interaktionen bringen delinquentes Verhalten in der Kindheit hervor, das sich in der Jugendzeit und im Erwachsenenleben fortsetzt. Drei Perspektiven stehen im Zentrum der Lebenslauf- und Entwicklungstheorien: Kognitiv-soziale Lerntheorie und Kontrolltheorien werden in Lern- und Kontrollprozessen dynamisiert; sie gründen sich auf die sozialstrukturelle Theorie (LillyICullenlBall 2007, 310). Eine der herausragendsten Entwicklungs- und Lebenslauftheorien haben John H. Laub und Robert J. Sampson (2003) entworfen. Aus ihrer Perspektive sind Daten aus der Kindheit, der Jugend und dem Erwachsenenalter erforderlich, um die Längsschnittmuster des Kriminellwerdens zu erklären. Aus diesem Grund haben sie die Daten, die das Ehepaar Sheldon und Eleanor Glueck (1950, 1968) - zusammen mit einem Team von Fachleuten - gesammelt haben, neu aufbereitet, erneut analysiert und weitergeführt. Über einen Zeitraum von 25 Jahren (1940 bis 1965) hat das Glueck-Team Hans Joachim
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Einleitung umfangreiche Daten von eintausend Jungen (500 Delinquenten und einer Kontrollgruppe von 500 Nichtdelinquenten) an drei Zeitpunkten zusammengetragen: im Alter der Jungen von 14, 25 und 32 Jahren. Laub und Sampson rekonstruierten und analysierten die Längsschnittdaten in sechs Jahren von 1987 bis 1993 mit ihrem neuen theoretischen Ansatz und mit neuen statistischen Forschungsmethoden. Sie erhoben die Daten aus den Kriminalakten von 475 Delinquenten im Jahre 1993 und führten Lebensgeschichte-Interviews mit 52 Männern (aus der ursprünglichen Stichprobe der 500 Delinquenten) durch, die inzwischen ihr 70. Lebensjahr erreicht hatten. Alle Prädiktoren für das Aufhören und die Beständigkeit in der Erwachsenenkriminalität können hier nicht zusammenfassend dargelegt werden. Es wird nur kurz auf die Wendepunkte im Lebenslauf eingegangen. Heirat, Arbeit, Militärdienst repräsentieren Wendepunkte im Lebenslauf und sind wesentlich für das Verständnis des Wandels der kriminellen Aktivität. Wendepunkte stehen in einem größeren strukturellen und kulturellen Kontext. Eine Qualitätsehe, speziell eine starke eheliche Zuneigung, hat sich für Männer als Prädiktor für ihr Abstandnehmen von ihrer Kriminalität erwiesen. Das Wachsen sozialer Bindungen ist wie ein Investitionsprozess. Die Ehe beeinflusst das Aufhören, weil sie häufig zu einem signifikanten Wandel in Alltagsroutinen führt. Sie besitzt das Potential, den Ex-Straftäter von seiner delinquenten Gleichaltrigengruppe abzutrennen. Sie begünstigt das Aufhören mit Kriminalität wegen der unmittelbaren Kontrolle durch den Ehepartner. Berufsstabilität, die stark mit dem Aufhören mit Straftaten verbunden ist, Engagement für die Arbeit und wechselseitige Bindungen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber lassen die informelle Sozialkontrolle wachsen (Farringtort 2006a, 2005; Blokland/Nieuwbeerta 2006; Sampson/ Laub 2005). 3.3
Die sozialpsychologische Weiterentwicklung der Labeling-Theorie
Die Labeling-Theorie ist aus dem symbolischen Interaktionismus des Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863-1931) hervorgegangen. Er sieht die Eigenart zwischenmenschlicher Interaktion darin, dass Menschen nicht nur auf die Handlungen anderer reagieren, sondern dass sie die Handlungen ihrer Interaktionspartner interpretieren oder „definieren". Die Vertreter der Hauptrichtung der Kriminologie sind sich darin einig, dass es ein Fehler in den 60er und 70er Jahren war, den symbolischen Prozess auszuschalten und die Labeling-Theorie mit der kritischen und radikalen Kriminologie zu verbinden ( Wellford/Triplett 1993, 7). In jüngster Zeit hat sich die Labeling-Theorie von dieser Fehlentwicklung befreit (Brown!EsbensenlGeis 2004, 380). 3.3.1 Die symbolische Interaktionstheorie Diese Theorie von Ross L. Matsueda (2003) geht davon aus, dass alle Individuen ein „Selbst", eine Vorstellung davon entwickeln, wer sie sind, und dass dieses Selbst ein Instrument für die Steuerung eigenen Verhaltens ist. Das Selbst entfaltet sich im Sozialisationsprozess. Es wird als ein Objekt vom Standpunkt anderer geformt. SelbstVorstellungen können mit der Steuerung in die Delinquenz durchaus in Verbindung gebracht werden. Matsueda schenkt den reflexiven Einschätzungen besondere Be8
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie achtung, die er als die Ansicht der Person definiert, wie andere sie sehen. Diejenigen Personen, die sich - vom Standpunkt anderer - als Personen definieren, die in bestimmten Situationen delinquentes Verhalten begehen, werden sich mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Delinquenz einlassen. 3.3.2 Die reintegrative Schamtheorie Nach dieser Theorie von John Braithwaite (2006) wird Verbrechen tatsächlich vermindert, wenn sich die Reaktion sozial abwertend nur auf die Handlung und nicht auf die Person konzentriert, die mit Respekt zu behandeln ist. Die Reaktion wird durch Zeremonien des Vergebens und der Entschuldigung beendet. Wenn die Reaktion in Stigmatisierung besteht, macht die Etikettierung alles nur noch schlimmer. 3.3.3 Die Trotztheorie Diese Theorie von Lawrence W. Sherman (2006) betont, dass stigmatisierende und harte Behandlung der Täter lediglich die Wahrscheinlichkeit des Riickfalls erhöhen. Die Reaktion gegenüber dem Täter kann ihn krimineller machen, kann ihn abschrecken oder kann sich als irrelevant erweisen und keinen Effekt im Hinblick auf Rezidivismus haben. Die Schädlichkeit oder Nützlichkeit der Reaktion hängt von der Qualität der Sanktion und der Eigenart der Täter-Persönlichkeit und ihres Umfelds ab. 3.4
Die Routine-Aktivitäts-Theorie
Für diese Theorie sind zur Viktimisierung drei Elemente von entscheidender Bedeutung: das Vorhandensein motivierter Täter, die Existenz eines geeigneten Tatobjekts, einer Person oder einer Sache, und die Abwesenheit fähiger Beschützer des Tatobjekts gegen Rechtsverletzung (Cohen/Felson 2006). Die bedeutsamsten Beschützer sind hierbei normale Bürger, die ihrer täglichen Routine nachgehen. Verbrechensursachen sind „Versuchungen ohne Kontrolle". Die Gesellschaft schafft durch ihre Entwicklung Gelegenheiten zur Begehung von Straftaten. Hohe Kriminalitätsraten sind ein normales gesellschaftliches Faktum, auf das sich die moderne Gesellschaft einstellen muss. Die Menschen müssen lernen, ihren eigenen sozialen Nahbereich informell zu kontrollieren. 3.5
Eine integrative Theorie des Verbrechens
Eine integrative Theorie des Verbrechens hat Robert Agnew (2005; 2006 b) entwickelt. Verbrechen wird wahrscheinlich, wenn die Zwänge gegen das Verbrechen niedrig und die Motive für das Verbrechen hoch sind. Zwänge und Motive können in fünf Gruppen von Lebensbereichen eingeteilt werden: in das Selbst (in Persönlichkeitszüge der Reizbarkeit und der niedrigen Selbstkontrolle), in die Familie (unzulängliche Erziehungspraktiken der Eltern, keine oder eine schlechte Ehe), in die Schule (negative Schulerfahrungen, begrenzte Erziehung), in Gleichaltrige (Gleichaltrigen-Delinquenz) und in Arbeit (Arbeitslosigkeit, schlechten Job). Die Variablen in jedem Lebensbereich beeinflussen sowohl die Zwänge gegen wie die Motive für das VerHans Joachim
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Einleitung brechen. Die Wirkungen jedes Lebensbereichs ändern sich mit dem Lebenslauf. Die Lebensbereiche interagieren mit dem Verbrechen und untereinander. Das größere soziale Umfeld beeinflusst die Stellung des Individuums in den Lebensbereichen. Die Persönlichkeitszüge der Reizbarkeit und der niedrigen Selbstkontrolle sind teilweise vererbt, teilweise erworben. Sie bestimmen die Art und Weise, wie das Individuum seine soziale Umgebung wahrnimmt, wie es sie erlebt und wie es auf sie reagiert. Zwänge gegen das Verbrechen bestehen in externaler Kontrolle, in dem Interesse an Konformität und in internaler Kontrolle. Externale Kontrolle richtet sich nach der Wahrscheinlichkeit, mit der Individuen überführt und bestraft werden. Interesse an Konformität haben Personen, die viel zu verlieren haben, wenn sie gefasst und bestraft werden: einen guten Job, starke emotionale prosoziale Bindungen und außerordentliches Ansehen bei prosozialen Mitmenschen. Bei der internalen Kontrolle wird der Glaube, Verbrechen sei falsch und unmoralisch, verinnerlicht. Motive für das Verbrechen sind Faktoren, die Individuen dazu verführen und sie dazu drängen, Verbrechen zu begehen. Als Erklärungsmuster können hier die rationale Wahltheorie, die Routine-Aktivitäts-Perspektive, die kognitiv-soziale Lerntheorie und die Drucktheorie dienen. Die Kernaussage der integrativen Theorie besteht darin, dass die fünf Lebensbereiche Kriminalität verursachen. In unterschiedlichen Lebensphasen haben die verschiedenen Lebensbereiche unterschiedliche Bedeutung. Die Begehung von Verbrechen zu einem Zeitpunkt verstärkt substanziell die Begehung von Verbrechen zu einem späteren Zeitpunkt. Ein Lebensbereich führt mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Verbrechen, wenn andere Lebensbereiche dem Verbrechen förderlich sind.
4.
Methodologische Fortschritte
4.1
Die systematische sozialwissenschaftliche Methodologie
Die Kriminologie der Gegenwart legt auf sozialwissenschaftlich-methodische Exaktheit bei der realitätsnahen Erfassung der Wirklichkeit großen Wert (DantzkerlHunter 2006). Die personalen und sozialen Tatsachen müssen in sozialwissenschaftlich einwandfreien Verfahren ermittelt werden. Empirisch- und experimentell-kriminologische Forschungen gehen von Theorien aus, die widerspruchsfrei und nicht zirkulär sein dürfen. Aus diesen Theorien werden Hypothesen formuliert und die in ihnen enthaltenen Variablen operationalisiert, d.h. „messbar" gemacht. Nach der Auswertung des bisherigen Forschungsstandes werden die Begriffe, die verwandt werden sollen, definiert, und es wird eine - möglichst repräsentative - Stichprobe gebildet. Untersuchungsanordnung, Erhebungsmethode und Messinstrumente werden ausgewählt. Als Forschungstechniken werden beispielsweise Befragung (Interview), Beobachtung und Inhaltsanalyse eingesetzt. Dem Forschungsplan folgen Datenerhebung und statistische Auswertung. Der empirisch-kriminologische Forschungsprozess endet mit der Ergebnisinterpretation und theoretischen Schlussfolgerungen (BachmanlSchutt 2007).
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie 4.2
Experimentalforschung
Das randomisierte, auf Zufallsauswahl beruhende Experiment („Randomized Experiment") erlangt in der modernen Kriminologie eine immer größer werdende Bedeutung (Farringtonl Welsh 2005). Es werden zwei oder mehrere Gruppen (Experimentalund Kontrollgruppen) gebildet. Die Versuchspersonen werden nach dem Zufallsprinzip diesen Vergleichsgruppen zugewiesen. Man schätzt den Wandel in der abhängigen Variablen für die Vergleichsgruppen nach dem Experiment ein (vgl. die Beiträge in BushwaylWeisburd 2005). Ein quasiexperimentelles Design ist dann gegeben, wenn die Versuchspersonen nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, sondern wenn vergleichbare Gruppen gebildet werden (Reichardt 2005). 4.3
Metaanalysen
Unter einer Metaanalyse versteht man die statistische Analyse von Gruppen von Programm-Studien, um die Stärke ihrer Interventionswirkung zu ermitteln (BangertDrowns 2005). Die Effektstärke wird aus den quantitativen Ergebnissen zahlreicher Studien derselben oder ähnlicher Interventionen zu dem Zweck hergeleitet, um die Ergebnisse zusammenzufassen und zu vergleichen (Ross HL ipsey IFreeman 2004, 330). Nicht jede empirische Forschungsarbeit besitzt dieselbe methodologische Qualität. In systematischen Überblicken und Metaanalysen versucht man, die besten Studien zu ermitteln. Das sollte mit methodologischen Qualitätsskalen geschehen. Eine solche Skala ist die Maryland Wissenschafts-Methoden-Skala („Maryland Scientific Methods Scale") (FarringtonlGottfredson!Sherman! Welsh 2002). Mit ihr ermittelt man Messwerte vor und nach dem Programm unter experimentellen und vergleichbaren Kontrollbedingungen. Man unterscheidet fünf Validitätskriterien (WelshlFarrington 2006): Mit der internalen Validität misst man, ob die Intervention eine Wirkung entfaltet. Die deskriptive Validität ermittelt, ob die Schlüsselaspekte der Forschung angemessen dargestellt worden sind. Mit der statistischen Schlüssigkeitsvalidität erforscht man, ob Ursache und Wirkung in einer statistisch signifikanten Verbindung miteinander stehen. Die Konstruktvalidität klärt auf, ob das theoretische Konstrukt, das der Intervention zugrunde liegt, angemessen operationalisiert und implementiert worden ist. Mit der externalen Validität beurteilt man schließlich, ob die gefundene Kausalbeziehung generalisierbar ist, ob sie auf andere Orte und Zeiten übertragbar ist. Eine auf die Familie gegründete Prävention des Täterwerdens soll als Beispiel für eine Metaanalyse dienen (FarringtonlWelsh 2003). Die Ergebnisse der Metaanalyse umfasste vierzig Evaluationen. Nach den Effektstärken waren die mehrsystemischen Therapieprogramme und die Eltern-Erziehungs-Programme am wirksamsten. Am wenigsten effektiv (nicht signifikant) waren Schulprogramme. Elternhaus-Besuche, Vorschulprogramme und Elternhaus-Gemeinschafts-Programme waren erfolgreich. Die Durchschnittseffektstärke betrug in 19 der wirksamsten Studien .321, was einer signifikanten Rückfallreduktion von 16 Prozent entspricht. Von 50 Prozent in der Kontrollgruppe ging der Rückfall auf 34 Prozent in der Experimentalgruppe zurück. Bei den mehrsystemischen Therapieprogrammen wird der spezielle Behandlungstyp nach den besonderen Bedürfnissen der Probanden ausgewählt; deshalb ist die BeHans Joachim
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Einleitung handlungsart für jede Person unterschiedlich. Die Behandlung kann individuelles Training, Familien-, Gleichaltrigen-, Schul- und Gemeinschafts-Interventionen unter Einschluss von Eltern- und Fähigkeitstraining der Kinder umfassen. 4.4
Programm-Evaluation
Sie besteht in dem Gebrauch sozialwissenschaftlicher Methoden, um systematisch die Wirksamkeit sozialer Interventionsprogramme zu überprüfen. Diese Überprüfung wird mit Verfahren durchgeführt, die ihrem politischen und organisatorischen Umfeld angeglichen sind und die für soziale Aktion bestimmt sind, um die gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern (RossilLipseylFreeman 2004, 16). Folgende fünf Evaluationsmethoden werden angewandt: Mit der Bedarfsevaluation („Needs Assessment") stellt man das Ausmaß, die Art und die Verteilung des sozialen Problems, der Delinquenz und Kriminalität, in dem Gebiet fest, für das eine ProgrammIntervention, z.B. ein Präventionsprogramm, geplant ist. Die Evaluation der Programmtheorie („Assessment of Program Theory") setzt sich aus der Einfluss-Theorie („Impact Theory") und der Prozess-Theorie („Process Theory") zusammen. Die Einfluss-Theorie ist eine kausale Theorie, die Ursache-Wirkungs-Abläufe beschreibt, in denen bestimmte Programmaktivitäten die inganggesetzten Ursachen und bestimmte soziale Erfolge die Wirkungen bilden, die sie eventuell produzieren. Die ProzessTheorie ist eine Kombination des Organisationsplans des Programms und seines Service-Nutzungs-Plans für eine umfassende Beschreibung der Annahmen und Erwartungen darüber, wie das Programm, z.B. die Vorbeugungsmethode, wahrscheinlich arbeiten wird. Eine grundsätzliche und viel gebrauchte Form der Evaluation ist die Programm-Evaluation („Assessment of Program Process"), die die Genauigkeit und Wirksamkeit der Programmdurchführung beurteilt. Die Programm-Überwachung („Program Monitoring"), ein Teil der Programm-Prozess-Evaluation, untersucht, wie gut das Programm, die Vorbeugungsmethode, funktioniert. Die Wirkungs- oder Erfolgsevaluation („Impact Assessment") misst das Ausmaß, in dem ein Programm die beabsichtigten Verbesserungen in den sozialen Bedingungen hervorbringt, die es anspricht. Die Effizienz-Evaluation („Efficiency Assessment") berücksichtigt die Beziehung zwischen Programm-Kosten und Programm-Wirksamkeit.
5.
Kriminalpolitische Fortschritte
5.1
Kriminalpolitik in Europa und den USA
Im Jahr 2000 erreichte die Strafgefangenen-Population in den USA die außerordentliche Höhe von zwei Millionen, ungefähr eine Verfünffachung seit der Mitte der 70erJahre. Die US-amerikanische Inhaftierungsrate steht nun in etwa zwischen 450 und 700 Gefangenen pro 100.000 Einwohner. Die europäische Inhaftierungsrate beläuft sich demgegenüber auf etwa 65 bis 350 Gefangene pro 100.000 Einwohner. Aber nicht nur die Einsperrungsrate ist in den USA im letzten Vierteljahrhundert außerordentlich gestiegen. Die letzten 25 Jahre waren vielmehr ein „Vierteljahrhundert der Entdeckung neuer krimineller Übel" ( Whitman 2003, 44). Das Opfernachstellen 12
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie („Stalking") und die eheliche Vergewaltigung wurden kriminalisiert. Gegen familiäre Gewalt und Weiße-Kragen-Kriminalität wurde scharf vorgegangen. Jugendliche wurden vermehrt als Erwachsene verurteilt. James Q. Whitman (2003), Professor für Rechtsvergleichung und ausländisches Recht an der Yale Universität, führt diese Härte und Strenge der Bestrafung in den USA im Wesentlichen auf zwei Gründe zurück: Die Macht und die Autonomie des Staates hat viel mit der Milde der Kriminaljustiz in Frankreich und Deutschland zu tun. Ein relativ schwacher Staat - wie die USA ist viel stärker das Opfer strenger Vergeltungspolitik als die kontinentalen Staaten. Europäische Staatsapparate sind autonom geblieben; sie werden von Bürokratien gesteuert, die von demokratischen Prozessen isolierter sind als US-amerikanische Bürokratien. Wo Bürokratien arbeiten, Schotten sie den Staat von Druckphänomenen demokratischer Politik ab. Die relative Macht und Autonomie der europäischen Kontinentalstaaten hat ein Großteil dazu beigetragen, die Werte des Mitleids gegenüber Kriminellen in den Kontinentalgesellschaften am Leben zu erhalten und andere Formen der Milde der Kriminalstrafe zu fördern. In Europa verlangt die Theorie der Individualisierung, dass das Ziel der Kriminalpolitik nicht Taten, sondern Täter, nicht Handlungen, sondern Personen sein sollen. Täter in dieser milden Auffassung können generell resozialisiert werden. Individualisierung unterstützt das Verständnis für die individuelle Persönlichkeit des Täters. Im US-amerikanischen Strafrecht haben Personen nicht so sehr die Bedeutung wie Personen in Deutschland und Frankreich. Alle Personen erhalten dieselbe Strafe („Egalitäre Urteilsphilosophie"). Die Lehrmeinungen über kriminelle Verantwortlichkeit sollen sich nicht auf Täter, sondern auf Taten, nicht auf Personen, sondern auf Handlungen konzentrieren (Urteilsrichtlinien). Die Welt der Urteilsrichtlinien ist so streng und so hart, weil formale Gleichheit in einer demokratischen Gesellschaft zur Institution geworden ist. Whitmans Buch ist eine Studie der historischen Soziologie und der Rechtsvergleichung. Die Frage der Strenge und Härte der US-amerikanischen Rechtswirklichkeit ist - für Whitman (2003) - empirisch zu schwierig zu lösen. Denn eine angemessene Antwort würde zu viele sorgfältige empirische Studien von zu vielen staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Praktiken erfordern. 5.2
Die Entwicklungsprävention
Der theoretische Ansatz der Entwicklungs-Kriminologie wird durch erfolgreiche Entwicklungs-Vorbeugungs-Programme unterstützt {Tremblay¡Craig 1995). Ziel der Entwicklungs-Prävention ist es, den Kausal-Prozess zu verstehen und zu unterbrechen, der zur Entstehung von Straftaten führt. Die Präventions-Strategie ist auf die Verhinderung der Entwicklung chronischer Lebenslauf-Straftäter gerichtet, deren Entwicklungsbahn von der pränatalen Lebensphase bis zum Erwachsenwerden verläuft. Man benutzt Präventions-Methoden, die den Eltern und Lehrern helfen, die körperliche, kognitive und sozioemotionale Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen, und die die Selbst- und Impuls-Kontrolle der Kinder verbessern. Die EntHans Joachim
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Einleitung
wicklungs-Vorbeugungs-Experimente waren bislang durchweg erfolgreich (Holcomb 2004, 147). Die Kinder, auf die man direkt und indirekt durch Eltern und Lehrer vorbeugend eingewirkt hatte, waren während ihrer Jugendzeit und in ihrem Erwachsenenleben - verglichen mit ihrer Kontrollgruppe - mit weniger Delinquenz und Kriminalität belastet. 5.3
Die Effektivität der Frühprävention
5.3.1 Längsschnitt-Experimental-Studien Die Entwicklungsprävention muss möglichst früh im Lebenslauf einsetzen. Um die Risikofaktoren herauszufinden, denen man entgegenwirken muss, sind LängsschnittExperimental-Studien notwenig, von denen David Ρ Farrington (2006b) die wichtigsten vier zusammengestellt hat. Die vier Studien beschäftigen sich mit der natürlichen Geschichte der Entwicklung und dem Einfluss von Interventionen auf das Täterwerden: Bei der „Cambridge-Somerville Youth Study" (Boston/Mass.) erhielt die Experimentalgruppe der Jungen zwischen 10 und 15 Jahren sechs Jahre lang eine intensive individuelle Hilfe und Betreuung (McCord 1978). Nach einer Follow-Up Periode von dreißig Jahren stellte man die Unwirksamkeit des Vorbeugungsprogramms fest. Die Betreuung der Jungen erzeugte Abhängigkeit von Außenhilfe und eine hohe Erwartungshaltung gegenüber Mitmenschen, die in Versagungserlebnisse umschlugen, wenn keine Hilfe mehr zur Verfügung stand (vgl. H. J. Schneider 1993, 329-331). Bei der „Montreal Longitudinal-Experimental Study" ( Tremblay! Vitaro INaginiPagani!Séguin 2003) wurde ebenfalls eine Experimental- und eine Kontrollgruppe von Jungen zwischen 7 und 9 Jahren gebildet. Die Experimentalgruppe der Jungen bekam Fähigkeitstraining; ihre Eltern erhielten Erziehungstraining. Aufgrund jährlicher Nachuntersuchungen der Jungen zwischen ihrem 10. und 17. Lebensjahr kam man zu folgendem Schlüsselergebnis: Die meisten Jungen verminderten die Häufigkeit ihrer physischen Aggression, wenn sie älter wurden (zwischen 6 und 17 Jahren). Eine kleine Minderheit (4 %) fuhr allerdings mit ihrer Aggression fort. Diese Minderheit wurde vermehrt delinquent und kriminell. Das „Perry Pre-School Project" (Ypsilanti/MI) ist ein Vorschul-Erziehungsprogramm (SchweinhartlMontielZongpinglBarnettlBelfìeldlNores 2005; vgl. auch H.J. Schneider 2005b, 185). Die Intervention bestand in einem täglichen Vorschul-Programm der Kinder der Experimentalgruppe zwischen 3 und 4 Jahren. Ziele des Programms waren: die intellektuelle Stimulation, die Verstärkung kognitiven Denkens und Argumentierens und die Vorbereitung späterer schulischer Leistungen. Im Alter von 40 Jahren hatten 35 Prozent der 112 Teilnehmerinnen und Teilnehmer (von ursprünglich 123) weniger Verhaftungen als die Kontrollgruppe. Das „Nurse-Family Partnership Project" (Elmira/N.Y.) gründete man auf folgende Intervention: Vierhundert schwangere, unverheiratete junge Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status empfingen Hausbesuche von Schwestern während ihrer Schwangerschaft und während der ersten beiden Lebensjahre ihrer Kinder. Während der Hausbesuche berieten die Schwestern sie in Kindererziehung, in Kleinkind-Er14
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie nährung und -Entwicklung, in der Vermeidung von Drogenmissbrauch und in der Gestaltung ihres eigenen Lebenslaufs. Familienplanung, Ausbildung und berufliches Weiterkommen wurden erörtert. Eine Nachuntersuchung nach 15 Jahren ergab: Die Mütter der Experimentalgruppe hatten sich weniger wegen Kindesmissbrauchs und -Vernachlässigung zu verantworten. Die Kinder der Experimentalgruppe hatten weniger Verhaftungen als die Kinder der Kontrollgruppe (OldslKitzmanl Colei Robinson! SidoralLuckey !Henderson!Hanks! Bondy /Holmberg 2004). 5.3.2 Auf Beweis gegründete Frühpräventions-Programme Auf der Grundlage von Längsschnitt-Experimental-Studien haben David P. Farrington und Brandon C. Welsh (2007) die wichtigsten Frühpräventions-Programme zusammengestellt, die auf wissenschaftlichem Beweis und nicht nur auf Meinungen, Spekulationen und ideologischen Überzeugungen beruhen. Die systematischen und meta-analytischen Uberprüfungsstudien, die sie heranzogen, waren auf rigorose Bewertungsmethoden der Wirksamkeit kriminologischer Interventionen gerichtet (WelshIFarrington 2006). Die Auswahlkriterien, die Gründe, warum Überprüfer der von ihnen gesammelten Untersuchungen bestimmte Studien ein- und andere ausgeschlossen hatten, mussten z.B. explizit angegeben worden sein, um mögliche Vorurteile auszuschließen. Sie identifizierten Risiko-Schlüssel-Faktoren und empfahlen Präventionsmethoden, die diesen Schlüsselfaktoren entgegenwirken. Aufgrund prospektiver Längsschnittstudien aus Nordamerika, Großbritannien, Australien, Neuseeland und den skandinavischen Ländern entwarfen Farrington und Welsh (2007) ein Bild früher Risikofaktoren für Delinquenz und späteres kriminelles Verhalten. Die wichtigsten Persönlichkeitszüge, die Delinquenz und späteres kriminelles Verhalten vorhersagen, sind niedrige Intelligenz und Leistung, mangelndes Einfühlungsvermögen und Impulsivität. Die stärksten Risikofaktoren in der Familie sind umfängliche Familiengröße, unzulängliche elterliche Aufsicht, inkonsequente und zu harte Disziplin, Elternkonflikt und Familienzerrüttung. Im sozialen Umweltbereich sind Aufwachsen in einem Elternhaus mit niedrigem sozioökonomischen Status, Umgang mit delinquenten Freunden, Besuch von Schulen, die hoch mit Delinquenz belastet sind, und Leben in unterprivilegierten Gebieten am stärksten mit Delinquenz und späterem kriminellen Verhalten verbunden. Auf der Grundlage dieser Risikofaktoren befürworteten Farrington und Welsh (2007) die folgenden vier Vorbeugungsmethoden: - Die Hausbesuche von Schwestern bei schwangeren, unverheirateten jungen Frauen mit niedrigem sozioökonomischen Status während ihrer Schwangerschaft und während der ersten beiden Lebensjahre ihrer Kinder hatten die Verbesserung des Verlaufs der Schwangerschaft, der Kinderbetreuung und -pflege und der persönlichen Lebenslaufentwicklung der Mütter zum Ziele. Die Effektstärke belief sich auf 12 Prozent Verminderung antisozialen und delinquenten Verhaltens der Kinder. - Vorschulische intellektuelle Bereicherungsprogramme verbessern die kognitiven Fähigkeiten der Kinder, fördern ihre soziale und emotionale Entwicklung und bereiten sie auf die Schule vor. Sie haben eine Effektstärke von 16 Prozent (DelinHans Joachim
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Einleitung quenzverminderung). Eine Kosten-Nutzen-Analyse ergab für jeden ausgegebenen US-Dollar eine Ersparnis von 17 US-Dollar. - Beim Elternerziehungs-Training lernen die Eltern wünschbares Verhalten ihrer Kinder positiv zu verstärken, nicht-punitive Disziplin-Praktiken beständig anzuwenden und Familienkonflikte und -krisen zu bewältigen. Elternerziehungs-Training ist effektiv: Es vermindert das antisoziale und delinquente Verhalten der Kinder in 20 Prozent der Fälle. - Den Lehrern wird im Lehrertrainung beigebracht, klare Instruktionen und Erwartungen an die Kinder aufzustellen, die Kinder für wünschbares Verhalten zu belohnen und sie mit prosozialen Methoden der Problemlösung vertraut zu machen. 5.4
Das différentielle Behandlungs-Modell
Die Philosophie und Praktik der Verurteilung und des Strafvollzugs haben sich in den letzten dreißig Jahren dramatisch verändert. Während der ersten sieben Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verfolgte man das Prinzip der Rehabilitation. In den 70er Jahren geriet das Straftäter-Behandlungs-Modell in die Krise. Die Behandlungs-Ideologie, die davon ausging, jede Art von Straftäter-Behandlung sei erfolgversprechend, wurde durch eine Evaluation in Frage gestellt. Robert Martinson (1976) und seine Mitarbeiter (LiptonlMartinson! Wilks 1975) hatten 231 Evaluationen von Behandlungsprogrammen untersucht, die von 1945 bis 1967 durchgeführt worden waren. Auf der Grundlage dieser Evaluationen kam Martinson zu dem Schluss, dass mit einigen wenigen isolierten Ausnahmen die Behandlungs-Bemühungen, über die bis jetzt berichtet worden war, keine nennenswerten Wirkungen auf die Straftäter-Rückfalligkeit hatten. Ein Panel der „Nationalen Akademie der Wissenschaften" in Washington D.C. (Sechrestl White!Brown 1979) überprüfte die Ergebnisse und stimmte Martinson zu. Seine Erkenntnisse hatten negative und positive Folgen. Zu den negativen Folgen gehört, dass die Verurteilungspraktiken nunmehr das Verbrechens-Kontroll-Modell zugrunde legten, das das Unfähigmachen (Incapacitation) für die Verbrechens-Verminderung zum Ziel hatte. Das Konzept des Unfähigmachens ist einfach: Solange Straftäter eingesperrt sind, können sie keine Rechtsbrüche außerhalb der Strafanstalt begehen. Die Vertreter der selektiven Strategie des Unfähigmachens stützen sich auf das Forschungsergebnis, nach dem eine kleine Minderheit von Karriere-Kriminellen (6 Prozent) für eine unverhältnismäßig große Zahl von Verhaftungen (52 Prozent) verantwortlich sind (Wolfgang!Figlio!Sellin 1972). Eine große Anzahl von Verbrechen kann verhindert werden, wenn diese Karriere-Kriminellen erkannt und eingesperrt werden. Martinsons Erkenntnisse hatten aber nicht nur diese negativen Ergebnisse. Er trug ganz wesentlich zu einer Differenzierung der Behandlungs-Methoden und zu einer Schärfung des Methoden-Bewusstseins bei. Die Behandlungs-Programme, die er untersucht hatte, besaßen nämlich zum großen Teil keine theoretische und empirische Grundlage oder waren von solchen Grundlagen in die Praxis in unzulänglicher Weise umgesetzt worden (Palmer 1975; 1992). Man erkannte weiterhin, dass es darum ging, welche Methoden am besten für welchen Tätertyp, unter welchen Bedingungen und 16
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie in welchem sozialen Kontext wirken. Eine Differenzierung der Wirkung der Behandlungs-Programme wurde eingeleitet, die drei Prinzipien zugrunde legte: - Für eine Evaluation kommen nur solche Behandlungs-Programme in Frage, die in methodologisch einwandfreier Weise konzipiert und durchgeführt worden sind. - Nicht jedes Behandlungs-Programm ist effektiv. - Nicht alle effektiven Behandlungs-Methoden haben dieselbe Effektstärke. Donald Arthur Andrews und James Bontà (2003) entdeckten das Konzept der dynamischen, kriminogenen Bedürfnisse. Solche Bedürfnisse sind Faktoren, die direkt mit dem kriminellen Verhalten verbunden sind, die also kriminogen sind, und die durch Behandlung geändert werden können, die also dynamisch sind. Diese Faktoren sollten Ziele der Behandlung sein. Eine Evaluation sollte in zwei Schritten vor sich gehen: - Zunächst sollten alle Einzelstudien zum Zwecke der Qualitätsbeurteilung gesammelt werden. Die Einbeziehungs-Kriterien aller Einzelstudien in die Evaluation sollten offengelegt werden. - Sodann sollte eine Qualitäts-Beurteilung aller Einzelstudien aufgrund einer FünfStufen-Skala (Farrington/GottfredsonlSherman/ Welsh 2002) vorgenommen werden. Der Sherman-Report, der die Effektivität von Vorbeugungs- und BehandlungsProgrammen untersucht, ist eine solche Evaluation in zwei Schritten (Sherman/GottfredsonlMaKenzie/Eck/Reuter/Bushway 1997). Die bisherige Evaluationsforschung, die sich auf die beweisbasierte Behandlung stützt, ist zu folgendem Urteil gekommen: Kognitiv-behavioristische Ansätze, die auf die kognitiv-soziale Lerntheorie gegründet sind, haben sich als am wirksamsten erwiesen. Kriminelles Verhalten ist erlernt und kann durch motivierte Rechtsbrecher wieder „verlernt" werden (BartollBartol 2004, 373; 2005, 552). 5.5
Auf Beweis gegründete Behandlungsprogramme
In den USA ist man keineswegs zum Resozialisierungs- und Behandlungs-Modell zurückgekehrt. Allerdings ist die Kriminalpolitik in den Einzelstaaten der USA sehr bunt und kann eher als eine „schizoide Kombination therapeutischer und punitiver Ansätze" (Gibbons 1992, 18) verstanden werden. Zwar war der Slogan: Alles nützt nichts! eine Übertreibung. Sie war aber nicht allzu groß. Denn neuere Meta-Analysen haben lediglich eine mäßige Rückfallverminderung durch Behandlung festgestellt. Wenn man alle Behandlungs-Programme berücksichtigt, so liegt die Rückfallverminderung bei 10 bis 12 Prozent (Palmer 1992, 158). Nimmt man nur die erfolgreichen Resozialisierungs-Projekte, so steigt die Rückfallreduzierung auf bescheidene 17 bis 22 Prozent (Palmer 1994, 45). Erziehungs-Programme im Strafvollzug, die die sozialen Kognitionen der Strafgefangenen, ihre Fähigkeiten der Problemlösung und ihren Glauben an ihre Geschicklichkeit der Ereigniskontrolle verbessern, können zukünftiges Täterwerden vermindern. Berufsausbildung kann den Rückfall um 11 Prozent reduzieren (MacKenzie 2006, 94). A m wirksamsten ist kognitive Verhaltenstherapie: Wandel im Verhalten wird dadurch erreicht, dass Individuen ihre Wahrnehmungen, ihre Überlegungen und ihr Denken ändern. Kognitiver Behaviorismus nimmt an, dass
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Einleitung Erkenntnisse Verhalten beeinflussen. Dysfunktionale Verhaltensweisen werden durch Wandlungen in den Einstellungen, Glaubenssätzen und Denkprozessen der Menschen korrigiert. In der Therapie werden den Strafgefangenen ihre schlecht angepassten Denkprozesse bewusst gemacht, und sie werden ermutigt, ihre Denkweisen umzugestalten. Man erwartet, dass ihre Wandlungen im Denken ihre schlecht angepassten Verhaltensweisen ändern werden. Es gibt drei Typen kognitiv-behavioristischer Therapie: Eine Behandlung gleicht die kognitiven Defizite aus. Eine andere Behandlung richtet sich gegen Verzögerungen in der moralischen Entwicklung. Eine dritte Behandlung geht fehlerhafte Denkmuster an (MacKenzie 2006, 112, 128). Alle drei Behandlungsarten sind effektiv. Sexualstraftäter haben eine hohe Rückfallrate: 50 Prozent werden rückfällig, und 54 Prozent werden wegen Sexualdelikten wieder verurteilt (MacKenzie 2006, 138). Der kognitiv-behavioristischen Behandlung geht es darum, den Sexualstraftätern die geistigen Fähigkeiten zu vermitteln, die notwendig sind, um ihre eigenen sexuellen Fehlverhaltensweisen zu kontrollieren. Diese Behandlungsform spiegelt die Philosophie wider, dass Sexualstraftaten auf einer Wahl des Täters beruhen, über die er oder sie kognitive Kontrolle hat - wenn auch vielleicht nur begrenzte - und die das kognitiv-behavioristische Theorie-Modell reflektiert (MacKenzie 2006, 148). Das RückfallVerhütungs-Training („Relapse Prevention"), das Erlernen von RückfallverhütungsStrategien und -Konzepten, ist zu einem integrierten Bestandteil des kognitiven Verhaltenstrainings geworden. Es ist ein Selbst-Steuerungs-Modell zur Erhaltung des Trainings-Gewinns und zur Verbesserung der äußeren Überwachung des Sexualstraftäters. Allerdings setzt es voraus, dass der Rechtsbrecher seine Tat nicht leugnet, sondern dass er die volle Verantwortung für sein kriminelles Verhalten übernimmt. Bei der Rückfallverhütung wird dem Sexualstraftäter ein Problem-Lösungs-Ansatz nahegebracht. Man stattet ihn mit Methoden aus, die es ihm erlauben, Warnzeichen und Risikosituationen zu erkennen und zu analysieren sowie Strategien zu entwickeln, solche Situationen entweder zu vermeiden oder mit ihnen fertig zu werden (vgl. hierzu näher H. J. Schneider 1998, 26-29). Behandlungsprogramme, die bei Sexualstraftätern kognitiv-behavioristische Therapie (mit Rückfall-Verhütungs-Training) verwenden, sind bei der Rückfallverminderung wirksam (MacKenzie 2006,163). Mehrsystemische Therapie besteht aus Familientherapie, aus behavioristischem Elterntraining und aus kognitiv-behavioristischer Therapie der Kinder und Jugendlichen. Sie ist bei der Rückfallverminderung der Jugenddelinquenz effektiv (MacKenzie 2006, 185). 5.6
Restaurative Justiz
Trotz vieler Einzelschritte in die richtige Richtung (SchöchlJehle 2004, 415-519) ist die opferorientierte Kriminalpolitik im europäischen Raum bisher nicht sehr erfolgreich gewesen. Die Rechtswirklichkeit ist nicht nachhaltig beeinflusst worden. Die Ursache hierfür liegt darin, dass opferorientierte Normen auf die traditionelle täterorientierte Strafrechts- und Strafprozess-Systematik „aufgesetzt" worden sind, so dass eine durchgreifende Akzeptanz der Opfer-Normen durch die Kriminal-Justiz ausbleiben musste. Auf internationaler Ebene will man dies jetzt mit dem restaurati18
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Fortschritte der internationalen, der europäischen und der deutschsprachigen Kriminologie ven Paradigma ändern. Retributive (vergeltungs- und schuldorientierte) und rehabilitative (behandlungsorientierte) Paradigmen sind eindimensional täterorientiert. Sie stellen es abstrakt auf die Gesetzes- und Rechtsguts-Verletzung (Staat-Täter-Konflikt) ab und weisen Täter und Opfer passive Rollen zu. Der Täter wird bestraft und/ oder behandelt, das Opfer wird als Zeuge/Zeugin instrumentalisiert. Das restaurative Paradigma, das die „Vereinten Nationen" in ihrer „Wiener Erklärung" (April 2000) 1 und die Europäische Union in ihrem Rahmenbeschluss vom 15.03.2001 2 befürworten, ist dreidimensional. Es berücksichtigt konkrete Opfer-, Täter- und Gemeinschaftsschäden, ist gegenwarts- und zukunftsbezogen und gesteht Opfer und Täter aktive Rollen zu (Ness/Strong 2002). Sie sollen Rechtssubjekte in einem Mediationsverfahren werden, in dem Opfer, Täter und ihre Obhutsgemeinschaften mit Hilfe eines Mediators (Vermittlers) ihre Konflikte selbst zu lösen versuchen. Experimente zu einem solchen Ausgleichs- und Schlichtungsverfahren in Australien (Strang 2002) haben sich bewährt.
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Hans Joachim Schneider
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1
Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft
1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben G Ü N T H E R KAISER
Inhaltsübersicht 1 Ausgangspunkte und Bedeutung der Fragestellung 1.1 Kriminologischer Richtungsstreit und Sicherung des Wissens 1.2 Der kriminologische Forschungsgegenstand im Wandel 1.3 D a s Selbstverständnis der gegenwärtigen Kriminologie 2 Der Begriff der Kriminologie im Verständnis der kriminologischen Hauptströmung . 2.1 Dimensionen des kriminologischen Forschungsgegenstandes 2.2 Begriffsbestimmungen der kriminologischen Lehrbücher 2.3 Gemeinsamkeiten und Besonderheiten 3 Kritische Kriminologie einschl. postmoderner und feministischer Perspektiven . . . . 4 Aufgaben der Kriminologie 4.1 Erkenntnissteigerung 4.2 Sammlung und Dokumentation kriminologisch relevanter Daten 4.3 Anwendungsorientierung 5 Ausblick
1
Ausgangspunkte und Bedeutung der Fragestellung
1.1
Kriminologischer Richtungsstreit und Sicherung des Wissens
25 25 27 28 28 28 30 32 33 37 37 41 42 46
Am Anfang steht die Frage: Was heißt und was versteht man unter Kriminologie? Vereinfacht und verkürzt ausgedrückt meint Kriminologie die Wissenschaft vom Verbrechen. Obwohl das Nachdenken über Verbrechen und Strafe weit zurückreicht und die Menschheit wohl seit jeher begleitet, hat sich erst im Laufe des 19. Jh. ein Diskurs gebildet, der die Überlieferung sowie die vielfaltigen Wahrnehmungen und weithin disparaten Erzählmuster zur polizeilichen und forensischen Praxis aufgegriffen und zu einem Paradigma, dem des Verbrechers (L'uomo Deliquente; Lombroso 1876, 1887), verdichtet hat (s. dazu Schönert 1991, 316f.; Wetzeil 2000; Becker 2001). Die Wortbildung „Kriminologie" als Lehre vom Verbrechen, abgeleitet vom lateinischen crimen (dt.: Verbrechen), wird dem französischen Anthropologen Topinard (1879) zugeschrieben (vgl. Mannheim 1960, 1). Der italienische Jurist Garofalo benutzte den Günther Kaiser
25
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Begriff erstmals zur Kennzeichnung seines Buches „Criminologia" (1885). Diese Bezeichnung hat sich allgemein durchgesetzt, auch wenn sich die damit verbindenden Inhalte nicht stets als deckungsgleich erweisen. Neben dem Wort Kriminologie begegnen wir ferner den Begriffen Kriminalpsychologie (seit 1792), Kriminalsoziologie (seit 1882) und Kriminalbiologie (seit 1883) als sog. Bindestrich-Kriminologien. Mitunter werden diese Wortverbindungen ähnlich wie neuerdings die Strafrechtssoziologie gleichsinnig mit Kriminologie gebraucht. Derartige Verknüpfungen beziehen sich jedoch streng genommen nur auf einzelne Aspekte oder Erkenntnisgegenstände der Kriminologie. Daher leuchtet es ein, wenn dem Ruf nach rationaler Kriminalpolitik, begleitet von der Empfehlung nach besserer kriminologischer Fundierung der strafrechtspolitischen Entscheidungen, nicht selten die Rückfrage begegnet, „welche Kriminologie" denn gemeint sei (so etwa Hassemer, 2000, 26, bezogen auf das Strafrecht). Solche wohl mehr als Vergewisserung denn als Einwand zu verstehende Entgegnung erscheint weniger süffisant als sie klingt, denn sie erinnert zunächst an die Problematik, dass die Wissenschaft dem Wandel unterliegt und mit vielen Stimmen spricht, die unterschiedliche Deutungsmuster anbieten. Überdies gemahnt sie in ihrer Skepsis im Kern an die Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?", freilich mit all ihren Implikationen, hier bezogen auf das gesicherte Wissen der Kriminologie. Man kann aber aufgrund etwaigen Zweifels bildlich gesprochen nicht seine „Hände in Unschuld waschen", um die Kriminologie vollständig zu ignorieren, und nahezu in demselben Atemzug am Postulat der „gesamten Strafrechtswissenschaft" festhalten. Ein solider Fundus gesicherter kriminologischer Erfahrung, gelegentlich auch als Orientierungs- oder Herrschaftswissen bezeichnet, ist allerdings theorie-, methoden- und konsensabhängig. Vor allem deshalb werden seine Erarbeitung und Verfügbarkeit mitunter relativiert, ja prinzipiell verneint, so etwa von dekonstruktionistischen Positionen und von postmodernen Spielarten kritischer Kriminologie (s. P.-A. Albrecht 2002, 56f., 107; skeptisch, obschon von anderer Position aus auch Bock 2000, 18, 92, 129, 133; krit. Scheerer 2001, 244ff.; Vorbehalte äußern ferner Eisenberg 2000, 26ff. und Kunz 2001, 27f.; zuversichtlich wiederum Killias 2002, 35; für mögliche Erarbeitung eines festen Bestandes an gesichertem empirischen Wissen deutlich Meier 2003, 11, 305; unentschieden Schwind 2004, 7f., obwohl gesichertes Wissen implizit voraussetzend). Schon diese wenigen Aspekte und Stimmen zur aktuellen Diskussion rechtfertigen es, nach Begriff und Aufgaben der Kriminologie zu fragen und sie zu erörtern. Dies gilt umso mehr, wenn es zutrifft, dass „die Kriminologie der Gegenwart ... ein äußerst buntes Bild" mit disparaten Wissensbeständen bietet (Bock 2000, 20). Allerdings ist der Variantenreichtum deutschsprachiger Kriminologie noch recht bescheiden, verglichen mit dem fast uferlos anmutenden Spektrum angloamerikanischer Kriminologie (s. Adler/ Mueller!Laufer 2004, 4ff.; Conklin 2004; Siegel 2003, 7ff; Schneider 2001, 6; 2003, 313, 317; zu Kontinuität und Wandel Laub 2004, 5ff; ferner Kaiser 1998, 539-563). Denn hierzulande erschöpft er sich im Wesentlichen in der traditionell-interdisziplinären Kriminologie als der Hauptströmung in Unterscheidung zur kritischen Kriminologie als der Minderheit der Kriminologen wie überall auf der Welt (vgl. Schneider 2003, 464ff, 474; 2004, 503ff.). Demgemäß vermögen die Kapazität und das Spektrum kri-
26
Günther
Kaiser
1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben minologischen Forschens im deutschsprachigen Raum (dazu krit. in unterschiedlicher Perspektive Schneider 2004, 503ff. u. Schumann 2004, 604, 608) es mit der überquellenden Fülle von Facetten und entsprechendem Potenzial im angloamerikanischen Bereich nicht aufzunehmen. Denn dort finden sich neben dem sog. Mainstream der Kriminologie (post-)kritische, postmoderne, feministische, constitutive, cultural, peacemaking, (left) realistic, convict-radical Richtungen (s. den Überblick von Rüssel 2002, 113ff.). Demgegenüber wird man die Überlegungen zur criminology of the "alien other", of the "self" oder "everyday life", ganz abgesehen von der administrative oder managerial criminology und der „criminology of control" (Garland 2001), eher der Hauptströmung zurechnen. Nicht selten lassen die „Bausteine" zu einer neu postulierten Richtung wie z.B. der postmodernen Kriminologie (vgl. etwa Waltoni Young 1998, 263fT.; Bähr 1999, 1 lOff.) bloß eine konzeptuelle Ruine zurück.
1.2
Der kriminologische Forschungsgegenstand im Wandel
Zwar zählt Kriminalität zu den festen Alltagserfahrungen unseres Lebens. Mehrere Berufsfelder und wissenschaftliche Disziplinen widmen sich ihr und ihren Folgen. Kriminologie, Kriminalrecht und Kriminalistik leiten gar Namen und Existenzberechtigung davon her. Darüber hinaus kennt auch wie bereits angedeutet die deutschsprachige Kriminologie unterschiedliche Akzentuierungen und Schwerpunkte. Dies ist angesichts divergierender Positionen und Forschungsinteressen, indiziert durch zahlreiche Lehrstühle, mehrere Forschungseinrichtungen, Fachverbände und Arbeitskreise, verschiedene Zeitschriften und mehr als zehn Lehrbücher in den letzten 30 Jahren - ganz abgesehen vom sonstigen Fachschrifttum - auch kaum verwunderlich. Wie jedoch die Analyse der Lehr- und Forschungsliteratur zeigt, sind die Aufarbeitung und Systematisierung der Grundfragen im Sinne einer Kanonisierung des kriminologischen Grundwissens weit fortgeschritten (vgl. das Examens-Repetitorium von Danwitz 2004, 2ff.). Entsprechend liegen die Konzepte, Perspektiven und das Selbstverständnis der Kriminologie dichter beieinander, als es zuweilen den Anschein hat oder gelegentlich um der abweichenden Profilierung willen als „Mangel an Systematik" behauptet wird. So bilden weder die divergierenden Verständnisebenen der Kriminologen (a.A. Eisenberg 2000, 2f.) noch die Existenz unterschiedlicher Richtungen, Fachgesellschaften und Interessenverbände deutschsprachiger Kriminologie eindeutige Indikatoren für die „fehlende Homogenität der Disziplin" (so aber Meier 2003, 29). Denn wenn es um die Beantwortung konkreter Forschungsfragen geht, nähern sich die verschiedenen Forschungsrichtungen einander an. „Der schroffe Gegensatz" verliert an Relevanz (Kunz 2001, 58). Trotz aller Kontroversen und verschiedenen Verständnisebenen reicht die gemeinsame Schnittmenge kriminologischen Wissens aus, um wichtige, obschon keinesfalls sämtliche Fragen zum Komplex des Verbrechens und seiner Kontrolle überzeugend zu beantworten. Eine „allgemeine theoretische Grundlage, ein umfassendes Modell" ist dazu weder nötig noch möglich. Zwar wird gelegentlich die mangelhafte Leistung und Einbettung deutschsprachiger Forschung in die internationale Kriminologie begründet gerügt (Schneider 2004, 503; Schumann 2004, 608). Doch beruht dies weniger auf der defizitären „Anschlussfahigkeit kriminologischer Erkenntnisse und Sozialwissenschaften" oder auf einer fach-
Giinther Kaiser
27
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft spezifischen „déformation professionelle" als vielmehr auf ideologischem Streit und der begrenzten Forschungskapazität. Konnte und musste man herkömmlich bis in die 80er Jahre hinein noch zwischen engen und weiten Auffassungen des Gegenstandes kriminologischen Forschens unterscheiden, also zwischen traditionell enger Täterorientierung einerseits sowie der Verknüpfung von ätiologischem Ansatz (Ursachenforschung) und Kontrollparadigma andererseits, so hat sich nunmehr das Meinungsbild über Inhalt und Gegenstand, d.h. das Selbstverständnis der Kriminologie, deutlich gewandelt und zugleich gefestigt (s. dazu auch die auf die Monatsschrift für Kriminologie bezogene Entwicklungs- und Inhaltsanalyse von LamnekIKöteles 2004, 192ff., 219f.). 1.3
Das Selbstverständnis der gegenwärtigen Kriminologie
Inzwischen nämlich hat sich die ehemals weite Auffassung des kriminologischen Forschungsgegenstandes (kennzeichnend dafür die prägnante Kurzformel nach SutherlandlCressey 1978, 3: "The processes of making laws, of breaking laws, and of reacting toward the breaking of laws"; übereinstimmend AdlerIMuellerILauf er 2004, 1) durch Einbeziehung von Viktimologie, Prävention und informeller Sozialkontrolle ergänzt, erneuert und als herrschende Meinung eindeutig durchgesetzt. Dennoch erweist sich die Behauptung, die herkömmliche Täterorientierung sei am Ende (so etwa P.-A. Albrecht 2000, 56f.; dazu krit. Walter StV 2001, 713) im Hinblick auf die fortbestehenden forensischen und allgemeinen Sicherheitsbedürfnisse als vorschnell. Dagegen spricht schon die nicht erlahmende Kritik. Denn jene Annahme entspricht weder dem Stand gegenwärtiger Reflexion noch dem praktischen Bedarf. In modifizierter und theoretisch vertiefter Form lebt die Täterforschung fort - sei es im Bereich der Erklärung, jenem der Prognose oder der Behandlung - , auch wenn man sie in bewusster Distanzierung zur alten Psychopathologie nicht immer beim Namen nennt (vgl. Bock, 2000, 20, 146ff.; Kunz 2001, 6, 12; Schneider 2001, 61, 184ff, 242ÍT., 300f., 317; Killias 2002, 1, 199ff.; Meier 2003, 1, 138ff.; Schwind 2004, 8, 177ff.). Wenden wir uns der Hauptströmung und den bedeutendsten zeitgenössischen Perspektiven näher zu:
2
Der Begriff der Kriminologie im Verständnis der kriminologischen Hauptströmung
2.1
Dimensionen des kriminologischen Forschungsgegenstandes
Trotz Auffassungsunterschieden im Einzelnen, verschiedenen Schwerpunktbildungen und Forschungsinteressen lässt sich die übergreifende Hauptströmung in der Kriminologie deutlich erkennen. Sie versteht sich seit Mitte der 60er Jahre durchweg als autonome Erfahrungswissenschaft mit interdisziplinärem Zuschnitt. Sie umfasst Täterwie Opferforschung und ist ebenso theorie- wie praxisorientiert. Uberwiegend geht sie ähnlich wie die kritische Richtung vom Konstruktcharakter des Verbrechensbegriffs und weitgehend auch der Kriminalität aus (vgl. Meier 2003, 9; von Danwitz 2004, 6f.; Sessar 2004, 32ff.; krit. Schneider 2004, 510f.), obwohl sie sich nicht aus28
Günther Kaiser
1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben drücklich als „sozial konstruktivistisch" begreift (dazu lehrreich Scheerer 2001, 243ff.). Dabei bezieht sie neben der formellen auch die informelle Sozialkontrolle einschließlich etwaiger Alternativen zum Strafrecht und zu förmlichen Kriminalsanktionen mit in ihr Untersuchungsspektrum ein. Ihr Bemühen um Verwissenschaftlichung und Humanisierung der Kriminaljustiz einschließlich der polizeilichen Strafverfolgung wird zwar mitunter als Theorielosigkeit, Reflexivitätsmangel und Paktierung mit den Mächtigen i.S.d. Herrschaftsstabilisierung missverstanden oder gar ihr Streben nach „Praxisrelevanz" bewusst als „Praxisunterwerfung" diffamiert (so etwa Sack 1978, 210, 224; Albrecht 2002, 105; s. dazu auch Kunz 2001, 50, 36, 43fF.), jedoch nicht selten in polemischer Absicht und in der Sache durchweg unbegründet (krit. Kaiser 1979, 50ff.; 2001, 161ÍT.). Denn ohne angewandte Kriminologie ist weder eine weitere rationale Durchdringung noch empirisch fundierte konstruktive Kritik von Strafrecht, Strafjustiz und Kriminalpolitik möglich und vorstellbar, vorausgesetzt freilich, dass man dies überhaupt als Ziel und Aufgabe der Kriminologie begreift. Anders motivierte und begründete Einwände offenbaren denn auch alsbald die Dürftigkeit und geringe Überzeugungskraft. Dies hat sich jüngst im Streitgespräch über die sogenannte Straflust (Punitivität) gezeigt (vgl. dazu den Sammelband von Lautmann u.a. 2004). Wie die aktuelle Analyse des Fachschrifttums und der Themenkataloge internationaler Fachkongresse (dazu Schneider 2003, 31 Off. 464ff.) erkennen lässt, liegen die gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsschwerpunkte in den Problemfeldern von Präventions- und Sanktionsforschung, insbes. zu Diversion, Täter-Opfer-Ausgleich, elektronischer Überwachung durch Fußfessel und Videos, ferner im Bereich der Forschungsfragen zur Entwicklungskriminologie (vgl. Schneider 2001, 6Iff.; Schumann 2003; StellylThomas 2001; 2004) und schließlich zur Wahrnehmung und Konstruktion von Kriminalität, hier insbesondere zur Korruption sowie zum illegalen Drogenmissbrauch und organisierten Verbrechen (s. Meier 2003, 28f.; Kinzig 2004). Dabei dienen objektivierende Methoden von Dokumentenanalyse und Umfrageforschung, insbes. Opferbefragung, ebenso wie subjektiv gefärbte Messverfahren durch die Einbeziehung von Einstellungen, Alltagswissen (vgl. Walter u.a. 2004) und Verbrechensbildern (images of crime; H.-J. Albrecht u.a. 2001; 2004; ferner Schönert 1991) in gleicher Weise dazu, die Kriminalität als Gegenstand zu erschließen. Denn Konzept, Einschätzung und Verständnis von dem, was Verbrechen oder Kriminalität als schwerste Ausprägungen des Unrechts meinen, decken sich in Staat und Gesellschaft nicht. Obwohl als Summierung von Ereignissen Bestandteil der Wirklichkeit, ist Kriminalität keine Sache, sondern als bewertende Einschätzung ein Konstrukt (Sessar 2004, 32ff.) und als solches in verschiedener Hinsicht präg- und verwendbar (krit. gegenüber einem realitätsignoranten Konstruktionismus Schneider 2004, 294). Gesetzliche Definition, Perzeption, Erfahrung und selektive Wahrnehmung gravierender Sozialschädlichkeit sind anscheinend recht verschieden. Die Suche nach einem der rein formellen Legaldefinition überlegenen materiellen Verbrechensbegriff beschäftigt daher die Kriminologie von Anfang an, unabhängig von den vergleichbaren Anstrengungen der Strafrechtsdogmatik um die Rechtsgutsbestimmung (vgl. Kaiser 1997, 122ÍT., 130fT.). Da sich aber darin weder die wissenschaftlichen Bemühungen noch die
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alltäglichen Vorstellungen der Bürger erschöpfen, steht der „objektiven" die „subjektive Kriminalität" gegenüber, ganz abgesehen von der sog. „Medienkriminalität" (vgl. Walter 1999, 348ff.; Schneider 2001, 9f., 40; Kaiser 2002, 30ff.). Von der vermuteten Relevanz derartiger Unterschiede lebt denn auch die Frage nach den Alltagsvorstellungen von Kriminalität. Durch sie gewinnt sie ihre Antriebs- und Schubkraft, ohne deshalb schon ein alternatives Erkenntnismittel zu versprechen. Überdies dient Kriminalität im Hinblick auf ihren Konstruktcharakter gelegentlich als „Kampfvokabel", insofern sich politische, wissenschaftliche und alltägliche Vorstellungen in ihr niederschlagen und für spezifische Ziele und Zwecke einsetzen lassen. Die Befundlage erweckt daher den Eindruck, als mangele es dem Begriff der Kriminalität an Eindeutigkeit. Seine Komplexität ist geradezu sprichwörtlich, wie immer man sich ihm zu nähern sucht. Gleichwohl ist die Übereinstimmung in Vorstellung und Beschreibung der relevanten Phänomene und Tatsachen selbst international größer, als man nach dem Streit über den Konstruktcharakter des Verbrechens vermuten sollte, so dass die Kontroversen auch in interkultureller Perspektive weithin verblassen. Auch wenn man sich auf die Hauptströmung der Kriminologie beschränkt, erscheint es um der Orientierung willen hilfreich, von einzelnen Definitionen auszugehen, mit denen Kriminologen ihre Disziplin zu bestimmen pflegen. Denn eine einheitlich verbindliche Begriffsbestimmung gibt es nicht, weder im Inland noch im Ausland. 2.2
Begriffsbestimmungen der kriminologischen Lehrbücher
Als Indikatoren der Hauptströmung deutschsprachiger Kriminologie mögen die Definitionen der neuesten Lehrbücher dienen. Sie sind in besonderem Maße geeignet, das heutige Selbstverständnis zu Begriff und Aufgaben der Kriminologie zu veranschaulichen. Denn die Lehrbuchautoren versuchen aus der weithin strukturlosen Informationsfülle die für das Fachgebiet relevant gehaltenen Befunde und Einsichten auszuwählen, zu ordnen, zu integrieren und für den Transfer aufzubereiten (dazu etwa Garland 1997, 21): Nach der Auflassung Michael Bocks (2000, 20, Rz. 42) ist die Kriminologie trotz der strafrechtlichen Vorformung ihres Gegenstandsbereiches jedoch nicht an dem Bruch der strafrechtlichen Normen als solchem interessiert. Vielmehr geht es um „die erfahrungswissenschaftliche Erforschung der Persönlichkeit des Täters und seiner sozialen Bezüge sowie ggf. des Opfers, der strafrechtlichen Institutionen und der Wirkungen etwaiger Interventionen (oder ihres Unterlassens). Die Normbezogenheit des Verbrechens ändert daher nichts daran, dass es in der Kriminologie als ein Gegenstand der sozialen Wirklichkeit erforscht wird, gegenüber dem die Kriminologie als Erfahrungswissenschaft an das Postulat der Werturteilsfreiheit gebunden ist". Ähnlich hatte bereits Hans Göppinger (1997, Iff.) die Kriminologie als eine selbstständige, interdisziplinäre Erfahrungswissenschaft begriffen, die „sich mit den im menschlichen und gesellschaftlichen Bereich liegenden Umständen, die mit dem Zustandekommen, der Begehung, den Folgen und der Verhinderung von Straftaten sowie mit der Behandlung von straffälligen Zusammenhängen" befasst. Den Kriminologen interessiert alles, was mit der Persönlichkeit der Verbrecher und ihren Verhältnissen in Verbindung mit ihren von der Rechtsordnung bzw. Sozialordnung missbilligten Verhaltensweisen zusammenhängt. Hierzu bedarf es neben der Erfassung gegenwärtiger und zurückliegender Fakten auch einer weiteren Beobachtung und Untersuchung nach der Tat, nach der Verurteilung und
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben der Wiederteilnahme am sozialen Leben. Insofern erstreckt sich das Forschungsgebiet der Kriminologie auf den Strafvollzug und die Zeit danach. Ulrich Eisenberg (2000, Iff.) rückt vor allem die empirische Betrachtung der „Geschehensabläufe in strafrechtlichen Zusammenhängen" in den Blickpunkt. Dabei reicht die Konzeption, die trotz ihrer abstrakten Fassung auch Täter- und Opferaspekte einschließt, von der Gesetzgebung bis zum Strafvollzug. Nach Martin Killias (2002, 1) gehört die moderne Kriminologie, obwohl Sozialwissenschaft, zu den Kriminalwissenschaften. „Gemeinsam ist diesen der Gegenstand, nämlich das Verbrechen, der Täter und die gesellschaftliche Reaktion auf die Tat und gegenüber dem Täter". Sie untersucht „die Ursachen der Straftat ebenso ... wie die Erscheinungsformen und Ursachen der sozialen Reaktion auf Kriminalität". Zwar werden in diesem Zusammenhang Opfer- und Präventionsaspekte nicht explizit genannt, jedoch im Text, sei es im Zusammenhang demografischer Variablen oder sei es im Kontext der Analyse von Reaktionen auf Kriminalität mitbehandelt. Joseph Kürzinger (1996, 20) versteht mit der herrschenden Meinung als Gegenstand der Kriminologie nicht nur das Verbrechen, sondern alles negativ abweichende Sozialverhalten, aber auch die „strafrechtliche Kontrolle des Verbrechens" (1996, 14), die insbes. eine empirische Untersuchung zum polizeilichen Reaktionsverhalten unterstreicht. Nach Karl-Ludwig Kunz (2001, 5) umfasst „der kriminologische Forschungsgegenstand die gesellschaftlich, vor allem rechtlich, als .kriminell' ausgewiesenen Verhaltensweisen, die Personen, die sich dergestalt verhalten oder denen solches Verhalten zugeschrieben wird, und den Prozess gesellschaftlicher, vor allem rechtlicher, Zuschreibung und Kontrolle dieses Verhaltens (.Kriminalisierungsprozess')". Danach wird das Verbrechensopfer zwar nicht genannt, geschweige besonders hervorgehoben, jedoch in anderen Zusammenhängen miterörtert (2001, 65). Nach Bernd-Dieter Meier (2003, 2) ist die Kriminologie „diejenige Wissenschaft, die sich mit Kriminalität als einem sozialen Phänomen beschäftigt, mit den Hintergründen von Straftaten, den Folgen, die das strafbare Verhalten für das Opfer und die Gesellschaft hat, sowie mit der Art und Weise, in der die staatlichen Organe auf das Bekanntwerden strafbarer Handlungen reagieren. Kriminologie ist eine empirische, an der systematischen Erforschung der tatsächlichen Gegebenheiten orientierte Wissenschaft. Sie verfolgt einen interdisziplinären Ansatz ... Bezugspunkt bei allen Fragestellungen ist die Straftat, das Verbrechen". Insofern sich Meier strikt auf den strafrechtlichen Verbrechensbegriff und die Verbrechenskontrolle durch staatliche Organe beschränkt, klammert er freilich übergreifende Fragen zur negativ sozialen Auffälligkeit ebenso aus wie Prozesse privater und informeller Sozialkontrolle. Nach Auffassung von Hans-Joachim Schneider (1987, 87) ist Kriminologie „die Humanund Sozialwissenschaft, die individuelle und gesellschaftliche Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozesse empirisch erforscht und die ihre Erkenntnisse als Empfehlungen an Gesetzgeber und -anwender weitergibt". Dabei schließt Schneider die Strafgesetzgebung, die Entstehungsbedingungen abweichenden Verhaltens, formelle und informelle Reaktionen auf Kriminalität und die Persönlichkeit von Täter- und Opfer in den Gegenstandsbereich ein. Besondere Beachtung schenkt er in diesem Zusammenhang sozialstruktureller, kultureller und institutioneller Viktimisierung, der Verbrechensfurcht, ferner der Aktivierung der proaktiven, informellen Sozialkontrolle durch die Gesellschaft, ihre Gruppen und Institutionen (2001, 4ff). Während er die Psychopathologie theoretisch als hinfallig betrachtet, misst er dem internationalen Trend folgend den Erkenntnissen der Entwicklungskriminologie große Bedeutung bei. Da für ihn als Basis für eine ergiebige Fortentwicklung „lediglich die pragmatische psychologisch-soziologische HauptstromKriminologie" (2001, 6) in Betracht kommt, steht er „der radikalen, kritischen Kriminologie", insbesondere deutscher Prägung, zurückhaltend bis ablehnend gegenüber. Günther Kaiser
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Entsprechend dem Verständnis von Hans-Dieter Schwind (2004, 6ff.) ist unter Kriminologie „der interdisziplinäre Forschungsbereich zu verstehen, der sich auf alle die empirischen Wissenschaften bezieht, die zum Ziel haben, den Umfang der Kriminalität zu ermitteln und Erfahrungen über die Erscheinungsformen und Ursachen der Kriminalität, über Täter und Opfer sowie über die Kontrolle der sozialen Auffälligkeiten einschließlich der Behandlungsmöglichkeiten für die Straftäter und den Wirkungen der Strafe (bzw. Maßregel) zu sammeln ... Die Kriminologie zählt als empirische Disziplin zu den nichtjuristischen Kriminalwissenschaften. Sie ist interdisziplinär, aber mehr als eine bloße .Clearing-Zentrale'". Sie dient „als Grundlage (präventiver)Kriminalpolitik" (S. 9, 15).
2.3
Gemeinsamkeiten und Besonderheiten
Sucht man trotz aller nuancenreichen Definitionen, Akzentuierungen und abweichenden Verständnisebenen nach den tragenden Gemeinsamkeiten, so lassen sie die explizit empirisch-interdisziplinäre Fokussierung auf Verbrechen und Kriminalität sowie auf die Strukturen strafrechtlicher Sozialkontrolle, aber auch auf die Prozesse von Viktimisierung, Verbrechensfurcht und Punitivität erkennen. Schwächer hingegen ist das wissenschaftliche Interesse für die Täterpersönlichkeit und für die informelle Sozialkontrolle ausgeprägt. Im Übrigen zeichnen sich Vertreter der kriminologischen Hauptströmung weitgehend dadurch aus, dass sie sich dem Postulat von Wertfreiheit und Objektivität verpflichtet sehen (s. etwa Bock 2000, 46ff.; Kunz 2001, 6,9, 11, 27; Meier 2003, 1 lf.; Schneider 2004, 504; Vorbehalte bei Eisenberg 2000, 97). Ferner sind ihre Aufgeschlossenheit und Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen erheblich größer als bei den in der Minderheit befindlichen Richtungen wie etwa der kritischen oder feministischen Kriminologie. Diese laufen mangels Offenheit und Enge nicht selten Gefahr, sektiererhafte und subkulturelle Züge innerhalb des Wissenschaftsgefüges anzunehmen (treffend Lüderssen 1997, 442f., 448, 452: „permanente Insich-Geschäfte", „selbstreferentielle Welt" und groteske „Einseitigkeit"). Nicht Beliebigkeit, wohl aber beachtliche Offenheit zu Gegenstand, Methodik und Aufgaben sowie ernste Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen bilden die Stärke des kriminologischen Mainstream, um argumentativ Perspektiven und Erkenntnisse abweichender Richtungen integrieren zu können. Sie sichern damit neben der Uberzeugungskraft von Ergebnissen der eigenen empirischen Forschung und deren Darstellung die Chancen zur fruchtbaren Fortentwicklung. Führt man sich die gesamte Forschungslage vor Augen, so kann nicht zweifelhaft sein, dass trotz mancher Einwände die ergiebigsten empirischen Befunde bislang im Rahmen der Hauptströmung konventioneller Kriminologie gewonnen worden sind. Selbst die Kritiker bedienen sich ihrer gern als „Steinbruch" mangels überlegener eigener Forschungsergebnisse, wenn man etwa an die Evaluationsforschung, ferner an die Befunde von Opferbefragungen sowie über Umwelt- und Wirtschaftskriminalität einschl. Korruption denkt. Demgegenüber erscheint es als Verdienst der Minderheitsrichtungen, die Vertreter der Hauptströmung durch Kritik und theoretische Gegenentwürfe ständig zur Auseinandersetzung herauszufordern und dadurch unbeabsichtigt deren Reflexionsstand zu bereichern. Jedoch haben sie es im Übrigen kaum vermocht, durch langwierige, mühevolle eigene empirische Untersuchungen entscheidende Impulse zu vermitteln und dadurch zum Erkenntnisfortschritt beizutragen.
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben Der Gegensatz zwischen kriminologischer Hauptströmung und kritischer Minderheitsrichtung wird nicht selten anhand der unterschiedlich begriffenen Kriterien von Autonomie, Aufklärung, Reflexion und Entlarvungsinteressen einerseits sowie hilfswissenschaftlicher Beratungsorientierung und Legitimationsverdacht andererseits zu kennzeichnen versucht (dazu P.-A. Albrecht 2002, 81ff., 88ff.; Kunz 2001, 43ff„ 60ff.). Dabei werden Autonomie, Reflexion und Aufklärung von den Kritikern vornehmlich für das eigene Vorgehen beansprucht, hingegen den anderen gern aberkannt. Derartige selten von Einseitigkeit, Polemik und Selbstüberhebung freien Charakterisierungen (vgl. auch Lüderssen 1997, 452) bedürfen jedoch noch weiterer Analyse. Dazu ist es notwendig, sich der (post-)kritischen Kriminologie näher zuzuwenden.
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Kritische Kriminologie einschl. postmoderner und feministischer Perspektiven
Trifft man in den ersten 25 Jahren kritisch-kriminologischer Diskussion - der Begriff entstammt einer knappen Programmschrift W. Nagels (1970) - trotz des Anspruchs einzelner britischer Kriminologen, eine „neue" kritische Kriminologie entworfen zu haben {Taylor! Waltoni Young 1973; modiviziert Waltoni Young 1998), auf eine noch weitgehend uferlos-vagabundierende Fülle kritischer Beiträge (s. für den deutschsprachigen Bereich etwa Kernerl Schumann 1974 und Bussmann/Kre issi 1996; i.Ü. Swaaningen 1997 u. 1999; Althoff u.a. 2001; Anhornl'Bettinger 2002), so ist es namentlich P.-A. Albrecht 1999 gelungen, den Großteil der heterogenen kritischen Beiträge zu bündeln, zu verarbeiten, zuzuspitzen und in ein System zu kleiden. Diese ihrer Absicht nach im Wesentlichen strafrechtssoziologische Systematisierung (vgl. Albrecht 2002, 82f., 90ff, 93) geht über die noch lockere kriminalsoziologische Problemdarstellung von Sack (1978, 1993; dazu krit. Kaiser 1979 u. 2001), geschweige von Peters (2002), erheblich hinaus, auch wenn sie sich ihr, zumindest in den Ausgangspunkten, der Angriffsrichtung und Tendenz verbunden weiß. Aber die Konkretisierung einer spezifischen Strafrechtskritik, verknüpft mit der Verteidigung eines bestimmten Strafrechtsmodells, dem kriminologisch zugearbeitet werden soll, eingebettet in die Präsentation eigener kriminalpolitischer Vorstellungen lässt ein neues Gebilde kritisch-kriminologischer Reflexion entstehen. Dieses lehnt sich zwar noch an den labeling-approach an, gelangt jedoch in der Auseinandersetzung mit den Befunden der mainstream criminology und der aktuellen Strafrechtsentwicklung zu einem eigenständigen System. Dabei wird man zweifeln können, ob es noch primär der Kriminologie oder schon der Kriminalpolitik zuzuordnen ist (s. Walter StV 2001, 713f.). Dem vorausgegangen waren bereits die Entstehung und der Bedeutungsgewinn einer Richtung, die Bezeichnungen wie „labeling approach" ebenso abdeckt wie „neue", „kritische" oder „radikale" Kriminologie. Sie löste seit Ende der 60er Jahre in der kriminologischen Diskussion eine Kontroverse aus, die in ihrer Grundsätzlichkeit und Heftigkeit alle bisherigen kriminologischen Erörterungen in der Nachkriegszeit in den Schatten stellte. Gleichwohl war die „neue Kriminologie" nicht erst eine Bezeichnung oder Errungenschaft der 70er Jahre, trat doch schon bisher fast jede Generation mit „ihrer" Kriminologie auf, die sie als „neu" und selbstverständlich „kritisch" begriff. Günther
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So ist im Laufe der kriminologischen Wissenschaftsgeschichte wiederholt die neue Konzeption gefordert, vermutet und beschrieben worden. Dabei reicht das Spektrum von den „neuen Horizonten" (Ferris 1881) sowie von Barnes u. Teeters (1943) bis zu der jeweils „neuen Kriminologie" von Schlapp u. Smith (1928) und Taylor u.a. (1973; zum Ganzen Kaiser 1976, 521 ff.; 1979, 50ff.; Walton/Young 1998, Iff, 259ff). P.-Α. Albrecht greift einzelne dieser neueren Ideen und vor allem die Stoßrichtung gegen die traditionelle Kriminologie auf, wendet sich dabei aber nicht nur gegen die herkömmliche Täterorientierung, sondern auch gegen die neuere Opferorientierung (vgl. P.-A. Albrecht 2002, 86, 404, 406f.), um jene Einwände darüber hinaus mit der Kritik an dem spezialpräventiv ausgerichteten Strafrecht zu verknüpfen. Dabei nimmt er Argumente einer breiter angelegten strafrechtskritischen Strömung mit auf, die über die Strafrechtssoziologie und den „sozialen Konstruktivismus" hinaus bis zum Abolitionismus (dazu zusammenf. Schobloch 2003) reicht. Albrechts Beurteilung der spezialpräventiven Wirkungsforschung fallt vernichtend aus, indem er der Anwendung spezialpräventiver Mittel bestenfalls Nichtwirkung und schlechtestenfalls kontraproduktive Effekte bescheinigt (Albrecht 2002, 24f., 56f.; entschieden gegen die „kriminologischen Verächter der Resozialisierung" jedoch Bock 1999, 285ff). Da er diese Befundlage des strafrechtlichen Entscheidungs- und Handlungsstils vor allem den Empfehlungen der traditionellen Kriminologie anlastet, insofern diese derartige Handlungsmuster legitimiere, versucht Albrecht, die traditionelle Kriminologie als legitimierende Hilfs- und Beratungswissenschaft zu diskreditieren und durch eine kritisch-autonome Kriminologie als Reflexionswissenschaft zu überwinden (Albrecht 2002, 81 f., 88). Diese autonome Kriminologie wird als Strafrechtssoziologie verstanden; sie soll der Aufklärung über die Rechtsanwendung und zugleich „als Modell der Freiheitssicherung" dienen (S. 93. 103; beachtliche Einwände gegenüber „theoretischer Selbstüberhebung" und der Arroganz im Anspruch „wissenschaftlicher Aufklärung" erhebt Kuhlen 2000, 72f.). Ihre Einfluss- und Wirkungsfelder erblickt Albrecht in den drei Ebenen Gesetzgebung, kriminalpolitischer Diskurs und juristische Ausbildung (S. 97). Im Gegensatz zur mangelnden Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (S. 387) werden der nichtstrafrechtlichen Sozialkontrolle beachtliche Wirksamkeit bescheinigt und der Selbstregulierung hohe Chancen eingeräumt (S. 130, 137). Doch über eine gewisse Plausibilität, die ungleiche Machtverhältnisse der beteiligten Bürger nur mühsam überdeckt, gelangt die Annahme nicht hinaus. Als „Gegenbilder des liberalen Strafrechts" figurieren nicht nur das Marburger Programm von Liszts (S. 381 f.), sondern auch die Privatisierung sozialer Kontrolle (S. 394, 407). Überdies sei die „strafrechtliche Neutralisierung des Opfers" im Interesse der Freiheitssicherung geboten, zumal sie „zum Inhalt einer liberalen Staats- und Grundrechtstheorie" gehöre (S. 390, 392). Denn „eine konstruktivistisch orientierte Kriminologie tendiert dazu, diese Betroffenenperspektive zu vernachlässigen" (S. 86; dazu krit. Scheerer 2001, 250). Eine derartige Folgerung trifft zwar für den radikalen Konstruktivismus zu, leidet jedoch an Realitätsverlust und verfehlt wichtige Aufgaben. Sie ist daher äußerst bedenklich, da letztlich inakzeptabel. Bis zur grotesk anmutenden Behauptung, dass „der Anstieg der Opferwürdigung kein Beitrag zur Gerechtigkeit" sei (so Peters/Sack 2003, 23), ist es dann nicht mehr weit. Ebenso erhellend für
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben die lange Ignoranz gegenüber dem Yerbrechensopfer wie für den späten Wandel der Bewusstseinslage erscheint die freimütige Äußerung von H. Peters (2002, 219), wonach „gegenwärtig eine Welle der Dramatisierung dieser Opfer festzustellen" sei. „Stiftungen des Opferschutzes werden gegründet, die uns in Bedrängnis bringen mit unserem Verständnis von Kriminalität. Waren für Kriminalsoziologen der 70er-Jahre die Kriminellen die Opfer, sind es jetzt die Opfer". So gesehen könnte es nicht nur sachlich falsch und widersprüchlich, sondern geradezu heuchlerisch erscheinen, der deutschen Kriminologie die Nichtberücksichtigung des viktimologischen Anregungspotenzials vorzuwerfen (so aber Sack 1997, 34), obwohl man selbst davon gar nichts hält. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht hebt sich die Kriminologie der Hauptströmung scharf von radikal-kritischen Perspektiven ab. Im Übrigen jedoch sind die Divergenzen nicht so gravierend, wie sie von P.-A. Albrecht (2002, 81ff.) dargestellt werden. Insgesamt harren die „Konstruktionsprinzipien einer kritisch-autonomen Kriminologie" (S. 82) noch der Einlösung und Durchsetzung, zumal die in der Auseinandersetzung aufgegriffenen Befunde, sei es zum Kriminaljustizsystem oder zu einzelnen Deliktsgruppen, ganz überwiegend den Erkenntnissen und dem Argumentationshaushalt der traditionell-interdisziplinären Kriminologie entstammen. Was bleibt, und das ist keineswegs wenig, sind die anregende Kritik, die theoretische Reflexion, freilich auch die ideologische Enge und mangelnde Offenheit in der Auseinandersetzung mit abweichenden Befunden und Meinungen. Ferner muss man „feststellen, dass bei der abstrakten Systemkritik, wie sie manchen Modellen der kritischen Kriminologie eigen war, der Rückschlag vorprogrammiert war. Die Repersonalisierung, die Renaissance des Opfers, der wiedergewonnene Respekt vor Furcht, Nöten und Ängsten korrigiert jene abgehobenen theoretischen Volten, auf die man im Zeitalter des labeling approaches gelegentlich gestoßen ist" (so Jung 2003, 160; noch weitergehend die Kritik v. Kunz 2001, 54ff.). Insgesamt ist es trotz Einfügung „postmoderner Bausteine" (Bähr 1999) noch nicht gelungen, die Schwächen (post-) kritischer Kriminologie auszuräumen und auf diesem Wege zu einem neuen „Selbstverständnis der Kriminologie in der Spätmoderne" (Kunz u.a. 2003) zu gelangen (s. dazu auch, obwohl von anderen Standpunkten aus, Scheerer 2001, 143ff. u. Rüssel 2002, 113ff.). Dies wäre auch dann nicht anders, wenn man das neue Kennzeichen in der „Kriminologie der Kontrolle" (Garland 2001) erblickte. Weder im Zusammenhang mit der angestrebten Leidensminderung noch bei den Bemühungen um Inklusion statt Exklusion (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998; Young 1999; Althoff u.a. 2001), sonst bevorzugte Ziele, ist das Opfer vom „radikalen Konstruktivismus" und der kritischen Kriminologie gefragt, wird vielmehr als störender Fremdkörper ausgeschlossen. „Radikal-konstruktivistische Wissenstheorie", geschweige Systemtheorie, haben das Verbrechensopfer substanziell noch nicht entdeckt, bestenfalls als Störenfried wahrgenommen. Im Übrigen bleibt das Bestreben, die „Fokussierung auf das element of crime, den Täter, zu einem de-konstruktivistischen Programm" zu erheben (so Krasmann 2002, 35), zuwenig tragfahig, zumal, entgegen Krasmann (2002, 82f.) die „Täterfixierung" längst kein Topos mehr ist, um aktuell darüber zu streiten.
Eine besondere Spielart und Ausprägung des konfliktkriminologischen Ansatzes stellt die kritisch-feministische Perspektive dar. Wie diese auch immer konzipiert sein Günther
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft mag - liberal, existentialistisch, psychoanalytisch, radikal, marxistisch, sozialistisch oder postmodern - stets sucht sie mit herrschaftskritischem Impetus den hauptsächlichen „blinden Fleck" in der traditionell männlich geprägten kriminologischen Theorie als den strategischen Mangel zu identifizieren, um die grundsätzliche Bedeutung des Geschlechts und der Geschlechtsrollen in der Gesellschaft zu begreifen (vgl. Gelthorpe 1997, 512f.). Sie verfolgt damit einen Aspekt, der von der Theoriebildung in der kriminologischen Hauptströmung (dazu eingeh. Schöch 2001, 13ff.) bestenfalls peripher erfasst wird (vgl. Krüger 1992; Althoff!Kappel 1995; Rafter!Heidensohn 1995; Smaus 1995; Naffine 1997; Uhi 2003; jew. m. Ν.). Insgesamt betrachtet hat die feministische Kriminologie fraglos das kritische Potenzial gegenüber der herkömmlich etablierten Theoriebildung angereichert, insbes. zur Erklärung weiblicher Kriminalität (vgl. Heinz 2001, 63ff.). Doch im Übrigen leidet die Perspektive an der verengten, auf die Geschlechtsunterschiede reduzierten Betrachtung der gesellschaftlichen Machtdifferenzen. Man denke etwa an die Jugend- und Altersproblematik (dazu Kreuzer 1991 u. Walter 1999). Zwar liefert die internationale Forschung zu den Geschlechtsunterschieden in den Entscheidungen der Kriminaljustiz gegenüber Rechtsbrechern einige Informationen, die mit der feministischen Theorie stimmig sind; jedoch hat das Geschlecht des Täters ganz überwiegend nur geringe oder keinerlei Wirkung auf Verfahren und Ergebnis der Strafrechtspflege. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Einbringung dieser Perspektive in die Kriminologie „deren Verständnis entscheidend" wandeln könnte (so aber Kunz 2001, 35). Zwar meinen „feministische Optionen ... die Ambivalenz von theoretischer Dekonstruktion und Kritik struktureller Herrschaftsmechanismen einerseits, politische Einmischung gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt andererseits offensiver zu handhaben, als es für die kritische Kriminologie üblich war und ist" (Gransee 2001, 212). Insofern versteht sich die feministische Kriminologie als Fortentwicklung sowie als Meta-Kritik der kritischen Kriminologie. Dass es sich aber, vielleicht mit Ausnahme der Abtreibung, bei Pornografie, Prostitution, sexueller Belästigung, Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen, um die Frauen degradierende Konstruktionen juristischer Kategorien handeln soll (so Kunz 2001, 81), lässt sich schwerlich nachvollziehen. Nach alledem wird man fragen, ob und wieweit es gerechtfertigt ist, der feministischen Perspektive verglichen mit anderen kritischen Ansätzen eine derartige Prominenz einzuräumen, wie dies in zeitgenössischen Texten (z.B. Kunz 2001, 75-82) gelegentlich geschieht. Ob sich die kritische Kriminologie in einer Krise befindet (so etwa Lüderssen 1997, 447f.; Swaaningen 1997; Kunz 2001, 54, 56; Scheerer 2001, 243; Krasmann 2002, 53fT.; sowie Russell 2002, 113ff.) oder sich bereits ein postmodernes Gewand angelegt hat, mag hier offen bleiben. Die kritisch-kriminologische Perspektive ist fraglos existent und wohl auch für die Fortentwicklung der Kriminologie notwendig, da sie ein beachtliches Anregungspotenzial enthält sowie eine ständige Herausforderung darstellt. Darüber hinaus wird man ihr kaum Bedeutung beimessen können. Die beliebten, ja penetranten Rückgriffe kritischer Kriminologen auf Reflexivität, Konstruktivismus, Sozialdisziplinierung, Kontrollgesellschaft, Postmoderne, Gouvernementalität, Straflust und Exklusion ermöglichen zwar mitunter instruktive Einsichten und liefern auch Denkanstöße, reichen jedoch noch nicht für die Konstituierung eines eigenen 36
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben geschweige ergiebigeren - wissenschaftlichen Programmes aus. In ihrer gebetsmühlenartigen Wiederholung lenken sie eher ab als zu überzeugen. Hingegen mag es verwundern, dass, von einzelnen Forderungen abgesehen, nicht mehr wie ehemals die Devianz als gegenüber dem Verbrechensbegriff vorrangiger Topos als kriminologischer Forschungsgegenstand angeboten wird. Entsprechende Experimente der 70er Jahre (vgl. LiiderssenlSack 1975; HassemerlLüderssen 1978) sind aber über das Versuchsstadium nicht hinausgediehen (s. Lüderssen 1997, 447f.; Hassemer 2000, 22) und haben sich in ihrem Integrationspotenzial der kriminologischen Hauptströmung keineswegs als überlegen erwiesen. Dessen ungeachtet besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass der kriminologische Forschungsgegenstand über den engeren Verbrechensbegriff hinausreicht und auch die negative soziale Auffälligkeit (Trunkenheit, Obdachlosigkeit Gemeinlästigkeit, Selbsttötung u.a.) mit erfasst. Wie schon die bisherige vergleichende Gegenüberstellung erkennen lässt, äußern sich die Unterschiede, ja Kontroversen, im Selbstverständnis der kriminologischen Strömungen vor allem in den unterschiedlichen Perzeptionen von Realität, einschl. der Bedeutung von Täter und Opfer sowie in der Einstellung zur angewandten Kriminologie. Darauf muss im Folgenden speziell eingegangen werden.
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Aufgaben der Kriminologie
4.1
Erkenntnissteigerung
Unabhängig vom Selbstverständnis und angestrebten Profil der verschiedenen Forschungsrichtungen lässt sich übergreifend feststellen, dass alle Kriminologen um die Erkenntnissteigerung bemüht sind. Dies mag wie bei der kriminologischen Hauptströmung in erster Linie durch Gewinnung und Sicherung von Erfahrungswissen bestimmt sein oder wie im Fall der kritischen Richtung vorrangig auf Reflexion, Aufklärung und Kritik gegenüber Gesetzgebung und Strafrechtspraxis abzielen. Dafür ist allerdings eine konzeptuelle Weite geboten, die über den engeren eigenen Diskussionszirkel notwendig hinausgreift und einen Rückzug in die „selbstreferentielle Welt" vermeidet. Um aufklären und begründet kritisieren zu können, braucht man dies. Wer sowohl den Bedarf dafür wie die Gewinnung von möglichst wertfrei erlangten und intersubjektiv überprüfbaren Befunden bestreitet, kann weder überzeugend argumentieren noch aufklären und tragfähige Alternativen zum geltenden System strafrechtlicher Sozialkontrolle oder zu deren Infrastruktur aufzeigen. Nach heutigem Wissen verspricht das interdisziplinäre Vorgehen am ehesten einen ergiebigen Erkenntniszuwachs. Gerade wenn man die kritisch-aufklärerische Funktion der Kriminologie nicht gering einschätzt, bleibt die Erkenntnissteigerung die primäre Aufgabe der kriminologischen Wissenschaft. Dies aber bedeutet wiederum die Gewinnung und Sicherung des Erfahrungswissens über das gesamte Problemfeld der Kriminologie (so etwa SutherlandI Cressey 1978, 3). Dazu gehört auch die sozial- und kulturhistorische Forschung zur Kriminalitätsgeschichte (dazu Schönert 1991; Blauertl'Schwerhoff 2000; Kaiser 2004). Selbst wenn man mit der kritischen Kriminologie die Hauptfunktion in der Aufklärung über die strafrechtliche Sozialkontrolle erblickte (so etwa P.-A. Albrecht Günther
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 2002, 93ff., 97ff.), könnte man eine solche Aufgabe nur dann erfüllen, wenn man etwas über den aufzuklärenden Sachverhalt und entsprechende Zusammenhänge weiß. Daher erscheint es weder stimmig noch überzeugend, im Hinblick auf die immanenten Grenzen des eigenen Wissens und die Beschränkung auf Wahrscheinlichkeitsaussagen von vornherein auf die Anstrengungen zur Sicherung des Wissens zu verzichten (so aber in der Tendenz P.-A. Albrecht 2002, 107). Zu derartigen Kontrollverfahren gehört in erster Linie die intersubjektive Überprüfung der Befunde. Vielmehr ist es für die Kriminologie sinnvoll, ja notwendig, die Erkenntnis zu den Problembereichen von Verbrechen, Täter, Opfer und Verbrechenskontrolle systematisch zu steigern. Unterschiedliche Forschungsansätze streben danach, ohne dass einem von ihnen prinzipiell der Vorrang zukäme. Das Bemühen, individuelle, soziale und administrative Prozesse zu studieren, greift freilich über das Beschreiben und Sammeln von Tatsachen notwendig hinaus. Denn die Kriminologie will die Hintergründe, Zusammenhänge und Strukturen ihres Problemfeldes erfassen. Sie will Orientierungswissen erlangen und vermitteln. Erst dadurch wird sie fähig, aufzuklären und zugleich Kritik sowie Verbesserung der strafrechtlichen Sozialkontrolle zu ermöglichen. Die Sicherung des Wissens setzt allerdings „paradigmatischen Konsens", also die Übereinstimmung der Wissenschaftler einer bestimmten Epoche hinsichtlich theoretischer Modelle, Forschungsmethoden und Erkenntnisstand voraus. Sie kann deshalb immer nur für ein bestimmtes theoretisches Konzept vorliegen. Weil alle Erkenntnis theorieabhängig ist und alle Tatsachen nach einem bestimmten, wenn auch vielleicht nur implizit zum Ausdruck gelangenden Konzept erhoben werden, kann sich kriminologische Wissenschaft mit der Anhäufung völlig heterogen gewonnener und der Beliebigkeit anheim gestellter Informationen nicht begnügen. Systematisches Vorgehen und intersubjektives Überprüfen sind daher erforderlich. Doch wegen der Vielzahl miteinander rivalisierender Theorien und des nur parziell bestehenden Konsenses der Wissenschaftler sind gesichert im strengsten Sinne des Wortes Ergebnisse empirischer Wissenschaft nie. Allerdings ist die eine Hypothese besser durch Beobachtungen abgestützt als die andere. Jedoch würde sich die Kriminologie übernehmen, wollte sie nach einer „kriminologischen Weltformel" fahnden, um damit flächendeckend sämtliche kriminologischen Probleme zu erklären. Die Einsicht in die Vielschichtigkeit der relevanten Zusammenhänge zwischen Verbrechensentstehung und Verbrechenskontrolle hat schon seit langer Zeit das Bedürfnis nach alternativen und fachübergreifenden Forschungsansätzen geweckt. Eine Bereitschaft dazu war lebendig, obwohl - um den Integrationsbestrebungen zum Durchbruch zu verhelfen - überzeugende Modelle zur Mehrebenenanalyse noch fehlten. Überdies schien seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts der Entwicklungsstand der Humanwissenschaften, insbesondere der Medizin und der Psychologie, weitergehende Integrationsleistungen zu eröffnen. Deshalb lag es nahe, die Möglichkeiten zu interdisziplinärem Vorgehen auch für die kriminologische Forschung zu nutzen. Im Hinblick auf das so vielschichtige Forschungsfeld, das im konfliktbelasteten Bereich mehrerer Disziplinen liegt und damit auch dem Zugriff von Forschern verschiedener Fachwissenschaften ausgesetzt ist, muss auf breiter Grundlage und langfristig gearbeitet werden. Nur bei einer solchen Forschungsstrategie kann die 38
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben Chance zur interdisziplinären Teamarbeit, zur Kooperation verschiedener Wissenschaften, zumindest aber eine gewisse Offenheit für Fragestellungen anderer Disziplinen erkannt und aufgegriffen werden. Aufgrund solcher und ähnlicher Überlegungen gelangte Göppinger (1966, 5) zu der Auffassung, dass es geradezu das Schicksal der empirischen Kriminologie sei, „eine interdisziplinäre Wissenschaft zu sein - mit allen Möglichkeiten, aber auch mit allen Gefahren, die in einer integrierenden Wissenschaft liegen". Neuere Erfahrungsberichte sowie wissenschaftssoziologische Analysen ermutigten auch zu einem derartigen Ansatz und ließen ihn als fruchtbar und aussichtsreich erscheinen (Nachw. b. Göppinger 1968, 201ff.; Schellhoss 1972, lOlff.; zur Interaktion und Interdisziplinarität kriminalwissenschaftlicher Forschung Kaiser 2001, 163-189). Interdisziplinarität ist aber nicht nur für Qualität und Aussagekraft der einzelnen Forschungen belangvoll - denn solche Untersuchungen vermögen am ehesten der Vielschichtigkeit der Fragestellung gerecht zu werden - , sondern auch für die Umsetzung in die polizeiliche und strafrechtliche Praxis einschl. des Strafvollzugs und der Bewährungshilfe bedeutsam. Ausschließlich die Förderung, Forschung und Kritik nach interdisziplinären Gesichtspunkten können Gewähr dafür bieten, dass die relevanten Fragestellungen auf kriminologische Problemfelder fokussiert werden sowie der fragliche Forscherkreis über das eigene Vorhaben und Fach hinaus zu schauen lernt und von fremden Ansichten Kenntnis nimmt. Ein monodisziplinäres Vorgehen mag vielleicht für die am Forschungsprozess Beteiligten bequemer, weil konfliktärmer verlaufen. Doch bedeutete die angefochtene Strategie nichts anderes als die Weigerung, sich der Kritik verschiedener Disziplinen dort zu stellen, wo die Problemstellungen nur fachübergreifend angegangen und zureichend beurteilt werden können. Im Bereich der Kriminologie als der Wirklichkeitswissenschaft strafrechtlicher Sozialkontrolle hieße dies, dass sich Kriminalsoziologie, Kriminalpsychologie, Kriminalpsychiatrie und „juristische" Kriminologie jeweils auf ihre Weise mit dem Verbrechen beschäftigten, ohne überhaupt von Fragestellungen und Befunden anderer Disziplinen Kenntnis nehmen zu müssen, geschweige von einem Teilgebiet ihres Untersuchungsgegenstandes, nämlich dem Strafrecht (Lüderssen 1997, 443ff.). Das Ergebnis erschöpfte sich in Partialkenntnissen, falls es nicht in radikale Justizkritik auf der einen und realitätsblinde Selbstverteidigung des Strafrechts auf der anderen Seite mündete. Wissenschaftliche Kommunikation sowie Einflussnahme und empirisch abgesicherte Reform würden erheblich erschwert, wenn nicht gar undenkbar. Angesichts der auch im kriminologischen Problemfeld zu beobachtenden Polarisierung würde die zu erwartende ideologische Verzerrung jeden Erkenntnisgewinn in Frage stellen. Gleichwohl lässt sich nicht übersehen, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit, Forschung und Kritik in den Wissenschaften noch immer ein Wagnis bedeuten, insbesondere in der Kriminologie. Denn hier treffen wir auf wechselnde Hegemonieansprüche einzelner Wissenschaften. Auch stößt das interdisziplinäre Konzept wegen seiner vermeintlichen Theorie- und Standpunktlosigkeit oder des etwaigen Eklektizismus auf Ablehnung mancher Fachwissenschaftler, insbesondere von Soziologen (vgl. Sack 1978, 205ff.; anders hingegen Löschper u.a. 1986 u. Schumann 2004, 609). Im Übrigen muss die heutige Analyse berücksichtigen, dass Anlaufschwierigkeiten der Teamforschung, vor allem bei multidisziplinärer Zusammensetzung, sehr groß waren und noch immer sind. Aufgrund der Erfahrungen ist die an-
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft fangliche Euphorie interdisziplinären Forschens weitgehend der Ernüchterung gewichen (vgl. Kaiser 1979, 55; 1996). Auch sind die Innovationen interdisziplinärer Untersuchungen mit Ausnahme der langfristig angelegten Lebenslauf-, Sozialisations- und Evaluationsforschung dürftig geblieben. Der Grund hierfür besteht darin, dass es letztlich nicht gelungen ist, die verschiedenen Ebenen wissenschaftlicher Analyse so miteinander zu verknüpfen, wie man sich dies einst vorgestellt hat. Dafür fehlt es noch immer an entsprechenden Modellen. Daher kann es nicht verwundern, dass gelegentlich eine starke Tendenz zur Rückbindung des multidisziplinär arbeitenden Forschers an seine Herkunftdisziplin oder „Mutterwissenschaft" eingesetzt hat. Abhängigkeit des Ansehens von der Einschätzung der eigenen fachbezogenen Bezugsgruppe und Karriereinteressen mögen dabei mitspielen, sind aber sicherlich nicht ausschlaggebend. Die geschilderte Entwicklung ist wohl auch notwendig, wenn empirische Untersuchungen, gerade in der Kriminologie, entsprechend den modernen Fragestellungen und gemäß dem neueren Instrumentarium der empirischen Grundwissenschaften durchgeführt werden sollen. Daraus folgt fraglos ein partielles Angewiesensein der primär anwendungsorientierten Kriminologie auf ihre empirischen „Zuliefererdisziplinen" (Sack 1978, 213). Dies ist schon deshalb so, weil die wenigen Lehrstühle und Forschungsstellen auf dem Gebiet der Kriminologie, überdies weithin durch Lehraufgaben in Anspruch genommen, bereits von ihrer Zahl und Ausstattung her nicht im Stande sein können, auch noch die bisherigen Funktionen der Bezugswissenschaften zu übernehmen. Ist die Abhängigkeit also gar nicht zu umgehen, so kann es nur darauf ankommen, den Kommunikationsfluss zu verdichten und dem jeweiligen Forschungsstand entsprechend sicherzustellen. Die Frage muss also dahingehend gestellt werden, ob die Kriminologie in ihrer heutigen Gestalt den Bedürfnissen nach wissenschaftlicher Kommunikation, Zusammenarbeit und Integration gerecht wird. Dagegen werden gelegentlich Bedenken erhoben. Besonders Sack (1978, 212f., 249 u. 1990,15-55) wendet sich scharf gegen die angebliche Theorie- und Standpunktlosigkeit der interdisziplinär orientierten Hauptströmung der Kriminologie. Ohne den Theoriemangel interdisziplinär organisierter Forschung, auch außerhalb der Kriminologie, bemänteln zu wollen, muss festgestellt werden, dass sich damit keinesfalls „Standpunktlosigkeit" verbindet. Nur wer die Komplexität des kriminologischen Problemfeldes verkennt und als Forschungsperspektiven lediglich die Täteranalyse einerseits oder sogenanntes Kontrollparadigma in der Perspektive des „radikalen Konstruktivismus" (vgl. Scheerer 2001, 243ÍT.) andererseits zulässt, dem müssen nach Schwarz-Weiß-Manier und der Devise „tertium non datur" vermittelnde oder integrierende Positionen als eklektisch und standpunktlos erscheinen. Eine solche Beurteilung ist jedoch von der vertretenen Position abhängig. Wer nur polarisierende Positionen kennt und einen extremen Standpunkt einnimmt, dem muss alles zwischen dem eigenen und dem fremden Standpunkt Liegende als konturlos, ja als Ärgernis erscheinen. Insofern tun sich Extrempositionen immer leichter, da sie mit Eindringlichkeit und Schärfe ihren Standpunkt verdeutlichen können. Sie leiden nur an dem sich hier gravierend äußernden Mangel, die Vielschichtigkeit des kriminologischen Problemfeldes zu verfehlen. Soweit aber die Vorwürfe zutreffen und ernst genommen werden müssen, lassen sich die Kritikpunkte 40
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben in der heutigen Hauptströmung der Kriminologie berücksichtigen, freilich nicht stets mit dem Vorrang, der gelegentlich von den Kritikern gefordert wird. Immerhin vertritt auch Sack seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre und der Schaffung des Hamburger Kriminologischen Aufbaustudiums einen interdisziplinären Ansatz, obschon als Alternativprogramm mit anders strukturiertem Zuschnitt (vgl. Löschper u.a. 1986). Auch danach bleibt es weiterhin bei der Notwendigkeit multidisziplinärer Forschung mit der Chance zur Interdisziplinarität. Dabei ist freilich die Integration auch dann von dem einzelnen Forscher und weithin auf sich allein gestellt zu leisten, wenn er sich des Rückhalts einer Arbeitsgruppe versichern kann. Interdisziplinarität ist daher Aufgabe und Chance, aber auch Schicksal empirischer Kriminologie zugleich (generell zur Transdisziplinarität als innovative Struktur in der Grundlagenwissenschaft Mittelstraß 2002,43ff.). 4.2
Sammlung und Dokumentation kriminologisch relevanter Daten
Wenn man sich der Erkenntnisaufgabe der Kriminologie bewusst bleibt und die Datensammlung nicht zum Selbstzweck werden lässt, kann auch die Zusammenstellung und die Dokumentierung kriminologischer Informationen zum Zwecke von Bestandsaufnahme und der Evaluation sinnvoll sein. Insofern treffen wir hier auf eine weitere Aufgabe der Kriminologie. Diese hat durch die vergleichende europäische Perspektive (s. H.-J. Albrecht/Kürzinger 1994) in ihrer Bedeutung für die europäische Entwicklung zu einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (Art. 29 EuV; dazu Meier 2003, 302, 315f.; Schwind 2004, 649ff„ 661; Killias 2002, 3f.) zusätzliche Überzeugungskraft gewonnen. Ein Beleg dafür ist die Schaffung eines „European Sourcebook of Crime and Criminal Justice" (Jehle 1998, 509ff.; Council of Europe 2000; Meier 2003, 307f.). Kriminologie als sog. „Clearing-Zentrale" (Frey 1951) meint denn auch in Anlehnung an die Bezeichnung „Clearing-House", die dem amerikanischen Strafvollzug entstammt (Exner 1935, Welsch 1962), eine Sammelstelle von kriminologisch relevanten Informationen für Wissenschaft, Gesetzgeber, Polizei und Strafrechtspraxis. Soweit es um die Befriedigung rein praktischer Bedürfnisse und um die Durchführung von Sekundäranalysen geht, ist daher eine solche zentrale Datensammelstelle nützlich. Die modernen Verfahren der Speicherung und Abrufbarkeit von Informationen haben jene Vorstellung belebt. Diese hat wohl auch die deutschen Justizverwaltungen angeregt, eine sog. Kriminologische Zentralstelle einzurichten (dazu Jehle!Egg 1986, 5ff.). Ferner kann man in diesem Zusammenhang auch an das bereits erwähnte Europäische Sourcebook (vgl. Jehle 1998) oder an die Verfolgung der Verstöße gegen die Finanzinteressen der Europäischen Union (dazu Kaiser 2001, 51 Iff.) sowie den Sicherheitsbericht der Bundesregierung (BMI u.a. 2001) denken. Obwohl eine zentrale Erfassung, Verfügbarmachung und Abrufbarkeit kriminologischer Daten auch für die Wissenschaft nicht zu gering zu veranschlagen ist, geht der Anspruch der Kriminologie über den einer Clearing-Zentrale weit hinaus. Schon eine theorielose Beschreibung oder Sammlung von Daten ist - wie erwähnt - wissenschaftlich kaum möglich und ggf. wenig ergiebig. Auch wandeln sich Theorie und Blickrichtung. Zahlreiche Streitfragen und kontroverse Befunde lassen dies erkennen. Wegen der Verkennung derartiger Einsichten kann es gelegentlich zu sog. DatenfriedGünther
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft höfen kommen. Damit ist die Zusammenstellung von Informationen gemeint, die zu einem späteren Zeitpunkt wegen des zwischenzeitlichen Theorie- und Erkenntniswandels nicht mehr brauchbar erscheinen. Zu denken ist etwa an das in den 20er und 30er Jahren übliche Sammeln kriminalbiologischer Informationen in den Einrichtungen des sog. Kriminalbiologischen Dienstes. 1938 stellte z.B. „das Material von mehr als 21.000 Untersuchten die zweitgrößte kriminalbiologische Sammlung in Europa dar" (Blätter für Gefangniskunde 1938, 169). Doch jene Dokumentation litt schon an der rassenbiologischen Verzerrung; sie blieb überdies unausgeschöpft und der Erkenntnisgewinn äußerst gering (s. dazu schon Kaiser 1997, 10 und ferner die Kritik von Kunz 2001, 15f., 30). Solche Akten- und Datensammlungen lassen sich heute bestenfalls unter wissenschaftsgeschichtlichem Interesse analysieren, erfüllen jedoch keinen weiteren Zweck mehr. Deshalb ist auch die im Schrifttum immer wieder aufgegriffene Idee des heute so benannten Kriminologischen Dienstes nur in der Weise sinnvoll, dass man etwa im Strafvollzug eine praxisbegleitende Forschung einrichtet (vgl. § 166 StVollzG) und seine Aufgaben auf Bewährungshilfe, Täter-Opfer-Ausgleich, gemeinnützige Arbeit, elektronische Überwachung sowie Führungsaufsicht ausdehnt (zu Strukturen und Mängeln der Nachkriegsforschung sowie den Dauerproblemen kriminologischer Untersuchungen Kaiser 1975, Müller-Dietz 1976). 4.3
Anwendungsorientierung
Die technologische Forschungsorientierung und praxisbezogene Untersuchung in der Kriminologie wird man also nicht gering veranschlagen und deshalb konzeptuell auch nicht zu eng begreifen dürfen. Sie ist genauso legitim wie die sog. Grundlagenforschung in der Kriminologie (eingehend Bock 2000, 171ÍT.; ferner Killias 2002, 355ff; Meier 2003, 234; Kerner 2004, 525ff„ 551). Die polemisch-abwertend gemeinten, wenn nicht gar ideologisch angereicherten Bezeichnungen der „administrativen" oder „populistischen Kriminologie" (dazu etwa Hirschi 1993, 348ff.; P.-A. Albrecht 2000, 15f., 23ff.; ferner Sack 1997, 14, 19; Cremer-Schäfer¡Steinen 1998, 210, 212, 226) sind hingegen weder geeignet, den hohen Rang der Anwendungsorientierung zu diskreditieren, noch eine solche Aufgabe auszuschöpfen. Zu denken ist beim Praxisbezug namentlich an Prävention, Prognose, Sanktion, Evaluation, Effizienz und Reform. Es handelt sich hier um ebenso wichtige wie umstrittene Problembereiche, obschon um keine „Neuerfindung" der Kriminologie (a.A. Taylor 1992, 108f.). Doch sind Gesetzgeber und Strafjustiz auf die in der Wissenschaft systematisierte Erfahrung angewiesen. Sinngemäß das Gleiche trifft auch für Polizei, Bewährungshilfe und Strafvollzug zu. Gerade eine Kriminologie, die sich mehrdimensional, interdisziplinär und vergleichend versteht, wird eine Fülle von Aufgaben der Bedarfsforschung erwarten dürfen, auch wenn sich diese um den Gedanken der Folgenorientierung bündeln. Eine Phase größerer Bereitschaft der Praxis und des Gesetzgebers zur Auf- und Übernahme empirischer Befunde lässt auch den Bedarf an verfügbaren und verlässlichen Daten wachsen. Dieses Bedürfnis trifft selbst dann zu, wenn die Planungs- und Entscheidungsvorgänge allgemein bei unvollständiger Information verlaufen. Gleichwohl ist die Anwendungsorientierung problematisch geblieben. Zweifel an der Praxisrelevanz kriminologischen Wissens sind nie verstummt. Dabei erschöpfen sich 42
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben die Einwände keineswegs in der Betonung von Schwierigkeiten in der Gewinnung und Umsetzung empirischer Befunde. Vielmehr werden darüber hinaus die Notwendigkeit und die Legitimität technologischer Aufgaben in Frage gestellt. Insbesondere werden gegenüber der „Verwissenschaftlichung staatlicher Kontrolle" und der ihr dienstbaren Kriminologie als „Kontrollwissenschaft" oder durch das Angebot von „Handlangerdiensten" - ein Thema, das weit zurück reicht - Bedenken erhoben (insbes. v. P.-A. Albrecht 2002, 16, sowie Kunz 2001, 21). Sie münden teils in Bemühungen zur multifunktionalen Erweiterung, teils in Verweigerungsempfehlungen und einem Zurück in den „Bunker des Elfenbeinturms" (krit. Schumann 2003, 135ÍF. u. Kerner 2004, 531), teils in die Forderung nach „einer unabhängigen und unerschrockenen Kriminologie", deren Aufgabe die wissenschaftliche „Kontrolle der Kontrolleure" sein müsse {Albrecht 1986, 188). Kontrollmaßstab habe vor allem die Menschenwürde, Autonomie und Freiheit der „Rechtsunterworfenen" zu sein. Auch bei Akzeptanz dieses Maßstabes begegnet jenem Postulat freilich bereits die metatheoretische Forderung „Keine Kontrolle ohne Kontrolle der Kontrolle!" (Klug 1988, 251) und damit ein Kontrollregress ad infinitum. Außerdem werfen alltägliche Deliktserfahrungen wie etwa die „Gewalt im Straßenverkehr" oder Missbräuche durch sexuelle Gewalt die schwierige Frage nach der Verletzung der Menschenwürde auf, ohne dass hier ein überlegener Lösungsbeitrag „unerschrockener" oder (post-)kritischer Kriminologie auch nur erkennbar würde. Im Übrigen erscheint zweifelhaft, ob das wissenschaftliche Potenzial der Kriminologie überhaupt zureicht, eine solche Aufgabe wahrzunehmen, und ob ggf. dafür die Kriminologie hauptsächlich, geschweige allein zuständig und berufen wäre. Dies gilt auch dann, wenn man herrschaftskritisch noch immer im Staat das spezifische Forschungsobjekt der Kriminologie, oder genauer der Strafrechtssoziologie, erblickte. Denn bekanntlich bildet der Staat bereits den Gegenstand mehrerer anderer Disziplinen wie der allgemeinen Staatslehre und der Politikwissenschaft, von der Verarmung und Verengung des Objektbezuges gar nicht zu reden. Angesichts kontrollgesellschaftlicher Tendenzen und der Globalisierung wird bekanntlich dem herkömmlichen Nationalstaat ein erheblicher Bedeutungsverlust zugeschrieben. Letztlich handelt es sich hier um die Beantwortung der Frage, wem kriminologische Forschung dienen soll und darf. Zwar begegnen wir mitunter verbreiteter Zurückhaltung, ja Kritik gegenüber technologischer Verwertung und Umsetzung, besonders bezüglich der die gegenwärtige Praxis legitimierenden Funktion (s. vor allem Sack 1978, 221ff., 1997, 15ff.). In der Kritik an der kriminologischen Diversionsforschung verstieg sich Sack (1997, 26f.) gar zur Behauptung: „Wie selten zuvor hat sich die Kriminologie ihren wissenschaftlichen Schneid und das Pfund selbstbestimmter Fragestellungen zugunsten Notwendigkeiten, Opportunitäten und Zweckmäßigkeiten fiskalisch diktierter und politisch durchsetzbarer Kriminalpolitik abkaufen lassen". Demgegenüber kann nicht unklar sein, dass die Impulse nicht von der Politik, sondern im Wesentlichen von der Forschung ausgegangen waren und die Politik dann erst Anregungen gefolgt war. Den Grund des Anstoßes erblickte Sack in der „Abhängigkeit vom Strafrecht und dessen Strukturen und Institution", ja „in einer widerstandslosen Praxisunterwerfung der Kriminologie", die i.Ü. als „die Ursache der Theorielosigkeit" gilt (Sack 1978, 210, 224). Doch zugleich impliziert eine solche Auffassung ein Zurück in den „Bunker des Elfenbeinturms" (krit. daher Schumann 2003,
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 135ff.). Immerhin ist von Sack richtig gesehen, „dass eine Kriminologie, welche die Bedingungen der Umsetzung ihrer Befunde in folgenreiches praktisches Handeln erörtert und reflektierten will... sich deshalb zu allererst mit den Strukturen, Institutionen und Prozessen der strafrechtlichen Kontrolle auseinandersetzen" muss. Neuere Tendenzen zu einer „Kriminologie der Kontrolle" (Garland 2001, 174f., 282ff.) tragen dem Rechnung. Im Übrigen handelt es sich bei den Bedenken weniger um die Sorge vor Vergröberung und Verwässerung reiner Erkenntnis als vielmehr um die Annahme, dass bei der Bestimmung dessen, was als praxisrelevant gilt, die empirische Wissenschaft nicht ausgeschlossen, sondern unmittelbar beteiligt sein sollte (Lüderssen 1975, 22f.). Mit anderen Worten geht es um die Bestimmung des Bezugsrahmens angewandter Wissenschaft, insbesondere um die Konstruktion der Realität. Der Ausbau der kriminologisch-kriminalistischen Forschung im Bundeskriminalamt, die Gründung einer Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern sowie die Einrichtung des kriminologischen Dienstes im Strafvollzug (§ 166 StVollzG) veranschaulichen das nicht erlahmende Informationsbedürfnis der Praxis, jedoch auch manche Dilemmas angewandter Kriminologie. Diese aber lassen sich durch die abwertendverächtlich gemeinte Etikettierung als sog. „administrative" Kriminologie nur ungenau charakterisieren. Denn stets, wenn Wissenschaft und Erkenntnis auf die Praxis einwirken - sei es nur dadurch, dass sie die vorfindbaren Strukturen sichtbar machen, bestätigen und legitimieren - , hat Kriminologie praktisch-politische Konsequenzen. Dies ist auch dann der Fall, wenn man die Normativität angewandter Kriminologie verneint. Selbst jene, die in abwartend-kritischer Distanz zur angewandten Kriminologie und zur Praxis verharren, um auf diese Weise ihre Autonomie und die Reinheit der Lehre zu wahren, zögern keineswegs, durch Kritik und implizite kriminalpolitische Gegenmodelle Gesetzgebung und praktische Gestaltung der Strafrechtspflege zu beeinflussen, und zwar nicht nur „durch die Hintertür". Auch eine autonome Kriminologie, die sich als Aufklärung über Rechtsanwendung versteht und sich als Mittel zum „Freiheitsschutz als Aufgabe des öffentlichen Strafrechts" begreift (s. P.-A. Albrecht 2002, 93fif., 394ff.), will kriminalpolitisch relevant sein und bietet ihr Wissen als Hilfsdienst an. „Die Autonomiebestrebungen Albrechts münden mithin in eine neue sozialwissenschaftliche Gehilfenrolle. Aus dem Gehilfen zu einem schlechten Strafrecht soll eine Gehilfe zum guten Recht und ein guter Gehilfe werden" (so zutreffend Walter 2001, 713). Entsprechendes gilt für die Analyse der Prozesse, die sich mit dem Begriffspaar von Ein- und Ausschließung (vgl. bereits M. Weber 1976, 23ff.; Luhmann 1997, 627ff.; Young 1999; Althoff u.a. 2001; Scheerer 2001, 162ff.) verbinden und in der Gegenwart international zunehmend Aktualität gewonnen haben. Begründet weist Scheerer (2001, 162f.) darauf hin, dass der Exklusionsdiskurs selbst gegenüber der Weberschen Soziologie keinen Gewinn gebracht hat. Zwar haben Praxis und Wissenschaft ein jeweils verschiedenes Verständnis von relevantem Handlungswissen. Aber auch dann, wenn man von den Möglichkeiten und dem Nutzen der Zusammenarbeit überzeugt ist, dürfen die Gefahren, welche die Kooperation mit sich bringen kann, nicht verkannt werden. Sie liegen im möglichen Distanzverlust des forschenden Kriminologen gegenüber dem Untersuchungsgegenstand der Praxis sowie in der Begrenzung des Untersuchungsfeldes auf die herkömm44
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben lieh systemkonforme Forschung. Jeder, der sich mit der Anwendungsorientierung der Kriminologie befasst hat, erfährt deshalb, dass der Umgang zwischen Wissenschaft und Praxis für beide Seiten schwierig und konfliktreich ist. Eine Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft kann daher im Kommunikationsfeld von Kriminologie und Strafrecht nur insoweit fruchtbar werden, als eine gemeinsame Grundüberzeugung in dem Forschungsziel besteht und der Freiheitsraum der Forschung gewährleistet bleibt. Daraus folgt, dass auch in der angewandten Kriminologie als praktischer Wissenschaft niemand von außen Forschungsgegenstände und Befunde vorgeben, wohl aber ihre Mängel kritisieren darf. Autonomie und Gegenstandsbezug sind auch bei Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Problemen noch möglich und durch die Wissenschaftsfreiheit garantiert (BVerfGE 47, 327, 370). Weichen jedoch die Bezugsrahmen von Wissenschaft und Praxis aufgrund der Basiskonzepte erheblich ab, so sind der über eine Konfrontation hinausreichenden Begegnung Grenzen gesetzt. Hier muss man zunächst die Verschiedenheit der Aufgaben, der Rollen und der Sichtweisen sehen sowie die unterschiedlichen professionellen Sprachen, Normen und Standards erkennen. Solche Unterschiede gelten freilich nicht nur im Verhältnis von Wissenschaft und Praxis, sondern auch innerhalb der kriminologischen Wissenschaft, etwa zwischen Juristen und Soziologen. Diese unterliegen einem ganz verschieden gelagerten professionellen Druck, etwa in der Verteidigung des Status quo einerseits und als Oppositionswissenschaft mit der Forderung nach „Delegitimierung des Strafrechts" (vgl. Althoff u.a. 2001, 345ff.) andererseits. Daraus wiederum erwachsen Spannungen und Konflikte über den Gegenstand, den man als angewandte Kriminologie begreift. So wichtig daher die technologische Orientierung der Kriminologie auch sein mag, sie erschöpft die Aufgaben des Kriminologen nicht. Andernfalls könnte er - wenn nicht zum handlungsunfähigen Sozialkritiker im Elfenbeinturm - zum reinen Technokraten werden und sich im staatlichen Machtgefüge verstricken. Doch beide Rollen sind unbefriedigend. Im Umgang mit dem straffälligen Menschen und dem Verbrechensopfer wird nämlich auch Herrschaft ausgeübt und sind fundamentale Werte, insbes. die Menschenrechte, betroffen. Um der Gewährleistung solch fundamentaler Werte willen kann auch der Kriminologe nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Insofern treffen sich Vertreter der kriminologischen Hauptströmung mit jenen der sich kritisch verstehenden Kriminologie. Deshalb leuchtet ein, wenn eine kriminologische „Orientierung an der erkenntnisleitenden Idee" empfohlen wird, „menschliches Leiden im Umfeld von Kriminalität und Kriminalisierung zu mindern" (Kunz 1990, 100; 2001, 62). Freilich lässt sich auch dieser Anspruch bei aller Attraktivität nur einlösen, wenn man dabei nicht nur an die Leiden des Täters denkt, sondern auch an jene des Verbrechensopfers (vgl. insbes. Schneider 2001, 19, 24ff., 64ff., 380ff.). Doch nicht selten endet hier vorzeitig die kritische Perspektive. Sinngemäß das gleiche gilt für die kriminalpolitische Zielvorstellung von einem „ausgrenzungsarmen" Strafrecht (vgl. Kunz 2000, 30). Allerdings dürfte sich die minimalistische Strategie der „Ausgrenzungsarmut" (Kunz 2001, 386) nicht in der Maxime erschöpfen, „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!". Denn ein Strafrecht ohne jegliche Stigmatisierung oder Exklusion lässt sich schwerlich realisieren, ohne deshalb schon einer „revanche" crimi-
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft nology (Melossi 2001, 25ÍT.) anheim zu fallen. Ferner geht die überspitzte Gegenüberstellung zu weit, wonach die anwendungsbezogene Kriminologie eine Verbündete der offiziellen Kriminalpolitik sei, hingegen kritische, radikale Kriminologie deren Gegnerin (so aber Kunz 2001, 43). Denn auch die angewandte Kriminologie sieht sich bei ihren Untersuchungen zum geltenden Strafrechtssystem notwendig in einer distanziert-kritischen Beziehung, wenn sie unbefangen untersuchen und zu gehaltvollen Reformvorschlägen gelangen will. Kriminologen dürfen und müssen in einem gewissen Grad ein „gebrochenes" Verhältnis zur geltenden Rechtsordnung haben, wenn sie Gesetzgebung, Polizei und Strafrechtspflege beobachten (Kaiser 1997, 13f.). Die Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung einerseits sowie Strafrechtspflege oder Strafgesetzgeber andererseits kann nur dann fruchtbar werden, wenn die Verschiedenheit der Verantwortung des handelnden Strafrechtlers und des forschenden Kriminologen nicht aus dem Blickfeld gerät. Entsprechend verfehlt auch die Annahme, wonach die kritische Forschung den ideologisch verschleierten Herrschaftsaspekt des Kriminaljustizsystems und die konventionelle Kriminologie als Teil dieser ideologischen Verschleierung zu entlarven habe, die wesentliche Unterscheidung, zumal völlig dunkel bleibt, inwiefern in rechtsstaatlichen Demokratien der Herrschaftsaspekt des Kriminaljustizsystems überhaupt ideologisch verschleiert wird und hierzu die kriminologische Hauptströmung beiträgt (a. A. Kunz 2001, 49). Im Übrigen finden sich ideologische Positionen nicht nur auf einer Seite; auch die sich kritisch dünkende Kriminologie ist mit ihrer anti-etatistischen Grundtendenz keineswegs frei davon. Das Bedürfnis nach Ideologiekritik und „Entlarvung" wendet sich notwendig auch gegen jene, die im Namen der Entzauberung auftreten und diese nahezu als Monopol für sich beanspruchen. Bei Lichte betrachtet kann daher vielleicht von unterschiedlicher „Reflexivität", aber keineswegs von „the lost honour of criminology" (so aber Serrassis 2001, 45ff.) die Rede sein.
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Ausblick
Die verbleibenden Unterschiede im kriminologischen Selbstverständnis äußern sich heute hauptsächlich als verschiedene Forschungsinteressen und in der abweichenden Distanz oder Nähe zur Bewältigung praktischer Aufgaben, nicht zuletzt durch ein differenziertes Rollenverständnis, zum Teil durch die spezifische professionelle Orientierung als Soziologe, Psychologe oder Jurist bedingt. Doch über derartige Besonderheiten hinweg lässt sich der kriminologische Forschungsgegenstand mit den Grundbegriffen Verbrechen, Verbrechenskontrolle, Täter und Opfer, eingebettet in die sozialkulturellen Bezüge und das Spannungsverhältnis zu Staat und Gesellschaft oder neuerdings zur Globalisierung treffend kennzeichnen. Der Streit um den Rang von Täter- und Opferorientierung sowie zur Bedeutungsanalyse und Infrastruktur strafrechtlicher Sozialkontrolle einschließlich Prävention, Privatisierung sowie dem Konstruktcharakter von Kriminalität und Verbrechen hat die kriminologische Welt in den letzten vier Jahrzehnten tiefgreifend verändert und ihr weitgehend ein neues Bild vermittelt. Dieses reicht in seiner Vielfalt von der erneuerten traditionell-interdisziplinären Sichtweise mit Täter, Opfer und Sozialkontrolle bis zu einem Gemisch kritisch-konstruktivistischer, abolitionistischer und postmoderner Ansprüche mit jeweils 46
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1.1 Kriminologie: Begriff und Aufgaben unterschiedlicher Affinität zur Theorieentwicklung, soziologisch-theoretisierender Betrachtungsweise und praxisbezogener kriminalpolitischer Relevanz. Bei dem Richtungsstreit lässt sich freilich das zeitweilig heftige Ringen um Hegemonie und Diskurshoheit nicht verkennen. Gleichwohl ist es ihm zu verdanken, dass aufgrund wechselseitiger Anregung und Kritik Übertreibungen weitgehend zurückgeschnitten wurden und sich Fehlentwicklungen in Grenzen hielten.
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa HELMUT KURY
Inhaltsübersicht 1 Einleitung 2 Vorwissenschaftliche Befunde 2.1 Frühe Informationen zu Kriminalität 2.2 Kriminalität in der Literatur 3 Die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts 3.1 Beginn einer wissenschaftlichen Kriminologie 3.2 Anfange einer wissenschaftlichen Kriminalpsychologie 4 Die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts 4.1 Beginn einer Kriminalstatistik 4.2 Die Lehre vom „geborenen Verbrecher" 5 Die neuzeitliche Kriminologie des 20. Jahrhunderts 5.1 Die Entwicklung bis Ende des Zweiten Weltkriegs 5.2 Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg 5.3 Entwicklungen in anderen europäischen Ländern
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Einleitung
Sozial abweichendes, von den Mitgliedern einer Gemeinschaft unerwünschtes, verbotenes und damit irgendwann auch als „kriminell" definiertes Verhalten gehört zu jeder Gesellschaft als „normale" Erscheinungsform menschlichen sozialen Verhaltens. Von daher ist naheliegend, dass man sich schon sehr früh mit den Hintergründen solchen Verhaltens und vor allem auch damit beschäftigt hat, wie man ihm vorbeugen kann. Wie heute, dürfte auch schon zu allen Zeiten vor allem das schwere Verbrechen nicht nur eine große Erschütterung mit sich gebracht, sondern, vor diesem Hintergrund auch eine große Faszination auf die Menschen ausgeübt haben.
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Vorwissenschaftliche Befunde
2.1
Frühe Informationen zu Kriminalität Seit alters her hat sich etwa die Kunst immer wieder mit dem Thema beschäftigt. Aber auch heilige und religiöse Schriften berichten vielfach über Verbrechen, wie Mord und Totschlag. Im Codex Hammurabi, ca. 1750 v. Chr., einem der ersten überlieferten „Geset-
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft zesbücher", findet sich bereits eine unterschiedliche Wertung vergleichbaren abweichenden Verhaltens, je nachdem, ob es von reichen oder armen Menschen begangen wurde. So wird letztlich von einem gesellschaftlich Höherstehenden auch eine höhere Moral erwartet, entsprechend sein abweichendes Verhalten konsequent auch härter bestraft (vgl. Göppinger 1997, S. 6). Gleichzeitig wird aber auch das Ziel vertreten, eine Verletzung durch den Täter an diesen in kontrollierter Weise und nach Regeln „zurück zu vergelten", um einer unkontrollierten und die Gemeinschaft gefährdenden Rache vorzubeugen. Entsprechend wird vorgeschrieben (Nr. 196, 197, 200): „Gesetzt, ein Mann hat das Auge eines Freigeborenen zerstört, so wird man sein Auge zerstören. Gesetzt, er hat einem anderen einen Knochen zerbrochen, so wird man seinen Knochen zerbrechen. Gesetzt, ein Mann hat einem anderen ihm gleichstehenden Manne einen Zahn ausgeschlagen, so wird man ihm einen Zahn ausschlagen". Dieses Talionsprinzip des „wie du mir, so ich dir", findet sich in gleicher Weise auch im Alten Testament der Bibel, die dreihundert Jahre danach, ca. 1450-1410 v.Chr. entstanden ist (vgl. 2. Buch Mose, 23-25): „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde". Das ägyptische Totenbuch aus der Zeit des Neuen Reiches (ca. ab 1600 v. Chr.) bringt ein Beispiel, wie damals bereits bei der Beurteilung bzw. Aburteilung des Menschen im Jenseits die von diesem begangenen Sünden gegen sein „Lebenslos" als „Lebenszeit und Lebensgeschick" aufgewogen werden (Brunner 1961). „Das Crimen oder, im Hinblick auf jene Zeit besser gesagt, die böse Tat, verliert an Gewicht, wenn sich der Vorwurf gegen einen Menschen wegen der Verstrickung in sein Lebenslos verringert" (Göppinger 1997, S. 6). Straftaten wurden somit bereits damals im Zusammenhang mit deren Zustandekommen und Hintergrund unterschiedlich gewichtet. Als schwer wurden etwa eingestuft Handlungen zum Schaden des Nächsten, gegen die Götter und gegen den religiösen Kult, aber auch gegen den Täter selbst, ferner Unzucht und nichtehelicher Geschlechtsverkehr. Selbst Vergehen gegen die Wirtschaft wurden schon angeführt, was auf die Bedeutung des Handels im damaligen Ägypten hinweist (Göppinger 1997, S. 6). Wie wir inzwischen aus alten Überlieferungen aus dem damaligen Ägypten wissen, gab es dort auch bereits eine recht differenzierte und „modern" anmutende Kriminalität, wie etwa Korruption, Bestechung und „politische" Straftaten im Zusammenhang etwa mit dem Bau und der Einrichtung der mit reichhaltigen Beigaben versehenen Königsgräber. So wurden etwa Arbeiter, die über entsprechende geheime Informationen über diese Gräber verfügten, teilweise von Regierungsbeamten bzw. „professionellen" Tätern bestochen, ihr Wissen zur Plünderung der Gräber preiszugeben, ebenso waren zum Teil hohe Polizeibeamte am Gewinn beteiligt, um eine Strafverfolgung auszuschalten. Flogen die Machenschaften auf, wurden schon damals in der Regel vor allem oder nur die sozial Schwächeren sanktioniert, üblicherweise mit der Todesstrafe (vgl. Kury 1995). Zu vergleichbaren „organisierten" Straftaten kam es etwa auch im alten römischen Reich. Ab dem 4. Jahrh v. Chr. war es dort üblich, öffentliche Aufträge an Privatunternehmer zu vergeben. So werden von Livius (59 v. Chr - 17 n. Chr.) Aufträge für Lieferungen zur militärischen Versorgung des im Ausland agierenden Heeres ab der Zeit des Krieges gegen Hannibal erwähnt, wohl vor allem deshalb, weil damals (215 v.Chr.) eine offensichtlich noch nie dagewesene Knappheit in der Staatskasse herrschte. Die privaten Transportunternehmen wurden deshalb gebeten, den Bedarf der Truppen in Spanien auf Kredit zu decken. Offensichtlich waren solche Pachtverträge bereits damals eine lang geübte Praxis. Versorgungsgüter für die Truppen wurden vielfach in Schiffen verfrachtet und so zugestellt. Dies war damals nicht ungefährlich, deshalb wurden den privaten Unternehmern durchaus beachtliche Gewinne zugestanden. Livius berichtet nun, wie zwei Lieferanten die Staatskasse betrogen hatten, indem sie seeuntüchtige Schiffe mit wertlosem Plunder beladen ließen, nachdem die Schiffe auf hoher See absichtlich versenkt worden waren,
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa forderten sie die Versicherungssumme für ordnungsgemäße Heereslieferungen, eine durchaus „moderne" Form von Versicherungsbetrug. Nachdem die Sache aufflog, wollte der römische Senat nicht gegen die Schuldigen vorgehen, einerseits weil er die Abhängigkeit des Staates von den Unternehmern erkannte und diese in der krisenhaften Situation nicht verärgern wollte, andererseits aber auch, weil die Täter sehr bedeutende Römer waren (Badian 1997, S. 9fT.). Die Innere Sicherheit war im damaligen Rom, aber auch in vielen Gebieten des Reiches schlecht, Überfalle, insbesondere bei Nacht, waren weit verbreitet. Auch die Literatur, etwa Romane, beschäftigten sich schon damals vielfach mit dem Thema Kriminalität ( Weeber 1995, S. 188ff). Vergleichbare Berichte finden sich in der jüdischen, antiken oder altgermanischen Geschichte (vgl. etwa Hoebel 1968; Pospisil 1982). Schon bei den altgriechischen Philosophen finden sich Ausführungen zu den Gründen von Straftaten bis hin zur sozialen Bedeutung von Sanktionen, so etwa bei Plato (428-348 v.Chr.), Aristoteles (384322v.Chr.) oder Hippokrates (460-377) (Kunz 2001, S. 83f.). Plato machte sich bereits Gedanken über die Ursachen der Kriminalität und sieht diese vor allem in einer schlechten Erziehung (Drapkiti 1983). Im „Protagoras" (380 ν. Chr.) betont er: „Wer auf eine vernünftige Weise zu Strafen gedenkt, der züchtigt nicht wegen des schon begangenen Unrechts - denn das Geschehene kann er ja doch nicht ungeschehen machen - , sondern um des zukünftigen willen, damit hinfort weder der Täter selbst wieder Unrecht begehe, noch auch die anderen, welche sehen, wie er bestraft wird". Hier geht es somit auch deutlich auch um generalpräventive Gedanken der Abschreckung (vgl. Schwarzenegger 2004, S. 27). Sokrates sah in den schlechten Manieren junger Menschen einen Grund für deren sozial abweichendes Verhalten. Die Bibel beinhaltet sowohl im Alten als auch Neuen Testament Berichte über eine Fülle schwerer und schwerster Straftaten, gefolgt vielfach von (göttlichen) Strafen bis hin zur Ausrottung bzw. Verdammung ganzer Volksstämme. Schon zu Beginn (Gen 4, 1-16) der Heiligen Schrift wird ein Brudermord aus Neid bzw. Eifersucht beschrieben: Kain und sein Bruder Abel bringen dem Herrn ein Opfer dar, dieser schaute nur auf dasjenige Abels. „Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn". Es gibt kaum ein Verbrechen, das nicht schon im Alten Testament beschrieben wurde. Daneben findet sich hier allerdings auch bereits eine breite Palette grausamer und grausamster Strafen, vielfach von Gott selbst angeordnet. „Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen ... Gewalttätigkeit als Mittel der Verhaltenssteuerung durch Zufügen von physischem Schmerz und Leiden bis zur physischen Vernichtung oder Drohung mit diesen Maßnahmen ist weithin kennzeichnend für die biblische Einstellung gegenüber (norm)abweichendem Verhalten (Sünde) in sehr umfassender und häufig exzessiver Weise" (Buggle 1992, S. 68). So arbeitet Buggle (1992, S. 70ff.) heraus, dass der biblische Gott auch zu einer „exzessiven Anwendung der Todesstrafe" auffordert, etwa zur Hinschlachtung ganzer städtischer Bevölkerungen, lediglich wegen der Teilnahme an fremden kultischen Handlungen, zur Denunziation und Tötung, auch nächster Angehöriger. Die Todesstrafe werde exzessiv gefordert etwa für sexuelle Abweichungen (Dtn. 22; 13,14,20,21; Lev. 20; 13) oder gegen verhaltensschwierige eigene Kinder: „Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen, und er trotzdem nicht auf sie hört, dann sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: .Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker'. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen, und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen" (Dtn. 21; 18-21; Buggle 1992, S. 74). Wie Buggle weiter zeigt, werden auch im Neuen Testament immer wieder grausamste Strafen für „abweichendes" Verhalten angedroht.
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft In diesen frühen Gesellschaften diente die Strafe vor allem auch der Besänftigung der Götter, die etwa selbst durch Menschenopfer milde gestimmt werden sollten, wie auch Beispiele aus der Bibel belegen (vgl. Gen. 22) (vgl. a. Schneider 1987, S. 90). Berücksichtigt man den Einfluss der großen Weltreligionen, wie des Christentums oder des Islams auf politisches bzw. menschliches Verhalten aber auch auf die Entwicklung strafrechtlicher Normen, bekommen solche Ausführungen ein zusätzliches Gewicht und einen Einfluss, der bis in die heutige Zeit hineinreicht (vgl. Schild 1980). Zu denken wäre etwa an die Glaubenskriege des Mittelalters, und die Kreuzzüge, an die Inquisition oder an den vielfach religiös begründeten Terrorismus jüngster Zeit. So begreift das Mittelalter etwa vor dem Hintergrund biblischer Ausführungen das Verbrechen nicht nur als Verletzung staatlicher Nonnen, sondern auch als Sünde gegen Gott, als die Verfehlung eines gottesgerechten Lebens, ist somit für weltliche Kriminalitätserklärungen nicht zugängig (vgl. Schmidt 1995, S. 153ff.). Die Strafe wird notwendig, weil Gott sie fordert (Kunz 2001, S. 83f.; Schneider 1987, S. 90). Für eine solche Strafauffassung traten nicht nur Thomas von Aquin (1225-1274) sondern in vergleichbarer Weise auch noch Martin Luther (1483-1546) ein. „Es war ein wesentliches Prinzip der christlichen Gedankenwelt des Mittelalters, dass durch die Strafe Gottes Zorn über die Missetat vom Land abgewendet, dass das Land also .entsühnt' werden könne. Für das Seelenheil des Verbrechers war entscheidend, dass er selbst durch das Strafleid mit Gott ausgesöhnt wurde" (Schneider 1987, S. 90). Letzteres spielte etwa vor allem im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung eine wesentliche Rolle, wo es etwa wesentlich darum ging, durch die Sanktionen das Seelenheil der vom Teufel Besessenen zu retten. Solange StrafFälligkeit als Verfehlung gegen Gott bzw. als Besessenheit vom Teufel aufgefasst wurde, bot sich kaum Raum für eine Wissenschaft, die sich mit den Ursachen der Kriminalität befasste. Umso auffallender ist es, dass sich etwa bereits Thomas Morus (1478-1535) in seinem Buch „Utopia" (1516) kritisch mit der harten Strafpraxis seiner Zeit auseinandersetzte. Ihm war aufgefallen, „daß es, obwohl nur wenige der Todesstrafe entgingen, doch allerorten von Dieben wimmle" (1992, S. 51). Er vertrat die Ansicht, dass „diese Bestrafung der Diebe ... die Grenze der Gerechtigkeit (überschreite) und ... für das Gemeinwohl nicht ersprießlich (sei). ... Der einfache Diebstahl ist doch kein so ungeheueres Verbrechen, daß er mit dem Kopfe gebüßt werden muß, noch ist andrerseits eine Strafe so schwer, daß sie vom Stehlen diejenigen abhielte, die sonst keinen Lebensunterhalt haben". Die halbe Welt scheine ,jenen schlechten Schullehrern nachzuahmen, die ihre Schüler lieber mit der Rute züchtigen als unterrichteten. Schwere, schauerliche Strafen sind für die Diebe festgesetzt worden, während doch eher Vorsorge zu treffen gewesen wäre, daß einer nicht in die harte Notwendigkeit, zu stehlen, versetzt werde, um dann infolgedessen sterben zu müssen" (S. 52). Was bleibe diesen Armen, die ihre Heimat vielfach an „unersättliche Prasser" verloren haben, „schließlich übrig, als zu stehlen und danach von Rechts wegen gehängt zu werden, oder als Bettler sich herumzustreiben? Dann werden sie als Landstreicher ins Gefängnis geworfen wegen müßigen Herumtreibens, während sie doch niemand in Arbeit nehmen will, obwohl sie sich höchst begierig anbieten" (S. 56). In aller Deutlichkeit wird die große Zahl der Adligen gerügt, „die nicht nur selbst im Müßiggang von der Arbeit anderer wie Drohnen leben, sondern die Bauern auf ihren Gütern bis aufs Blut schinden, um die Renten zu erhöhen" (S. 52). „Wofern ihr nicht diesen Übeln steuert, rühmt ihr vergeblich eure zur Sühne des Diebstahls gehandhabte Rechtspflege, die mehr blendend als gerecht und heilsam ist. Wenn ihr eine schlechte Erziehung geben und die Sitten von den zartesten Jahren an allmählich verderben lasset, dann, wenn sie endlich Männer geworden sind, jene Verbrechen bestraft, die zu begehen sie von Kindheit auf in Aussicht gestellt haben - was tut ihr da anders, frage ich, als Diebe heranbilden und sie dann hinrichten?" (S. 59). Diese kritischen Gedanken fanden in jener Zeit, in welcher Verbrechen noch weitgehend religiös erklärt wurden, nur wenig Anklang. Bereits Ende des 12./Anfang des 13. Jahr56
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa hunderte kamen jedoch mehr und mehr Zweifel hinsichtlich der hergebrachten Methode der „kriminalistischen" Wahrheitsfindung auf. Im Sachsenspiegel (1220) heißt es, dass man „über rechte Toren und sinnlose Mann ... nicht richten" soll. Auch hier wurde somit bereits wiederum auf schuldmindernde Umstände bei der Begehung einer Straftat hingewiesen. Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen hat 1231 in dem ersten großen mittelalterlichen Gesetzeswerk das Gottesurteil verbieten lassen, da sich so die Wahrheit nicht herausfinden lasse, ordnete gleichzeitig an, dass Richter des Königs ihr Urteil aufgrund von Zeugenaussagen und Urkunden zu begründen haben (Kaiser 1996, S. 109). Seit Anfang des 14. Jahrhunderts sind bereits erste Bemühungen zur Untersuchung der materiellen Wahrheit bei Straftaten durch Leichenöffnung und Leichenschau bekannt, was einen wesentlichen Fortschritt zur Klärung von Verbrechen darstellte. Die erste überlieferte richterliche Leichenöffnung fand 1302 in Bologna statt (Kaiser 1996, S. 110). Nach Foucault (1976, S. 289) war „die Gerichtsuntersuchung der erste aber grundlegende Ansatz zur Konstituierung der empirischen Wissenschaften" (vgl. Kaiser 1996, S. 110). Die entscheidende Wende erfolgte allerdings erst in der Zeit der Renaissance, ihre Wurzeln gehen aber auf das „Prinzip der Erforschung der materiellen Wahrheit" zurück (Kaiser 1996, S. 110; Lüderssen 1984, S. 201). Von 1450 bis 1550 nehmen die wissenschaftliche Qualifizierung und das Ansehen der ärztlich-medizinischen Gutachter zu (Bader 1973, S. 8; Kaiser 1996, S. 111). So fordert die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532 („Constitutio Criminalis Carolina") bei Tötung und Kindstötung bereits einen Sachverständigenbeweis. Als Reichsgesetz werden die „Wundärzt" und „Sachverstendig" eingeführt. Bei Kindstötung (Artikel 36) sollen die Hebammen, bei Totschlag (Artikel 147) die Wundärzte angehört werden. Uber die Leichenöffnung wird auch bereits ein schriftliches Protokoll verlangt (Artikel 149) (Kaiser 1996, S. 111). Zunehmend schaffen Humanismus und Renaissance ein mehr und mehr säkularisiertes Weltbild. Auch das Strafrecht löst sich in dieser Entwicklung mehr und mehr von seinen religiösen Bezügen und sucht „nach einer weltlichen Begründung der Strafe" (Kunz 2001, S. 84). In diesem Kontext kommt es dann mit Thomas Morus (1516) zu einer Betonung gesellschaftlicher Verbrechensursachen und einer entsprechenden deutlichen Kritik der damaligen Sanktionspraxis. Vor diesem Hintergrund können sich nun auch Gedanken der Kriminalprävention entwickeln. Im Mittelalter beschäftigten sich offizielle Gremien, wie Stadträte oder Kreistage, immer wieder mit Fragen der öffentlichen Sicherheit, etwa der Gefährdung durch umherziehende und plündernde Banden oder „Zigeuner", Straßenräuber und Mörder. Teilweise wurde vermutet, dass Mitte des 17.Jahrh. umherziehende Mordbrenner Soldaten aus dem beendeten 30-jährigen Krieg waren. Ein Generalreskript aus Südwestdeutschland von 1666 liefert eine umfassende Beschreibung der Eigenarten von sich auf den Straßen herumtreibenden Menschen. Hierin wird die „Zunahme von Bettlern, Landläuffern, Brandstewrsamlern und allerhand vagirenden Gesindleins", ferner die weitgehende Ignorierung der herzoglichen Befehle früherer Jahre beklagt (Fritz 2003, S. 19f). Es werden zwei Haupttätergruppen unterschieden: die In- und Ausländer. Unter den Ausländern werden vor allem falsche Adlige genannt, weiterhin angeblich ausländische Pfarrer und Lehrer, Studenten und entlassene Soldaten. Weiterhin zogen Leute umher, die „behaupteten, Brandsteuer-Kollektanten zu sein, und die mit gefälschten Briefen Gelder für angeblich brandgeschädigte Orte sammelten" (Fritz 2003, S. 20). Es werden Hinweise gegeben, wie man sich gegen diese Formen der Kriminalität wehren könne. Bereits zwei Jahre später wird beklagt, dass die Anordnungen nicht eingehalten würden, dass die Bevölkerung, wenn sie den Forderungen der Vaganten nicht nachkomme „schier bey Nacht Leibs und Lebens nicht mehr sicher seyn" könne (Fritz 2003, S. 21). Bei der polizeilichen Verhaftung der Vaganten solle deren Gefährlichkeit festgestellt und entsprechend gehandelt werden. Teilweise versetzte die Bevölkerung die Nachricht von anrückenden Zigeunerhorden oder Giftmischern in Angst und Schrecken (Fritz 2003, S. 28). Hungersnöte heizten die
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Problematik vielfach noch erheblich an (vgl. etwa zur Kriminalgeschichte in England den Überblick bei Sharpe 1988). 2.2
Kriminalität in der Literatur Neben der Geschichtsschreibung bieten sich vor allem auch Dichtung, Schauspiel und weitere Literatur als Quellen an, die zahlreiche Beispiele straffälligen Verhaltens und des Umgangs damit bieten. Zu denken wäre etwa an das Niebelungenlied, das in weiten Teilen eine Beschreibung brutalster Straftaten darstellt. Auch das deutet darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Verbrechen und seinen Hintergründen schon immer eine Faszination auf die Öffentlichkeit ausübte. Bänkelsänger des Mittelalters griffen als Nachrichtenübermittler jener Zeit offensichtlich bereits das Verbrechen als interessierendes Thema auf ( Wasem 1968). Nach Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert wurde die neue Technik zur Verbreitung von Informationen bald auch in Form der Herstellung von „Flugschriften" genutzt, Druckschriften von geringerem Umfange, die leicht verbreitet werden konnten und in denen zu unterschiedlichen Tagesfragen Stellung genommen wurde. Sie waren Vorläufer der heutigen Zeitung, wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch schon so genannt. „Die Flugschrift erschien als Sprachrohr des Volkes meist bewusst anonym oder pseudonym, vor allem in früher Zeit häufig illustriert, von marktschreierischer Aufmachung, die in tendenziöser, oft polemischer Form und derber Sprache auch Formen wie das Lied, den Dialog, den Brief (Sendschreiben), die Satire verwandte. Durch Berichte von Unglücksfällen, Naturkatastrophen, Mordtaten, Festen und ähnlichem stellt sie ein wichtiges kultur- und zeitgeschichtliches Dokument dar" (Staatsbibliothek zu Berlin 2000, S. 130). Im 18. und 19. Jahrhundert erschienen Werke, die heute zur Weltliteratur gerechnet werden, und die das Thema Kriminalität und Sanktionen weiter problematisierten und kritisch beleuchteten. So veröffentlichte etwa Jonathan Swift (1667-1745) 1726 seinen breit gelesenen utopischen Roman „Gullivers Reisen", in welchem er im 6. Kapitel auch Gesetze, Gewohnheiten und Erziehungsmethode der Einwohner von Lilliput beschreibt, in deren Land er verschlagen wurde. Alle Verbrechen gegen den Staat würden hier mit der größten Strenge bestraft, Denunzianten würden auf schimpfliche Weise hingerichtet, der zu Unrecht Verdächtigte würde für alle entstandenen Kosten aus dem beschlagnahmten Vermögen des Übeltäters entschädigt, reicht dieses nicht aus, „zahlt die Krone genügend Entschädigung. Der Kaiser erweist ihm auch eine öffentliche Gnadenbezeigung, und in der ganzen Hauptstadt wird seine Unschuld durch Proklamation verkündet" (Swift 1993, S. 94). Auch Betrug wird mit dem Tode bestraft. Allerdings gilt andererseits auch (S. 95): „Obgleich wir Belohnung und Strafe die zwei Angeln zu nennen pflegen, auf denen sich jede Regierung bewegt, so habe ich doch diesen Grundsatz bei keiner Nation mit Ausnahme der lilliputschen ausüben sehen. Jeder, welcher den Beweis vorbringen kann, dass er die Landesgesetze dreiundsiebzig Monate lang mit größter Strenge befolgt hat, erhält einen Anspruch auf gewisse Privilegien, je nach seinem Stand und Lebensverhältnis, zugleich eine besondere Geldsumme, die aus einem besonderen Fonds für diesen Zweck genommen wird. Ferner erhält er den Titel Seilgall oder der Gesetzliche, der seinem Namen angefügt, jedoch auf seine Nachkommen nicht vererbt wird. Die Lilliputer hielten es auch für einen außerordentlichen Mangel unserer Staatsverfassung, als ich ihnen sagte, die Befolgung unserer Gesetze werde allein durch Strafen erzwungen, ohne dass von irgendeiner Belohnung die Rede sei." Charles Dickens (1812-1870) beschreibt und kritisiert in seinen Romanen, insbesondere etwa in „David Copperfield" (1982), die damaligen gesellschaftlichen Zustände, insbesondere auch hinsichtlich Inhaftierung und Strafvollzug. Friedrich Schiller (1759-1805) veröffentlicht 1786 eine erste Fassung seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre eine wahre Geschichte" (1792; 1998), in welcher er die Geschichte des Sonnenwirtes
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa Friedrich Schwan schildert, der, um seinem Mädchen zu imponieren zum Wilddieb wird. Mehrmals rückfällig, kommt er auf die Festung, die er als „Verirrter" betritt und als „Lotterbube" verlässt. Doch erst die folgende Verachtung nach der Entlassung, die Erklärung zum Ehrlosen, der Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft, lassen ihn zum Mörder werden (Zeller 1998, S. 68). Schiller (1998, S. 6) kritisiert heftig den Umgang der Justiz mit solchen Straftätern. So behalte die Seelenkunde im Umgang mit solchen Tätern schon alleine deshalb den Vorzug, „weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend auf die gefallne herunterblickt; weil sie den sanften Geist der Duldung verbreitet, ohne welchen kein Flüchtling zurückkehrt, keine Aussöhnung des Gesetzes mit seinem Beleidiger stattfindet, kein angestecktes Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird". Hier werden bereits wesentliche Gedanken der späteren Stigmatisierungs- bzw. Ettikettierungstheorie in dichterischer Form angesprochen. Droste-Hülshoff (1797-1848) greift in ihrer Erzählung „Die Judenbuche" eine vergleichbare Kriminalgeschichte auf und kritisiert auch ihrerseits den vorurteilsbehafteten Umgang mit im Leben Gescheiterten, die zu Straftätern wurden, die Art der Menschen, „gerade die Hilfslosesten zu verlassen, solche, bei denen der Beistand nicht nachhaltig wirkt und die der Hilfe immer gleich bedürftig bleiben" (1995, S. 52). Von den klassischen Dramen und Epen führt der Weg etwa über Novellen und Balladen des Mittelalters, Erzählungen aus den letzten Jahrhunderten bis zum Kriminalroman neuerer Zeit, einer Literaturgattung, die sich stets großer Beliebtheit erfreut hat, in der Regel jedoch nur die „Sensation" berichtet, meist wenig zum Verständnis von Tat und Täter beiträgt (Göppinger 1997, S. 7; Marsch 1972; Schneider 1977). Diese Faszination schwerer Straftaten hat sich etwa auch hinsichtlich der Veröffentlichung auffallender Kriminalfalle durch den französischen Advokaten Francois Gayot de Pitaval (1673-1743) gezeigt, die besondere Berühmtheit erlangt hat. In den Jahren 1734 bis 1743 gab er in Paris „merkwürdige Kriminalfalle" in immerhin 20 Bänden heraus, die bereits 1747 in deutscher Sprache erschienen. Wie Schneider (1987, S. 94) ausführt, gab es aufgrund des Erfolges der Veröffentlichung in der Folge den „Deutschen Pitaval", den „Wiener Pitaval" und den „Prager Pitaval". Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833) gab 1808 und 1811 zwei Bände „Merkwürdiger Kriminalrechtsfalle", ferner 1828 und 1829 zwei weitere Bände „Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen" heraus (vgl. a. Schwind 2005, S. 92f.). Diese Tradition wird auch in neuerer Zeit in Form von Veröffentlichungen berühmter Strafprozesse aus unterschiedlichen Ländern fortgesetzt (Göppinger 1997, S. 7; vgl. a. Müller-Dietz 1990; Schönert 1991). Heute spielen Fernsehsendungen wie „Tatort" oder „XY-ungelöst" zu besten Sendezeiten eine wichtige Rolle, was alleine schon darauf hindeutet, dass sie „ankommen".
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Die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts
3.1
Beginn einer wissenschaftlichen Kriminologie
Eine erste systematische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Kriminalität setzte dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Zeitalter der Aufklärung ein. Entsprechend sehen zum Teil nordamerikanische Kriminologen und auch einige deutsche Lehrbuchautoren in der Klassischen Schule die erste Epoche einer wissenschaftlichen Kriminologie und datieren deren Beginn auf die zweite Hälfte des 18. Jahrh. (vgl. Siegel 1992, S. 31fF.; Lüderssen 1984, S. 202f„ 205; Schneider 1987, S. 91f.; Kunz 2001, S. 84ff.). Die Gliederung hinsichtlich der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung in der Kriminologie ist in den einzelnen Lehrbüchern unterschiedlich. Kaiser (1996, S. 115ff.) Helmut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft etwa unterteilt nach der beruflichen Ausbildung in juristische und psychiatrische (S. 115ff.), psychologische und psychoanalytische (S. 118ff.) und soziologische Beiträge (S. 124ÍT.). Göppinger (1997, S. 12ff.) geht auf einzelne herausragende Repräsentanten ein (vgl. a. Schwind 2005, S. 85ff.), stellt die Kontroversen um den Positivismus dar (S. 17ff.) und beschreibt die Entwicklung im deutschsprachigen Raum, ebenfalls unterteilt nach Berufsgruppen (S. 23ff.). Kunz (2001, S. 83ff.) unterteilt in die klassische Schule des 18. Jahrh., die anthropologisch-positive Schule des 19. Jahrh. und die Entwicklung des Vereinigungsgedankens um die Jahrhundertwende. Auch nach Schneider (1987, S. 91) kann man in der Geschichte der Kriminologie drei Epochen unterscheiden: die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts, die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts und die neuzeitliche Kriminologie der Mitte des 20. Jahrhunderts. Parallel zu diesen Epochen haben sich zwar kriminalpsychologische und kriminalsoziologische Strömungen ergeben, die etwa versucht haben, die kriminelle Persönlichkeit bzw. die Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft zu untersuchen. Diese Strömungen haben aber die Entwicklung der Kriminologie nicht so maßgeblich beeinflusst wie diese drei Epochen. 1764 veröffentlichte der noch nicht 26jährige italienische Jurist Cesare Beccaria (1738-1794) einen kleinen Band „Dei delitti e delle pene" („Über Verbrechen und Strafe"), der in kurzer Zeit breit bekannt, in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und mehr als 60 Auflagen erreichte. Beccaria war beeinflusst von den Gedanken der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien, von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Charles de Montesquieu (1689-1755) und Francois-Marie Arouet (Voltaire; 1694-1778). Die Zeit war reif für seine kritischen Ausführungen, entsprechend wurden diese sehr breit aufgegriffen, obwohl er im Vergleich zu früheren Autoren nichts wesentlich Neues sagte (vgl. Schneider 1987, S. 92; Beirne 1994). Die Sichtweise des Verhältnisses von Staat und Bürgern war in einem deutlichen Wandel begriffen: der Staat bezieht nun seine Legitimation aufgrund von Verträgen freier Bürger mit diesem, Ziel ist, allen möglichst zu einem glücklichen Leben zu verhelfen. Vor dem Hintergrund dieses sich mehr und mehr verbreitenden aufklärerischen Gedankengutes war die damalige Sanktionspraxis mit ihren grausamen und unbestimmten Körperstrafen, der Folter und breiten, ferner grausamen Anwendung der Todesstrafe, der teilweise nach wie vor praktizierten Hexenverfolgung, der Ungleichheit vor dem Gesetz immer weniger akzeptabel. „Unnötige" Herrschaftsgewalt wurde als „tyrannisch" betrachtet. Voltaire verfasste 1766, also zwei Jahre nach Erscheinen des Buches einen Kommentar dazu, in welchem er u.a. schrieb: „Ich schmeichelte mir, dieses Werk werde den Rest der Barbarei im Rechtswesen so vieler Nationen verringern; ich hoffte auf einige Reformen im Menschengeschlecht..." {Alff 1989, S. 85f; Kunz 2001, S. 85). Friedrich der Große schrieb 1777 in einem Brief an Voltaire: „Beccaria hat uns nichts zur Klärung übrig gelassen. Wir haben nur dem zu folgen, was er geschrieben hat" (vgl. Schneider 1993, S. 13; Schwind 2005, S. 88; vgl. a. kritisch Newman u. Marongiu 1990). Beccarias Forderungen waren kurz und knapp und klar formuliert (vgl. Naucke 1989). Wichtig war nun, was der Gesellschaft nutzte, auch hinsichtlich der Kriminalpolitik. Abgelehnt wurden vor allem mehr und mehr der Hexenglauben, die grau60
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa samen mittelalterlichen Sanktionen gegen Religionsdelikte und die exzessive Anwendung der Todesstrafe (vgl. Schild 1980). So betont Kürzinger (1975, S. 765), „dass in der Heimatstadt Beccarias, die zu seiner Zeit um die 120.000 Einwohner zählte, in den Jahren 1741-1762 mehr als 77.000 Personen zu Gefängnis oder zum Tode verurteilt wurden; an manchen Tagen fanden in der Stadt bis zu sechs Hinrichtungen statt. Das Kriminalrecht Englands kannte zu dieser Zeit für nicht weniger als zweihundert Verbrechen die Todesstrafe" (vgl. a. Schwind 2005, S. 86). Beccaria erlebte somit die Grausamkeit der damaligen Sanktionspraxis tagtäglich selbst mit, hatte auch als Jurist damit zu tun. Nach Beccarias Forderungen sollte sich die zukünftige Kriminalpolitik von den mittelalterlichen Praktiken abwenden und sich an den folgenden Prinzipien orientieren (vgl. Schwind 2005, S. 86f.; Küper 1968, S. 547ff.; Kürzinger 1975; Deimling 1989): 1. Verbot willkürlichen Vorgehens seitens der Polizei, 2. Strikte Bindung des Richters an das Gesetz, 3. Möglichst rasche Abwicklung des Strafverfahrens, denn je schneller die Strafe auf die Tat folgt, desto wirksamer aber auch gerechter ist sie, 4. Trotzdem aber Zurverfügungstellung von genügend Zeit für die Verteidigung, um ein gerechtes Verfahren zu ermöglichen, 5. Abschaffung geheimer Anklagen und Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, 6. Unschuldsvermutung bis zur Überführung des Täters, 7. Abschaffung des Strafzweckes der Vergeltung zugunsten der Abschreckung des Täters vor weiteren Straftaten (Spezialprävention) bzw. der Allgemeinheit (negative Generalprävention), 8. Abschaffung der Folter und grausamer Sanktionen; es sei nicht Zweck der Sanktionen, den Täter unnötig zu quälen, 9. Abschaffung der Todesstrafe zugunsten lebenslanger Freiheitsstrafe, 10. Vorrang präventiver Kriminalpolitik, denn, es ist besser den Verbrechen, vor allem durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen, vorzubeugen, als sie zu bestrafen. Wie progressiv diese Thesen damals bei noch mittelalterlichen Sanktionspraktiken waren, kann man auch daran ermessen, wie modern sie noch heute, nahezu 250 Jahre später, klingen. Die Wirkungen der Forderungen Beccarias waren so groß, dass sich in der Folge teilweise Richter weigerten, nach den alten Vorschriften zu sanktionieren (Küper 1968, S. 547). Die russische Zarin Katharina I I , an den Ideen der Aufklärung interessiert, bot Beccaria ein Ministeramt an, das ihm die Möglichkeit bot, das russische Recht zu reformieren. Er zog es jedoch vor, in Italien (Mailand) zu bleiben. Kaiserin Maria Theresia ließ 1776 unter dem Einfluss der Ideen Beccarias die Folter abschaffen (die in Preußen unter Friedrich II bereits 1740 abgeschafft wurde) und ihr Sohn, der spätere Kaiser Joseph II. 1788 die Todesstrafe (außer im Standrecht), die allerdings später wieder eingeführt wurde. „Beccarias Werk liest sich heute als eine humanitäre Kritik der sinnlosen Brutalität des menschenunwürdigen Strafrechts seiner Zeit und als Grundlegung eines modernen, rechtsstaatlichen und effizienzorientierten Strafrechts. Die in einem politisch-philosophischen Räsonnement vorgetragene Kritik wendet sich gegen ein die Freiheit der Privatsphäre verletzendes despotisches und irrationales Strafkonzept, das Handlungen ohne Rücksicht auf die Verletzung sichtbarer Rechtsgüter reglementiert. Angeprangert wird die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter. Gefordert wird ein für alle gleiches gesetzlich bestimmtes Strafrecht, das sich an der Sozialschädlichkeit von unter
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Strafe gestellten Handlungen ausrichtet und das von einem unabhängigen gesetzlichen Richter vollzogen wird" (Kunz 2001, S. 85f.). Diese Grundauflassung, die sich vor allem als Strafrechtskritik äußerte und sich gegen die Willkür der Staatsgewalt richtete, hat nach Kaiser (1996, S. 112) „die Strafrechtstheorie angeregt, ja revolutioniert". Seiner Ansicht nach kann aber deshalb nicht schon von einer „klassischen Schule der Kriminologie" gesprochen werden. „Auch wenn man Strafrechtskritik und utilitaristisch begründete Strafrechtskonzeption zur Kriminologie rechnet, fehlt es doch an allem, was die Kriminologie als empirische Wissenschaft ausmacht und was jenseits des Strafrechts Bedeutung für ihre übrigen Erkenntnisgegenstände gewinnt wie Verbrechen, Täter und Opfer. Das Verbrechen wurde letztlich als allgegenwärtige Versuchung betrachtet, dem der Mensch ausgesetzt war. Die Frage jedoch, warum nur manche der Versuchung erliegen und andere ihr widerstehen, blieb entweder ungestellt oder wurde unter Hinweis auf das Schicksal oder den göttlichen Willen beantwortet" (Kaiser 1996, S. 112). Vor diesem Hintergrund sieht er den Autor Beccaria zwar als bedeutend an, nicht aber als einen der kriminalwissenschaftlichen Pioniere, „mit dem sich die Kriminologie schmücken könnte", das vor allem deshalb nicht, weil in seinem Werk noch keine empirisch-methodische Erforschung der Ursachen des Verbrechens sichtbar wird (vgl. a. Deimling 1986, S. 63f.; ähnlich Garland 1994, S. 20, 30f.). Für die Klassische Schule der Prägung Beccarias spielen vor allem auch Nützlichkeitserwägungen hinsichtlich staatlichen Strafens eine wesentliche Rolle. „Ökonomisches" Strafen soll sowohl die Nützlichkeit der Sanktionen als auch deren Akzeptanz erhöhen. Es soll nur in dem Maße sanktioniert werden, das ausreicht, um Straftaten zu unterbinden (Foucault 1976, S. 93ff.; Kunz 2001, S. 88; vgl. a. Young 1983; Beirne 1991). Es geht hiernach im Strafrecht um möglichst effiziente Prävention, ein bis heute aktuelles Ziel staatlicher Kriminalpolitik. Diese Richtung der klassischen Schule wird vor allem in England von Jeremy Bentham (1748-1832) weiter verfolgt. Die vom Strafrecht angedrohten Sanktionen müssen den Gewinn aus Straftaten übersteigen, um den Täter abzuschrecken, ein Gedankengang, der sich auch in Kriminalitätstheorien des 20. Jahrhunderts wiederfindet. Sanktionen, die über das zur Kriminalprävention nötige Ausmaß hinausgehen, sind ungerechtfertigt. Strafe muss auch in diesem ökonomischen Sinne nützlich sein, dann ist sie auch gerechtfertigt (Kunz 2001, S. 88). John Howard (1726-1790) greift den Nützlichkeitsgedanken auf und konkretisiert ihn durch seine Untersuchungen zum Gefängniswesen. Er gibt 1777 und 1784 auf eigene Kosten entsprechende Untersuchungsberichte „Über den Zustand der Strafanstalten" heraus und verteilt diese an die Abgeordneten des britischen Unterhauses. Hierin gibt er eine kritische Beschreibung der Gefängniswirklichkeit, macht darüber hinaus vor diesem Hintergrund auch konkrete Verbesserungsvorschläge. Seine Datenbasis ist ausgesprochen breit, er hatte in fünf Reisen durch Europa mehr als 300 Strafanstalten besucht, die von ihm festgestellten Zustände möglichst genau festgehalten, damit „die erste größere empirisch-kriminologische Untersuchung fertiggestellt" (Schneider 1987, S. 93). Mit seinem für die damalige Zeit überragenden Bericht wurde er zum Begründer einer empirischen Strafvollzugsforschung und stieß durch seine Belege von 62
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa Mängeln gleichzeitig die erste europäische Gefängnisreform an. Auf der Basis seines empirischen Materials kam es in Großbritannien 1778 und 1782 zu Strafvollzugsgesetzen. Howard setzte sich ein für eine Verbesserung der Strafvollzugsbedingungen, etwa auch für eine Trennung der Gefangenen nach Alter und Geschlecht, für bessere Hafträume und Arbeitsbedingungen. Durch persönliche Besuche bei europäischen Monarchen versuchte er, auch die Strafvollzugsrealität über Großbritannien hinaus zu verbessern {Krebs 1978a; 1978b; 1978c). So sprach er 1778 persönlich bei Kaisern Maria Theresia und 1786 bei Kaiser Joseph II. vor, um sich für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Gefangenen in diesen Ländern einzusetzen (Schneider 1987, S. 93). Das erste deutschsprachige Lehrbuch der Gefängniskunde „oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen" erschien 1828 von Julius. Nach Kaiser (1996, S. l l l f . ) wurde Ende des 18. Jahrh. in Deutschland deutliche Kritik an der Waisenhaus- und Anstaltsunterbringung von Jugendlichen zugunsten einer Erziehung in der Familie geäußert, die auch durch die Gefängniskritik Howards angeregt wurde. Auch in diesem „Waisenhausstreit" wurden vor allem die hygienischen Zustände der Anstalten bemängelt, weshalb die Internate „die Verwahrlosung nicht steuerten, sondern sie förderten" (Többen 1927, S. 46; Kaiser 1996, S. 112). 3.2
Anfänge einer wissenschaftlichen Kriminalpsychologie
Kürzinger (1986, S. 177) betont, dass vielfach die Meinung bestünde, die Geschichte der wissenschaftlichen Kriminologie beginne mit Lombrosos „L'uomo delinquente" (1876), in Wirklichkeit stünden jedoch „kriminalpsychologische Darlegungen ... am Anfang der wissenschaftlichen Befassung mit dem Verbrechen", und zwar fast ein Jahrhundert vorher. Von den ältesten deutschen Monographien zur Kriminalpsychologie sind nach Kürzinger vor 1800 erschienen: als erste Veröffentlichungen Johann Gottlieb Schaumanns „Ideen einer Kriminalpsychologie" (1792) und J. G. Münchs Werk „Über den Einfluß der Criminalpsychologie auf ein System des CriminalRechts auf menschliche Gesetze und Cultur der Verbrecher" (1799; heute nicht mehr nachweisbar), weiterhin hat 1794 Eckartshausen „Skizzierte Biographien von Verbrechen aus der gemeinen Menschenklasse" mit vier Kriminalgeschichten veröffentlicht. Die wichtigsten Darstellungen zu Verbrechern aus der Feder dieses Autors finden sich allerdings in drei vorhergehenden Schriften: „Rede von den Quellen der Verbrechen" (1783), „Ueber die Art, wie man zum Tode verurtheilte Uebeltäter, vorzüglich aber verstockte Bösewichter in ihren letzten Stunden behandeln soll, aus physiologischen Grundsätzen" (1787) und „Ueber die Nothwendigkeit physiologischer Kenntnisse bei der Beurtheilung der Verbrechen" (1791). Nach Kürzinger (1986, S. 177) muss Eckartshausen damit als der erste angesehen werden, der zwar noch ziemlich ungeordnet aber immerhin faktenreich bereits im ausgehenden 18. Jahrh. empirische Aussagen zur Kriminalitätsentstehung und -Prävention gemacht hat. Hierbei lassen sich die kriminalpsychologischen Aussagen des Autors nach Kürzinger (1986, S. 178) in drei Bereiche unterteilen: - Entstehung des Verbrechens, einzelne Verbrecherkategorien, - Prävention der Kriminalität, - Darlegungen zu einer sinnvollen Kriminalpolitik. In seinen Ausführungen kritisiert Eckartshausen Helmut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft bereits die Definition und Absonderung des „Kriminellen". Wir Menschen würden uns zu wenig in die Lage des Anderen versetzen, könnten immer nur sagen, es scheine uns, der andere sei ein Verbrecher. Verbrecher seien verschieden, wichtig sei, unter welchen Umständen eine Tat begangen werde. Er wehrt sich gegen eine Dämonisierung des Verbrechers, der Mensch sei weder gut noch böse, er werde dazu gemacht. Deutlich wird in seinem Denken der Einfluss der Aufklärung, auch seitens Beccarias. Für die Verbrechensentstehung sieht er zwei Gründe: Anlage und Umwelt, wobei er die äußeren Umstände als bedeutender bewertet, entgegen der vorherrschenden Lehrmeinung seiner Zeit. Er sieht zahlreiche äußere Ursachen des Verbrechens, wie schlechte Erziehung, mangelhafter Unterricht, der Einfluss böser Menschen, schädliche Schriften, vorurteilsbehaftete Religionslehren, drückende Armut, aber auch das Temperament, nach dessen Unterschieden er einzelne Verbrechertypen ableitet. Einen einzigen Grund für die Entstehung von Straftaten gibt es hiernach nicht (Kürzinger 1986, S. 182ÍF.). Kriminalprävention solle vor allem durch Religion und Gesetze bewerkstelligt werden. An anderer Stelle betont er jedoch, dass sehr selten „Strafgesetze, welche Namen sie immer haben mögen, im Stande seyn werden, dem Verbrechen zu steuern, und die Menschen vom Laster abzuhalten". Trotzdem hofft er auf die Wirkung vorbeugender Gesetze. Er rügt vor allem die unrichtige oder fehlende Anwendung der Gesetze (Kürzinger 1986, S. 185). Die Todesstrafe lehnt er teilweise ab, teilweise unterstützt er sie aber auch. Anders als sein Zeitgenosse Beccaria konnte er sich somit nicht zu der Forderung einer Abschaffung der Todesstrafe durchringen. Hierbei mögen auch Rücksichtnahmen auf die politische Situation in Bayern, seinem Heimatland, eine Rolle spielen, wo Ende des 18. Jahrh. die Todesstrafe politisch noch gutgeheißen wurde. Kritisch äußerte er sich auch über die Strafjustiz seiner Zeit (1791, S. 19): „Wie widersinnig und grausam ist das Verfahren desjenigen, der nichts anderes tut, als dass er der begangenen Tat ihren Namen gibt, im Gesetzbuch das Urteil aufsucht, das über sie unter diesem ,Namen' gesprochen wird, und ohne weitere Überlegung den schrecklichsten Ausspruch wagt, den ein Mensch gegen einen Menschen wagen kann, den Ausspruch: Er soll sterben!" (Schneider 1987, S. 96; Kürzinger 1986). Schaumann betonte in diesem Zusammenhang, der Strafrichter müsse nicht nur juristische Kenntnisse haben, sondern vor allem auch die Persönlichkeit des Rechtsbrechers beachten, um ein angemessenes Urteil fallen zu können. Eckartshausen war nach Kürzinger (1986, S. 191 f.) „vor 1800 derjenige ..., der sich empirisch am eingehendsten mit kriminalpsychologischen Fragen beschäftigt hat". Schaumann stelle dagegen lediglich die Aufgaben der Kriminalpsychologie dar und entwerfe eine Systematik. Er hielt die Kriminalpsychologie allerdings bereits für eine empirische Wissenschaft. Eckartshausen bleibe somit „das Verdienst, erstmals empirische Befunde zu kriminalpsychologischen Fragen zusammenhängend dargestellt zu haben".
Die anderen frühen Abhandlungen zur Kriminalpsychologie sind nach Kürzinger (1986) erst längere Zeit nach 1800 veröffentlicht worden. Bereits Johann Christoph Hoffbauer (1808) betonte, ein Kriminalpsychologe solle dem Gericht ein Gutachten über den „Gemütszustand" zur Tatzeit liefern. Johann Christian August Heinroth (1833) meinte, das Verbrechen aus einem Prinzip des Bösen und menschlicher Schwäche ableiten zu können. J. B. Friedreich (1833) hat bereits eine bemerkenswerte 64
Helmut
Kury
1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa
Zusammenstellung der Kriminalpsychologie seiner Zeit verfasst. Die bis dahin vorliegenden Veröffentlichungen sind aber empirisch noch wenig aussagekräftig. Die Anfänge einer empirischen wissenschaftlichen Psychologie werden meist mit den Arbeiten Wundts 1879 angegeben. Die dann folgende Entwicklung einer empirischen Psychologie wirkte sich naheliegenderweise auch auf die Kriminalpsychologie aus. Krauss (1884) hebt in seiner „Psychologie des Verbrechens" vor allem Genusssucht, Eigennutz, Lügenhaftigkeit, Selbstsucht und Arbeitsscheu als zentrale Kennzeichen des Verbrechers hervor. Anfangs des 20. Jahrhunderts versuchte Hans Groß, der 1898 auch das „Archiv für Kriminologie" gründete, in seiner „Kriminalpsychologie" (1905) die wichtigsten Erkenntnisse der physiologischen und experimentellen Psychologie, anknüpfend etwa an Gustav Theodor Fechner (1801-1887), für die Vernehmungs- und Aussagepsychologie zu nutzen. Paul Pollitz (1916) arbeitete bei Verbrechern etwa geringes Mitgefühl und Schmerzgefühl, Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Sanktionen heraus. Max Kauffmann (1912, S. 250) brachte die Begehung von Verbrechen ebenfalls noch mit negativen Persönlichkeitseigenschaften des Täters in Zusammenhang, allerdings betont er daneben auch die Bedeutung der Reaktion auf Tat und Täter als Ursachen der Abweichung: „Die Strafe bricht sehr häufig den Trotz, aber sie bricht auch den Stolz und die Selbstachtung". Er warnte deshalb vor allzu harten Sanktionen (vgl. Schneider 1987, S. 96). In der Folgezeit entwickelte sich eine Aussagepsychologie, die sich mehr und mehr als wesentlicher Teil einer Forensischen Psychologie von der Kriminalpsychologie abgrenzte (Karl Marbe 1926; Otto Mönkmöller 1930; William Stern 1926). Anfangs des letzten Jahrhunderts traten auch die ersten Psychologen als Sachverständige vor deutschen Gerichten auf (vgl. Undeutsch 1954; 1967; 1992). Albert Hellwig entwickelte (1927) eine Psychologie der an einem Strafverfahren Beteiligten (vgl. a. Roland Graßberger 1968 und seine „Psychologie des Strafverfahrens"; zusammenfassend Schneider 1987, S. 94fF.). Nach Kaiser (1996, S. 68) ist das Konzept der sich entwickelnden „strafrechtlichen Hilfswissenschaften" von Juristen und Medizinern unterstützt worden, regte entsprechend die Lehre an. Rechtsmedizinische Fragestellungen wurden schon seit Mitte des 18. Jahrh. an deutschen Hochschulen gelehrt ( Volk 1979, S. 419). Nach Blühdorm (1964, S. 129ff.; Störzer 1984, S. 327) wurden Vorlesungen über gerichtliche Psychologie, gerichtliche Psychiatrie, forensische Medizin, Gefängniskunde und Kriminalpolitik seit Mitte des 19. Jahrh. an fast allen deutschsprachigen Hochschulen angeboten. Lieber (1845, S. 34; vgl. MüllerDietz 1986, S. 451ff.; Kaiser 1996, S. 68, 114) hielt es für wichtig, um die „Psychologie des Verbrechers" bei den Sanktionen besser berücksichtigen zu können, „Lehrstühle für Strafkunde oder Poenologie zu errichten, d.h. des Zweiges, der sich mit der Strafe selbst und dem Sträflinge beschäftigt, nicht aber mit der Frage, was Verbrechen sei und wie es bewiesen werden soll". Er betont, dass ohne „Psychologie des Verbrechers ... keine gute Strafe bestimmt werden kann". Seiner vor über 150 Jahren geäußerten Meinung nach, sollte jeder Jurist „genöthigt sein, diesen Cursus zu hören .... Die nöthige Wissenschaft der Strafkunde würde weiterentwickelt und fortgebildet, und der Dünkel beseitigt werden, mit dem jetzt Juristen die Strafe selbst und den Verbrecher, sobald er überwiesen worden, gewöhnlich betrachten. ... Die Strafweise selbst also gehört wesentlich zu den ernstesten Gegenständen der Strafwissenschaft, und die ganze Lehre vom Verbrechen ist eine haltlose, kömmt nicht die Lehre vom Verbrecher dazu; die Lehre vom Princip des Strafrechts ist eine ungedeihliche Speculation, reiht sich nicht die Lehre von der Bestrafung und der Psychologie des Verbrechers daran ... und was den Bereich der Vorzüglichkeiten der neuen Strafweisen betrifft, so muß man mothwendig erst Gelegenheit haben,
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft statistische Materialien sammeln zu können, und zwar nicht oberflächliche und vereinzelte, sondern gründliche und einen weiten Raum umfassende. Tausend Ursachen, die auch nicht das Mindeste mit einer Strafweise gemein haben, vermehren oder vermindern die Zahl der Verbrechen" (Lieber 1845, S. 34; Müller-Dietz 1986; Kaiser 1996, S. 114; vgl. zu den Anfängen einer wissenschaftlichen Kriminalpsychologie a. Schneider 1977a).
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Die Positivistische Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts
Die Bezeichnung für das aufkommende neue Fachgebiet der „Kriminologie" soll von dem Franzosen P. Topinard (1830-1911) stammen {Schwind 2005, S. 85). Der Italiener Raffaele Garofalo (1851-1934) hat den Begriff als Titel seines 1885 veröffentlichen Buches „Criminologia" nachweisbar erstmals verwendet. Kürzinger (1996, S. 21) sieht mit dem Erscheinen von Cesare Beccarias „Dei delitti e delle pene" (1764), welches das Verbrechen „entmythologisiert" und Cesare Lombrosos „L'uomo delinquente" (1876), das den Beginn einer systematischen empirischen Kriminologie begründet, zwei wichtige Eckpunkte in der Entstehung einer eigenständigen Kriminologie (vgl. a. Hering 1996; Mechler 1970). „Blickt die Klassische Schule auf die Tat, in die Vergangenheit und auf die Schuld, so richtet die Positivistische Schule ihre Aufmerksamkeit auf den Täter, seine Zukunft und seine Gefährlichkeit. Ist die Klassische Schule rechtstatsachenorientiert, so ist die Positivistische Schule behandlungsorientiert" (Schneider 1987, S. 91). 4.1
Beginn einer Kriminalstatistik
Die historische Kriminologie kann sich in der Regel nur auf schriftliche Überlieferungen, wie Strafgesetze, Gerichtsbücher, Gaunerlisten, Stadt- und Blutbücher oder Biographien als Quellen ihrer Untersuchungen berufen (Eisenberg 2005, S. 100). Statistiken zu Kriminalität und Strafverfolgung liegen erst für das 19. Jahrh. vor, wobei diese, wie allerdings entsprechende Statistiken in der Regel auch heute, im wesentlichen nur den Geschäftsanfall widerspiegeln (vgl. unten). Seit Anfang des 19. Jahrh. wurde die Kriminalität erstmals mittels Gerichtsstatistiken erfasst. 1836 wurde in Preußen eine erste Verbrechensenquete erstellt. In Frankreich erfolgte eine amtliche Registrierung von Kapitalverbrechen neben einzelnen Anfangen bereits gegen Ende des 17. Jahrh./in der ersten Hälfte des 18. Jahrh. Ein erster kriminalstatistischer Jahresbericht wurde 1827 für das Jahr 1825 veröffentlicht (Schneider 1987, S. 97). In Deutschland wurden, nach Vorversuchen Ende des 18. Jahrh., zu Beginn des 19. Jahrh. Registrierungen der Kriminalität zuerst in Bayern und Baden vorgenommen (Roesner 1938). Baden führte 1809 die Veröffentlichung der „Kriminaltabellen" des Justizministeriums ein (Eisenberg 2005, S. 137). AndréMichel Guerry (1802-1866) erstellte in Frankreich eine „Moralstatistik" (1833), die der Beginn einer umfassenderen Veröffentlichung von Kriminalitätsdaten in diesem Lande darstellt, eine Praxis, die mehr und mehr in anderen europäischen Ländern aufgegriffen wurde ( Wetzeil 2000, S. 2Iff.). In Österreich wurden vergleichbare umfassendere Registrierungen ab 1828 vorgenommen, im Großherzogtum Baden ab 1830, in Württemberg seit 1832 (Roesner 1936, S. 39; Mechler 1970, S. 10f.). Vor allem 66
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa Alexander von Oettingen (1827-1905; 1882) und Georg von Mayr (1841-1925) haben die Kriminalstatistik in Deutschland weiter vorangetrieben. So hat etwa Mayr (1904/1905; 1911/1912) bereits dafür plädiert, die durch Kriminalität, vor allem Vermögensdelikte entstandenen wirtschaftlichen Schäden in der Kriminalstatistik mit zu erfassen. In England gibt es seit 1858 eine (kriminal-)polizeiliche Statistik (Eisenberg 2005, S. 137; Roesner 1936, S. 166). Guerry untersuchte in Frankreich als erster die Altersverteilung der Kriminalität. Ihm fiel aufgrund von Regionalvergleichen zwischen den unterschiedlichen französischen Départements etwa der geringe Einfluss der Armut auf die Kriminalitätsentstehung auf. Er sah in der Demoralisierung der Bevölkerung die zentrale Ursache für Verbrechen. Schließlich führte er die ersten internationalen Kriminalitätsvergleiche auf empirischer Basis durch, indem er anhand der Statistiken die Kriminalitätssituation Englands mit der Frankreichs verglich (1864). Einen noch fruchtbareren Beitrag zur Entwicklung der Kriminalstatistik leistete der Belgier Adolphe Jacques Quetelet (1796-1874), der Kriminalität vor allem als gesellschaftliche Erscheinung beschrieb (1835; vgl. a. Beirne 1987). Nach ihm trägt die Gesellschaft einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung von Verbrechen, der Täter ist nur ihr Werkzeug. Er brachte die Entstehung von Verbrechen in Zusammenhang mit mehreren unabhängigen Variablen, wie Alter, Geschlecht, Beruf, Erziehung oder Klima. Auch er betonte, dass die Bedeutung der Armut bei der Verbrechensentstehung oft überschätzt werde. Entscheidend sei vielmehr der rasche Wechsel zwischen Reichtum und Armut. Der in Armut Lebende sei von Versuchungen umgeben, ihm werde die Ungleichheit des Wohlstandes immer wieder vor Augen geführt. Damit leistete er wesentliche Vorüberlegungen zu den einflussreichen kriminalitätstheoretischen Ansätzen Dürkheims (vgl. unten). Er sieht vor allem drei Verbrechensursachen: - der vom Grad der Moralität abhängende Wille zur Straftat, - die Gelegenheit zur Tat und - die vorhandene Möglichkeit, die gegebene Gelegenheit zu einer Straftat auch tatsächlich zu nutzen. Auch wies er bereits deutlich auf das Dunkelfeld der Kriminalität hin. Viele Verbrechen würden nicht registriert, da sie vom Opfer nicht erkannt oder nicht angezeigt würden. Die Grundlagen zu einer kriminalsoziologischen Theorie lieferten dann die beiden Franzosen Gabriel Tarde (1843-1904) und Emile Durkheim (1858-1917). Tarde, Richter, später Professor für neuere Philosophie in Paris, entwickelte eine Theorie des kriminellen Berufstyps und der kriminellen Nachahmung. Das Verbrechen sei ein Handwerk mit speziellen Techniken, einer eigenen Sprache und eigenem Verhaltenskodex. Bereits er konnte zeigen, dass sich die von Lombroso (vgl. unten) angeblich als verbrechertypisch herausgearbeiteten persönlichen Merkmale auch bei Nichtstraffälligen finden lassen. Allerdings war er in seiner Kritik gegenüber Lombroso noch zurückhaltend, vertrat die Ansicht, man werde vielleicht schon zum Verbrecher geboren, sicher werde man aber bei ungünstigen Umweltbedingungen zu einem Straffälligen. Eine wesentliche Verbrechensursache sah er in nachahmendem Verhalten jener „Bewegungsformen, kraft deren der Gedanke sich von einem Gehirn zum anderen überträgt" (1890). Der Verbrecher ahme nur nach, was andere ihm vorgemacht haben. Aus dieser Überzeugung formulierte er provozierend: „Jedermann ist schuldig - mit Ausnahme des Kriminellen" (vgl. Seelig u. Bellavic 1963, S. 46). Helmut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Durkheim (1893; 1895; 1897) sah dann das sozial abweichende Verhalten als „normal" an. Er legte den Grundstein zur Anomietheorie. Kriminalität wird hier gesehen als normaler Bestandteil einer Gesellschaft, ohne Verbrechen wäre diese überkontrolliert. Ohne Kriminalität gäbe es auch keinen Fortschritt oder Wandel. Das Kriminalitätsvorkommen in einer Gesellschaft werde vom Ausmaß der Anomie, der Normlosigkeit, beeinflusst. Durch sozialen Wandel, Arbeitsteilung u.ä. würde die Solidarität reduziert, der Einzelne werde mehr isoliert, nehme am Leben anderer weniger teil und fühle sich diesen gegenüber auch weniger verpflichtet. Mit der Reduktion des sozialen Zusammenhaltes und steigender Vereinzelung der Menschen steige auch das sozial abweichende Verhalten (Mechler 1970). 4.2
Die Lehre vom „geborenen Verbrecher"
Obwohl Beccarias Gedanken und Kritik den Nerv der Zeit trafen, setzten sich seine Ideen in der Praxis nur schleppend durch. Mit der Entwicklung der Großindustrie und eines entsprechenden Proletariats, einer sich verhärtenden Klassenauseinandersetzung treten die liberaleren Gedanken Beccarias in den Hintergrund. Kriminalität wird nun mehr und mehr mit den in Armut lebenden Bevölkerungsklassen in Verbindung gebracht, was in Frankreich zu ersten milieubezogenen Betrachtungsweisen des Verbrechens durch Alexandre Lacassagne (1843-1924) und Gabriel Tarde führte CKunz 2001, S. 90). Für ein Verständnis der gesellschaftsbezogenen Hintergründe von Kriminalität war die Zeit jedoch noch nicht reif. Eher durch karitative Hilfsmaßnahmen versuchte man, den in Armut Abgerutschten und kriminell Gefährdeten zu helfen. Hierbei bleibt die Idee erhalten, dass es neben den besserungsfähigen auch die unverbesserlichen Kriminellen gebe. Hier ist die Frage dann naheliegend, wer zu welcher Gruppe gehört. Gab es im 18. Jahrhundert erst ansatzweise empirische Untersuchungen im Zusammenhang mit Kriminalität (vgl. oben), entwickelten sich die medizinischen und experimentellen Wissenschaften im 19. Jahrhundert relativ rasch, was sich auch auf die Erforschung der Kriminalität(sursachen) auswirkte. Der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater untersuchte die Gesichtszüge hingerichteter Straftäter und entwickelte daraus seine „Kriminalphysiognomie" (1775-1779, S. 490). Er war jedoch der Ansicht (1775-1779, S. 14), keiner müsse „ein Bösewicht aus Anlage werden, aber alle können's. Die Übeltat kann nicht stehenden Fußes sich dem Schädel einprägen - sowenig so und so ein Schädel diese oder jene Übeltat begehen muss". Anfang des 19. Jahrhunderts schloss der badische Arzt Franz Josef Gall (1758-1828) aus der Schädelform des Menschen auf entsprechende charakterliche Eigenschaften, Anlagen und Fähigkeiten. Er war der wesentliche Begründer der Schädelkunde (Phrenologie) (v. Engelhardt 1983, S. 267f.). Er vertrat die Ansicht, dass spezielle Teile des Gehirns, die wiederum durch den Schädel geformt und damit beeinflusst sind, für unterschiedliche Deliktsarten „zuständig" wären. So glaubte er, aus der Vermessung des Schädels Rückschlüsse auf kriminelle Veranlagungen ziehen zu können (Gall 1809-1812). Er lokalisierte in seinem Gehirnatlas entsprechend etwa einen Raufsinn, einen Mord- oder Würgesinn, einen Eigentumssinn und einen allgemeinen moralischen Sinn (Schneider 1987, S. 101; Schwind 2005, S. 93). Bei Inhaftier68
Helmut Kury
1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa ten tastete er die Schädelformen ab und schloss auf die begangenen Verbrechen. Da er einer der ersten war, der empirische Untersuchungen zur Kriminalität durchführte, wird er teilweise sogar als erster Kriminologe angesehen (Savitz u.a. 1977). Charles Darwins Evolutionstheorie wurde nun auch zur Erklärung kriminellen Verhaltens herangezogen. Die auch damals gut belegten Gefängnisse boten genügend Versuchspersonen für die entsprechenden körperlichen Untersuchungen. Der englische Psychiater James Cowles Prichard (1786-1848), der neben dem Franzosen Esquirol (1772-1840) zu den ersten Kriminal-Psychiatern gezählt wird (in Deutschland gibt es seit 1808 ein eigenes Fach „Psychiatrie"), teilte das Seelenleben in intellektuelle und gefühlsmäßige Anteile auf. Störungen des Gefühlslebens nannte er in Abgrenzung von geistigen Erkrankungen „moralisches Irresein". Später reduzierte er diese Bezeichnung auf die Beeinträchtigung moralischer Gefühle bei einem ansonsten funktionierenden Seelenleben. Esquirol greift die „Degenerationslehre" auf. Entsprechende krankhafte Abweichungen ließen sich bei Geisteskranken wie Verbrechern finden. Er formulierte eine Lehre von sogen. Monomanien als partiellen Verrücktheiten mit den Unterformen Mordmonomanie (Mordtrieb), Pyromanie und Kleptomanie (vgl. a. Schwind 2005, S. 93f.). Der Franzose Benedict Augustin Morel (1809-1873), der Begründer der Generationslehre, verstand unter Entartung eine „krankhafte Abweichung vom normalen menschlichen Typ, die erblich übertragbar ist und sich progressiv bis zum Untergang entwickelt" (Schneider 1987, S. 103). Aus Sicht der Degenerationslehre waren Kriminelle „entartet". Der französische Psychiater Prosper Despine (1822-1892) vertrat die Ansicht, dass den moralisch Irren der Sittlichkeitssinn, eine angeborene Eigenschaft, fehle. Dem instinktiven Verbrecher fehle jegliche Reue über die Tat, er sei von Geburt an „moralisch irrsinnig". Der englische Psychiater Henry Maudsley und vor allem J. Bruce Thomson betrachteten die Verbrecherklasse als degenerierte oder krankhafte Abart der menschlichen Gattung und schrieben bereits in den 60er Jahren des 19. Jahrh. über den „geborenen Verbrecher", die „verbrecherische Klasse", bezeichneten deren Angehörige als „moralisch krank", „degeneriert", und zwar aufgrund angeborener Mängel, charakterisierten sie damit auch als „unbehandelbar" (Garland 1988, S. 134; Schneider 1987, S. 104; Hering 1966). Das war bereits „Lombrosianisch vor Lombroso" (Garland 1988, S. 134). In diesem Kontext entwickelte dann der Veroneser Arzt Cesare Lombroso (18361909), ein Anhänger des Darwinismus, in seinem 1876 erstmals erschienenen Buch „L'uomo delinquente" ein biologisches Verständnis von Kriminalität im Rahmen einer umfassenden anthropologischen Erklärung. Er wird allgemein als Begründer der biologisch-positiven Schule angesehen, die sich dem Ansatz von Beccaria entgegenrichtet. Die Menschen sind hiernach nicht mehr frei, sondern durch biologische Anlagen in ihrem Handeln beeinflusst, sie werden unterschiedlichen, klar abgegrenzten Typen zugeordnet mit jeweils unterschiedlichen Verhaltenseigenschaften. Kriminalität wird nun als Merkmal eines bestimmten Täters angesehen (Kunz 2001, S. 91 f.). Der Verbrecher ist, im Sinne Darwins, ein Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe der Menschheit, er ist durch atavistische, angeborene Charakteristika gekennzeichnet, eine „Rückartung" auf einen untermenschlichen primitiven Vorläufer des Menschen. Im Verbrecher treten Merkmale auf, die entwicklungsgeschichtlich bereits Helmut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft als überwunden galten. Aufgrund der ererbten und damit unveränderlichen Anlagen liegt nach der letzten Auflage seines Werkes „Der kriminelle Mensch" (1896/1897) der Anteil der geborenen Verbrecher bei immerhin ca. 40%, 1902 beziffert er den Anteil des kriminellen Typs noch bei 33% (vgl. Schneider 1987, S. 107). In späteren Jahren relativierte er die Bedeutung der angeborenen Kriminalität somit selbst zunehmend. Er hatte seine Untersuchungsergebnisse während seiner Zeit als Militärarzt an rund 4.000 Soldaten gewonnen und hat später umfangreiche Erhebungen an inhaftierten Straftätern durchgeführt. Daneben hat er breit anthropologisches Material gesammelt und ausgewertet (vgl. Kürzinger 1977, S. 628). Viele Charakteristika, die sich auch bei Wilden finden lassen, träten sehr oft auch bei geborenen Verbrechern auf, „so z.B. die geringe Körperbehaarung, die geringe Schädelkapazität, die fliehende Stirn, ... die große Häufigkeit der Schaltknochen, ... das Vorspringen der Schläfenbogenlinie, die Einfachheit der Nähte, die größere Dicke der Schädelknochen, die gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, die Prognathie, ... die starke Pigmentation der Haut, das dichte krause Haar, die großen Ohren, ferner der Lemurenfortsatz des Unterkiefers, die Anomalien des Ohrs, ... die große Agilität, die Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindung, die hohe Sehschärfe, die Gleichgültigkeit gegen Verletzungen, die Gefühlsabstumpfung, die Frühzeitigkeit der sexuellen Regungen, die zahlreichen Analogien zwischen beiden Geschlechtern, die geringe Besserungsfahigkeit des Weibes..., die Faulheit, das Fehlen von Gewissensvorwürfen, die Haltlosigkeit, physisch-psychische Erregbarkeit, die Unvorsichtigkeit, welche manchmal wie Mut aussieht und der Wechsel von Waghalsigkeit und Feigheit, die große Eitelkeit, die Spielleidenschaft und die Neigung zum Alkoholismus, die Gewalttätigkeit und die Flüchtigkeit ihrer Leidenschaften, der Aberglaube, die außergewöhnliche Empfindlichkeit in Bezug auf die eigene Persönlichkeit und der besondere Begriff von Gott und von Moral" (Lombroso 1902, S. 326f.). Lombroso meinte somit, eine umfangreiche Batterie von Merkmalen herausgearbeitet zu haben, mit denen sich der „geborene Verbrecher" vom unauffälligen Menschen unterscheiden lässt. Vor diesem Hintergrund unterschiedlicher körperlicher und psychischer Merkmale entwickelte er entsprechend eine Typologie für die einzelnen Straftäter (1894, S. 229-231): „Die Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefaltet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend ... Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß" (vgl. a. Schneider 1987, S. 105ÍF.). Neben dem geborenen Verbrecher erkannte Lombroso noch kriminelle Epileptiker, moralisch Irre sowie Gelegenheits- und Verbrecher aus Leidenschaft an. Es ist also auch nach ihm keineswegs so, dass verbrecherisches Verhalten grundsätzlich und immer angeboren ist. Die Beschreibung des geborenen Verbrechers durch Lombroso „stellt sich als eine zerrbildliche Kuriositätenmalerei dar, die den Mythos von der Bestialität des Wilden in eine empirische Form zu bringen sucht" (Kunz 2001, S. 93). Vor diesem Hintergrund sind naheliegenderweise auch die Aussichten auf eine Änderung bei dieser Verbrecherkategorie schlecht, wenn auch, vor allem bezüglich Jugendlicher, teilweise nicht „hoffnungslos"; „Wirklich gibt es für erwachsene geborene Verbrecher nicht viel Heilmittel; man muss sie eben für immer in Anstalten für Unverbesserliche internieren oder ganz beseitigen, wenn ihre Unverbesserlichkeit sie allzu gefährlich macht und sie dazu treiben kann, wiederholt das Leben der ehrlichen Leute zu bedrohen. Aber bei jugendlichen Personen könnte man, 70
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa auch wenn sie geborene Verbrecher sind, andere, weniger grausame Maßregeln versuchen, indem man ihre Neigungen für irgend ein Handwerk oder einen Beruf ausnützt, der ihren schlechten Leidenschaften eine gewisse Befriedigung gewähren, sie also gewissermaßen in geregelte Bahnen leiten und zu weniger gefahrlichen Resultaten führen könnte; die Blutdürstigen, Mordlustigen lasse man z.B. Schlächter werden, oder ins Militär eintreten, das manchmal ja auch nicht viel mehr als eine offizielle Schlächterei ist; für athletisch Beanlagte würde der Circus, für geschlechtlich allzu stark erregbare Frauen die Prostitution ein geeignetes Feld darbieten. Damit würde eine Art von Präventivmitteln geschaffen, die dem gesellschaftlichen Organismus nicht schaden, ja zum Teil nützen könnten" (Lombroso 1894, S. 378f.). Zusammen mit seinem Schwiegersohn Guglielmo Ferrerò schrieb er im Ausgang des 19. Jahrh. „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte" (1894 in deutscher Sprache), in welchem er diesen u.a. (S. 446) einen starken Geschlechtstrieb, geringes Muttergefühl, herumschweifendes Leben, große Rachsucht, Grausamkeit und Verlogenheit zuschreibt. Die geringere Kriminalitätsbelastung der Frauen erklären sich die beiden Autoren (S. 576) damit, dass die „Prostitution ... nur die weibliche Erscheinungsform der Kriminalität (darstelle), beide sind analoge, parallele Phänomene, die miteinander verschmelzen ..." (vgl. Schneider 1987, S. 107).
Wie sehr solche Gedanken über angeborene „Minderwertigkeiten" vor 100 Jahren und bis weit in das letzte Jahrh. verbreitet waren, bevor sie dann im Dritten Reich wieder aufgegriffen und zur offiziellen Ideologie erklärt wurden, zeigt sich beispielsweise auch darin, dass etwa Paul Julius Möbius (1853-1907), Philosoph und Mediziner in Leipzig, 1900 ein Buch unter dem Titel verfasste „Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes", in welchem er sich gegen das Medizinstudium von Frauen wandte mit der Begründung, diese seien weniger intelligent, stünden körperlich und geistig auf einer Entwicklungsstufe zwischen Kind und Mann, seien unselbständig und unfähig zu eigenem Urteil und Kritik, ihre Moral sei rein gefühlsmäßig, es fehle ihnen an Kreativität, ihre Sucht nach Emanzipation würde letztlich zu Anarchismus führen. Hierbei war Möbius nicht misogyn, stützt sich ganz auf „naturgegebene" Geschlechtsunterschiede. Sein Werk erschien 1905 bereits in der 8. Auflage, bis 1922 kam es in immerhin 12 Auflagen heraus. Neben Lombroso waren die Juristen Raffaele Garofalo (1852-1934) und Enrico Ferri (1856-1929) weitere wichtige Vertreter der italienischen „Positiven Schule". Garofalo entwickelte ein Konzept des „natürlichen Verbrechens", das er in der Überschreitung eines durchschnittlichen Maßes an Unredlichkeit und Gefühllosigkeit sah. Der natürliche Kriminelle ist wiederum ein umschriebener anthropologischer Menschentyp, weitgehend gefühllos und auf einem niedrigen Entwicklungszustand. Der an einer moralischen Anomalie leidende Verbrecher, der sich seiner Umgebung nicht anpassen kann, muss durch die Todesstrafe vernichtet oder durch lebenslange Inhaftierung unschädlich gemacht werden. Die unechten Verbrecher sollen zur Schadenswiedergutmachung angeleitet werden. Auch Ferri war ein Anhänger der Lehre vom geborenen Verbrecher, vertritt aber eine humanere Kriminalpolitik (Sellin 1960). Er ergänzte den Ansatz Lombrosos um psychische und soziale Faktoren. In seiner „Kriminalsoziologie" unterschied er entsprechend zwischen organischen, psychischen und sozialen Einflüssen auf die Kriminalität. Beeinflusst von den französischen Kriminalstatistikern lehnte er allerdings rein soziologische Erklärungsansätze als zu einseitig ab. Er entwickelte das Gesetz der „kriminellen Sättigung" (1896, S. 149): Abhängig vom Milieu kommt es unter Berücksichtigung von individuellen und sozialen Bedingungen
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft zur Begehung einer bestimmten Zahl von Verbrechen, „und es wird weder eines mehr noch eines weniger begangen". Ferri war insbesondere auch Kriminalpolitiker und trat in diesem Kontext für eine individuelle Straftäterbehandlung ein, für Kriminalprävention auf ökonomischer, politischer und kultureller Ebene. Er spricht sich ferner für den Verzicht der Sühnestrafe zugunsten einer Schutz- und Zweckstrafe aus. Der Gesetzgeber solle die psychischen und sozialen Gesetze des Verbrechens untersuchen und sie beherrschen lernen, um so die Entwicklung der Kriminalität indirekt, aber umso wirksamer beeinflussen zu können (vgl. Schneider 1987, S. 108f.; Hering 1966, S. 60-74). Die Lehrmeinungen Lombrosos, Garofalos und Ferris fanden in Europa, aber auch den USA, ein lebhaftes Echo. Der österreichische Psychiater Moritz Benedikt (18351920) meinte, bei den Kriminellen eine gestörte Gehirnorganisation gefunden zu haben, die sich in Abnormitäten ihrer Schädel feststellen lasse (1881). Eine physische oder moralische „Neurasthenie" sei angeboren oder in früher Kindheit erworben. Hans Kurella (1858-1916) machte die Ansätze Lombrosos in Deutschland bekannt und „entdeckte" 1893 bei Kriminellen Veränderungen im Gehirn, der Zähne und angewachsene Ohrläppchen. Auch er beschrieb in derselben Manier wie Lombroso Tätertypen wie Mörder, Diebe, Betrüger oder Industrieritter. Auch der deutsche Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) führt das Verbrechen auf eine angeborene Minderwertigkeit der Veranlagung zurück, wenngleich er auch gesellschaftliche Ursachen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung diskutiert (1906/1907, S. 258). Der Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939) hatte die Meinung vertreten (1896), dass Rechtsbrecher aufgrund ihrer geistigen und sittlichen Minderwertigkeit dauerhaft gesellschaftsfeindlich seien. Wie tief das Denken eines angeborenen Verbrechertums vor ca. 100 Jahren noch vertreten war, zeigen auch die Ausführungen von Robert Gaupp (1904/1905) - oder ebenso Robert Sommer (1904, S. 309) - , der in einer zusammenfassenden Beurteilung meint prognostizieren zu können, dass sich der „unbestreitbare Kern der Lehre vom geborenen Verbrecher, ... - von der Hülle des psychiatrischen Dogmas befreit - sich immer deutlicher als eine kriminalpsychologische Tatsache herausstellen wird". Er sieht allerdings auch als einer der ersten die großen Gefahren der Thesen Lombrosos: „Die Lehre vom geborenen Verbrecher kann in der Hand von dogmatischen Vertretern der staatlichen Ordnung zu einer furchtbaren Waffe gegen die persönliche Freiheit der Individuen werden". Ca. 30 Jahre später hat sich das im Nazi-Deutschland in aller Schrecklichkeit bewahrheitet. Während etwa der Psychiater Aschaffenburg (1903), der ein erstes deutsches Lehrbuch der Kriminologie schrieb, diesem noch den Titel „Das Verbrechen und seine Bekämpfung" gab, nennt der Österreicher Lenz (1927) sein Werk entsprechend dem Zeitgeist „Grundriß der Kriminalbiologie". Der Psychiater Kretschmer (1921) hat in seinem Lehrbuch über „Körperbau und Charakter", das auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch erschien, versucht, einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Körperbautypen (leptosom, athletisch, pyknisch) und Charaktereigenschaften zu belegen, ein Ansatz, der auch in den USA gepflegt wurde (vgl. Sheldon 1949). „Durch die damals fehlende sozialwissenschaftliche Kritik und die korrespondierende Vergröberung sowie rassenbiologische Verzerrung jener Aspekte in der Zeit des Nationalsozialismus nimmt die Krimi-
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa nalbiologie immer stärker ideologischen Charakter an. Sie büßt damit zunehmend die wissenschaftlich notwendige Distanz und Immunität gegenüber staatlichem Mißbrauch ein" (Kaiser 1996, S. 116f.; Blasius 1990, S. 47ff.). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gewinnt die psychiatrisch-psychopathologische Betrachtungsweise in Deutschland nochmals wesentliche Bedeutung, vor allem auch weil zwei wichtige Lehrstühle der Kriminologie (Heidelberg und Tübingen) von juristisch und psychiatrisch ausgebildeten Kriminologen geleitet wurden (Frey 1951; Mergen 1953; Leferenz 1955, S. 13ff.; Göppinger 1962, S. 316ff.; Bresser 1981, S. 96ff.). Allerdings kann sich diese Richtung auf Dauer aufgrund wachsender Kritik, gerade von kriminalsoziologischer Seite, nicht mehr durchsetzen (vgl. Kaiser 1996, S. 117, 150ÍT.). Bereits zu Lombrosos Zeiten gab es an seinem Ansatz teilweise heftige Kritk. Der Mediziner Lacassagne etwa war anfangs noch Vertreter der Theorie Lombrosos vom „geborenen Verbrecher", hatte sich dann aber zunehmend von der Milieutheorie überzeugen lassen, mit der er sich auf dem III. Internationalen Kongress der Kriminalanthropologen 1892 in Brüssel erfolgreich durchsetzte (Hering 1966, S. 97). Seine Reden schloss er oft mit dem berühmt gewordenen Aphorismus: „Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient". Obwohl die Lehre Lombrosos schon zu Lebzeiten auch durch weitere Untersuchungen widerlegt wurde, gilt er vor allem aufgrund seines empirischen Vorgehens bei der Untersuchung der Ursachen des Verbrechens vielen als der erste Kriminologe, als „Vater einer ganzen Wissenschaft, die Kriminologie genannt wird" (Kürzinger 1977, S. 627). Seine Lehre vom geborenen Verbrecher mit deutlichen Erkennungszeichen war eingänglich, bediente allerdings auch manche Vorurteile, was sicherlich zu seiner weiten Verbreitung, nicht nur in Europa, beitrug. Der Verbrecher war der andere, von dem man sich deutlich abgrenzen konnte, für den man sich auch nicht verantwortlich fühlen musste, da er das Pech hatte, dass ihm diese Hypothek in die Wiege gelegt wurde. Beccaria war dagegen mehr ein Vertreter einer wissenschaftlich orientierten kritischen Kriminalpolitik, die zumindest einen wesentlichen Teil der Verantwortung für das Verbrechen an die Bürger zurückgab, diese somit hinsichtlich Veränderungen in Richtung Kriminalprävention mehr in die Pflicht nahm. Die Behauptungen Lombrosos und seiner Schüler waren insofern allerdings auch relativ leicht zu widerlegen, als er seine anthropometrischen Erkenntnisse vor allem an offiziell definierten Kriminellen gewann, ohne kritisch genug zu prüfen, wieweit diese tatsächlich auch bei NichtstrafFálligen zu finden sind. So hat der Berliner Gefängnisarzt Adolf Baer (1893) bereits Ende des 19. Jahrh. aufgrund seiner umfangreichen Untersuchungen in Strafanstalten festgestellt, dass es den geborenen Verbrecher als „morphologische Abart des Menschen" nicht gibt (Seelig u. Bellavic 1963, S. 45). Er verneinte jeglichen Verbrechertypus, jeden physischen oder psychischen Atavismus oder Verbrecher-Physiognomien. Völlig zu Recht stellte er eindeutig fest (1893, S. 410): „Es gibt keine einzige dieser Anomalien, die nicht auch bei vollkommen unbescholtenen, ehrlichen Menschen angetroffen wird. Manche Anomalie kommt so häufig vor, dass sie als normal gelten kann ... Wenn es unter den Verbrechern viele gibt, die schwere Missbildungen, mehrfach Erscheinungen und Zeichen anomaler Helmut
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Formation am Schädel und am Gesicht zur Schau tragen, so liegt der Grund nicht am wenigsten darin, daß die Verbrecher zum allergrößten Teil den ärmsten und niedrigsten Bevölkerungsklassen entstammen, aus Klassen, in denen der kindliche Organismus gerade im frühesten Alter am schlechtesten und ungenügendsten ernährt wird." Das verbrecherische Leben werde der nächsten Generation anerzogen. Bereits der belgische Kriminologe Adolphe Prins (1886, S. 13) hatte wenige Jahre davor festgestellt, dass das Verbrechen kein individuelles, sondern ein soziales Phänomen sei. Seien die sozialen Verhältnisse der sittlichen Gesundheit günstig, gäbe es auch keinen Hang zum Verbrechen. Es gäbe allerdings soziale Milieus mit verdorbener gesellschaftlicher Atmosphäre, in welcher sich ein Hang zum Verbrechen entwickeln könne. Nach Schneider (1987, S. 112ff.) war die Lehre Lombrosos im angloamerikanischen Bereich nicht so erfolgreich wie in Kontinentaleuropa. In England habe vor allem Havelock Ellis (1890) die Ideen vertreten, habe allerdings den Anteil geborener Verbrecher nur auf 10 bis 20 % geschätzt, sich ferner für eine Behandlung von Rechtsbrechern eingesetzt. Auch der Nordamerikaner MacDonald (1893) schätzte den Anteil auf weniger als 10%. Drähms (1900), ebenfalls ein Vollzugspraktiker, berichtete anthropometrische Daten von mehr als 2.000 Strafgefangenen. Er unterschied zwischen Gewohnheits-, Gelegenheits- und „instinktiven" Verbrechern. Die kriminellen Neigungen letzterer hielt er für angeboren. Charles Buckman Goring, Gefängnisarzt in England, untersuchte über 12 Jahre lang 3.000 Gefangene anthropometrisch und verglich sie mit einer Studentenstichprobe und Soldaten. In seinem Forschungsbericht (1913) stellte er weder einen kriminellen Typ noch besondere körperliche Charakteristika bei den Inhaftierten fest, allerdings fand er „Minderwertigkeiten", die er auf eine Wechselwirkung sozialer und anlagemäßiger Faktoren zurückführte. Er erkannte noch nicht, dass die körperlichen Unterschiede vor allem auf Benachteiligungen in der Unterschicht basiert haben dürften. Der US-Amerikaner Earnest Albert Hooton (1939a; 1939b) verglich ca. 14.000 weiße Strafgefangene mit etwa 3.000 unauffälligen nordamerikanischen Bürgern anthropometrisch. Bei 19 der 33 überprüften Faktoren fand er zwischen beiden Gruppen statistisch bedeutsame Unterschiede. Die Kriminellen schnitten in fast allen Körpermaßen aber auch „geistigen" Maßen ungünstiger ab. Er sah dies als Unterstützung der Vererbungslehre und forderte entsprechend die Ausrottung der physisch, geistig oder moralisch Schlechten. Zu Recht betont Schneider (1987, S. 115) in seiner Wertung solcher Forschungsergebnisse, dass der „Schluss von solcher Minderwertigkeit auf Kriminalität ... durch nichts begründet" sei. Die festgestellten „Minderwertigkeiten" dürften vor allem auf Selektionsprozessen der Inhaftierten oder ungünstigen Sozialisationserfahrungen der meist aus der Unterschicht kommenden offiziell registrierten und sanktionierten Straftäter beruhen. „Der italienische Positivismus hat manche fruchtbare Anregung gebracht. Er hat die kriminologische Forschung auf die Empirie, die systematisch erarbeitete Erfahrung, gerichtet. Das ist sein Hauptverdienst" (S. 115). Allerdings wird zu Recht bemängelt, dass diese empirische Forschung zu sehr auf den Täter eingeengt wurde, die Rolle der Gesellschaft spielte hier, obwohl von Vorgängern wie Beccaria bereits deutlich formuliert (vgl. oben) noch kaum eine oder keine Rolle, ebenso wenig das Verbrechensopfer. Schädliche Folgen hatte der Positivismus, wie zu Recht 74
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa betont wird, auf die öffentliche Meinung: „Es bildete sich ein populärwissenschaftlich begründetes Vorurteil...", das bis in unsere Zeit hineinreicht. Der Gedanke, dass man dem Verbrecher ansieht, dass er einer ist, ist so eingängig, dass er kaum auszurotten ist. „Kriminologisches Denken, angereichert mit Kritik am Strafrecht und am Gefängniswesen, äußerte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend in akademischen Vorträgen und Vorlesungen von Juristen, Medizinern und Philosophen" (.Kaiser 1996, S. 68).
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Die neuzeitliche Kriminologie des 20. Jahrhunderts
5.1
Die Entwicklung bis Ende des Zweiten Weltkriegs
Die moderne Kriminologie hat nach Schneider (1987, S. 92) dann vor allem „das Verbrechensopfer und die informelle und formelle Sozialkontrolle entdeckt." Nach ihm ist die Führung in der Erforschung der Geschichte der Kriminologie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts auch auf die USA übergegangen (vgl. Schneider 2005a). Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war weitgehend Konsens in der deutschsprachigen Kriminologie, dass Straftaten zwar individuelle Aspekte haben, gleichzeitig aber auch ein gesellschaftliches Problem darstellen. V. Liszt, vor allem Kriminalpolitiker, und Ferri versuchten die unterschiedlichen Ansätze zusammenzufassen. Nach Liszts Vereinigungstheorie ist das „Verbrechen das Produkt aus der Eigenart des Täters im Augenblick der Tat und aus den ihn in diesem Augenblick umgebenden äußeren Verhältnissen" (1905, S. 234). In seiner Marburger Antrittsvorlesung (1882; sog. „Marburger Programm") hatte Liszt die spezialpräventive Zielrichtung des Strafrechts gefordert. Er wies auch schon deutlich auf die Zusammenhänge zwischen Sozial- und Kriminalpolitik hin und betonte, dass eine gute Sozial- die beste Kriminalpolitik sei (1905, S. 246). Diese Anlage-Umweltformel bestimmte die Kriminologie dann bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Konzept wird auch von der von Liszt 1889 mitbegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung übernommen. Liszt (1905, S. 235) ging dabei allerdings davon aus, „dass die gesellschaftlichen Faktoren ungleich größere Bedeutung für sich in Anspruch nehmen dürfen als der individuelle Faktor". Diese grenzte er dabei weitgehend noch auf den sozialen Nahraum des Täters ein (1905b, S. 438). Kriminalstrafen stand er ausgesprochen skeptisch gegenüber: „Unsere Strafen wirken nicht bessernd und nicht abschreckend, sie wirken überhaupt nicht präventiv, d.h. vom Verbrechen abhaltend; sie wirken vielmehr geradezu als eine Verstärkung der Antriebe zum Verbrechen" (1905, S. 241). Einen erheblichen Einfluss auf die deutschsprachige aber auch nordamerikanische Kriminologie hatte Gutstav Aschaffenburg, der 1904 die „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform" gründete (heute „Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform"), mit seinem Buch über „Das Verbrechen und seine Bekämpfung" (1903). In der 3. Auflage des Lehrbuchs (1933, S. 6f.) betonte er in Anlehnung an Durkheim: „(Das) Verbrechertum ist ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Gesellschaft, mit der es aufs innigste verwachsen ist, und aus der es immer neue Nahrung schöpft". In seinen Studien knüpfte er an die kriminalgeographischen Untersuchungen von Guerry an. Heimut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Im Anschluss an Siegmund Freud und der von ihm begründeten Psychoanalyse versuchten August Aichhorn (1925), Franz Alexander und Hugo Staub (1929) die Lehre zur Erklärung und Behandlung von Straffälligkeit zu nutzen. Vor allem wurde versucht, Störungen in der frühkindlichen Entwicklung mit späterer sozialer Auffälligkeit in Verbindung zu bringen (vgl. a. Alfred Adler 1924; 1931). Im weiteren Verlauf bildete sich nach Schneider (1987, S. 132) im deutschen Sprachraum „eine kriminalbiologische, psychopathologische Gegenströmung, die auch gegenwärtig noch nachwirkt". 1923 hatte Kurt Schneider „Die psychopathischen Persönlichkeiten" veröffentlicht mit der Beschreibung von 10 Psychopathentypen aus klinischer Erfahrung. Diese Lehre hatte in der Folgezeit einen deutlichen Einfluss auf die deutschsprachige Kriminologie (Göppinger 1962). Nach Birnbaum (1926; 1931) ist die pschopathische Konstitution erblich bedingt. Wiederum wurde dem Täter die Hauptverantwortung zugeschrieben, die Familiendynamik tritt hier zurück. In den 1930er Jahren versuchte man dann durch Zwillings- und erbbiologische Sippenforschung Anlage- von Umweltfaktoren der Kriminalität durch empirische Untersuchungen voneinander zu trennen ( Wetzeil 2000, S. 161ff.). So untersuchte Johannes Lange (1929) 30 Zwillingspaare, 13 eineiige und 17 zweieiige. Er ging davon aus, dass bei eineiigen Zwillingen aufgrund des größeren Gewichts der Anlage konkordantes, übereinstimmendes Verhalten öfters auftritt als bei der Vergleichsgruppe der Zweieiigen. Friedrich Stumpft (1936) wandte die Methode auf 18 eineiige und 19 zweieiige Zwillinge an, Heinrich Kranz (1936) verglich 32 eineiige und 43 zweieiige Zwillingspaare. Diese Autoren kamen einhellig zu dem Ergebnis, dass sich eineiige Zwillinge hinsichtlich Kriminalität ganz überwiegend konkordant, übereinstimmend entwickeln, zweieiige überwiegend diskordant. Die Erbanlage spielt bei ihnen hiernach eine zentrale Rolle auch beim Zustandekommen von straffälligem Verhalten. Stumpft (1935) stellte in einer weiteren Untersuchung 195 Rückfalltäter 166 leichter straffällig Gewordenen gegenüber und befragte 1.747 „Sippenangehörige" und 600 Bezugspersonen, wie Lehrer oder Pfarrer. Unter den Verwandten von Rückfalltätern fand er mehr Kriminelle als unter der Vergleichsgruppe. Die Rückfalltäter stufte er nahezu ausnahmslos als Psychopathen ein (Schneider 1987, S. 134f.). Franz Exner (1926; 1949) diskutierte Kriminalität kritischer unter den Gesichtspunkten Anlage, Umwelt und Persönlichkeit und wies bereits zu Recht auch auf methodische Probleme der Zwillingsuntersuchungen hin. „Selbst zwei unter .gleichen Verhältnissen' aufwachsende Geschwister haben nicht dieselbe Umwelt, denn es gibt für mehrere Personen nicht wirklich gleiche Verhältnisse" (1949, S. 23). Die Persönlichkeit besteht für ihn aus Anlage und Umwelt. Allerdings bekannte er sich immer noch zu einer „Verbrecheranlage" (1949, S. 111, 125), ging von einem „Erbzusammenhang zwischen Psychopathie und Kriminalität" aus (1949, S. 119), zog auch die Psychopathenlehre zur Kriminalitätserklärung heran (1949, S. 183ff.). So betonte er etwa (1949, S. 131): „Unter den Ursachen des Verbrechens spielt die Qualität des Erbgutes eine hervorragende Rolle ... Durch die neue Erbforschung ist... jegliche reine ,Milieutheorie' ... erledigt". Auch Edmund Mezger (1944; 1951) sieht das Verbrechen vorwiegend noch als individuelles Phänomen. Er betrachtet das Verbrechen von der Seite der seelischen Krankheit und Abnormität, Verbrechensopfer spielen hier noch keine Rolle. 76
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa Während des „Dritten Reiches" wurden Ansätze der Erbbiologie und Psychopathenlehre, auch unter politischen Aspekten, konsequent weiterentwickelt. Das Anlagedenken rückte unter der Nazi-Herrschaft noch weiter in den Vordergrund und wird als herrschende Meinung festgeschrieben, „die erbbiologischen Vorstellungen mit dem Rückenwind des totalitär etablierten Systems eskalieren" (Kaiser 1996, S. 131; Dölling 1989, S. 198; Wetzell 2000, S. 179ff.). Die „Monatsschrift" als bedeutendstes kriminologisches Fachblatt wechselte 1937 ihren Titel von „Kriminalpsychologie" in „Kriminalbiologie". Für die Soziologie zeichnete sich naheliegenderweise in jener Zeit ein deutlicher Rückgang deren Bedeutung ab (Dahrendorf 1965, S. 112). Allerdings zeigen sich bereits erste viktimologische Ansätze, beispielsweise von Roesner (1938, S. 161ff, 209ff.) sowie eine beginnende Dunkelfeld- (Meyer 1941) sowie Prognoseforschung (Schiedt 1936). Trotzdem lässt sich allmählich eine zunehmende Verengung des kriminologischen Forschungsspektrums erkennen. „Der Anpassungsdruck und das Ersterben jeglicher öffentlichen Kritik an polizeilicher Prävention und kriminalpolitischen M a ß n a h m e n des .Dritten Reiches' führen nicht nur zum Wirklichkeitsverlust der Wissenschaft, sondern auch zum verschämten Wegschauen und Ignorieren von bedrängenden und bestürzenden Sachverhalten durch die Wissenschaftler" (Kaiser 1996, S. 133).
5.2
Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es für die deutschsprachige Kriminologie nach Schneider (1987, S. 137) „äußerst schwierig, internationalen Anschluss zu finden". Ab ungefähr 1950 wurden in einzelnen europäischen Ländern, auch in Deutschland, die kriminologischen Bemühungen wieder aufgenommen (Frey 1951a; Bader 1952). Die nordamerikanische Kriminologie hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg durch ihre empirische sozialwissenschaftliche Ausrichtung deutliche Fortschritte gemacht, die nun konsequent ausgebaut wurden, vor allem auch hinsichtlich der Theorieentwicklung, die vor dem Zweiten Weltkrieg auch hier noch in den Anfangen steckte, aber etwa hinsichtlich Anomietheorie (Merton 1938), Kulturkonflikt (Sellin 1938) oder differentieller Assoziationstheorie (Sutherland 1934) deutliche Entwicklungen eingeleitet hatte, die aber zunächst in Deutschland noch weitgehend unbekannt blieben. In Chicago hatte sich beispielsweise in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrh. eine kriminalökologische Schule von erheblicher Breitenwirkung entwickelt (vgl. Shaw 1931; Shaw u. McKay 1931). In Nordamerika „herrscht herkömmlich eine dynamischere und optimistischere Grundauffassung vor, verglichen mit dem mehr statischen und beharrenden Denken Mitteleuropas" (Kaiser 1996, S. 125). In Deutschland knüpfte man zunächst an die Vorkriegskriminologie an. So werden Fragen der Verbrechensursachen nach dem Anlage-Umwelt-Konzept wieder aufgegriffen. Zahlreiche heute in der Kriminologie diskutierte Probleme spielten damals noch keine Rolle, wie etwa Drogengebrauch, Umweltstraftaten oder Terrorismus. Gegen Ende der 1950er Jahre werden die Mängel der traditionellen Erklärungskonzepte straffälligen Verhaltens zunehmend offenkundig. Der Einfluss der soziologisch-sozialwissenschaftlich ausgerichteten US-amerikanischen Kriminologie wird in der Bundesrepublik Deutschland und auch anderen Ländern immer deutlicher. Hier leisteten Helmut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Kriminologen wie Wolf Middendorf/(1956; 1959), Heintz u. König (1957) oder HansJoachim Schneider (1966; 1970; 1973; 1979; 1995) Pionierarbeit, indem sie sich durch die Entwicklung in den USA anregen ließen und zur Verbreitung entsprechender Diskussionen und Fortschritte auch im deutsprachigen Raum beitrugen (Kaiser 1996, S. 73). Nach Schneider (1987, S. 140) erwiesen sich die nordamerikanischen Kriminologen „in der Nachkriegszeit als Motor der kriminologischen Entwicklung in der Welt". Vor allem hatte man in den USA bald damit begonnen, groß angelegte empirische Studien durchzuführen, so etwa im Rahmen einzelner von der Regierung eingesetzter Sachverständigenkommissionen. Das Aufkommen einer modernen Kriminalsoziologie, aber auch, wenn auch zurückhaltender, einer entsprechenden Kriminalpsychologie wurde in der deutschen, vor allem von Strafrechtlern und teilweise auch Psychiatern dominierten Kriminologie anfangs kritisch gesehen oder gar zu behindern versucht (Schneider 1987, S. 138). So nahm der Strafrechtler Lange (1970) immer wieder gegen die nordamerikanische Kriminalsoziologie Stellung (vgl. Schneider 1987, S. 138). Er betonte noch 1970 (S. 234), dass in Deutschland „nach wie vor das klassische Bild der zehn Psychopathentypen in der Konzeption von Kurt Schneider ungeachtet dessen unerschüttert (sei), daß Schneider selbst gegenüber seinen ursprünglichen Thesen gewisse Einschränkungen gemacht hat". Die Ideen vom geborenen Verbrecher und unverbesserlichen Psychopathen wirkten bis in die 1960er Jahre fort (Mergen 1967, S. 355; 1968, S. 44). Württenberger (1957, S. 44; 1970, S. 15) bezeichnete allerdings Biologie, Psychologie, Soziologie und Psychiatrie als „kriminologische Grundwissenschaften". Heinz Leferenz (1978, S. 2) meinte in einer Verkennung der aufkommenden Entwicklung, die „Rezeption soziologischer Kriminalitätstheorien des angloamerikanischen Bereichs" sei unergiebig, „für die deutschen Verhältnisse offensichtlich von noch geringerer Reichweite als in den USA". Mit gleicher Deutlichkeit wandte er sich gegen die Psychoanalyse in der Kriminologie. Erst die Auseinandersetzung mit dieser US-amerikanischen, sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie, mit den hier schon vor dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber danach, sich entwickelnden sozialwissenschaftlich geprägten Kriminalitätstheorien, brachte auch für die deutsche und kontinentaleuropäische Kriminologie westeuropäischer Länder erhebliche Fortschritte. Es zeigte sich bald ein deutlicher Vorteil der angloamerikanischen Kriminologie darin, dass es hier, so vor allem in den USA aber auch Kanada und Großbritannien, das sich sehr früh, insbesondere auch aus sprachlichen Gründen, an den USA und der dortigen Entwicklung ausrichtete, ein eigenständiges, von den Sozialwissenschaften erheblich geprägtes Fachgebiet Kriminologie gab mit entsprechender universitärer Ausbildung. Damit bekam dieses Fachgebiet ein erheblich größeres Gewicht als etwa in Deutschland, wo insbesondere Juristen, Soziologen und Psychologen vor dem Hintergrund ihrer mitgebrachten spezifischen Fachkenntnisse sich in das neue Gebiet erst einarbeiten mussten, in der Regel unter Leitung eines Juristen, der seinerseits meist weder theoretisch noch empirisch für die hier anstehenden Fragen ausgebildet war. Soziologen, und noch mehr Psychologen, kümmerten sich, zumindest anfangs, wenig um den Bereich der Kriminologie. Der Soziologe Fritz Sack (1968; 1974) und der Arbeitskreis Junger Kriminologen 78
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa bemühten sich darum, nordamerikanische Kriminalsoziologie und deren Entwicklung in Deutschland bekannt zu machen. In diesem Zusammenhang wurde die „Instanzenforschung", d.h. die Frage, wieweit die Strafverfolgungs- und Sanktionseinrichtungen selbst zur Entstehung bzw. Zementierung von straffälligem Verhalten beitragen, zu einem zunehmend wichtigen Bereich, der auch kriminalpolitische Auswirkungen zeigte, etwa in der Diskussion um eine „Diversion", also Alternativen zu klassischen Reaktionsformen auf straffälliges Verhalten (Kury u. Lerchenmüller 1981). Hatte man in den USA Ende der 1960er Jahre damit begonnen Dunkelfeld- und Opferbefragungen durchzuführen, um damit die Informationsbasis über Kriminalität zu erweitern, insbesondere auch mehr über die Opfer von Straftaten, die bis dahin weitgehend im Hintergrund standen, zu erfahren, fand dieser, sich bald als sehr fruchtbar erweisende Forschungsansatz in den 1970er Jahren auch Eingang in die deutsche kriminologische Forschung (vgl. Ennis 1967; Quensel u. Quensel 1970; Amelang u. Wantoch 1971; Kirchhoff 1975; Brüsten u. Hurrelmann 1973; Schwind u. Eger 1973; Kreuzer 1975). In den USA führt man seit 1972 ständige große Untersuchungen über die Verbreitung von Viktimisierungen und damit das Vorkommen von Kriminalität durch. Inzwischen wird diese wichtige Methode der regelmäßigen standardisierten Datengewinnung über Kriminalität auch in anderen Ländern angewandt, so beispielsweise in Großbritannien („British Crime Survey"). Seit 1989 wurden weltweit von einer internationalen Forschergruppe bisher vier große „International Crime and Victimization Surveys" durchgeführt (1989, 1992, 1996, 2000), wobei allerdings Deutschland nur bei der ersten Welle mitgemacht hat {Dijk, May hew u. Killias 1991; Kury 1991). Die fünfte Welle, an der auch Deutschland wieder teilnehmen soll, wird gerade vorbereitet bzw. teilweise schon durchgeführt. Daneben wurden in Deutschland inzwischen einige große, auch bundesweite Opferstudien bei repräsentativen Stichproben durchgeführt (vgl. etwa Kury u.a. 1992; 2000; Wetzeis u.a. 1992), allerdings fehlt bislang eine regelmäßig mit vergleichbarem Instrumentarium umgesetzte Opferbefragung, wie etwa die „British Crime Survey". Diese Intensivierung der Opferforschung rückte in den letzten 40 Jahren das Opfer von Straftaten insgesamt mehr in den Vordergrund. So fand 1973 das „1. Internationale Symposium für Viktimologie" in Jerusalem statt (vgl. Drapkin 1976), das seither alle drei Jahre auf internationaler Ebene durchgeführt wird. Auf dem dritten Treffen 1979 in Münster (vgl. Schneider 1982a; 1982b) wurde eine „World Society of Victimology" (WSV) gegründet, die seither die internationalen Tagungen organisiert. Zahlreiche Länder haben inzwischen Gesetze zum Schutz und zur Hilfe für Opfer von (schweren) Straftaten erlassen. So hat beispielsweise Osterreich bereits 1972 ein „Bundesgesetz über die Gewährung von Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen" erlassen. In der Bundesrepublik Deutschland trat 1976 das „Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten" (OEG) in Kraft (BGBl. I S. 1181-1183), 1986 folgte das „Erste Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren" (OSG) (BGBl. I S. 2496). Dadurch konnte einerseits unschuldigen Opfern von schweren Straftaten eine finanzielle Entschädigung für den erlittenen Schaden gewährt werden, andererseits wurden solche Opfer im Strafverfahren besser geschützt und informiert. In den USA
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft wurde bereits 1982 ein „Bundesgesetz über den Schutz des Verbrechensopfers und des Zeugen" („Victim and Witness Protection Act of 1982") erlassen (vgl. Schneider 1987, S. 75Iff.; Schwind 2005, S. 412ff; Bulloni u. Bisi 2004; Kirchhoff2004). Vor allem in der Zeit nach der politischen Wende 1989/90 entstand eine rege Forschungsaktivität im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und der Grenzöffnung zu den mittel- und osteuropäischen Staaten der früheren Sowjetunion und den hierbei auftretenden Problemen, wie etwa einer wachsenden Verunsicherung und höherer Verbrechensängste bei großen Bevölkerungsteilen (vgl. Kury 1992). Von einer von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission wurde 2002 ein Vorschlag für eine regelmäßige deutsche repräsentative Opferstudie erarbeitet, bisher wurde er jedoch wohl aus finanziellen Gründen noch nicht umgesetzt. Allerdings sind 2005 von Regierungsseite wieder Bemühungen in Gang gekommen, eine solche repräsentative Studie regelmäßig, wenn auch auf kleinerer, so doch noch aussagekräftiger Form in Gang zu setzen. Es ist allerdings bereits gelungen, 2004 eine erste große Opferstudie zu Frauen als Opfern von Straftaten durchzuführen, bei welcher in Deutschland über 10.000 repräsentativ ausgewählte Frauen befragt wurden (vgl. Müller u. Schröttle 2004). Eine vergleichbare Studie zu Gewalt an Männern kam zumindest bisher über eine Vorstudie nicht hinaus (vgl. Jungnitz u.a. 2004). 2001 erschien der von einer Expertengruppe im Auftrag des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Justiz erarbeitete „Erste Periodische Sicherheitsbericht", der eine Fülle von Informationen zur Kriminalität enthält. Ein zweiter Bericht ist 2006 erschienen. Weitere Berichte sollen in unregelmäßigen Abständen den Wissensstand zusammenfassen und auch für die Politik und Praxis aufarbeiten. Was die Institutionalisierung der Kriminologie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft, wurden die ersten speziell kriminologischen Lehrstühle anfangs der 1960er Jahre geschaffen. Daneben wurden Forschungsinstitute ausgebaut oder neu eingerichtet {Störzer 1984; Müller-Dietz 1994). Nach Kaiser (1996, S. 74) wurden seit den 1950er Jahren in jener Aufbruchstimmung, in der auch die finanzielle Situation relativ günstig war, in jedem Jahrzehnt etwa drei neue Forschungseinrichtungen gegründet, seit 1970 auch außerhalb der Universitäten (vgl. Kaiser 1971, S. 109ff.; 1975, S. 11 f.; Berckhauer 1993, S. 324ff). Erst jetzt wird es möglich, Forschungsmittel längerfristig gerade für größere Projekte zu binden. So brachte vor allem die Einrichtung der Kriminologischen Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg (MPI) im Jahre 1969 unter Leitung von Günther Kaiser einen erheblichen Fortschritt der empirisch-kriminologischen Forschung. Die Forschungsgruppe war von Anfang an interdisziplinär zusammengesetzt. Hier war es vor dem Hintergrund einer guten finanziellen Ausstattung möglich, größere und längerfristig angelegte empirische Forschung zu betreiben. Im Laufe der 1970er Jahre gründete die Deutsche Forschungsgemeinschaft dann das SchwerpunktFörderungsprogramm „Empirische Kriminologie" (später: einschließlich Kriminalsoziologie), das aufgrund großen Forschungsbedarfs und der Unterstützungsnotwendigkeit vor allem universitärer Forschung, verlängert wurde. „Erst gegen Ende des siebten Jahrzehnts ist ... mit der Schaffung mehrerer Forschungsstätten und -grup80
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa pen, mit dem Vorhandensein verschiedener Publikationsorgane, durch Zusammenarbeit ganz verschiedener Berufe sowie durch die Rezeption moderner Techniken der empirischen Sozialforschung so etwas möglich geworden, das man als organisierte kriminologische Forschung ansprechen kann" (Kaiser 1996, S. 74). Inzwischen ist ein gewisser Forschungspluralismus eingetreten, es gibt unterschiedliche Forschergruppen mit verschiedenen Schwerpunkten. 1979 ist mit der Einrichtung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, das in den ersten acht Jahren unter der Leitung eines Psychologen stand (Helmut Kury) eine weitere relativ große und unabhängige Forschungsstätte geschaffen worden, deren zunächst 10 hauptamtliche wissenschaftliche Mitarbeiter unterschiedlicher Fachdisziplinen sich, wie im MPI in Freiburg ausschließlich auf empirische Forschung konzentrieren konnten (Kury u. Zimmermann 1983). Aufgabe des Instituts war es vor allem, die praxisorientierte Forschung voranzubringen. Durch jährlich abgehaltene große Tagungen, versuchte man vor allem auch die Diskussion zwischen den einzelnen kriminologischen Gruppen voranzubringen (vgl. etwa Kury 1986). Darüber hinaus findet sich empirisch-kriminologische Forschung etwa am Bundeskriminalamt (.Herold 1974; Kube 1980; Kube u. Störzer 1991) und bei den Landeskriminalämtern (Berckhauer 1993), insbesondere was Forschungen zur Freiheitsstrafe betrifft teilweise beim Kriminologischen Dienst, der durch das Strafvollzugsgesetz (1976) eingeführt wurde und in den Bundesländern sehr unterschiedlich aufgebaut ist. 1985 wurde in Wiesbaden zusätzlich die „Kriminologische Zentralstelle e.V." der Justizverwaltungen eingerichtet (Jehle 1990), welche die kriminologische Forschungstätigkeit in der Bundesrepublik neben dem kriminologischen Referat des Bundesministeriums der Justiz in Berlin koordinieren, fördern und leiten soll. Von ihr werden regelmäßige Tagungen durchführt, seit einigen Jahren ist sie mit Rudolf Egg von einem psychologisch ausgebildeten Kriminologen geleitet. Bereits 1927 haben sich in Wien die kriminologisch arbeitenden Wissenschaftler und Praktiker Deutschlands, Österreichs und der Schweiz in der „Kriminalbiologischen Gesellschaft" zusammen geschlossen. Seit 1969 nennt sich die Vereinigung „Gesellschaft für die Gesamte Kriminologie". Wegen der kritisierten einseitigen psychopathologischen Ausrichtung dieser Gesellschaft wurde 1960 als weiteres die „Deutsche Kriminologische Gesellschaft" gegründet. Ende der 1970er Jahre bildete sich darüber hinaus ein „Arbeitskreis Junger Kriminologen (AJK)". Alle drei Gesellschaften führten Tagungen durch. Diese unbefriedigende Situation mit drei Gesellschaften bei einer relativ kleinen Zahl von dauerhaft kriminologisch tätigen Wissenschaftlern in Deutschland führte dazu, dass sich die „Gesellschaft für die Gesamte Kriminologie" und die „Deutsche Kriminologische Gesellschaft" 1988 zur Neuen „Kriminologischen Gesellschaft e.V. (NKG)" zusammenschlossen (Schwind 1990). Bemühungen, die NKG mit dem AJK zu vereinigen, waren bisher nicht erfolgreich. Nach dem Muster der „American Society of Criminology (ASC)", die 1946 noch 40 Mitglieder zählte, 2001 dagegen 3.400 Mitglieder hatte, wurde 2000 in Den Haag die „European Society of Criminology (ESC)" gegründet. Angeregt wurde die Einrichtung dieser europäischen Gesellschaft vor allem durch den zunehmenden Zusammenschluss der europäischen Länder, zusätzlich durch die Öffnung der Grenzen zu den früheren SowHelmut
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft jetstaaten und damit besseren Möglichkeiten einer Zusammenarbeit. Die ESC hat bisher sechs Jahrestagungen in verschiedenen Mitgliedsländern (Schweiz, Spanien, Finnland und Holland) abgehalten. Während die fünfte Tagung in Polen stattgefunden hat, ist die sechste in Deutschland (Tübingen) organisiert worden. Nach Einschätzung Schneiders (2005, S. 274) arbeitete die deutschsprachige Kriminologie „an den vier Jahrestagungen der ESC nur mit halber Kraft mit". Hierfür seien die schwache pragmatische sozialwissenschaftliche Ausrichtung und die „Zerrissenheit in rückwärtsgewandte Nebenrichtungen" verantwortlich. Mit dem Beginn einer größeren Zusammenarbeit (west)europäischer Kriminologen wurden auch mehr und mehr europaweite internationale Fachzeitschriften gegründet. Nach Dokumentationen des Bundesministeriums der Justiz (1974; vgl. a. Hartwieg 1978) hinsichtlich Kriminologie und Rechtstatsachenforschung waren in den 1970er Jahren an insgesamt 396 Forschungsvorhaben 135 Forschungseinrichtungen beteiligt, hiervon waren 45 juristisch-kriminologisch, je 19 psychologisch und medizinisch, 17 soziologisch und 16 sozialpädagogisch ausgerichtet. Insgesamt wurden 608 kriminologisch arbeitende Wissenschaftler registriert, davon waren 26% Juristen, 20% Psychologen, 19% Soziologen, 12% Mediziner und 4% Pädagogen. Immerhin etwa ein Drittel der Untersuchungen waren Qualifikationsarbeiten, in der Regel Dissertationen (vgl. Kaiser 1996, S. 75). Anfangs der 1980er Jahre lief die DFG-Schwerpunktförderung aus. Trotzdem nahm die Intensität der kriminologischen Forschung weiter zu (Informationszentrum für Sozialwissenschaften 1988; Kerner 1988). So wurden kriminologische Forschungsprojekte und Veröffentlichungsvorhaben teilweise auch von Stiftungen oder etwa, was Opferforschung betrifft, dem „Weissen Ring" unterstützt (vgl. etwa Kury u. Obergfell-Fuchs 2003). Das Forschungspotential als auch entsprechende Veröffentlichungen haben sich offensichtlich nicht vermindert, so lagen etwa über 10 kriminologische Lehrbücher, davon auch ein von einem Kriminalpsychologen bearbeitetes, vor (Amelang 1986; vgl. Kürzinger 1988). Die Forschungslandschaft hat sich inzwischen wesentlich ausgeweitet, die Kriminologie war und ist auch heute nicht mehr, wie Sack (1971, S. 272) noch kritisch feststellte, „fest im Griff von Medizinern und Juristen", allerdings fällt auf, dass die kriminologische Forschung, obwohl sie empirisch sozialwissenschaftliche Forschung ist, in Deutschland, jedoch auch anderen kontinentaleuropäischen Ländern, selbst heute noch weitgehend unter der Leitung von Juristen, die gerade für diese Fragestellungen nicht besonders ausgebildet sind, steht. Hierin ist auch ein wesentlicher Nachteil der internationalen Konkurrenzfähigkeit deutscher kriminologischer Forschung zu sehen. Sack (1990) sprach noch hinsichtlich der Situation in Deutschland anfangs der 1990er Jahre vom „Elend der Kriminologie" - Quensel (1989) von deren „Krise" - und stellte Überlegungen zu deren Überwindung an. Trotzdem wird man Kaiser (1996, S. 78) zustimmen können, wenn er betont, dass insgesamt die „kriminologische Forschung im Bundesgebiet thematisch als ausgewogen" betrachtet werden kann. Heute ist das Forschungsspektrum der deutschen kriminologischen Forschung sehr weit und beinhaltet alle wesentlichen Bereiche entsprechender internationaler Forschung (vgl. etwa bereits die zusammenfassenden Darstellungen bei Kerner, Kury u. Sessar 1983; Kaiser, Kury u. Albrecht 1988; 1991). Wenngleich in den letzten Jahren die finanziellen
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa Möglichkeiten für empirische Forschung aufgrund von Restriktionen eher zurückgegangen sind, bleibt die kriminologische Forschung breit gefachert, wird nicht nur an juristisch-kriminologischen Lehrstühlen und Forschungseinrichtungen, sondern ebenso an soziologischen und psychologischen betrieben, wenn auch vielfach nur geringfügig und gebunden an die entsprechenden Aktivitäten einzelner interessierter und motivierter Forscher (vgl. etwa Lösel u. Bliesner 2003). 5.3
Entwicklungen in anderen europäischen Ländern
Diese Dominanz der Kriminologie durch die Juristen gilt jedoch nicht nur für Deutschland, sondern im wesentlichen ganz Kontinentaleuropa. Eine Ausnahme bildet in Europa lediglich Großbritannien, das eine eigenständige Ausbildung in Kriminologie anbietet und - schon aus sprachlichen Gründen - deutlich an den USA orientiert ist. In Deutschland wurde zwar in den 1980er Jahren an der Universität Hamburg unter Leitung eines erfahrenen Kriminalsoziologen (Fritz Sack) die Möglichkeit geschaffen, Kriminologie im Zweitstudium zu studieren und einen entsprechenden Abschluss zu machen, allerdings hat dieser Studiengang nie eine größere Breitenwirkung erhalten und hat die Situation der Kriminologie in Deutschland nicht wesentlich beeinflusst oder bereichert. Seitens des Europarates wurden von 1970 bis 1991 in den Mitgliedsstaaten insgesamt ca. 1.500 Projekte gezählt (Council of Europe 1970-1991), hiervon entfallen ca. 10% auf die Bundesrepublik. Das zeigt, dass auch in den anderen EU-Staaten zumindest teilweise eine intensive kriminologische Forschung betrieben wird (vgl. hierzu etwa Kaiser 1996, S. 83ff.). In Österreich und der Schweiz etwa war die Institutionalisierung der Kriminologie ebenso langwierig wie in Deutschland. In Österreich besteht seit 1973 im außeruniversitären Bereich als sozialwissenschaftliches Institut im Bereich Kriminologie das Ludwig-Boltzmann-Institut, das seit 1983 als Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie existiert und das u.a. seit 1974 eine „Kriminalsoziologische Bibliographie" herausgibt (Pilgram 1988). In der Schweiz gehen die Forschungsaktivitäten in der Kriminologie weitgehend von den Lehrstühlen der Kriminologie und des Strafrechts, der Psychiatrie und Rechtsmedizin, sowie der Soziologie und Sozialpädagogik aus. So gibt es etwa in Lausanne, Zürich, Genf oder Bern entsprechende Forschungsgruppen (Killias 1988; Kunz 2001; Kaiser 1984). 1977 vermutete Robert noch, dass eine kriminologische Forschung in der Schweiz gar nicht existiere, eine Vermutung, gegen die sich jedoch Bauhofer (1980) wendet. So gibt es eine rege kriminologische Forschung etwa in Lausanne, wo auch der erste Kongress der ESC stattfand. 1972 wurde von dem Zürcher Psychologen Walter T. Haesler die „Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie" gegründet, die jährliche internationale Tagungen in Interlaken ausrichtet, ferner eine kriminologische Fachzeitschrift, früher „Kriminologisches Bulletin" jetzt „Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie" herausgibt. 1983 ist als Stiftung das „Schweizerische Institut für Kriminologie und Strafvollzugskunde" geschaffen worden (Killias 1983). An der Universität Bern zeichnet sich 2005 die Gründung einer interdisziplinären Forschungs- und Ausbildungsgruppe zu Kriminologie und Rechtspsychologie ab, an der neben Vertretern des Fachbereichs Rechtswissenschaft auch solche der Psychologie beteiligt sind. Helmut Kury
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Wie Kaiser (1996, S. 85ff.) betont, hat die Kriminologie in Süd- und Westeuropa eine lange Tradition, allerdings mehr in der Lehre als in der Forschung. Im Vordergrund stehen traditionell Untersuchungen zur Täterpersönlichkeit. In Frankreich stellt die Kriminologie ein wichtiges Feld der Sozialforschung dar (Robert 1986, S. 117). Seitens des Justizministeriums wurden Forschungseinrichtungen in Vaucresson und Paris gegründet. Kriminologie existiert in Frankreich aber nicht als selbständige akademische Disziplin (Schneider 2005, S. 270). In Italien stehen die Untersuchung der Täterpersönlichkeit und psychiatrische und klinisch-psychologische Perspektiven der Straffälligkeit im Vordergrund. In Spanien hat die Institutionalisierung der Kriminologie eine lange Tradition. Kriminologische Institute gibt es etwa an den Universitäten in Madrid, Barcelona, San Sebastian, Santiago de Compostela, Valencia oder Malaga. Auch existieren mehrere Fachzeitschriften, ferner werden internationale Tagungen durchgeführt, so 2002 in Toledo die zweite internationale Konferenz der ESC. Die rechtswissenschaftliche Fakultät der großen und bedeutenden „Universidad Nacional de Educación a Distancia" in Madrid gibt seit 1991 die international und interdisziplinär ausgerichtete Fachzeitschrift „Revista de Derecho Penal y Criminología" heraus. An 39 spanischen Universitäten wird Kriminologie gelehrt, das Interesse der Studierenden ist groß (Schneider 2005, S. 271). Die kriminologisch-empirische Forschung ist hier jedoch nach wie vor weitgehend unterentwickelt. Eine sehr rege kriminologische Aktivität besteht in Großbritannien, beeinflusst vor allem von den USA, wobei dieser Einfluss zu Beginn der 1970er Jahre, dem „golden age" der britischen Kriminologie (Rock 1988, S. 192) seinen Höhepunkt erreichte (Dowries 1988, S. 176). Hierbei war nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen der Hauptzweig der Kriminologie in Großbritannien zunehmend skeptisch wenn nicht gar feindlich und ablehnend gegenüber psychologischen und vor allem medizinisch-psychologischen Erklärungsansätzen straffälligen Verhaltens eingestellt. Ansätze wie von Lombroso zum geborenen Verbrecher wurden immer wieder als Warnzeichen für eine möglicherweise drohende erneute Medikalisierung sozialer Probleme zitiert, etwa im Kontext mit Untersuchungen zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Chromosomen-Aberrationen (XYY) und Straffälligkeit ( West 1988, S. 207ff; Witkin u.a. 1976; Kunz 2001, S. 114). Ende der 1960er Jahre befand sich die englische Kriminologie dann an einem Scheidewege. Der „sozialdemokratische Positivismus" geriet in eine Krise, aus der sich in der Folgezeit einerseits eine „radical criminology" und andererseits eine „administrative criminology" entwickelten ( Young 1988, S. 289). Die „radikale Kriminologie" entwickelte in Abgrenzung vom „administrativen" Zweig ihre eigenen, kritischen Forschungsprojekte, etwa Opferstudien zu Gewalt gegenüber Frauen (Young 1988, S. 302ff). Radzinowicz gründete 1959 nach gründlichen Vorarbeiten das erste britische Institut für Kriminologie in Cambridge (Butler, 1974; Martin 1988, S. 172). Hermann Mannheim und Max Grünhut wanderten aus Deutschland ein und wirkten beim Aufbau der britischen Kriminologie mit (Radzinowicz 1988; Morris 1988). Mannheim kam 1934 nach England und lehrte an der „London School of Economics and Political Science". Grünhut wirkte vor allem in Oxford (Zedner 2003; Hood 2004; Schneider 2005, S. 269). „Als zentrales Element für Wachstum und Veränderung hat sich eindeu84
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1.2 Geschichte der Kriminologie in Europa tig die Förderung erwiesen, die der kriminologischen Forschung durch das Home Office nach Maßgabe der Vorschriften des Criminal Justice Act von 1948 zuteil geworden ist" (Kaiser 1996, S. 88). Relativ früh begann man mit Prognoseuntersuchungen (Mannheim u. Wilkins 1955) bzw. mit einer groß angelegten Birth Cohort Study (Farrington 1973; West u. Farrington 1977) und diskutierte Fragen der Forschungsmethodik (Pease 1988). Die Ursprünge der „British Society of Criminology", die wesentlich zur Emanzipation von Psychiatrie und Psychoanalyse beitrug, gehen auf Ende der 1950er Jahre zurück (Martin 1988, S. 172). Mit der Veröffentlichung von Carol Smarts Buch über „Women, Crime and Criminology" 1976, das hier erstmals aus einer feministischen Perspektive geschrieben wurde, begann auch ein zunehmender Einfluss feministischen Gedankenguts in der kriminologischen Diskussion (Geisthorpe 1988, S. 223; Heidensohn 1977, S. 390). Die psychologisch-kriminologische Forschung gewann etwa ab den 1970er Jahren durch methodisch verfeinerte Evaluationen von Programmen zur Behandlung von Straftätern und zur Kriminalprävention wiederum zusätzliche Bedeutung, ein Punkt, der auch die Position der Psychologen in der deutschen Kriminologie zusätzlich stärkte (Farrington u.a. 1986; Kury 1983). Was West (1988, S. 219) für die britische Situation betont, gilt zweifellos etwa auch für Deutschland, dass nämlich der besondere psychologische Beitrag zur Kriminologie in dem Bemühen um eine systematische Beobachtung und Messung straffälligen Verhaltens, der Entwicklung überprüfbarer Theorien und der Durchführung von experimentellen und Wiederholungsstudien gesehen werden kann (Buckle u. Farrington 1984). „Für den weiteren Erfolg kriminologischer Forschung ist auch in Zukunft die psychologische Beteiligung wichtig." Die Research Unit des Home Office, 1957 eingerichtet, macht eigene Forschung, ferner fördert sie externe Projekte (Lodge 1974). Rock (1988, S. 188f.) führte Ende 1986 eine Umfrage bei den britischen Universitäten durch und fand außerhalb der Research and Planing Unit des Home Office 118 spezialisierte Kriminologen an den Hochschulen. 37 arbeiteten in rechtswissenschaftlichen, 8 in psychologischen, 33 in soziologischen, 27 in „social administration" und 13 in kriminologischen Abteilungen. Nach Shapland (1994) gibt es in Großbritannien über eintausend Forscher im Bereich Kriminologie. Auch in der ESC sind die britischen Kriminologen die aktivsten, die Forschung ist auf einem hohen Niveau. Auch in den Niederlanden hat sich die Kriminologie seit den 1960er Jahren erheblich entwickelt (Weringh 1983). Forschung wird im wesentlichen an den Universitäten und von der Forschungs- und Dokumentationsabteilung des Niederländischen Justizministeriums (WODC) betrieben (Junger-Tas 1982; Junger-Tas u. Bruinsma 1992). Ebenso ist in Skandinavien eine deutliche Anlehnung an die US-amerikanische Kriminologie feststellbar (Christie 1970). Kriminologische Lehre findet an den Universitäten im Rahmen des Strafrechts und der Sozialwissenschaften statt. Kriminologische Institute existieren an mehreren Universitäten, außerdem haben die Justizministerien in Dänemark, Finnland und Schweden eigene Forschungseinheiten (Snare u. Bondeson 1985). Darüber hinaus existiert in Helsinki das European Institute für Crime Prevention and Control, affiliated with the United Naations (HEUNI), das ausgesprochen aktiv ist und etwa auch die 3. Tagung der ESC 2003 in Helsinki organisierte. Helmut
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Was die Kriminologie in mittel- und osteuropäischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion betrifft, hat sich hier durch die Wende 1989/1990 ein erheblicher Wandel, vor allem jetzt auch eine intensivere Zusammenarbeit mit westlichen Staaten ergeben. War Polen immer schon nach Westen geöffnet, haben sich auch hier inzwischen progressivere Tendenzen durchsetzen können. An einigen Universitäten gibt es Schwerpunkte mit kriminologischem Inhalt (Marek u. Plywaczewski 1992; Plywaczewski 1992). Beachtenswert sind das Forschungsinstitut beim Justizministerium in Warschau sowie die kriminologische Forschungsabteilung an der Polnischen Akademie der Wissenschaften (.Kaiser 1996, S. 91). In all diesen Ländern, vor allem auch in Russland, gibt es ein großes Interesse an Kontakten zu westlichen Kriminologen und einem Erfahrungsaustausch, der allerdings durch Sprachprobleme teilweise erheblich behindert wird. So gibt es etwa in Russland durchaus empirische kriminologische Forschung, die allerdings in westeuropäischen Ländern aufgrund dieser Sprachprobleme weitgehend unbekannt ist (vgl. beispielsweise Lunejev 1997). Kriminologische Forschungsschwerpunkte, die mit westlichen Ländern, vor allem Deutschland in Verbindung stehen, sind vor allem in St. Petersburg, Moskau und Krasnojarsk. Seit der Wende orientieren sich die Länder der früheren Sowjetunion, wie etwa Georgien, Ungarn oder die inzwischen selbständigen Staaten Zentralasiens weitgehend an westlichen Industrieländern und sind an Veränderungen im strafrechtlichen Bereich aber auch an einem Aufbau kriminologisch-empirischer Forschung, die es hier bestenfalls in Ansätzen gibt, sehr interessiert (vgl. Kury 2004).
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1.3 The History of Criminology in America THEODORE N . FERDINAND
Table of Contents 1 Introduction 1.1 Early Turf Battles 1.2 The Origins of American Criminology 2 Criminology in the New World 2.1 Juvenile Crime and the Courts 2.2 Reforming Custodial Facilities 2.3 Further Reforms 2.4 Evaluating Treatment Programs 3 Criminal Patterns Through History 4 Criminology Today in the United States 5 But Does It Work? 6 Labeling 7 Aftercare 8 Criminology Becomes More Scientific 9 Summing Up
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Introduction
The history of a discipline implies a cumulative line of inquiry stemming from early insights and continuing to shape our knowledge into the present. To some extent this is true of criminology. Here we shall give full credit to those who led the process, but our focus falls mainly upon the procession. In addition our task is to delineate both the ideas that have been discarded as unuseful, and the historical issues that are still regarded as important, fruitful lines of inquiry in the broad field of criminology. 1 Before World War I criminology in America was advanced primarily by private citizens who did not call themselves criminologists. The study of crime, its causes, cor-
1 It is not always science that guides research and new insights. America generally rejects hereditary explanations of behavior, as does modem criminology though several early criminologists (the Gluecks and W.H. Sheldon, for example) seemed to find such connections. On the whole however, most of our knowledge today regarding criminality and delinquency is evidence-based. Theodore N. Ferdinand
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft rection and prevention was certainly their passion, but criminology as a distinct academic discipline did not take shape in America until after 1945. Before 1939 they called themselves sociologists, psychologists or psychiatrists, judges, wardens, and many other things - but not criminologists. In the early years those who advanced the field were often directly involved with the courts or prisons, where they saw how their life's work might be changed for the better to serve mankind. Yet another caveat - like medicine - criminology in America today is much more than an academic discipline. In addition to the nature of offenders and the causes of crime and delinquency, it deals with the penal law, police practice, the courts, penal facilities, methods used to rehabilitate offenders, and evaluative research designs including statistical techniques. All of these affect the study of crime, and criminologists - like medical doctors - must be expert in a wide variety of fields that sometimes have only a tangential connection with serious crime. Finally as we proceed here it will become evident that the study of juvenile delinquency often was an innovative pathfinder for criminology as a whole. The study of juvenile delinquency and juvenile justice developed many insights that ultimately proved very useful in understanding and dealing with adult criminals. It is fair to say that in many ways the study of delinquency was the spur that urged criminology forward. Several themes dominated the thinking of the pioneers. From the beginning they were keenly interested in distinctive types of criminals and delinquents and their nature. Early on genetic flaws were seen as a factor in criminality. Then came psychological eccentricities as a basic cause; next social disorganization became the key to crime; and finally multiple factor theorists viewed criminality as the confluence of psychological eccentricity and social organization. Criminologists have also been interested in rehabilitative methods since the beginning, and they have evaluated both traditional remedies as well as more modern ones by using increasingly sophisticated research designs and all-embracing statistical techniques. We shall examine in detail these several themes, but since these advances sparked many fierce debates, we should glimpse first, the angry discussions that characterized criminology's early period. 1.1
Early Turf Battles
Early on sociological scholars impatiently rejected the claims of psychological researchers regarding causal primacy. Today scholars debate the efficacy of harsh punishments vs. molding rehabilitation to the nature of offenders (e.g., criminal law vs. juvenile law) and the best ways of controlling and resocializing criminals after conviction. Psychologists focused on the strong links between personality and crime with an early theorist, Hans Eysenck, in the forefront. He (1964) saw extraversion as a trait that distinguished violent criminals from other kinds, but sociologists (e.g. Edwin Sutherland) vigorously rejected "single-factor" explanations of crime, and all others, e.g., Sheldon and Eleanor Glueck, who ignored criminogenic processes within social relations (see Laub and Sampson 1991). Sutherland pictured crime and delinquency as largely learned and springing from routine social relations, while psychologists insisted that distinctive personality factors were of major importance. Today 100
Theodore N. Ferdinand
1.3 The History of Criminology in America
however, criminologists accept both as key factors in criminality (see Cohen 1951, pp. 3-13). Marxists in America and elsewhere (Scull 1977; Melossi and Pavarini 1981) have accused criminologists of ignoring the links between capitalism, crime policy, and crime. These critics (e.g. Taylor 1999) showed how the maldistribution of wealth in capitalist societies spurs crime by fostering poverty and hopelessness in the lower classes, and immense wealth and ruthlessness in the upper classes. It uses brutal prisons and the death penalty to discipline the poor, while punishing white collar criminals with restitution, fines, or short terms in prison camps (Sutherland 1949). Not only does capitalism undermine itself, it deludes criminologists as they propose peripheral remedies for crime while ignoring fundamental causes. Marxists conveniently ignore similar flaws in socialist countries - resentment and discontent in the lower classes suppressed by harsh punishments together with concentrations of power and privilege at the top, suggesting that these flaws have deeper origins than the political economy. The search for rehabilitative measures has also sparked numerous disagreements among American criminologists as to "what works" (Martinson 1974). Andrew von Hirsch (1985) holds that the criminal law should exact meaningful punishments, and it should support basic values while deterring criminality. Punishment works! But Jerome Miller (1991), Ted Palmer (2002) and a host of others prefer non-punitive resocialization for juveniles and adults. Critics of resocialization deride recent attempts to develop non-punitive methods as largely ineffective ( Whitehead and Lab 1989; Feld 1999), despite clear evidence that specific rehabilitative methods do indeed reduce later offending. Lately these criticisms have lessened as scholars have gathered strong evidence of the benefits of rehabilitative methods. {Andrews et al. 1998; Ferdinand 1991).2 In America attention has shifted lately to more humane methods for dealing with serious offenders - and the results have sparked sharp debates. Today these debates involve sociologists, criminologists, legal scholars, and political scientists, e.g., James Q. Whitman, Michael Tonry, Andrew von Hirsch, John Braithwaite, and James Q. Wilson. But in the past these advances were proposed mainly by private citizens - by John Howard who revealed the squalid, unwholesome conditions of British prisons, by John Augustus who single-handedly invented probation, and by Zebulon Brockway who brought vocational education for young men to America's prisons. Today American criminologists debate what works best in preventing crime - sentencing reform or treatment reform; and which is most economical? And to date both have seen significant advances. One of the most important reforms was the development of responsive law in the United States (Nonet and Selznick 1978). During the Enlightenment Beccaria had insisted that all should be held accountable to the same law. Special exemptions for the aristocracy and the clergy were indefensible, and he
2 Many forget that most complex but important innovations have begun in a blizzard of failures (e.g., airplanes, the Egyptian pyramids, cancer medicines, and organ transplants). Theodore N. Ferdinand
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft
viewed autonomous law as applying to all - the well born and the peasants, rural and urban citizens, male and female alike. Autonomous law was a clear advance beyond medieval superstition, but it too was weak in many ways. It assumed, for example, that a single legal code could fit everyone. Today African-American advocates seek legal relief from the lingering prejudices of slavery, and feminine advocates similarly claim relief from discrimination. They suggest that social psychological disadvantages in custom and law make adherence to "wealthy, white men's law" insulting. Affirmative action was designed to undo slavery's discrimination, juvenile law was invented to address juveniles' immaturity, and recently corrections of women's second class status have been persuasively argued (Minow 1990). All these groups insist that the law ought to be responsive to the distinctive character of people under the law. All have pointed out how previous disadvantages were implicitly endorsed by Beccaria's autonomous law.3 All argued in essence that the law ought to adapt to the changing character of Americans (Nonet and Selznick 1978; Ferdinand and McDermott 2002). These adjustments are still underway. Conservatives argue that there should be no favoritism in the law,4 even though autonomous law seems to endorse the privileges of a small group - wealthy, white, male adults. Advocates of disadvantaged groups argue that the law should insure substantive equality for all honorable groups. It should not blindly endorse the legal/political dominance of one group over the rest. Responsive law has become an important theme in American law, but one that continues to spark sharp debate. 1.2
The Origins of American Criminology
American criminology has its roots in Europe, just as the American Revolution was itself an offshoot of Europe's turmoil between the 1500s and the 1800s. In the Middle Ages legal punishments reflected little more than aristocratic whim and religious orthodoxy. Punishments of the most terrible sort awaited those who challenged the established order in any way. Punishment was not an instrument of justice but of repression. In the 17th and 18th centuries the Enlightenment swept across Europe, and it triggered among other things a broad revolution in criminology and criminal justice. In Italy Cesare Beccaria proposed that criminal law should reflect basic ideals and not political or religious doctrine. He argued for an enlightened legal policy - one that guaranteed the greatest happiness to the greatest number.
3 Whitman (2003) in his careful critique of America's penal laws fails to mention the growth of responsive law. 4 How can you rectify injustice without offering compensation to those who have been deeply harmed? Critics focus on the nature of the group being compensated and the type of compensation offered - but not on the general principle that all honorable groups under the law should have equal rights and opportunities.
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1.3 The History of Criminology in America Offenders may have surrendered some of their claims to happiness by criminal offending, but their punishment still needed to be in proportion to the harm of their offense. If ill-gotten-gains were negated by punishment (and the criminal was rational) crime would be controlled. Torture and gruesome punishments geared to the status of the victim (i.e., kings or other noblemen) were indefensible. Since crime undermines the happiness of victims and offenders alike, the social contract required the state to police crime. Duels by aristocrats were as offensive as feuds among peasants. Both were treated as violent crimes. Only written laws endorsed by the people and interpreted by judges may prescribe punishment. We take Beccaria s reforms for granted today, but in the 18th century they were revolutionary. Today most civilized nations worldwide endorse his reforms; before the Enlightenment none did. Still certain revisions of his views have made themselves felt, and in the United States, as noted, adjustments regarding distinct groups have emerged. Instead of autonomous law in which everyone is charged with a specific crime and treated similarly, affirmative action, juvenile law, and the special needs of females have been formally recognized and accepted in responsive law. Another European pioneer, Cesare Lombroso, asked important questions regarding the nature of criminals, but his answers led to a particularly awkward conclusion heredity dictated social behavior. On the basis of his experience as director of an Italian insane asylum in the mid-19lh century, he determined that many of mankind's basic ills including criminality reflect a stunted development. In Lombroso's view the criminally insane were condemned to an anti-social pathway by genetic weaknesses. His ideas regarding crime gained wide acceptance at the time, and another European, Ernst Kretschmer (1926), used a typology based on body structure to explain mental illness - the asthenic type was susceptible to schizophrenic disorders; the pyknic type was prone to manic-depressive disorders, and the athletic type had a tendency to schizophrenia. Borrowing Kretschmer's typology William Sheldon (1940) introduced mesomorphy, endomorphy, and ectomorphy as distinctive body types related to delinquency, and the Gluecks (1950, 1956) painstakingly linked Sheldon's body types and especially mesomorphy to delinquency. Today however, these authors are largely ignored probably because they implied that anti-social behavior is genetically based. They spawned nevertheless, a whole host of studies focusing on twins that followed similar paths in life despite sharply different early experiences (see Segal, 1993). This line of research suggests that genetic factors may be a factor in some individuals' life course. All of these pioneers predated World War II, and their work pinpointed biological flaws that doomed many to crime. Although both Kretschmer and Sheldon are largely ignored today, many American criminologists (cf. Hewitt and Jenkins 1947; Ferdinand 1966; Moffitt 1993; Sampson and Laub 1993) continue to study typologies of delinquency - but in terms of social background and personality, not genetic make-up. These pioneers believed that laws and not men ought to govern punishment, that punishments should be proportional to the offense, that penal law should be geared to fundamental ideals, and that different kinds of criminals reflect different kinds of personalities and social backgrounds. Recently however, legal philosophers and crimiTheodore N. Ferdinand
103
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft nologists in the United States have gone beyond the ideas of these pioneers. They seek in responsive law to reflect the distinctive needs of distinct groups in society. 2
Criminology in the New World
Today American sociologists focus heavily on social organization as an explanation for criminal behavior. As the sociologists, Shaw and McKay (1931) pointed out, crime and delinquency in Chicago were often centered in working class neighborhoods ringing the central business district, and Robert Merton (1938) suggested that disjunctions between distant social rewards and immediate structural opportunities were a major source of anomie and deviance. Merton's ideas galvanized criminologists and sociologists generally, and Cloward and Ohlin (1960) in particular applied his ideas to delinquency. Those who had little hope of achieving authority or enjoying respect, those who were stigmatized and denied recognition drifted into delinquency and crime. Those who had no access to the structural means that led to honor and esteem, often chose illegitimate means - crime. How many people did Mertens disjunctions affect? To determine the prevalence of delinquency in the innercity, Marvin Wolfgang launched in the late 1960s his study of a cohort of boys born in 1945 in Philadelphia ( Wolfgang et al. 1972). On the basis of an exhaustive study of nearly 10,000 boys, he found that 65% of them had either none or only one arrest, but also that 6% of all juveniles were responsible for most delinquency - 51.9%. Moreover these chronic delinquents were responsible for an even larger portion of serious delinquency and for most adult criminality as well. As juveniles they committed 69% of the aggravated assaults, 71% of the homicides, 73% of the forcible rapes, and 83% of the robberies. Other cohort studies in other regions confirmed Wolfgang's findings - chronic offenders were indeed the core of the delinquency problem, and as adults they continued their mayhem. Wolfgang followed them to age 30 and found they were responsible for 84 % of violent crimes and 82% of property crimes registered in Philadelphia between 1963 and 1975 ( Wolfgang et al. 1987). Non-white juveniles in the cohort were more than four times as likely to become chronics as white juveniles (14.4% vs. 3.0% of their cohort). But the reader must remember that race and social class closely overlap in the United States. Blacks are mostly lower class individuals, and whites are mostly middle and upper class individuals. To verify Wolfgang's and Tracy's findings Tracy (Tracy et al. 1990) undertook a second cohort study of 13,160 boys born in 1958 in Philadelphia, but the intervening 13 years made little difference. This time 7.5% of the cohort were chronics and accounted for 60.6% of all offenses (Tracy et al. 1990, Table 7.1, p. 84). And non-whites were again much more likely than whites to be chronics (11.1% vs. 3.4 %). Yet the vast majority, 81 %, had committed none or only one offense. Wolfgang also looked at the socio-economic status (SES) for both cohorts, and both white and non-white respondents in the high SES group were consistently less delinquent than their counterparts in the low SES group. Why were race and low SES so important in Wolfgang's and Tracy's research? 104
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1.3 The History of Criminology in America
The answer given by sociologists was that those denied honor in legitimate society would look for other, criminal ways of achieving honor. Social disorganization Merton s incongruence between high social worth but limited means for achieving it became a compelling explanation of crime and delinquency in the 1950s and 1960s. Wolfgang's and Tracy's results in Philadelphia seemed to confirm Mertens hypothesis, and Albert Cohen (1955) extended it to the delinquent gang, a group that offered an alternative to innercity boys and girls who otherwise could see only dismal failure ahead. The gang offered respect and a kind of honor to those who otherwise faced social degradation into the far distant future. Though Cohen didn't know it at the time, the nucleus of these gangs often took shape in boy's training schools (see Dawley 1992; Shakur 1993). Social disorganization gave birth to a new group that resolved an urgent problem for some juveniles in the short run. But how did delinquent gangs counter the scorn of the broader society? Sykes and Matza (1957) described "techniques of neutralization" that permitted innercity boys in their own minds to disregard conventional ideals as they became part of a delinquent gang. Innercity life adapted to the plight of alienated youngsters by offering them street gangs that promised a better, more interesting future of sorts. Yet street gangs weren't the only problem. Many middle-class children who had difficulties fitting into the social whirl of high school often blamed themselves and had no hope of improving their status among their peers. Travis Hirschi (1969) studied this group and found weak social controls, poor school performance, and delinquent peers were strong factors in their delinquency. For them striking out angrily against their tormentors via delinquency was at least, momentarily satisfying. Juvenile gangs and high school massacres forcefully focus on the difficulties that young people encounter in adolescence. Others pointed out that deviant ideals were characteristic not only of delinquents ( Walter Miller, 1958) but of white collar criminals as well (cf. Edwin Sutherland, 1961). The attraction of sizable wealth was so great that some strategically placed adults used any means to attain it (cf. Messner and Rosenfeld 1994). Criminology as an academic specialty is still relatively new, and many of these scholars are still alive. But criminology's roots, as we have seen, extend back at least to the latter part of the 18th century when Beccaria took stock of the criminal law and criminal justice in the midst of fundamental socio/political reforms. 2.1
Juvenile Crime and the Courts
Turning now to the courts in the United States, an English legal practice from the 18th century - parens patriae - was used in 19th century and early 20th century America as the cities sought to deal with wayward children. 5 Parens patriae assured child-
5 Actually the parens patriae doctrine was first used in ancient Athens as a means of protecting the rights of children involved with city government when their parents could not serve them in this regard.
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft ren of a lawyer appointed by the court, and the civil courts in America under parens patriae took custody of wayward children who had broken no criminal law. The benevolence of training schools supported the notion that status offenders (those who deviated from a conventional child's role in society) were helped by their stay in training schools. But as the myth of benevolent training schools crumbled, so did the logic of sending status offenders there. By 1978 most American states (33) distinguished status offenders from delinquents in their terminology, but only a few used separate processing as well (Sarri 1978; Go ugh 1977) at that time. Today nearly all do both. Several strong objections were raised to dealing with status offenders in training schools. Custody specifically for treatment was prohibited by a federal district court if no bonafide treatment was in fact provided (Morales v. Turman, 1974), and in the mid-1940s Paul Tappati (1946) focused criminological attention on the use of parens patriae with children for a different reason. His research showed that girls who had done nothing more than run away from home were often kept longer in training schools than delinquents who had committed serious crimes - assault, burglary or auto theft. At first glance it may seem an unjust imbalance. But it should be noted that since defiant girls who ran away were often unwelcome at home, many had no place to stay, and without an alternative the training school was forced to keep them for long periods. In the face of these criticisms many American states responded in the 1970s and 1980s by forbidding the sentencing of status offenders to training schools, and today state training schools hold few status offenders. Yet these same states have been slow in finding appropriate alternatives for status offenders with the result that many wayward girls are once again trolling the streets of America's major cities at night looking for fun and excitement.
2.2
Reforming Custodial Facilities
Reforming the law was the easy part. Reforming custodial facilities for delinquents and criminals was much more difficult. Not only were conservative sentiments a factor, but our understanding of how best to punish and how to resocialize offenders was still rudimentary. In the 1770s when the Quakers in England turned their attention to the problem of punishment and began to inspect jails and prisons, they discovered abominable conditions. They argued that imprisonment, instead of destroying men's souls ought to redeem them, and in the 1760s John Howard, a Quaker, surveyed systematically the jails and prisons of western Europe and encountered mainly wretched conditions. America's criminal justice system was also in a medieval condition. Early communities often didn't regard simple assault or forcible rape as serious crimes, and common law marriages and bastardy were not uncommon. On other hand, minor property crimes by teenagers were punished with prison sentences (Lane 1997; Ferdinand 1991a; Gatrell 1980). Pestilence was rampant in prisons, and food and clothing had to be supplied by relatives. Many prisoners of course, had little support from home and were forced to depend on their fellow inmates, a risky course indeed. Every kind of 106
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1.3 The History of Criminology in America
debauchery was common, and a short jail sentence often turned into a death sentence from disease. Howard's findings showed that Europe's jails and prisons were a brutal disgrace and needed to be replaced with more humane facilities. And in the early years of the 19th century radical reforms (so-called "penitentiaries") were constructed both in Europe and by the Quakers in Pennsylvania (see Ives, 1970, Chapters 5, 6). The Holy Bible was the inmate's sole companion while in confinement, and he was expected to reform himself. During this period several eastern cities - Boston, New York, and Philadelphia - also opened Houses of Refuge to provide a better environment for wayward children. Reforming youthful offenders tapped into America's zeal for redeeming criminals, but many of these "reforms" underestimated the complexity of the problem and fell far short. Solitary confinement in penitentiaries turned out to be inhumane - it was accused of fostering insanity and high death rates (Lewis 1967),6 and the Houses of Refuge were either closed or forced to resort to heavy custodial controls. They too became prison-like (Pisciotta 1985). The urban states were looking for a solution to the hordes of homeless children roaming city streets at night, and Massachusetts opened the first training school, the Westborough State Training School for Boys, with great hopes in 1846, and in 1856 a Girls Training School was opened with similar fanfare. Despite their high hopes however, the Westborough institution was soon plagued by arson, food fights, and riots (Leaf 1988). The problem of repressive custodial facilities seemed unavoidable. The schools (the Houses of Refuge and the training schools) that were set up for unruly, homeless children in eastern cities in the early years of the 19th century were certainly inspired by noble motives. The city fathers wanted to help the children who were in danger of being ruined by their experiences in the mean streets. The Houses of Refuge offered street kids a haven, but incorrigible, predatory delinquents (see Anderson 1991 and Jankowski 1996) among them could only be contained by using oppressive methods, and these same institutions quickly found themselves becoming brutal (see Pisciotta 1985). Kindly superintendents were replaced with stern task-masters, and the Houses of Refuge and the training schools became mini-prisons, relying on strict discipline to keep order. It was clear: stern discipline - not decency - was needed. The solution which Massachusetts finally tried in the 1970s (Miller 1991) - was to break up the institutions into small units, so that a supportive, humane staff could have some influence on the boys and set the tone of the institution. It was not possible to reform delinquents in large institutions such as the Westborough Training School or the Houses of Reform - where the staff were far outnumbered. When Jerome Miller, a social worker, became director of the Massachusetts Department of Youth Services in 1971, rehabilitation became possible because most of the 6 Lewis chronicled (1967 Chapter 19) the complaints that were raised against Eastern Penitentiary in the 1840s (it was more expensive and it had higher death and insanity rates), but by Lewis' documentation only the first seems to have been warranted. Since the prisons it was compared with had different mixes of inmates, Lewis' conclusions may have been mistaken. Theodore N. Ferdinand
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boys were not committed to criminality and could readily stay at home. They were enrolled during the day along with others in small, nearby programs. Rehabilitative programs were also presented in closed custodial facilities for violent boys. But whether open or closed, they were all small and staffed with young adults. Small facilities also have their problems (expenses per capita are high), but large institutions with more than 50 boys and a minimal staff cannot create and maintain a supportive, humane atmosphere. It is only possible to replace the boys' "street culture" with a civic spirit in a setting where civic-minded adults are pre-eminent. Incidentally most young residents prefer civic virtues to the youthful might-makes-right doctrine, because under the latter doctrine they become victims.. But William George couldn't do it fully in his Junior Republics, and no one else could in large institutions for juveniles or adults. The problem was that repressive institutions were intolerable to humane managers who were convinced that a decent, respectful, non-predatory culture could be installed if the superintendent vigorously endorsed it. But good will and a commitment to civic virtue, though laudable, were not enough, and repeated attempts at reform foundered when youngsters felt free to act-out. This same cycle is found in Britain (see Liebling with Arnold 2004). A clash of civic values with a predatory, street culture in large penal facilities is inevitable, and a repetitive cycle of repression followed by reform followed by further repression emerges in the histories of many large, penal settings. This cycle has been repeated many times in the United States [cf. the Houses of Refuge (Pisciotta 1985), juvenile training schools (Deutsch 1950), Brockway's reformatories (Pisciotta 1992), and at many maximum-security, adult institutions (Jacobs 1977; Wicker 1975; BarakGlanz 1985)]. A similar cycle unfolded in Massachusetts in the 1970s as Miller attempted to reform the juvenile system. Each of Miller's reforms in the 1970s was viewed by staff in the states'juvenile institutions (Miller 1991) as undercutting still further their authority within the institution.7 The reform of large institutions for juveniles and adults through good will is an impossible task without first neutralizing the primitive culture that routinely governs inmate life in such institutions. Absent a better idea, reality and convenience win (Rothman 1980) and stern repression is ultimately the result. Miller's better idea was to downsize the penal facilities to one that is governable by a decent, humane staff committed to civic virtues, i.e., to a size that is large enough to displace the boys' anti-social, rebellious spirit in favor of a more humane culture. Street et al. (1966, pp. 26-39) found in their survey of six juvenile institutions that three smaller institutions (with fewer than 66 boys) were able to establish a treatmentoriented culture among the boys, while the two larger institutions were both repressive institutions. Street et al. didn't dwell on the clash of values between the staff and the boys, but all six of the institutions showed evidence of it. In the smaller facilities
7 To Miller'credit he didn't attempt to reform custodial institutions - he simply closed them down. In their place he set up smaller units to provide rehabilitative services, which ultimately were successful.
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1.3 The History of Criminology in America
however, the staff was able to establish civic virtue as the dominant ethos of the institution. Similarly, Newcomb (1978) found that boys in smaller juvenile institutions were more likely to endorse prosocial leaders than in large institutions. 2.3
Further Reforms
Charles Loring Brace (1872) organized trains of young people in the 1850s (continued by others to the 1920s) to transport them from the streets of New York and Boston to the villages and farms of the Midwest - about 200,000 Youcha estimates (1995, p. 194) - and in the 1870s Zebulon Brockway (1910) opened the first vocational training program for young adult males at the Elmira State Prison in New York. He proposed indeterminate sentencing to strengthen the vocational program's impact by making success in the vocational training program a positive factor before the parole board. Many other states opened reformatories for young adult males closely patterned after Elmira (see Pisciotta 1992). Bringing young criminals together in a large penal institution however, created a hostile climate for vocational training, and the reformatories quickly reverted to a stern, unforgiving, oppressive pattern. They became disciplinary, punitive institutions in which the inmates set the tone. They became among other things seriously criminogenic (Peterson 1981). Shortly before the American Civil War, John Augustus labored to help the wretches who came before the Police Court in Boston, and his single-handed effort gave birth to probation in 1870 for both teenagers and adults. In 1899 during the Progressive era the juvenile court opened its doors to offer guidance, support, and good will to juvenile delinquents in Chicago. In 1906, using Brockway's vocational program at Elmira as a model, Sir Ruggles-Brise (Fox 1952, pp. 331-333; Chapter 21) proposed a network of Borstals in Britain to educate, resocialize, and to train young people with a criminal bent in vocational education. They were kept small, and the young people were given relatively short sentences. By all accounts up to the 1940s these Borstals were highly successful in that a large majority of their graduates avoided further crime. After World War II however, their effectiveness declined, and finally they were abolished in the late 1970s. These several reforms covering more than 150 years have met with at best indifferent success. Yet today the hope of reforming offenders is still very much alive among criminologists. 2.4
Evaluating Treatment Programs
Based upon strong confidence in the benefits of counseling for misbehaving youngsters and encouraged by the Juvenile Court and its Child Guidance Clinics, Edwin Powers and Helen Witmer (1951) undertook an evaluation of a Cambridge-Somerville program that used weekly counseling sessions with Harvard's graduate students as a means of treating delinquents. Though Powers and Witmer clearly favored the concept of mentoring/counseling, they could find no positive effects on the boys treated. 8 Their lack of positive results is not surprising however, in light of the primi8 Recently counseling/mentoring in the community has been shown to be very successful in warding off delinquency for some juvenile (Lipsey et al. 2000).
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tive way in which they went about "rehabilitating" their juveniles and measuring its impact. First, they counseled the experimental group to a very limited degree - not more than twice a week for even the worst delinquents and with no more than two hours per session. How could "adventuresome" boys be curbed even by highly effective counseling with no more than four hours divided into two sessions a week? Second, both the matched control and experimental groups were "diluted" in that they contained sizable numbers of juveniles who were not behavioral problems and didn't need counseling. Both groups also probably contained some boys who received treatment outside of the experimental context. Counseling had little effect because it wasn't provided with sufficient intensity, and because it wasn't needed by many in both groups. It would have been surprising had they found positive results. Still the Cambridge-Somerville study was a step in the right direction - not because it signaled how misguided treatment efforts are but because it demonstrated how difficult and complicated effective treatment is.
3
Criminal Patterns Through History
Sociologists were also busy tracing the growth of crime and criminal justice in early America. Lane (1967) studied the emergence of Boston's police department from its beginning in 1838, and Ferdinand (1967) explored Boston's arrest patterns from before the Civil War to 1951. As assessed through court records delinquency rose sharply in the early years of the 19th century, but it leveled off after the Civil War. And adult crime after a 40 year rise to 1870 also showed a slow decline to 1951. Others have found much the same in other cities (Ferdinand 2001, pp. 1516-1528) - i.e., crime and delinquency paused after the Civil War until about 1960. This century-long pause can be explained partially at least by improvements in the American censuses (see Adams and Kaskoff 1991).9 In addition the spread of literacy probably had an impact both positive and negative. As literacy advanced in nineteenth century France the crime rate declined. But as illiteracy narrowed down to only a few, it was associated with an increase in both violent and property crime in that group (see Gillis 2004). Much the same may have been true in the United States in the century following the Civil War.
9 An increasingly accurate census meant simply that the total number of citizens rose gradually by 26 % over the forty years following the Civil War (apart from actual increases), which in turn automatically reduced the official crime rate by about 21% over the same period (see Adams and Kasakoff 1991, Tables 1 and 4).
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Criminology Today in the United States
The California Treatment Project (CTP) shows how the offender's personality, social environment, treatment, and aftercare come together to foster resocialization among juvenile offenders. The directors of CTP ( Warren and Palmer) found that when the right kind of delinquent is assigned to the right kind of parole officer using the right kind of treatment, the result is a sharp drop in criminal behavior (see Palmer 2002). They haven't found the key to all delinquency - just a big portion of it. By following a sophisticated research design they showed that delinquents come in several types and that the most common type (the conflicted neurotic) can be helped substantially. The aftercare effort was carried forward by specially selected parole officers and took the form mainly of tracking juveniles in the community. Despite the limited focus of aftercare they demonstrated that resocialization works well when organized intelligently. Much of the research into resocialization has compared all offenders receiving a given treatment with a matched group not receiving treatment, while ignoring the impact of the neighborhood after treatment. Much of it has come up with little noteworthy change. When the proper controls are introduced however, the results are much more encouraging. For example, many studies of Drug Courts10 in the United States have shown limited success, even though many judges in these courts are enthusiastic supporters. Their overall success rate however, improves substantially with each iteration involving addicted drug users. Drug abusers, like cigarette users, often make several serious attempts at quitting, before they are finally successful. A success rate of around 10% for the first attempt, is followed by another 10% with the second attempt, and so on, until at the fifth or sixth iteration a majority of abusers will have been cured. Drug courts do seem to work - especially if their overall effect is considered. The same, incidentally, is probably true for other forms of resocialization as well. But all too often evaluators regard those who "graduate" successfully from the drug program after the first attempt, as the best measure of success. Their ability to foreswear drugs is taken as a valid measure of the program's effectiveness. Unfortunately most are unable to stay away from drugs after only one exposure to a drug avoidance program. Additional exposures even if successful are often ignored. Moreover, these evaluations compare those who graduate against those who have dropped out or otherwise didn't receive full treatment. But those who complete a drug program are by no means an average offender. They are often highly motivated to succeed, and in many ways they are ideal subjects. They might well have "cured" themselves without the court's intervention. They are however, only a minority of all drug users.
10 Drug courts combine social psychological and medical treatments with juridical compulsion to compel abstinence on the part of drug abusers. Over the long-run they have been effective in ridding defendants of drug addiction.
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The same mistake is also made with other kinds of evaluations. Those who are most committed to changing their life-course by taking advantage of rehabilitative programs are compared with those who have decided not to complete or to not even enter such programs. In other words many programs are seen as successful, because they were evaluated in terms of the very best candidates - those who completed the program. If they had looked at all those who volunteered for the program (including those who subsequently dropped out) in comparison with the rest, the results would have been more realistic. Juveniles and adults who volunteer for rehabilitative programs in a correctional facility are generally more prosocial than those who refuse to comply, whatever the program." They are also more likely to avoid further crime with or without treatment. We need to compare those who succeed because of a strong motivation with those who succeed mainly as a result of effectiveness in presentation or treatment method. We need presentation methods that appeal to those who are only weakly motivated. They are the majority of offenders and constitute the main problem. Offenders at all levels of motivation need help, because all present a challenge to the community. Such weaknesses have plagued many earnest attempts to find effective methods for resocializing delinquents and criminals with the result that this crucial area is still suspect among the informed public. A controversy has arisen among criminologists regarding the overall value of treatment - partially because those who are most serious about methodological rigor are dismayed by the clumsy methods used to test effectiveness but also because resocializing offenders is more complicated than most of us ever imagined. But other very complicated efforts (organ transplants, space travel, and polio vaccines) were perfected only after long periods of trial and error. Resocializing delinquents and criminals is at least as complex as these other efforts. In addition to treatment programs criminologists today are looking carefully at the nature of delinquents. After World War II Hewitt and Jenkins (1947) in the United States described an unsocialized aggressive child; an overly inhibited child; and a socialized delinquent; all of which were understood in terms of an interplay among Freud's ego, super-ego, and id. The Gluecks (1956) pursued a different path with their mesomorphs, endomorphs, and ectomorphs. But we needn't look too hard to find some congruence between these two typologies. The unsocialized aggressive child (similar to the Gluecks' mesomorph) is unrestrained toward peers and pets, and disregards the serious harm he causes others. Other labels for him as a child include an incorrigible or chronic delinquent, and as an adult, psychopath or sociopath. The
11 On the other hand, those who failed did not receive a full "dose" of treatment, and ought not to be compared with those who had had a full dose. It is possible to compare the outcomes of those who received varying levels of treatment (from zero to 100 %) by looking at pre- and post-treatment offending. Since pre-treatment offending levels among these several motivation levels will often be quite different, their post-treatment behavior should be compared against their own pre-treatment behavior. And the differences noted among the several distinct motivational groups will indicate how the "treatment" affected offenders with different levels of motivation. Problems exist here as well but they are not prohibitive.
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1.3 The History of Criminology in America Gluecks' ectomorph resembles Hewitt and Jenkins' overly-inhibited child, and the third type in each typology (the endomorph, and the socialized delinquent) also bear some semblance to each other. Moffitt's (1993), and Νagin and Land's types (1993) (adolescent-limited delinquents; long-term persistent delinquents; and low-rate chronic delinquents) today take this whole endeavor one step further in that they show how distinctive patterns of delinquency emerge from distinctive combinations of physical trauma, personality, and family structures. Adolescent-limited delinquents for example, are more risk-takers and adventuresome young lads than dangerous offenders, but if necessary they too can be murderous much like the infantry in wartime - "doing what they have to do." As adults however, they sometimes find a conventional niche (marriage and job), and if they do, their criminality subsides. The long-term persistent delinquent however, is violent and dangerous from an early age. Aging may temper his violence, but he is unable to control his anti-social behavior and continues his predatory ways well into adulthood. The low-rate chronic delinquent gets involved with self-destructive activities (narcotics, prostitution) and whatever else these initial addictions may entail (burglary, theft, shoplifting), but violence is not his/her first choice (cf. Palmer's conflicted neurotics). Similar themes can be found in Moffitt's, Nagin and Land's, Hewitt and Jenkins', Warren and Palmer's, and the Gluecks' typologies. Moffitt sees childhood as the beginning of life-long criminality for some types, but Sampson and Laub (2003) after examining the implications of Moffitt's typology of delinquency for adult offending found few meaningful links between her delinquent types and adult offending, though their earlier work (Laub et al. 1998) had suggested just the opposite, i.e., some interesting relationships between Moffitt's delinquent types, social structure, and adult criminality. Much more research focusing on longitudinal relationships is needed before we can be confident of these findings. Unlike Lombroso's earlier model, Moffitt's types focus on personality characteristics as molded by the social environment to form a complex mixture of social and psychologically rooted behavior. In most cases no single pattern (social or psychological) dominates. A child with a personal bent interacts with the environment and develops the kind of social character that helps it navigate its immediate situation. Different children in the same environment often behave quite differently. Still Moffitt's suggestion that different types of delinquents present distinct social psychological patterns conforms broadly with Lombroso's and Sheldon's assertions that deviance takes several distinct shapes. Moffitt's notion that criminogenic characteristics may stem from childhood traumas (e.g., the long-term persistent delinquent) harks back to biological explanations that many others (Sheldon, the Gluecks, Lombroso, and Kretschmer) had endorsed generations earlier - though their suggestions are not widely accepted today.
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But Does It Work?
It is one thing to inquire into the nature of criminality, but it is quite another to identify what should be done. Criminologists have struggled with this complex issue for some time. Greenwood et al. (1996) looked at four different kinds of treatment and estimated the money saved via delinquency prevention. They found that incentives to complete high school were most economical and reduced delinquency by 56% and adult crime by 70 %, because they were applied during in early adolescence and avoided substantial amounts of both crime and delinquency. The least effective were home visits by professional nurses to provide health and psychological counseling to very poor, pregnant women. Intervention at the pre-natal stage is very expensive because it involves medically trained professionals, and the counseling focuses on pregnant women in poverty, i.e. mothers whose children were females and unlikely to become delinquent anyway. Andrews and Bontà (1998) looked at treatment in both community and prison settings and found that programs in the community are generally more successful in reducing recidivism than those administered in prison.12 They also established that when the treatment method is matched to the offender, the results are more successful. High risk offenders for example, succeed more often via behavioral modification. Lipsey, a broad user of meta-analysis, has examined a wide range of evaluative studies of programs for juveniles, and he reports that programs for juveniles do very well when they focus on interpersonal skills and behavior, and urge a fuller participation in school, but that individual counseling was less effective (Lipsey 2000). Lipsey also reports that serious offenders are treated most effectively in the community even though they are much easier to assemble as a group in an institution. What is it in custodial facilities that undercuts effective programs? Could a criminogenic culture be at fault?
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Labeling
Lemert (1951) and his followers suggest that labeling introduces a factor that makes resocializing offenders much more difficult. Not many juveniles have ever been arrested and far fewer have ever suffered incarceration, but the public is wary of such people with the result that many who have been involved in crime and experienced custody, encounter considerable difficulty in rejoining society after "paying their debt." Labeling impacts all offenders - it tarnishes their character, including those
12 Since prisons deal with serious, anti-social offenders, it is probably true that their offending after prison exceeds that of their counterparts who remain in the community even when all else is equal. A solution here might be to compare pre-program offending rates with postprogram offending rates in both types of offenders. Since minor offenders usually have little room for improvement, such programs may well register only slight benefit for minor offenders.
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who sincerely wish to move along a more constructive path.13 The alternative however lessening the vigilance of the courts, the police, or the prisons is not acceptable either. Since most offenders suffer labeling regardless of their social attitudes, it is important to provide those who leave custody, guidance and support in re-establishing themselves in the community. Still many offenders carry obvious indicators (gaps in their resumé, poor language, few skills, failure to finish high school, belligerent attitude) of their criminal background that cannot be easily erased. Moffitt's suggestion that early traits incline some individuals to extensive criminality in adulthood leaves little room for any simple kind of prevention short of visits by professional nurses to pregnant welfare women. But her other type (adolescent-limited delinquents) and Nagin and Land's low-rate chronic delinquents suggest more direct lines of treatment.14 We know however, that resocializing offenders is not a simple task. Civilization breeds crime in a variety of ways, and it is important that we develop several different approaches to keep it to a minimum. Unfortunately only a few states in the U.S. seem willing to do what is needed. Massachusetts has taken the lead (with Missouri, Hawaii, Pennsylvania, and Utah following) in searching for the best approach. It offers a wide variety of community programs for most of the delinquents it arrests every year. And its success is worth noting. Massachusetts' Department of Youth Services (DYS) under Jerome Miller's direction introduced reforms in the mid-1970s that kept most of the delinquents at home (Miller 1991). He set up a state-wide network of innovative educational and leisure-time programs, while closing all three traditional training schools for boys (with a combined capacity of more than 500), and opening a new institution for about 150 dangerous delinquents. DYS also closely supervised boys released to the community via several tracking programs. In 1968 before Miller's reforms had even been announced, DYS was successful less than one-third of the time, i.e., ~68% of its graduates were rearraigned after release from DYS, but in the early 1980s after most of Miller's reforms had been in place for more than a decade, their rearraignments came to 51%. Not a huge reduction, but certainly a significant improvement. And the percentage of DYS's "graduates" who also wound up in Massachusetts' prisons dropped from 35% in 1972 to 15% in 1985 (Loughran 1987). Many lives have been saved by Miller's reforms both literally and socially, and reductions in criminal complaints as a result of DYS's reforms meant fewer resources needed in criminal justice. Juvenile justice in Massachusetts is also among the least costly of such systems in the United States. In the mid-1980s the overall cost per juvenile in the Department of
13 Even defendants who were incorrectly convicted of a serious felony and sentenced to prison are stigmatized. 14 Moffitt's adolescent-limited type could probably be handled by offering adventurous, risktakers a variety of challenging sports in high school, and low-rate chronics need vocational and academic counseling/monitoring and perhaps special education apart from the mainstream. Theodore N. Ferdinand
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Youth Services was about $ 23,000, while similar costs in other urban states were on the order of $35-40,000 (Krisberg, Austin, and Steele 1989, pp. 32-37). Moreover, Massachusetts experienced a decided drop in delinquency in the 1980s, while the rest of the U.S. was encountering rising juvenile violence and theft (Krisberg, Austin and Steele 1989). And at the adult level in the 1990s Massachusetts sharply increased its use of probation for adults instead of imprisonment, while it offered parole only sparingly to a "chosen few" inmates (see Ferdinand 2005). During the 1990s complaints of index crimes in Massachusetts continued to decline, though much the same was true throughout the United States. Massachusetts' public officials believe that the vast bulk of offenders - both juvenile and adult - need to avoid incarceration to further their rehabilitation. Only a few are too dangerous to keep in society. Avoiding institutions as much as possible reaps sizable benefits all round. It avoids prisonization of the offender, it encourages a network of community programs for children and adults at risk of offending, it is much less expensive to the state, and it keeps families together.
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Aftercare
Let's be clear. Without custody in a penal facility, full aftercare would probably be unnecessary. Support programs are needed for those who want to find an honorable path in society after prison. If left to his own resources, an offender will more often than not resort to crime to survive. Restorative justice is a program that chastises the offender for his crime but at the same time substitutes a face-to-face encounter with his victim for a term in a penal facility. Braithwaite (1989) endorses victim-offender mediation as a means of sharpening offenders' sense of the harm they do to others. He also points out that being willing to accept them back in the community helps to deepen a remorseful offender's resolve to prove himself a worthy community member. He sees it as a step toward rehabilitation. (Jmbreit (1994) documents the impact of victim-offender mediation on both victim and the offender. According to Braithwaite the first step in rehabilitating an offender is to awaken his sense of shame and remorse. He may voluntarily offer to help his victim recover. But beyond the shame, the offender needs to be forgiven for his crime and reintegrated with the community. How can victim-offender mediation accomplish this? When the offender sees the pain of the victim and spontaneously feels sympathy and chagrin, the victim in turn may accept the offender's remorse and feel forgiveness. If this meeting proceeds as planned, both victim and offender benefit. But not all offenders feel shame and remorse, and not all victims can forgive the offender. It works best with young offenders whose criminal identity is not well established. If restorative justice fails, segregation for the offender in a penal facility may well be the alternative. Should this be the case, sooner or later aftercare becomes a necessity. Offenders have already failed in the community, and to succeed after prison they will need extensive help to avoid a second failure. To be sure some will not want any help. But many are very much interested in learning how to avoid further trouble and all the heartaches 116
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1.3 The History of Criminology in America that follow. When approaching discharge from prison, they need counseling regarding their lives in the free world. And once in the free world, they need help in finding the elements of a normal life - a suitable place to stay; a rewarding job; genuine, prosocial friends; a positive, constructive mate; and wholesome leisure activities. They may also need tracking/monitoring to make sure they aren't tempted by "risk-free" criminal opportunities. They may also need mentoring regarding personal habits as well as remedial education and vocational training. Mimi Silbert, director of the Delancey Street Project (DSP) in San Francisco, has established a center that provides just the right kind of help that an offender coming out of a California prison needs. DSP offers decent clothing and a comfortable apartment; training; employment; helpful non-judgmental friends who support a crimefree environment; and a good possibility of future employment in the community. DSP doesn't accept public funding, and it has not been carefully evaluated. But it is going on its 35lh year and has five branches in major cities throughout the United States. It has also recently established a Life Learning Academy for high school dropouts who also want to find a better path. It offers a redemptive experience for offenders young and old who want something other than crime. It is self-defeating to skimp on aftercare programs for those who have just been released from penal facilities in the hope that they can manage everything with only limited guidance from a parole officer. Without effective aftercare, any steps taken in custody to divert them from further crime are wasted. Offenders have already demonstrated their difficulties with civilian life, and if we ignore them after they have been punished, they will fail again, regardless of how effective their earlier treatment was. Every year about 600,000 former prisoners are released to American society. Most have very little aftercare and most reoffend. All that has been described to this point assumes that the underpinnings of criminal justice in the United States - its economic and political systems play a part in its crime and delinquency problems. Yet Marxists in the United States and Britain offer specific critiques of the political economy of the West. Tony Piatt (1977) in Chicago was one of the first in the United States to cast doubt on the motives and practices of those in Illinois who advocated for the juvenile court around the turn of the 19th century. For Piatt it was simply one more attempt by conservatives to avoid further trouble (strikes, riots) among the poor. It was presented as a humanitarian reform but in fact, according to Piatt, it was a sophisticated plot to pacify the poor. Others (Rusch and Kirchheimer 1938; Melossi and Pavarini 1979) saw the whole social process - from factory, to prison, to neighborhood - as organizing the workers against their own best interests. For Marxists the prison was mainly an instrument to punish restless workers so their brothers in the factories would be less inclined to demand higher wages and better conditions. Finding evidence to establish such broad allegations is difficult, because they describe the inner most motivations of public officials. Still the Marxists presented a systematic critique of basic American institutions, though their scholarship (with important exceptions, see David Baldus' work in 1990 on the death penalty and Stanley Cohen's thoughtful review of social controls in 1985) has been shrill and unpersuasive. Theodore N. Ferdinand
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft In league with sociologists criminologists have made a strong effort to develop more specific arguments and better methods for transforming offenders into law-abiding citizens both by reforms in socializing the young and by changes in the handling of offenders both in custody and in the community. Nevertheless many of these proposals have been condemned as oppressive. They imposed abrupt changes on hapless families with children at risk, and forced unwanted regimens on offenders. Such claims however, ignore the fact that criminality itself entails an undignified life of lengthy submission to authority. Which is better? Unwanted but healthful changes in family life and in the neighborhood that offer a better chance to children; an inconvenient but rehabilitative regimen in adulthood that holds some promise for civil liberties after; or a life of crime and punishment. The choice, it would seem, is obvious. All of this assumes an unshakeable benevolence among those who administer such programs. Without good will, these programs could become little more than instruments of oppression for small-minded officials.
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Criminology Becomes More Scientific
Science presumes ingenious experimentation along with careful measurement, but criminology along with the rest of the social sciences must forego experimentation because humans are its subject matter. Careful measurement of natural experiments is the main basis of criminology's scientific claim. This fact however, places special emphasis on assessing each phase of a process thoroughly and accurately - so that all relevant statistical controls can be assessed. Accordingly a wholly new specialty has appeared that evaluates treatment and outcomes by using sophisticated statistical techniques. Criminologists today are eager to learn what works, and they have turned to a variety of statistical measures - meta-analyses, logarithmic transformations, multivariate analyses, covariance analyses - all of which canvass statistically the impact of many factors on offending. All of these assume a high degree of sophistication by their users, and it happens that criminologists report results that indicate ineffectiveness in a treatment, when in reality they reflect mainly an inept use of statistical measures. For example, it is not unusual to learn from meta-analysis that a specific method - wilderness/adventure programs doesn't work with juvenile offenders, even though it works well for certain kinds of offenders - risk-takers and adventuresome kids, often the most difficult to reach (Greenwood and Turner 1987). When these studies are taken as a whole, the successes of a few are submerged in the majority that failed. Comprehensive statistical measures such as meta-analysis must be used carefully, i.e., by thoroughly probing their meaning before accepting their general findings as the whole truth. A second example is the report that behavioral modification works best with high risk offenders. While is true that many intelligent offenders find behavioral modification childish, it is also conceivable that low-risk offenders do poorly with it, simply because they have so little room to show improvement. High-risk offenders may show significant improvement in a particular program while low-risk offenders could not register noteworthy improvement, because their offense record is already near zero. 118
Theodore N. Ferdinand
1.3 The History of Criminology in America
9
Summing Up
Today criminologists are making steady progress by advancing their understanding of the nature of crime by developing better methods both in the community and in custody for changing offenders, and by developing better statistical techniques for evaluating these reforms. In truth however, we still have a long way to go. We have only begun to realize the enormous complexity of each these issues. In the next century our descendants will probably see our efforts during the first years of the 21st century as setting the stage for meaningful accomplishment, but still working with vague, ill-defined concepts and loose methods that leave much room for argument. If we look back to the beginning of the 20th century, we would not say the same. Our forbearers in criminology were interested in rehabilitating offenders, but their ideas regarding the nature of offenders; their ideas of the best ways of reforming them; and their methods for evaluating them were definitely rudimentary and sometimes even misguided. Criminology is now a world-wide effort. We have made real advances since Beccaria and Lombroso. We have succeeded in probing the nature of criminals, and we have learned how to fit the punishment to the crime. But our quest for the best ways of resocializing adult criminals still hasn't been fully realized. We understand that intelligent aftercare is as important as intelligent treatment. Aftercare managers however, must be imaginative in adapting treatment programs to the needs of the offenders. We also know that large-scale prisons are too ineffective as custodians of offenders to warrant their further use. Even more basically however, many criminologists approach the problem of criminality with the unspoken assumption that nearly everyone comes to civil society with a desire to adapt to its laws. Perhaps the greatest challenge facing criminologists is the need to prove to cynics (i.e., most offenders) that civil society is worth the effort. For those who have meaningful positions in academia or government, the answer is obvious. But those who have been scorned by relatives, who have few good friends, and who have no work or regard their work as meaningless, their lives are often not important even to themselves. Ignominy and prison represents mainly an inconvenience. They have little interest in moving in conventional circles, and they must be shown that resocialization can increase their chances for respect, a sense of self-worth, a supportive family-life, a meaningful job, and quality friendships. Empty promises however, are unwise. Most offenders are already skeptical of their chances of turning around the course of their lives. Counselors can help produce positive developments for offenders. But if they are simply announced, they will be dismissed as empty promises along the same lines as the "have a good day" platitude.
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) H A N S JOACHIM SCHNEIDER
Inhaltsübersicht 1 Internationale und interdisziplinäre Orientierung 2 Theorieprobleme 2.1 Definition 2.2 Theorieformen und -konstruktionen 2.3 Gütekriterien für die Evaluation 2.4 Paradigma und Ideologie 3 Die rationale Wahltheorie 4 Kriminalbiologische Theorien 4.1 Theorie der konstitutionellen Prädisposition 4.2 Geisteskrankheit und Verbrechen 5 Kriminalpsychologische Theorien 5.1 Psychopathologische Theorie 5.2 Theorie der kriminellen Persönlichkeit 5.3 Biosoziale Theorie der ererbten kriminellen Tendenzen 5.4 Die psychoanalytische Theorie 6 Kriminalsoziologische Theorien 6.1 Theorien der sozialen Desorganisation 6.1.1 Ursprung, Inhalt und Kritik der Theorie 6.1.2 Empirischer Fortschritt der Theorie 6.1.3 Gemeinschafts-Zerfall-Prozess-Theorie 6.2 Die Anomie-Theorie 6.2.1 Entstehung und Inhalt der Theorie 6.2.2 Die institutionelle Anomie-Theorie 6.2.3 Die allgemeine Drucktheorie 7 Sozialpsychologische Theorien 7.1 Kognitiv-soziale Lerntheorie 7.2 Kontrolltheorien 7.2.1 Vorläufer der Kontrolltheorien 7.2.2 Theorie der sozialen Bindung 7.2.3 Theorie der Selbstkontrolle 7.2.4 Kontroll-Gleichgewichts-Theorie 7.3 Soziale Interaktionstheorie 7.3.1 Labeling als Prozess der sozialen symbolischen Interaktion 7.3.2 Die Schamtheorie 7.3.3 Die Trotztheorie 8 Lebenslauf- und Entwicklungstheorien 8.1 Die Lebenslauf-und Entwicklungsperspektive
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft
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8.2 Die Interaktionsprozess-Theorie 8.3 Das sozial-interaktionistische Entwicklungsmodell 8.4 Die Theorie des chronischen Lebenslauf-Straftäters und des JugendzeitRechtsbrechers 8.5 Die Theorie der altersabgestuften informellen Sozialkontrolle 8.6 Kriminologische Längsschnittforschung Konflikttheorien 9.1 Vorläufer 9.2 Drei Konflikttheorien 9.3 Wirkungen Kritische Theorien 10.1 Die kritische, radikale Kriminologie . . . . 10.2 Der linke Realismus 10.3 Anarchistische und kulturelle Theorie . . . 10.4 Postmodernistische und konstitutive Theorie Die feministische Kriminologie . . . Theoretische Integration Beurteilung kriminologischer Theorien
147 148 149 150 152 154 154 154 158 159 159 159 160
161 163
166 168
Internationale und interdisziplinäre Orientierung
Die Ursachenfrage ist eine Hauptaufgabe der Kriminologie, die bisher dazu keine umfassende Theorie entwickelt hat. In der Kriminologie der Gegenwart gibt es vielmehr zahlreiche „Theorien mittlerer Reichweite" (Merton 1968, 68), die in kriminalbiologische, -psychiatrische, -psychologische, -soziologische, sozialpsychologische, viktiminologische, kritisch-radikale, feministische und integrierte Theorien unterteilt werden (H. J. Schneider 1987, 359/360). Es ist Zweck dieses Artikels, nach den Maßstäben der „Hauptstrom-Kriminologie" („Mainstream Criminology") über die Theorien zu informieren, die international Zustimmung gefunden und die sich empirisch und praktisch bewährt haben (WrightIRourke 1999). An die traditionell überkommenen Theorien wird hierbei angeknüpft. Es ist ferner Sinn dieser Studie, über den gegenwärtigen Stand der theoretischen Kriminologie, also über ihre Weiter- und Neuentwicklungen, kritisch zu berichten.
2
Theorieprobleme
2.1
Definition
Wissenschaftliche Theorien geben Erklärungen über die Beziehungen zwischen beobachtbaren Phänomenen ab (Void¡BernardiSnipes 2002, 4). Eine Theorie ist eine Reihe miteinander verbundener Behauptungen und Vorschläge, die erklären, in welcher Beziehung zwei oder mehr Ereignisse oder Faktoren zueinander stehen (Curranl Renzetti 2001, 2). Kriminalitätstheorien befassen sich mit den Ursachen und Konsequenzen kriminellen Verhaltens, das dem zeitlichen Wandel unterworfen ist. Sie sind von Zeit und Ort abhängig und entwickeln sich - dem „Zeitgeist" (Friedrich Hegel) entsprechend - in einem bestimmten gesellschaftlichen Klima mit bestimmten Wertvorstellungen. Theorien müssen sich bewähren, sie müssen sich an der Empirie, 126
Hans Joachim Schneider
1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) an der Erkenntnis, die auf Erfahrung beruht, messen lassen. Sie sind deshalb so zu formulieren (zu operationalisieren), dass sie durch die Realität bestätigt (verifiziert) oder widerlegt (falsifiziert) werden können. Bestätigung oder Widerlegung sind immer nur vorläufig, bis mit modernen Forschungsmethoden neuere Forschungsergebnisse erzielt werden. Man kann also von einem immerwährenden Forschungsprozess reden. Die Schlussfolgerung eines solchen Prozesses, dass eine Ursachenbeziehung besteht, ist stets eine Wahrscheinlichkeitserklärung, niemals die Behauptung der Sicherheit. 2.2
Theorieformen und -konstruktionen
Man teilt die kriminologischen Theorien in Makro-, Meso- und Mikrotheorien ein. Makrotheorien berücksichtigen sozialstrukturelle Faktoren. Mesotheorien sind auf Institutions- und Gruppen-Aspekte gerichtet. Mikrotheorien untersuchen individuelle Variablen; sie sind situations-, täter- oder opferorientiert. Im Folgenden werden eigenschaftsorientierte, sozialstrukturelle und sozialprozessuale Theorieentwicklungen der Kriminologie der Gegenwart diskutiert, deren Grundlagen zumeist in Europa gelegt worden sind. Nach zwei Weltkriegen hat die internationale Theoriediskussion allerdings ihren Schwerpunkt in die englischsprachigen Länder, besonders nach Nordamerika, verlagert. Nichtsdestoweniger haben deutsche Soziologen wie Georg Simmel (1858-1918) und Ferdinand Tönnies (1855-1936) und deutsche Kriminologen wie Gustav Aschaffenburg (1866-1944) und Hans von Hentig (1887-1974) die nordamerikanische Theoriediskussion wesentlich beeinflusst. Die viktimologischen Theorien werden in dem Artikel „Viktimologie" erörtert (vgl. auch Adler I Mueller/Läufer 2007, 222-224). Einheitstheorien unterstreichen spezielle Probleme und stellen empirisch überprüfbare Behauptungen über Forschungsfragen auf. Metatheorien sind „Theorien über Theorien", die selten überprüfbar sind und die am besten als Interpretationen der Realität verstanden werden können (Williams/McShane 2004, 7). Eigenschaftstheorien beschreiben Straftäter nach bestimmten Merkmalen und grenzen sie gegenüber sozialkonformen Menschen ab. Strukturtheorien konzentrieren sich auf die Art und Weise, wie Gesellschaften organisiert sind und welche Konsequenzen diese Organisation auf das menschliche Verhalten hat. Prozesstheorien versuchen zu erklären, wie Menschen kriminell werden. Konsenstheorien sind auf die Annahme gegründet, dass unter den Menschen einer Gesellschaft Übereinstimmung in ihren Grundwerten herrscht. Konflikttheorien basieren auf der Annahme, dass Nichtübereinstimmung allgemein verbreitet ist und dass Menschen Konfliktwerte vertreten. Keine Theorie kann wirklich ohne die Kenntnis des Kontexts verstanden und beurteilt werden, in dem sie ins Leben gerufen worden ist. Wenn eine Theorie nach einer systematischen Beobachtung durch Datenanalyse entwickelt worden ist, nennt man diesen Prozess induktive Theoriekonstruktion. Bei der deduktiven Theoriekonstruktion wird die Theorie durch ein Gedankenexperiment aufgestellt und danach durch empirische Beobachtung überprüft.
Hans Joachim
Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 2.3
Gütekriterien für die Evaluation
Wenn kriminologische Theorien wissenschaftlich genannt werden wollen, müssen sie wissenschaftliche Kriterien erfüllen (AkerslSeilers 2004, 5-12). Das wichtigste Kriterium ist empirische Validität, das Ausmaß, in dem eine Theorie mit sorgfaltig gesammelten Beweisen verifiziert oder falsifiziert werden kann. Hauptkriterien sind ferner internale, logische Konsistenz, Widerspruchsfreiheit, Untersuchbarkeit, Nachprüfbarkeit und praktische, wissenschaftlich-kriminalpolitische Nützlichkeit. Die Grundvoraussetzung für eine brauchbare Theorie besteht darin, dass sie klar definierte Konzepte besitzt und dass ihre Vorschläge logisch erklärt und internal widerspruchsfrei sind. Eine wissenschaftliche Theorie muss durch objektiven, wiederholbaren Beweis überprüfbar sein. Wenn eine Theorie anhand empirischer Daten nicht nachprüfbar ist, besitzt sie keinen wissenschaftlichen Wert. Eine Theorie kann nicht überprüfbar sein, wenn die Definitionen ihrer Konzepte und Vorschläge als Tautologie ausgewiesen sind. Eine Tautologie ist eine Erklärung oder Hypothese, die per definitionem zutrifft oder die einen Zirkelschluss enthält. Empirische Validität bedeutet, dass die Theorie durch Forschungsbeweis unterstützt wird. Je stärker die Korrelationen und Assoziationen der Theorie sind, desto größer ist die empirische Validität der Theorie. Jeder Theorie wohnt eine Therapie oder Kriminalpolitik inne. Jede kriminologische Theorie hat Auswirkungen nicht nur für die offizielle Kriminalpolitik, sondern auch dafür, was für Familien, Gleichaltrigengruppen, Nachbarschaften, Gemeinschaften getan werden kann. Eine gute Theorie kann überprüft werden und passt in den Beweis der Forschung. Man unterscheidet quantitative von der qualitativen Validierung. Bei der quantitativen Validierung überprüft man die Theorie anhand quantitativer Messmethoden. Die qualitative Validierung konzentriert sich auf die Substanz der Theorie. Logische Folgerichtigkeit, die Fähigkeit, zahlreichen Konfliktpositionen Sinn zu verleihen, und der Grad, mit der die Theorie Menschen sensibilisiert, die sie sonst nicht gesehen hätten, sind qualitative Validitätsmerkmale ( Williams/McShane 2004, 5). Logische Folgerichtigkeit bedeutet, dass die Theorie keine unlogischen Beziehungen vorschlägt und dass sie internal beständig ist. Eine gute Theorie ist logisch konstruiert und beruht auf empirischen Beweisen. 2.4
Paradigma und Ideologie
Paradigmen sind grundlegender als Theorien und Perspektiven. Es gibt zwei fundamentale Paradigmen in der Kriminologie: das positivistische und das konstruktivistische Paradigma (BarlowlKauzlarich 2002, 225; Henry 2001). Das positivistische Paradigma stützt sich auf die Annahme, dass man Wissen über Verbrechen und Kriminaljustiz durch die Methoden der Sozialwissenschaften erwerben kann. Der soziale Konstruktivismus nimmt keine objektive Existenz des Verbrechens an. Er betont demgegenüber, wie Verbrechen, Recht und Kriminaljustiz konzeptualisiert worden sind und weiterhin durch sozial Handelnde konzeptualisiert werden: Realität besitzt keine unabhängige Existenz außerhalb des menschlichen Geistes. Es gibt einen gemäßigten Konstruktivismus. Nach ihm existiert einige der Konstruktion zugrundeliegende Realität. Es gibt Grenzen des Konstruktivismus; nicht alles ist Konstruktion. Extreme, radikale, strenge, vulgäre Versionen des Konstruktivismus weisen nicht nur 128
Hans Joachim
Schneider
1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) die Existenz der Wirklichkeit völlig zurück, sondern sie betrachten reflexiv ihre eigene Theorie als soziale Konstruktion. Verbrechen existiert nicht. Es existieren nur Handlungen, denen man die Bedeutung von Verbrechen verleiht (Christie 2004, 3). Kriminalität hat keine ontologische Realität. Verbrechen ist kein Objekt, sondern das Produkt der Kriminalpolitik. Kriminalisierung ist einer der vielen Wege, soziale Wirklichkeit zu konstruieren (Hulsman bei HalelHay ward! WahidinIWincup 2005, 12). Der radikale Konstruktivismus wird von der Hauptrichtung der internationalen Kriminologie abgelehnt. Ideologie bezieht sich auf eine Serie von Glaubenssätzen oder Werten, die wir alle oft unbewusst über die Art und Weise entwickeln, in der die Welt existiert oder existieren soll. Eine Ideologie nützt einem Segment der Gesellschaft mehr als allen anderen Segmenten. Individuen werden engstirnig, borniert, und ganze Kulturen werden ethnozentrisch. Sie glauben, dass es nur einen Weg gibt: den richtigen Weg, nämlich ihren Weg (Brown!EsbensenlGeis 2004, 12-17). In der Realität ist keine Studie durch vollständige Objektivität charakterisiert. Dennoch müssen Forscher nach Objektivität streben {Curran!Renzetti 2001, 4).
3
Die rationale Wahltheorie
Eine der ältesten kriminologischen Theorien stammt aus der klassischen Schule der Mitte des 18.Jahrhunderts (Beccaria 1966; Beccaria 1996; Maestro 1973). Cesare Beccaria (1738-1794) ist ihr Begründer. Sie baute auf Vernunft und freier Willensentscheidung auf. Die neoklassische Schule der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts stützt sich hauptsächlich auf Erkenntnisse der Volkswirtschaftslehre {G. Becker 1968). Sie macht rationale ökonomische Gründe für die Verursachung des Verbrechens verantwortlich. Kriminalität beruht auf einer Kosten-Nutzen-Analyse des Täters, auf seiner freien Willensentscheidung, die mit vernünftigen Motiven gewählt worden ist ( Wittig 1993). Die rationale Wahltheorie ist eine Weiterentwicklung des Neoklassizismus. Ihr Standpunkt ist die Annahme, dass Rechtsbrecher aus ihrem kriminellen Verhalten für sich selbst Nutzen zu ziehen suchen und dass dies das Treffen von Entscheidungen und Wahlen voraussetzt, so verkümmert diese Prozesse auch gelegentlich sein mögen {Cornish!Clarke 1986, 1). Sie vertritt ferner die Ansicht, dass diese Prozesse ein gewisses Maß an Rationalität anschaulich machen, obgleich es gezwungenermaßen zeitlich, durch psychische Fähigkeiten des Täters und Verfügbarkeit von Informationen begrenzt ist {Clarke!Cornish 1985). Aufgrund dieser Annahmen konzentrieren sich die Vertreter dieser Theorie auf die Tat und nicht auf den Täter. Nach der rationalen Wahl-Theorie ist der Rechtsbrecher ein aktiver, vernünftiger Entscheidungsträger, der auf Anreize und Hemmungen reagiert. Er übt eine Art Planung und Voraussicht aus und trägt in seinem Verhalten näher- und fernerliegenden Zufälligkeiten Rechnung. Die rationale Wahl-Theorie will nicht nur die Begehung des kriminellen Ereignisses erklären; sie will auch die Fülle der situativen Faktoren, die diesem Ereignis vorausgehen, und die verschiedenen Phasen krimineller Verwicklung des Täters deuten: seine Anfangs-, Dauer- und Endverwicklungsprozesse. Auf diese Hans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Weise diskutieren rationale Wahl-Modelle nicht nur Form und Inhalt des Entscheidungsprozesses, sondern auch dessen historischen und gegenwärtigen sozialen und persönlichen Hintergrund. In ihnen sind Begrenzungen und Beschränkungen der rationalen Wahl aufgrund mangelnder Information, sozialer und persönlicher Hintergründe und anderer Einflüsse auf das kriminelle Verhalten berücksichtigt (Clarke/ Cornish 2001). Da auch andere Theorien (mit Ausnahme psychoanalytischer und kriminalbiologischer Ansätze) kein irrational bestimmtes kriminelles Verhalten annehmen, sind nach der Auffassung von Ronald L. Akers und Christine S. Seilers (2004, 41) - die Hauptkonzepte der rationalen Wahl-Theorie unter die Prinzipien der sozialen Lerntheorie subsumierbar. Die Vertreter der rationalen Wahl-Theorie (Cornish 1993) äußern demgegenüber die Meinung, dass in ihre Theorie eine Fülle anderer Theorien aufgenommen („integriert") werden könnten. Empirisch hat sich die rationale WahlTheorie nicht sonderlich gut bewährt (Pratt/Cullen/Blevins/DaiglelMadensen 2006). In einer empirischen Studie (Tunnell 1996) hat man z.B. sechzig über 25jährige Wiederholungs-Vermögenstäter nach ihrem Entscheidungsverhalten vor ihrer letzten Tat befragt. Fast alle glaubten, sie würden nicht gefasst. In unrealistischer Weise nahmen sie an, sie würden - wenn überhaupt - nur kurzfristig eingesperrt, wenn sie ermittelt würden. Sie sahen die Strafanstalt als ziemlich unbedeutende Drohung an. Über negative formelle und informelle Konsequenzen ihres kriminellen Verhaltens machten sie sich vor ihrer Tat keine Gedanken. Sie dachten vor allem an die Vorteile durch ihre Tat. Die rationale Wahl-Theorie kann - nach dem derzeitigen Stand der Forschung - allenfalls als Ergänzungstheorie beurteilt werden. Freilich ist ihr das Verdienst zuzusprechen, dass sie einer „Pathologisierung" des Verbrechers entgegentritt und den Rechtsbrecher nicht bloß als passiven Empfänger äußerer und innerer Einflüsse betrachtet.
4
Kriminalbiologische Theorien
4.1
Theorie der konstitutionellen Prädisposition
Die positivistische Schule der Kriminologie am Ende des 19. Jahrhunderts hat die kriminalbiologische Theorie vertreten, die annahm, Kriminalität werde durch Vererbung verursacht. Ihr Hauptvertreter war Cesare Lombroso (1835-1909) (Horn 2003; Gibson 2002; Rafter 1997). Diese Theorie ist auch heute noch sehr populär. Denn sie spricht eine Gesellschaft von ihrer Verantwortung frei, indem sie eine bestimmte Menschenart so definiert, als wohne ihr Kriminalität unabänderlich inne. Fast alle kriminalbiologischen Forscher räumen heute zwar ein, dass biologische Faktoren nicht allein für die Entstehung der gesamten Kriminalität verantwortlich gemacht werden können ( Walsh 2002). Ebenso behaupten sie, dass soziale Faktoren das Verbrechen nicht allein verursachen. Es sind indessen nicht Gene oder Umwelt, sondern Gene in Interaktion mit der Umwelt, die die Kriminalität hervorrufen, wobei Umwelt nicht räumlich, sondern als Gesamtheit aller sozialer Außenweltfaktoren verstanden wird. Kriminelles Verhalten wird durch Interaktion zwischen dem menschlichen Organismus und der Gesellschaft bestimmt (Rowe 2002). Gene können hierbei Verhalten 130
Hans Joachim
Schneider
1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) auf dem Weg durch das Gehirn, das Nerven- und das hormonale System beeinflussen, die Pfadmechanismen genannt werden, weil sie genetische Einflüsse zu bahnen in der Lage sind ( J e f f e r y 1990, 176; 1994). Es wird eine genetische Prädisposition, eine erblich bedingte Geneigtheit oder Empfänglichkeit für Kriminalität, bei bestimmten Menschen angenommen, die die Begehung von Verbrechen zwar nicht unabänderlich vorherbestimmt, die aber mit einem erhöhten Risiko zur VerÜbung kriminellen Verhaltens verbunden ist. Die Theorie der konstitutionellen Prädisposition wird auch heute noch mit zäher Beharrlichkeit aufgrund von Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien empirisch zu beweisen versucht. Familienuntersuchungen eignen sich schlecht für kriminalbiologische Forschungen, da Anlage- und Umweltfaktoren gerade in der Familie so unauflöslich miteinander verflochten sind, dass ihre Trennung unmöglich ist. Gegenüberstellungen eineiiger und zweieiiger Zwillinge zum Zwecke der Herausarbeitung kriminalbiologischer Unterschiede bei der Kriminalitätsbegehung sind ebenfalls theoretisch zweifelhaft. Denn eineiige Zwillinge pflegen von ihrer Umwelt viel einheitlicher behandelt zu werden als zweieiige geschwisterliche Zwillinge; sie verbringen erheblich mehr Zeit miteinander, und sie identifizieren sich sehr viel stärker miteinander als zweieiige Zwillinge. Bei eineiigen Zwillingen ist deshalb nicht nur der genetische, sondern auch der Umwelteinfluss stärker. Adoptionsstudien haben bisher kriminalbiologische Einflüsse methodologisch am einwandfreisten, aber im Ergebnis auch am geringsten herausgearbeitet (KatzIChambliss 1995, 280). In ihnen versucht man, den Erb- und den Umwelteinfluss auf Kriminalität in folgender Weise festzustellen: Wenn es eine genetische, erblich bedingte Grundlage der Kriminalität gibt, muss eine Beziehung zwischen der Kriminalität der leiblichen Väter und der Delinquenz ihrer leiblichen Kinder, der Adoptivkinder, bestehen. Eine solche Beziehung muss unabhängig von der Kriminalität der Adoptiveltern sein. Wenn - verglichen mit einer Kontrollgruppe - eine große Zahl männlicher delinquenter Adoptierter kriminelle leibliche Väter besitzt, so spricht dies für das Vorhandensein eines genetischen Faktors. Vertreter der Theorie der konstitutionellen Prädisposition (Brennan/Mednick/Volavka 1995, 75) äußern die Meinung, dass ein Überblick über Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien beweist, dass die Verursachung kriminellen Verhaltens zum Teil von der genetischen Vererbung spezifischer biologischer Merkmale der Eltern auf ihre Kinder abhängt. Die Vertreter der Hauptstrom-Kriminologie (vgl. z.B. Walters 1992, 606) sind vorsichtiger; sie fanden heraus, dass methodisch höher qualifizierte empirische Studien, die nach 1975 erschienen, die konstitutionelle PrädispositionsHypothese weniger unterstützen als methodisch weniger gut qualifizierte empirische Studien, die vor 1975 veröffentlicht worden waren. Es wird sogar die Auffassung vertreten (Gottfredson!Hirschi 1990, 60), dass die genetische Wirkung, wie sie durch Adoptionsstudien festgestellt worden ist, äußerst gering ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die 38 Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien, die man in einer Meta-Analyse ( Walters 1992) überprüft hat, zwar eine relativ schwache Beziehung zwischen Vererbung und Kriminalität nahelegen, dass aber bisher niemand zu sagen vermocht hat, worin die konstitutionelle Prädisposition - ein vager Begriff Hans Joachim Schneider
131
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft konkret besteht. Allgemein wird in der Literatur (Walters!White 1989; Fishbein 2001) bemängelt, dass die kriminalbiologische Forschung erhebliche theoretische Defizite und methodologische Unzulänglichkeiten und Begrenzungen bei Planung, Stichprobenerhebung und statistischer Auswertung aufweist. 4.2
Geisteskrankheit und Verbrechen
Die Fehlvorstellung, dass Geisteskranke im Rahmen der Verursachung der Kriminalität eine bedeutsame Rolle spielen, wird durch die Massenmedien noch immer weit verbreitet: Das Verhalten von Geisteskranken gilt als unberechenbar und unvorhersagbar; sie können angeblich ihre eigenen Handlungen nicht kontrollieren. Da gerade die bizarrsten und uneinfühlbarsten Gewaltverbrechen häufig von Geistesgestörten verübt werden, ist solchen Taten und Tätern ihre Publizität sicher. Bei Kapitalverbrechen, die regelmäßig von den Massenmedien berichtet zu werden pflegen, ziehen die Gerichte zumeist Psychiater zu Rate, die den Täter (die Täterin) häufig psychisch gestört finden (Psychiatrisierung des Verbrechens). Es gibt wenige Kriminologen, die der Meinung sind, alle oder auch nur die Mehrheit der Kriminellen seien geisteskrank. Das Problem der Beziehung zwischen Geisteskrankheit und Kriminalität wird indessen immer wieder aufgeworfen. Die neuere Forschung hat über längere Zeit die Meinung unterstützt, dass geistig gestörte Personen nicht mehr schwere Verbrechen begehen als die allgemeine Bevölkerung (BartollBartol 2005, 234/235). In einer empirischen Studie (Teplin 1985) wurden 1.072 Polizei-Bürger-Kontakte daraufhin beobachtet, wieviel Geisteskranke mit der Polizei in Berührung kommen. Von 2.122 polizeiverdächtigen Personen zeigten 85 (4%) Symptome einer Geistesgestörtheit. Es wurden zwar mehr Geisteskranke von der Polizei festgenommen. Das geschah aber zumeist zu ihrem eigenen Schutz und zu ihrer eigenen Hilfe. Eine größere Zahl von geisteskranken Tatverdächtigen im Vergleich zur Zahl der Tatverdächtigen in der allgemeinen Bevölkerung wurde in dieser Studie nicht ermittelt. Gleichwohl gibt es psychiatrische Untersuchungen (Hodgins 1993, 5), die festgestellt haben, dass die Patienten, die aus psychiatrischen Krankenhäusern entlassen worden sind, mehr Kriminalität verübt haben als geistig nicht gestörte Personen. Eine schwedische empirische Untersuchung (LindqvistlAllebeck 1990) kommt zu dem differenzierten Ergebnis, dass männliche Schizophrene, die aus psychiatrischen Krankenhäusern entlassen worden sind, zwar nicht mehr Straftaten begehen als die männliche Normalbevölkerung, dass ihre Gewalttaten aber viermal höher sind. Die Untersuchungsergebnisse zur Beziehung zwischen Geisteskrankheit und Kriminalität sind uneinheitlich. Jedenfalls steht Folgendes fest: Beständig geistig gestörte Personen, die offen schwere psychotische Symptome erleben, verüben wesentlich mehr gewaltsames Verhalten als nicht geistig gestörte Personen der allgemeinen Bevölkerung (Monahan 1993). Die große Mehrheit (über 90%) der beständig geistig gestörten Personen ist dennoch nicht gewaltgeneigt. In der Realität ist das Phänomen selten: Zwischen 0,2 % und 2,0 % aller schizophrenen Personen werden im Jahr wegen Gewalttaten verhaftet (Phillips! WölflCoons 1988); das sind 1,1 % bis 2,3 % aller Verhaftungen für Gewaltkriminalität. Es ist ferner zu beachten, dass solche Geisteskranke besonders gefährlich sind, die sich bereits in der Vergangenheit gewalt132
Hans Joachim
Schneider
1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) sam verhalten haben (BartollBartol 2005, 234/234). Gleichwohl erscheint es allzu einfach, das gewalttätige Verhalten an einer allgemeinen psychiatrischen Diagnose-Kategorie festzumachen. Es ist wissenschaftlich fruchtbarer (Blackburn 1993, 274), sich an konkreten spezifischen Symptomen zu orientieren und ihre Interaktion mit persönlichen und sozialen Faktoren zu untersuchen.
5
Kriminalpsychologische Theorien
5.1
Psychopathologische Theorie
Die Kriminalpsychologie hat von ihrer frühesten Geschichte (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) an den vergeblichen Versuch unternommen, kriminelle und nichtkriminelle Menschen in ihren Persönlichkeitseigenschaften zu unterscheiden (H. J. Schneider 1977). Ein Höhepunkt in dieser Entwicklung war die „Entdeckung" eines kriminellen Typs, des Psycho- oder Soziopathen oder des Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (vgl. zur Persönlichkeitsstörung: GöppingerlBocktBöhm 1997, 233-240). Obgleich der Begriff schon sehr alt ist und auf das „moralische Irresein" des englischen Psychiaters James Cowles Prichard (1786-1848) zurückgeht, ist er erst durch Veröffentlichungen von Kurt Schneider (1950) im Jahre 1923 und William und Joan McCord im Jahre 1956 in der Kriminologie populär geworden. Unter einem Psychopathen versteht man eine ichbezogene Person, die nicht angemessen in sozialkonforme Einstellungen und Werte sozialisiert ist, die kein Gewissen (keinen Sinn für Recht und Unrecht) entwickelt hat, die kein Einfühlungsvermögen für andere besitzt und die zur Reue und Schuld wegen der Untaten und Schäden unfähig ist, die sie anderen zugefügt hat. Man sagt dem Psychopathen ferner innere emotionale Leere, eine Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, und einen Mangel an zwischenmenschlicher Wärme nach. Psychopathen gelten schließlich als nicht resozialisierbar, weil sie lernunfähig sein sollen. Der Psychopath ist doppelt geschädigt: Er ist zum einen psychisch abnorm. Er ist zum anderen zwar nicht geisteskrank, aber körperlich, seelisch und moralisch minderwertig. Sein Gehirn, seine kortikalen (zur Hirnrinde gehörenden) Funktionen und sein zentrales Nervensystem sollen unreif sein. Psychopathen sollen mit einer biologischen Prädisposition zur Psychopathie geboren werden (Hare 2001; 1999; 1996; Raine 1993). Es gibt bis heute keinen empirischen Beweis dafür, dass Kriminelle stets atypische oder abnorme Persönlichkeiten sind. Gleichwohl wird immer wieder eine Beziehung zwischen Psychopathie und Kriminalität hergestellt (Hare/Hart 1993; Hare/Strachanl Forth 1993). Der Begriff Psychopathie ist viel zu vage und deshalb als psychiatrische Diagnose ungeeignet. Es ist ferner eine kuriose Annahme, dass sozial nicht wünschenswerte Persönlichkeitszüge auf eine kleine Sektion der menschlichen Rasse beschränkt und konzentriert sein sollen (Blackburn 1993, 85). Diese Annahme hat sich durch Dunkelfeldstudien nicht bestätigt. Es gibt keinen einzelnen Typ einer abnormen Persönlichkeit, der für Verbrechen anfällig ist. Das Konzept der Psychopathie ist eine „mythische Einheit" (Blackburn 1988, 511), die zudem den „Diagnostizierten" stigmatisiert, die ihn brandmarkt. Der Begriff der Psychopathie ist weder für die Theorie noch für die Forschung noch für die Diagnose, Prognose und Behandlung in Hans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft der klinischen Praxis nützlich. Die Theorie der Psychopathie hält einer Evaluation nicht stand (Andrews/Bontà 2003, 102). Es handelt sich um wenig mehr als ein moralisches Vorurteil, das man als klinische Diagnose maskiert. 5.2
Theorie der kriminellen Persönlichkeit
Auf eine starke Betonung genetischer Anlagen stützen sich auch die beiden folgenden kriminalpsychologischen Theorien. Die gesamte internationale Kriminalpsychologie leidet darunter, dass sie kriminalbiologische Faktoren zu sehr hervorhebt und dass sie kognitive (auf die Erkenntnis bezogene) Merkmale und Phänomene der sozialen Lerntheorie zu sehr ausklammert. Kriminelles Verhalten ist - nach Hans Jürgen Eysenck und Gisti H. Gudjonsson (1989) das Ergebnis einer Interaktion zwischen bestimmten sozialen Außenweltfaktoren und ererbten Anlagen des zentralen Nervensystems. Es kommt also auf die neurologische Beschaffenheit und die einzigartige Sozialisationsgeschichte des Individuums an. Manche Menschen werden mit einer Besonderheit ihres zentralen und autonomen Nervensystems geboren, die sie für Kriminalität anfällig macht. Eysenck und Gudjonsson unterscheiden zwischen Extrovertierten und Introvertierten. Das Nervensystem der Extrovertierten ist - im Gegensatz zu den Introvertierten - schwer erregbar. Weil Extrovertierte stärkere Bedürfnisse nach Erregung und Antrieb haben, um der alltäglichen Langeweile zu entfliehen, gehen sie höhere Risiken ein und sind geneigter, das Gesetz zu brechen. Die meisten Menschen, die sich kriminell verhalten, sind kortikal untererregt. Hohe kortikale Erregung führt zur Hemmung gegen Kriminalität. Zwischen drei Temperamenten, die sie mit Kriminalität verbinden, trennen Eysenck und Gudjonsson". Extraversion, Neurotizismus und Psychotizismus. Extrovertierte geraten schnell in Jähzorn, werden rascher aggressiv und sind unzuverlässig. Neurotiker, Menschen mit hoher Emotionalität, lassen sich leichter zu kriminellen Handlungen hinreißen als Personen mit niedriger Emotionalität. Der neurotische Extrovertierte ist der Persönlichkeitstyp, der am höchsten mit kriminellem Verhalten belastet ist. Psychotizismus ist gekennzeichnet durch kalte Grausamkeit, soziale Unempfindlichkeit, Gefühlskälte, Missachtung der Gefahr, lästiges Verhalten, Widerwille anderen gegenüber und Anziehungskraft für das Ungewöhnliche. Psychotizismus findet sich speziell bei hartgesottenen Gewohnheitsverbrechern, die wegen Gewaltdelikten verurteilt worden sind. Klassisches Konditionieren hat - nach Eysenck und Gudjonsson - eine stärkere Wirkung auf viele Menschen als instrumentelles Lernen. Die meisten Menschen verhalten sich sozialkonform, weil sie während ihrer Kindheit nach den allgemeingültigen Regeln konditioniert (sozialisiert) worden sind. Vor, während und nach einer sozial missbilligten Handlung macht uns unser Gewissen, ein bedingter Reflex, unbehaglich und ungemütlich. Extrovertierte sind - im Gegensatz zu Introvertierten - wegen der unzulänglichen Erregbarkeit ihres zentralen Nervensystems so schwer konditionierbar; deshalb sind sie für Kriminalität besonders anfallig. Der Konditionierungsprozess ist eine mächtige Kraft bei der Sozialisation der Kinder, speziell bei der Unterdrückung unerwünschten Verhaltens. Die Theorie von Eysenck und Gudjonsson hat sich empirisch nicht bewährt (vgl. aber Hollin 2002, 152-155). Bei den Kriminellen hat man kein Vorwiegen von Extrover134
Hans Joachim Schneider
1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) tierten gefunden {EinstadterlHenry 2006, 121). Im übrigen ist die Konditionierbarkeit eines Menschen nicht allein biologisch bestimmt; sie entwickelt sich in Interaktion zwischen genetischen Innen- und sozialen Außenweltfaktoren (KatzIChambliss 1995, 282).
5.3
Biosoziale Theorie der ererbten kriminellen Tendenzen
Eine der Theorie von Eysenck und Gudjonsson sehr ähnliche Theorie mit freilich etwas anderem Lernmechanismus hat Sarnoff A.Mednick (1977) entwickelt. Auch er unterstreicht: Kriminelle werden durch ihr autonomes Nervensystem untererregt. Eine Folge davon ist ihr Mangel an Furcht, der ihnen erlaubt, sich viel leichter in risikohafte, gefährliche Situationen - unter Einschluss von Kriminalität und Gewalt - zu begeben. Biologische Untererregbarkeit führt dazu, nach Sensationen wie Bandentätigkeit und Kriminalität zu streben, die die Erregbarkeit auf eine optimale Ebene heben. Die mangelnde Erregbarkeit des autonomen Nervensystems wirkt sich auch auf das Nichterlernen sozialadäquaten Verhaltens aus. Kriminell anfällige Menschen lernen sozialkonformes Verhalten schlecht, weil sich ihr vegetatives Nervensystem nur langsam von der Furchterregung einer Strafandrohung erholt. Diese unzulängliche Erholungsfähigkeit ihres vegetativen Nervensystems ist ererbt und angeboren. Die kriminell anfälligen Menschen werden nicht ausreichend für ihre Hemmungen gegen sozialabweichendes Verhalten belohnt. Die Theorie von Mednick ist bisher nicht ausreichend empirisch nachgewiesen. 5.4
Die psychoanalytische Theorie
Der Mensch wird psychoanalytisch von Natur aus als ein asoziales, polymorph perverses Wesen beurteilt. Das normale Kind ist der „geborene Verbrecher", der Vatermord der Archetyp des Verbrechens. Die psychoanalytische Kriminologie (vgl. die ausführliche Darstellung von H. J. Schneider 1981) sieht das Verbrechen entweder als Durchbruch der Urtriebe aus dem „Es", der Persönlichkeitsinstanz des Trieblebens, oder als psychisches Rückschlagsphänomen auf onto- oder phylogenetische Urstufen der Libidoentwicklung (Regression). Während die Kriminalbiologie eine scharfe Grenze zwischen schon rein körperlich erkennbaren Kriminellen und „Normalen" aufzurichten sucht, besteht in der psychoanalytischen Kriminologie kein wesentlicher qualitativer Unterschied zwischen Kriminellen und „Normalen". Der Mensch kommt als kriminelles, d.h. sozial nicht angepasstes Wesen auf die Welt. Während es dem „Normalen" gelingt, seine kriminellen Triebregungen teils zu verdrängen, teils im Sinne der Gesellschaft umzuwandeln (zu sublimieren), missglückt dem Kriminellen dieser Anpassungsvorgang. Kriminalität ist also nach dieser Auffassung - von Ausnahmefällen abgesehen - kein „Geburtsfehler", sondern ein Erziehungsdefekt, ein Domestikationsdefekt. Die psychoanalytische Kriminologie findet die psychogenetischen Wurzeln des Verbrechens in der Frühkindheit des Täters. Sie geht von der Ubiquität des Ödipus- oder Elektrakomplexes aus. Der Ödipuskomplex (Vatermord und Mutterinzest) wird zum Hauptfaktor der Entstehung männlicher Kriminalität. Dasselbe gilt bei dem Elektrakomplex (erotischer Wunsch gegenüber dem Vater, Hassgefühle und Todeswunsch gegenüber der Mutter) für die Verursachung der weiblichen
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Kriminalität. Für die tiefenpsychologische Auffassung ist das unbewusste, also vom Täter nicht gefühlte, nicht wahrgenommene, nicht vorgestellte, nicht gedachte, nicht erkannte oder nicht „gewollte" seelische Geschehen beim Zustandekommen eines Verbrechens entscheidend und häufig viel wichtiger als bewusste seelische Vorgänge. Die kriminalpsychologische Bedeutung seiner Lehre hat Sigmund Freud (1856-1939) im Jahre 1915 nur im Grundsatz erkannt (Freud 1973). In einer kurzen Bemerkung über den „Verbrecher aus Schuldbewusstsein" hat er den Grundstein zu einer psychoanalytischen Richtung in der Kriminalpsychologie gelegt, die er indessen selbst nicht weiter ausgebaut hat. Zugrunde liegt die psychoanalytische Lehre vom Ödipuskomplex, der ein unbewusstes Schuldgefühl entstehen lässt. Der Träger dieses Schuldgefühls wird mit seinen verbrecherischen Wünschen nicht fertig. Er begeht die kriminelle Tat und begehrt in ihr die Strafe, um jenes drückende Schuldbewusstsein zu beschwichtigen. Hierbei geht also das Schuldgefühl aus dem Unbewussten der verbrecherischen Tat vorher und folgt ihr nicht etwa erst nach. Der Täter ist sich dabei regelmäßig über diese unbewusste Ersatzbefriedigung für seine verdrängte Triebregung im Unklaren. Solche Menschen begehen das Verbrechen, weil es verboten ist und weil seine Ausführung ihnen eine seelische Erleichterung bringt. Ein sie dauernd belastendes Schuldgefühl unbekannter Herkunft, das in Wahrheit dem Ödipuskomplex entstammt, wird durch das Vergehen an eine bestimmte Tat geknüpft und so in eine bewusstseinsfähige, leichter ertragbare Form gebracht. Es sind Menschen mit besonders strengem Gewissen, deren Über-Ich als moralische Instanz jene verbotenen Ödipuswünsche besonders heftig verurteilt, sehr viel heftiger als die verhältnismäßig harmlos erscheinende reale verbrecherische Handlung. Die Tat wird ausgeführt, um ein aus dem Ödipuskomplex stammendes präexistentes Schuldgefühl an ihre Ausführung anzuknüpfen und durch das Erleiden der Strafe zu mildern. Das manifeste Delikt verhüllt die eigentlich gemeinte Ödipustat. Von dem Freudschen Gedanken, dass das Kind sein Leben als asoziales Wesen beginnt, geht auch August Aichhorn (1951) aus. Es ist die Aufgabe der Erziehung, das Kind aus dem Zustand der Asozialität in den der sozialen Anpassung zu führen, eine Aufgabe, die nur erfüllt werden kann, wenn die Gefühlsentwicklung des Kindes normal verläuft. Das Kind identifiziert sich mit einem Elternteil und übernimmt dessen Rolle indessen nur dann, wenn sich zwischen ihm und dem Elternteil eine normale, herzliche Beziehung bildet. Dann werden Züge der geliebten Person dem eigenen Wesen einverleibt.
6
Kriminalsoziologische Theorien
6.1
Theorien der sozialen Desorganisation
6.1.1 Ursprung, Inhalt und Kritik der Theorie In den 20er und 30er Jahren entwickelten die nordamerikanischen Kriminologen Clifford R Shaw und Henry D. McKay (1942; vgl. auch Shaw 1929) aufgrund empirischer Studien in Chikago die Theorie der sozialen Desorganisation, die nunmehr neu formuliert worden ist (Sampson 2002a, 2002b; Bursik 1998): Soziale Organisation und soziale Desorganisation sind die beiden Endpunkte eines Kontinuums, das sich auf 136
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) systematische Netzwerke und die Gemeinschafts-Kontrolle bezieht. Ein System, eine Gemeinschaft, ein Sub-System einer Gesellschaft, ist sozial desorganisiert, wenn sein Gemeinschafts-Zusammenhalt zerfällt, wenn seine soziale Kontrolle zusammenbricht und wenn antisoziales Verhalten unter seinen Mitgliedern geduldet wird. Soziales Kapital ist ein gesellschaftliches Gut, das sich in einer intakten Struktur sozialer Netze verkörpert. Mangel an sozialem Kapital ist ein wesentlicher Gesichtspunkt sozial desorganisierter Gebiete. Die Untersuchungen von Shaw und McKay wurden in dreifacher Hinsicht kritisiert: - Man warf ihnen vor, dass sie von einer feststehenden sozialen Struktur ihrer Delinquenz-Gebiete ausgingen und dass sie keinen Wandel in der Sozialstruktur ihrer Bezirke beachteten. - Man machte ferner geltend, dass sie die Frage unbeantwortet gelassen hätten, was zwischen unerwünschten sozialstrukturellen Bedingungen und Verbrechen geschehe, um Menschen zu veranlassen, das Recht in einem so hohen Maße zu brechen. - Man wandte schließlich gegen sie ein, dass sie sich zur Feststellung ihrer Delinquenzraten allein auf offizielle Angaben des Kriminaljustizsystems stützten. 6.1.2 Empirischer Fortschritt der Theorie In einer Wiederholungs-Studie aus dem Jahre 1990 in Little Rock/Arkansas, die die Theorie der sozialen Desorganisation empirisch bestätigte ( Walker 1994), ging man zwar auf diese Einwände nicht ein. Frühere empirische Untersuchungen hatten sich indessen bereits der Dynamik der Sozialstruktur der Delinquenzgebiete zugewandt. In einer Langzeitstudie (SchuermanlKobrin 1986) über die Entwicklung von Nachbarschaften im Los Angeles County hatte man herausgefunden, dass es so etwas wie eine Gemeinschafts-Kriminalitäts-Karriere („Community Crime Carreer"), einen Zerfalls-Zyklus gibt. In ihm kann der Gemeinschafts-Niedergang vorangetrieben, aber auch spontan rückgängig gemacht werden. Auf die Kritik, Shaw und McKay seien auf die Frage nicht eingegangen, was zwischen unerwünschten sozialstrukturellen Bedingungen und Verbrechen geschehe, antwortete Robert J. Sampson (2002a, 2002b) mit seiner Theorie der kollektiven Wirksamkeit (Sampson 2006; Sampson!RaudenbushlEarls 2006). Er geht von der sozialen Desorganisation aus, die er als Unfähigkeit einer Gemeinschaftsstruktur definiert, gemeinsame Werte ihrer Bewohner zu verwirklichen und effektive Kontrollen aufrechtzuerhalten. Auf dieser Grundlage und aufbauend auf umfangreichen empirischen Untersuchungen (Kohortenstudien, Interviews, systematischen sozialen Beobachtungen) entwickelte er seine Theorie der kollektiven Wirksamkeit, die er als eine logische Ergänzung (Erweiterung) der systematisch begründeten Theorie der sozialen Desorganisation betrachtete. Kollektive Wirksamkeit versteht er als Verbindung von wechselseitigem Vertrauen und von gemeinsamer Bereitschaft, für das gemeinschaftliche Wohl zu intervenieren. Sozialer Zusammenhalt und informelle Sozialkontrolle sind über Nachbarschaften hinweg miteinander verbunden. Sie sind die beiden Messwerte, die dasselbe latente Konstrukt erschließen, nämlich kollektive Wirksamkeit. Nachbarschaften mit hoher kollektiver Wirksamkeit haben signifikant niedrigere Gewaltraten. Hans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Eine empirische Studie {Sampson!Groves 1989), die Selbstberichtdaten über das Täter- und Opferwerden in Großbritannien verwandte („British Crime Surveys"), räumte die Kritik an Shaws und McKays Forschungen aus, sie hätten sich nur auf offizielle Kriminalstatistiken verlassen. Die Theorie der sozialen Desorganisation wurde aufgrund von Daten aus Dunkelfeld-Untersuchungen unterstützt, die in Großbritannien durchgeführt worden waren. Diese Studie macht deutlich, dass die Theorie auch in einem anderen Sozialsystem als dem der USA gültig ist. 6.1.3 Gemeinschafts-Zerfall-Prozess-Theorie Neuerlich ist die Theorie der sozialen Desorganisation zur Gemeinchafts-Zerfall-Prozess-Theorie weiterentwickelt worden, in der die Unordnung eines Gebiets eine wesentliche Rolle spielt {WilsonlKelling 2006, 2001). Diese Unordnung hat physische, bauliche und Verhaltens-Komponenten, die in enger Verbindung zueinander stehen. Sie ruft soziale Destabilisierung hervor, die ihrerseits größere Unordnung verursacht (Interaktionsprozess). Physische Zeichen der Unordnung sind z.B. Vandalismus, Graffiti-Schmierereien, Beschädigungen an Schulen, Bus-Halte-Stellen, Verkehrszeichen und Straßenlaternen, zerstörte Verkaufsautomaten, herumliegende Abfallhaufen, baufällige, verfallene Gebäude und verlassene, aufgegebene Autowracks. Unordentliches Verhalten besteht z.B. in Betteln, Herumlungern, Belästigungen von Straßenpassanten, Alkoholtrinken und Rauschmittelmissbrauch auf Straßen und Plätzen, in lärmenden Nachbarn. Physische, bauliche und Verhaltens-Anzeichen der Unordnung signalisieren, dass in dem betreffenden Gebiet niemand Anstoß daran nimmt und dass man dort die Unordnung toleriert. Die Bewohner bekommen den Eindruck, dass ihr Wohngebiet unsicher ist. Die Unordnung ist für sie ein Indikator, dass sie durch Gemeinschafts-Selbst-Kontroll-Mechanismen nicht mehr geschützt werden und dass ihre Gemeinschaft in Niedergang und Zerfall geraten ist. Die Unordnungs-Signale ziehen Kriminelle an, die Gelegenheiten zu Straftaten wittern. Schlimmer noch ist, dass die Signale bei den Bewohnern Verbrechensfurcht, psychischen Rückzug und Selbst-Isolation hervorrufen. Die Nachbarschaften des Stadtgebiets treten in eine Zerfalls-Spirale ein. Die Bewohner befürchten abstoßende, furchterregende Begegnungen und Belästigungen. Die stetig anwachsende Kriminalitätsfurcht untergräbt die Fähigkeit der Gemeinschaft, mit ihren Problemen selbst fertig zu werden. Die Furcht regt den Rückzug der Individuen aus ihrer Gemeinschaft an, schwächt die Mechanismen informeller Kontrolle, trägt zum Niedergang der Familie und Nachbarschaft bei, beschleunigt die negativen Wandlungen in den örtlichen Geschäftsbedingungen und ruft Delinquenz, Kriminalität und weitere Unordnung hervor (Skogan 1990). Die Probleme entwickeln eine Eigendynamik, eine Negativ-Spirale, die die Nachbarschaft immer tiefer in den Zerfall treibt. Die Bewohner fühlen sich erleichtert und sicherer, wenn ihnen die Polizei hilft, die Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Polizei und Gemeinschaft sind „Ko-Produzenten" der öffentlichen Sicherheit. Es ist die Aufgabe der Polizei, eine Arbeitspartnerschaft mit der Gemeinschaft und ihren Institutionen, z.B. Schulen, Kirchen, Geschäften, Sozialdiensten, herzustellen. Sie soll nicht allein gegen Unordnung einschreiten („Zero-Tolerance-Policing"). Die Un138
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) Ordnung ist lediglich ein Signal für einen Gemeinschafts-Zerfall-Prozess, der unterbrochen und aufgehalten werden muss. Hierbei besteht der Kern der Polizeirolle darin, die informellen Kontrollmechanismen der Gemeinschaft selbst wieder aufzubauen und zu stärken. Das kann durch die Gemeinschafts-Polizeiarbeit („Community Policing") realisiert werden, die sich in einer neueren Evaluationsstudie (Skoganl Hartnett 1997) als erfolgreich erwiesen hat. Die Gemeinchafts-Zerfall-Prozess-Theorie hat auch dadurch den Beweis ihrer Gültigkeit erbracht, dass die Polizei dem Gemeinschafts-Zerfall in der New Yorker U-Bahn Einhalt zu gebieten vermochte (KellinglColes 1996, 108-156). 6.2
Die Anomie-Theorie
6.2.1 Entstehung und Inhalt der Theorie Den Grundstein zur Anomie-Theorie der Kriminalitätsentstehung hat der französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) gelegt. Wenn im sozialen Wandel traditionelle Normen nicht mehr binden, sich neue Leitbilder und Wertvorstellungen aber noch nicht herausgebildet haben, können Normen zusammenbrechen, kann Normlosigkeit (Anomie) entstehen, die Verursachung von Kriminalität zur Folge hat. Anomie wird freilich - nach Robert K. Merton (1910-2003) - auch dann verursacht, wenn man Gesellschaftsmitgliedern die angemessenen Mittel verweigert, die sie benötigen, um kulturell zugelassene Ziele ihrer Gesellschaft, wie z.B. Wohlstand, Macht und Ruhm, zu erreichen. 6.2.2 Die institutionelle Anomie-Theorie In jüngster Zeit haben Steven F. Messner und Richard Rosenfeld (2006, 2001; vgl. auch RosenfeldlMessner 2006) eine institutionelle Anomie-Theorie entwickelt, die die Kriminalitätsentstehung aus der Vorherrschaft der Wirtschaft und der relativen Machtlosigkeit und Entwertung nichtökonomischer Institutionen, z.B. der Familie, Erziehung, Religion, zu erklären sucht. Das institutionelle Machtgleichgewicht ist gestört. In westlichen Gesellschaften wird der Erfolg allein in ökonomischen Kategorien gemessen. Wirtschaftliche Maßstäbe beherrschen auch nichtökonomische Institutionen, so dass sie ihre Sozial-Kontroll-Funktion nicht mehr zu erfüllen vermögen. Die kriminogene „anomische Ethik" {RosenfeldlMessner 1997, 214) besteht darin, dass sie das monetäre Ziel ohne Rücksicht darauf betont, ob es mit moralisch annehmbaren Mitteln erreicht worden ist. 6.2.3 Die allgemeine Drucktheorie In der neueren kriminologischen Theorie-Diskussion hat Robert Agnew das Konzept der Anomie erweitert und umformuliert. Er hat eine allgemeine Drucktheorie (Agnew 2006a, 2006b, vgl. auch 2006c, 2005) entworfen. Druck wird durch das Auseinanderklaffen von Bestrebungen (idealen Zielen) und Erwartungen einerseits und tatsächlichen Errungenschaften und Erfolgen andererseits hervorgerufen. Straftäter haben oft unrealistische und unbegrenzte Ziele. Ärger, Frustration und Furcht lassen Druck entstehen, und Verbrechen kann eine Antwort sein, diesen Druck zu vermindern. Hans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Man will positiv bewertete Ziele erreichen. Man will positive Anreize behalten oder wiederbekommen. Man will negativen Anreizen entgehen oder sie beenden. All das gelingt nicht, so dass Druck und damit Verbrechen entstehen. Die Wirkungen des Druckes können allerdings vermindert werden, wenn eine Person in zwischenmenschlichen Beziehungen gehalten wird, die soziale Unterstützung gewähren. Solche Unterstützung kann einen Puffer-Effekt auf Druck ausüben und soziales Kapital schaffen (Cullen 2006; Cullenl Wright 1997). Die allgemeine Drucktheorie ist noch nicht durchgetestet worden, aber Vor-Tests waren ermutigend.
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Sozialpsychologische Theorien
7.1
Kognitiv-soziale Lerntheorie
Kriminelles Verhalten als Lernverhalten wurde zunächst durch die Theorie der differentiellen Assoziation erklärt, die der nordamerikanische Kriminalsoziologe Edwin H. Sutherland (1883-1950) im Jahre 1939 erstmalig und im Jahre 1947 endgültig formulierte (Sutherland 1947, 1-9). Nach dieser Theorie erlernt ein Mensch kriminelles Verhalten, weil er mit kriminalitätsfreundlichen Definitionen häufiger in Kontakt kommt als mit kriminalitätsfeindlichen Verhaltensmustern. Die Kriminologen Robert L. Burgess und Ronald L. Akers haben (1966) diese Theorie zur differentiellen Assoziations-Verstärkungs-Theorie unter Zugrundelegung kognitiv-behavioristischer Prinzipien umformuliert. Die Theorie der unterschiedlichen Verstärkung besagt, dass eine Person die Begehung sozialabweichenden Verhaltens durch Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld lernt. In diesem Umfeld werden Folgen mit ihrem Verhalten verknüpft, die sozialabweichendes Verhalten in höherem Ausmaß verstärken (belohnen) als sozialkonformes Verhalten. Ihre Verbindung mit anderen Personen stattet sie mit Definitionen (Einstellungen, Verhaltensbereitschaften) aus, die ihr sozialabweichendes Verhalten wünschenswerter und gerechtfertigter als sozialkonformes Verhalten erscheinen lassen. Unter den Anreizen, die in der sozialen Interaktion einen Unterschied zwischen sozial erwünschtem und unerwünschtem Verhalten machen, sind verbale Symbole bedeutsam, die aus Gruppenverbalisierungen herrühren. Es gibt zwei Arten solcher Verbalisierungen: Die eine Form definiert sozialabweichendes Verhalten als erlaubt und wünschenswert. Diese Verbalisierung ist mit Belohnungen durch die Menschen verbunden, die in einer devianten Subkultur (Agnew 2000, 356-371) leben. Der zweite Typ macht Definitionen unwirksam, die sozialabweichendes Verhalten als unerwünscht erscheinen lassen. Solches Verhalten wird neutralisiert (SykesIMatza 2006), wird kognitiv verzerrt, wird als „gerechtfertigt", als „nicht wirklich" sozialabweichend verstanden. Die Verantwortlichkeit des Täters, die Entstehung eines Schadens und das Vorhandensein eines Opfers werden beispielsweise geleugnet. Nach der kognitiv-sozialen Lerntheorie werden anti- wie prosoziales Verhalten am Verhaltens-Erfolg, „stellvertretend" am Modell, im Selbstbekräftigungs-Prozess und im kognitiv-gesteuerten seelischen Verarbeitungs-Prozess gemachter Erfahrungen ge140
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) lernt (Akers 2006). In neuester Konzeption läuft der individuelle Lernprozess auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Lernprozesses ab. Die Makro- und Meso-Variablen bestimmen die Wahrscheinlichkeiten, durch die ein Individuum verschiedenen Arten sozialen Lernens ausgesetzt wird (Akers 1998). Die empirisch-kriminologische Forschung, die sich auf die kognitiv-soziale Lerntheorie gründet, hat beständige Unterstützung für ihre Lehrsätze erfahren (AkerslJensen 2006; Brown!Esbensen! Geis 2004, 343). Die kognitiv-soziale Lerntheorie hat sich sowohl in zahlreichen Vorbeugungs- wie Behandlungs-Experimenten empirisch bewährt (CullenIWrightIGendreaulAndrews 2003). Durch die Verbrechens-Verführungs-Theorie hat Jack Katz (1988) die kognitiv-soziale Lerntheorie ergänzt. Die Euphorie des kriminellen Erfolgs lernt sich ein. Es ist nicht nur die materielle Belohnung, die der Räuber anstrebt. Er wird auch durch die Domination, die Kontrolle belohnt, die er im Augenblick seiner Tat erlebt (Katz 1991). In seiner Straßen-Gesetz-Theorie („Inner-City Street Code Theory") hat Elijah Anderson (2006) den Neutralisations-Mechanismus modifiziert: Die Großstadt-Straßen-Kultur erfordert zur Selbstbehauptung das Lernen einer Gewaltbereitschaft, die die soziale Interaktion delinquenter Jugendlicher steuert. 7.2
Kontrolltheorien
7.2.1 Vorläufer der Kontrolltheorien Nach den Kontrolltheorien, die Albert J. Reiss (1951), F. Ivan Nye (1958) und Martin Gold (1963, 1970) als erste vertreten haben, wird sozialkonformes Verhalten erlernt. Für die Erlernung solchen Verhaltens sind formelle und informelle, äußere und innere Kontrollen maßgebend. Die äußere Kontrolle muss über den Internalisations- (oder Interiorisations-)Prozess zur inneren Kontrolle, zur Selbstkontrolle werden. Der Einfluss Sigmund Freuds und seiner Psychoanalyse auf die Kontrolltheorien ist unverkennbar. Die Freudsche intrapsychische Dynamik ist freilich in psychosoziale Begriffe übersetzt und damit operationalisierbar, beobachtbar und empirisch nachweisbar gemacht worden. Für die Entstehung der Delinquenz und der Kriminalität sind nicht nur soziale Ursachen bestimmend. Kriminologen müssen sich auch den persönlichen Beweggründen zuwenden. Walter C. Reckless (1899-1988) (1961, 1973, 1981) hat deshalb gefragt, warum ein Junge in einem Großstadtgebiet mit hoher Delinquenzbelastung nicht delinquent wird. Hier kommt nun der innere Halt ins Spiel, der in der heutigen mobilen Industriegesellschaft wichtiger ist als der äußere Halt, der in der Agrargesellschaft durch Familie, Sippe, Klan, Nachbarschaft, Dorf und Stamm besser als heute dem Einzelnen auferlegt werden konnte. Für den äußeren Halt sind u.a. der Gruppenzusammenhalt, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit einer Person oder mit mehreren Personen in der Gruppe mitbestimmend. Der innere Halt besteht aus Selbstkomponenten, die durch Sozialisation verinnerlicht (intemalisiert) worden sind: ein gutes Selbstkonzept, Ich-Stärke, ein gut entwickeltes Ich (Ego) und Uberich (Superego). Eine solche positive Selbsteinschätzung dient als Immunisierungsfaktor (insulator) gegen delinquente Einflüsse eines Gebiets mit hoher Delinquenzbelastung und als Puffer gegen delinquente Züge und Schübe (pulls and pushes).
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 7.2.2 Theorie der sozialen Bindung Aufgrund der Kontroll-Theorien wird sozial-konformes Verhalten erlernt. Die äußere Kontrolle muss über den Verinnerlichungs-Prozess zur inneren, zur Selbst-Kontrolle werden. Die bedeutsamste Kontrolltheorie ist die Theorie der sozialen Bindung, die Travis Hirschi (1969) herausgearbeitet hat. Diese Theorie verknüpft die Entstehung der Jugenddelinquenz und der Erwachsenenkriminalität mit der Schwächung oder dem Bruch von Bindungen, die ein Mensch zur Gesellschaft und ihren Gruppen besitzt. Hirschi argumentiert, dass die soziale Bindung einer Person in vier Elemente zerfällt: in die Zuneigung und Anhänglichkeit gegenüber Mitmenschen, in das Engagement, den persönlichen Einsatz für konventionelles Verhalten, in die Inanspruchnahme durch und die Verwicklung in prosoziales Verhalten und in die Billigung und Anerkennung der moralischen Gültigkeit konventioneller Regeln. Hirschis Kontroll-Theorie ist international die am meisten diskutierte und am häufigsten getestete kriminologische Theorie der letzten 25 Jahre (AkerslSeilers 2004, 116). Obgleich sie in der Praxis sehr populär ist, hat eine Metaanalyse von 71 empirischen Tests, die in den Jahren 1970 bis 1991 durchgeführt worden sind, unterschiedliche Ergebnisse erbracht (Kempf 1993). Man kritisiert an Hirschis KontrollTheorie insbesondere, dass sie die soziale Bindung als dichotomes Merkmal sieht. Sie berücksichtigt die Qualität und die Quantität verschiedener Grade sozialer Bindung nicht. Sie geht auch nicht darauf ein, dass sich soziale Bindung mit dem Alter ändert und entwickelt (Prozesscharakter) (Morrison 1995,186). 7.2.3 Theorie der Selbstkontrolle Die Theorie der sozialen Bindung haben Michael R. Gottfredson und Travis Hirschi (1990) zur Theorie der Selbstkontrolle weiterentwickelt: Niedrige Selbstkontrolle ist das Ergebnis einer unwirksamen und unangemessenen Sozialisation. Gottfredson und Hirschi lehnen das „Vielseitigkeits-Konstrukt" („Versatility Construct") ab, nach dem verschiedene Formen von Delinquenz, Kriminalität und Sozialabweichung in verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Ursachen haben. Sie beanspruchen, mit ihrer „allgemeinen Theorie" alle Erscheinungsformen der Delinquenz, Kriminalität und Sozialabweichung altersunabhängig zu erklären. Eben dies bestreiten ihnen ihre Kritiker (BarlowIKauzlarich 2002, 308/309). Jedes Verbrechen oder jeder Verbrechenstyp hat seine einzigartige Gelegenheitsstruktur (Gottfredson!Hirschi 2003). Selbstkontrolle wird allerdings durch eine gute elterliche Erziehung in den frühen Lebensjahren vermittelt, während niedrige Selbstkontrolle durch unaufmerksame, lasche elterliche Beaufsichtigung verursacht wird. In einer Meta-Analyse haben Travis C. Pratt und Francis T. Cullen (2000) festgestellt, dass niedrige Selbstkontrolle ein wichtiger Prädiktor der Kriminalität ist. Michael R. Gottfredson hat (2006) über einen guten empirischen Status der Kontroll-Theorie berichtet. 7.2.4 Kontroll-Gleichgewichts-Theorie Im Jahre 1995 hat Charles R Tittie die Kontroll-Gleichgewichts-Theorie entworfen, die Kontrolle als Begrenzung von Verhaltensmöglichkeiten versteht (vgl. auch Tittie 142
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) 2006). Das Verhältnis des Kontrollausmaßes, dem man unterworfen ist, zum Kontrollumfang, den man ausübt, bestimmt die Wahrscheinlichkeit und den Typ der Straffälligkeit. Die Kriminalitäts-Begehung wird als Mittel gesehen, das Menschen hilft, Kontrollmängel abzugleichen und Kontrollüberfluss auszunutzen und auszuweiten. Tittie unterscheidet zwischen Autonomie und Repression. Unter Autonomie versteht er den Überfluss an Kontrollfahigkeit bei völligem Fehlen von Kontrollunterworfenheit. Repression besteht für ihn in einem extremen Mangel an Kontrollfahigkeit bei äußerster Kontrollunterworfenheit. Die Unterschiede im Kontrollverhältnis reichen auf einem Kontinuum von extremer Repression bis zu einem Höchstmaß an Autonomie. Das Zentrum des Kontinuums bilden der Ausgleich, das Gleichgewicht, die ungefähr gleichen Ausmaße an Autonomie und Repression. In dieser Zone wird Konformität erwartet. Durch Kontrollungleichgewicht wird Straffälligkeit verursacht. Die Theorie, die lebhaft diskutiert worden ist (Tittie 2004, 1999, 1997; Jensen 1999; Braithwaite 1997), steht im Gegensatz zu den bisherigen Kontrolltheorien, die Kriminalität lediglich auf niedrige Kontrolle zurückführen. Sie besitzt damit den Vorteil, die Kriminalität der Mächtigen, die Wirtschafts- und politischen Straftaten, mehr als bisher in die kriminologische Untersuchung einzubeziehen. 7.3
Soziale Interaktionstheorie
7.3.1 Labeling als Prozess der sozialen symbolischen Interaktion Die Theorie der sozialen Interaktion untersucht Wechselwirkungsprozesse zwischen Menschen, die Regeln aufstellen und durchsetzen, und Menschen, die diese Regeln verletzen und als „sozialabweichend" oder „kriminell" benannt werden. Der Interaktionismus in der Kriminologie stützt sich auf den symbolischen Interaktionismus des Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863-1931). Er sieht die Eigenart zwischenmenschlicher Interaktion darin, dass Menschen nicht nur auf die Handlungen anderer reagieren, sondern dass sie die Handlungen ihrer Interaktionspartner interpretieren oder „definieren". Einer der Hauptvertreter der Labelingtheorie war Howard S. Becker (1963, 1971): Kriminalität ist die soziale Konstruktion moralischer Unternehmer. Deviantes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so benennen (Becker 1963, 9). Die Agenten der Sozialkontrolle, die im Auftrag der Mächtigen einer Gesellschaft handeln, kleben den weniger Mächtigen Etiketten an. Die Brandmarkung von Personen mit einem Stigma wird dadurch verursacht, wer sie sind, nicht was sie getan haben. Die Identität, die eine Person annimmt, wird in profunder Weise durch die Art gestaltet, in der andere sie identifizieren und auf sie reagieren. Der zentrale Punkt liegt darin, dass die Schande, die Menschen erleiden, die als delinquent oder kriminell abgestempelt worden sind, sie häufiger als weniger häufig zu weiteren devianten Handlungen ermutigt. Devianz ist keine Qualität, die in der Handlung selbst liegt, sondern sie liegt in der Interaktion zwischen der Person, die die Handlung begeht, und der Person, die auf sie reagiert. Einer der entscheidenden Schritte im Prozess der Ausbildung eines festen Musters abweichenden Verhaltens ist wahrscheinlich die Erfahrung, verhaftet und öfHans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft fentlich als Mensch mit abweichendem Verhalten abgestempelt zu werden (Becker 1963, 31). Frank Tannenbaum (1938) war vielleicht der erste Wissenschaftler, der in allgemeinen Begriffen das Prinzip aufstellte, dass die staatliche Intervention wegen der „Dramatisierung des Bösen" kriminogen, kriminalitätsverursachend, wirkt. In den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gewann die Labelingtheorie (oder auch der gesellschaftliche Reaktionsansatz) an Popularität. Die Theorie fuhr in den 70er Jahren fort, eine wichtige, aber weniger dominierende Rolle zu spielen. Ende der 70er Jahre fiel die Labelingtheorie ab; sie wurde von zahlreichen Seiten kritisiert. Viele ihrer Vertreter gingen zu anderen Perspektiven über. Nach der Mitte der 70er Jahre gab Becker selbst der Theorie keine weitere wesentliche Bedeutung mehr. Er führte ins Feld, er habe nur „minimal" zum Studium der Deviation beigetragen und er habe niemals die Absicht gehabt, eine Labelingtheorie zu entwerfen (AkerslSeilers 2004, 155). Die Labelingtheorie ruft nicht länger das Interesse, den Enthusiasmus, die Beachtung und die Akzeptanz hervor, die sie einst als dominierendes Paradigma in der Kriminologie und Rechtssoziologie erzeugt hat {AkerslSeilers 2004, 157). Ihr häufigster Mangel liegt darin, dass ihr die empirische Validität fehlt {AkerslSeilers 2004, 141; LillyICullenlBall 2007, 132). Im Gegensatz zu den Erwartungen der Labeling Theoretiker haben empirische Forschungen wiederholt herausgefunden, dass die Schwere des Verbrechens - nicht der soziale Hintergrund des Täters - der stärkste Bestimmungsfaktor für die Beurteilung der Polizei und der Gerichte ist {LillyICullenl Ball 2007, 132). Die gesellschaftliche Reaktion ist ein komplexer Prozess. Kriminalpolitisch forderten die Labelingtheoretiker die Entinstitutionalisierung der jugendlichen Gefangenen, sogar die radikale Nichtintervention: Edwin M. Schur (1973). Die meisten Forschungen über Diversionsprogramme haben indessen herausgefunden, dass sie - verglichen mit dem üblichen Jugendgerichtsprozess - keinen großen Unterschied in der Verminderung des Rückfalls erbracht haben. Es gibt nicht viele Beweise, die demonstrieren, dass Jugendliche aus Diversionsprogrammen mit weniger Wahrscheinlichkeit neue Delikte verüben als Jugendliche, die den normalen Jugendgerichtsprozess durchlaufen haben {AkerslSeilers 2004, 144). Das Konzept der Interaktionstheorie hat Edwin M. Lemert (2006) weiter ausgearbeitet. Er unterscheidet zwischen Primär- und Sekundärabweichung: Primärabweichung hat zahlreiche Ursachen. Der sekundär Abweichende ist ein Mensch, der durch Stigmatisation seine Identität geändert hat und dessen Leben und Selbstverständnis von jetzt an von der Realität der Deviation bestimmt wird. In den 90er Jahren ist die soziale Interaktionstheorie im Sinne der kognitiv-sozialen Lerntheorie weiterentwickelt worden {WellfordITriplett 1993). Die negative Reaktion auf Primärabweichung wird als Verstärkung der Primärabweichung und als Sozialprozess hin zur Sekundärabweichung verstanden. Die informelle Reaktion durch Familie, Schule, Nachbarschaft kann hierbei wichtiger sein als die formelle Reaktion durch das Kriminaljustizsystem. Informelles Etikettieren kann eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung delinquenten Verhaltens spielen {Paternoster!Iovanni 1996). Jugendliche können z.B. ein delinquentes Selbstkonzept entwickeln und eine delinquente Rolle annehmen, indem sie sich die negativen Einschätzungen ihrer Eltern, Lehrer und 144
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) Freunde zuschreiben, die diese von ihnen haben (Matsueda 2003). Rollenübernahme {Matsueda 2001) bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich Jugendliche selbst als Rechtsbrecher sehen, dass sie delinquente Einstellungen übernehmen und dass sie Umgang mit delinquenten Gleichaltrigen pflegen (fVarr 2002). Delinquente Situationen werden zur Routine, delinquente Skripte zur Gewohnheit. 7.3.2 Die Schamtheorie Der australische Kriminologe John Braithwaite (2006, 1989) hat die Interaktionstheorie ergänzt. Er sieht die Scham als wichtiges Mittel der informellen Sozialkontrolle an und unterscheidet zwischen wiedereingliederndem und ausgliederndem Schämen. Diese ausschließende Reaktion trennt den Täter durch stigmatisierende, degradierende Formen der sozialen Ablehnung von seiner Gemeinschaft und behandelt ihn als Ausgestoßenen. Bei dem wiedereingliedernden Schämen, der einschließenden, einbeziehenden Reaktion, der Normalisierung, wird die Straftat zwar verurteilt, der Täter wird aber wieder mit seiner Gemeinschaft versöhnt (vgl. die Beiträge im Sammelwerk AhmedlHarris!BraithwaitelBraithwaite 2001). Durch restaurative, opferzentrierte Gemeinschafts-Polizei-Arbeit versucht man in Canberra/Australien, das Konzept des wiedereingliedernden Schämens in zwei Experimenten („Canberra Reintegrative Shaming Experiments") praktisch nutzbar zu machen, die von allen Prozess-Beteiligten als nützlich beurteilt werden (Strang 2002). 7.3.3 Die Trotztheorie Stigmatisierung, Ausschluss und grobe, barsche Behandlung der Täter verstärken nur die Wahrscheinlichkeit ihres Rückfalls. Lawrence W.Shermans (2006) zentrales Konzept ist das des Trotzes oder Widerstands, den er folgendermaßen definiert: die Nettozunahme des Vorkommens, der Häufigkeit oder der Schwere zukünftiger Täterschaft gegen eine sanktionierende Gemeinschaft. Diese Nettozunahme ist durch eine stolze, schamlose Reaktion auf die Anwendung einer Kriminalsanktion verursacht worden. Die Schlüsseleinsicht besteht darin, dass Täter wahrscheinlich trotzig darauf reagieren, wenn sie durch Polizisten und/oder Richter unfair und respektlos behandelt werden. Trotz, Widerstand ereignet sich unter vier Bedingungen, von denen alle notwendig sind: - Der Täter definiert eine kriminelle Sanktion als unfair. - Der Rechtsbrecher ist schlecht verbunden mit oder verfremdet von dem Sanktionsagenten oder der Gemeinschaft, die der Agent repräsentiert. - Der Täter definiert die Sanktion als eine Person stigmatisierend und zurückweisend, nicht als Zurückweisung der Straftat. - Der Rechtsbrecher verneint oder weigert sich, die Scham anzuerkennen, die die Sanktion als Leid ihm tatsächlich verursacht hat. Sanktionen werden unter zwei Bedingungen als unfair definiert, von denen eine ausreichend ist: - Der Sanktionsagent verhält sich dem Täter oder seiner Gruppe gegenüber respektlos, gleichgültig, wie fair die Sanktion auch tatsächlich sein mag. Hans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft - Die Sanktion ist tatsächlich willkürlich, diskriminierend, unangemessen hoch, unverdient oder in anderer Weise objektiv ungerecht.
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Lebenslauf- und Entwicklungstheorien
8.1
Die Lebenslauf- und Entwicklungsperspektive
Straftaten fügen sich in zeitliche Entwicklungsabläufe ein. Sie entstehen und verschwinden während des Lebenszyklus. Die Entwicklungs-Kriminologie („Developmental Criminology") richtet ihre Aufmerksamkeit auf Entwicklungspfade, -bahnen und -wege; sie bezieht Entwicklungsvorläufer und Risikofaktoren als Prädiktoren in ihre Betrachtung ein (Farrington 2006; LeBlanc/Loeber 1998, 115-198). Nach den Lebenslauftheorien („Life Course Theories") entfalten sich Delinquenz und Kriminalität im interaktiven Prozess, der während der gesamten Lebensspanne abläuft. Die Vertreter der Lebenslauftheorien (LaheylWaldman 2005; Catalano!Park!Harachi/Haggerty!Abbott!Hawkins 2005; Thornberry 2003; Sampson/Laub 1993; LaublSampson 2003; Farrington 2002, 2003a, 2005) studieren die Entwicklung und Dynamik des Problemverhaltens und der Kriminalität unter Berücksichtigung des Alters des Täters. Das soziale Interaktions-Modell konzentriert sich z.B. auf die Zusammenhänge sozialen Lernens während aufeinander folgender Entwicklungs-Phasen. Individuelle Faktoren stehen in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren, mit Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe. Diese Interaktionen bringen delinquentes Verhalten in der Kindheit hervor, das sich in der Jugendzeit und im Erwachsenenleben fortsetzt (Sampson/Laub 2005a). Eine Lebensbahn ist ein Pfad oder eine Entwicklungslinie über eine Lebensspanne hinweg in solchen Bereichen wie Arbeit, Ehe, Elternschaft und kriminellem Verhalten {Sampson!Laub 2001b). Übergänge werden durch spezifische Lebensereignisse markiert, z.B. durch die erste Arbeitsstelle oder den Beginn der Begehung von Straftaten. Sie sind in Lebensbahnen eingeordnet. Wendepunkte zeigen den Wandel im Lebenslauf an; sie sind abrupte, radikale „Umdreher" oder Chancen im Leben, die die Vergangenheit von der Zukunft trennen (Sampson!Laub 1997, 143). Lebensbahnen schließen die Verbindung zwischen Kindheitserlebnissen und Erwachsenenerfahrungen in sich ein (Kontinuität). Übergänge und Wendepunkte können den Verlauf der Lebensbahn ändern; sie können ihr eine neue Richtung geben. Kumulative Kontinuität hält den Straftäter in seiner einmal eingeschlagenen Lebensbahn fest (Sampson/ Laub 2001b): Die Delinquenz belastet zunehmend die Zukunft. Denn sie ruft negative Konsequenzen in Lebenschancen hervor, speziell unter stigmatisierten und institutionalisierten Jugendlichen. Inhaftierung als Jugendlicher hat Versagen in der Schule und im Beruf zur Folge und schwächt die Gemeinschaftsbindungen, was hinwiederum zu einem Anwachsen der Erwachsenenkriminalität führt (Sampson!Laub 2001b, 247). Die Ereignisse in einer Phase des Lebens haben Auswirkungen auf nachfolgende Lebensphasen. Bei dem Forschungsparadigma der Lebenslauf- und Entwicklungstheorien wird darauf geachtet, wann mit der Delinquenz begonnen wird (Anfang), wie lange sie andauert (Beharrlichkeit, Hartnäckigkeit), wie häufig sie verübt wird (Häufigkeit) und wann die Kriminalität aufhört (Abstandnehmen, Beendigung). 146
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) Beendigung (das Ergebnis) ist abhängig von der Dynamik, die dem Prozess des Abstandnehmens (Ursache) zugrundeliegt. Abstandnehmen ist ein umkehrbarer Übergang. Kriminalität ist ein dynamisches Konzept, speziell wenn man sie über einen längeren Zeitraum beobachtet (LaublSampson 2003, 37). Manche Entwicklungstheorien argumentieren, es gebe nur oder hauptsächlich Kontinuität (Gottfredsonl Hirschi 1990). Andere Theorien behaupten, es gebe entweder Kontinuität oder Wandel (Moffitt 2003). Schließlich vertreten Theorien die Meinung, es gebe sowohl Kontinuität wie Wandel (SampsonILaub 1993; LaublSampson 2003). Drei Perspektiven stehen im Zentrum der Lebenslauf- und Entwicklungstheorien: Kognitiv-soziale Lerntheorie und Kontrolltheorien werden in Lern- und Kontrollprozessen dynamisiert; sie gründen sich auf die sozialstrukturelle Theorie {Lilly!Cullenl Ball 2007, 310). Kontinuität und Diskontinuität der Kriminalitätsbahnen sind mit dem breiteren sozialen Kontext verbunden, in dem sich der individuelle Lebenslauf entwickelt. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Lebenslauf sozial und historisch eingebettet ist (Benson 2002; so bereits schon Aschaffenburg 1903). Die Entwicklungskriminologie hat drei Hauptziele (LoeberlStouthamer-Loeber 2002): - Sie beschreibt die zeitlichen Kriminalitätswandlungen des Individuums; sie vergleicht sein Kriminellwerden zu einem bestimmten Zeitpunkt mit seinem Kriminellwerden zu einem anderen Zeitpunkt. - Der zweite Fokus der Entwicklungskriminologie ist die Identifizierung erklärender oder kausaler Faktoren, die einer Verhaltensentwicklung vorausgehen und einen Einfluss auf ihren Verlauf haben. - Das dritte Ziel der Entwicklungskriminologie ist ihr Studium wichtiger Übergänge im Lebenszyklus und ihrer Mitveränderungen, die sie auf das Kriminellwerden auslösen. 8.2
Die Interaktionsprozess-Theorie
Terence P. Thornberry (2006) und Marvin D. Krohn (Thornberry/Krohn 2005) haben sie entwickelt: Die Kriminalität wird als Interaktionsprozess verstanden. Kausale Schlüsselfaktoren, wie Zuneigung, Anhänglichkeit gegenüber Mitmenschen, sind nicht statisch, sondern dynamisch. Sie wandeln sich mit der Interaktion des Individuums mit seinen Mitmenschen während seiner Lebensspanne. Delinquente werden nicht nur durch ihr soziales Umfeld beeinflusst, sondern sie üben auch Einfluss auf andere durch ihr delinquentes Verhalten aus. Sie sind Teil des Interaktionsprozesses. Delinquentes Verhalten ist eingebettet in eine Reihe sich wechselseitig kausal verstärkender Netzwerke. In der Lebensbahn führen anfänglich schwache soziale Bindungen zu hoher delinquenter Verwicklung, und diese Verwicklung schwächt ihrerseits wieder die konventionellen Bindungen. Die Wirkungen der Variablen unterscheiden sich mit der Phase der Person in ihrem Lebenslauf. Wenn die Jugendlichen sich von ihrer frühen in ihre mittlere Adoleszenz (15/16 Jahre) bewegen, schwinden die Einflüsse der Eltern, und diejenigen der Gleichaltrigen und der Schule werden wichtiger. In derselben Weise tauchen in der späten Jugendzeit neue Variablen auf, wie z.B. Berufstätigkeit, Universität, Militärdienst, Verheiratung. Sie bilden nunmehr die Hauptquellen der Bindungen der Person zur Gesellschaft. Sie spielen eine wichHans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft tige Rolle in der Frage, ob die Person mit ihrer Delinquenz fortfährt oder ob sie aufhört. Die anfanglich schwachen sozialen Bindungen führen zu hoher Verwicklung in Delinquenz; diese hohe Verwicklung schwächt weiterhin die konventionellen Bindungen. Die Kombination beider Effekte macht es extrem schwierig, in späteren Jahren soziale Bindungen zur konventionellen Gesellschaft wieder aufzubauen. Schließlich postuliert die Interaktionsprozess-Theorie, dass diese Prozessvariablen systematisch mit der Position der Person in der Sozialstruktur verbunden werden. Die Schicht, der Minderheitsgruppenstatus und die soziale Desorganisation der Nachbarschaft beeinflussen die Anfangswerte der interaktiven Variablen ebenso wie die Verhaltens-Entwicklungs-Bahn. 8.3
Das sozial-interaktionistische Entwicklungsmodell
Antisoziales Verhalten ist ein Entwicklungsmerkmal, das früh im Leben einsetzt und sich häufig in der Jugendzeit und im Erwachsenenleben fortsetzt. Frühe Formen antisozialen Verhaltens sind Vorläufer, Vorboten späterer antisozialer Handlungen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklung ist „sozial-interaktional". Diese Meinung vertreten Gerald Κ Patterson und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (PattersonlDeBaryshelRamsey 2006, 1989; Patterson!ReidlDishion 1992). Jeder Schritt in der Handlungs-Reaktions-Kette bedeutet für das antisoziale Kind ein größeres Risiko für eine langfristige soziale Verhaltensstörung und für kriminelles Verhalten. Der Beginn antisozialen Verhaltens liegt in dysfunktionalen Familien, die gekennzeichnet sind durch schroffe, harte, widersprüchliche Disziplin, wenig positive elterliche Beschäftigung mit dem Kind und schlechte Überwachung und Beaufsichtigung. Die sozial-interaktionistische Perspektive nimmt den Standpunkt ein, dass Familienmitglieder die Kinder unmittelbar darin trainieren, sich antisozial zu verhalten. Einen antisozialen Elternteil oder gar zwei antisoziale Eiternteile zu besitzen, ist ein signifikantes Risiko für das antisoziale Verhalten des Kindes. Die Verhaltensstörungen in der Familie führen zu schulischem Misserfolg und zur Zurückweisung durch die prosoziale Gleichaltrigengruppe. Daran schließt sich während der späten Kindheit und in der ersten Phase der Jugendzeit die Aufnahme in eine deviante Gleichaltrigengruppe an. Die devianten Gleichaltrigen lehren die Jugendlichen Einstellungen, Motivationen und Rechtfertigungen antisozialen Verhaltens. Sie zeigen ihnen Gelegenheiten für spezielle delinquente Handlungen. Gerald R. Patterson und Karen Yoerger (1999) haben ein Zwei-Gruppen-Modell aufgestellt. Sie unterscheiden zwischen Früh- und Spätbeginnern. Die Frühbeginner leiden unter mangelhafter frühkindlicher Sozialisation aufgrund unfähiger Erziehungspraktiken der Eltern. Das Versagen der Kinder im Lernen effektiver Selbst- und Sozialkontrolle lässt sie Mitglied in einer devianten Gleichaltrigengruppe werden, was ihre Delinquenz-Intensität verschlimmert. Frühbeginner bilden ein hohes Risiko, sich zu chronischen und ständigen Straftätern in ihrem Erwachsenenleben zu entwickeln. Spätbeginner haben keine misslungene Sozialisation hinter sich. Der Hauptgrund ihrer Delinquenz liegt in ihren assoziativen und interaktiven Beziehungen zu delinquenten Gleichaltrigen-Modellen. Spätbeginner experimentieren mit ihrer Delinquenz während der Mitte bis zum Ende ihres Jugendalters. Da Spätbeginner keine verfehlte 148
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) Erziehung und Sozialisation hatten, sind ihre sozialen Fähigkeiten relativ intakt geblieben, so dass sie eine große Chance haben, von ihrer Delinquenz wegzukommen, wenn sie sich dem Erwachsenenalter nähern. Zahlreiche empirische Studien haben die Patterson-Theorie getestet und zum großen Teil bestätigt {Piquero!Farrington!Blumstein 2003, 400). 8.4
Die Theorie des chronischen Lebenslauf-Straftäters und des Jugendzeit-Rechtsbrechers
In dieser Theorie hat Terrie E. Moffitt (2006a und 2006b; PiqueroiMoffitt 2005) aufgrund der Dunedin-Längsschnittstudie (Dunnedin = Provinzhauptstadt auf der neuseeländischen Südinsel) {Moffitt!Harrington 1996) herausgearbeitet, dass es mindestens zwei unterschiedliche Typen jugendlicher Straftäter gibt: den chronischen Lebenslauf-Straftäter („Life-Course-Persistent-Oifender") und den Jugendzeit-Rechtsbrecher („Adolescence-Limited Perpetrator"). Der chronische Lebenslauf-Straftäter (der Karriere-Kriminelle) fällt mit Verhaltensproblemen, z.B. Wutanfällen, bereits im 3. Lebensjahr auf. Aggressivität in der Kindheit ist ein starker Prädiktor für Gewaltstraftaten in der Jugendzeit und im Erwachsenenleben. Seine ersten Polizeikontakte hat der chronische Lebenslauf-Straftäter - zumeist wegen schwerer nichtgewaltsamer Delikte - schon mit sechs bis zwölf Jahren. Während aller seiner Lebensphasen verübt er beständig extrem häufige und schwere Delikte und besonders Gewaltstraftaten. Seine Rechtsbrüche verschärfen sich ständig, und ihre Rückfallgeschwindigkeit nimmt zu. Ein großer Teil der Delikte des chronischen Lebenslauf-Straftäters wird von der Jugend-Kriminal-Justiz überhaupt nicht bemerkt und bleibt im Dunkelfeld. Die Jugendzeit-Rechtsbrecher haben demgegenüber keine Kindheits-Geschichte antisozialen Verhaltens. Durch drei Kriterien unterscheiden sie sich vom chronischen Lebenslauf-Straftäter: Sie fangen mit ihren Straftaten erst nach ihrem 11. bis 13. Lebensjahr an. Sie beenden ihre Rechtsbrüche in der Regel mit etwa 18 Jahren. Die Schwere ihrer Delikte nimmt nicht zu, sie steigert sich nicht. Die Ursachen der Rechtsbrüche der chronischen Lebenslauf-Straftäter und der Jugendzeit-Rechtsbrecher sind verschieden {PiqueroiMoffitt 2005; Moffitt 1997). Die kriminelle Persönlichkeit des chronischen Lebenslauf-Straftäters entwickelt sich im interaktiven Prozess, der während der gesamten Lebensspanne abläuft. Problemkinder begegnen Problemeltern. Kinder, die zu Überaktivität und Zornausbrüchen neigen, treffen mit Eltern zusammen, die reizbar und ungeduldig sind und die nur eine schlechte Selbstkontrolle besitzen. Es mangelt ihnen insbesondere an Konfliktlösungs-Fähigkeiten und an Einfühlungsvermögen in ihre Kinder. Das Aufeinandertrefien eines temperamentmäßig schwierigen Kleinkindes mit ungünstigen, widrigen Erziehungspraktiken seiner Eltern leitet einen Lebenslauf beständigen, hartnäckigen kriminellen Verhaltens ein. Verfehlte Eltern-Kind-Begegnungen häufen sich. Zwei Prozesse ermöglichen die kriminelle Beständigkeit: Zum einen erweisen sich das Kind und der Jugendliche, die kriminelle Verhaltensabläufe (Skripte) in ihrer Phantasie, durch Beobachtung und eigenes Verhalten gelernt haben, in wachsendem Maße als unfähig, sich konventionelle, prosoziale Alternativen zu ihrem kriminellen Benehmen anzueignen. Hans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Zum anderen ergibt sich ein eingeschränktes Verhaltens-Repertoire aus der zunehmenden Verwicklung in die Folgen kriminellen Lebensstils. Das Handeln von Personen, die sich in ihrem Lebenslauf beständig kriminell verhalten, wird nämlich in wachsendem Maße durch die Einengung ihrer Wahlmöglichkeiten für prosoziales Benehmen bestimmt. Kriminelles Verhalten hat negative Konsequenzen, und diese negativen Folgen wirken sich wieder in kriminellem Benehmen aus (wechselseitige Kausaleinflüsse, NegativSpirale). Benachteiligte, ungünstige Elternhäuser, Schulen und Nachbarschaften verschlimmern die Lage. Mit der Zeit entwickelt sich langsam und unbemerkt eine kriminelle Persönlichkeit. Demgegenüber bestehen die Straftaten der Jugendzeit-Rechtsbrecher zum großen Teil aus Gelegenheits-Delinquenz, die von Jugendlichen aus Protest-Haltung gegen ihre Abhängigkeit von Erwachsenen und gegen deren Unreife-Bewertung der Jugend verübt wird. Die Jugendlichen wollen sich aus ihrer Herkunftsfamilie und aus der Schule lösen. Diese Ablösungsbemühungen misslingen in zahlreichen Fällen. Jugendliche, die in Familie und Schule Misserfolg haben, deren Selbstachtung herabgesetzt ist und die nur schwache Bindungen zu Eltern und Lehrern entwickelt haben, wenden sich ihrer Gleichaltrigengruppe zu und versuchen dort, durch Delinquenz, auch Gewalttaten, ihr erschüttertes Selbstvertrauen wiederzugewinnen. Die größte Unterstützung bei Gewalttaten wie Raub und Körperverletzungen leisten unbeaufsichtigte Gleichaltrigengruppen. Die Modernisierung hat die Kluft zwischen körperlicher und sozialer Reife noch vergrößert. Die Dauer der Jugendzeit ist verlängert und die Teilhabe am Berufsleben verzögert. Die hieraus entstehende Kluft belässt Teenager in einem Vakuum von fünf bis zehn Jahren. Finanziell und sozial sind sie noch von ihrer Herkunftsfamilie abhängig; sie haben wenig Spielraum für eigen- und selbständige Entscheidungen. Mit ihrer Annahme der Erwachsenenrolle hören die meisten delinquenten Jugendlichen mit ihren Straftaten auf. Jugendzeit-Rechtsbrecher haben etwas zu verlieren, wenn sie ihren Rechtsbrüchen nach ihrem 18. Lebensjahr kein Ende setzen. Bevor sie mit ihren Normverletzungen nach ihrem 11. bis 13. Lebensjahr begannen, haben sie sich ein Repertoire prosozialen Verhaltens angeeignet, haben sie „soziales Kapital" angehäuft, das sie nicht aufs Spiel setzen wollen. Sie lassen ihre Straftaten sein (Aging-out). Das Problem besteht nur darin, dass der chronische Lebenslauf-Straftäter in der Menge der Jugendzeit-Rechtsbrecher - von der Jugend-Kriminaljustiz unerkannt - verschwindet. Auf sein kriminelles Verhalten, das nicht selten für Jugendzeit-Rechtsbrecher Vorbild-Funktion hat, wird nicht angemessen reagiert, so dass er mit seinen Straftaten in seinem Erwachsenenleben weitermacht (vgl. auch Lilly/CullenlBall 2007, 321-326). 8.5
Die Theorie der altersabgestuften informellen Sozialkontrolle
Travis Hirschis (1969) ursprüngliche Theorie der sozialen Bindung wird durch Robert J. Sampson und John H. Laub (1993, 1997, 2001a, 2001b, 2005b) wiederbelebt (Lilly! Cullen/Ball 2007, 326): Während der ersten Lebensphasen findet man den wichtigsten sozialen Kontrollprozess in der Familie, die ein Instrument für unmittelbare (Uber150
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) wachung) und mittelbare Kontrolle (Zuwendung) ist. In Familien, in denen die Disziplin hart und unberechenbar ist und in denen sich Eltern und Kinder wechselseitig ablehnen, sind die Bindungen schwach. Delinquenz ist die Folge. Über die Familie hinaus wird Delinquenz durch schwache Bindung zur Schule und durch Verbindung mit delinquenten Gleichaltrigen gefördert. Eine starke Kontinuität in antisozialem Verhalten verläuft von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter über die verschiedenen Bereiche des Lebens (so schon Glueckl Glueck 1968, 170). Inhaftierung, ein anderes mögliches Ereignis ständiger delinquenter Verwicklung, schwächt die sozialen Bindungen. Bedeutungsvolle soziale Bindungen können während des Erwachsenenlebens geknüpft werden. Sie sind Wendepunkte, die den Täter in Konformität führen. Schwache soziale Bindungen sind die Grundlage für kriminelle Kontinuität; starke soziale Bindungen sind die Basis für den Wandel zur Konformität. Menschliche Entscheidungen haben Einflüsse auf ihre sozialen Beziehungen. Aber mitunter spielt der Zufall im Leben eine Rolle. Ein Individuum findet einen guten Job, oder es stolpert in eine gute Intimbeziehung hinein. Wenn sich dies ereignet, können sich soziale Bindungen entwickeln, können soziales Kapital und soziale Zwänge entstehen, die noch kürzlich im Leben des Täters abwesend waren. Sie können Kontrolle ausüben. Nicht das Ereignis selbst oder sein Timing sind es, die die bestimmenden Faktoren ausmachen. Es sind vielmehr die Wandlungen in den sozialen Bindungen und die Entstehung sozialen Kapitals, die die Ursachen der Verhaltensänderung sind. Hierbei spielen sozialstrukturelle Faktoren, z.B. Familienzerrüttung, Arbeitslosigkeit, Wohnmobilität, und der sozioökonomische Status indirekte Rollen für die Delinquenzentstehung durch ihre Beeinflussung der sozialen Bindungen (Laub!Sampson! Allen 2001). Aus der Perspektive von Laub und Sampson (2001, 2003, 2006; vgl. auch Laub!Sampson/Sweeten 2006) sind Daten aus der Kindheit, der Jugend und dem Erwachsenenalter erforderlich, um die Längsschnittmuster des Kriminellwerdens zu erklären. Aus diesem Grund haben sie die Daten, die das Ehepaar Sheldon und Eleanor Glueck (1950, 1968) - zusammen mit einem Team von Fachleuten - gesammelt haben, neu aufbereitet, erneut analysiert und weitergeführt. Das Forschungsdesign der Gluecks umfasste eine Stichprobe von 500 männlichen Delinquenten im Alter zwischen 10 und 17 Jahren und eine Stichprobe von 500 Nichtdelinquenten im selben Alter. Diese beiden Stichproben wurden - Paar für Paar - nach dem Alter, der ethnischen Herkunft/Rasse, dem Intelligenzquotienten und dem Wohnbezirk in Boston zusammen geordnet, aus dem sie kamen und in dem die Einwohner ein niedriges Einkommen hatten. Über einen Zeitraum von 25 Jahren (1940 bis 1965) trug das Glueck-Team umfangreiche Daten von diesen eintausend Jungen an drei Zeitpunkten zusammen: im Alter der Jungen von 14, 25 und 32 Jahren. Laub und Sampson rekonstruierten und analysierten die Längsschnittdaten in sechs Jahren von 1987 bis 1993 mit ihrem neuen theoretischen Ansatz und mit neuen statistischen Forschungsmethoden. Sie erhoben die Daten aus den Kriminalakten von 475 Delinquenten im Jahre 1993 und führten Lebensgeschichte-Interviews mit 52 Männern (aus der ursprünglichen Stichprobe der 500 Delinquenten) durch, die inzwischen ihr 70. Lebensjahr erreicht hatten. Sie gingen der Frage nach, welche Faktoren die Kriminalitätsstabilität und welche
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft den Kriminalitätswandel erklären. Sie suchten nach Prädiktoren für das Aufhören und die Beständigkeit in der Erwachsenenkriminalität. Sie gelangten zu folgenden Ergebnissen: Ursachen der Hartnäckigkeit, der Beharrlichkeit der Kriminalität bestehen in einem Mangel an sozialer Kontrolle, in wenig strukturierten Routineaktivitäten und in absichtlichem menschlichen Handeln. Chronische Lebenslaufstraftäter erfuhren Wohn-, Ehe- und Berufs-Instabilität; sie versagten in der Schule und beim Militär; sie hatten relativ lange Perioden der Inhaftierung. Sie erwiesen sich als unfähig, aus Strukturen in jeder Phase ihres Lebens, speziell aus Beziehungen, die soziale Unterstützung und informelle Kontrolle versprechen, Nutzen zu ziehen. Heirat, Arbeit, Militärdienst repräsentieren Wendepunkte im Lebenslauf und sind wesentlich für das Verständnis des Wandels der kriminellen Aktivität. Wendepunkte stehen in einem größeren strukturellen und kulturellen Kontext. Die Ehe, speziell eine starke eheliche Zuneigung, hat sich für Männer als Prädiktor für ihr Abstandnehmen von ihrer Kriminalität erwiesen. Das Wachsen sozialer Bindungen ist wie ein Investitionsprozess. Die Ehe beeinflusst das Aufhören, weil sie häufig zu einem signifikanten Wandel in Alltagsroutinen führt. Sie besitzt das Potential, den Ex-Straftäter von seiner delinquenten Gleichaltrigengruppe abzuschneiden. Sie begünstigt das Aufhören mit Kriminalität wegen der unmittelbaren Kontrolle durch den Ehepartner. Berufsstabilität, die stark mit dem Aufhören mit Straftaten verbunden ist, Engagement für die Arbeit und wechselseitige Bindungen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber lassen die informelle Sozialkontrolle wachsen. Die Arbeit als solche verstärkt nicht notwendigerweise die Sozialkontrolle. Es ist vielmehr die Arbeit, die mit Berufsstabilität, mit Arbeitsengagement und wechselseitigen Bindungen gekoppelt ist, die die Sozialkontrolle verstärkt und zu einer Verminderung des Verbrechens führt. Der Prozess des Abstandnehmens von Rechtsbrüchen kann in die folgenden vier Dimensionen aufgeteilt werden (LaublSampson 2003, 148/149): - Abschneiden der Vergangenheit (delinquente Gleichaltrigengruppe) von der Gegenwart (Ehe- und Familienleben), - Überwachung durch den Ehepartner/Arbeitgeber und Gelegenheiten für soziale Unterstützung, - Struktur in den Routine-Aktivitäten (geordnetes Alltagsverhalten), - Gelegenheit für eine Identitätsänderung (Straftäter —» Familienvater). 8.6
Kriminologische Längsschnittforschung
Die kriminologischen Längsschnittstudien testen die dynamischen Hypothesen, die den Kern der Entwicklungsmodelle bilden. Die Kerneinheit der Analyse ist das Individuum (Thornberry/Krohn 2003). Seit Ende der 80er-Jahre werden in den USA drei koordinierte, prospektive (vorausschauende) Längsschnittforschungsprojekte durchgeführt: in Pittsburg/Pennsylvania, in Rochester/New York und in Denver/Colorado. Diese drei Studien stellen einen Meilenstein in der kriminologischen Forschung dar. Denn sie bilden den größten gemeinsamen Messungsansatz, der jemals bei Delinquenzstudien erreicht worden ist (Piquero!Farrington!Blumstein 2003, 374). Die Grundfrage 152
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) aller dieser Längsschnittstudien ist, welches die Ursprünge und Folgen delinquenter und krimineller Karrieren sind. Die Rochester Jugend Entwicklungsstudie testet die Interaktionsprozessstheorie; sie ist auf chronische, schwere Täter spezialisiert (ThornberryILizottelKrohnlSmith/Porter 2003). Das Denver Jugend Gutachten konzentriert sich auf die Beziehung Viktimisierung und Delinquenz sowie auf die Bedeutung der Bandendelinquenz in der Lebensbahn (Huizingal Weiher!Espíritu/Esbensen 2003). Die Pittsburg Jugendstudie hat bisher drei voneinander verschiedene Entwicklungspfade herausgefunden: den offenen und den verdeckten Pfad sowie den Autoritäts-KonfliktPfad (Loeber!Farrington! Stouthamer-Loeber! MofßttICaspil Whitel WeilBeyers 2003). Außerhalb der USA sind die beiden folgenden Längsschnittstudien am bedeutsamsten: Die Cambridge Studie der delinquenten Entwicklung ist vierzig Jahre alt (Farrington 2003b). Sie begann im Jahre 1961. In der Zeit von 1961 bis 2002 wurden 411 in SüdLondon im Jahre 1953 geborene Jungen im Alter zwischen 8 und 46 Jahren neunmal persönlich interviewt. Die Kontinuität und Diskontinuität in der Verhaltensentwicklung, die Wirkungen von Ereignissen auf die Entwicklung und die Vorhersage künftigen Verhaltens sollen ermittelt werden. Die Montreal Längsschnitt- und Experimental-Studie überprüft die Entwicklung antisozialen Verhaltens vom Kindergarten bis zur Oberschule (High School) (TremblayI Vitaro!'NaginiPagani!Séguin 2003). Sie legt besonderes Gewicht auf die Frühkindheit und die Eltern-Kind-Interaktion. Seit Anfang der 80er-Jahre werden Kindergarten-Jungen in 53 Wohngebieten Montreals mit niedrigem Einkommen untersucht. Mit dieser Studie wurden vor allem Kindheitsprobleme als Vorläufer, Vorboten antisozialen Verhaltens entdeckt: Widerworte, Schreien, Brüllen, Stoßen, Schlagen, Schubsen sind Anzeichen für spätere Schwierigkeiten in der Schule und für schlechte schulische Leistungen (so bereits GottfredsonIHirschi 1990, 102). Körperliche Aggression während des Kindergarten-Alters ist der beste Verhaltensprädiktor für spätere Delinquenz (vgl. auch Keenan 2001; Tremblay!LeMarquand 2001). Die prospektiven Längsschnittstudien haben bisher folgende Hauptergebnisse erbracht (KrohnIThornberry 2003): - Je früher die Kinder mit ihrer Delinquenz beginnen, desto wahrscheinlicher werden Karrieren chronischer Lebenslauf-Straftäter. Hierbei hat das Vorschulalter eine besondere Bedeutung. - Eine effektive Erziehung im Kindes- und Jugendalter ist von unschätzbarem Wert. Überwachung und Aufsicht sind die wichtigsten Erziehungsvariablen (so auch Farrington 2002, 673, 680). - Es besteht eine starke Beziehung zwischen dem kriminellen Verhalten der Eltern und dem delinquenten Verhalten der Kinder (so auch Farrington 2002, 670). Für diese intergenerationale Übertragung ist das Modellverhalten der Eltern verantwortlich. - Mangelnde schulische Leistungen und schwaches schulisches Engagement sind konsistente Prädiktoren für Delinquenz und Problemverhalten (so auch Farrington 2002, 677/678). Hans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft - Ein wechselseitiger Kausalprozess ist gegeben: In dem Maße, in dem delinquentes Verhalten die Assoziation mit Delinquenten und die Verstärkung durch Delinquente erhöht, wächst hinwiederum die Wahrscheinlichkeit anschließenden delinquen ten Verhaltens. Bandenmitgliedschaft erleichtert delinquentes Verhalten. - Ökonomische Nachteile, z.B. Armut, niedrige soziale Schicht, sind entweder direkt oder indirekt mit delinquentem Verhalten verbunden.
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Konflikttheorien
9.1
Vorläufer
Es gibt vier verschiedene Vorläufer der Konflikttheorien in der Kriminologie, die unterschiedlich bewertet werden müssen: - Nach Georg Simmel (1983, 186-255) ist der Konflikt ein fundamentaler gesellschaftlicher Prozess. Er ist ein normaler Teil des Lebens und eine Form der Interaktion unter anderen Formen. - Die wichtigste kriminologische Konflikttheorie ist die marxistische Theorie, die auf den niederländischen Kriminologen Willem Adriaan Bonger (1876-1940) zurückgeführt werden kann. Die Ursache der Kriminalität liegt in der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft, insbesondere im Privateigentum an den Produktsmitteln. - Nach Thorsten Sellin (1938) beruht die Kriminalität auf einem Nonnen- und Wertkonflikt zwischen verschiedenen Sektoren innerhalb der Gesellschaft. Die Menschen in diesen verschiedenen Sektoren lernen unterschiedliche Verhaltensnormen, die - nach seiner Kulturkonflikttheorie - miteinander in Konflikt geraten. - Eine Gruppenkonflikttheorie hat George B. Void (1958, 203-219; vgl. jetzt auch die vereinigte Konflikttheorie in: Void!Bernard!Snipes 2002, 240-242) entworfen. Seine Theorie, die es auf Interessengegensätze zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen abstellt, kann einen positiven Beitrag für einen Gruppenzusammenhalt und eine Gruppensolidarität leisten. 9.2
Drei Konflikttheorien
In den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind drei Kriminologen als Konflikttheoretiker hervorgetreten: Austin T. Turk, William J. Chambliss und Richard Quinney. Ihre Konflikttheorien waren sehr ähnlich und sind im Wesentlichen auf den Zeitraum der 60er und 70er Jahre beschränkt. Sie spielen allerdings heute noch eine gewisse untergeordnete Rolle. Turk (1969a, 1969b, 2001) beurteilt den Konflikt nicht als Abnormität, sondern als fundamentale soziale Erscheinungsform. Verbrechen entstehen in einem Kriminalisierungs- und Zuschreibungsprozess eines kriminellen Status an ein Individuum, der in der Produktion von Kriminalität endet. Krimineller Status kann Personen zugeschrieben werden: wegen ihrer wirklichen oder phantasierten Eigenschaften, wegen ihres Seins eher als wegen ihres Tuns, wegen der Rechtfertigung realen, eingebildeten oder erfundenen Verhaltens. Turk geht es um das Verhalten von Autoritäten, die den 154
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) Kriminalisierungsprozess kontrollieren, um die logischen Folgerungen des Umstandes, dass einige Menschen Autorität über andere haben. Er unterscheidet kulturelle von sozialen Normen. Kulturelle Normen sind symbolische Normen, die sich auf das beziehen, was erwartet wird. Soziale Normen findet man als Muster tatsächlichen Verhaltens. Sie befassen sich damit, was getan wird, nicht damit, was gesagt wird. Kulturelle und soziale Unterchiede zwischen Autoritäten und Subjekten führen wahrscheinlich zum Konflikt. Je größer der Machtunterschied zwischen Normvollstreckern und Widerständlern ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit der Kriminalisierung (vgl. Lilly!Gullen!Ball 2007, 157-162). Chambliss sieht sein Buch „Law, Order, and Power", das er im Jahre 1971 zusammen mit Robert B. Seidmart publizierte, als sein wichtigstes Werk an. Das Buch ist eine marxistische Analyse des US-amerikanischen Rechtssystems, das die Rechtsordnung als einen Selbstbedienungsladen charakterisiert, um Macht und Privileg zu erhalten {Dodge 2005). Chambliss und Seidman argumentieren, dass die Rechtsordnung die Aktivität von Interessengruppen fördert und nicht das öffentliche Interesse im Auge hat. Das angewandte Recht ist eine Kombination der Interessen der Mächtigen und der Interessen von bürokratischen Organisationen, die dieses Recht durchsetzen. Je höher die politische und gesellschaftliche Position einer sozialen Gruppe ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Ansichten in Gesetzen verankert werden. Obgleich das Gesetz die Werte und Interessen der mächtigeren Elemente des Schichtensystems komplexer Gesellschaften enthält, wird es von bürokratischen Organisationen mit ihren eigenen Tagesordnungen geschaffen und durchgesetzt. Nach Chambliss' Ansicht tendieren Kriminaljustiz-Bürokratien dazu, Menschen aus der Unterschicht strenger, härter zu bestrafen als Menschen aus der Mittel- und Oberklasse, weil Menschen aus den niedrigeren sozialen Schichten wenig als Gegenleistung für Milde anzubieten haben und weil sie nicht in der Lage sind, gegen das soziale System zu kämpfen. Im Hinblick auf die Polizei berufen sich Chambliss und Seidman (1971) auf den angeblichen Beweis, der zu dem Schluss führt, dass die Polizei als Bürokratie illegal handelt und dass sie in jeder Phase des Gerichtsverfahrens Normen bricht, indem sie bei der Aufklärung von Verbrechen und bei der Verhaftung von Rechtsbrechern brutal vorgeht. Der wichtigste Aspekt der weit verbreiteten Gegenwart des Organisierten Verbrechens besteht darin, dass solche Organisationen ohne die Kooperation des Legalsystems nicht zu existieren in der Lage sind. Nach Chambliss' Ansicht wächst die Entstehung und Durchsetzung des Gesetzes aus dem sozialen Konflikt heraus, und sie trägt zu diesem Konflikt bei und verschlimmert ihn. Chambliss schließt, dass die Probleme tiefer liegen, als er ursprünglich angenommen hatte, dass die Marxisten der Wahrheit näher gekommen seien und dass seine eigene Analyse der marxistischen Richtung näher kommen müsse. Er behauptet, dass Handlungen als kriminell definiert werden, weil es im Interesse der herrschenden Klasse liegt, sie so zu benennen. Er bekräftigt, dass Mitglieder der herrschenden Klasse in der Lage sind, die Gesetze ungestraft zu verletzen, während die Mitglieder der unteren Klassen bestraft würden. Er bringt schließlich vor, dass das Strafgesetz sich ausdehnen werde, um das Proletariat zur Unterwerfung zu zwingen, wenn die kapitalistischen Gesellschaften sich immer mehr industrialisieren und sich die Hans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Kluft zwischen Bourgeoisie und Proletariat erweitert (vgl. Lilly!CullenlBall 2007, 162-168). Im Jahre 1976 betont Chambliss, dass die Kontrolleure der Produktionsmittel auch die Produktion von Werten in der Gesellschaft bestimmen. Das dominante Wertsystem unterdrückt die untergeordneten Klassen und dient den Interessen der herrschenden Klasse. Kapitalistische Gesellschaften sind Klassengesellschaften, in denen der grundlegendste Unterschied zwischen der Klasse besteht, die herrscht, und den Klassen, die für die arbeiten, die herrschen. Chambliss will weg von der Untersuchung devianter Individuen und hin zur Studie gesellschaftlicher Institutionen, die Deviation definieren. Er fasst seine Konflikthypothesen folgendermaßen zusammen {Chambliss 1976, 7): - Handlungen werden als kriminell definiert, weil es im Interesse der herrschenden Klasse liegt, sie so zu benennen. - Mitglieder der herrschenden Klasse sind in der Lage, ungestraft Gesetze zu brechen, während Mitglieder der unteren Klassen bestraft werden. - Personen werden als kriminell etikettiert, ob ihr Verhalten von der Gesellschaft insgesamt toleriert wird oder nicht. - Die unteren Klassen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als kriminell benannt, weil die Kontrolle der Bourgeoisie über den Staat die mittleren und oberen Schichten vor Stigmatisation bewahrt. - Während sich die kapitalistischen Gesellschaften industrialisieren und sich die Kluft zwischen Bourgeoisie und Proletariat erweitert, verstärkt sich auch das Strafgesetz, um das Proletariat zur Unterwerfung zu zwingen. Im Jahre 1999 argumentiert Chambliss, dass das Verbrechen die USA trotz des Rückgangs der Kriminalitätsraten wegen der Fehlinformationen der Massenmedien, der Politiker und des Kriminaljustizsystems „eingeholt" habe. Er erklärt, dass der Rechtsdurchsetzungs-Industriekomplex von der Errichtung von Strafanstalten profitiert und dass Kriminalitäts-Kontroll-Technologien Mythen über die Bedrohung durch Straßenkriminalität aufrechterhalten. Richard Quinney, der bekannteste, am häufigsten zitierte, profilierteste und umstrittenste Konfliktkriminologe des späten 20. Jahrhunderts (Friedrichs 2005, 1364), änderte seine theoretische Perspektive von Zeit zu Zeit (Lilly! CullenlBall 2007, 168). Er argumentiert zunächst, dass das Gesetz in der kapitalistischen Gesellschaft darauf hinarbeitet, das System zu legitimieren und die Unterdrückung und Ausbeutung der unteren Schichten zu ermöglichen. Er fragt, ob wir überhaupt das Gesetz benötigen und ob wir vielleicht ohne Gesetz besser zurechtkämen. In seinem Buch „Crime and Justice in Society" (1969) betont er, dass die politisch organisierte Gesellschaft sich auf eine Interessenstruktur gründet. Diese Struktur ist gekennzeichnet durch ungleiche Verteilung der Macht und durch Konflikt. Das Gesetz wird als Teil der Interessenstruktur der Gesellschaft gesehen. In seinem Werk „The Social Reality of Crime" (1970) wird der Kriminelle als Person definiert, dem man den Status eines Kriminellen auf der Basis eines öffentlichen Urteils zugesprochen hat. Die US-amerikanische Gesellschaft ist ein kriminogenes Sozialsystem. Die Wissenschaft ist die Kopie der Realität. Den Positivismus weist er völlig zurück. Es gibt keinen Grund, an die objek156
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) tive Existenz von irgendetwas zu glauben. Quinney folgt dem Konstruktivismus. Die soziale Realität besteht aus der bedeutungsvollen Welt des Alltagslebens, das durch den Umstand zusammengehalten wird, dass menschliches Verhalten zielgerichtet ist, dass es Bedeutung für die Handelnden besitzt und dass es im Bewusstsein seiner Konsequenzen ausgeführt wird. Das Verbrechen wird als eine Definition menschlichen Verhaltens erkannt, das durch autorisierte Agenten in einer politisch organisierten Gesellschaft geschaffen wird. Kriminelle Definitionen beschreiben Verhalten, das mit den Interessen von Segmenten der Gesellschaft in Konflikt steht, die die Macht haben, die öffentliche Politik zu gestalten und die Durchsetzung und Verwaltung des Strafgesetzes zu bestimmen. Es ist nicht die Qualität des Verhaltens, sondern die Reaktion auf das Verhalten, die es kriminell werden lässt. Die soziale Realität des Verbrechens wird durch die Formulierung und Anwendung krimineller Definitionen konstruiert (Lilly!CullenlBall 2007, 168-171). In seiner Studie „Critique of Legal Order" (1973) knüpft er an diese Gedanken an, die er weiterentwickelt: Positivisten sehen das Recht als natürliches Phänomen an; Konstruktivisten beurteilen es relativistisch, als eine der menschlichen Einrichtungen. Quinney will marxistische Gedanken für unsere Zeit nutzbar machen. Nur mit dem Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft und der Errichtung einer neuen Gesellschaft, die sich auf sozialistische Prinzipien stützt, kann das Verbrechensproblem gelöst werden. Er fordert einen demokratischen Sozialismus, der sich auf Gleichheit gründet und der jedermann die Möglichkeit gibt, an der Kontrolle seines oder ihres Lebens teilzunehmen. In seiner Studie „Class, State, and Crime" (1977) vertritt Quinney die Meinung, der Kapitalismus schaffe eine Überfluss-Gesellschaft, deren Überfluss-Teil sich aus Arbeitslosen zusammensetzt. Nahezu alle Verbrechen in der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft sind tatsächlich Überlebensmittel, Versuche, in einer Gesellschaft zu leben, in der das Überleben durch andere kollektive Mittel nicht gesichert ist. „The Social Reality of Crime" (1970) hat eine konstruktivistische Sicht der Welt angenommen. Die Studie „Critique of Legal Order" (1973) steht ganz in der marxistischen Tradition des strikten Materialismus. Die 2. Auflage seiner Schrift „Class, State, and Crime" (1980) ist stark theologisch gefärbt (Lilly/ CullenIBall 2007, 174). Obwohl Quinney fortfährt, eine sozialistische Lösung des Kriminalitätsproblems zu befürworten, betont er schließlich die religiöse Natur seines Ziels, indem er so weit geht, den marxistischen Materialismus zugunsten der Theologie von Paul Tillich (1886-1965) zurückzuweisen. Er behauptet, dass Gerechtigkeit mehr als eine normative Idee ist. Sie ist angereichert mit der transzendenten Macht des Unbegrenzten und des Ewigen, mit dem Wesen einer göttlichen Offenbarung. Er vertritt die Ansicht, dass Marx sich darin geirrt hat, indem er die Religion als bloßes „Opium fürs Volk" betrachtete. Er argumentiert weiter, dass eine soziale Kritik, die nicht die heilige Bedeutung unserer Existenz in Erwägung zieht, systematisch das volle Potential und das Wesen unseres Seins ausklammert (Lilly!CullenIBall 2007, 174).
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 9.3
Wirkungen
Seit den frühen 1990er Jahren gibt es die friedenstiftende Kriminologie. Im Jahre 1991 ist ein Sammelwerk unter dem Titel „Criminology as Peacemaking" erschienen, das von Harold E. Pepinsky und Richard Quinney herausgegeben worden ist (vgl. auch Quinney 2006). Friedenstiftende Kriminologie akzeptiert die Idee, dass der Konflikt die Wurzel der Kriminalität ist. Sie tritt allerdings für eine Reaktion auf Kriminalität ein, die sich weigert, den Konflikt zu verschärfen und die - stattdessen - auf Schlichtung und Mediation setzt. Während der Krieg gegen Kriminalität („War on Crime") mehr und mehr zu Misstrauen führt, die Bemühungen der Mächtigen sichert, immer mehr Macht über ihre Gegner auszuüben und sogar den Gegner zu zerstören, zielt friedenstiftende Kriminologie darauf ab, Vertrauen und Gemeinschaftssinn zu stärken {Lilly/CullenlBall 2007, 179-181). Für friedenstiftende Kriminologen ist das gegenwärtige Kriminaljustizsystem ein Misserfolg. Denn es wurzelt in eben dem Problem, das es augenscheinlich zu beseitigen bestimmt ist, nämlich in der Gewalt (DeKeseredylSchwartz 1996, 269). Friedenstiftende Kriminologen glauben nicht daran, dass sie Gewalt durch Gewalt bekämpfen können. Solche Taktik kann nur zu gewaltsamen Reaktionen auf unsere eigene Gewalt führen (Arrigo 2006, 66, 67; Fuller 2003, 85-95). Nichtgewaltsame Kriminologen arbeiten mit Mediation, Schlichtung, alternativer Streitregelung, mit Wiedergutmachung (Opferentschädigung) und gemeinnütziger Arbeit (Gemeinschaftsentschädigung). Das zentrale Argument der friedenstiftenden Kriminologen besteht darin, dass individuelle Gewalt nicht durch Staatsgewalt überwunden werden kann. „Wir müssen mit dem Kriminellen leiden; der Kriminelle darf nicht für uns leiden" (so Friedrichs 1998, 82). Die kriminologische Konflikttheorie hat verhältnismäßig wenig direkten Einfluss auf die konventionelle Kriminologie und die herkömmliche Kriminalpolitik gehabt. Marxistische Konflikttheoretiker bestehen darauf, dass die konventionelle Kriminologie dazu tendiert, das Gesetz als etwas Gegebenes zu akzeptieren, sich auf das Verhalten der Täter zu konzentrieren und nach etwas Pathologischem in diesem Verhalten in biologischen, psychologischen oder sozialen Faktoren zu suchen. Die Kriminellen werden als unterschiedlich zum Rest der Gesellschaft definiert, während in Wahrheit das Problem in der Schaffung und Durchsetzung von Gesetzen liegt, die Kriminelle produzieren. Diese Kritik am Positivismus ist unzutreffend. Die moderne Hauptrichtung der Kriminologie ist nicht nur täterorientiert. Die Wurzeln des Verbrechens liegen nur zu geringen Teilen im Pathologischen. Die sozialwissenschaftliche Kriminologie ist an einer Entpathologisierung des Kriminellen und seines Verhaltens interessiert. Ursachen des Verbrechens liegen in der Sozialstruktur und in der Interaktion zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft. Vorbeugung und Kontrolle der Kriminalität werden auf ihre Effektivität hin evaluiert. Gesetzgebung und Kriminaljustiz unterliegen der kriminologischen Kontrolle. Für die Hauptstrom-Kriminologie stehen Gesetzgebung und Kriminaljustiz allerdings nicht im Vordergrund. Von einer Kriminalisierung des Rechtsbrechers durch die Instanzen der Sozialkontrolle kann nicht die Rede sein.
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) 10
Kritische Theorien
10.1 Die kritische, radikale Kriminologie In den 60er und 70er Jahren war die kritische, radikale Theorie sehr populär. Sie wollte die liberale, pragmatische Hauptstrom-Kriminologie ersetzen und zunächst eine Alternativ-Kriminologie aufbauen. Speziell in Deutschland war und ist die kritische, radikale Theorie bei einer starken Minderheit von (jungen) Kriminologen beliebt (vgl. die Sammelwerke: Janssen!Kaulitzky! Michalowski 1988 und Bussmann/ Kreissl 1996). Nach der kritischen, radikalen Kriminologie definieren die Mächtigen, was Verbrechen ist, und sie schützen ihre Herrschaftsinteressen durch das Kriminaljustizsystem. Die Machtlosen werden kriminalisiert. Verbrechen sind vor allem Verletzungen der Menschenrechte (Henry 2005, 348). Kritische, radikale Kriminologen stehen in Opposition zur gegenwärtigen kapitalistischen Machtstruktur der Gesellschaft, weil sie auf Ungleichheit beruht. Das Kriminaljustizsystem, das die Straftäter aus der Gesellschaft ausschließt ( Young 1999), spiegelt die herrschende Machtstruktur wider. Kritische, radikale Kriminologen wollen die gesamte Sozialstruktur und das politische System ändern (vgl. auch das Sammelwerk: Waltoni Young 1998). Die britischen Kriminologen Ian Taylor, Paul Walton und Jock Young (1973; 1975) haben diese Auffassung mit einigem Erfolg vertreten. In Deutschland hat vor allem Fritz Sack (1974, 1978) diese Ansicht bekannt gemacht. Die Grundlage der Kriminalität sind Widersprüche des Kapitalismus, der die Arbeiterklasse unterdrückt und ausbeutet (vgl. das Sammelwerk von Carrington!Hogg 2002; vgl. für Europa auch Swaaningen 1997). Die Verbrechen der Arbeiterklasse sind Anpassungs- und Widerstandsdelikte. Die Verbrechen der Kapitalisten sind Beherrschungs- und Unterdrückungsdelikte. Die Vertreter der marxistischen Theorie haben den Vergleich der kapitalistischen Staaten mit dem real existierenden Sozialismus gescheut. Sie haben insbesondere die enthumanisierenden Lebensbedingungen im real existierenden Sozialismus außer Betracht gelassen (EinstadterlHenry 2006, 257). Sie haben sich stets auf zukünftige ideale sozialistische Systeme berufen. Hierdurch ist ihre Theorie empirisch nicht nachweisbar geworden (Akers!Seilers 2004, 220-223). Nach der marxistischen Theorie müssten alle kapitalistischen Systeme eine hohe Kriminalitätsrate haben. Das ist jedoch nicht der Fall, wie die Beispiele der Schweiz und Japans zeigen {Adler 1983). 10.2 Der linke Realismus Der linke Realismus, der Mitte der 80er Jahre in Großbritannien entstanden ist ( Young 1987) und der nicht nur Einfluss auf Europa, sondern auch in sehr begrenztem Maße auf Nordamerika (Schwartz 2002, 439) und Australien ausübt, vertritt eine „Theorie", die aus vier Variablen besteht: Opfer, Täter, Staat und Gemeinschaft (DeKeseredylSchwartz 1996, 247). Linke Realisten benutzen die Metapher des Vierecks der Kriminalität, die unterstreicht, dass Kriminologen die folgenden vier Variablen studieren sollten, die miteinander in Interaktion stehen: die Opfer, die Täter, den Staat (die formellen Agenten der Sozialkontrolle) und die allgemeine Öffentlichkeit, die auf Verbrechen reagiert, indem sie die informelle Kontrolle ausübt (Alvi 2005, Hans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 933). Relative, nicht absolute Armut ist der Schlüssel zum Verständnis der Kriminalität (DeKeseredy 2003, 32). Relative Deprivation bezieht sich auf die Idee, dass sich Menschen im Vergleich zu solchen Klassen in der Sozialstruktur unterdrückt fühlen, mit denen sie sich identifizieren und denen sie anzugehören streben. Arme Leute fühlen sich nicht im Nachteil, wenn alle um sie herum arm sind. Das ist allerdings anders in einer Gesellschaft mit eklatanter sozioökonomischer Ungleichheit. In dieser Gesellschaft fühlen sie sich zurückgesetzt. Gesellschaftlicher Ausschluss ist ein weiteres Konstrukt des linken Realismus (Young 1999). Kapitalistische Gesellschaften sind ausschließende Gesellschaften. Sie schließen die Arbeitslosen, die Unterprivilegierten, die Opfer und die Rechtsbrecher aus und marginalisieren sie. Ohne die Opfer der „Straßenkriminalität" zu übersehen, gründet sich der linke Realismus nicht nur auf das Verständnis für die Viktimisierung des Täters durch den Staat, sondern auch auf die Einsicht der Viktimisierung des Opfers durch den Täter. Die Perspektive zieht die Furcht der machtlosen Opfer in Betracht. Sie nimmt das Verbrechensopfer ernst. Linke Realisten (YounglMatthews 1992; Matthews!Young 1992) kritisieren, dass kritische, radikale Theorie, die sie idealistische Kriminologie nennen, bisher die Schwere des Verbrechens und den unverhältnismäßig großen Schaden unbeachtet gelassen hat, den die Opfer der Arbeiterklasse durch das Verbrechen erleiden. Sie betonen, dass sich die Kriminalität der Arbeiterklasse hauptsächlich wieder gegen die Arbeiterklasse richtet und dass die Kriminaljustiz wirkliche Fortschritte der Machtlosen über die Mächtigen erzielt hat. Linke Realisten bestehen darauf, dass eine der größten Unzulänglichkeiten der kritischen, radikalen Kriminologie darin besteht, dass sie in erster Linie in ihrer Orientierung theoretisch und abstrakt geblieben ist und dass sie auf diese Weise die empirische Forschung vernachlässigt hat (Alvi 2005, 932). Der Unterschied des linken Realismus zu liberalen, pragmatischen Auffassungen der Hauptstrom-Kriminologie ist nicht sehr groß (Gibbons 1994, 170).
10.3 Anarchistische und kulturelle Theorie Ist für die marxistische Theorie der Kapitalismus Stein des Anstoßes, so wendet sich der Anarchismus gegen alle Systeme der Macht und der Autorität. Das Kriminaljustizsystem soll durch eine warme, lebendige „Angesicht-zu-Angesicht"-Justiz, durch ein System kollektiver Verhandlung als Mittel der Problemlösung ersetzt werden. Autorität verwirklicht sich nicht nur in Gefängniszellen und in Armut, sondern in der Errichtung und Verteidigung einer Erkenntnistheorie der Universalität und der Wahrheit (Ferrell 1994; vgl. auch die Beiträge in: FerrelUSanders 1995). Der Anarchismus hat sich die Enthüllung zum Ziel gesetzt, dass die Gerechtigkeit, durch die das Legalsystem sich selbst definiert, in Wirklichkeit eine Fassade für ein ausgeklügeltes System institutionalisierter Ungerechtigkeit ist. Er wendet sich gegen die relative Machtlosigkeit und Randständigkeit der Jugend. Graffiti-„Malerei", Auto- und Motorradraserei und Vandalismus sind Widerstandsverbrechen gegen die Autorität. Ladendiebstahl untergräbt die kapitalistische Kultur. Graffiti-„Malerei" ist jugendliches Abenteuer. Die Freude daran folgt nicht nur aus ihrer Illegalität, sondern aus dem schöpferischen Spiel und dem ehrfurchtslosen Humor der Täterinnen und Täter und daraus, dass ihre Bedeutung als anarchistischer Widerstand bekräftigt wird. Die 160
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) anarchistische Theorie ist unrealistisch und eine empirisch nicht nachprüfbare „Verschwörungstheorie" {EinstadterlHenry 2006, 256). Sie rechtfertigt einzelne Formen der Kriminalität mehr als ihnen vorzubeugen und sie zu kontrollieren. Mit der anarchistischen ist die kulturelle Theorie theoretisch und methodologisch verwandt. Kulturelle Kriminologie untersucht die vielen Wege, in denen die Handlungen und Annahmen der Kriminellen, die politischen und organisatorischen Ideologien der Kriminaljustiz und die Dynamiken der Massenmedien und der populären Kultur im Alltagsleben zusammenlaufen (Ferrell 2005). Kulturelle Kriminologie will Verbrechen und Kriminaljustiz als kulturelle Konstruktionen „verstehen". Sie untersucht das Symbolische am symbolischen Interaktionismus. Die Massenmedien konstruieren Verbrechen zur Unterhaltung. Die beständige öffentliche Überdramatisierung des Verbrechens im Interesse der Fernseh-Einschaltquoten, der politischen Karrieren und der Errichtung von Gefängnissen bestätigt die These, dass das, was wahr am Verbrechen ist, sich tatsächlich allein auf Fiktion gründet (Ferrell 2003). Kulturelle Kriminologie hat ein methodologisches Prinzip und eine theoretische Orientierung in Kraft gesetzt, die ältere positivistische Ideen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Objektivität zugunsten einer Kriminologie zurückweisen, die ihre Basis in der kritischen Interpretation und im aufmerksamen „Verstehen" hat (Ferrell 2005). Kulturelle Kriminologen untersuchen die vielen Wege, in denen die gegenwärtige Gesellschaft Verbrechen in die Massenmedien und so in die Unterhaltung bringt: durch Gerichtssaal-Kameras, durch Kriminalfilme, durch „Realitäts"-Fernsehprogramme und durch die Verbreitung von Kriminalitätsnachrichten (Ferrell 2005; Schwartz 2002, 439). 10.4 Postmodernistische und konstitutive Theorie Postmodernismus ist eine nihilistische Reaktion auf die positive Sicherheit der Aufklärung (Arrigo 2006, 67/68). Mit Modernismus bezeichnet man die historische Periode, die dem Feudalismus des Mittelalters folgte und die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte. Er löste die religiös orientierte Gesellschaft ab, die an die göttliche Macht, an die kosmische Zentriertheit der Erde, an das Übernatürliche, die Subjektivität und die örtliche Begrenztheit glaubte. Der Modernismus ersetzte diesen Glauben durch das Vertrauen in die Werte der Erneuerung, der Rationalität und der objektiven Analyse, die auf Fortschritt und die Entdeckung der Wahrheit gerichtet waren. Im modernen Zeitalter entwickelte sich die Wissenschaft zur alles beherrschenden Methode, die Welt zu verstehen und zu kontrollieren. Man war von der Überlegenheit der rationalen Logik überzeugt. Der Postmodernismus {EinstadterlHenry 2006, 283-289) bezweifelt die Idee, die Realität der Welt erkennen zu können. Er stellt die Überlegenheit der „Wissenschaft" als Methode der Analyse und der Erklärung in Frage. Ihm erscheinen alle Versuche als fraglich, das Leben auf das Wesentliche und auf seine Ursachen zurückzuführen. Er hegt Bedenken gegen den Versuch von Institutionen und Individuen, als „Experten" ihr Wissen über das anderer zu stellen. Wahrheit ist für ihn eine Form der Domination {DeKeseredylSchwartz 1996, 273). Am Ende der 80er Jahre fand der Postmodernismus Eingang in die Kriminologie. Man versuchte, den „Entkonstruktionismus" („Deconstructionism") und die ChaosHans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Theorie auf die Kriminologie zu übertragen. Der Entkonstruktionismus bricht das ab und deckt das auf, was aufgebaut worden ist. Die konstitutive (grundlegende) Kriminologie (HenryIMilovanovic 1994, 1996) ist eine Richtung des Postmodernismus. Ihr Anliegen kann in zwei Grundthesen zusammengefasst werden: - Was Kriminalität ist, wird nicht durch das Strafgesetzbuch definiert. Verbrechen ist vielmehr die Fähigkeit oder die Macht, einem anderen seinen Willen in jedwedem sozialen Zusammenhang aufzuzwingen. Es ist die Macht, andere zu verneinen. Das Verbrechensopfer wird zur Nicht-Person, zum Nicht-Menschen degradiert. Das macht seinen Schmerz und sein Leiden aus (vgl. auch die Beiträge in dem Sammelwerk: HenryIMilovanovic 1999). - Die konstitutive Kriminologie weist traditionelle Ansätze der kriminologischen Theorie zurück, die darin bestehen, das Verbrechen auf Mikro-, Meso- und Makro-Ursachen zurückzuführen. Statt dessen will sie jede menschliche Beziehung sorgfaltig analysieren, durch die in tatsächlicher oder möglicher Weise Schmerz und Leiden einem anderen auferlegt werden. Diese Beziehung soll in ihrem vollen strukturellen Zusammenhang untersucht, aufgedeckt und in unschädlicher Weise umstrukturiert werden (Schwartz 2002,439/440). Um das Wesen der konstitutiven Kriminologie nicht zu verfalschen, werden im Folgenden einige Kernsätze führender konstitutiver Kriminologen wiedergegeben: Postmodernismus ist eine Bewegung unter sozialen Theoretikern und unter Philosophen, die skeptisch gegenüber der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Methode und ihren Versprechen ist, Fortschritte mit sich zu bringen. Die Grundpositionen von denen, die sich postmodernistisch nennen, findet sich in einer Anhäufung von Ideen, zu denen die Folgenden gehören: Die Wahrheit ist unerkennbar. Rationales Denken ist nur eine Art des Denkens und nicht unbedingt eine überlegene Art. Rationales Denken ist eine Form der Macht. Wissen ist nicht kumulativ. Fakten sind bloß soziale Konstruktionen, die durch verschiedene Wahrheitsansprüche unterstützt werden, die einen Diskurs oder eine Art des Sprechens über Phänomene bilden (HenrylMilova.novie 2005, 1245). Konstitutive Kriminologie glaubt - in Übereinstimmung mit ihren postmodernen Wurzeln - , dass Kriminalität und ihre Kontrolle nicht getrennt von ihren historischen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen wahrgenommen werden kann, in denen sie entstanden sind. Konstitutive Kriminologen argumentieren, dass es die Machtbeziehungen sind, die von Menschen durch ihren Diskurs konstruiert werden und die die Motivation, die Skripte und die Stützen für das Spiel zur Verfügung stellen, das die Verletzungen erzeugt, die als Verbrechen benannt werden (HenryIMilovanovic 2005, 1246). Schaden wird nicht so sehr durch Ungleichheit hervorgebracht, sondern er ist eingebettet in Beziehungen der Ungleichheit. Auf diese Weise - anstatt spezifische Verbrechensursachen zu ermitteln - bemüht sich die konstitutive Kriminologie, die Wege aufzeigen, in denen Unrecht das Hauptergebnis ungleicher Machtbeziehungen ist, und die Wege darzustellen, in denen einige dieser Schäden als Verbrechen etikettiert werden. Verbrecher sind nichts anderes als Menschen, denen man keinen Respekt entgegenbringt, weil sie unterschiedlich sind (HenryIMilovanovic 2005, 1247). Der Gebrauch der Unterschiedlichkeit, anderen das Recht zu verweigern, verschieden zu sein und einen 162
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) Unterschied zu machen, konstituiert den Schaden, der als Verbrechen benannt wird. Kriminaljustiz ist ein exzessiver Hauptinvestor in Schädigung. Konstitutive Kriminologie verlangt, dass das Verbrechen als ein beständiger diskursiver Prozess entkonstruiert werden muss und dass eine Rekonstruierung stattzufinden hat (Henry/ Milovanovic 2005, 1247/1248). Konstitutitive Kriminologie versteht die Kriminaljustiz, wie sie traditionell praktiziert wird, als Teil desselben Problems, das sie zu kontrollieren vorgibt. Die Grundannahme der konstitutiven Kriminologie über Verbrechen, Täter und Opfer piaziert Kriminalität nicht in der Person und nicht in der Struktur oder Kultur, sondern in die laufende Hervorbringung sozial schädlicher Machtbeziehungen (HenryIMilovanovic 2003). An der konstitutiven Kriminologie kann kritisiert werden, dass sie keine lebensfähige theoretische Alternative anbietet und dass sie im Hinblick auf das Kriminalitätsproblem unrealistisch ist (AkerslSeilers 2004,238).
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Die feministische Kriminologie
Die feministische Perspektive in der Kriminologie hat sich in den 70er, 80er und 90er Jahren entwickelt. Vorher wurden Rechtsbrecherinnen als körperlich, geistig und seelisch gestörte Persönlichkeiten angesehen (Lombroso!Ferrerò 2004). Die sozialstrukturellen Probleme der weiblichen Kriminalität wurden nicht diskutiert. Es geht dem heutigen Feminismus nicht nur um die Erörterung von Frauenfragen, nicht nur um die Ursachen der Unterdrükung von Frauen und Mädchen und um Wege, ihre Benachteiligung zu beenden. Es ist vielmehr das Anliegen des Feminismus in der Kriminologie, die Erfahrungen und Sichtweisen der Frauen zu allen kriminologischen Problemen besser zum Tragen zu bringen (Chesney-Lind 2006; Simpson 1998). Feministische Theorien stellen eine große Variationsbreite des Denkens dar. Sie sind aktivistisch und bestrebt, im sozialen Wandel die Vernachlässigung und Unterdrückung der Frauen und Mädchen zu beenden (D'Unger 2005, 559). Feministinnen und Feministen behaupten, dass es keine geschlechtsneutralen Theorien gibt, die in gleicher Weise für Jungen und Männer wie für Mädchen und Frauen anwendbar sind. Sie betonen, dass das Verständnis der sozialen und biologischen Welt hauptsächlich durch Männer entwickelt und verbreitet worden ist, oft indem sie ausschließlich männliche Stichproben verwendeten. Als Ergebnis schlossen solche Untersuchungen häufig Frauen aus; sie repräsentierten sie nicht, und sie unterdrückten sie weiterhin. In feministischer Sicht argumentiert man, dass sich die Kriminologie zu lange mit der Erklärung von Straftaten von Männern gegen Männer aufgehalten hat. Dabei ist die Verwicklung der Frauen und Mädchen in das Verbrechen sowohl als Täterinnen wie auch als Opfer unberücksichtigt geblieben (Fagan!Belknap 2002, 685-688). Geschlecht wird nicht naturverwurzelt in der Biologie gesehen, sondern als ein komplexes soziales, historisches und kulturelles Produkt beurteilt (Daly!Chesney-Lind 2003). Eine patriarchische Gesellschaft, in der die Rechte und Privilegien der Männer übergeordnet und die der Frauen untergeordnet sind, ist für die übergroße Mehrheit der Gesellschaften in der Geschichte und in der Welt charakteristisch (AkerslSeilers 2004, 246). Hans Joachim
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft Der Feminismus in der Kriminologie geht von fünf Prinzipien aus (DalylChesneyLind 1996, 343): - Das Geschlecht ist nicht etwa nur ein natürliches Faktum, sondern vielmehr ein komplexes soziales, historisches und kulturelles Produkt. - Geschlecht und Geschlechtsbeziehungen ordnen soziales Leben und soziale Institutionen in grundlegender Weise. - Geschlechtsbeziehungen und Konstrukte der Maskulinität und der Feminität sind nicht symmetrisch. Sie sind vielmehr gegründet auf das Organisationsprinzip der männlichen Überlegenheit und der männlichen sozialen und politisch-ökonomischen Domination über Frauen. - Wissenssysteme spiegeln die Sichtweise der Männer im Hinblick auf die natürliche und soziale Welt wider. Die Produktion von Wissen ist geschlechtsbedingt. - Frauen und Mädchen sollten im Zentrum der intellektuellen Untersuchung stehen und nicht an der Peripherie, in Unsichtbarkeit und als Anhängsel der Männer. Eine einheitliche feministische Theorie gibt es in der Kriminologie nicht (Simpson 1996, 320, 322). Man unterscheidet vielmehr die folgenden fünf Richtungen (Barkan 2006, 249/250; Chesney-Lind 2006; Chesney-LindlFaith 2001; Beimel Messerschmidt 2006): - Der liberale Feminismus führt die Ungleichheit und die Diskriminierung der Frauen und Mädchen auf eine andersgeartete Sozialisation in Geschlechtsrollen und -einstellungen zurück. Er erforscht die Ungleichheit der Frauen und Mädchen im Hinblick auf Geschlechtsrollen-Sozialisation, auf den Mangel an Gelegenheit und auf Diskriminierung, an der Frauen und Mädchen leiden. Die liberale feministische Theorie war und ist tief beeinflusst durch die Ideen der Menschenrechte, der Gleichheit und der Freiheiten. - Der radikale Feminismus sieht das Problem der Ungleichheit der Geschlechter und der Unterordnung der Frauen und Mädchen in der Macht der Männer, im Patriarchat, das seine Wurzeln in der männlichen Aggression und Domination innerhalb des privaten und öffentlichen Bereichs hat. Das Patriarchat kontrolliert die weibliche Arbeitskraft und die weibliche Sexualität. Radikaler Feminismus beurteilt maskuline Macht und maskulines Privileg als die Wurzelursachen aller sozialer Beziehungen und der Ungleichheit zwischen Mann und Frau. Radikale Feministen finden die bedeutsamsten Beziehungen in einer Gesellschaft im Patriarchat, in der maskulinen Kontrolle weiblicher Arbeitskraft und Sexualität. Alle anderen Beziehungen, z.B. die Schicht, sind sekundär und leiten sich aus den Beziehungen zwischen Mann und Frau her. - Nach dem marxistischen Feminismus beruhen die Geschlechts- und Klassenunterschiede auf den Eigentumsverhältnissen und auf der kapitalistischen Produktionsweise. Der Schlüssel-Erklärungs-Faktor ist die Organisation der Wirtschaft. Frauen werden vor allem durch das Kapital und erst in zweiter Linie durch Männer beherrscht. Für marxistische Feministinnen und Feministen ist die männliche Dominanz eine ideologische Manifestation einer Klassengesellschaft, in der Frauen und Mädchen in erster Linie durch das Kapital und erst an zweiter Stelle durch Männer dominiert werden. 164
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) - Nach der sozialistisch-feministischen Theorie werden unsere Lebenserfahrungen sowohl durch die Klasse wie durch das Geschlecht geformt, die untrennbar miteinander verflochten sind. Die Interaktion zwischen Klasse und Geschlecht bestimmt die Organisation der Gesellschaft und strukturiert das Verbrechen in ihr. Die Männer sind die Mächtigen; sie haben deshalb mehr legale und illegale Möglichkeiten, um Verbrechen zu begehen. Sozialistischer Feminismus kombiniert marxistische und radikale Perspektiven, indem er Klasse und Geschlecht oder Kapitalismus und Patriarchat als gleichwertig beurteilt. Nach dem sozialistischen Feminismus interagieren Klasse- und Geschlechtsbeziehungen; sie reproduzieren sich wechselseitig. - Multikultureller Feminismus, auch multirassischer Feminismus genannt, unterstreicht die Bedeutung der Betrachtung von Rasse und Ethnizität genauso wie von Geschlecht und Klasse. Auf diese Weise haben schwarze Frauen höhere Raten sowohl an Kriminalität wie an Viktimisierung. Multikulturelle feministische Theorie betont sowohl die Struktur wie die Kultur beim Verstehen der Kriminalität wie der Viktimisierung afrikanisch-amerikanischer Frauen. Die Theorie der Maskulinität von James W. Messerschmidt (2006) ist - streng genommen - keine feministische Theorie. Sie hängt aber eng mit dem kriminologischen Feminismus zusammen und wird seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts diskutiert. Nach dieser Theorie wird Maskulinität hervorgebracht; sie ist nichts, was Männern angetan wird oder was ein für alle Mal vorhanden ist. Maskulinität ist niemals statisch, niemals ein fertiges Produkt. Männer konstruieren Maskulinitäten in spezifischen sozialen Situationen. Hegemonische Maskulinität ist eine idealisierte Form der Maskulinität in einer gegebenen historischen Lage. In Messerschmidts Sicht wird in heutigen westlichen Industrienationen hegemonische Maskulinität durch Arbeit im bezahlten Arbeitsmarkt, durch Unterordnung der Frauen und Mädchen, durch Heterosexualität und durch getriebene, unkontrollierbare Sexualität der Männer definiert. Für viele Männer dient das Verbrechen als willkommene Ressource, um ihr Geschlecht herauszustellen und sich von alledem abzugrenzen, was feminin ist. Kriminalität ist für Männer nicht einfach eine Erweiterung ihrer Geschlechtsrolle. Verbrechen durch Männer sind eine Form der sozialen Praxis, die als Ressource herangezogen wird, wenn andere Ressourcen zur Vollendung der Maskulinität unerreichbar sind. Die feministischen Richtungen in der Kriminologie bearbeiten insbesondere die vier folgenden Probleme (Barkan 2006, 250-255): - das Verallgemeinerungsproblem: Es ist fraglich, ob die bisher entwickelten kriminologischen Theorien ohne weiteres auf Frauen und Mädchen anwendbar sind. Kriminologische Theorien beziehen sich zumeist auf Männer, und sie sind vor allem mit empirischen Daten von Männern getestet worden. - das Geschlechtsverhältnis-Problem: Es bedarf der näheren Erklärung, warum Frauen und Mädchen weniger und leichtere Kriminalität und Delinquenz verüben als Männer und Jungen und welche Bedeutung der Männlichkeit für die Kriminalitätsentwicklung zukommt. Einige Wissenschaftler beurteilen Männlichkeit oder Maskulinität als kriminogene Bedingungen. Hans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft - das Viktimisierungsproblem: Die Erscheinungsformen und Ursachen der Anwendung physischer und sexueller Gewalt der Männer gegenüber Frauen müssen noch näher herausgearbeitet werden. Die erste feministische Arbeit in den 70er Jahren konzentrierte sich auf die Viktimisierung von Frauen durch Vergewaltigung und durch familiäre Gewalt, die bis dahin wenig Aufmerksamkeit gefunden hatten. - das Problem der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Kriminaljustizsystem. Es ist fraglich, ob das Prinzip der Maskulinität, der Feminität oder der Geschlechtsneutralität das Klima im Kriminaljustizsystem bestimmen soll. Der empirische Beweis für eine Geschlechtsdiskriminierung im Kriminaljustizsystem ist sehr unbeständig. Frauen werden für geringere Delikte etwas punitiver, für schwere Straftaten etwas weniger punitiv behandelt. Die Wirkung des Geschlechts ist schwach (Barkan 2006,255). Feministische Theorie steht immer noch in ihren Anfangen. Aus der geringen Zahl der direkten Tests ihrer Hypothesen und aus den Ausführungen ihrer kriminalpolitischen Folgerungen hat sich bis jetzt keine klare Bewertung ihrer empirischen Validität und ihrer kriminalpolitischen Nützlichkeit ergeben (AkerslSeilers 2004, 264). Man bezweifelt, ob das Geschlecht wirklich die zentrale sozialstrukturelle Kategorie ist, wie es der Feminismus behauptet (EinstadterlHenry 2006, 278-280). Trotz dieser Kritik unterliegt es keinem Zweifel, dass Viktimologie und Feminismus sich wechselseitig gefördert haben (Platek 1995, 131) und dass der Feminismus die Kriminologie bereits in bleibender Weise beeinflusst hat. Die feministisch orientierte Kriminologie, obgleich relativ neu, hat bereits bedeutsame Beiträge zur Kriminologie geleistet und wird auch in Zukunft weiter gedeihen (DowneslRock 1998, 321-325).
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Theoretische Integration
Theoretische Integration bedeutet Kombination von zwei oder mehreren bereits existierenden Theorien mittlerer Reichweite zu einer umfassenderen Theorie (Barkan 2006, 224; Akers/Sellers 2004, 267-288; Barak 1998). Über den Wert einer solchen Integration gibt es unterschiedliche Meinungen. Befürwortet man ein interdisziplinäres Vorgehen in der Kriminologie, so spricht man sich in der Regel für eine Verschmelzung verschiedener Gesichtspunkte aus. Sieht man die Kriminologie mehr als multidisziplinäre Wissenschaft, so lässt man die verschiedenen Theorien mittlerer Reichweite in Wettbewerb miteinander treten (vgl. zu dem Streit über die Theorienintegration die Beiträge in: Messner/Krohn/Liska 1989). Integration will das Beste aus jeder Theorie herausnehmen und dann zu einer umfassenderen neuen Theorie zusammenfügen (vgl. zur Integration von Theorien auch: Menard 2005; Barak 2002; Dunham/Wilson 2001). Aber viele Aussagen der Einzeltheorien widersprechen sich. Außerdem sind viele Einzeltheorien Ausdruck des „Zeitgeistes" (Hegel) der jeweiligen historischen Periode. Gleichwohl schließen sich zahlreiche Theorien gegenseitig nicht aus, sondern sie können sich sinnvoll ergänzen. Deshalb sind die Integrationsversuche außerordentlich zahlreich (Void/Bernard!Snipes 2002, 301-317; Bernard 2001; Bernard/Snipes 1996). Hierbei wird am meisten von der Lern- und Kontrolltheorie Gebrauch gemacht. Es würde in diesem Zusammenhang zu weit führen, einen umfassen166
Hans Joachim
Schneider
1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) den Überblick über alle bisherigen Integrationsversuche zu geben, zumal keiner bis jetzt allgemein anerkannt worden ist. Als Beispiel für die mannigfaltigen Theorienkombinationen wird im Folgenden etwas näher auf die Machtkontrolltheorie (Hagan 2006; HaganlSimpson!Gillis 2002) eingegangen, die die marxistische und feministische Theorie mit der Konflikt-, Kontrollund rationalen Wahltheorie verbunden und die eine etwas breitere Diskussion entfacht hat. Sie will das niedrigere Ausmaß und die geringere Schwere der Frauenkriminalität und der Mädchendelinquenz aus Patriarchat und Klassenstruktur erklären. Beide werden für die stärkere Kontrolle der Frauen und Mädchen innerhalb der Familie verantwortlich gemacht. Die Machtstellung, die die erwachsenen Familienmitglieder am Arbeitsplatz haben, formt die soziale Stellung, die sie in ihrer Familie einnehmen. Berufsbeziehungen strukturieren Familienbeziehungen zwischen den Eltern, zwischen Eltern und Kindern und speziell zwischen Mutter und Tochter. Die Macht der sozialen Klasse wirkt sich am Arbeitsplatz aus. Die Menschen haben eine verhältnismäßige Kontrollmacht über einander. Der Eigentümer der Produktionsmittel kontrolliert den Produktionsprozess. Die Manager und Aufseher kontrollieren die Arbeitnehmer, die niemanden kontrollieren und die lediglich ihre Arbeitskraft feilbieten. Die Arbeitslosen, die zur „Überfluss-Bevölkerung" gehören, haben nicht einmal die Macht, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Menschen, die andere kontrollieren, gehören zur Herrschafts-, zur Befehlsklasse („Command-Class"). Die Menschen, die kontrolliert werden, machen die Befehlsempfänger-Klasse („ObeyClass") aus. Die Machtpositionen der sozialen Klassen übertragen sich auf das Familienleben. Die Personen, die relativ mächtige Wirtschaftspositionen der Eigentümerschaft und der Autorität innehaben, haben im Vergleich zu den Personen, die weniger oder gar keine Wirtschaftsmacht besitzen, mehr Macht im familiären Bereich. Die zweite Dimension der Machtkontrolltheorie ist die Unterscheidung zwischen patriarchalischer und partnerschaftlicher Familienstruktur. In der patriarchalischen Familie, in der eine strenge familiäre Arbeitsteilung zwischen dem berufstätigen M a n n und der Hausfrau herrscht, kontrollieren die Männer ihre Ehefrauen und Töchter. Die Mütter passen im Sozialisationsprozess ihre Töchter der traditionellen Arbeitsteilung der Geschlechter an. Im patriarchalischen Familientyp werden die Mädchen und jungen Frauen aufgrund der männlichen Domination und Beaufsichtigung stärker kontrolliert, und sie begehen deshalb weniger Delinquenz als Jungen und junge Männer, denen man größere Freiräume zugesteht. Demgegenüber ist in der partnerschaftlichen Familie mit niedrigerer Arbeitsteilung, etwa in der Mittelschichtsfamilie, in der beide Elternteile berufstätig sind, die soziale Macht weniger nach dem Geschlecht strukturiert. Als Ergebnis herrscht in einer solchen Familie eine geringere geschlechtsorientierte Sozialisation, und die Mütter überwachen ihre Töchter weniger. Weil die Mädchen und jungen Frauen demzufolge dieselben Risiken eingehen wie Jungen und junge Männer, nähert sich ihre Delinquenz in Ausmaß und Schwere der männlichen Delinquenz an. Bei der Erziehung durch einen Elternteil ist derselbe Erfolg zu beobachten. Die Machtkontrolltheorie ist eine der wenigen integrierten Theorien, die verschiedene kritische strukturelle Makro-Theorien mit individuellen Mikro-Theorien kombinieHans Joachim Schneider
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1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft ren. Zumeist werden Mikro-Theorien miteinander verbunden. Feministinnen und Feministen haben die Machtkontrolltheorie heftig kritisiert (Chesney-Lind 1989, 20; Chesney-LindlSheldon 1998, 120/121). Die Emanzipation der Frau und ihre Berufstätigkeit würden für die Delinquenz der Mädchen und jungen Frauen verantwortlich gemacht. Die Machtkontrolltheorie vertrete die These: Mutters Befreiung oder Berufstätigkeit verursacht die Delikte der Töchter. Diese These sei unakzeptabel. In einer empirischen Studie wurde festgestellt, dass der Unterschied zwischen patriarchalischem und partnerschaftlichem Familientyp keinen Einfluss auf die Verursachung der Kinder- und Jugenddelinquenz hat (MorashlChesney-Lind 1991). Schließlich wird an der Machtkontrolltheorie bemängelt {Curran!Renzetti 2001, 216-219), dass sie bei ihren Familientypen wichtige Schichtunterschiede und Verschiedenheiten in rassischer und ethnischer Hinsicht sowie im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehung übersieht.
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Beurteilung kriminologischer Theorien
Der Überblick über das letzte halbe Jahrhundert internationaler kriminologischer Theoriediskussion hat gezeigt, dass nur wenige Theorien empirisch valide und praktisch anwendbar sind. Von den sozialstrukturellen Theorien gilt das für die modernisierte Theorie der sozialen Desorganisation. Auch die sozialpsychologischen Theorien sind in der Praxis beliebt und empirisch ausreichend abgesichert. Das trifft vor allem für die soziale Lerntheorie zu, die nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Kriminologie beeindrukende Akzeptanz gefunden hat. Die Kontroll- und Interaktionstheorien sind wertvolle Vervollständigungen der kognitiv-sozialen Lerntheorie, treten indessen in ihrer empirischen Validität und in ihrer praktischen Anwendbarkeit hinter die Bedeutung der kognitiv-sozialen Lerntheorie zurück. Vier Entwicklungen haben sich für den Fortschritt der kriminologischen Forschung und Praxis als außerordentlich aussichtsreich erwiesen: - Die institutionelle Anomietheorie hat in Nordamerika großes Aufsehen erregt. Heftige Debatten haben sich an ihr entzündet. - Die Lebenslauftheorien sind bedeutungsvolle Neuentwicklungen. Sie müssen weiter ausgebaut und mit opferorientierten und sozialstrukturellen Ansätzen verbunden (integriert) werden. - Die viktimologischen Theorien, die nicht in diesem Artikel, sondern im Artikel Viktimologie dargestellt werden, haben neue kriminalätiologische Gesichtspunkte eröffnet. Sie müssen allerdings stärker dynamisiert und in täterorientierte und sozialstrukturelle Ansätze eingebaut (integriert) werden. - Die feministischen Theorien haben die Kriminologie wesentlich beeinflusst und bereichert. Mit Recht haben feministische Aspekte in der internationalen kriminologischen Theoriediskussion der letzten drei Jahrzehnte eine wichtige Rolle gespielt. Die kritischen, radikalen und die postmodernistischen Theorien wollen die liberale Hauptstrom-Kriminologie ablösen. Das haben sie während der Vergangenheit nicht 168
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1.4 Theorien der Kriminologie (Kriminalitätsursachen) geschafft, und sie werden es auch in Zukunft nicht erreichen. Immerhin haben sie durch alternative Perspektiven die internationale kriminologische Theoriediskussion bereichert. Das gilt auch für die rationale Wahltheorie, die als Ergänzungstheorie ihre Bedeutung besitzt. Die kriminalbiologischen Theorien haben ihre empirische Validität nicht überzeugend nachgewiesen. Die kriminalpsychologischen Theorien sind zu sehr biologisch beeinflusst. Die Psychologie hat die moderne kriminologische Theoriediskussion jedoch in Form der sozialpsychologischen Theorien, speziell der kognitiv-sozialen Lerntheorie, wesentlich gefördert.
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179
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Hans Joachim Schneider
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Hans Joachim Schneider
181
1.5 Developmental and Life-Course Criminology DAVID P. FARRINGTON
Table of Contents 1 Introduction 2 Development 2.1 Prevalence 2.2 Onset and Continuity 2.3 Versatility 2.4 Co-offending and Motives 3. Risk and Protective Factors 3.1 Impulsiveness 3.2. Low Intelligence and Achievement 3.3 Child Rearing and Child Abuse 3.4 Parental Conflict and Disrupted Families 3.5 Criminal Parents 3.6 Large Families 3.7 Protective Factors 4 Life Events and Changes within Individuals 5 Developmental and Life-Course Theories 5.1 Lahey and Waldman 5.2 Moffitt 5.3 Farrington 5.4 Catalano and Hawkins 5.5 LeBlanc 5.6 Sampson and Laub 5.7 Thornberry and Krohn 5.8 Wikström 6 Conclusions
1
183 184 184 185 186 187 187 188 188 189 190 191 191 192 193 194 194 194 195 196 197 197 198 199 199
Introduction
In this chapter, I will review four key topics within developmental and life-course criminology (DLC): the development of offending and antisocial behaviour over the life course, risk and protective factors, the effects of life events and changes within individuals, and major D L C theories. (For more information about this topic, see Farrington, 2003a.) In conducting research on development, risk factors, life events and D L C theories, it is essential to carry out prospective longitudinal surveys. I will refer especially to David P. Farrington
183
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft knowledge gained in the Cambridge Study in Delinquent Development, which is a prospective longitudinal survey of over 400 London males from age 8 to age 48 (Farrington, 1995, 2003b). In general, results obtained in British longitudinal surveys of offending (e.g. Kolvin et al., 1990; Wadsworth, 1979) are highly concordant with those obtained in comparable surveys in North America (e.g. Capaldi & Patterson, 1996; Farrington & Loeber, 1999), the Scandinavian countries (e.g. Klinteberg et al., 1993; Pulkkinen, 1988), and New Zealand (e.g. Fergusson et al., 1994; Henry et al., 1996), and indeed with results obtained in British cross-sectional surveys (e.g. Flood-Page et al., 2000; Graham & Bowling, 1995). The main reason why developmental and life course criminology became important during the 1990s was because of the enormous volume and significance of longitudinal research on offending that was published during this decade. Particularly influential were the three "Causes and Correlates" studies originally mounted by the U.S. Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention in Denver, Pittsburgh and Rochester (Huizinga et al., 2003; Loeber et al., 2003; Thornberry et al., 2003). Other important longitudinal projects that came to prominence in the 1990s were the Seattle Social Development Project (Hawkins et al., 2003), the Dunedin study in New Zealand (Moffitt et al., 2001) the Montreal Longitudinal-Experimental study (Tremblay et al., 2003), and the further analyses by Sampson and Laub (1993) of the classic Gluecks' study. DLC theories aim to explain offending by individuals (as opposed to crime rates of areas, for example). "Offending" refers to the most common crimes of theft, burglary, robbery, violence, vandalism, minor fraud and drug use, and to behaviour that in principle might lead to a conviction in Western industrialized societies such as the United States and the United Kingdom. Most research has focussed on males. Offending is commonly measured using either official records of arrests or convictions or self-reports of offending. The key issue is whether the same results are obtained with both. For example, if both show a link between parental supervision and delinquency, it is likely that supervision is related to delinquent behaviour (rather than to any biases in measurement). Generally, the worst offenders according to selfreports (taking account of frequency and seriousness) tend also to be the worst offenders according to official records (Huizinga & Elliott, 1986). In the Cambridge Study, the predictors and correlates of official and self-reported delinquency were very similar (Farrington, 1992c).
2
Development
2.1
Prevalence
Even when measured by convictions, the cumulative prevalence of offending is substantial. In the Cambridge Study, 40 % of males were convicted up to age 40 (Farrington et al., 1998). According to national figures for England and Wales (Prime et αϊ, 2001), 33 % of males and 9 % of females born in 1953 were convicted up to age 45 for a "standard list" offence (i.e. a more serious offence, excluding traffic infractions and 184
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology drunkenness for example). The prevalence of offending rises to a peak in the late teenage years (between 15 and 19) and then declines (Farrington, 1986). Many theories have been proposed to explain why offending (especially by males) peaks in the teenage years. The most popular explanation emphasizes the importance of social influences. From birth, children are under the influence of their parents, who generally discourage offending. However, during their teenage years, juveniles gradually break away from the control of their parents and become influenced by their peers, who may encourage offending in many cases. After age 20, offending declines again as peer influences give way to a new set of family influences hostile to offending, originating in spouses and female partners. The prevalence of offending according to self-reports is even higher, of course. In the large-scale Denver, Rochester and Pittsburgh longitudinal studies, the annual prevalence of "street crimes" (burglary, serious theft, robbery, aggravated assault, etc.) increased from less than 15 % at age 11 to almost 50 % at age 17 (Huizinga et αϊ, 1993). Similarly, in the U.S. National Youth Survey, the annual prevalence of self-reported violence increased to a peak of 28 % of males at age 17 and 12 % of females at ages 15-17 (Elliott, 1994). 2.2
Onset and Continuity
Criminal career research using official records of delinquency generally shows a peak age of onset between 13 and 16. In the Cambridge Study, the peak age of onset was at 14; 5 % of the males were first convicted at that age (Farrington, 1992a). The onset curves up to age 25 of working-class males in London and Stockholm were quite similar (Farrington & Wikström, 1994). Sequences of onsets were studied for Montreal delinquents by LeBlanc and Frechette (1989). They discovered that shoplifting and vandalism tended to occur before adolescence (average age of onset 11), burglary and motor vehicle theft in adolescence (average onset 14-15), and sex offences and drug trafficking in the later teenage years (average onset 17-19). In the Cambridge Study, the males first convicted at the earliest ages (10-13) tended to become the most persistent offenders, committing an average of 9 offences leading to convictions in an average criminal career lasting 12 years up to age 40 (Farrington et al., 1998). Similarly, Farrington and Wikström (1994), using official records in Stockholm, and LeBlanc and Frechette (1989) in Montreal, using both self-reports and official records, showed that the duration of criminal careers decreased with increasing age of onset. It is generally true that an early age of onset of antisocial behaviour predicts a long and serious antisocial career (Loeber & LeBlanc, 1990). Generally, there is significant continuity between offending in one age range and offending in another. In the Cambridge Study, nearly three-quarters (73 %) of those convicted as juveniles at age 10-16 were reconvicted at age 17-24, in comparison with only 16% of those not convicted as juveniles (Farrington, 1992a). Nearly half (45%) of those convicted as juveniles were reconvicted at age 25-32, in comparison with only 8 % of those not convicted as juveniles. Furthermore, this continuity over time did not merely reflect continuity in police reaction to delinquency. For 10 speciDavid P. Farrington
185
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft fied offences, the significant continuity between offending in one age range and offending in a later age range held for self-reports as well as official convictions (Farrington, 1989). Other studies show similar continuity in offending. For example, in Sweden, Stattin and Magnussen (1991) reported that nearly 70 % of males registered for crime before age 15 were registered again between ages 15 and 20, and nearly 60% were registered between ages 21 and 29. Also, the number of juvenile offences is an effective predictor of the number of adult offences ( Wolfgang et al., 1987). There was considerable continuity in offending between the ages of 10 and 25 in both London and Stockholm (Farrington & Wikström, 1994). Continuity means that there is relatively stability of the ordering of people on some measure of antisocial behaviour over time, and that people who commit relatively many offences during one age range have a high probability of also committing relatively many offences during another age range. However, neither of these statements is incompatible with the assertion that the prevalence of offending varies with age or that many antisocial children become conforming adults. Between-individual stability in antisocial ordering is perfectly compatible with within-individual change in behaviour over time (Farrington, 1990a). For example, people may graduate from cruelty to animals at age 6 to shoplifting at age 10, burglary at age 15, robbery at age 20, and eventually spouse assault and child abuse later in life. Another important finding from developmental and life-course criminology is that a small fraction of the population (the "chronic" offenders) commit a large fraction of all crimes (Farrington & West, 1993). Also, there is a great deal of criminological research on other criminal career features such as desistance, duration of careers, escalation and de-escalation (Farrington, 1997), but there is not space to review these topics here. 2.3
Versatility
Generally, offenders are versatile rather than specialized in their offending. In the Cambridge Study, 86 % of violent offenders also had convictions for non-violent offences (Farrington, 1991). Violent and non-violent but equally frequent offenders were very similar in their childhood and adolescent features in the Oregon Youth Study (Capaldi & Patterson, 1996). Studies of transition matrices summarizing the probability of one type of offence following another show that there is a small degree of specificity superimposed on a great deal of generality in juvenile delinquency {Farrington et al., 1988). The Cambridge Study shows that delinquency is associated with many other types of antisocial behaviour. The boys who were convicted before age 18 (most commonly for offences of dishonesty, such as burglary and theft) were significantly more antisocial than the non-delinquents on almost every factor that was investigated at that age ( West & Farrington, 1977). The convicted delinquents drank more beer, they got drunk more often, and they were more likely to say that drink made them violent. They smoked more cigarettes, they had started smoking at an earlier age, and they 186
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology
were more likely to be heavy gamblers. They were more likely to have been convicted for minor motoring offences, to have driven after drinking at least 10 units of alcohol (e.g. five pints of beer), and to have been injured in road accidents. The delinquents were more likely to have taken prohibited drugs such as marijuana or LSD, although few of them had convictions for drug offences. Also, they were more likely to have had sexual intercourse, especially with a variety of different girls, and especially beginning at an early age, but they were less likely to use contraceptives. The delinquents were more likely to go out in the evenings, and were especially likely to spend time hanging about on the street. They tended to go around in groups of four or more, and were more likely to be involved in group violence or vandalism. They were much more likely to have been involved in physical fights, to have started fights, to have carried weapons, and to have used weapons in fights. They were also more likely to express aggressive and anti-establishment attitudes on a questionnaire (negative to police, school, rich people and civil servants). 2.4
Co-offending and Motives
Most offences up to the late teenage years are committed with others, whereas most offences from age 20 onwards are committed alone (Reiss & Farrington, 1991). This aggregate change is not caused by dropping out processes, or group offenders desisting earlier than lone offenders. Instead, there is change within individuals; people change from group offending to lone offending as they get older. The reasons given for offending up to the late teenage years are quite variable, including utilitarian ones (e.g. to obtain material goods or for revenge), for excitement or enjoyment (or to relieve boredom), or because people get angry (in the case of violent crimes). In contrast, from age 20 onwards, utilitarian motives become increasingly dominant (Farrington, 1993b).
3
Risk and Protective Factors
Longitudinal data are required to establish the time ordering of risk factors and antisocial behaviour. It is extremely difficult in correlational or cross-sectional studies to draw valid conclusions about cause and effect. Because of the difficulty of establishing causal effects of factors that vary only between individuals (e.g. gender and ethnicity), and because such factors have no practical implications for intervention (e.g. it is not practicable to change males into females), variables that cannot be modified will not be reviewed here. Their effects on antisocial behaviour are usually explained by reference to other, modifiable, factors. For example, gender differences in antisocial behaviour have been explained on the basis of different socialization methods used by parents with boys and girls, or different opportunities for offending of males and females. Because of limitations of space, only the most important individual and family risk factors will be mentioned here (for more detailed reviews, see Farrington, 2006). Less is known about biological, peer, school or neighbourhood risk factors. The focus here is on reporting empirical results; for discussions of alternative hypotheses about causal mechanisms, see Farrington (2002). David P. Farrington
187
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 3.1
Impulsiveness
Impulsiveness is the most crucial personality dimension that predicts antisocial behaviour {Lipsey & Derzon, 1998). Unfortunately, there are a bewildering number of constructs referring to a poor ability to control behaviour. These include impulsiveness, hyperactivity, restlessness, clumsiness, not considering consequences before acting, a poor ability to plan ahead, short time horizons, low self-control, sensationseeking, risk-taking, and a poor ability to delay gratification. Many studies show that hyperactivity predicts later offending. In the Copenhagen perinatal project, hyperactivity (restlessness and poor concentration) at age 11-13 significantly predicted arrests for violence up to age 22, especially among boys experiencing delivery complications (Brennan et al., 1993). Similarly, in the Orebro longitudinal study in Sweden, hyperactivity at age 13 predicted police-recorded violence up to age 26. The highest rate of violence was among males with both motor restlessness and concentration difficulties (15%), compared to 3% of the remainder (Klinteberg et al., 1993). In the Cambridge Study, boys nominated by teachers as lacking in concentration or restless, those nominated by parents, peers, or teachers as the most daring or taking most risks, and those who were the most impulsive on psychomotor tests at age 8-10, all tended to become offenders later in life. Daring, poor concentration and restlessness all predicted both official convictions and self-reported delinquency, and daring was consistently one of the best independent predictors (Farrington 1992c). Interestingly, Farrington et al. (1990) found that hyperactivity predicted juvenile offending independently of conduct problems. Lynam (1996) proposed that boys with both hyperactivity and conduct disorder were most at risk of chronic offending and psychopathy, and Lynam (1998) presented evidence in favour of this hypothesis from the Pittsburgh Youth Study. The most extensive research on different measures of impulsiveness was carried out in the Pittsburgh Youth Study by White et al. (1994). The measures that were most strongly related to self-reported delinquency at ages 10 and 13 were teacher-rated impulsiveness (e.g. acts without thinking), self-reported impulsiveness, self-reported under-control (e.g. unable to delay gratification), motor restlessness (from videotaped observations), and psychomotor impulsiveness (on the Trail Making Test). Generally, the verbal behaviour rating tests produced stronger relationships with offending than the psychomotor performance tests, suggesting that cognitive impulsiveness was more relevant than behavioural impulsiveness (based on test performance). Future time perception and delay of gratification tests were only weakly related to self-reported delinquency. 3.2
Low Intelligence and Achievement
Low intelligence and low school achievement are important predictors of offending (Moffitt, 1993b). Low IQ measured in the first few years of life predicts later delinquency. In a prospective longitudinal survey of about 120 Stockholm males, low IQ measured at age 3 significantly predicted officially recorded offending up to age 30 188
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology (Stattin & Klackenberg-Larsson, 1993). Frequent offenders (with 4 or more offences) had an average IQ of 88 at age 3, whereas non-offenders had an average IQ of 101. All of these results held up after controlling for social class. Similarly, low IQ at age 4 predicted arrests up to age 27 in the Perry preschool project (Schweinhart et al., 1993) and court delinquency up to age 17 in the Collaborative Perinatal Project (Lipsitt et αϊ, 1990). In the Cambridge Study, twice as many of the boys scoring 90 or less on a nonverbal IQ test (Ravens Progressive Matrices) at age 8 - 1 0 were convicted as juveniles as of the remainder ( West & Farrington, 1973). However, it was difficult to disentangle low IQ from low school achievement, because they were highly intercorrelated and both predicted delinquency. Low nonverbal IQ predicted juvenile self-reported delinquency to almost exactly the same degree as juvenile convictions (Farrington, 1992c), suggesting that the link between low IQ and delinquency was not caused by the less intelligent boys having a greater probability of being caught. Also, low IQ and low school achievement predicted offending independently of other variables such as low family income and large family size (Farrington, 1990b). Low IQ may lead to delinquency through the intervening factor of school failure. The association between school failure and delinquency has been demonstrated repeatedly in longitudinal surveys. In the Pittsburgh Youth Study, Lynam et al. (1993) concluded that low verbal IQ led to school failure and subsequently to self-reported delinquency, but only for African-American boys. Another plausible explanatory factor underlying the link between low IQ and delinquency is the ability to manipulate abstract concepts. Children who are poor at this tend to do badly in IQ tests and in school achievement, and they also tend to commit offences, mainly because of their poor ability to foresee the consequences of their offending. Delinquents often do better on non-verbal performance IQ tests, such as object assembly and block design, than on verbal IQ tests ( M o f f i t t , 1993b), suggesting that they find it easier to deal with concrete objects than with abstract concepts. 3.3
Child Rearing and Child Abuse
Of all child rearing factors, poor parental supervision is the strongest and most replicable predictor of delinquency (Smith & Stern, 1997), and harsh or punitive discipline (involving physical punishment) is also an important predictor (Haapasalo & Pokela, 1999). The classic longitudinal studies by McCord (1979) in Boston and Robins (1979) in St. Louis show that poor parental supervision, harsh discipline and a rejecting attitude all predict delinquency. Similar results were obtained in the Cambridge Study. Harsh or erratic parental discipline, cruel, passive or neglecting parental attitudes, and poor parental supervision, all measured at age 8, all predicted later juvenile convictions and self-reported delinquency ( West & Farrington, 1973). Generally, the presence of any of these adverse family background features doubled the risk of a later juvenile conviction. There seems to be significant intergenerational transmission of aggressive and violent behaviour from parents to children, as Widom (1989) found in a study of abused children in Indianapolis. Children who were physically abused up to age 11 were parDavid P. Farrington
189
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft ticularly likely to become violent offenders in the next 15 years (Maxfleld & Widom, 1996). Similarly, in the Rochester Youth Development Study, Smith and Thornberry (1995) showed that recorded child maltreatment under age 12 predicted self-reported violence between ages 14 and 18, independently of gender, ethnicity, SES, and family structure. The extensive review by Malinosky-Rummell and Hansen (1993) confirms that being physically abused as a child predicts later violent and non-violent offending. 3.4
Parental Conflict and Disrupted Families
Many studies show that broken homes or disrupted families predict delinquency ( Wells & Rankin, 1991) and that parental conflict predicts later antisocial behaviour (Buehler et al., 1997). In the Newcastle (England) Thousand-Family Study, Kolvin et al. (1988) reported that marital disruption (divorce or separation) in a boy's first five years predicted his later convictions up to age 32. Similarly, in the Dunedin study in New Zealand, Henry et al. (1993) found that children who were exposed to parental discord and many changes of the primary caretaker tended to become antisocial and delinquent. Most studies of broken homes have focussed on the loss of the father rather than the mother, simply because the loss of a father is much more common. McCord (1982) in Boston carried out an interesting study of the relationship between homes broken by loss of the natural father and later serious offending of the children. She found that the prevalence of offending was high for boys reared in broken homes without affectionate mothers (62 %) and for those reared in united homes characterized by parental conflict (52 %), irrespective of whether they had affectionate mothers. The prevalence of offending was low for those reared in united homes without conflict (26 %) and - importantly - equally low for boys from broken homes with affectionate mothers (22 %). These results suggest that it is not so much the broken home which is criminogenic as the parental conflict which often causes it, and that a loving mother might in some sense be able to compensate for the loss of a father. In the Cambridge Study, both permanent and temporary separations from a biological parent before age 10 (usually from the father) predicted convictions and self-reported delinquency, providing that they were not caused by death or hospitalization (Farrington, 1992c). However, homes broken at an early age (under age 5) were not unusually criminogenic ( West & Farrington, 1973). Separation before age 10 predicted both juvenile and adult convictions (Farrington, 1992b) and predicted convictions up to age 32 independently of all other factors such as low family income or poor school attainment (Farrington, 1993a). Explanations of the relationship between disrupted families and delinquency fall into three major classes. Trauma theories suggest that the loss of a parent has a damaging effect on a child, most commonly because of the effect on attachment to the parent. Life course theories focus on separation as a sequence of stressful experiences, and on the effects of multiple stressors such as parental conflict, parental loss, reduced economic circumstances, changes in parent figures and poor child-rearing methods. Selection theories argue that disrupted families produce delinquent children because 190
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology of pre-existing differences from other families in risk factors such as parental conflict, criminal or antisocial parents, low family income or poor child-rearing methods. Hypotheses derived from the three theories were tested in the Cambridge Study (Juby & Farrington, 2001). While boys from broken homes (permanently disrupted families) were more delinquent than boys from intact homes, they were not more delinquent than boys from intact high conflict families. Overall, the most important factor was the post-disruption trajectory. Boys who remained with their mother after the separation had the same delinquency rate as boys from intact low conflict families. Boys who remained with their father, with relatives or with others (e.g. foster parents) had high delinquency rates. It was concluded that the results favoured life course theories rather than trauma or selection theories. 3.5
Criminal Parents
In their classic longitudinal studies, McCord (1977) and Robins et al. (1975) showed that criminal parents tended to have delinquent sons. In the Cambridge Study, the concentration of offending in a small number of families was remarkable. Less than 6 % of the families were responsible for half of the criminal convictions of all members (fathers, mothers, sons, and daughters) of all 400 families (Farrington et al., 1996). Having a convicted mother, father, brother or sister significantly predicted a boy's own convictions. Same-sex relationships were stronger than opposite-sex relationships, and older siblings were stronger predictors than younger siblings. Furthermore, convicted parents and delinquent siblings were related to a boy's self-reported as well as official offending (Farrington, 1979). Similar results were obtained in the Pittsburgh Youth Study. Arrests of fathers, mothers, brothers, sisters, uncles, aunts, grandfathers and grandmothers all predicted the boy's own delinquency (Farrington et al., 2001). The most important relative was the father; arrests of the father predicted the boy's delinquency independently of all other arrested relatives. Only 8 % of families accounted for 43 % of arrested family members. 3.6
Large Families
Many studies show that large families predict delinquency (Fischer, 1984). For example, in the UK National Survey of Health and Development, Wadsworth (1979) found that the percentage of boys who were officially delinquent increased from 9 % for families containing one child to 24 % for families containing four or more children. The Newsons in their Nottingham study also concluded that large family size was one of the most important predictors of delinquency (Newson et al., 1993). In the Cambridge Study, if a boy had four or more siblings by his tenth birthday, this doubled his risk of being convicted as a juvenile (West & Farrington, 1973). Large family size predicted self-reported delinquency as well as convictions (Farrington, 1979), and adult as well as juvenile convictions (Farrington, 1992b). Also, large family size was the most important independent predictor of convictions up to age 32 in a logistic regression analysis (Farrington, 1993a). Large family size was similarly important David P. Farrington
191
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft in the Cambridge and Pittsburgh studies, even though families were on average smaller in Pittsburgh in the 1990s than in London in the 1960s (Farrington & Loeber, 1999). 3.7
Protective Factors
Most research seeks to identify risk factors: variables associated with an increased probability of offending. It is also important to identify protective factors: those associated with a decreased probability of offending. Protective factors may have more implications than risk factors for prevention and treatment. However, there are three separate meanings of protective factors. The first suggests that a protective factor is merely the opposite end of the scale (or the other side of the coin) to a risk factor. For example, if low intelligence is a risk factor, high intelligence may be a protective factor. The value of this depends, however, on whether there is a linear relationship between the variable and offending. To the extent that the relationship is linear, little is gained by identifying the protective factor of high intelligence as well as the risk factor of low intelligence. The second definition specifies protective factors that are free-standing, with no corresponding, symmetrically-opposite, risk factor. This especially occurs when variables are nonlinearly related to violence. For example, if high nervousness was associated with a low risk of offending, while medium and low nervousness were associated with a fairly constant average risk, nervousness could be a protective factor but not a risk factor (because the probability of offending was not high at low levels of nervousness). In the Pittsburgh Youth Study, Farrington and Loeber (2000) discovered a number of variables that were non-linearly related to delinquency, of which the most important was the age of the mother at her first birth. The third definition of a protective factor identifies variables that interact with risk factors to minimize or buffer their effects (Farrington, 1994). These protective factors may or may not be associated with violence themselves. In order to facilitate the exposition here, a risk variable (e.g. family income) is distinguished from a risk factor (e.g. low family income). Interaction effects can be studied in two ways, by either focussing on the effect of a risk variable in the presence of a protective factor, or focussing on the effect of a protective variable in the presence of a risk factor. For example, the effect of family income on offending could be studied in the presence of good parental supervision, or the effect of parental supervision on offending could be studied in the presence of low family income. Most studies focussing on the interaction of risk and protective factors identify a subsample at risk (with some combination of risk factors) and then search for protective variables that predict successful members of this subsample. In a classic example, Werner and Smith (1982) in Hawaii studied children who possessed four or more risk factors for delinquency before age 2 but who nevertheless did not develop behavioural difficulties during childhood or adolescence. They found that the major protective factors included being first-born, active and affectionate infants, small family size, and receiving a high amount of attention from caretakers. (For a review of research on protective factors, see Lösel & Bender, 2003.) 192
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology
4
Life Events and Changes within Individuals
Developmental and life-course criminology aims to investigate the effects of life events on the course of development of antisocial behaviour. In the Cambridge Study, going to a high delinquency-rate school at age 11 did not seem to amplify the risk of offending, since badly behaved boys tended to go to high delinquency-rate schools (Farrington, 1972). However, getting convicted did lead to an increase in offending, according to the boys' self-reports, and a plausible intervening mechanism was increased hostility to the police (Farrington, 1977). Unemployment also caused an increase in offending, but only for crimes leading to financial gain, such as theft, burglary, robbery and fraud. There was no effect of unemployment on other offences such as violence, vandalism or drug use, suggesting that the link between unemployment and offending was mediated by lack of money rather than boredom (Farrington et al., 1986). It is often believed that marriage to a good woman is one of the most effective treatments for male offending, and indeed Farrington and West (1995) found that getting married led to a decrease in offending compared with staying single. Also, later separation from a wife led to an increase in offending compared with staying married, and the separated men were particularly likely to be violent. Another protective life event was moving out of London, which led to a decrease in self-reported violence (Osborn, 1980). This was probably because of the effect of the move in breaking up delinquent groups. Numerous studies show that the main life events that encourage desistance after age 20 are getting married, getting a satisfying job, moving to a better area and joining the military (Homey et al., 1995; Laub & Sampson, 2001). The distinction between risk factors and life events is not clear-cut, since some life events may be continuing experiences whose duration is important (e.g. marriage or a job), while some risk factors may occur at a particular time (e.g. loss of a parent). Other life events (e.g. converting to religion) may be important but have been studied less. Studies of the effects of life events on the course of development usually involve within-individual analyses. A major problem with most research on offending is that knowledge about risk factors is based on between-individual differences. For example, it is demonstrated that children who receive poor parental supervision are more likely to offend than other children who receive good parental supervision, after controlling for other between-individual factors that influence both parental supervision and offending. However, within-individual variations are more relevant to the concept of cause, as well as to prevention or intervention research (which requires within-individual change). For example, if it was demonstrated that children were more likely to offend during time periods when they were receiving poor parental supervision than during time periods when they were receiving good parental supervision, this would be more compelling evidence that poor parental supervision caused offending. Since the same individuals are followed up over time, many extraneous influences on offending are controlled (Farrington, 1988).
David P. Farrington
193
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft
5
Developmental and Life-Course Theories
Finally, I summarize some of the key features of eight leading DLC theories. More details about all of these theories can be found in Farrington (2005a). Whereas traditional criminological theories aimed to explain between-individual differences in offending, such as why lower-class boys commit more offences than upper-class boys, DLC theories aim to explain within-individual changes in offending over time. 5.1
Lahey and Waldman
Lahey and Waldman (2005) aim to explain the development of juvenile delinquency and child conduct problems, focussing particularly on childhood and adolescence. Their theory is influenced by data collected in the Developmental Trends Study (Loeber et al., 2000). They do not address adult life events or attempt to explain desistance in the adult years, for example. They assume that it is desirable to distinguish different types of people, but they propose a continuum of developmental trajectories rather than only two categories of adolescence-limited and life-course-persistent offenders, for example. Their key construct is antisocial propensity, which tends to persist over time and has a wide variety of behavioural manifestations, reflecting the versatility and comorbidity of antisocial behavior. The most important factors that contribute to antisocial propensity are low cognitive ability (especially verbal ability), and three dispositional dimensions: prosociality (including sympathy and empathy), daring (uninhibited or poorly controlled), and negative emotionality (e.g. easily frustrated, bored, or annoyed). These four factors are said to have a genetic basis, and Lahey and Waldman discuss gene-environment interactions. 5.2
Moffitt
Moffltt (1993a) proposes that there are two qualitatively different categories of antisocial people (differing in kind rather than in degree), namely life-course-persistent (LCP) and adolescence-limited (AL) offenders (see review in Piquero & Moffltt, 2005). As indicated by the terms, the LCPs start offending at an early age and persist beyond their twenties, while the ALs have a short criminal career largely limited to their teenage years. The LCPs commit a wide range of offences including violence, whereas the ALs commit predominantly "rebellious" non-violent offences. This theory aims to explain findings in the Dunedin longitudinal study ( M o f f l t t et al., 2001). The main factors that encourage offending by the LCPs are cognitive deficits, an undercontrolled temperament, hyperactivity, poor parenting, disrupted families, teenage parents, poverty, and low SES. Genetic and biological factors, such as a low heart rate, are important. There is not much discussion of neighbourhood factors, but it is proposed that the neuropsychological risk of the LCPs interacts multiplicatively with a disadvantaged environment. The theory does not propose that neuropsychological deficits and a disadvantaged environment influence an underlying construct such as 194
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology antisocial propensity; rather, it suggests that neuropsychological and environmental factors are the key constructs underlying antisocial behavior. The main factors that encourage offending by the ALs are the "maturity gap" (their inability to achieve adult rewards such as material goods during their teenage years similar to strain theory ideas) and peer influence (especially from the LCPs). Consequently, the ALs stop offending when they enter legitimate adult roles and can achieve their desires legally. The ALs can easily stop because they have no neuropsychological deficits. The theory assumes that there can be labelling effects of "snares" such as a criminal record, incarceration, drug or alcohol addiction, and (for girls) unwanted pregnancy, especially for the ALs. However, the observed continuity in offending over time is largely driven by the LCPs. The theory focusses mainly on the development of offenders and does not attempt to explain why offences are committed. However, it suggests that the presence of delinquent peers is an important situational influence on ALs, and that LCPs seek out opportunities and victims. Decision-making in criminal opportunities is supposed to be rational for the ALs (who weigh likely costs against likely benefits) but not for the LCPs (who largely follow well-learned "automatic" behavioural repertoires without thinking). However, the LCPs are mainly influenced by utilitarian motives, whereas the ALs are influenced by teenage boredom. Adult life events such as getting a job or getting married are hypothesized to be of little importance, because the LCPs are too committed to an antisocial life-style and the ALs desist naturally as they age into adult roles. 5.3
Farrington
The integrated cognitive antisocial potential (ICAP) theory of Farrington (2005b) is mainly intended to explain offending by lower class males. It integrates ideas from strain, control, social learning, differential association, and labelling theories. N o distinct types of offenders are proposed. The key construct underlying antisocial behaviour is antisocial potential (AP), and there is continuity in offending and antisocial behaviour over time because of consistency in the relative ordering of people on AP. This theory aims to explain findings in the Cambridge Study (Farrington, 2003b). Long-term and short-term influences on AP are explicitly distinguished. Long-term factors encouraging offending include impulsiveness, strain, and antisocial models, while short-term (immediate situational) influences include opportunities and victims. Long-term factors inhibiting offending include attachment and socialization (based on social learning) and life events such as getting married or moving house. The theory explicitly aims to explain both the development of offending and the commission of offences. Situational factors, motives, and cognitive (thinking and decisionmaking) processes are included. The theory assumes that the consequences of offending have labelling, deterrent, or learning effects on AP.
David P. Farrington
195
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft 5.4
Catalano and Hawkins
According to Catalano et al. (2005), the Social Development Model (SDM) integrates social control/bonding, social learning and differential association theories, but does not include strain theory postulates. Their key construct is bonding to society (or socializing agents), consisting of attachment and commitment. The key construct underlying offending is the balance between antisocial and prosocial bonding. Continuity in antisocial behaviour over time depends on continuity in this balance. The main motivation that leads to offending and antisocial behaviour is the hedonistic desire to seek satisfaction and follow self-interest. This is opposed by the bond to society. Offending is essentially a rational decision in which people weigh the benefits against the costs. There is no assumption about different types of offenders. This theory aims to explain findings in the Seattle Social Development Project (Hawkins et al., 2003). There are two causal pathways, leading to antisocial or prosocial bonding. On the prosocial pathway, opportunities for prosocial interaction lead to involvement in prosocial behaviour; involvement and skills for prosocial behaviour lead to rewards for prosocial behaviour, which lead to prosocial bonding and beliefs. On the antisocial pathway, opportunities for antisocial interaction lead to involvement in antisocial behaviour; involvement and skills for antisocial behaviour lead to rewards for antisocial behaviour, which lead to antisocial bonding and beliefs. Hence, the antisocial pathway specifies factors encouraging offending and the prosocial pathway specifies factors inhibiting offending. Opportunities, involvement, skills and rewards are part of a socialization process. People learn prosocial and antisocial behaviour according to socialization by families, peers, schools and communities. The SDM specifies that demographic factors (such as age, race, gender, and social class) and biological factors (such as difficult temperament, cognitive ability, low arousal and hyperactivity) influence opportunities and skills in the socialization process. There are somewhat different models for different developmental periods (preschool, elementary school, middle school, high school, young adulthood). For example, in the first two periods interaction with prosocial or antisocial family members is the most important, while in the other two periods interaction with prosocial or antisocial peers is the most important. The development of offending and the commission of offences are not explicitly distinguished in the SDM. However, the theory includes prosocial and antisocial opportunities as situational factors and suggests that the perceived rewards and costs of antisocial behaviour influence the decision to offend. Motives for offending (e.g. utilitarian or excitement) are included under the heading of perceived rewards and costs. Neighbourhood factors, official labelling, and life events are important only insofar as they influence the key constructs of opportunities, involvement, skills, rewards, and bonding. For example, official labelling may increase involvement with antisocial people and marriage may increase prosocial opportunities and involvement.
196
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology 5.5
LeBlanc
Le Blanc (1997, 2005) proposes an integrative multilayered control theory that explains the development of offending, the occurrence of criminal events, and community crime rates. The key construct underlying offending is general deviance, and LeBlanc discusses its structure and how it changes over time. According to his theory, the development of offending depends on four mechanisms of control: bonding to society (including family, school, peers, marriage and work), psychological development over time (especially away from egocentrism and towards "allocentrism"), modelling (prosocial or antisocial), and constraints (external, including socialization, and internal, including beliefs). He assumes that environmental factors (e.g. social class and neighbourhood) influence bonding while biological capacity (including difficult temperament) influences psychological development. Bonding and psychological development influence modelling and constraints, which are proximate influences on general deviance and hence on offending. There is continuity in offending because the relative ordering of people on control mechanisms stays fairly consistent over time. This theory aims to explain findings in LeBlanc's longitudinal surveys of adolescents and delinquents (e.g. LeBlanc & Frechette, 1989). LeBlanc proposes that there are three types of offenders: persistent, transitory, and common. Persistent offenders are most extreme on weak bonding, egocentrism, antisocial modelling, and low constraints. Common offenders are largely influenced by opportunities, while transitory offenders are in the middle (in having moderate control and being moderately influenced by opportunities). His theory includes biological and neighbourhood factors, but they are assumed to have indirect effects on offending through their effects on the constructs of bonding and psychological development. Similarly, he assumes that life events have effects via the constructs and that labelling influences external constraints. The theory includes learning processes and socialization but does not include strain theory assumptions. LeBlanc's (1997) theory of criminal events suggests that they depend on community control (e.g. social disorganization), personal control (rational choice ideas of decision-making), self-control (impulsiveness, vulnerability to temptations), opportunities, routine activities and guardianship (e.g. physical protection). People are viewed as hedonistic, and motives (e.g. excitement or utilitarian) are considered. 5.6
Sampson and Laub
The key construct in Sampson and Laub's (2005) theory is age-graded informal social control, which means the strength of bonding to family, peers, schools and later adult social institutions such as marriages and jobs. Sampson and Laub primarily aim to explain why people do not commit offences, on the assumption that why people want to offend is unproblematic (presumably caused by hedonistic desires) and that offending is inhibited by the strength of bonding to society. This theory is influenced by their analyses of the Glueck follow-up study of male delinquents and nondelinquents (Laub & Sampson, 2003; Sampson & Laub, 1993). David P. Farrington
197
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft The strength of bonding depends on attachments to parents, schools, delinquent friends and delinquent siblings, and also on parental socialization processes such as discipline and supervision. Structural background variables (e.g. social class, ethnicity, large family size, criminal parents, disrupted families) and individual difference factors (e.g. low intelligence, difficult temperament, early conduct disorder) have indirect effects on offending through their effects on informal social control (attachment and socialization processes). Sampson and Laub are concerned with the whole life course. They emphasize change over time rather than consistency, and the poor ability of early childhood risk factors to predict later life outcomes. They focus on the importance of later life events (adult turning points) such as joining the military, getting a stable job, and getting married in fostering desistance and "knifing off" the past from the present. They also suggest that neighbourhood changes can cause changes in offending. Because of their emphasis on change and unpredictability, they deny the importance of types of offenders such as "life-course-persisters". Sampson and Laub do not explicitly include immediate situational influences on criminal events in their theory, and believe that opportunities are not important because they are ubiquitous (Sampson & Laub, 1995). However, they do suggest that having few structured routine activities is conducive to offending. They focus on why people do not offend rather than on why people offend, and emphasize the importance of individual free will and purposeful choice in the decision to desist. They do not include strain theory ideas, but they propose that official labelling influences offending through its effects on job instability and unemployment. They argue that early delinquency can cause weak adult social bonds, which in turn fail to inhibit adult offending. 5.7
Thornberry and Krohn
The interactional theory of Thornberry and Krohn (2005) particularly focusses on factors encouraging antisocial behaviour at different ages. It is influenced by findings in the Rochester Youth Development Study (Thornberry et al., 2003). They do not propose types of offenders but suggest that the causes of antisocial behaviour vary for children who start at different ages. At the earliest ages (birth to 6), the three most important factors are neuropsychological deficit and difficult temperament (e.g. impulsiveness, negative emotionality, fearlessness, poor emotion regulation), parenting deficits (e.g. poor monitoring, low affective ties, inconsistent discipline, physical punishment), and structural adversity (e.g. poverty, unemployment, welfare dependency, disorganized neighbourhood). They also suggest that structural adversity might cause poor parenting. Neuropsychological deficits are less important for children who start antisocial behaviour at older ages. At ages 6-12, neighbourhood and family factors are particularly salient, while at ages 12-18 school and peer factors dominate. Thornberry and Krohn also suggest that deviant opportunities, gangs, and deviant social networks are important for onset at ages 12-18. They propose that late starters (ages 18-25) have cognitive deficits such as low IQ and poor school performance but that they 198
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology were protected from antisocial behaviour at earlier ages by a supportive family and school environment. At ages 18-25, they find it hard to make a successful transition to adult roles such as employment and marriage. The most distinctive feature of this interactional theory is its emphasis on reciprocal causation. For example, it is proposed that the child's antisocial behaviour elicits coercive responses from parents and rejection by peers and makes antisocial behaviour more likely in the future. The theory does not postulate a single key construct underlying offending but suggests that children who start early tend to continue because of the persistence of neuropsychological and parenting deficits and structural adversity. Interestingly, Thornberry and Krohn predict that late starters (ages 18-25) will show more continuity over time than earlier starters (ages 12-18) because the late starters have more cognitive deficits. In an earlier exposition of the theory (Thornberry & Krohn, 2001), they proposed that desistance was caused by changing social influences (e.g. stronger family bonding), protective factors (e.g. high IQ and school success), and intervention programmes. Hence, they do think that criminal justice processing has an effect on future offending.
5.8
Wikström
Wikström (2005) proposes a developmental ecological action theory that aims to explain moral rule breaking. The key construct underlying offending is individual criminal propensity, which depends on moral judgment and self-control. In turn, moral values influence moral judgment, and executive functions influence self-control. Wikström does not propose types of offenders. The motivation to offend arises from the interaction between the individual and the setting. For example, if individual propensity is low, features of the setting (persons, objects, and events) become more important. Continuity or change in offending over time depends on continuity or change in moral values, executive functions, and settings. Situational factors are important in Wikström's theory, which aims to explain the commission of offences as well as the development of offenders. Opportunities cause temptation, friction produces provocation, and monitoring or the risk of sanctions has a deterrent effect. The theory emphasizes perception, choice, and human agency in deciding to offend. Learning processes are included in the theory, since it is suggested that moral values are taught by instruction and observation in a socialization process and that nurturing (the promotion of cognitive skills) influences executive functions. Life events also matter, since it is proposed that starting school, getting married (etc.) can trigger changes in constructs such as moral teaching and monitoring and hence influence moral rule breaking.
6
Conclusions
A great deal is known about the key risk factors for offending, which include impulsiveness, low intelligence and low school achievement, poor parental supervision, child physical abuse, punitive or erratic parental discipline, cold parental attitude, paDavid P. Farrington
199
1 Kriminologie als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft rental conflict, disrupted families, antisocial parents, large family size, low family income, antisocial peers, high delinquency-rate schools, and high crime neighbourhoods. However, the causal mechanisms linking these risk factors with antisocial outcomes are less well established. In order to advance knowledge about DLC theories and DLC issues, prospective longitudinal studies are needed with repeated self-report and official record measures of offending. Many of the criminal career results of the 1980s were largely based on official records, and it is important to establish how far they are replicated (or not) in self-reports. Of course, self-reports reveal more offences, but they often show similar results to official records in issues such as how the prevalence of offending varies with age, the fact that early onset predicts a long career and many offenses, continuity and versatility of offending, chronic offenders, and onset sequences. Future longitudinal studies should follow people up to later ages and focus on desistance processes. Past studies have generally focussed on ages up to 30 and on onset. Future studies should compare risk factors for early onset, continuation after onset (compared with early desistance), frequency, seriousness, later onset, and persistence versus desistance. DLC theories should make explicit predictions about all these topics. Also, future studies should make more effort to investigate protective factors and biological, peer, school and neighbourhood risk factors. And future research should compare development, risk factors and life events for males versus females and for different ethnic and racial groups. It would be desirable to derive implications for intervention from DLC theories, and to test these in randomized experiments. In principle, conclusions about causes can be drawn more convincingly in experimental research than in non-experimental longitudinal studies (Robins, 1992). However, more within-individual quasi-experimental analyses of longitudinal studies are needed. Future studies should compare within-individual changes in risk factors with within-individual changes in offending, and test hypotheses about causal processes intervening between risk factors and offending. The results summarized here have clear implications for intervention (Farrington, 2002). The main idea of risk-focussed prevention is to identify key risk factors for antisocial behaviour and implement prevention methods designed to counteract them. For example, cognitive-behavioural skills training programmes should be implemented to tackle impulsiveness; pre-school intellectual enrichment programmes should be implemented to enhance cognitive abilities and school attainment; and parent training and parent education programmes should be implemented to tackle poor childrearing and poor parental supervision. One of the best ways of achieving riskfocussed prevention is through multiple-component community-based programmes including successful interventions, such as Communities That Care (Hawkins & Catalano, 1992). In some ways, the versatility of antisocial behaviour is good news for intervention researchers. If a particular risk factor predicts a variety of outcomes, tackling that risk factor may have many benefits in reducing a variety of social problems. More research is needed on the causes of antisocial behaviour so that interventions can be 200
David P. Farrington
1.5 Developmental and Life-Course Criminology more narrowly targeted on risk and protective factors that have causal effects. A great deal has already been learned from developmental and life-course criminology, but a further investment in longitudinal and experimental studies will yield even more advances in knowledge about the causes and prevention of offending.
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