Intermedialität und Kulturaustausch: Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien [1. Aufl.] 9783839411001

Intermedialität und Kulturaustausch - zwei unterschiedliche aktuelle Themenfelder, zwischen denen sich interessante Verb

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German Pages 350 Year 2015

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INHALT
Einleitung. Intermedialität und Kulturaustausch
Nordische Mythen in der deutschen Literatur. Eddaspuren bei Stefan George und Karl Wolfskehl
Nuda veritas im Mönchsgewand. Die Ver- und Entwicklung einer gemalten Heiligenlegende
Intermediale und interkulturelle Prozesse in der Veroneser Verkündigung des Giovanni Maria Falconetto (1468-1535)
Dichten bei Gelegenheit. Kasualdichtungen als Medien des Kulturaustauschs
Erzähltes und erzählendes Theater im 17. Jahrhundert
Hogarths Methode auf der Bühne. Lichtenberg, Garrick und der „prosaische Maler“
Novalis’ Sprachkörper. Zur Intermedialität des Leibes
Flucht in die Bilder – Ludwig Tiecks Bildpoetik (William Lovell – Der Blonde Eckbert – Franz Sternbald)
Die Mystifikation einer Ekphrasis als Potenzierung des poetischen .Realismus. Eduard Mörikes L. Richters Kinder-Symphonie (1861)
Gedachte Intermedialität. Zur wechselseitigen Illustration der Künste in Ästhetiken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Evidenz und Gesetz. Das Lügen der Bilder in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs
Klänge – Worte - Bilder. Mediale Wechselwirkung und Konstruktion kultureller Identität in Liedern von Schumann, Schönberg und Henze
„Now the Sublime is like This.“ Synchronie und Einflüsse zwischen der amerikanischen, französischen und deutschen Theoriebildung bei der Wiederbelebung des Erhabenen
Gespenster. Metaphern der Photographie in der Literatur
Liebe zwischen Medien, Tausch und Alterität. Sofia Coppolas Film ‚Lost in Translation‘
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
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Intermedialität und Kulturaustausch: Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien [1. Aufl.]
 9783839411001

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Annette Simonis (Hg.) Intermedialität und Kulturaustausch

2009-03-20 12-12-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02de205449729648|(S.

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Annette Simonis (Hg.) Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien

2009-03-20 12-12-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02de205449729648|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: G.M. Falconetto: Fresco in San Giorgetto Lektorat & Satz: Annette Simonis Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1100-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Einleitung. Intermedialität und Kulturaustausch ANNETTE SIMONIS 9

Nordische Mythen in der deutschen Literatur. Eddaspuren bei Stefan George und Karl Wolfskehl JULIA ZERNACK 19

Nuda veritas im Mönchsgewand. Die Ver- und Entwicklung einer gemalten Heiligenlegende SILKE TAMMEN 43

Intermediale und interkulturelle Prozesse in der Veroneser Verkündigung des Giovanni Maria Falconetto (1468-1535) RITA UNFER LUKOSCHIK 69

Dichten bei Gelegenheit. Kasualdichtungen als Medien des Kulturaustauschs LINDA SIMONIS 93

Erzähltes und erzählendes Theater im 17. Jahrhundert DIRK NIEFANGER 115

Hogarths Methode auf der Bühne. Lichtenberg, Garrick und der „prosaische Maler“ ROMAN LACH 133

Novalis’ Sprachkörper. Zur Intermedialität des Leibes. GREGOR SCHWERING 149

Flucht in die Bilder – Ludwig Tiecks Bildpoetik (William Lovell – Der Blonde Eckbert – Franz Sternbald) CORD-FRIEDRICH BERGHAHN 167

Die Mystifikation einer Ekphrasis als Potenzierung des poetischen Realismus. Eduard Mörikes L. Richters Kinder-Symphonie (1861) GÜNTER OESTERLE 197

Gedachte Intermedialität. Zur wechselseitigen Illustration der Künste in Ästhetiken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts LOTHAR L. SCHNEIDER 211

Evidenz und Gesetz. Das Lügen der Bilder in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs STEFAN SCHERER 229

Klänge – Worte - Bilder. Mediale Wechselwirkung und Konstruktion kultureller Identität in Liedern von Schumann, Schönberg und Henze ANNETTE SIMONIS UND MICHAEL SCHWARTE 253

„Now the Sublime is like This.“ Synchronie und Einflüsse zwischen der amerikanischen, französischen und deutschen Theoriebildung bei der Wiederbelebung des Erhabenen HERBERT GRABES 285

Gespenster. Metaphern der Photographie in der Literatur MONIKA SCHMITZ-EMANS 303

Liebe zwischen Medien, Tausch und Alterität. Sofia Coppolas Film ‚Lost in Translation‘ SIEGLINDE GRIMM 331

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger 345

EINLEITUNG. INTERMEDIALITÄT UND KULTURAUSTAUSCH ANNETTE SIMONIS

In den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des westöstlichen Divans“ hat sich der späte Goethe ausführlich mit dem Phänomen des Kulturaustauschs und seinem Stellenwert für die literarische Produktion beschäftigt. Die Metapher des Handeltreibens kommt ihm bei dem Versuch entgegen, Prozesse des Kulturtransfers und der Vermittlung fremdkultureller Aspekte und Gegenstände zugleich anschaulich und prägnant zu verdeutlichen: „Damit aber alles, was der Reisende zurückbringt, den Seinigen schneller behage, übernimmt er die Rolle eines Handelsmanns, der seine Waren gefällig auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lobpreisende Redensarten wird man ihm nicht verargen.“1 In den zitierten Zeilen führt das zentrale, dem Bereich der Wirtschaft entlehnte Bild des Handelns den Gedanken einer Zirkulation der Waren bzw. Gegenstände und einer reziproken Beziehung zwischen den Kulturen ein. Häufig bedarf es, wie Goethe implizit annimmt, der Figur eines Mittlers oder Dritten,2 der die Fragmente der anderen Kulturtradition bzw. der fremdkulturellen Überlieferung angemessen zu erfassen und in den eigenen Kulturzusammenhang zu integrieren versteht. Diese Aufgabe hat Goethe keinem anderen als sich selbst zugedacht, als er im West-östlichen Divan

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Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16]. Band 3. Berlin 1960 ff, S. 164. Zur Figur und Konzeption des Dritten vgl. auch: Doris Bachmann-Medick: 1+1=3? – Interkulturelle Beziehungen als ›dritter Raum‹. In: Weimarer Beiträge 45/4 (1999), S. 518–531. Vgl. ferner: Claudia Breger und Tobias Döring (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi 1998. Zur interkulturellen Dimension und ambivalenten Struktur in Johann Wolfgang Goethes Divan vgl. auch die aufschlussreiche Studie von Peter Fuchs: Westöstlicher Divan. Zweischneidige Beobachtungen. Frankfurt/M: Suhrkamp 1995. 9

ANNETTE SIMONIS

(1819), angeregt durch die Lyrik des persischen Dichter Hafis,3 die individuelle Liebesbeziehung zu Marianne von Willemer mit dem ambitionierten Unterfangen eines west-östlichen Brückenschlags und eines poetischen Kulturtransfers verknüpfte. In diesem Sinne notierte Goethe über seine Begegnung mit Hafis’ Dichtung: „…ich mußte mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Die Einwirkung war zu lebhaft, die deutsche Übersetzung lag vor, und ich mußte also hier Veranlassung finden zu eigener Teilnahme. Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, tat sich hervor, und dies mit um so mehr Heftigkeit, als ich höchst nötig fühlte mich aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im stillen bedrohte, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Teil zu nehmen meine Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.“4 Um den Lesern jenes Unternehmen und die damit verbundenen Schwierigkeiten vor Augen zu rufen, bedient sich der Autor nicht zufällig einer weiteren fiktiven Rollenidentität, nämlich der damals modernen Figur des Reisenden: „Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der fremden Landesart mit Neigung bequemt, deren Sprachgebrauch sich anzueignen trachtet, Gesinnungen zu teilen, Sitten aufzunehmen versteht.“5 Von Anfang an stehen die Begegnung mit der fremden Kultur und das wechselseitige Verstehen in den ‚Noten zum west-östlichen Divan‘ im Zeichen des partiellen Scheiterns und der apologetischen Haltung, die mehr als bloße Bescheidenheitsgeste scheint: „Man entschuldigt ihn, wenn es ihm auch nur bis auf einen gewissen Grad gelingt, wenn er immer noch an einem eignen Akzent, an einer unbezwinglichen Unbiegsamkeit seiner Landsmannschaft als Fremdling kenntlich bleibt. In diesem Sinne möge nun Verzeihung dem Büchlein gewährt sein!“6 Der interkulturelle Austausch ist, wie er sich auch Goethe um 1819 darstellt, stets epistemologisch prekär und zudem 3

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1814 hatte Goethe den Divan des persischen Dichters Muhammad Schams ad-Din (Hafis) in der deutschen Übersetzung des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall von 1812 gelesen. Er verlieh seiner Begeisterung über diese Dichtung vielfach Ausdruck, vor allem als er sich zu einem eigenen Divan inspirieren ließ. Hafis (eigentl. Muhammad Schams ad-Din) war um 1326 in Schiras geboren worden und starb dort 1389 oder 1390. J. W. Goethe: Aus den Tag- und Jahresheften, 1815. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz. Band 10. München, 12. Auflage 2003, S. 514. J. W. Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16]. Band 3. Berlin 1960 ff, Bd. 3, S. 164. Ebd., Bd. 3, S. 164. 10

EINLEITUNG. INTERMEDIALITÄT UND KULTURAUSTAUSCH

von vielschichtigen Transaktionen und Prozessen abhängig, die wiederum an höchst verschiedenartige Medien und Ausdrucksformen gebunden sind. Die biblische Dichtung des ‚Hohenlieds‘ avanciert für Goethe im Kontext des eigenen Divan zum poetischen Vorbild, nicht zuletzt deshalb, weil sie für eine komplexe intertextuelle Form der Liebesdichtung steht, die im Verlauf ihrer langen westlichen und östlichen Rezeptionsgeschichte7 immer wieder neuer Aneignungs- und Auslegungsprozesse bedarf, ohne ihre rätselhafte Struktur preiszugeben: „Wir verweilen sodann einen Augenblick bei dem Hohenlied, als dem Zartesten und Unnachahmlichsten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmutiger Liebe zugekommen. Wir beklagen freilich, daß uns die fragmentarisch durcheinandergeworfenen, übereinandergeschobenen Gedichte keinen vollen, reinen Genuß gewähren, und doch sind wir entzückt, uns in jene Zustände hineinzuahnen, in welchen die Dichtenden gelebt.“8 Das dichte intertextuelle Gefüge und die besondere mediale Struktur der alttestamentarischen Liebesdichtung geben gerade Anlass zu immer neuen Lektüren und Interpretationsansätzen, ohne die vorhandene Bedeutungspluralität und den mit ihr verbundenen Deutungsspielraum jemals auszuschöpfen: „Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Rätselhaft-Unauflösliche gibt den wenigen Blättern Anmut und Eigentümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungsliebende Geister angelockt worden, irgendeinen verständigen Zusammenhang zu finden oder hineinzulegen, und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit“9 Die Einsicht in die Notwendigkeit, literarische Texte in internationalen und interkulturellen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhängen zu betrachten, die Goethe aus der beschaulichen Perspektive seines Spätwerks formuliert, entbehrt nicht der Aktualität. Im Zeitalter der Globalisierung und der Medienrevolutionen erhält sie vielmehr eine gesteigerte Brisanz. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind zwei unterschiedlichen aktuellen Themenfeldern gewidmet, der Intermedialität und dem Kulturaustausch, zwischen denen sich interessante Verbindungen und Affinitä7

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Vgl. Ute Jung-Kaiser: Das Hohelied. Liebeslyrik als Kultur(en) erschließendes Medium? 4. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main 2006. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien 2007. Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16]. Band 3. Berlin 1960 ff, Bd. 3, S. 165. Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16]. Band 3. Berlin 1960 ff, Bd. 3, S. 165-166. 11

ANNETTE SIMONIS

ten auftun. Das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Medien und Künsten produziert aufschlussreiche Spannungsfelder und ‚Zwischenräume‘, die sich in ästhetischer Hinsicht als äußerst fruchtbar erweisen und unterschiedlich genutzt werden können. Es entstehen Reibungen und Experimentierfelder, die für neue kulturelle Codierungen offen bzw. sensibel sind. Intermedialität erscheint vor dieser Folie als Anregungshorizont für Kulturaustausch und für ästhetische sowie kulturpoetische Neuerungen. Umgekehrt können Momente des Kulturaustauschs und Kulturtransfers Kristallisationspunkte bilden, die mediale Verschiebungen, Synthesen und Interferenzen auslösen. Indem der vorliegende Band das produktive ästhetische Zusammenspiel der verschiedenen Künste und Medien beleuchtet, rücken dabei häufig auch Aspekte des Kulturaustauschs als aufschlussreiche Begleitphänomene in den Blick. Die Medien- und Kulturgrenzen überschreitende Perspektive erlaubt es überdies, das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen zwischen Textsorten, Künsten und Medien in einem übergreifenden europäischen Epochenkontext zu verorten. Intermedialität wird hier in dem weiteren Sinne einer Beziehung zwischen (verschiedenen) Medien oder einer medienüberschreitenden Tendenz verstanden.10 Der Begriff wird demzufolge nicht auf die intertextuellen und -medialen Bezüge innerhalb eines einzelnen Werks beschränkt. Ähnlich offen wird der Begriff ‚Kulturaustausch‘ gehandhabt, wenn auch die meisten Beiträge auf Bewegungen und Prozesse innerhalb der europäischen Kulturen bezogen sind. Einige Aufsätze verbinden beide Aspekte; andere wiederum konzentrieren sich auf einen der beiden Schwerpunkte. Der Band vereinigt bewusst heterogene Medien- und Kulturkonzepte und stellt verschiedene Standpunkte bzw. Positionierungen innerhalb einer sehr kontroversen und dadurch gerade äußerst produktiven Forschungsdiskussion vor. 10 Zur inzwischen breit gefächerten und perspektivenreichen Intermedialitätsforschung vgl. besonders die richtungweisenden Beiträge: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998; Claudia Liebrand und Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002; Günter Schnitzler und Edelgard Spaude (Hg.): Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten. Freiburg 2004; Joachim Paech: Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen. Zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert. In: Knut Hickethier (Hg.): Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Berlin 1989, S. 68-77; Reinhard Kargl: Wie Film erzählt. Wege zu einer Theorie des multimedialen Erzählens im Spielfilm. Frankfurt 2006. 12

EINLEITUNG. INTERMEDIALITÄT UND KULTURAUSTAUSCH

Wie Yvonne Spielmann zu Recht hervorhebt, akzentuieren intermediale Strukturen bzw. Prozesse meist die Differenz der an dem Zusammenspiel beteiligten Medien, nicht etwa deren Ähnlichkeit oder Einheit.11 Die beteiligten Medien treten durch die Überlagerungssituation in ihrer jeweiligen Eigenheit und Besonderheit prägnanter hervor. Jene Einsicht legt nun in unserem Untersuchungskontext die Ausgangshypothese nahe, dass durch intermediale Konstellationen die Andersartigkeit der im jeweiligen Beispiel dargestellten Medien zum Ausdruck kommt, so zum Beispiel die (implizite) Differenz zwischen Bild und Schrift, Buch und Film, Text und Musik, narrativem Genre und Theater etc. betont wird. Es kommt zu einer Kontrastierung der beteiligten Medien, die dadurch in ihrer jeweiligen Eigenart und ihren charakteristischen Spezifika schärfer hervortreten. Zudem erscheint dasjenige Medium, das Gegenstand der externen Beobachtung bzw. Durchleuchtung ist, tendenziell als das Andere, als ein Moment von Alterität, selbst dann, wenn es dem Zuschauer, Zuhörer oder Leser aus anderen Kontexten oder alltäglichen Gebrauchsmodi hinlänglich vertraut ist. Die intermediale Beziehung unterstreicht also die Differenzqualität der beteiligten Medien, denn sie verleiht denjenigen Medien, die Objekte der Darstellung oder des künstlerischen Transformationsprozesses sind, besondere Prägnanz und erlaubt ihre Profilierung und genaue Sondierung aus der Außenperspektive.

11 Vgl. Yvonne Spielmann: Aspekte einer ästhetischen Theorie der Intermedialität. In: Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Hg. Heinz B. Heller, Matthias Kraus, Thomas Meder, Karl Prümm und Hartmut Winkler. Marburg 2000, S. 57-68. Vgl. auch den wegweisenden Beitrag von Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998, besonders S. 15-16. Siehe ferner den jüngsten Band zur aktuellen Intermedialitätsdebatte und -konzeption von Joachim Paech und Jens Schröter: Intermedialität – Analog / Digital. Theorien, Methoden, Analysen. München: Fink 2008. Im letztgenannten Sammelband wird die geläufige Anwendung des Begriffs zur Verdeutlichung von (transformativen) Relationen zwischen den Kunstformen erweitert um die Idee des Fortbestehens alter Medien in neuen Supermedien sowie um die erkenntnisleitende Differenz zwischen analog und digital. 13

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Die Kategorie des ‚Kulturaustauschs‘ ist nicht weniger vielfältig.12 Zudem ist sie nicht notwendigerweise immer positiv besetzt; der Kulturtransfer kann vielmehr auch ein unbewusstes oder gar gezieltes Missverstehen oder eine Vereinnahmung des Anderen bzw. kulturell Fremden mit sich bringen. Julia Zernack untersucht, wie und mit welchen Intentionen sowie impliziten Zielsetzungen mythologische Elemente aus der Edda in der Lyrik Stefan Georges und Karl Wolfskehls adaptiert werden. Die Rezeption der entlegenen mittelalterlich-skandinavischen Texte dient paradoxerweise auch einer Absorption in die eigene Kulturpolitik, da jene bruchstückhafte Aneignung der isländischen Überlieferungen in der deutschen Literatur jener Zeit nicht zuletzt im Zeichen der Konstruktion einer vermeintlich ‚germanischen‘ Mythologie steht. Auch Silke Tammen beleuchtet in ihrem Beitrag das produktive Wechselspiel zwischen den medialen Eigenheiten und Besonderheiten eines Kunstwerks und dessen spezifischer Wahrnehmung und Wirkungsweise in einem gegebenen kulturellen Kontext. Sie legt dar, wie der narrative Verlauf einer Heiligenlegende aus dem Corpus der Legenda aurea im Medium der Visualität, genauer: in der Struktur eines Bilderzyklus, in einer bestimmten Weise, die nur im Medium des Visuellen denkbar ist, umgesetzt und zugleich auf subtile Weise modifiziert wird. Die gemalte Eugenia-Legende auf der Bildtafel aus dem 13. Jahrhundert unterbricht den geläufigen narrativen Fluss der Legende und das literarische Gattungsschema durch aufschlussreiche reziproke Beziehungen zwischen den einzelnen Bildelementen, die den Betrachter zum Nachdenken anregen und zur aktiven Sinnproduktion im Nachvollzug der visuellen Entfaltung der Lebensgeschichte Eugenias auffordern. Im Vergleich zum legendenhaften Erzähltext verschieben sich im Medium des 12 Zur Konzeption des Kulturtransfers und des damit verbundenen kulturwissenschaftlichen Ansatzes vgl. besonders: Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands. Paris 1999. Siehe auch: Michel Espagne und Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S. In: Francia 13 (1985), S. 502-510; Michel Espagne: Transferts culturels: l’exemple franco-allemand. Entretien avec Gérard Noiriel. In: Genèses 8 (1992), S. 146-154; Katharina Middell und Matthias Middell: Forschungen zum Kulturtransfer. Frankreich und Deutschland. In: Grenzgänge 1 (1994), H. 2, S. 107-122. Als richtungweisender Beitrag aus der deutschen Romanistik seien folgende impulsgebende Sammelbände erwähnt: Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815. 2 Bde. Leipzig 1997; Vergleiche auch den anregenden disziplinenübergreifenden Sammelband von Ingeborg Tömmel (Hg.): Europäische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung. Opladen 2001, S. 213-226. 14

EINLEITUNG. INTERMEDIALITÄT UND KULTURAUSTAUSCH

Bildes auch die kulturellen Gender-Implikationen, zumal die beiden parallel geordneten Bildstreifen bzw. Lebensabschnitte der Eugenia einen komplexen Bezugsrahmen für die weibliche Körper-Seele-Thematik eröffnen. Rita Unfer Lukoschik behandelt in ihrem Beitrag eine künstlerisch eindrucksvolle Verbindung von Kulturaustausch und Intermedialität. Anhand der Veroneser Fresken Giovanni Maria Falconettos, denen versteckte Textzitate auf verschlungenen Spruchbändern integriert sind, kann sie beispielhaft nachvollziehen, wie sich textuelle und ikonographische Strukturen zu einer komplexen Gesamtkomposition überlagern und verdichten. Zudem lässt sich erkennen, dass die Fresken eine frühe Adaption der mystischen Einhornjagd in Italien darstellen und ein Motiv aufnehmen, welches aus der deutschen Kultur importiert wurde. Kulturtransfer und intermediales ästhetisches Spiel gehen eine gelungene und äußerst wirkungsvolle Verbindung ein. Dirk Niefanger widmet sich der produktiven Interferenz zwischen den epischen und den dramatischen Gattungen in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Dabei gilt das Augenmerk sowohl der Integration von Erzählformen und -elementen im Drama des 17. Jahrhunderts als auch den Erzählungen über Dramen und Aufführungen, d.h. metadramatischen Texten verschiedenen Typs. Das erzählte und das erzählende Drama erweisen sich als sehr beliebte und aufschlussreiche Darstellungsformen im Europa der frühen Neuzeit, nicht zuletzt im Blick auf die damalige Theaterkultur und ihre Rezeptions- sowie ihre charakteristischen Inszenierungsmodalitäten. Roman Lach gelingt es auf subtile Weise, die Transposition von Hogarths künstlerischer Methode in den theatralischen Bühnenraum nachzuvollziehen. Das Augenmerk gilt der Überlagerung bildhafter und theatralischer Räume ebenso wie dem Spannungsfeld zwischen Gemäldekomposition und schauspielerischer Bewegung und Gebärde. Während Gregor Schwering die häufig vernachlässigte körperhafte Dimension der Sprache, das Spannungsfeld zwischen Leib und Seele, in den Werken von Novalis untersucht, widmet sich Cord-Friedrich Berghahn der bildhaften und metaphorischen Dimension in Tiecks Romanen und fokussiert dabei die erstaunliche Gegebenheit, dass gerade der narrative Text des romantischen Autors eine nachdrückliche Ästhetik des Bildes mit Stilzügen sui generis entwirft. Auch bei Beer-Hofmann kommt den Bildmedien eine besondere Evidenz eigener Art zu, allerdings wird diese visuelle Erkenntnisform, wie Stefan Scherer nachweist, im Text nicht bloß bestätigt, sondern durchaus auch kulturkritisch unterlaufen. Insgesamt lässt der moderne Erzähltext Der Tod Georgs somit

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ANNETTE SIMONIS

die Möglichkeiten und Grenzen der bildhaften Denk- und Schreibform und deren interne Aporien sichtbar werden. Im Beitrag von Günter Oesterle wird ein intermediales Spannungsfeld zwischen Text, Bild und Musik eröffnet, denn Eduard Mörikes Gedicht „L. Richters Kinder-Symphonie“ aus dem Jahr 1861 verkörpert beispielhaft eine derartige Überlagerung von verschiedenen Medien und Wahrnehmungsoptionen. Der Text setzt, wie Oesterle sehr plausibel ausführt, mit einer doppelten Bildbeschreibung ein, im Paratext und im Gedicht selbst, wobei das evozierte Bild und die Ekphrasis wiederum eine eindrucksvolle musikalische Performanz thematisieren. Als nicht weniger komplex erweist sich die Diskussion des Intermedialen in den Ästhetiken des 19. Jahrhunderts, wie sie Lothar Schneider detailliert nachvollzieht, zumal hier die zeitgenössischen Leser darauf angewiesen waren, imaginäre Entwürfe und eigene Vorstellungsbilder der medialen Interaktion zu generieren. Auch Monika Schmitz-Emans beschäftigt sich mit den Reflexionsformen und Darstellungstypen von Medien bzw. Intermedialität. Sie erörtert vor allem, inwieweit seit dem 19. Jahrhundert Gespenster als bevorzugte Metaphern des neuen Mediums der Photographie fungierten. Der Beitrag von Linda Simonis lässt deutlich werden, warum eine vergleichsweise unscheinbare Textsorte wie die Gelegenheitsdichtung sich zu einem bevorzugten Genre des Kulturaustauschs in der Frühen Neuzeit entwickeln konnte. Die Tendenz zur Gattungsmischung wie z.B. von Liebeslyrik und panegyrischen Textsorten begünstigte die internationale Verbreitung solcher Kasuallyrik in höfischen Kreisen und stellte zugleich ein poetisches Ausdrucksmedium im Zeichen von Kontingenzerfahrung dar. Annette Simonis und Michael Schwarte diskutieren in ihrem Beitrag die Vertonungen verschiedener Gedichtzyklen durch die Komponisten Schumann, Schönberg und Henze. Liedvertonungen stellen sich als intermediale Gebilde par excellence dar, wobei der Spannungsbogen zwischen Sprache bzw. Text und Musik im Zentrum des Interesses steht. Textuelle und melodische Aspekte modellieren in ihrem reziproken Zusammenwirken die Liedaussage. Auch innermusikalisch hat man es mit unterschiedlichen Medien zu tun, insofern zwischen der menschlichen Singstimme und der instrumentalen Begleitung zu differenzieren ist. Die letztgenannte Relation hat sich in der modernen Musikgeschichte als hochgradig modellierbar erwiesen, seit die Unterordnung des Instrumentalen aufgegeben ist zugunsten gleichberechtigter Interaktionspartner und die komplementäre Beziehung durch eine Vielzahl, ein weites Spektrum möglicher Relationen ersetzt wird: Ein agonales oder sogar antagonistisches Verhältnis zwischen Gesang und Instrumentierung ist ebenso

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EINLEITUNG. INTERMEDIALITÄT UND KULTURAUSTAUSCH

denkbar wie ein wechselseitiges ironisches Unterlaufen. Bei Schönberg und Henze zeichnet sich zudem mit je eigener Akzentuierung die Tendenz ab, das kulturell Andere und Fremde zum wiederkehrenden Thema und verborgenen Zielpunkt der musikalischen Bewegung der Lieder zu wählen. Die neapolitanischen Lieder markieren eine Schlüsselphase in Henzes künstlerischer Entwicklung, denn in jener Schaffensperiode erprobte er während des selbstgewählten gemeinsamen Italien-Exils mit der Dichterin Ingeborg Bachmann erstmals die Konstruktion einer neuen kulturellen Identität. Herbert Grabes zeigt durch seine genaue Rekonstruktion der französischen, deutschen und englischsprachigen Debatte um das ‚Erhabene‘ bzw. ‚Sublime‘, inwieweit die erstaunliche Renaissance und Hochkonjunktur jener ästhetischen Kategorie in der Postmoderne und der Gegenwart sich zu keinem geringen Teil dem regen nationenübergreifenden literarischen, poetologischen und wissenschaftlichen Austausch verdankt. Ohne die Internationalität der Theoriebildung und die produktive kulturübergreifende Kontroverse um das Erhabene bzw. seine Auslegung wären die rasante Wiederbelebung der ästhetischen Figur und ihre interne Differenzierung kaum vorstellbar. Künstlerische und wissenschaftliche Bemühungen gehen dabei offenbar unbeabsichtigt Hand in Hand und ergänzen einander. Sieglinde Grimm analysiert Sofia Coppolas Film Lost in Translation als Beispiel einer filminternen Medienreflexion und Medienkritik, die durch die Darstellung einer Begegnung mit dem Fremden in Gestalt des Anderen sowie des fremdkulturellen Umfelds überlagert wird. In Lost in Translation wird sowohl die Verwirrung durch sich überkreuzende mediale Interaktionen (Telefon, Fax, Werbeplakate, das Drehen eines Werbespots, Fernsehen etc.) geschildert als auch die Isolation und Fremderfahrung der westlichen Reisenden thematisiert. Die Virtualität der Medien und der durch sie generierten Wirklichkeiten lässt sich im Sinne von Bernhard Waldenfels auch durchaus positiv wenden, da die medialen Entwürfe den immer schon im menschlichen Bewusstsein existenten ‚Möglichkeitssinn‘ und den Modalwert von Erfahrungen unterstützen. Allerdings zeigt sich in Coppolas Film, dass der versuchte Kulturaustausch zwischen den westlichen Besuchern und den Japanern zunächst überwiegend durch Missverständnisse geprägt ist und sein Gelingen weitgehend verhindert wird. Die Barriere und das unverständliche Fremde scheinen zu überwiegen, obgleich der Film letztlich das versöhnliche Ende eines typischen Hollywood Films anpeilt.

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NORDISCHE MYTHEN IN DER DEUTSCHEN LITERATUR. EDDASPUREN BEI STEFAN GEORGE UND KARL WOLFSKEHL1 JULIA ZERNACK

I. Die älteste Überlieferung der nordischen Mythologie und Heldensage ist leicht zu überblicken: Zwei isländische Werke des 13. Jahrhunderts, beide bewahrt unter dem Namen ‚Edda‘, können als die wichtigsten Quellen gelten. Nur hier (und an ganz wenigen anderen Stellen) sind zusammenhängende Mythendarstellungen bewahrt, und erst diese machen alle weiteren Quellen – Götternamen in mittelalterlichen Handschriften, Ortsnamen, Bildzeugnisse u. ä. – überhaupt verständlich. In einem eindrucksvollen Gegensatz zu diesem schmalen Korpus der Quellen steht das Ausmaß ihrer Rezeption in der Neuzeit: Belege finden sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute in Wissenschaft und Literatur, Religion, Kunst und Musik, in der Publizistik und in der Alltagskultur, und zwar in vielen europäischen Ländern und darüber hinaus.2 Auch die deutsche Literatur greift immer wieder auf eddische Themen und Motive zurück, obgleich nicht annähernd mit der Intensität, mit der sie etwa aus dem Reservoir der antiken Götter- und Heldensage schöpft. Während deren Faszination für die Literatur (und für viele andere Künste) überall inzwischen zum Kanon kulturwissenschaftlicher Forschung gehört, harrt die Edda-Rezeption vor allem des 19. und 20. Jahr1

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Der Aufsatz ist die erweiterte Fassung einer früheren Publikation: „Apollo lehnt geheim an Baldur“ – zu einer interpretatio graeca bei Stefan George. In: Þú ert vísust kvenna. Beatrice La Farge zum 60. Geburtstag. Hg. Klaus von See und Julia Zernack. Heidelberg 2007 (= Skandinavistische Arbeiten, 22), S. 65-83. Beide Untersuchungen gehören in den Kontext des interdisziplinären Forschungsprojekts „Edda-Rezeption“ am Institut für Skandinavistik der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, das seit März 2007 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Margaret Clunies Ross, Lars Lönnroth: The Norse Muse. Report from an International Research Project. alvíssmál 9 (1999), S. 3-28. 19

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hunderts noch der systematischen Untersuchung.3 Ein Desiderat besteht hier auch im Hinblick auf die deutsche Literatur.4 Das liegt an der ideologischen Belastung des Themas durch die deutsche Germanomanie des 19. und 20. Jahrhunderts, aber wohl auch an der Epigonalität vieler Rezeptionszeugnisse, deren Verfasser oft weniger auf ästhetische Erneuerung aus waren denn auf ein weltanschauliches Bekenntnis. Sich davon abschrecken zu lassen, hieße allerdings, das kultur-, ideen- und ideologiegeschichtliche Erkenntnispotential der Edda-Rezeption (in der Literatur und darüber hinaus) zu unterschätzen. Im übrigen sind es keineswegs nur die zweit- und drittrangigen Autoren, die sich – und sei es en passant – im Mythenschatz der Edda bedienen. Ein Überblick darüber fehlt aber bislang. Es sind also überhaupt erst einmal die Spuren, welche die nordischen Mythen in der deutschen Literatur hinterlassen haben, zusammenzutragen und in ihren historischen Kontext zu stellen. Wie aufwendig und ergiebig allein dieser Arbeitsschritt sein kann, zeigen die folgenden Beobachtungen. Sie setzen exemplarisch bei einem einzelnen, scheinbar isoliert dastehenden Beleg an, und zwar bei der Erwähnung des nordischen Gottes Baldur in Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘ aus dem Jahr 1917. Auch hier ist der weltanschauliche Bezug mit Händen zu greifen, ohne dass wir es indes mit einer irgendwie trivialen Mythenadaption zu tun hätten. Über den engeren Zusammenhang des Gedichts hinaus wird bei dieser Untersuchung die – für die deutsche Rezeption charakteristische – Wahrnehmung der nordischen als einer ‚germanischen‘ Mythologie in den Blick rücken sowie deren ebenso typische Parallelisierung mit der antiken Göttersage, außerdem die deutlich erhöhte Aufmerksamkeit, die man den nordischen Mythen – und speziell der Figur Baldurs – in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in den Jahren davor und danach entgegenbrachte, und schließlich das spezifische, äußerst ‚mythenintensive‘ Milieu der sogenannten Kosmischen Runde und damit das Werk des deutsch-jüdischen Dichters Karl Wolfskehl (1869-1948).

II. Die Erwähnung des Gottes Baldur findet sich in der zwölften und letzten Strophe von Georges Gedicht ‚Der Krieg‘, das zuerst 1917 als Flugschrift veröffentlicht und 1928 in die Sammlung ‚Das neue Reich‘ inkorporiert wurde. 3 4

Vgl. Clunies Ross, Lönnroth (Anm. 2), S. 24. Einen guten Ausgangspunkt bietet aber Fritz Strichs komparatistische Untersuchung Die Mythologie in der deutschen Literatur. 2. Bde. Halle 1910 (Nachdruck Bern und München 1970). 20

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Die jugend ruft die Götter auf.. Erstandne Wie Ewige nach des Tages fülle.. Lenker Im sturmgewölk gibt Dem des heitren himmels Das Zepter und verschiebt den Längsten Winter. Der an dem Baum des Heiles hing warf ab Die blässe blasser seelen · dem Zerstückten Im glut-rausch gleich.. Apollo lehnt geheim An Baldur: ‚Eine weile währt noch nacht · Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht. ‘ Der kampf entschied sich schon auf sternen: Sieger Bleibt wer das schutzbild birgt in seinen marken Und Herr der zukunft wer sich wandeln kann.5

Diese Strophe ist eine der wenigen Stellen in Georges Werk, an denen Nordisch-Germanisches überhaupt eine Rolle spielt:6 Der Dichter strebte bekanntlich danach, die Kunst im Rückgriff auf die griechische Kultur zu erneuern; das Nordisch-Germanische – so populär es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet war – schien ihm dafür, jedenfalls auf den ersten Blick, kaum Anknüpfungspunkte zu bieten.7 Umso auffälliger ist die singuläre Erwähnung Baldurs in ‚Der Krieg‘. Der Gott erscheint hier als das letzte Glied in einer Götterreihe. Diese wird angekündigt durch den Vers „die jugend ruft die götter auf“ und beginnt mit der Umschreibung „Lenker / Im sturmgewölk“. Die so umschriebene Figur lässt sich unschwer als eine germanische Gottheit identifizieren, wenngleich es nicht ganz eindeutig ist, ob wir es mit Thor – dem deutschen Donar – zu tun haben, der naturmythologisch als Gewittergott gedacht wurde, oder mit Odin bzw. Wotan, von dem man sagte, dass er als der Wilde Jäger an der Spitze eines geisterhaften Heeres im Sturm dahinzog. Von dieser Gottheit heißt es nun, dass sie ihre Herrschaft weitergebe: „Dem des heitren himmels“, einem weiteren „Lenker“

5 6

7

Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 1. München 2000, S. 414-415. Außer auf die hier genannten Götterfiguren rekurriert George auch auf die Nornen, ferner gibt es hier und da Anspielungen auf nordisch-germanische Mythen, etwa auf den wilden Jäger und auf den Fimbulwinter; vgl. Arvid Brodersen: Stefan George und der Norden. Castrum Peregrini CVII-CVIIICIX (Amsterdam 1973), S. 129-165. In ‘Der Krieg’ treten zudem an einer Stelle offenbar Walküren auf („Die ihr die fuchtel schwingt auf leichenschwaden“, Str. 4). Die Frage, ob diese wenigen Anspielungen auf die nordische Mythologie einen systematischen Platz in Georges Gesamtwerk haben, bleibt hier außer Betracht. Vgl. auch Stefan Breuer: Stefan George und die Phantome der ‘Konservativen Revolution’. George-Jahrbuch 2 (1998/99), S. 141-163, hier S. 146. 21

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also. Dieser ist etwas weniger leicht zu deuten. Doch handelt es sich wohl um jenen Gott, dessen rekonstruierter Name *Tiwaz lautet. Er erscheint im Althochdeutschen als *Zíu oder Tíu, im Nordischen als Týr. Ursprünglich muss *Tiwaz ein Himmelsgott gewesen sein, und zwar der „Gott des strahlenden Himmels und des Tages“8. Später hat er sich zum Kriegsgott gewandelt; diese Vorstellung ist besser belegt, für George aber offensichtlich nicht von Bedeutung. Die nun folgende dritte Götterfigur meint man – nachdem zwei germanische Gottheiten vorangegangen sind – leicht als eine weitere solche identifizieren zu können: Die Umschreibung „Der an dem Baum des Heiles hing“ würde dann anspielen auf den Mythos von Odins Selbstopferung, wie ihn in der Liederedda die ‚Hávamál‘ (Str. 138) überliefern: Veit ec, at ec hecc vindgameiði á nætr allar nío, geiri undaðr oc gefinn Óðni, siálfr siálfom mér, á þeim meiði, er mangi veit, hvers hann af rótom renn.9 Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum neun ganze Nächte, vom Speer verwundet und Odin geopfert, selber mir selbst, an dem Baum, von dem niemand weiß, aus welchen Wurzeln er wächst.10

Liest man allerdings weiter bei George – über die Umschreibung „der an dem Baum des heiles hing“ hinaus –, dann ist diese Götterfigur keineswegs mehr so eindeutig als nordische oder germanische zu erkennen. Vielmehr öffnet sich an dieser Stelle im Gedicht ein Assoziationsfeld, das noch andere Religionen und deren Mythen umgreift: Am „Baum des Heiles“ hing schließlich auch Christus. Das erkennt man spätestens dann, 8

Wolfgang Golther: Germanische Mythologie. Handbuch. Rostock 1895. Hier zitiert nach dem Nachdruck Essen [1996], S. 200. Zu den mit *Tiwaz und Týr zusammenhängenden Problemen vgl. ausführlich Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte. Bd. 2. 2., völlig neu bearbeitete Aufl.. Berlin 1957, S. 10-26. 9 Gustav Neckel: Edda. Lieder des Codes regius nebst verwandten Denkmälern. 5. verbesserte Aufl. von Hans Kuhn. Bd. I: Text. Heidelberg 1983, S. 40. 10 Die Götter- und Heldenlieder de Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Arnulf Krause. Stuttgart 2004, S. 65. 22

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wenn an die Überwindung des Todes, der „blässe blasser seelen“, erinnert wird. Und gerade das erweitert nun das mythologische Assoziationsspektrum abermals. Ist doch jener Gott, der sowohl Odin als auch Christus zu sein scheint, „dem Zerstückten [...] gleich“, also auch als Dionysos zu denken. Sodann aber lenkt die Aufzählung über die ausdrückliche Erwähnung Apollos, einer weiteren Götterfigur aus der antiken Mythologie, mit der expliziten Nennung Baldurs zurück zu ihrem nordisch-germanischen Ausgangspunkt. Es treten in der Strophe mithin die folgenden Götterfiguren in Erscheinung: Thor/Donar, der rekonstruierte Tiwaz, Odin/ Wotan, Christus, Dionysos, Apollo und – an der exponierten letzten Stelle der Reihe – Baldur. Weitere Assoziationen mögen sich aufdrängen. Nun werden außer den beiden letzten diese Götterfiguren nicht beim Namen genannt. Das suggeriert ein religiöses Tabu, tatsächlich aber handelt es sich um einen poetischen Kunstgriff: Er macht es möglich, die Götter verschiedener Religionen assoziativ zu überblenden, und zwar so, dass der Eindruck entsteht, die christliche und die antike Mythologie seien gleichsam im Verborgenen auf die germanische bezogen, so wie Apollo „geheim“ an Baldur „lehne“. Die innere Bewegung dieser mythologischen Synthese hat zur Folge, dass die antike mit der nordischgermanischen Mythologie in Analogie gebracht und die christliche suspendiert wird: „Doch diesmal kommt von osten nicht das licht“ heißt es im Anschluss an die Gleichsetzung der beiden Lichtgottheiten Apollo und Baldur. „Doch diesmal kommt von osten nicht das licht“: Das mag auch ein Hinweis sein auf den zeithistorischen Kontext und auf die russische Revolution.11 Jedoch geht die zwölfte Strophe mit ihrer Mythensynthese über den historischen Horizont weit hinaus. So dürfte das ursprünglich biblische „ex oriente lux“ hier mit allen Bedeutungen anklingen, die diese Wendung im Lauf der Zeiten an sich gezogen hat: Sie evoziert zunächst das Bild des Sonnenaufgangs beim Herrschaftsantritt jenes als Lenker des „heitren himmel“ apostrophierten Gottes, weist aber auch auf die Erwartung der Ankunft Christi aus dem Osten. In der Negation schwingen sodann die vor allem durch die antiken Berichte von den sagenhaften Hyperboreern angeregten Vorstellungen mit, nach denen sich die Kultur nicht von Osten, sondern von Norden her verbreitet habe. Sie finden sich schon im 17. Jahrhundert im schwedischen Götizismus, doch wird George ihnen nicht hier, sondern in der deutschen Romantik begegnet sein und sicherlich auch in dem zu seiner eigenen Zeit allgegenwärtigen

11 Das vermutet etwa Horst Nalewski: Stefan George. Der Krieg (1917). In: Begegnung der Zeiten. Festschrift für Helmut Richter zum 65. Geburtstag. Hg. Regina Fasold u.a. Leipzig 1999, S. 299-310, hier S. 303. 23

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völkischen Schlagwort „ex septentrione lux“.12 Die Strophe beschreibt also offenbar ein überhistorisches Geschehen, und darüber hinaus sogar einen Vorgang von kosmischen Ausmaßen. Das wird im Anschluss an die Götterreihe direkt gesagt: „Der kampf entschied sich schon auf sternen“. Unterstrichen wird dieser Umstand mit einem weiteren Motiv aus der nordischen Mythologie, und zwar im vierten Vers: „Lenker / Im sturmgewölk gibt dem des heitren himmels / Das Zepter und verschiebt den Längsten Winter“. Der „längste Winter“, der sogenannte Fimbulwinter, leitet in der nordischen Mythologie die Ragnarök ein13 und steht in der eddischen Dichtung, in ‚Vafþrúðnismál‘ 44, sogar einmal pars pro toto für den Untergang der Welt. In seiner letzten Strophe beschreibt also das Gedicht in einer grandiosen Mythensynthese eine Metamorphose der Götter, durch die der Untergang der Welt noch einmal aufgehalten wird. Für die Zukunft prophezeit es eine mit der Jugend in Verbindung gebrachte (neu)heidnische Herrschaft. Diese chiliastische Prophetie steht in einem zunächst irritierenden Spannungsverhältnis zu der eschatologischen Vision der ersten zehn Strophen des Gedichts: Dieses verflucht förmlich – in scharfen Worten und drastischen Bildern – das Geschehen des Ersten Weltkriegs, und es kritisiert überdies die auf diese ‚reinigende Katastrophe‘ gesetzten Erlösungshoffnungen: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein / nur viele untergänge ohne würde“, heißt es da (Str. 5), und: „Wie faulige frucht / Schmeckt das gered von hoh-zeit auferstehung / In welkem ton“ (Str. 8). Merkwürdigerweise verspricht der Text selbst dann aber ebenfalls „Erlösung“; das steht wörtlich so am Ende der zehnten Strophe – an eben jener Stelle, an der die eschatologische Perspektive in die chiliastische umschlägt: Wo bisher Anklage, Verfluchung und Untergangsvisionen vorherrschten, dominiert nun die Aussicht auf Zukunft in einem offenbar schon immer existierenden und dennoch verheißenen Land. Nun ist Stefan Georges kompromisslose Ablehnung des Krieges wohlbekannt, ebenso wie seine Kritik an der Kriegsbegeisterung seiner

12 Dazu vgl. Ingo Wiwjorra: „Ex oriente lux“ – „Ex septentrione lux“. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen. In: Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945. Hg. Achim Leube und Morton Hegewisch. Heidelberg 2002 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 2), S. 73-106. 13 ‘Gylfaginning’ 37 (51). Vgl. Edda Snorra Sturlusonar. Hg. Finnur Jónsson. Kopenhagen 1931, S. 70. 24

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Anhänger.14 Seine Position unterscheidet sich deutlich von der religiösen Überhöhung der Ereignisse insbesondere 1914, wie sie auch unter den Intellektuellen und Dichtern verbreitet war: Da erhoffte man sich von einem Krieg die Überwindung der verhassten Moderne, ja eine „deutsche Wiedergeburt“,15 und sang von „ehrlichem Krieg“, „heiliger Not“, „göttlichem Tod“ und „herrlichem Sieg“, um nur ein einziges Beispiel zu zitieren, Richard Dehmels ‚Lied an alle‘.16 Bei George dagegen erscheint der Erste Weltkrieg geradezu als die Verkörperung dieser Moderne in allen ihren negativen Auswirkungen. So gibt sich sein Gedicht als auch politisch gemeinter Kommentar schon dadurch zu erkennen, dass es als Flugschrift verbreitet wurde. Und doch dürfen der historische Kontext und die Umstände der Publikation nicht dazu verleiten, die Aussagen des Gedichts als direkte Äußerungen seines Verfassers zu verstehen, es mithin nicht als poetischen Text, sondern als politische Stellungnahme zu lesen.17 Eine solche Deutung übersieht nämlich u.a., dass der Text eben nicht mit einer Stimme spricht. Man kann in dem Gedicht den Ansatz einer Handlung erkennen: Eine Gruppe von Menschen sucht einen als Seher vorgestellten „Siedler auf dem Berg“ (Str. 2) auf, um ihn über das „ungeheure los“ der Zeitereignisse zu befragen. Der Seher antwortet in dunkler Rede. Ihr lässt sich entnehmen, dass er die Ereignisse vorausgesehen hat und dass sie zu weit Schlimmerem führen werden. Diese Handlung wird von einer auktorialen Erzählinstanz wiedergegeben und zugleich kommentiert, und zwar so, dass aus Erzähler- und Figurenrede die eschatologische Prophetie entsteht, eine aus der Analyse gegenwärtiger und vergangener Ereignisse 14 Vgl. etwa Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem „Siebenten Ring“. Hg. Wolfgang Braungart. Tübingen 2001, S. 197-212, und Dirk von Petersdorff: Als der Krieg gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband Das Neue Reich. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 325-352, hier S. 329-332. 15 Zitiert nach Justus H. Ulbricht: „Veni creator spiritus“ oder „Wann kehr Bald[u]r heim“? Deutsche Wiedergeburt als völkisch-religiöses Projekt. In: Politische Religion – religiöse Politik. Hg. Richard Faber. Würzburg 1997, S. 161-172. 16 Zitiert nach der für den vorliegenden Zusammenhang auch sonst illustrativen Anthologie Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918. Hg. Thomas Anz und Joseph Vogl. München 1982, S. 15. 17 So nimmt etwa Ernst Keller (Nationalismus und Literatur. Langemarck – Weimar – Stalingrad. Bern und München 1970, S. 53-54) die Worte des Sehers als direkte politische Stellungnahme Georges und identifiziert die Figur des Siedlers mit dem Dichter. 25

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gewonnene Vision vom Untergang der Welt. Da heißt es: „das trübste wird erst sein und keiner sieht“; die Rede ist von „viele[n] untergänge[n] ohne würde“, von „erkrankte[n] welten“, die sich „zu ende fiebern“, von einem „furchtbar“ sich erhebenden „künftige[n] gesicht“. Es bleibt freilich unklar, wer diese Weissagungen macht, der Erzähler oder der Seher. Kann man beide zu Beginn noch deutlich daran unterscheiden, dass der eine – der Erzähler – in der dritten und der andere – der Seher – in der ersten Person spricht, so verwischt diese Distinktion zunehmend, bis man den Eindruck gewinnt, der Seher rede bisweilen in der dritten Person von sich selbst. Denn ein „ich“ erscheint nach der zweiten erst in der elften Strophe wieder. Welcher Stimme es zugehörig ist, lässt sich nicht feststellen, zumal man hier auf einmal auch Hölderlins „Deutschen“ zu vernehmen meint, der in seinem „Gesang“ das „Vaterland“ als „allduldende [...] Mutter Erd“ apostrophiert.18 Die gelegentlich verwendeten Anführungszeichen helfen nicht weiter, kennzeichnen sie doch einmal die Rede der Besucher, ein andermal ein Zitat (einmal – am Ende der vierten Strophe – unterbrechen sie gar einen eigentlich zusammengehörenden Gedanken). Wir haben es mit anderen Worten mit einer mehrperspektivischen Rede zu tun, bei der die Sprecherposition bewusst undeutlich bleibt. Das aber scheint ein spezifisch prophetischer Sprachgestus zu sein, wie man ihn auch zum Beispiel in der altnordischen ‚Völuspá‘ findet, jener großen Weissagung, die mit ihren apokalyptischen Visionen die Sammlung der Liederedda eröffnet. In der Bibel zeigen einen ähnlichen Wechsel von Ich- und Er-Perspektive die Eingangs- und Schlusssequenz der Johannesapokalypse und der Bericht über den Propheten Jeremias, in der mittelalterlichen Visionsliteratur etwa Texte mancher Mystiker.19 In Georges Gedicht ist vor allem der Bezug auf das Alte Testament deutlich, außerdem auf die Weissagungen in der 16. Epode des Horaz,20

18 Friedrich Hölderlin: Gesang des Deutschen (1799). Zu Georges HölderlinRezeption im allgemeinen und zu der für sie charakteristischen prophetischen Stilisierung im besonderen vgl. Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. Euphorion 81 (1987), S. 81-9. – Die Strophe enthält weitere Referenzen, etwa auf Jean Paul und auf Winckelmann, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 19 Die Beispiele sind übernommen von Fritz Paul: Bericht und Vision. Überlegungen zur Verschiebung der Erzählperspektive in der Volospá. In: Frühe Formen mehrperspektivischen Erzählens von der Edda bis Flaubert. Ein Problemaufriß. Hg. Armin Paul Frank und Ulrich Mölk. Berlin 1991, S. 1-16. 20 Vgl. Katharina und Momme Mommsen: „Ihr kennt Eure Bibel nicht!“. Bibel- und Horazanklänge in Stefan Georges Gedicht ‘Der Krieg’. In: Momme Mommsen: Lebendige Überlieferung. Bern 1999, S. 1-26. 26

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die bekanntlich ihrerseits eine Antwort ist auf die ebenfalls anklingende 4. Ekloge Vergils. Dass der Dichter im übrigen auch mit der prophetischen Tradition des Mittelalters – und gerade mit der politischen Prophetie – vertraut war, das zeigt der Titel der Sammlung ‚Das neue Reich‘ mit ihrer Anspielung auf die Reichstheologie Joachims von Fiore.21 Die Undeutlichkeit in der Position des Sprechers wird mithin gesteigert durch eine dichte Intertextualität, für die sich noch viele Belege finden ließen. Dadurch sprechen in Figuren- und Erzählerrede stets weitere Stimmen mit, sei es in Form von Zitaten oder zumeist – mehr oder weniger deutlichen – Allusionen. Das Gedicht stellt sich auf diese Weise in eine auf die Antike zurückgehende Tradition apokalyptischer Kriegsund Zeitkritik: Wie konkret die Vorwürfe an den gegenwärtigen Krieg auch immer sein mögen, der Text deutet ihn gerade nicht als historisches Phänomen, sondern als Zeichen einer wiederkehrenden Endzeit, einer Endzeit allerdings, die die Erneuerung schon in sich trägt. Er aktualisiert die antike Vorstellung der Weltalter, die in Gewalt und Schrecken zu Ende gehen müssen, um einer besseren Zeit – dem goldenen Zeitalter, einem Reich der Dichtung oder dem Reich Christi – zu weichen. George ist hier also nicht der Seher, der Hitler antizipiert.22 Vielmehr ist er als Dichter bestrebt, die eigene Zeit im Blick auf dichterische Traditionen zu deuten. Nun könnte man meinen, seine Anleihen bei der nordischen Mythologie – die Anrufung Baldurs – fügten sich in diese chiliastische Denkfigur ein. Denn auch im Norden findet sich bekanntlich die Vostellung, dass nach den Ragnarök eine neue Welt entsteht, und beiläufig heißt es in der ‚Völuspá‘ (Str. 62), dass Baldur in jener Welt wiederkehren werde: „Muno ósánir acrar vaxa, / böls mun allz batna, Baldr mun koma; [...]“ („Die Äcker werden unbesät wachsen, / aller Schaden wird sich bessern, Balder wird kommen“).23 Auf diesen – quellenmäßig schlecht belegten – Mythos von Baldurs Wiederkehr hat man sich angesichts des Krieges immer wieder berufen.24 21 Vgl. den Kommentar von Ute Oelmann in: Stefan George: Das neue Reich. Stuttgart 2001 (= Stefan George: Sämtliche Werke, 9), S. 120-121. 22 Vgl. z.B. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München, Düsseldorf 1960, S. 420. 23 Str. 62: Neckel/Kuhn (Anm. 9), 14; Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda (Anm. 10), S. 30. 24 In eben jenem Jahr, in dem ‘Der Krieg’ erschien, formulierte zum Beispiel Gertrud Prellwitz (in ‘Das Osterfeuer’): „Wotan wird auferstehen. Verjüngt wird der Aar sich aufwärts schwingen. Baldur wird wiederkommen und Hödur sehend machen und mit ihm herrschen in der goldenen Burg auf dem Idafelde.“ Zit. n. Jost Hermand: Der Schein des schönen Lebens. 27

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Nicht so George; sein Gedicht verhält sich hier vielmehr auffallend widersprüchlich: Zwar verleiht es Baldur indirekt messianische Züge, doch erst nachdem die Bedingung seiner Wiederkehr, die Ragnarök, zuvor mit dem Fimbulwinter einstweilen ausgesetzt – verschoben – worden war! Dies folgt der inneren Logik des Gedichts, nicht der des Mythos. Der Logik des Gedichts muss das Ragnarök-Motiv deshalb verfügbar gemacht werden, weil die Aussicht auf Zukunft hier allein vom Deutschen Reich ausgeht bzw. von jenem in der elften Strophe im Ton Hölderlins beschworenen „Land dem viel verheissung noch innewohnt – das drum nicht untergeht!“. Was freilich untergangen war, das war der eine Gott, „der alte gott der schlachten“ (Str. 5). Da bleibt nur noch die Zuflucht zu den vielen Göttern.25 Diese aber sind gedacht als Repräsentanten jener ewigen deutschen Kultur, von der das Gedicht die „Erlösung“ ausgehen lässt: Deshalb muss Baldur „erstehen“ (Str. 12, v. 1), ohne zuvor zugrundegegangen zu sein! Dieser innere Widerspruch spiegelt die Aporie einer geschichtsphilosophischen Denkfigur, die der Moderne vollständige Vernichtung wünscht und ihr noch im selben Atemzug Rettung verspricht.

III. Georges Widersprüche muss man als solche stehenlassen. Dies gilt um so mehr im Zusammenhang der vorliegenden Studie, der es auf eine wie auch immer vollständige Interpretation des Kriegsgedichts nicht ankommt. Hier ist vielmehr zunächst nur Georges interpretatio graeca Baldurs zu kontextualisieren, auch über den unmittelbaren Zusammenhang des Gedichts hinaus. Der Vergleich der germanischen Götterwelt mit dem antiken Pantheon, der germanischen mit der antiken Mythologie hat von jeher nahegelegen. Die antiken römischen Schriftsteller pflegen ihn in Form der interpretatio romana: Sie benennen die Götter der Germanen mit den ihnen geläufigen römischen Götternamen. Bekannt ist die Gleichsetzung der höchsten germanischen Götter mit Merkur, Herkules und Mars bei Tacitus (‚Germania‘ 9): „Deorum maxime Mercurium colunt, cui certis diebus humanis quoque hostiis litare fas habent: Herculem ac Martem concessis animalibus placant“. Umgekehrt gebrauchen die Germanen die interpretatio germanica, um die römischen Götter zu bezeichnen, wie Frankfurt am Main 1972, S. 107. Vgl. außerdem Gertrud Prellwitz: Baldurs Wiederkehr. Legende. Eine Schauung vom Völkerschicksal. Oberhof 1924, und die in Anm. 37 genannte Literatur. 25 Vgl. auch Horst Siblewski: „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“. Über Stefan Georges Gedicht „Der Krieg“. Text + Kritik 168 (2005), S. 19-34. 28

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dies noch heute die deutschen Wochentagsnamen Donnerstag und Freitag (und vielleicht auch Dienstag) bezeugen.26 Im Mittelalter findet sich dann neben der Ersetzung auch der direkte Vergleich der germanischen mit den römischen Göttern, etwa im 11. Jahrhundert bei Adam von Bremen: „Wodanem vero sculpunt armatum, sicut nostri Martem solent; Thor autem cum sceptro Iovem simulare videtur.“ (,Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum‘ IV, 26). Auch bei der Wiederentdeckung der germanischen – genau genommen: der nordischen – Mythen in der Neuzeit bleibt der Bezug auf die antike Mythologie dominant. Das gilt für die wissenschaftliche Erforschung ebenso wie für die poetische Anverwandlung der Mythen und ihre Gestaltung in der bildenden Kunst.27 In allen kulturellen Sphären ist die Parallelisierung der ‚germanischen‘ mit den antiken Göttern geradezu selbstverständlich. Wie im vorliegenden Fall können sich diese Analogien freilich nicht immer auf sehr alte Traditionen berufen. So ist die durchaus geläufige und auch recht naheliegende interpretatio graeca Baldurs durch Apollo offenbar nicht vor der Neuzeit aufgekommen. Erstmals begegnet sie 1689 im zweiten Band von Olof Rudbecks monumentalem Werk ‚Atlantica‘, das die älteste Kultur der Menschheit – Platos Atlantis und das Paradies der Bibel – im vorgeschichtlichen Schweden lokalisiert, dabei den Norden kulturgeschichtlich mit Griechenland verknüpft und so die bislang geltende Vorstellung von der Ausbreitung des kulturellen Fortschritts umkehrt.28 Zu größerer Bekanntheit hat der Parallelisierung von Baldur und Apollo jedoch wohl die vergleichende Mythenforschung verholfen; deren Vertreter wollten aus typologischen Ähnlichkeiten eine gemeinsame indo-europäische Herkunft der beiden Lichtgottheiten und bisweilen sogar deren Identität ableiten: „Balder is Apollo“.29 Man mag sich also fragen, woher Georges interpretatio graeca 26 Aus dem dies Iovis, dem „Tag des Jupiter“ (frz. jeudi) wurde der Tag des Donar/Thor (ahd. donarestag), aus dem dies Veneris, dem Tag der Venus (frz. vendredi) der Tag der Frîja/ Frigg, der Freitag. 27 Viele Beispiele für Wissenschaft und Literatur bei Klaus Böldl: Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik. Tübingen 2000. Für die bildende Kunst vgl. Hans Kuhn: Greek Gods in Northern Costumes: Visual representations of Norse mythology in 19th century Scandinavia. www.arts.usyd.edu.au/ departs/medieval/saga/pdf/209-kuhn.pdf [03.09.07]. 28 Vgl. Olaus Rudbecks Atlantica. Svenska originaltexten. Hg. Axel Nelson. Bd. 2. Uppsala 1939, S. 153, S. 247ff. – Zu Rudbeck s. Gunnar Eriksson: The Atlantic Vision. Olaus Rudbeck and Baroque Science. Canton/Mass. 1994 (= Uppsala Studies in History of Science, 19). 29 A.H. Krappe: The Myth of Balder. Folklore 34, (3) (1923), S. 184-21, hier S. 210 (mit weiteren Literaturhinweisen). 29

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Baldurs eigentlich stammt und wie sie im Kontext ihrer Zeit zu verstehen ist. Zunächst einmal kann es als sicher gelten, dass Anspielungen auf die nordische Mythologie in der Zeit Georges von einem gebildeten deutschen Publikum verstanden wurden.30 Das machen die vielen Fälle deutlich, in denen Motive aus der nordisch-germanischen Mythologie herbeizitiert werden, um politische Zeitereignisse zu kommentieren. Hierzu gehören bekanntlich zahlreiche Texte aus dem Werk Felix Dahns, so das Gedicht ‚Thors Hammerwurf‘, das in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts im mythologischen Gewand die Forderung nach einem „Platz an der Sonne“ unterstreicht.31 Ein anderes Beispiel wären die sogenannten Hoedurreden, in denen Bismarck 1885 vor dem Deutschen Reichstag – und ebenfalls im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik des Deutschen Reiches – behauptete, dass man immer, wenn ein „deutscher Völkerfrühling“ anbreche, darauf rechnen müsse, dass auch ein Loki zur Stelle sei, „der seinen Hödur findet, um mit ihm den deutschen Völkerfrühling zu erschlagen“. In zeittypischer Weise wird hier im Bild des Völkerfrühlings die Figur Baldurs mit dem deutschen Schicksal in eins gesetzt.32 Im übrigen knüpften sich gerade an die Person Bismarcks oft Vergleiche mit der nordisch-germanischen Götterwelt: Wiederholt wird er in Text und Bild als Odin bzw.Wodan dargestellt, Walther Rathenau nennt ihn einmal „wie Napoleon [...] halb Baldur, halb Loke“,33 und Bismarcks Tod wird mit dem Tod Baldurs zusammengebracht.34 Ohne Zweifel sind das Nachwirkungen vor allem von Wagners Adaption der nordischen Mythen; sie hat wesentlich zu Verbreitung dieser Stoffe im deutschen Bildungsbürgertum beigetragen. So bedienen sich 30 Das gilt selbstverständlich über die deutsche Kultur hinaus, v.a. für Skandinavien, auch für England. Dies kann aber im vorliegenden Rahmen nicht behandelt werden. 31 In: Gesammelte Werke. Erzählende und poetische Schriften. Zweite Serie. Bd. 6. Berlin o.J., S. 528. 32 Bismarckreden 1847-1895. Hg. Horst Kohl. Leipzig 1898, S. 267-280, hier bes. S. 278-280. 33 Walther Rathenau: Gesammelte Schriften in fünf Bänden. Bd. 1. Berlin 1918, S. 225. 34 So in dem Gedicht ‘Bismarck’ von Heinrich Gutberlet: „Bismarck, Bismarck! Du reisiger Held! / Starker Sohn Wotans, der einst dich uns sandte! [...] Zagender Zweifel seufzt: Bismarck ist tot. / Hoffender Glaube in heiligem Feuer / Jubelt: er lebt wie das Morgenrot / Baldurs, das täglich von neuem loht! [...]“, Vgl. den hier auch sonst aufschlussreichen Aufsatz von Achim Aurnhammer: „Der Preusse“. Zum Zeitbezug der ‘Zeitgedichte’ Stefan Georges im Spiegel der Bismarck-Lyrik. In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‘Siebenten Ring’. Hg. Wolfgang Braungart u.a. Tübingen 2001, S. 173-196. 30

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denn Kunst, Literatur und Religion der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und dann vor allem während des Krieges und danach gern der nordischen Mythen. Nicht zuletzt die Kriegslyrik selbst ist reich an Motiven dieser Art, wie man außer an ‚Der Krieg‘ auch zum Beispiel an Richard Dehmels Gedicht ‚Predigt ans deutsche Volk in Waffen‘ sehen kann: Deutsche Soldaten, ihr seid wert aller Ahnen; fühlt euch nur immer noch als Germanen! Füsilier, wenn du das linke Auge schließt und mit sicherm Visier in die Feindesrotte schießt, dann lebt Odin wieder in dir auf, der einäugige Blitzgott im Sturmwolkenhauf. Wenn du den Zündfunken abdrückst, Kanonier, dann gehn Donar und Loki aus von dir mit dem Donnerhammer und der Feuerlanze. Kavalleristen, wenn ihr losrast zum Tanze mit blanken Klingen und schlanken Spießspitzen, dann sieht man Balsdurs sonnstrahlig Wildhaar blitzen, alle Walküren jach zwischendrein. Und hinter euern blutspritzenden Reihn, da, wo die barmherzigen Schwestern warten, walten mitten in Hödirs Todesgarten Frigga und Freya noch mit reger Geduld und lebendiger Huld. Denn es lebt auch noch der reine Krist, der von hause aus ein Jude gewesen ist, der eure Urväter zu sich bekehrte mit der Friedenspalme wie mit dem Schwerte. Und es lebt auch die Jungfrau-Mutter Marie, und eigentlich aus Welschland stammt die, und legt ihren opferwilligen Sohn noch heute immer wieder an unser Herz, liebe Leute. Ja, die alten Götter leben noch allesamt, auch der alte Gott, dem Tod wie Leben entstammt, der Herr der Heerscharen, Einiger Zebaoth, der grimmige und der gütige Gott. Also, deutsche Soldaten, und auch du Volk am Herd: sein wir aller unsrer Ahnen wert! – Amen35

Schließlich lässt sich in der Zeit des Ersten Weltkrieges die Erwartung

35 Zitiert nach 1914 – Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht. Nr. 1: Aufbruch und Anfang. Hg. Julius Bab. Berlin 1914, S. 13. 31

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eines germanischen Messias – gern imaginiert als Baldur oder Siegfried36 – beobachten, nicht nur, aber vor allem im völkisch-religiösen Milieu. Dies belegt etwa eine Anzahl sogenannter Weihespiele, die den Mythos von Baldurs Wiederkehr aktualisieren und so ihrer Hoffnung auf die nationale Wiedergeburt Ausdruck geben.37 Nun soll damit nicht gesagt sein, dass sich George auf irgendeinen dieser Texte berufen habe; es ist aber offensichtlich, dass die nordischen Mythen und gerade das Baldur-Motiv in jener Zeit gleichsam politisch virulent gewesen sein müssen. Möglicherweise verleiht der Dichter auch dieser Beobachtung Ausdruck; jedenfalls ist sie als Hintergrund mitzudenken. Die direkten Inspirationsquellen Georges sind indessen in seinem unmittelbaren Umfeld zu suchen. Die Spur dorthin legen die beiden auffälligsten Merkmale in Georges Götterreihe: die Parallelisierung von Baldur und Apollo sowie die Erwähnung von *Tiwaz/Ziu als Gott des „heitren Himmels“. Drei Elemente in der Götterreihe erwecken den Eindruck, hier würden nordische Mythen aufgerufen: Der Name „Baldur“ erscheint in isländischer Lautgestalt, und Odins Selbstopfer sowie der Fimbulwinter sind nur isländisch – in Liederedda und Snorra Edda – überliefert. Hingegen ist der heitere Himmelsgott *Tiwaz – der nordische Týr – in der isländischen Überlieferung bereits ‚verblasst‘, die Snorra Edda erwähnt ihn 36 Zur politischen Emblematik der Siegfried-Figur und zu ihrer Überblendung mit Baldur vgl. Klaus von See: Siegfried in der politischen Ideologie des 19. und 20. Jahrhunderts. In: ders.: Ideologie und Philologie. Aufsätze zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Heidelberg 2006 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, 44), S. 119-132, hier bes. S. 128. 37 Beispiele wären außer den in Anm. 24 genannten Texten: Ernst Wachler: Mittsommer. Trauerspiel mit Chören. Weimar 1905; Ludwig Fahrenkrog: Baldur. Stuttgart 1908; Rudolf Pannwitz: Baldurs Tod. Ein Maifestspiel. Nürnberg 1919. Zum völkischen Weihespiel vgl. Stefanie von Schnurbein: Gjenbruken av Eddadiktningen i „völkisch-religiöse Weihespiele“ rundt århundreskiftet i Tyskland. Nordica Bergensia 3 (1994), S. 87-102, und dies.: Religiöse Ikonographie – religiöse Mission. Das völkische Weihespiel um 1910. In: Kunst, Fest, Kanon. Inklusion und Exklusion in Gesellschaft und Kultur. Hg. Hermann Danuser und Herfried Münkler in Zusammenarbeit mit der Staatsoper Unter den Linden. Schliengen 2004, S. 85-97. – Dieselbe Vorstellung findet ihren Ausdruck in der Weltanschauungskunst, wie Marina Schuster und Justus H. Ulbricht u.a. am Beispiel von Ludwig Fahrenkrogs Zeichnung „Baldur segnet die Fluren“ zeigen (‘Baldur’ und andere. Oder „Krieger im Heere des Lichts“. Bildwelten des sakralen Nationalismus. In: Kitsch. Faszination und Herausfoderung des Banalen und Trivialen. Hg. Wolfgang Braungart. Tübingen 2002, S. 137167, hier v.a. S. 152-153). 32

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zwar unter den Asen, kennt ihn aber nur noch als Kriegs- und Schlachtengott, also gerade nicht in jener bei George apostrophierten Eigenschaft. Dieser hatte mit dem „lenker [...] des heitren himmels“ also wohl nicht den nordischen Týr im Sinn. Eher dürfte er an dessen althochdeutsche Entsprechung Ziu gedacht haben. Diese Überlegung weist den Weg zu einer möglichen Quelle Georges: „Ziu“ bzw. „Tiu“ fungiert nämlich auch als Runenname, und als solcher steht das Wort zusammen mit Os bzw. As („Ase“) in der Runenreihe des ‚Abecedarium Nordmannicum‘. Dieses Merkgedicht – bewahrt in einer St. Galler Sammelhandschrift aus dem 9. Jahrhundert – teilt in einem Gemisch aus Altsächsisch, Althochdeutsch und Altnordisch die Runennamen mit.38 Dafür, dass gerade diese entlegene Runenreihe als Quelle Georges in Betracht kommen soll, spricht der Umstand, dass Georges langjähriger und ergebener Freund Karl Wolfskehl eben diese 1909 in einer zweisprachigen Anthologie mit „ältesten deutschen Dichtungen“ herausgegeben und übersetzt hatte, zusammen mit dem Germanisten Friedrich von der Leyen (1873-1966).39 Zweifellos kannte George dieses Buch. Und was er hier an mythologischen Motiven fand, das war – nach Anlage der Sammlung und nach Ausweis des Titels – Bestandteil der „ältesten deutschen Dichtung“. In dieselbe Richtung deutet – trotz der isländischen Namensform – die Parallelisierung von Apollo und Baldur, nämlich auf den ebenfalls in Wolfskehls Anthologie enthaltenen Zweiten Merseburger Zauberspruch, überliefert in einer Handschrift des 10. Jahrhunderts. Er sei hier nach von der Leyens Ausgabe mit der Übersetzung Wolfskehls wiedergegeben: Uol ende Uodan uuorun zi holza, do uuart demo Balderes uolon sin uuoz birenkit, thu biguolen Sinthgunt, Sunna era suister, thu biguolen Friia, Uolla era suister, thu biguolen Uuodan, so he uuola conda, sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki, ben zi bena, bluot zu bluoda, lid zi geliden, sose gilimida sin.

38 Den Hinweis auf diese Quelle Georges entnehme ich dem Kommentar von Ernst Morwitz (Anm. 22), S. 424; zu der Runenreihe des ‘Abecedarium Nordmannicum’ vgl. Alessia Bauer: Runengedichte. Wien 2003, S. 58-77. 39 Zu dieser Ausgabe vgl. Volker Mertens: Fern-Nähe: Ältere deutsche Literatur und Mythologie im Werk Wolfskehls. In: „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!“ Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869-1948). Hg. Elke-Vera Kotowski und Gert Mattenklott. Hildesheim etc. 2007 (= Haskala, 33), S. 133-148, hier v.a. S. 136-140. 33

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Vol und Wodan fuhren zu Holze. Da ward dem Balders-Fohlen sein Fuß verrenkt, Da beschwor ihn Sinthgunt, Sonne ihre Schwester Da beschwor ihn Frija, Volla ihre Schwester, Da beschwor ihn Wodan, der’s wohl konnte: Wie die Beinrenke, so die Blutrenke, So die Gliedrenke: Bein zu Beine, Blut zu Blute, Glied zu Gliede, wie wenn sie gleimt sei’n!40

Der Umstand, dass George gerade auf dieses Zeugnis zurückgegriffen haben dürfte, ist aufschlussreich. Denn alle mit Baldur verknüpften Mythen sind ausschließlich im Norden – in Island und in Dänemark – überliefert.41 Der Zweite Merseburger Zauberspruch wäre, wenn er als Quelle stichhielte, der einzige Beleg dafür, dass der Gott auch bei einem kontinentalgermanischen Stamm bekannt war. Das ist jedoch höchst unsicher, da nicht zuverlässig gesagt werden kann, ob „Balderes“ wie von Wolfskehl und von der Leyen tatsächlich als nomen proprium aufgefasst werden darf und nicht vielmehr als Appelativum („Herr“) zu verstehen ist.42 Infolgedessen zählt Karl Helm den südgermanischen Balder wohl mit einigem Recht zu den „erfundenen Göttern“. Gewiss fiktiv ist jedenfalls jener Balder, der sich „als großer Frühlingsgott der Deutschen [...] zeitweilig einer großen Anhängerschaft erfreut“ hat, „so dass man in den Geruch übelster wissenschaftlicher und politischer Ketzerei kommen konnte, wenn man nicht an ihn glaubte“.43 Eine weitere Schwierigkeit bietet im Merseburger Spruch der Name „Uol“ (bzw. nach der Handschrift „Phol“) jener sonst nirgends bezeugten Figur, die Wodan auf seinem Ritt „zi holza“ („in den Wald“) begleitet. Die Philologen des 19. Jahrhunderts, zumeist überzeugt, dass in dem 40 Karl Wolfskehl, Friedrich von der Leyen: Älteste deutsche Dichtungen. Leipzig 1909; hier zitiert nach der bibliophilen Ausgabe Älteste deutsche Dichtungen. In der Übersetzung von Karl Wolfskehl. Hamburg 1959, S. 24-25. 41 Ein guter Überblick über die Überlieferung findet sich bei Kurt Schier: Balder. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin etc. 1976, S. 2-7. 42 Dieses Problem wird von der Forschung seit langem debattiert; eine Zusammenfassung der Forschungsgeschichte gibt Wolfgang Beck: Die Merseburger Zaubersprüche. Wiesbaden 2003 (= Imagines medii aevi, 16), der sich seinerseits der These anschließt, das „balderes“ des Zweiten Merseburger Spruchs sei als Göttername zu verstehen. 43 Karl Helm: Erfundene Götter? In: Studien zur deutschen Philologie des Mittelalters. Friedrich Panzer zum 80. Geburtstag am 4. September 1950 dargebracht. Hg. Richard Kienast. Heidelberg 1950, S. 1-11, das Zitat S. 5. 34

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Spruch von dem Gott Balder/Baldur die Rede sei, versuchten das Problem unter anderem dadurch zu lösen, dass sie Phol zu einem Namen Balders erklärten oder als Verderbnis aus „Apollo“ auffassten, entstanden durch verballhornte interpretatio romana bzw. graeca des BalderNamens.44 Diese letztere Deutung setzt freilich voraus, was sie beweisen möchte: die interpretatio Baldurs durch Apollo bereits im Mittelalter. Im Anschluss an Wolfskehl, der als promovierter Germanist die mythologische Forschung seiner Zeit nachweislich sehr genau kannte, hatte sich George aber offenbar eben diese Auffassung des Zweiten Merseburger Spruchs zueigen gemacht. Daher könnte es dessen gleichsam verborgene Parallelisierung von Apollo und Balder gewesen sein, welche die poetische Formulierung über das Verhältnis der beiden Götter inspirierte. Was aber die Identifikation des nordischen mit dem antiken Gott für George eigentlich attraktiv gemacht haben dürfte, das wird ihr intertextuelles Potential gewesen sein. Die Parallelisierung der beiden Götter ließ sich nämlich anknüpfen an die romantischen Spekulationen über eine gemeinsame Herkunft der Germanen und der Griechen, an die sogenannte Kaukasustheorie, und damit wiederum an die Lyrik Hölderlins.45 Diese ist in den beiden letzten Strophen des Gedichts an mehreren Stellen präsent: Auf die Anklänge an den ‚Gesang des Deutschen‘ wurde bereits hingewiesen. Aufschlussreich ist aber auch die in der Negation des „ex oriente lux“ („‚Eine weile währt noch nacht / Doch diesmal kommt von Osten nicht das licht.‘“) enthaltene Reminiszenz an Hölderlins späte Hymne ‚Der Ister‘ („Jetzt komme, Feuer! / Begierig sind wir / Zu schauen den Tag [...]“). Denn dadurch kommt auch jener von Pindar überlieferte Mythos ins Spiel, nach dem die Quelle des Istros – wie die Griechen den Unterlauf der Donau nannten – im hohen Norden bei dem sagenhaften Volk der Hyperboreer zu suchen sei, welches den Gott Apollo verehrte. „Apollo lehnt geheim an Baldur“ – das ist mithin auch gemünzt auf die vielen Versuche, die Hyperboreer der antiken Mythologie als Germanen zu identifizieren, und auf die im ganzen 19. Jahrhundert und darüber hinaus virulente Vorstellung von einer besonderen Affinität germanischer und griechischer Kultur. Steingeworden ist diese Idee 1842 in Architektur und Bildprogramm des ‚deutschen Pantheons‘, des von Leo von Klen44 Diese und die vielen anderen Erklärungsvorschläge für den sonst unbekannten Namen Phol sind zusammengestellt bei Beck (Anm. 42), zu der Apollo-Gleichung s. S. 111-113. Vgl. außerdem Morwitz’ Kommentar (Anm. 22), S. 425. 45 Zur Kaukasustheorie vgl. Eva Kocziszky: Herakles an der Donauquelle. Romantische Konzepte der Kulturwanderung bei Hölderlin, Friedrich Schlegel, K.O. Müller. In: www.colbud.hu/mult_ant/Thyssen-Materials/Kocziszky.pdf [01.03.07]. 35

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ze im Auftrag Ludwigs I. nach dem Vorbild des Parthenons errichteten Ruhmestempels ‚Walhalla‘ an der Donau.46 Der Bezug auf die Gräkophilie der Romantik mit der ihr eigenen vaterländischen Begeisterung präzisiert die von den mythologischen Analogien Georges metonymisch behauptete „geheime“ Nähe des Griechischen zum Germanischen. Nach Auffassung des Gedichts ist sie als Synthese in der deutschen Kultur – und nur hier – realisiert: Es ist das ewige deutsche Griechentum, von dem „zum weitren male die erlösung“ kommen soll (Str. 10). Damit ist der „Kampf“ bereits entschieden, und „Sieger bleibt“, wer das „schutzbild“ (Str. 12) für sich beanspruchen darf: jenes nach Vergil vom Himmel gefallene Bild der Athene, das in der Burg Trojas aufbewahrte Palladium,47 welches das Schicksal der Stadt verbürgte und zum Unterpfand derjenigen wurde, die sich als die legitimen Nachfolger Trojas verstanden. Zu diesen zählt das Gedicht die Deutschen. Nicht unerwartet weist Georges interpretatio graeca Baldurs also auf sein spezifisches Verständnis der deutschen als Erneuerung griechischer Kultur. Was freilich dabei als griechisch aktualisiert wird, ist längst schon ein Phänomen der deutschen Kultur: das auf Winckelmann zurückgehende ‚klassische‘ deutsche Bild der Antike und dessen Rezeption vor allem bei Hölderlin. Kaum anders verhält es sich mit den nordischen Mythen, die das Gedicht aufruft. Auch wenn George tatsächlich deren fast ausschließlich aus dem Norden stammende Überlieferung „an Hand der Urtexte“ und der Forschungsliteratur studiert haben sollte,48 rezipierte er sie doch offensichtlich in jeder Hinsicht als Bestandteil deutscher Dichtung, abhängig vor allem vom Mythenverständnis Wolfskehls. Sie erschienen ihm also vermutlich als eine Art „deutscher Mythologie“, jedenfalls aber als Element der deutschen Literatur, obgleich sie doch fast alle nur aus der mittelalterlichen Überlieferung des Nordens bekannt sind. Sehr deutlich zeigen dies – außer dem schon diskutierten Beispiel Baldurs, das hier trotz der isländischen Namensform ganz in einen germanisch-deutschen Horizont gerückt ist – die ursprünglich nur nordisch belegten Motive der 12. Strophe, so dasjenige des Fimbulwinters: George dürfte es zusammen mit vielen Anspielungen auf Odin bei Wolfskehl gefunden haben, und zwar in dessen Lyrik.49

46 Vgl. Jörg Traeger: Der Weg nach Walhalla. Denkmallandschaft und Bildungsreise im 19. Jahrhundert. Regensburg 1987, bes. S. 68ff. 47 Morwitz (Anm. 22), S. 426. 48 Vgl. Brodersen (Anm 6), S. 158. 49 Vgl. z.B. Wolfskehls Gedichte ‘Fimbulwinter’, ‘Du wolltest alles Erbe in dich fassen’ und ‘Ur-Odhin’. In: Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Hg. 36

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IV. Im Werk Wolfskehls begegnen nordische Mythen weit häufiger als bei George. Das gilt für Wolfskehls Lyrik, die explizit und noch öfter implizit solche Motive herbeizitiert, für seine Briefe und – bezeichnenderweise – auch für seine Lebenspraxis und seine kulturelle Identität.50 Wie George war Wolfskehl Mitglied der sogenannten Kosmischen Runde, die man einmal – und keineswegs zu Unrecht – als eine „der seltsamsten Bewegungen deutscher Geistesgeschichte“ bezeichnet hat.51 Die Gruppierung bestand in den Jahren um 1900 im Milieu der Münchner Boheme; zu ihr gehörten – außer Wolfskehl und George – noch Ludwig Derleth (1870-1948), Alfred Schuler (1865-1923) und Ludwig Klages (18721956). In ihren Zusammenkünften lebten sie wie so viele in jenen Jahren eine Gegenwelt zu der heraufziehenden Moderne: Durch die Erneuerung der Vergangenheit – genauer gesagt: durch Erneuerung des Heidentums – wollten sie der Seele ihre ursprüngliche Einheit mit dem Kosmos zurückgeben. Die Rekonstruktion oder besser die Konstruktion dieses Heidentums war das Zentrum, um das die Gespräche und die Lebenspraxis der Kosmiker kreisten. Dichtung und gelehrter Vortrag, Forschung und Diskussion, aber auch die Vision und vor allem das Fest – stilisiert zur kultischen Feier – waren die Medien dieser Wiederbelebung der Vergangenheit.52 Alles, was Hinweise auf vergangene heidnische Kulte zu bieten schien, war dafür von Interesse. Zu den Entdeckungen der Kosmiker – d.h. eigentlich wohl Wolfskehls – auf diesem Gebiet gehörte Bachofens Abhandlung über das Mutterrecht. Vor allem aber waren es die MytholoMargot Ruben und Klaus Viktor Bock. 2 Bde. Hamburg 1960, hier Bd. I: S. 66-68, S. 105, S. 73. 50 Vgl. außer den in Anm. 49 genannten Gedichten noch das hier wegen seines Titels interessante ‘Menschendämmerung’, außerdem ‘Nirwana II’ und ‘An die Deutschen’ (in: Gesammelte Werke [Anm. 49], S. 101-102, S. 119, S. 216-219) sowie das Schattenspiel ‘Thors Hammer’, das Wolfskehl 1908 für die ‘Schwabinger Schattenspiele’ Alexander von Bernus’ schrieb. Auch manche Briefe zeigen Wolfskehls Interesse an den eddischen Stoffen; vgl. dazu die von Cornelia Blasberg besorgten Briefausgaben: „Du bist allein entrückt, gemieden...“. Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938-1948. 2 Bde. Hamburg 1988, sowie „Jüdisch, römisch, deutsch zugleich...“. Karl Wolfskehl, Briefwechsel aus Italien 1933-1938. Hamburg 1993. 51 Manfred Schlösser: Karl Wolfskehl 1869-1969. Leben und Werk in Dokumenten. Ausstellungskatalog. Darmstadt 1969, S. 127. 52 Dazu ausführlich Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker“ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Rewentlow. Mit einem Nachdruck des „Schwabinger Beobachters“. Frankfurt etc. 1994 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 38). 37

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gie der griechisch-römischen Antike und gerade die ekstatischen Dionysos- und Bacchus-Kulte, aus deren Erneuerung der „Lebensglaube“ (Friedrich Gundolf) zurückkehren sollte. Daneben spielt auch Germanisches und Nordisches bei den Kosmikern eine Rolle, am ausgeprägtesten zweifellos bei Wolfskehl und bei Ludwig Klages, der deshalb im übrigen ebenfalls als Stichwortgeber Georges in Betracht kommt. Was die Kosmiker außerdem verband, das war ihr frühes Interesse an den Dramen Henrik Ibsens (1828-1906). Sie alle hatten in den Jahren vor der Jahrhundertwende eine „Ibsen-Jugend“ erlebt, wie Wolfskehl es nannte, sich aufgerüttelt und mitgerissen gefühlt von Ibsens Begriffen der Wahrheit und der Freiheit.53 George hatte noch als Schüler begonnen, Ibsen zu übersetzen,54 und dabei könnte er in „Hærmennene på Helgeland“ (1858, dt. „Nordische Heerfahrt“) zum ersten Mal altnordischen Stoffen begegnet sein. Wolfskehl hat anschaulich erzählt, wie die große Begeisterung für Ibsens Dramen die Aufmerksamkeit auf die altnordische und altdeutsche Überlieferung lenkte, auch auf das Nibelungenlied und die Edda, „die weit mehr als die (zumal durch den Albdruck eines bleiern öden Schulbetriebs) uns verekelten griechischen Altertümer von früh an Seelenbesitz geworden waren“.55 Nicht alle Kosmiker freilich folgten der Perspektive, die der ‚germanisch‘ gedeutete Ibsen eröffnete, so konsequent wie Wolfskehl. Vor allem George distanzierte sich alsbald von Ibsen – auch wenn die Formel vom „neuen Reich“ wohl noch einen letzten Ibsen-Reflex enthält – und dann auch von den „Edda-folgern“ des Kosmiker-Kreises.56 Dieser zerbrach im übrigen schon recht bald, 1904, durch den Antisemitismus von Klages und Schuler. Für Wolfskehl aber war die Begegnung mit den germanischen Altertümern alles andere als eine Episode. Er hat Germanistik studiert und wurde an der Giessener Universität mit einer Arbeit über mythologische

53 Karl Wolfskehl: Ibsen-Jugend. Schüler-Erinnerungen. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Hamburg 1960, S. 351-355. 54 Brodersen (Anm. 6), S. 129-131. Zu der deutschen Ibsen-Mode der Zeit und allgemein zur Nordlandschwärmerei vgl. Julia Zernack: Anschauungen vom Norden im Deutschen Kaiserreich. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München etc. 1996, S. 482-511. Schulers Verhältnis zu Ibsen behandelt Paul Bishop: ‘Mein eigenstes, wärmstes Herzblut will ich preisgeben’: Alfred Schuler’s Reception of Henrik Ibsen and its Context. Oxford German Studies 28 (1999), S. 152-194. 55 Wolfskehl (Anm. 53), S. 353f. 56 Zitiert nach Brodersen (Anm. 6), S. 159. 38

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Probleme promoviert.57 Freilich war seine lebenslange Beschäftigung mit Mythologie ganz allgemein und mit germanischen Mythen im besonderen alles andere als akademisch: Sie diente ihm zur Bestimmung seiner kulturellen und religiösen Identität als Deutscher und Jude. Paul Hoffmann hat ausführlich beschrieben, wie das Selbstbewusstsein dieses Juden [...] entscheidend mitgeprägt [war] durch seine Rezeption der paganen Mythen der mediterranen Antike wie des germanischen Nordens und jener im Orient beheimateten ‚Urreligion‘, mit der ihn Bachofen vertraut gemacht hatte. Die alten Mythen waren für Wolfskehl nicht ‚Bildungsgut‘ mit unterhaltender und belehrender Funktion [...], sie waren Quellen intensiver seelischer Erfahrungen.58

Diese Erfahrungen gingen so weit, dass sich Wolfskehl selbst als Zionist und Heide bezeichnete,59 und das war durchaus im spirituellen Sinn gemeint. Jedenfalls kam er Zeit seines Lebens immer wieder darauf zurück, dass Odin ihm zweimal in Visionen erschienen war, und dieses Erlebnis war ihm offenbar Inbegriff des deutschen Anteils seiner heidnischen Identität.60 In seinem literarischen Werk verschmilzt er jüdische, antike und germanische Mythen zu archaischen Bildern von Tod und Untergang, Anlass für die Bemerkung Rudolf Pannwitz’, Wolfskehl sei „so tief hinabgestoßen, daß Jahwe und Odhin sich berührten“.61 Nun ist im vorliegenden Zusammenhang eine Eigentümlichkeit in Wolfskehls Mythenverständnis von besonderem Interesse. Es läßt sich nämlich nachweisen, dass auch Wolfskehl die nordischen Mythen als Bestandteil der deutschen Literatur ansah, wie das schon bei George festzustellen war. Man kann dies gut an einer Strophe aus Wolfskehls wohl bekanntestem Gedicht zeigen, dem „Lebenslied“ ‚An die Deutschen‘. An diesem Gedicht hat Wolfskehl über lange Jahre gearbeitet, seit er sich

57 Von der Dissertation liegen zwei Kapitel im Druck vor (Germanische Werbungssagen, I. Hugdietrich. Jarl Appolonius. Diss. Giessen, Darmstadt 1893); der Rest scheint verloren zu sein. Vgl. Mertens (Anm. 39), Anm. 1. 58 Paul Hoffmann: „– jüdisch, römisch, deutsch zugleich“. Karl Wolfskehl. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. 2. Aufl. Frankfurt 1986, S. 106. 59 Das berichtet Klages, referiert von Hoffmann (Anm. 52), S. 107. 60 Dies bezeugt etwa Marguerite Hoffmann in: Mein Weg mit Melchior Lechter. Amsterdam 1966, zitiert in: Karl Wolfskehl 1869-1969. Leben und Werk in Dokumenten. Ausstellungskatalog. Darmstadt 1969, S. 173. 61 Der Dichter Karl Wolfskehl. Hier zitiert nach: Karl Wolfskehl 1869-1969. Leben und Werk in Dokumenten. Ausstellungskatalog. Darmstadt 1969, S. 16. 39

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1934 von den Nationalsozialisten vertrieben auf den Weg in das Exil, nach Italien und später nach Neuseeland, gemacht hatte. Es enthält nicht nur sein Bekenntnis zu George, sondern auch zu der deutschen Kultur. Dafür zählt er deren für ihn wichtigste Momente noch einmal zusammen. Zu ihnen gehört die nach Wolfskehls Vorstellung ‚germanische‘, eigentlich nordische Mythologie, wie sie ihm durch die Odins-Visionen zum persönlichen Erlebnis geworden war (Str. 4): Eure Mär ist auch die mein. Vom helldüstern Brüderpaar, Blindem, der den Blanken töte, Hoeder-Vult, von Speer und Flöte Flüstert’ ich euch, mir in Reine Rauschte Schwangotts Flügelschar. Nun im Mantel, nun als Rüde Lockte, grollte lärmumwogt Zweimal Wer: ich sah, mich lüde Ursturm, Einaug, Runenvogt!62

Während in der zweiten Hälfte der Strophe von Wolfskehls OdinsErscheinungen die Rede ist, greifen die ersten fünf Verse den BalderMythos auf, und zwar in einer für Wolfskehl charakteristischen Überblendung: Es ist nämlich in einem poetischen Bild von zwei ungleichen – „helldüstern“ – Zwillingspaaren die Rede: den nordischen Göttern Balder und Hoeder und den Brüdern Walt und Vult aus Jean Pauls Flegeljahren (1804-1805). Dies weist zurück auf ältere Auseinandersetzungen Wolfskehls mit dem Werk Jean Pauls, und zwar zum einen auf seinen Jean-Paul-Essay ‚Dämon und Philister‘, in dem er 1927 die Analogie dieser „dioskurischen“ Brüderpaare entwickelt hatte: Jean Pauls Walt (Gottwald Harnisch) hielt er für die „letzte, schon abgeblasste, schon in entgötterter Welt erfröstelnde Verwirklichung germanischer Gottesschau“. Als Dichter trete er „neben Balder, den Gott, und Siegfried, den Held [sic]“, so dass sich schließlich „aus dem Mythus Walts“ sogar der des Gottes deuten und „tiefer [...] begreifen“ lasse: Wie Balder mit Höder, so ist Walt mit Vult, seinem dunklen Zwillingsbruder, verbunden – auch er in geheimnisvoller Klangbeziehung der beiden Namen –, und durch den Bruder wird auch er entselbstet. Wenn sich Vult von ihm wendet und in den verschwebenden Klängen seiner Flöte auch des Bruders Jugend mit sich nimmt, so geschieht ein Mord wie bei Balder, und wir dürfen einen Schritt weiter gehen und Höders Speer und Vults Flöte noch näher zusammenrücken, noch eroshafter! Heiliger, tönend tötender Lebensstab hier und dort. Und so verstehen wir Höders Brudermord fast

62 Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke (Anm. 49). Bd. I, S. 217. 40

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erst durch denjenigen Vults. Beides ein dioskurisches Geschehen und ein Liebestod. Und mit beinahe erschreckender Gleichförmigkeit leiten Walts und Balders Träume das Ereignis ein und über die Schwelle, sind bereits das Ende.63

Zum anderen aber wird der nordische Mythos durch den Bezug auf Jean Paul einem paradigmatischen Kanon deutscher Literatur eingeschrieben: Diesen hatte Wolfskehl gemeinsam mit George erarbeitet und herausgegeben,64 und in seinem Gedicht ‚An die Deutschen‘ lässt er ihn noch einmal Revue passieren.

V. Angesichts der breiten internationalen Aufmerksamkeit für die nordische Götter- und Heldensage befremdet die Selbstverständlichkeit, mit der Wolfskehl und George diese Stoffe als kanonisches Element deutscher Literatur behandeln, und dies vor allem deshalb, weil sie die Mythen dabei nachgerade als Chiffren für das Deutsche verwenden – Wolfskehl im Hinblick auf seine persönliche Identität als Deutscher und Jude, George für seine spezifische Auffassung deutscher Kultur. Dabei lassen sie freilich weniger uralte Mythen auferstehen oder „ewige“ Götter denn eine wirkungsmächtige kulturgeschichtliche Konstruktion der Neuzeit: die deutsche Germanen-Ideologie.65 Nur in diesem Rahmen gewinnt die Annahme, dass die nordische Mythologie als germanische Inbegriff nationaler deutscher Identität sei, überhaupt Plausibilität. Mit Georges Idee vom deutschen Griechentum musste diese Denkfigur allerdings geradezu zwangsläufig in Widerspruch geraten, so dass die metonymische Formel von Apollo und Baldur konträre Vorstellungen förmlich zusammenzwingt: Sie beansprucht für die kulturelle Identität der Deutschen die translatio griechischer Kultur ebenso wie die Kontinuität eines vermeintlich unverfälscht bewahrten germanischen Volkstums. Dieser Anmaßung stehen die so ganz anders gelagerten, überaus vielfältigen Kulturbezüge der mythologischen Stoffe selbst diametral entgegen. 63 Karl Wolfskehl: Dämon und Philister. Jean Paul – Friedrich Richter. [1927]. In: ders.: Gesammelte Werke [Anm. 49]. Bd. II, S. 274-280, die Zitate S. 275-276. 64 Gemeint sind die drei Bände der Anthologie Deutsche Dichtung, die George und Wolfskehl um 1900 im Verlag der Blätter für die Kunst herausgegeben hatten. Der erste dieser Bände von 1908 brachte Auszüge aus dem Werk Jean Pauls, der zweite – von 1901 – aus demjenigen Goethes, der dritte behandelt Das Jahrhundert Goethes (1902). 65 Vgl. Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994. 41

NUDA VERITAS IM MÖNCHSGEWAND. DIE VER- UND ENTWICKLUNG EINER GEMALTEN HEILIGENLEGENDE SILKE TAMMEN

1. Einleitung Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts bemalte ein anonymer Künstler eine 1m hohe und 1.50m breite Tafel aus Kiefernholz mit dem Leben der Heiligen Eugenia (Abb. 1). Die Szenen, die in intensiven Rot-, Violettund Grüntönen auf einem punzierten (mittlerweile sehr abgeriebenen) Goldgrund angelegt sind, zeigen ausgewählte Momente einer dramatischen Heiligenlegende. Den Auftakt bildet die linke Szene im oberen horizontalen Bilderstreifen: Eugenia verlässt in männlicher Verkleidung mit ihren Dienern Prothus und Hyacinthus die Heimatstadt Alexandria (Abb. 2). Es folgt die Taufe durch Abt Helenus, der allein ihre Verkleidung durchschaut (Abb. 3). Mönch geworden, heilt sie eine vornehme Frau namens Melancia, die ‚Eugenius‘ begehrt (Abb. 4). Zurückgewiesen klagt Melancia ‚Eugenius‘ der Vergewaltigung an (Abb. 5). Eugenia enthüllt ihr Geheimnis durch Entblößung (Abb. 6). Der untere Bildstreifen hebt links an mit der Anklage Eugenias in Rom als Christin (Abb. 7). Es gelingt nicht, sie im Tiber zu ertränken (Abb. 8) und in einem Ofen zu verbrennen (Abb. 9); im Gefängnis wird sie von Christus getröstet (Abb. 9), am Ende geköpft (Abb. 10). Die früheste bekannte Provenienz der Tafel ist die Pfarrkirche Santa Eugènia in Saga (Gemeinde Ger/Cerdanya an der heutigen französischen Grenze); von dort gelangte zu einem unbekannten Zeitpunkt in die Sammlung Émile Peyres. 1806 wurde sie vom Pariser Antiquar Stanislas Baron erworben und 1905 dem Musée des Arts Décoratifs in Paris geschenkt. Ob es sich bei Saga tatsächlich um den ursprünglichen Bestimmungsort der Tafel handelt, ist aufgrund fehlender Quellen nicht mehr zu rekonstruieren, aber wegen des eher seltenen Patroziniums der Kirche wahrscheinlich. Bohrlöcher am Rahmen legen nahe, dass die Tafel als sogenanntes Frontale die Vorderseite eines Altars bekleidete. Weder die kunsthistorische noch die hagiographische Forschung interessierte sich 43

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bis dato sonderlich für das Werk, welches seit langem dem sogenannten „Meister von Soriguerola“ auf stilistischer Basis zugeschrieben wird. Dieser war im Umkreis von Puigcerdà im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts tätig und gilt als ein Grenzgänger zwischen romanischer Traditionsgebundenheit und der sogenannten Protogotik des 13. und frühen 14. Jahrhunderts.1 Neuere Studien zur frühen spanischen Tafelmalerei, die nach deren liturgischen Kontexten, frömmigkeitsgeschichtlichen Dimensionen2 und v. a. aber nach deren Bildstrukturen fragen müssten, erscheinen erst allmählich seit den 1990er Jahren.3 In vorliegendem Fall 1

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Die Zuschreibung an den Meister erstmals bei Josep Gudiol y Cunill: Els primitius II. La pintura sobre fusta. Barcelona 1929, S. 430-434; Walter W. S. Cook: A Catalan Altar Frontale in Paris. In: Studies in the History of Art dedicated to William E. Suida. London 1959, S. 17-20, hier: S. 20 ordnete das Frontale einer Werkstatt in den katalanischen Pyrenäen (Cerdanya) zu. Im Rahmen seiner breit angelegten, stilgeschichtlichen Studien ist es einzig Cook, der die Eugenientafel einer näheren Betrachtung unterzog. Er beschreibt die Szenen knapp, verfolgt aber kein Interesse an einer Analyse von Struktur und Bedeutung. Seit Joan Ainauds Aufsatz zum Werk des Meisters von Soriguerola, El maestro de Soriguerola y los inicios de la pintura gótica catalana. Goya 2, 1954, S. 75-82 wird die Tafel in das letzte Viertel des 13. Jhs. datiert. Die Eugenientafel wurde 1963 in der Ausstellung Trésors de la peinture espagnole. Eglises et musées de France. Hg. Michel Laclotte. Paris 1963, Nr. 23, S. 85 gezeigt. Laclotte stuft den Meister von Soriguerola kurz als „artiste remarquable“, wenngleich noch den „fortes traditions“ der romanischen Malerei Kataloniens verhaftet. Auch später findet die Eugenientafel immer wieder kurze Erwähnungen, so bei Josep Gudiol und Santiago Alcolea i Blanch: Pintura gótica catalana. Barcelona 1986, Nr. 8; Retables: la collection du Musée des Arts décoratifs. Hg. Monique Blanc. Paris 1998; L’Art gotic a Catalunya. Pintura I: De l’inici a l’italianisme. Hg. Rosa Alcoy i Pedros. Barcelona 2005, S. 56-57. Alcoy i Pedros nimmt eine engere, stilgeschichtlich begründete Datierung um 1275-1280 vor. Der Beitrag von Aurea de la Morena: Representación de la santitad feminina afines de la Edad Media en la pintura Castellana. In: La condición de la mujer en la Edad Media. Hg. Alfonso Esteban und Yves-René Fonquerne. Madrid 1986, S. 443-453 enttäuscht insofern er kaum mehr zu berichten vermag, dass auch in Kastilien die im gesamten übrigen Europa sehr verehrten Heiligen Maria, Anna und Katharina verehrt wurden. Seit den 1990er Jahren erscheinen in Spanien vermehrt ikonographische Studien zu einzelnen Heiligen, vgl. der Literaturüberblick bei Anna Orriols i Alsina: Hagiographie et art roman en Catalogne. Les Cahiers de Saint-Michel de Cuxa 29 (1998), S. 121-142. Das gilt besonders für die Malerei, die eine undankbare Zwischenposition einnimmt zwischen den romanischen Fresken und Skulpturen des 12. und 44

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können nicht alle Fragen – die Kultgeschichte der regional in Spanien und Frankreich verehrten Eugenia4 und die Auftraggeberschaft der Tafel – geklärt werden. Stattdessen soll es mir um die Tafel selbst gehen, genauer um die Betrachtung der spezifischen Struktur einer gemalten im Gegensatz zu einer schriftlich formulierten Heiligenlegende. Zum Vergleich dient mir die weit verbreitete Legenda aurea (um 1263/67) des Jacobus de Voragine, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Quelle für die Schöpfer der Eugenientafel war. Sie wurde im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, also zur Entstehung der Eugenientafel, ins Katalanische übertragen; dabei erfuhr der Text von Voragine eine leichte Verknappung.5 Mit der Auswahl von acht Szenen bietet die Tafel, wie sich zeigen wird, ein Substrat der Legende dar. Die Beschränkung auf wenige Akteure, ausdrucksstarke Gesten, „äußerst verknappte Raumzeichen und Kontextmarkierungen“, ein „Erzählen am Körper“6 kennzeichnet die Eugenientafel wie zahllose andere Bildzyklen des 13. Jahrhunderts. Doch diese geradezu archaisch anmutende Einfachheit der figürlichen Gestaltung trügt: Bei näherer Betrachtung wird sich die kompositorische Vielschichtigkeit des Frontales erweisen, die in direktem Zusammenhang mit ihrem Inhalt steht. Die hier in seltener Ausführlichkeit zu studierende Problematik der Ver- und Enthüllung und des Kleidungswechsels bildet nicht nur das der Legende immanente Leitmotiv religiöser conversio, sondern beschreibt die Ver- und Entwicklung einer Erzählung im Spannungsfeld von Heiligkeit und Geschlecht.

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13. Jhs., die dank ihrer expressiven Kraft früh schon Aufmerksamkeit auf sich zogen, und der unter italienischem und niederländischem Einfluß verfeinerten Tafelmalereiproduktion des 14. und 15. Jhs., über deren Auftraggeber und Künstler man dank einer günstigeren Quellenlage ungleich mehr weiß. „Höchste Verehrung in frühmittelalterlicher Zeit in Rom, Ravennna, Parenzo, Neapel und Griechenland. Reliquien in SS. Apostoli, Rom und Varzy (Nièvre); das Herz angeblich in Biarritz.“ J. Boberg: Eugenia von Alexandrien. In: Lexikon der christlichen Ikonographie Bd. 6, Sp. 177-178, hier: Sp. 178. Richard Benz: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Darmstadt 1984; Charlotte S. Maneikis Kniazzeh und Edward J. Neugaard: Vides des Sants Rosselonenses (traducció catalana del segle XIII de la Llegenda daurada de Jacopo da Varazze). Barcelona 1977, S. 272-276. Der Aufsatz von Joan Molina i Figueras, Modos y fórmulas en la traducción visual de la Leyenda áurea en la pintura gótica catalana. Boletín de Museo e Instituto ‘Camón Aznar’ 70 (1997), S. 261-300 konzentriert sich hauptsächlich auf die Bildprogramme der katalanischen Altäre des 15. Jhs. Wolfgang Kemp: Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster. München 1987, S. 266. 45

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Dieses für zahllose Heiligenlegenden konstitutive Spannungsfeld, wird in den Legenden der sogenannten monachoparthenia zum eigentlichen Thema7: Den ältesten überlieferten Fall einer verkleideten Heiligen bildet Thekla, Jüngerin des Paulus, von deren Apostolat und Martyrium die apokryphen Paulus-Akten des 2. Jahrhunderts berichten. Die meisten Legenden wurden zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert für griechische monastische Gemeinschaften geschrieben und feiern die Mischung weiblicher Tugenden (Jungfräulichkeit und Demut) mit männlichen (Mut, asketische Stärke und Durchhaltevermögen). Durch Abschneiden der Haare und Gewandwechsel auch äußerlich zum Mann geworden, werden die Frauen Eremiten oder Mönche, um ihrer Geschlechtlichkeit zu entfliehen – sei es, um für sie zu büßen und sie auszulöschen wie Pelagia, sei es, um den töchterlichen Verpflichtungen zu Gehorsam und Ehe zu entkommen, wie Athanasia, Eugenia, Euphrosyne und Hilaria. Alle halten ihre Verwandlung trotz unterstellter Verführungen aufrecht, und ihr Geschlecht wird – von Eugenia abgesehen – erst nach ihrem Tode offenbar. Die Wurzeln der Legenden liegen in der frühchristlichen Debatte um ‚vermännlichte‘ Christinnen, die einen Teil des epochalen Diskurses über Askese und Jungfräulichkeit bildet. Im Streben nach virtus musste die Frau sich in Richtung des als überlegen aufgefassten männlichen Geschlechts orientieren. Die Aufforderung zum ‚Männlich-Werden‘, verstanden als geistiges Wachstum, richtete sich im Grunde aber an beide Geschlechter.8 Asketinnen, die die Metapher der Mannwerdung wörtlich nahmen, sich in ihrer Erscheinung Männern anverwandelten und soziale wie religiöse Ordnungen ignorierten, wurden allerdings nicht einhellig akzeptiert, wie zahlreiche Verdammungen belegen.9 (Auch im Mittelalter wurde das Tragen der Kleidung des ‚falschen‘ Geschlechts mit Berufung auf das alttestamentliche Verbot immer wieder verurteilt.) Die meisten der griechischen Legenden wurden im frühen Mittelalter ins Lateinische übersetzt und genossen weite Verbreitung durch Kalendarien, Legendare und Vitensammlungen. Doch in Folge von Beschränkungen bzw. Verfes7

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Vgl. John Anson: The Female Transvestite in Early Monasticism: Origin and Development of a Motif. Viator 5 (1974), S. 1-32 und Valerie R. Hotchkiss: Clothes make the man. Female Crossdressing in Medieval Europe. New York 1996. Vgl. Kari Vogt: ‘Männlichwerden’ – Aspekte einer urchristlichen Anthropologie. Concilium 21 (1985), S. 434-442, Kerstin Aspergren: The Male woman: a Feminine Ideal in the Early Church. Stockholm 1990; Gillian Cloke: This Female Man of God: Women and Spiritual Power in the Patristic Age, 350-450. New York 1994. Anne Jensen: Gottes selbstbewußte Töchter: Frauenemanzipation im frühen Christentum. Freiburg 1992, S. 114-115. 46

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tigungen anderer weiblicher Heiligkeitsentwürfe, die gerade den weiblichen Körper als Medium asketischer, ekstatischer und visionärer Erfahrung auszeichnen10, scheint die mulier virilis im Laufe des Mittelalters zwar nichts an Faszination eingebüßt, aber doch ihre Bedeutung als spirituelles Rollenmodell verloren zu haben; die 1188 gestorbene Hildegund gilt als eine der seltenen derartigen Heiligen, die nach abenteuerlichen Reisen in das Zisterzienserkloster Schönau eintrat. Engelhard von Schönau (†ca.1210) nahm ihre Vita als letztes Kapitel in ein Exempelbuch für Nonnen auf, warnte diese aber vor Nachahmung.11 Selten wurden die weit verbreiteten Legenden derartiger Heiliger auch verbildlicht: Wie im Falle Eugenias waren die kultische Verehrung und damit auch ein bedeutender Darstellungsanlass lokal beschränkt. Die Eugenientafel ist mit ihrer ausführlichen Schilderung der Legende einzigartig.12

10 Carolyn Walker Bynum: Holy Feast and Holy Fast. The religious significance of food to medieval women. Berkeley 1987. 11 Nach Hotchkiss (wie Anm. 7), S. 153, Anm. 5. Vgl. auch Andrea Liebers: Eine Frau war dieser Mann: die Geschichte der Hildegund von Schönau. Zürich 1989. Zum Schwinden des Ideals der symbolischen Mannwerdung schon im Frühmittelalter vgl. Susanne Wittern: Frauen, Heiligkeit und Macht. Lateinische Frauenviten aus dem 4. bis 7. Jahrhundert. Stuttgart 1994. Ein beredtes Beispiel für das bleibende, letzlich aber anachronistische Faszinosum bietet Katharina von Siena, die als Kind eine verkleidete Heilige nachahmen wollte. Ihr beschied Christus aber, diese Umkehr sei nicht nötig, denn Gott zöge es vor, dass sie lehre und inspiriere in Gestalt einer niedrigen Frau. Nach Walker Bynum (wie Anm. 10), S. 291. Zu spirituellen Transgressionen religiöser Geschlechteridentitäten im zisterziensischen Milieu vgl. dies.: Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. Berkeley 1982, S. 110-169. 12 Geht man nach der Aufstellung bei Boberg (wie Anm. 4), sind Eugeniendarstellungen allein in Frankreich, Italien und Spanien (das vorliegende Frontale) erhalten. Während das Frontale das einzige seiner Gattung ist, gibt es einige wenige Eugeniendarstellungen auch in der Wandmalerei. Vergleichbar scheint allerdings nur ein fünfszeniger, sehr schlecht erhaltener Freskenzyklus in der Kathedrale von Nevers. Vgl. J. Locquim: Les villes d'art celèbres, Nevers et Moulins. Paris 1913, S. 28. Margaret Bridges (Bern) machte mich freundlicherweise auf die einzige in England überlieferte Darstellung aufmerksam: an der Nordwand der von St Peter’s Old Parish Church in Farnborough/Hampshire sind die Standfiguren von Eugenia, Agnes und Magdalena nebeneinander freskiert worden. Die Darstellung aus dem frühen 13. Jh. zeigt Eugenia mit einem Buch in der Hand; mit der anderen hält sie ihre aus einem Spalt des Gewandes herausragende Brust. 47

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2. Die Bildlegende Schon am Anfang ihrer Betrachtung steht eine Irritation: Normalerweise sind Legendenszenen auf Frontalen und den in Katalonien seit dem frühen 13. Jh. auch aufkommenden Altartafeln um Christus oder der Madonna mit Kind herum symmetrisch angeordnet und beziehen eine Heiligenexistenz damit eindeutig auf die Inkarnation Christi.13 Im Laufe des 13. Jahrhunderts ‚erobern‘ die Heiligen auch das Zentrum der Tafeln.14 Der Trend zu einer solchen Gestaltung des Tafelzentrums, das einen ruhenden Pol inmitten der Dramatik der umgebenden Szenen bildet und Präsenz und Ansprechbereitschaft des Heiligen suggeriert, scheint sich unter dem Einfluss byzantinischer Vita-Ikonen und italienischer Heiligentafeln15 verstärkt zu haben. Tafeln mit rein fortlaufenden Erzählungen bleiben demgegenüber in der Minderzahl.16 Das Fehlen einer Mittelfigur erscheint hier allerdings merkwürdig passend: Ohne sie ist eine schnelle Identifikation der Hauptperson kaum möglich, was durchaus dem Kalkül ihrer Konzeptoren entsprungen sein könnte, denn dieses Problem liegt in der Natur der erzählten Geschichte selbst. Auf die Frage nach der Identi13 So gruppieren sich die Legendenszenen eines Margarethenfrontales aus der Konventskirche von Santa Margarida de Vilaseca (letztes Viertel 12. Jh.) um eine Sedes-Sapientiae-Darstellung in einer von vier Engel gehaltenen Mandorla (Museo Episcopal, Vic). Vermutlich standen die romanischen Apsidengestaltungen für diese frühen Frontalestrukturen Pate, in denen häufig Maria oder Christus das Zentrum besetzen und von Bildsystemen in horizontalen Streifen flankiert werden. Vgl. die bei Walter W. S. Cook: The earliest painted panels of Catalonia. Art Bulletin 5 (1922/1923), S. 85100; 6 (1923/1924), S. 31-60; 8 (1925/1926), S. 57-104, S. 195-234 versammelten Beispiele. 14 Ein Beispiel stellt das Frontale der Hl. Perpetua aus Santa Perpètua de Mogoda (um 1290-1325, Museo Diocesano, Barcelona) dar. 15 Bonaventura Berlinghieris Franziskustafel von 1235 (Pescia, S. Francesco) ist das erste bekannte italienische Vita-Retabel, welches nicht Christus oder der Madonna mit Kind gewidmet ist. Vgl. Klaus Krüger: Der frühe Bildkult des Franziskus in Italien: Gestalt und Funktionswandel des Tafelbildes im 13. und 14. Jh. Berlin 1992. 16 Schon um ca. 1200 wird ein Frontale aus Mosoll (Barcelona, Museo de Arte de Catalunya) datiert, welches in zwei durchlaufenden Streifen Szenen aus dem Marienleben zeigt. Auch das Frontale mit Michaelsszenen und einem Letzten Abendmahl aus der Michaelskirche von Soriguerola vom gleichnamigen Meister aus der (2. Hälfte 13. Jh., Museo de Arte de Catalunya, Barcelona) und das Frontale des Bischofsheiligen Cebrian aus der Pfarrkirche San Cebrián aus Cabanyes (um 1290-1325; Museo Episcopal, Vic) zeigen durchlaufend angeordnete Szenen. 48

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tät der Protagonistin gibt es eine Antwort, die jedoch erst durch den betrachtenden Nachvollzug ihrer Legende zu erlangen ist. Die Bildvita der Eugenientafel hebt mit der Szene eines Aufbruchs vermeintlich dreier Männer an (Abb. 2), verschleiert aber die Identität der Hauptperson ebenso wie deren Herkunft, das Bekehrungserlebnis Eugenias und die Gründe, die zu ihrem Aufbruch führten. Damit bleibt auch die Motivation für Eugenias Verkleidung vorerst unklar. Zuvor sei die Vorgeschichte kurz nach der Legenda Aurea berichtet: Die 15jährige Eugenia, Tochter des Philippus, Präfekt Alexandrias unter Kaiser Commodus (180-192), wird als in den freien Künsten und der Philosophie gelehrt und so selbstbewusst geschildert, dass sie eine Vermählung mit dem Sohn eines Konsuln ablehnt; durch die Lehre des Apostels Paulus „begann sie in ihrem Herzen Christin zu werden.“17 Als sie auf einem Spaziergang zu einem christlichen Dorf gelangt und dessen Bewohner von Gott singen hört, bekehrt sie sich und entscheidet, im Männergewand mit zwei Gleichgesonnenen, Prothus und Hyacinthus, in die Welt zu gehen. Sie kommen zu einem Kloster, dessen Abt Helenus mit Gottes Hilfe Eugenias Verkleidung durchschaut, aber akzeptiert, da Eugenias Handeln männlich sei. Darauf nehmen die drei Reisenden das Mönchsgewand und Eugenia den Namen Eugenius an. Im Bilde verlassen drei Männer – nur der Mittlere ist bärtig – ein gemauertes, zinnenbekröntes Gebäude durch ein Tor, die Abbreviatur einer Stadt, und weisen nach rechts. Die ähnliche Erscheinung der Wanderer und ihre einmütige Gestik unterstreichen brüderliche Gleichheit und gemeinsames Ziel. Eugenia, die im Anführer zu vermuten ist, trägt keinen Nimbus und ist ohne das referierte Vorwissen nicht als Frau zu identifizieren. Der Aufbruch in Männerkleidern – Normverstoß gegen das alttestamentlich fundierte Verbot des Kleidertausches – bedeutet auch ein Verlassen der gesellschaftlichen Ordnung, deren Symbol die Stadtmauer ist. Entsprechend der äußerst knappen Reiseschilderung, die nur in der Bewegung besteht und sogleich das Ziel ins Auge fasst, folgt nun die nächste Szene, die in der Legenda aurea nicht erwähnte Taufe Eugenias (Abb. 3). Mittels der Taufszene lässt sich aber veranschaulichen, wie denn der Abt Helenus die Verkleidung hat durchschauen können. Der assistierende Geistliche links weist mit lang ausgestrecktem Zeigefinger nach rechts. Ob er zu Helenus, auf den Täufling allgemein, auf den Taufakt oder genauer auf Eugenias verdeckte Brüste weist, bleibt unklar. Sicher ist jedoch, dass er in einer für mittelalterliche Bildzyklen typischen szenischen Verknüpfung den Zeigegestus der Wanderer wieder aufnimmt; diese aber verschwinden – kaum dass sie in sie eingetreten sind – aus der Erzählung. 17 „A ela pervenc la doctrina de sent Paul, per què ela comensà en son coratye ésser crestiana.“ Kniazzeh (wie Anm. 5), S. 272. 49

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Anders als die Legenda aurea konzentriert sich das Frontale ab diesem Zeitpunkt ganz und gar auf das Schicksal Eugenias. Helenus, der hier als Bischof und nicht als Abt dargestellt wird, segnet und berührt Eugenia am Arm, die nackt bis zu den Lenden im kelchförmigen Taufbecken steht und die im Oransgestus nach außen gerichteten Handflächen in Höhe ihrer Brüste hält: Der Akt des Gebets verdeckt bezeichnenderweise das Zeichen des Geschlechts. Mit der Taufe erwirbt Eugenia ihren Nimbus, an dem sie fortan trotz wechselnden Erscheinungsbildes zu erkennen ist. Die frontal und symmetrisch angelegte Szene schließt die weitere Erzählrichtung nach rechts vorläufig ab bzw. verlangsamt sie: die Taufe bietet einen angemessenen Haltepunkt der Narration, denn im Angesicht des göttlichen Sakraments kommt die Wahrheit ans Licht – allerdings vorläufig nur für eine exklusive, geistliche Öffentlichkeit – und im Vorwissen der realen Betrachter. Die Taufe besiegelt die innere Bekehrung und Mannwerdung und legitimiert ihr äußeres Zeichen, den ihr vorgängigen Gewandwechsel. Ein Wort aus dem Galaterbrief 3, 27-28 beschreibt übrigens die Taufe als Gewandnahme der besonderen Art: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib, denn ihr alle seid einer in Christus.“ Die Taufe bildet eine Übergangssituation von der als Mann verkleideten, christlich gesonnenen Heidin über den nackten Täufling, hin zum Mönch in der nächsten Szene. Das biologische Geschlecht Eugenias wird durch ihr Handeln – Aufbruch in Männerkleidern, Taufe, Gebetsgestus und neuerliche Gewandnahme – bis zur Unkenntlichkeit überlagert. Der visuell nicht fassbaren geschlechtlichen Identität Eugenias kommt der lineare Stil des Künstlers entgegen, der wenig zwischen Mann und Frau differenziert: Die schmalen Körper mit grundsätzlich ähnlichen Gesichtern und ähnlich langem welligem Haar, das in den Nacken fällt, wirken wie asexuelle, starre Gliederpuppen, an denen sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Bart, Tonsur und angedeutete Brüste requisitenartig angebracht scheinen.18 Ohne Vorwissen und ohne den Nimbus Eugenias wäre es unmöglich, in 18 Es wäre falsch, dies als Unfähigkeit zu verstehen, vgl. Silke Büttner: Irritationen. Überlegungen zur Erforschung von Differenzierungspraktiken in der mittelalterlichen Kunst. In: Verkörperte Differenzen. Hg. Karl Brunner, Andrea Griesebner und Daniela Hammer-Tugendhat. Wien 2004, S. 209234. Büttner wendet sich gegen das verbreitete Vorurteil, vorgotische Künstler seien an der Darstellung von Geschlechterdifferenzen nicht interessiert oder gar unfähig gewesen, dieselbe angemessen zu verbildlichen. Vielmehr müsse man nach Zeigestrategien und Aufgaben des jeweiligen Bildmediums fragen. Geschlecht werde vor diesem Hintergrund bewußt kontextabhängig und unterschiedlich stark differenziert dargestellt. 50

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den Hauptpersonen der ersten drei Szenen die eine Protagonistin zu erkennen. Aber auch mit diesem Vorwissen wird der Betrachter – wie ich meine: bewusst – gezwungen, genauer hinzuschauen und über Schein und Sein nachzusinnen. Der starke Bruch auf der Hälfte der Bildzeile wird in der nächsten Szene formal angezeigt durch einen Mönch, der der Taufszene den Rücken zukehrt (Abb. 4). Dass ‚Eugenius‘ mittlerweile Helenus’ Nachfolger geworden ist, erfährt der Betrachter aus der nächsten Szene nicht. ‚Eugenius‘ kuriert eine reiche, mit einer Krone ausgezeichnete, alexandrinische Dame namens Melancia vom viertägigen Fieber. Der Mitbruder berührt ‚Eugenius‘ an der Schulter, vielleicht hat er ihn zu der Patientin geführt; er erfüllt die topische Funktion des Wunderzeugens wie des Anstandswächters. ‚Eugenius‘ berührt die Hände der sich wie mühsam aufrichtenden Melancia. Der Kontakt scheint die Heilung zu bewirken, er dürfte allerdings auch zur fatalen Verwirrung der Gefühle Melancias geführt haben. Aus der neutral geschilderten Visite erfährt der Betrachter nichts über das innere Fieber der Liebeskranken, deren erfolgloser, in der Legenda aurea genüsslich ausgebreiteter Verführungsversuch nicht dargestellt wird. Wie Potiphars Weib wird Melancia Eugenius in der nächsten Szene bei dem Präfekten der Vergewaltigung anklagen.19 Vor Philippus, der seine Tochter zunächst nicht erkennt, führt die kniende Melancia Anklage. ‚Eugenius‘’ Mitbruder steht schräg hinter ihm und deutet in Richtung seines Nimbus, um die Heiligkeit und Unschuld des Mönchs zu bezeugen. Direkt hinter Melancia enthüllt ‚Eugenius‘ /Eugenia nach der Taufe ein zweites Mal ihr Geschlecht, nun coram publico – in der Legenda aurea wird dies durch einen Monolog Eugenias dramatisiert, der ihre Entblößung einleitet: „‚Damit die Wahrheit die Lüge, die Weisheit die Bosheit überwinde, zeige ich die Wahrheit, nicht aus Eitelkeit, sondern zur Ehre Gottes‘. Und dies gesagt, zerriss sie ihr Gewand vom Haupt bis zu den Füßen, so dass der Präfekt sah, dass sie eine Frau war, und sagt ihm: ‚Du bist mein Vater und Frau Claudia ist meine Mutter, [...]‘.“20 In der Legenda aurea folgt darauf rasch eine Versöhnung unter Tränen und die Einkleidung Eugenias in goldene Gewänder, während in einer älteren Legendenversion noch eine lange Rechtferti19 Noch im spanischen siglo d'oro machte Calderón Eugenia zur Heldin eines Dramas mit dem Titel „Der Joseph der Frauen“ unter Anspielung an das Potiphar-Motiv. Anson (wie Anm. 7), S. 21. 20 „E per so que veritat sòbre mesonya, e que saviessa sòbre malessa, eu mostraré veritat, no per vanaglòria mes per la glòria de Déu –. E assò dién, ela s’esquinsà la gonela del cap entrò als peus, per què le pretor vesé que femna era, e dix a él: - Tu és mon pare e Na Clàudia ma mare, [...].“ Kniazzeh (wie Anm. 5), S. 275. 51

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gung Eugenias steht, die in der Gleichheit der Geschlechter im Herrn kulminiert und den Grund ihrer Verkleidung benennt: nämlich die Jungfräulichkeit zu bewahren, da sie keine Frau sein wolle. Unter dem Männerkleid habe sie nicht weiter als Frau gehandelt, sondern sich wie ein tapferer Mann verhalten.21 Für Eugenia stimmen demnach äußerer Schein und ihr Sein überein, welches sich an Taten, nicht am Körper misst. Die Beredsamkeit Eugenias kann das stumme Bild nicht veranschaulichen; stattdessen arbeiten die Schöpfer der Tafel in dieser Szene mit einer raffinierten Struktur des Nebeneinanders und der Überlagerungen von Körpern, die ‚Eugenius‘/Eugenia kompositorisch in die Koordinaten der Zeit, des Geschlechts und des sozio-religiösen Standes stellt und die Problematik von Schein und sein, Wahrheit und Lüge dramatisiert. Links vertritt der Mönch, Begleiter Eugenius’, dessen Status als Mann und Angehöriger einer monastischen Gemeinschaft und damit eine im Augenblick der Enthüllung schon zur Vergangenheit gewordene Existenzform. Der Vater bildet die Kontrastfigur zum Mönch als weltlicher, heidnischer Mächtiger; sein Richteramt weist in Eugenias Zukunft als Märtyrerin. ‚Eugenius‘/Eugenia selbst befindet sich im Übergang mit tonsuriertem Haupt und Kutte. Nur deren frei gewordener Spalt zeigt ansatzweise die Brüste, ab hier ‚häutet‘ sich Eugenius zu Eugenia. Sie zieht die Kutte nur vor den Brüsten auseinander, während die Legenda aurea von einer völligen Entblößung „vom Kopf bis zu den Füßen“ spricht. Ein enthüllter Unterkörper einer Heiligen auf einer Altartafel hätte vielleicht gegen die Schicklichkeit verstoßen. 22 Doch den Konzep21 Migne, Patrologia Latina 73, S. 605-623, hier: S. 614: Optaveram quidem crimen objectum in futuro iudicio, et castitatem meam illi soli ostendere, cujus amore servanda est. Tamen ne glorietur in servos Christi fallax audacia, et paucis pandam verbis veritatem, non ad jactantiam humanae declamationis, sed ad gloriam nominis Christi. Tanta enim est virtus nominis ejus, ut etiam feminae in timore ejus positae virilem obtineat dignitatem; et neque si sexus diversitas fide potest inveniri superior, cum beatus Paulus apostolus, magister omnium Christianorum, dicat quod apud Dominum non sit discretio masculi et feminae, omnes enim in Christo unum sumus [Gal. 3]. Hujus ergo normam animo fervente suscepi, et ex confidentia quam in Christo habui, nolui esse femina, sed virginitatem immaculatam tota animi intentione conservans, virum gessi constanter in Christo. Non enim infrunitam honestatis simulationem assumpsi, ut vir feminam simularem; sed femina viriliter agendo, virum gessi, virginitatem quae in Christo est fortiter amplectendo. Vgl. auch Anson (wie Anm. 7), S. 23. 22 Den Augenblick der prekären Balance zwischen zwei Identitäten wählten auch die Schöpfer eines Kapitells auf der Nordseite des Langhauses der Basilika von Vézelay, die erste erhaltene szenische Darstellung aus der Eugenienlegende aus dem zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts. Hier steht die 52

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toren der Tafel ging es um mehr als um das Einhalten von Schamgrenzen, sondern – komplizierter – um ein Spiel mit Überlagerungen: Ausgerechnet die kniende Melancia verdeckt Eugenias Unterkörper. Die auffällige Überlagerung der beiden Frauen lässt sich nicht auf simplen Platzmangel zurückführen (man hätte Melancia ja auch weiter an den linken Rand schieben können), sondern scheint kalkuliert. Als Eugenius’ wie Eugenias Antagonistin steht Melancia für die enge Verschränkung von Weiblichkeit und Sexualität. Eugenias Bauch und Unterleib werden von Melancias Kopf verdeckt, dessen Lügen für die Falschheit des weiblichen Geschlechts steht; ein Geschlecht wiederum, welches Melancia mit Eugenia teilt, von dem sich Eugenia losgesagt hatte und von dem sie nun doch wieder eingeholt wird. In der schockartigen Enthüllung ihres Geschlechts führt Eugenia die Anklage der Frau ad absurdum, die aus sexuellem Begehren entstand. Doch dort, wohin sich Melancias Begehren richtete, befindet sich ein blinder Fleck, nicht der Mann, sondern Eugenias verdeckte Scham und damit das eigene Geschlecht. Melancia wird als ‚Sexualzeichen‘ über Eugenias Unterkörper projiziert. Melancias Betrug überlagert den Betrug Eugenias. Eugenia enthüllt sich zwar im Namen der Wahrheit, doch diese erweist sich als doppelbödig, beinhaltet sowohl die Falschheit der Anklage als auch die geschlechtliche Identität Eugenias. Von ihrer frommen Täuschung sind alle betroffen: die Lügnerin Melancia ebenso wie der Mönch, der sich für den Mitbruder eines moralisch integren, angesehenen Heilers und Abtes hielt und meinte, dies auch als Augenzeuge nachweisen zu können; der Vater, der die Tochter erst nicht erkennt, als Richter nach Wahrheit forscht und eine andere findet, als die von ihm erwartete.

tonsurierte Eugenia in der Mitte, rechts der sitzende Vater, links die stehende und an ihr langes Haar greifende Melancia und zieht gerade ihre Kutte über den Brüsten auseinander, die nur ansatzweise sichtbar werden. Auf Höhe ihres Nabels befindet sich eine recht tief gebohrte Öffnung, die Marina Warner: Monuments and Maidens. New York 1985, S. 303 als Vagina deutet. Zur Deutungsproblematik Pamela Loos-Noji: Temptation and redemption: a monastic life in stone. In: Equally in God's Image: Women in the Middle Ages. Hg. Julia Bolton Holloway, Constance S. Wright und Joan Bechtold. New York 1990, S. 220-232. Auch sonst werden männliche und weibliche Märtyrer sehr selten gänzlich entblößt gezeigt. Zur Problematik der Inszenierung heiliger Nacktheit vgl. Silke Tammen: Der Bildzyklus der Heiligen Katharina von Alexandrien in den Belles Heures des Herzogs von Berry: zur Wahrnehmung des sinnlichen Heiligenkörpers. Der Körper in Mittelalter und Früher Neuzeit. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Das Mittelalter 8 (2001/2004), S. 113-129. 53

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Die Enthüllung Eugenias lässt die bisherigen Protagonisten mit ihrer Verwirrung allein. Der Riss des Gewandes und der geschlechtlichen Identität reißt auch die Erzählung in zwei Hälften: Die untere Bildzeile knüpft nur durch Wiederaufnahme des Motivs der Richterszene (Abb. 7) formal, aber unter gänzlich anderen Vorzeichen an das Geschehen der oberen Zeile an. Dieser engen Anbindung fallen die vorgängigen, in der Legenda aurea berichteten Ereignisse zum Opfer: die Freude der Eltern über die wiedergefundene Tochter, ihre Ehrung und festliche Kleidung in Gold, Melancias Bestrafung durch himmlisches Feuer, die Bekehrung der ganzen Familie, Wahl des Vaters zum Bischof, sein Tod, die Romfahrt der restlichen Familie mit Eugenia und dortiges Bekehrungswerk. Ebenso wie die Konzeptoren der Tafel das Schicksal von Eugenias Begleitern Prothus und Hyacinthus ausgeblendet haben, lösen sie Eugenia aus ihrer Familiengeschichte und inszenieren so einen einsamen (umso stärker wirkenden) Weg. Die Enthüllung Eugenias führt als eine Szene des Übergangs direkt in ein neues Kapitel, eine neue Ebene ihrer Geschichte, deren Träger der entpuppte und sogleich wieder bedeckte Märtyrerinnenkörper ist. Die an den Handgelenken gefesselte und von einem Schergen vor ihren kaiserlichen Richter geschobene Eugenia hat ihr Kostüm gewechselt: Ihr Haupt ist von Haar bedeckt, ihre einst reisefreudigen Füße sind durch ein langes, auf dem Boden steife Falten schlagendes Kleid verhüllt und blockiert. Nacktheit spielt vorerst keine Rolle mehr, womit sich die Darstellung des Martyriums Eugenias von zahlreichen anderen Fällen unterscheidet: Eugenias Körper ist kein von Heiden begehrtes und den Blicken und Berührungen der Folterer ausgesetztes Objekt.23 In der nächsten Szene folgt wie üblich auf die obstinate Haltung einer Märtyrerin die Strafe (Abb. 8): Eugenia wird mit einem Stein beschwert in den Tiber geworfen. Doch unter der Hand Gottes schmiegt sich die schwerelose Heilige förmlich in die Fluten. Ihr getaufter Körper ist den Gesetzen der Welt enthoben. Die zwei folgenden, simultan zusammengefassten Szenen setzen das Thema des göttlichen Beistands fort und steigern es zugleich (Abb. 9): An die Stelle der göttlichen Hand tritt Christus leibhaftig in einem für Märtyrerviten typischen Stärkungswunder.24 Links steckt Eugenia in einem käfigartigen Gefängnis; bei dem Gebäude zur Rechten, in das sie geschoben wird, handelt es sich um die Kulisse einer früheren Begebenheit: Nach dem missglückten Erträn23 Vgl. Silke Tammen: Gewalt in der Kunst des Mittelalters: Ikonographien, Wahrnehmungen, Ästhetisierungen. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hg. Cornelia Herberichs und Manuel Braun. München 2005, S. 307-339. 24 Reglinde Rhein: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in „Historia“ und Doctrina“. Köln 1995, S. 122. 54

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kungsversuch wird sie in einen glühenden Ofen gestoßen, der aber erlischt. Eugenia muss danach zehn Tage in einem Kerker hungern, als Christus sie besucht. Der Wechsel von Schauplatz und Erzählrichtung findet an den sich überlagernden Körpern des Schergen und Christi statt. Nach der Legenda aurea speist Christus Eugenia mit einem weißen Brot und prophezeit ihr den Tod auf den Tag seiner Geburt. Klarer könnte die Zugehörigkeit eines jeden Heiligen zum mystischen corpus Christi nicht gefasst werden, denn der Tod eines Heiligen galt als sein eigentlicher Geburtstag. Mit der Enthauptung endet die gemalte Legende (Abb. 10): Aus den Wolken erscheinen zwei Engel und tragen Eugenias Seele in einem Tuch gen Himmel. Die betende Haltung der sterbenden Eugenia wird von der befreiten und in der Schrägansichtigkeit keine Geschlechtsmerkmale aufweisenden Seele wiederholt. Die Seele in Kinderform ist allerdings ikonographisch so üblich, dass man ihre Erscheinung kaum als Zuspitzung eines transzendenten Geschlechtsverlusts werten darf. Im Gegenteil: Eugenia würde nach verbreiteter Auffassung am Tage der fleischlichen Auferstehung auch die Merkmale ihres weiblichen Geschlechts wieder tragen.25 Vorläufig gilt aber: Im Tode vollendet sich Eugenias Entwicklung: mit der Entpuppung der Seele ist ihr Ziel erreicht. Neben dem Körper Eugenias bleibt auf Erden ein Schrein zurück, der auffällig viel Bildraum beansprucht. Die Spitze des Richtschwerts, welches an Eugenias Kehle liegt, scheint in die Kante des Schreins überzugehen. Die zeichenhafte, über die Bildfläche hergestellte Verbindung zwischen Körper und seinem zukünftigem Aufbewahrungsort, die den eigentlichen Raum und die zwischen Martyrium und Märtyrerverehrung verstrichene Zeit ignoriert, ist enger kaum zu denken. Eugenias betende Pose vor ihrem eigenen Schrein, der zwischen Körper und Seele steht, nimmt die Pose der Gläubigen vorweg, die sie um Interzession und Heilung anflehen werden. Ihr Blick und ihre Hände sind bildauswärts gerichtet, während ihre Seele einen letzten Richtungswechsel vollzieht, so wie sie in Zukunft die an sie gerichteten Bitten weiterleiten wird.

3. Bildstrukturen An der Eugenientafel lässt sich ablesen, dass ihre Schöpfer mit großem Geschick die Szenen aus der Legendenvorlage auswählten, reduzierten und so disponierten, dass die der Legende immanente Ambivalenz klar vor Augen treten konnte. Die deutlich voneinander abgegrenzten und 25 Vgl. Carolyn Walker Bynum: The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200-1336. New York 1995, S. 90-91 (Hieronymus), S. 98 (Augustinus) und S. 254 (Bonaventura). 55

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doch miteinander korrespondierenden horizontalen Bildzeilen könnten unterschiedlicher nicht sein: Während die obere Zeile im Eilschritt und skandiert vom Motiv des nach rechts weisenden Arms den Aufbruch, das Christin- und Männlichwerden, sowie die Rückkehr zum weiblichen Geschlecht durchmisst und dabei mit den aktiv der Außenwelt zugewandten Szenen des Aufbruchs und der Heilungsszene Motive der Legenden männlichen Heiliger einsetzt, verlangsamt sich das Erzähltempo in der unteren Zeile, die der Schilderung einer einzigen, letzten Lebensphase gewidmet ist: des zentralen Lebensabschnitts (passio) in einer Märtyrerlegende, die aus Verhör, Marter, Christusbeistand und Hinrichtung besteht. Hier bewegt Eugenia sich nicht mehr selbst, sie wird bewegt, gehalten, geworfen, gefangen, geköpft. Der Wille, der sie aufbrechen, als Mann und Mönch handeln ließ, ist aufgegeben und durch Gottes Beistand ersetzt. Die zwei waagerechten Bildzeilen lassen sich auch im Detail in senkrechten Bildpaaren ‚gegeneinander‘ lesen: 1. Kolumne: Aktiver Aufbruch versus demütiges Hinnehmen der Anklage in entgegen gesetzter Richtung, Ausschreiten versus Verdecken der Füße. 2. Kolumne: Die Taufe in heiligendem Wasser steht dem Schweben auf dem ‚heidnischen‘ Tiberwasser gegenüber bzw. ermöglicht gerade diese Überwindung eines Naturgesetzes. Zugleich vollendet die Taufe sich in der Folter, denn das Martyrium wurde seit der Patristik als Bluttaufe verstanden. 3. Kolumne: Melancia, deren Name in der Legenda aurea als schwarz gedeutet wird und die vom Feuer des Fiebers und der kranken Leidenschaft verzehrt wird, versus Eugenia, der Feuer nichts anhaben kann. 4. Kolumne, nun weniger gegensätzlich organisiert: nackte Wahrheit und nackte Seele bilden transitorische Endpunkte des jeweiligen Lebensabschnitts: Eugenia befreit sich vom Gewand, Eugenia darunter wird aus ihrem Körper befreit. Die Seele wird in einem Tuch zu ihrem neuen Vater getragen. Die letzte Funktion des Stoffs in dieser Erzählung ist nun nicht mehr das Verbergen bzw. Enthüllen, sondern das Bergen auf der ultimaten Reise. Neben der horizontalen und senkrecht-paarweisen Kontrastierung lässt sich ein drittes Dispositionsprinzip ausmachen: die Aufteilung der Tafel in Viertel, die in diagonaler Beziehung zueinander stehen: Das erste Viertel links oben steht im Zeichen des Aufbruchs und eines ersten Ziels: Frontalität und Zentrierung der Taufszene bilden hierbei eine starke Zäsur gegenüber dem Folgenden; das zweite Viertel steht im Zeichen des Heiligkeitsbeweises durch Heilkräfte und Prüfung der Heldin; das dritte Viertel links unten setzt das Thema der Prüfung in Anklage und Martyrium fort. In umgekehrter Richtung lässt sich eine starke von links oben nach rechts unten verlaufende, diagonale Achse mit dem Thema des Aufbruchs, der Taufe und des Todes besetzen: Eugenia bricht auf, um

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Christus nachzufolgen und begegnet ihm im Gefängnis. Die Taufe wiederum ist Geburt des neuen und Tod des alten Menschen, im Märtyrertod erfüllt sich diese Idee. Die nach links oben gewandte Seele im Tuch bildet ein fernes Echo zu Eugenias betendem Körper im Taufbecken. Die antithetischen, aber zugleich sich sinnvoll verstärkenden Beziehungen der Bildpaare gehorchen einem binnentypologischen Prinzip, innerhalb dessen die untere Zeile, also das Märtyrerinnenschicksal sub specie feminae, die obere Zeile, also die Existenzform sub specie hominis, erfüllt und übertrifft. Ich betrachte hier Typologie als Dispositionsform, genauer mit Paul Michel die „Erzählung eines an sich kohärenten historischen Prozesses, der durch eine zentrale Krisis in zwei aufeinander beziehbare Phasen geschieden wird, wobei die beiden Phasen in einem Verhältnis der Steigerung stehen.“26 Im Falle der Eugenientafel sind damit die zwei Bildzeilen und Lebensabschnitte beschrieben, die durch den krisenhaften Höhepunkt der Entkleidung voneinander geschieden werden. Strukturen, in denen Argumentation und Narration ein Bündnis eingehen, waren so weit verbreitet, dass sie auch dem Künstler der Eugenientafel vertraut gewesen sein dürften. Sie sind sowohl als literarisches Verfahren als auch in Bilderzählungen verschiedenster Medien, wie etwa den Glasfenstern nachgewiesen.27 Dieses binnentypologische Prinzip, welches man auch als sinnstiftenden Kontrast beschreiben kann, betrifft insgesamt den Körper und sein Äußeres als Hauptmotiv der Erzählung: Eugenias Status als Mann ist prekär und wird von zwei Entblößungen skandiert, während die Existenzform der Märtyrerin sich geradlinig und ohne Bruch entwickeln kann. Während der erste Lebensabschnitt im Zeichen des Verkleidens und Verleugnens, des Strebens nach Vermännlichung des Körpers steht, scheitert dieses Unterfangen heroisch am Ende der Bildzeile: die Frau ist wieder Frau, die verkehrte und ‚verstörte‘ Welt ist zur Ordnung zurückgekehrt, d.h.: Nach der Enthüllung bleibt Eugenia nur noch der anfangs verleugnete Körper als Instrument der Heiligung: nicht der vermännlichte, sondern der weibliche Körper der Märtyrerin erweist sich letzten Endes als Ort göttlicher Gnade, ja direkten Kontakts mit Christus. So wirkt die erste Bildzeile als ein umwegvolles, aber nötiges Vorspiel, welches verdeutlicht, dass die Märtyrerin eine starke Seele mit männlicher virtus besitzt, die schon lange vor der Folter auf die Probe gestellt wurde. Ihr Weg verläuft in der ersten Zeile gegen das Geschlecht und scheitert. Der zweite Weg bedarf geradezu des weiblichen Körpers, um sein zielstrebi26 Paul Michel: Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Gestalten des Textbezugs. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. Wolfgang Harms. Tübingen 1992, S. 43-72, hier: S. 68. 27 Vgl. Wolfgang Kemp (wie Anm. 6) passim und S. 119. 57

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ges Ende im Tod, in einer neuen Taufe des Blutes zu finden. Nur so kann er aufgegeben werden; die Verkleidung war in diesem Sinne nur ein Agieren an der Oberfläche der stofflichen Hülle, die die Hülle des sterblichen Fleisches zu negieren versuchte.

4. Wahrnehmungsschichten Eugenias Hinrichtung vor dem Schrein führt uns zurück an den Ort ihrer Verehrung. Wir wissen nicht, was die uns unbekannten Gläubigen von Saga in der Eugenientafel sahen. Die von mir durchgespielten Bildstrukturen und ihnen inhärenten Wahrnehmungsmöglichkeiten enthüllen zwangsläufig nur das Denken ihrer Konzeptoren28, in deren Anliegen und Lektüreangeboten wir immerhin die Anerkennung eines idealen Betrachters gespiegelt finden. Zumindest einmal im Jahr, am 24. oder 25. Dezember29, werden die Gläubigen von Saga intensiv mit der Legende konfrontiert worden sein, denn Heiligenlegenden wurden am Festtag des jeweiligen Heiligen verlesen.30 Dabei ist auch die Rezitation der volkssprachlichen Fassung vorstellbar. Das Publikum erlebte die mündliche Erzählung also selten, aber wiederholt im circulum anni und in die feste Inszenierung der Festmesse eingebunden. Die Tafel hält damit eine Abbreviatur einer längeren und vertrauten Erzählung bereit. Sollte die Tafel (von der Fastenzeit abgesehen) über das gesamte Jahr am Altar sichtbar gewesen sein, mag sie in der Ehrung der Heiligen, in der Erinnerung an ihre Taten und der Erregung andächtiger Gefühle grundlegende Funktionen des sakralen Bildes erfüllt haben.31 Davon und dem interzessorischen 28 Mit diesem Begriff und der damit verbundenen Vorstellung eines die Künstler leitenden Beraters, der mehr als ‘nur’ theologisches und grundlegendes ikonographisches Wissen beisteuert, folge ich Beat Brenk: Der Concepteur und sein Adressat oder: Von der Verhüllung der Botschaft. In: Modernes Mittelalter. Hg. Joachim Heinzle. Frankfurt/M. 1994, S. 431450, hier: S. 433. „Da Programme meistens sehr verschiedenartigen Bedürfnissen gleichzeitig Genüge tun müssen – nicht nur religiösen und profanen –, möchte ich den Entwerfer mit ‘Concepteur’ benennen. Diese Benennung hat den Vorteil, dass das Phänomen beim Namen genannt wird: der Entwerfer heckt das Konzept aus, er wählt die Themen, er wählt wohl auch die Vorbilder aus und manchmal sogar den Stil. Er muß nicht à tout prix Theologe sein.“ 29 Boberg (wie Anm. 12), Sp. 177. 30 B. de Gaiffier, La lecture des actes des martyrs dans la prière liturgique en Occident. Analecta Bollandiana 72 (1954), S. 134-166. 31 Zu derartigen topischen Funktionszuschreibungen seit Gregor d. Gr. vgl. Celia Chazelle: Memory, Instruction, Worship: Gregory’s Influence on 58

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Nutzen eines jeden Heiligen einmal abgesehen, fragt sich nun aber genauer, welche erbaulichen Botschaften eine solche doch recht abenteuerliche Legende für ihr Publikum bereit hielt. In den Augen des Priesters wird die Tafel möglicherweise als passend erschienen sein, den Altar als Ort der eucharistischen Wandlung mit einem derartigen exemplum über Gewand und Wandlungen zu bekleiden. Schließlich handelte er dort als ein ‚Anderer‘ – durch sein Messgewand ‚überkleidet‘ – und gestisch das Opfer Christi nachvollziehend. Einem Geistlichen werden Überlegungen zur geistigen Mannwerdung oder der Bedeutung des Martyriums als Kampf gegen das eigene Fleisch32 zugänglicher als den Laien gewesen sein. Jene werden die Eugenienlegende vielleicht eher als fremdes und zeitlich weit entlegenes Ausnahmeschicksal wahrgenommen haben, an dem Gott seine unermessliche Gnade beweist. Zwar stellt die Legende einer verkleideten Heiligen im ausgehenden 13. Jahrhundert, das auf einen veritablen Boom an neuen, z.B. Bettelordensheiligen zurückblicken kann, nicht nur einen geradezu exotisch wirkenden Anachronismus an Heiligkeit dar, sondern setzt auch den verbotenen Kleiderwechsel ins Bild. Grundsätzlich rechtfertigt sich aber eine solche Regelwidrigkeit dadurch, dass Grenzüberschreitungen als Vorrecht der Heiligen erscheinen, Heiligkeit häufig genug ein liminaler Status ist, der gesellschaftliche Kategorien und Tabus in Frage stellen kann. Ein Interesse an dieser Ausprägung von Heiligkeit liest Cazelles aus den französischen volkssprachlichen Legenden des 12. und 13. Jahrhunderts, in denen eine klare Präferenz den frühen Märtyrern und Eremiten gilt, deren Schicksale zur admiratio, nicht aber zur imitatio einladen, sondern die als mächtige Fürsprecher weit entfernt von den Belangen der Jetztzeit stehen.33 Doch ist die Eugenienlegende tatsächlich so weit von zeitgenössischen Interessen entfernt? Die Motive der Maskerade und Travestie, die mit Überschrei-

Early Medieval Doctrines of the Artistic Image. In: Gregory the Great: a Symposium. Hg. J.C. Cavadini. Notre Dame 1996, S. 181-215; Lawrence G. Duggan: Was art really the book of the illiterate? Word & Image 5 (1989), S. 227-251. 32 Ferdinand Barth: Legende als Lehrdichtung. Beobachtung zu den Märtyrerlegenden in der ‘Legenda Aurea’. In: Europäische Lehrdichtung. Hg. Hans Gerd Rötzer und Herbert Walz. Darmstadt 1981, S. 61-73, hier: S. 69. 33 Brigitte Cazelles: Le corps de sainteté d'après Jehan Bouche d'Or, Jehan Paulus et quelques vies des XIIe et XIIIe siècles. Genf 1982, S. 9: „différenciation sacrée, entre le modèle et le fidèle, le mort et le vivant, le disparu et le présent.“ Ebenda, S. 47: „Le projet n’est pas d’imiter le héros, mais de l’invoquer.“ Zum hagiographischen Topos des non imitandum sed admirandum vgl. Richard Kieckhefer: Unquiet souls: Fourteenth-Century Saints and their religious milieu. Chicago 1984, S. 113-114. 59

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tungen der Geschlechterrollen spielen, ohne sie ernstlich in Frage zu stellen, spielen in der zeitgenössischen Literatur eine bedeutende Rolle.34 Am weitesten geht wohl Heldris de Cornualles Roman de Silence aus dem späten 13. Jahrhundert, dessen Heldin Silence aus Erbfolgegründen als Mann erzogen wurde und sich bis zu ihrem zwölften Geburtstag für einen Jungen hält. Das heranwachsende Mädchen ist zufrieden mit dieser Identität, wird aber kurz darauf von der personifizierten nature aufgefordert, Kleidung und Verhalten ihres wahren, weiblichen Geschlechts anzunehmen. Lieber folgt Silence aber der Stimme der ebenfalls personifizierten noreture (Erfahrung/Kultur), die für Aufrechterhaltung der männlichen Identität plädiert. Nach etlichen Verwicklungen, in denen Silence sich als vorbildlicher Ritter bewährt, ist sie am Ende doch gezwungen, sich öffentlich zu entkleiden und (wenig enthusiastisch) die Nachfolge ihrer entlarvten und hingerichteten Gegenspielerin, der bösen Königin Eufemia anzutreten, die versucht hatte, sie zu verführen.35 Vielleicht verkörperte also Eugenia im Sinne Cazelles nicht nur „sakrale Differenz“ und exotische Heiligkeit, sondern trat möglicherweise ‚in Konkurrenz‘ zu den verkleideten Heroinen der jongleurs, in deren Repertoire sich sowohl Heiligenlegenden als auch weltliche Dichtungen befanden. Ist es ein Wunder, dass die zahlreichen Heiligenfrontale Nordspaniens wie die französischen Glasfenster in einer Hochzeit der volkssprachlichen, gereimten Heiligenerzählung fallen, die weit vor den neuen Heiligen altehrwürdigen Märtyrern und Eremiten das Wort erteilen?36 Die Eugenientafel erscheint somit als Produkt eines Klimas, in dem die Kirche, Kemps Untersuchung zu den zeitgleichen großen Glasfenstern zufolge, versucht unter dem Druck blühender weltlicher Erzählformen und -inhalte erzäh34 Vgl. Valerie R. Hotchkiss: Gender transgression and the abandoned wife in medieval literature. In: Gender Rhetorics. Postures of Dominance and Submission in History. Hg. Richard C. Trexler. Binghampton 1994, S. 207218; Michèle Perret: Travesties et Transsexuelles. Yde, Silence, Grisandole, Blanchandine. Romance Notes 25 (1985), S. 328-340; Ingrid Bennewitz, Berichte aus der Zeit der Päpstin. Zur Inszenierung des Geschlechtertauschs in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Chevaliers errants, demoiselles et l’autre: höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Hg. Trude Ehlert. Göppingen 1998, S. 173-191 und Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006. 35 Hotchkiss (wie Anm. 7), S. 122. Gerhild Scholz-Williams: Konstruierte Männlichkeit. Genealogie, Geschlecht und ein Briefwechsel in Heldris von Cornwalls ‘Roman de Silence’. In: Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. Horst Wenzel. Berlin 1997, S. 193-211. 36 Cazelles (wie Anm. 33), S. 17. 60

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lerisches Terrain mittels Wort und Bild zurückzuerobern.37 Es musste nicht nur anders, d.h. anschaulicher und farbiger erzählt und gepredigt werden, sondern auch anders gemalt werden. Als solche Erzählkünstler zeigen sich die anonymen Konzeptoren und Künstler der Eugenientafel. Sie arbeiteten die der Legende inhärenten Brüche und Ambivalenzen mittels struktureller Mittel klar auf der Fläche des Frontales heraus – klarer als dies Jacobus de Voragine in der Legenda aurea tut, wo durch die große Verteidigungsrede Eugenias, die freudige Familienzusammenführung und das gemeinsame Schicksal in Rom die Vorgeschichte Eugenias als Mann im Fluss der detailreichen Narration viel weicher aufzugehen scheint. Es gelang den Schöpfern der Tafel, eine ohnehin schon spektakuläre Legende spannungsreich ins Bild zu setzen, dabei zu entschlacken, sie aber auch ein wenig zu ‚zähmen‘. Unter Zähmung verstehe ich den ‚binnentypologischen Sieg‘, den die demütige Märtyrerin im unteren Bildstreifen über die in männliche Domänen aufbrechende, verkleidete Frau des oberen Bildstreifens davonträgt. Zwar sind Eugenias männliches Inneres und ihr Handeln untrennbar miteinander verbunden und machen ihre spätere Unbeugsamkeit als Märtyrerin erst recht verständlich, doch ist nicht auszuschließen, dass das deutliche, kontrastive Spiel zwischen den zwei Bildstreifen und Lebensabschnitten Eugenias einem missverständlichen Identifikationsangebot an Betrachterinnen vorbeugen sollte: Der Weg Eugenias transzendiert die Phase der Verkleidung und führt über den nur angedeuteten Moment der nuda veritas ihres Körpers in Martyrium und Tod. In der Tauf- und Entkleidungsszene fällt die visuelle Inschutznahme des nackten Körpers der Heiligen auf, denn sonst insistieren sakrale und weltliche Erzählungen von als Mann verkleideten Frauen auf der Evidenz des weiblichen Körpers, der im Laufe der jeweiligen Geschichte, vielmehr: im Namen der Wahrheit und Wiederherstellung der Geschlechtergrenzen entblößt werden muss.38 Doch was heißt

37 Kemp (wie Anm. 6), S. 167. 38 Edith Feistner: Der Körper als Fluchtpunkt: Identifikationsprobleme in geistlichen Texten des Mittelalters, in: Manlîchiu wîp, wîpliche man. Hg. Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren. Berlin 1999, S. 131-142; Ursula Peters: Gender Trouble in der mittelalterlichen Literatur? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Geschichten. In: ebenda, S. 284-304 und Brigitte Spreitzer: Geschlecht als Maskerade. Weiblicher Transvestismus im Mittelalter. In: durch aubenteuer muess man wagen vil. Hg. Wernfried Hofmeister und Bernd Steinbauer. Innsbruck 1997 haben den sakralen und profanen Erzählungen von als Mann verkleideten Frauen, die insbesondere in der französischen mittelalterlichen Literatur recht verbreitetet sind, Untersuchungen gewidmet. Zwar erkennen sie den Reiz der Erzählungen an, Geschlechtergrenzen in Frage zu stellen, aber letzlich bestä61

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es, diese Evidenz nicht nur sprachlich, sondern bildlich zu vermitteln, ohne Anstandsgrenzen zu verletzen und die Betrachter der Tafel zu neugierigen Voyeuren zu degradieren? Und geht es hier wirklich um eine Evidenz des Körpers, wie die Entblößungsszene zumindest vordergründig zu behaupten scheint? Der Körper, genauer: der Oberkörper Eugenias wird nur in Übergangsstadien, als Täufling, Zwitterwesen und Seele, halb verdeckt von Gesten und Stoffen zu sehen; in der Tauf- und Enthüllungsszene sind ihre Brüste nur andeutungsweise sichtbar. Anders als in anderen zeitgenössischen Darstellungen von Märtyrerinnen39, wird auf der Eugenientafel nicht der im Martyrium erotisierte, Blicken und Berührungen ausgelieferte Körper thematisiert. Eugenias Gewänder sind dazu da, an und abgelegt zu werden, nicht in erster Linie, um nackte ‚Tatsachen‘ sichtbar zu machen, sondern Eugenias wahres Selbst. Sie können Eugenias mannhafte Seele sichtbar machen, also paradoxerweise etwas enthüllen, was der Betrachter zunächst erst in Gestalt der Verhüllung wahrnehmen kann. Der Körper darunter verspricht eine Wahrheit, in deren Namen Eugenia sich entblößt, aber diese Wahrheit des Körpers ist nur eine vorläufige. Sie bestätigt zwar einen weiblichen Körper, kann aber nicht das Wissen um Eugenias mannhafte Seele vergessen machen, mit der die Legende endet. Eugenias tiefere Wahrheit also findet sich sowohl auf der Gewandoberfläche der Verkleidung als auch unter der nackten Haut, in ihrer Seele. Der vermeintlich Kern der Geschichte, der weibliche Körper, entpuppt sich in dieser Sichtweise nur als ein ‚Dazwischen‘, ist Träger von Gewändern wie Seelenbehältnis, ist ein Element, das die Spannung in der Geschichte aufrecht erhält. Ver- und Enthüllung bildet das Leitmotiv einer Entwicklungsgeschichte, die den Körper und seine Gewänder gleichermaßen als Durchgangspassagen definiert; einzige ‚feste‘ Größe bildet die erst am Ende sichtbare und schon in Entrückung befindliche Seele Eugenias. Seit den 1980er Jahren belegen literaturgeschichtliche und kunsthistorische Studien ein kaum stillbares Interesse an den Körpern der Heiligen, besonders am Eros des entblößten und verletzlichen Märtyrerkörpers.40 Am Eugenienfrontale lässt sich aber zeigen, dass Körpergeschichten häufig genug auch Gewandgeschichten sind und es sich lohnt, über das Zusammenspiel fleischlicher und stofflicher Hüllen nachzudenken. tigen sich an ihren Ausnahmeheroinen die Regel biologisch und sozial festgeschriebener Geschlechtergrenzen. 39 Auf einem Frontale- oder Altarfragment aus der Pfarrkirche Santa Llúcia de Mur (um 1275-1300, Museo de Arte de Catalunya, Barcelona) wird Lucia von ihren sie fesselnden Peinigern förmlich umgarnt. Die Stricke heben die Brüste unter dem Gewand deutlich hervor. 40 Tammen (wie Anm. 22 und 23). 62

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Auf dem Frontale wird dieses Spiel ins Extrem getrieben und steht im Dienste einer vielschichtigen, das Betrachterauge aktiv verstrickenden Erzählung über Schein und Sein. Die Fragen nach dem äußeren Schein, den Leistungen und Schwächen des Sehsinns und nach dem je nach literarischer Gattung und Publikum unterschiedlich bis widersprüchlich aufgefassten Verhältnis zwischen homo exterior und homo interior41, die von Theologen und Dichtern diskutiert wurden, stellen einen Bildungshorizont dar, der den Konzeptoren des Frontales recht wahrscheinlich bewusst war und auf den sie sich in ihrer Weise bezogen. Trotz meiner Annahme eines solchen der Theologie, Literatur und der bildenden Kunst gemeinsamen Horizonts – erinnert sei auch noch einmal an ein Denken und Arbeiten mit Strukturen wie der Typologie – sei abschließend die Differenz zwischen gemalter und schriftlicher Legende betont.42 Diese ja ganz grundsätzliche Differenz zwischen Ikonizität und Textualität lässt es angeraten sein, das topische Wort von der ‚Lesbarkeit‘ des Bildes ein für alle mal zu verabschieden. Mit der Auswahl von acht Szenen bietet die Tafel ein Substrat der schriftlichen Legende dar. Erst bei näherer Betrachtung zeigt sich die kompositorische Vielschichtigkeit des Bildsystems, denken wir an die raffinierte Überblendung von Eugenia und Melancia, eine Vielschichtigkeit, die in direktem Zusammenhang mit ihrem Inhalt steht. Anders als die Heiligenlegenden in der Legenda aurea, die dem Leser und Zuhörer durch Prologe, Autorenkommentare und Monologe der Helden eine deutliche ‚Moral von der Geschicht‘ an die Hand geben, entfaltet die gemalte Eugenienlegende ihre Dramatik und Argumentation über eine Struktur, die in der Bildfläche organisiert ist, und das Betrachterauge zu einer komplexen, mehrfachen Wanderung über die Tafel hinweg und einer aktiven Sinnproduktion im visuellen Nachvollzug der Ver- und Entwicklung der Legende anhält.

41 Vgl. die breite Diskussion der monastischen und höfischen Positionen bei Rüdiger Schnell: Wer sieht das Unsichtbare? Homo exterior und homo interior in monastischer und laikalen Erziehungsschriften. In: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter. Hg. Katharina Philipowski und Anne Prior. Berlin 2006, S. 83-112. 42 „Je sensibler systematische und narrative Elemente aufeinander reagieren, desto schwächer wird die Steuerung durch das große Vorbild des Textes. Das Phänomen der Textferne hat in der mittelalterlichen Kunst vielfache Belege und Formen. Wir beobachten Synkopierungen von Text und Bild, starke Raffungen im Kontrast zur gemächlichen Ausarbeitung anderer Passagen, Umstellungen von Episoden, Einblendungen nicht zugehöriger Teilsequenzen und natürlich eigenwillige Behandlungen der Vorlage in vielen Einzelszenen.“ Kemp (wie Anm. 6), S. 120. 63

SILKE TAMMEN

Abbildung 1: Frontale (ganz)

Abbildung 2: Eugenias Aufbruch

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Abbildung 3: Eugenias Taufe

Abbildung 4: Eugenia heilt Melancia 65

SILKE TAMMEN

Abbildung 5: Eugenia denudata

Abbildung 6: Eugenias Verhör 66

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Abbildung 7: Eugenia im Tiber

Abbildung 8: Eugenia im Ofen / Gefängnis

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SILKE TAMMEN

Abbildung 9: Eugenias Tod

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INTERMEDIALE UND INTERKULTURELLE PROZESSE IN DER VERONESER VERKÜNDIGUNG DES GIOVANNI MARIA FALCONETTO (1468-1535) RITA UNFER LUKOSCHIK

Vor wenigen Jahren brachten Restaurierungsarbeiten in der an die große Kathedrale S. Anastasia angrenzenden Kirche San Giorgetto dei Domenicani in Verona ein Fresko des italienischen Malers und Architekten Giovanni Maria Falconetto wieder zum Vorschein, das Jahrhunderte lang in der seit 1807 entweihten und als Schulgebäude genutzten Kirche zuerst übermalt, dann nur dürftig restauriert worden war. Die Darstellung schmückt die ganze Lünette an der östlichen Wand der Kirche und ist dank des bürgerschaftlichen Engagements der Lega Ambiente wieder in vollem Glanz zu bewundern. Das Fresko ist unter vielen Gesichtspunkten äußerst bemerkenswert. Es bildet nicht nur eine beeindruckende intermediale Leistung, indem es Wort und Bild aufs engste miteinander verknüpft, sondern legt Zeugnis eines beachtlichen deutsch-italienischen Kulturtransfers ab. In diesem Wandgemälde leistete der Maler eine ‚Umschreibung‘ der inhaltlichen Aussage der tradierten Vorlage durch die Verwendung einer neuen Bildersprache und transponierte somit das von deutschen Auftraggebern bestimmte Vorbild aus der Geisteswelt deutscher spätmittelalterlicher Mystik in das entsakralisierte kulturelle Zeichensystem der italienischen Frührenaissance.

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1. Der Maler Giovanni Maria Falconetto (Falconeto), genannt Rosso di San Zeno,1 wurde in Verona um 1468 als Spross einer angesehenen Malerdynastie geboren. Nach einer Ausbildung bei seinem Vater, dem Maler Jacopo Falconetto, begab er sich ein erstes Mal auf Studienreise nach Rom, wo er laut Vasari 12 Jahre verbrachte und sich intensiv mit dem Studium der Antike befasste.2 Wie Vasari berichtet, gab es kein einziges Zeugnis antiker Architektur und Kunst von Rom bis Neapel, das Falconetto in seinen akkuraten Zeichnungen unter Anwendung der neu aufkommenden Proportionslehren zeichnerisch nicht festgehalten hätte. Vasari unterstreicht darüber hinaus die Bedeutung von Falconettos Zeichnungen ‚nach der Natur‘, indem er erinnert, dass der Veroneser nicht nur als erster diese Ruinen gezeichnet habe, sondern dass auch die ersten Drucke dieser Antiken auf der Grundlage von Falconettos Zeichnungen verfertigt werden konnten: „Falconetto […] fu il primo che disegnasse teatri ed anfiteatri e trovasse le piante loro; e quelli che si veggono, e massimamente quel di Verona, vennero da lui, e furono fatti stampare da altri sopra i suoi disegni“.3 Nach seiner Rückkehr nach Verona musste sich Falconetto allerdings wegen der prekären politischen Situation und des damit verbundenen Mangels an Aufträgen nicht, wie er es gewünscht hätte, auf dem Gebiet der Architektur betätigen, sondern als Maler bescheiden. Dabei bemühte er sich doch, dem Geist der römischen Antike auch in diesem Medium 1

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Giorgio Vasari: Vite de’ piú eccellenti architetti, pittori et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri. Edizione giuntina 1568, hier zitiert nach der Ausgabe Opere di Giorgio Vasari Pittore e architetto. Bd. IX. Firenze 1853, S. 202-209. Über Falconetto informieren ferner der Eintrag von E. M. Guzzo im Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 44, 1994, S. 348355 mit weiterführender Literatur, Giuseppe Gerola in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Ulrich Thieme. Bd. 11, 1915, S. 223 f., ad vocem und: Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 36. München 2003, S. 363-366, ad vocem. Guzzo bestreitet einen so langen Aufenthalt Falconettos in Rom, bestätigt jedoch seine genaue, autoptische Kenntnis der Antiquitäten Roms, wo er sich aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst zwischen 1491 und 1497 aufhielt und wohin er sich im Laufe seines Lebens wiederholt begab, um seine Kenntnisse aufzufrischen. Vasari: Vite, S. 206: „Falconetto […] fu il primo che disegnasse teatri ed anfiteatri e trovasse le piante loro; e quelli che si veggono, e massimamente quel di Verona, vennero da lui, e furono fatti stampare da altri sopra i suoi disegni.“ 70

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treu zu bleiben und führte in seine Heimatstadt die modischen Vorlieben aus Mittelitalien ein, indem er als erster Grotesken4 und antike Ruinen in seinen Bildern malte.5 Als die Truppen von Kaiser Maximilian 1509 die Stadt besetzten, die dort bis 1517 blieben, nahm ihn der neue Herrscher offiziell in den Dienst und betraute ihn u. a. mit der Aufgabe, die kaiserlichen Wappen auf den öffentlichen Gebäuden der Stadt zu malen. Vasari führt dies auf Falconettos künstlerisches Können, auf sein beherztes Wesen und seine Fertigkeiten im Kriegshandwerk zurück: „si per lo suo ben servire nelle cose dell’arte, e si perchè era uomo di molto cuore, terribile e bravo con l’arme in mano“6. Sicherlich hat dabei eine große Rolle gespielt, dass die Handschrift dieses Malers aus dem im übrigen Venetien dominierenden Malstil hervorstach, da sie als fremd empfundene Elemente enthielt, denn man spürt darin die Lektion des Toskaner Pinturicchios (1454-1513), und es ist eine Hinwendung zur deutscher Malerei nicht zu leugnen, die für die italienische Bildkunst dieser Zeit sehr ungewöhnlich war und vielleicht nur noch bei Liberale da Verona (1441-1526) vorkam. Wahrscheinlich war dies der Grund, weshalb Falconetto in diesen Jahren darüber hinaus den Auftrag erhielt, für zwei deutsche Kaiserliche Räte, ein Fresko zu malen, das laut Vasari einige Themen aus der Heiligen Schrift, „alcune cose della Scrittura“7, behandelte. Es ist damit das um 1514 gemalte große Fresko in der kleinen Dominikanerkirche S. Giorgetto gemeint, auf dem er die beiden Stifter, Hans VI. Weineck (BAYNEC) (gest. 1516) und Kaspar II. Künigl (CHYNIGEL) (1481-1541), kniend und in ganzer Körpergröße jeweils in der linken und in der rechten unteren Bildecke des Gemäldes darstellte.8

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Z. B. 1497 in der Kirche SS. Nazaro e Celso. Über Falconettos Vorliebe für Zitate aus der antiken Architektur in seinen Bildern und die wiederholte Verwendung derselben antiken Kulissen in mehreren Werken s. Gunter Schweikhart: Il Quattrocento: formule decorative e approcci al linguaggio classico. In: L’Architettura a Verona nell’età della Serenissima (sec. XV-sec. XVIII). Hg. Pierpaolo Brugnoli und Arturo Sandrini. Verona 1987, Bd. I, passim, und ders.: Giovanni Maria Falconetto, ebd., Bd. II, 1988, S. 147-155. Vasari: Vite, S. 204. Vasari: Vite, S. 203. Vasari: Vite, S. 203 f.: „Per certi signori tedeschi, consiglieri di Massimiliano imperatore, lavorò a fresco in una facciata della chiesa piccola di S. Giorgio alcune cose della Scrittura, e vi ritrasse quei due signori tedeschi, grandi quanto il naturale, uno da una, l’altro dall’altra parte, ginocchioni.“ 71

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Nachdem die Serenissima 1517 die Stadt wieder eingenommen hatte, verließ der mit der kaiserlichen Regierung kompromittierte Falconetto Verona und zog zuerst nach Trient, damals kaiserliches Gebiet, dann nach Mantua, wo er nach 1517 die berühmten Fresken in der Sala dello Zodiaco des Palazzo d’Arco in Mantua malte, und schließlich, nach 1521, nach Padua. In dieser Stadt lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 1535 und verließ sie nur für kurze Studienaufenthalte in Rom, Wien und besonders in Pola d’Istria, wo er die römischen Gebäude dieser Stadt (das Theater, das Amphitheater und den Triumphbogen) studierte und zeichnete. In Padua, wo er weiterhin in Humanistenkreisen verkehrt, betätigte er sich hauptsächlich als Architekt und schuf hier unter der Protektion von Alvise Cornaro (1464-1566) Logen, Stadttore, Triumphbögen, Stadt- und Landvillen, darunter bedeutende Gebäude wie die berühmte Loggia Cornaro (1524), wo viele theatralische Werke Ruzantes uraufgeführt wurden, die Loggia della Gran Guardia, die Porta San Giovanni (1528) und die Porta Savonarola (1530). Nach Vasari sei Falconetto der erste gewesen, der ‚echte‘ Architektur – was hier Architektur in römischem Geschmack bedeutet – nach Venetien brachte: „fu il primo […] che portasse il vero modo di fabricare e la buona architettura in Verona, Vinezia et in tutte quelle parti“9, was ihn zum Vorbild für berühmte venezianische Renaissancearchitekten wie Michele Sanmicheli (14841559) und Jacopo Sansovino (1486-1570) machte. Es ist in der Tat Falconettos Verdienst, Kunstwerke und Architekturwerke der römischen Antike in Absetzung von Modi der venezianischen Frührenaissance in Norditalien bekannt gemacht und die neue Auffassung des perspektivischen Sehens besonders in Verona eingeführt zu haben. Dies wird in seinem Fresko für die Kirche San Giorgetto am eindrucksvollsten belegt.

2. Das Fresko von San Giorgetto dei Domenicani San Giorgetto, um 1300 errichtet und ab 1424 in San Pietro Martire umbenannt, war schon von Anbeginn eine dem marianischen Kult gewidmete ‚deutsche‘ Kirche, denn „Brandenburgische Ritter“ hatten sie um die Mitte des 14. Jahrhunderts als Bestattungsstätte gewählt und reich beschmücken lassen. An ihren Wänden hatten sich diese Ritter – höchstwahrscheinlich waren damit Ritter des Deutschen Ordens gemeint10 – 9 Vasari: Vite, S. 207. 10 Diese Hypothese, der ich mich anschließe, wird überzeugend in der Dokumentationsbroschüre vorgetragen, die von der Lega Ambiente unter der Leitung von Carlo Furlan herausgegeben wurde und in der Kirche käuflich zu erwerben ist. 72

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durch das Bemalen ihrer Familienwappen verewigen lassen.11 Auch in der Folgezeit hatten sich Deutsche in dieser Kirche bestatten und malen lassen, und man findet eine ganze Reihe von bis weit ins 15. Jahrhunderts hinein datierten Fresken, die in der Kirche begrabene ‚Brandenburgische Ritter‘ darstellen, wie sie in voller Rüstung von diversen Heiligen Maria vorgestellt werden.12 Auch Falconetto hat sich in diese Tradition eingereiht, als er um 1514 in der Lünette das Fresko malte, das ihm von zwei deutschen Kommittenten zu Ehren Mariens aufgetragen worden war. Er hat sogar die Tradition der bemalten deutschen Wappen wieder aufleben lassen, indem er die zahlreichen Schilder, die den alttestamentarischen Davidsturm im Hortus Conclusus schmücken, auf seinem Bild als bunte Wappenschilder deutscher Herkunft gestaltete.13 Das Bild, als dessen Sujet Vasari „alcune cose della Scrittura“14 angibt, ist eine sakrale Einhornjagd, die sich vorzugsweise im 15. Jahrhundert besonders im deutschsprachigen Raum – zeitgleich z. B. in der Deutschordenkirche in Friesach – belegen lässt und die einem streng durchdachten ikonographischen Programm verpflichtet ist. Das im übrigen Europa wohlbekannte Motiv stellt aber in Italien etwas Einzigartiges dar und ist auf genauste Vorgaben der deutschen Auftraggeber zurückzuführen, denen sich Falconetto in einem bewundernswerten Balanceakt zwischen alttradierter handwerklicher Treue und neu aufkommendem künstlerischen Selbstbewusstsein fügt.

11 Es handelte sich dabei um Krieger aus dem Tiroler Hof Ludwigs V. Wittelsbach, Graf von Tirol und Markgraf von Brandenburg, die 1354 dem Skaliger Herrscher Cangrande II. zur Hilfe gekommen waren, als dieser sich gegen seinen Halbbruder Fregnano della Scala hatte behaupten müssen. S. hierzu Giuseppe Gerola: I cavalieri tedeschi e i loro ritratti e stemmi dei secoli XVI-XVI affrescati in San Giorgetto di Verona. Madonna Verona VI (1912), S. 198-209. Zu San Giorgetto und der Verkündigung Falconettos s. auch Pio Visentini: Il Poema di Maria in un affresco del Falconetto. Vita Veronese. Jh. 6, H. 3 (1953), S. 78-81. 12 Eine gute Dokumentation über die Fresken der Kirche und speziell über Falconettos Verkündigung findet sich in der von der Lega Ambiente herausgegebenen und in der Kirche käuflich erwerbbaren Broschüre, die z. T. auch im Netz einzusehen ist (www.legambienmteverona.it). 13 Siehe hier besonders Gerola: I cavalieri tedeschi. 14 Vasari: Vite, S. 203. 73

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3. Die mystische Einhornjagd Das Bildmotiv, das den Dominikanern besonders teuer war und in die Kunstgeschichte als Mystische Einhornjagd eingegangen ist, hat eine lange Vorgeschichte, bis es im 15. Jahrhundert zur gestalterischen Reife kommt. Es bildet sich aus der Verbindung verschiedener Themenkreise allmählich heraus: der Jungfrau mit dem Einhorn als erotisch unterlegtem Symbol der Keuschheit und Jungfräulichkeit, der profanen Jagd nach dem Einhorn und der in Darstellungen einer profanen Jagd natürlich vorkommenden Jagdhunde. Diese Bilderkomplexe werden der sakralen Thematik zugeführt, indem sie mit der Verkündigung an Maria verschmelzen. Hier wird Gabriel zum Jäger und ist in dieser Funktion von (meist) vier Hunden begleitet, die in diesem Kontext geistig auf die Grundweisheiten Gottes bezogen sind: Wahrheit, Friede, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit – veritas, justitia, pax, misericordia, nach Ps. 84 (85), 11 f. Als Ort der sakralen Jagd wird der verschlossene Garten des Hohelieds mit der ihm eigenen ikonographischen Sprache gewählt, in dem die typologisch auf Maria als die himmlische Braut umgedeutete Geliebte sitzt. Oft rundet die Darstellung von Gottvater, dem Christuskind und der den Heiligen Geist symbolisierenden Taube das Bild ab. Diese Umdeutung der profanen Jagd im Zeichen deutscher spätmittelalterlicher Mystik wird durch eine Fülle ikonographischer Elemente aus der mariologischen Symbolik verstärkt und intensiviert, die das ganze Bild durchwirken und es zu einer „bildgewordenen Marienlitanei“15 werden lassen.

15 Otto Demus: Die spätgotischen Altäre Kärntens. Klagenfurt 1991, S. 111.

Zur Mystischen Einhornjagd als Thema von Malerei und Dichtung, s. immer noch Helmut Graff: Die Darstellungen der sakralen Einhornjagd in der altdeutschen Kunst. Münster, Phil. Diss Masch. 1923 und Leopold Kretzenbacher: Mystische Einhornjagd. Deutsche und slawische Bild- und Wortzeugnisse zu einem geistlichen Sinnbild-Gefüge. München 1978 sowie Heimo Reinitzer: Der verschlossene Garten. Der Garten Marias im Mittelalter. Wolfenbüttel 1982; Gregor Martin Lechner: Die mystische EinhornJagd als Allegorie der Verkündigung. In: Jagd einst und jetzt. Ausstellungskatalog Schloss Marchegg 29. April bis 15. November 1978. Wien 1978, S. 27-41. 74

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Sie alle besingen in vielen miteinander konkurrierenden und sich gegenseitig stützenden Bildsegmenten das Marienlob16 und schaffen ein gesamtes, fest gefügtes Bilderrepertorium zur größtmöglichen Veranschaulichung der Unverletzlichkeit der Jungfrauschaft Mariens bei der Menschwerdung Christi. Eine gemeinsame Sprache entsteht somit durch die enzyklopädische Anhäufung „funktions- und aussageverwandter Attribute“17, die Mariens immerwährende Jungfräulichkeit – in der Casta Paritura, der jungfräulichen Mutterschaft, und in der Parthogenese, ihrer jungfräulichen Geburt – sowie ihre Gottesmutterschaft beweisen und verherrlichen soll. Natur- und Kulturerscheinungen – Werke der Architektur, eine Stadt als Sinnbild der auf die mariologisch umgedeuteten Civitas dei, Pflanzen, Tiere und kosmische Bilder – werden als allegorische Zeichen einer spirituellen Wirklichkeit beansprucht, die hinter der Realität liegt, und Maria wird u. a. als Hortus Conclusus, Fons Signatus, Turris Davidica, Turris Eburnea, Domus aurea, Foederis arca, Janua Coeli, Stella Matutina gepriesen. Auf die Gottesgebärerin und ihre Tugenden deuten ferner weitere Sinnbilder hin wie die Sonne, die Bärin, der Pelikan, der Löwe, die Manna. Sie alle werden von den vier wichtigsten typologischen Szenen aus dem Alten Testament begleitet und in ihrer Aussage bestärkt, die sich ebenfalls auf die immerwährende Jungfräulichkeit der Gottesmutter beziehen: der Vlies Gideons, der vom herab fallenden Tau nicht nass gemacht wird, der Brennende Dornbusch, der brennt und dennoch nicht verbrennt, der Stab Aarons, dessen trockenes Holz über Nacht wundersamerweise blüht, und die Verschlossene Tempelpforte Hesekiels, durch die Gott hindurch geht ohne sie zu öffnen. Um den bildlichen Aussagen mehr Nachdruck zu verleihen, deuten Beischriften auf geschwungenen Spruchbändern, die meist Zitate aus der Bibel enthalten, die einzelnen Bildelemente, auf die sie sich direkt beziehen, im heilsgeschichtlichen Sinne aus. Die in der Mystischen Einhornjagd vorkommenden Sinnbilder speisen sich aus Bibel und Tradition so wie aus zeitgenössischen Texten der erbaulichen und exegetischen Literatur und sind auch in zeitgenössischen 16 Zur mariologischen Symbolik im Allgemeinen s. Anselm Salzer: Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie. Darmstadt 1967. Reprogr. Nachdr. der Erstausgabe 1886-94; Heinrich und Margarethe Schmidt: Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst. Ein Führer zum Verständnis der Tier-, Engel und Mariensymbolik. München ²1982 und Julia Liebrich: Die Verkündigung an Maria. Die Ikonographie der italienischen Darstellungen von den Anfängen bis 1500. Köln 1997. 17 Reinitzer: Der verschlossene Garten, S. 39. 75

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Werken der Literatur zu finden, die ebenfalls aus denselben Quellen schöpfen. Auf Latein und in der Volkssprache verfasst, kommen diese Darstellungen in Hymnen, Sequenzen, Litaneien, Stundengebetbüchern auch für den Gebrauch der Laienfrömmigkeit, in Marienliedern wie dem Melker Marienlied und dem Rheinischen Marienlob, in geistlichen Liedern für Kirche, Wallfahrt und Prozessionen sowie in frommen Volksgesängen, Gesangsbüchern und Flugblättern vor, und reifen zu Sprachkunstwerken heran wie – im deutschen Sprachraum – Konrad von Würzburgs Goldene Schmiede und Walter von der Vogelweides Marienleich. Die Wort- und Bildkunst gemeinsamen Quellen, die zur sinnfälligen Darstellung von Mariens Reinheit und unversehrter Jungfrauschaft bemüht werden, sind in erster Linie auf die Heilige Schrift zurückzuführen.18 Eine große Rolle spielt auch der Bericht über die auf Christus bezogene Einhornjagd aus dem Physiologus, dem im 2. Jahrhundert griechisch verfassten frühchristlichen Kompendium der Tiersymbolik, das von mittelalterlichen Bestiarien und Tierbüchern übernommen und mit eigenen Zutaten ausgeschmückt wird. Das ikonographische Programm speist sich zudem aus Quellen, die als eine Art Handbücher zur christlichen Ars inveniendi dienen und die topologische Bilderreservoire für mariologisch grundierte Darstellungen liefern. Es sind Litaneien, die Jahrhunderte lang einen besonders wichtigen Platz in der Volksfrömmigkeit hatten, bis sie 1587 in der Lauretanischen Litanei gesammelt und kanonisiert wurden. Ferner offeriert der um 1324 entstandene Speculum humanae salvationis, als dessen Autor der Dominikaner Ludolf von Sachsen gilt, zahlreiche Bilder sowohl aus dem Alten Testament als auch aus der Profangeschichte und der mystischen Naturgeschichte, was den Heilsspiegel – neben den Biblia Pauperum und der Concordantia Caritatis – zu einem der drei wichtigsten typologischen Bücher des späten Mittelalters macht. Als Hauptquelle für die Homiletik und für die Darstellungen der Mystischen Einhornjagd in der bildenden Kunst und Literatur gilt schließlich das Defensorium inviolatae virginitatis Beatae Mariae des Dominikaners und Professors der Theologie Franz von Retz (13431424). Darin wird die gottgewirkte Empfängnis Jesu und die Parthogenese Mariens anhand wundertätiger Ereignisse aus der Naturkunde, Geschichte und Mythologie unter Berufung auf die Kirchenlehrer bekräftigt. Das Defensorium bildet zudem die wichtigste Quelle der Symbolik in der

18 Im Folgenden nehme ich hauptsächlich Bezug auf die Studien von Graff: Die Darstellungen der sakralen Einhornjagd, Kretzenbacher: Mystische Einhornjagd und Salzer: Die Sinnbilder und Beiworte Mariens. 76

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Mystischen Einhornjagd, weil es auch traditionell christologische Sinnbilder marianisch umdeutet.19 Die durch viele ‚realistische‘ Elemente aus der Natur und der Kultur der Menschen besonders anschaulich gestaltete sakrale Einhornjagd ist also in Wirklichkeit aus seriellen Attributen zusammengesetzt, die der Bibel und der religiösen Tradition entnommen sind und vom Auftraggeber nach ihrer Aussagekraft im Hinblick auf eine bessere Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens gewählt wurden. Die in dieser komplexen Verkündigungsdarstellung vorkommenden Figuren und Gegenstände haben „die Realität weit hinter sich gelassen“20 und zielen allein auf das Begreifbar-Machen göttlicher Wunder und auf die Veranschaulichung der hinter den Dingen dieser Welt verborgenen unwandelbaren göttlichen Wahrheiten. Die Darstellung der Fülle von noch so realistisch wiedergegebenen Objekten und noch so menschlich anmutenden Gestalten bedeutet keineswegs ein liebevolles Verweilen des Malers bei einzigartigen und einmaligen Erscheinungen, sondern das Sinnfällig-Machen von das Menschliche transzendierenden Wahrheiten nach dem rhetorischen Prinzip der accumulatio, der häufenden Amplifikation ohne semantischen Zuwachs. Das Thema der Mystischen Einhornjagd wird im 15. Jahrhundert in Europa in zahlreichen Medien bekannt: auf Bildteppichen, Wand- und Glasmalereien, auf Gefäßen und Plaketten, in Handschriften und auf Bucheinbänden, als Glockenreliefs und auf Altären – als geschnitzte Altartafeln, Flügelbilder und hölzerne Schutzschreine –, in Zeichnungen, Kupferstichen und Holzschnitten. Ihre geographische Verbreitung umfasst das nördliche Europa und erstreckt sich bis nach Böhmen und Schlesien.21 Im heutigen Deutschland ist dieser Bildtypus vielerorts belegt: z. B. in Weimar, Schleißheim, Rostock, Erfurt, Nürnberg und Lü-

19 Siehe hierzu Ewald Vetter: Mariologische Tafelbilder des 15. Jahrhunderts und das Defensorium des Franz von Retz. Phil. Diss. Heidelberg 1954, Masch. und ders.: Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 1. 1968, Sp. 499-503. 20 Reinitzer: Der verschlossene Garten, S. 39. 21 Neben Graff s. ferner für die nach 1460 datierte Mystische Einhornjagd in der Prager Nationalgalerie, Jaroslav Pešina: Tafelmalerei der Spätgotik und der Renaissance in Böhmen 1450-1550. Deutsch v. E. Winkler. Prag 1958, S. 67, Abb. 21; sowie Will-Erich Peuckert: Schwarzer Adler unterm Silbermond: Biographie der Landschaft Schlesien. Hamburg 1940, S. 131 und Günther Grundmann, Wulf Schadendorf, Konrad Hahm: Schlesien. München 1962, S. 111. 77

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beck22, in Österreich – besonders in Kärnten –, wo die um 1510 auf einem Flügelaltarbild gemalte Mystische Einhornjagd in der Wallfahrtskirche „Zu unseren lieben Frau an der Gail“ in Villach (Abb. 1) und das um 1515 gemalte Flügelaltarbild in der Deutschordenkirche in Friesach die größte Affinität zum Fresko Falconettos (Abb. 2-4) aufweist23, in der Schweiz24, in Frankreich25 und, östlich von Kärnten, in Slowenien in der St. Andreä-Kirche von Krasce bei Moravce, östlich von Laibach / Ljubljana und in der ehemaligen Abteikirche von Cilli / Celje26. Die Bildersprache der Mystischen Einhornjagd wird zwar auch in Italien in Wort und Bild verstanden und gesprochen, denn auch hier, besonders in dominikanischem Kontext, kennt man die Schriften, aus denen der Themenkomplex seine Sinnbilder schöpft, und man kann unschwer einzelne Bildsegmente besonders in Sequenzen und Litaneien der Volksfrömmigkeit nachweisen. Die bildliche Umsetzung ist dennoch eine Ausnahme und eigentlich nur in zu dieser Zeit zum imperialem Territorium gehörenden Ortschaften im südöstlichen alpinen Gebiet nachgewiesen, z. B. in Fiera di Primiero im Trientiner Gebiet und in Südtirol – u. a. in der Schlosskapelle von Aufenstein bei Matrei (Navis), im Kreuzzug des Bozener Dominikanerklosters, im Brixner Dom, im Kloster Neustift (Abazia di Novacella) im Brixner Raum und in Bruneck. Auf italienischem Gebiet ist das Fresko Falconettos also eine Neuigkeit. Es bedeutet aber durch die besondere Ausgestaltung des Themas auch für das eher starre Zeichensystem der Mystischen Einhornjagd eine interessante Neuerung, denn sie bringt eine durchaus originelle und eigenständige Schöpfung hervor, die unverkennbares Zeichen einer wichtigen geschmacklichen Veränderung ist. Das Wandgemälde birgt auf den ersten Blick nichts Überraschendes und scheint fleißig das Programm einer Mystischen Einhornjagd nach

22 Neben den schon zitierten Werken zur Mystischen Einhornjagd s. auch Max Hasse: Die Marienkirche zu Lübeck. München 1983. 23 Siehe hierzu besonders Demus: Die spätgotischen Altäre Kärntens, 106114 und Uta Henning: Zur Mystischen Einhornjagd in Friesach. „Gut Jäger durchs Himmels Thron“. Carinthia. Zeitschrift für geschichtliche Landeskunde von Kärnten 189, 1 (1999), S. 177-200. 24 Robert L. Wyss: Vier Hortus-Conclusus-Darstellungen im Schweizerischen Landesmuseum. Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 20 (1960), S. 113-124. 25 U. a. im Altarbild in Colmar. S. ferner Erika Tietze-Conrat: Der französische Kupferstich der Renaissance: Fünfzig Bildtafeln in Lichtdruck. München 1925. 26 Demus: Die spätgotischen Altäre Kärntens, S. 111 und Kretzenbacher: Mystische Einhornjagd, S. 39-47. 78

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den Wünschen der deutschen Auftraggeber umgesetzt zu haben, indem alttestamentarische Präfigurationen und säkulare Beispiele aus der Geschichte des Altertums das Thema von Mariens Tugenden und der Fleischwerdung Gottes umspielen. Doch ist die Geisteshaltung des Malers schon eine andere, und sie lässt sich in vielen Einzelheiten des Bildes aufspüren, die sich nur scheinbar streng an die ikonographische Tradition dieses Bildtypus halten. Das Fresko, das von einem breiten antikisierenden Rahmen umschlossen ist, der die Unterschrift des Maler (opu(s) (F)alcone(ti)) trägt, und in der darunter angebrachten Epigraphe die Namen der Kommittenten und das Datum des Freskos angibt, ist kompositorisch in vier Felder aufgeteilt. Sie gehören einem einzigen Bildraum – einer Landschaft unter freiem Himmel – an und, in dem sich alle drei Maria umkreisenden Bereiche ausschließlich auf die Jungfrau in ihrer Mitte beziehen, sind sie erzählerisch stringent miteinander verbunden. Auf höchster Bildhöhe erscheint, in strahlendem Licht, Gottvater als Halbfigur (Inschrift am Scheitelbogen: Vade Fili mi Ait Rex) von Engelköpfchen umgeben, die mitten aus Rüschenwolken schauen. Er entsendet Lichtstrahlen zum Haupt Mariens, auf denen das nimbierte Christkind, ein lateinisches Kreuz auf der Schulter tragend, und die den Heiligen Geist symbolisierende Taube zu ihr hernieder schweben. Rechts von Gott ist ein siebenzackiger Stern abgebildet, der durch die Inschrift als Stella Iacob (Num. 24, 17) ausgedeutet wird und auf Maria als die anbrechende, heilbringende Morgenröte hindeutet, aus der die Sonne Christus hervortritt.27 In dem etwas exzentrisch gegenüber der Bildmitte platzierten mittleren Themenbereich (Abb. 4) sind die nimbierte Maria und das Einhorn in einem grasbedeckten Garten dargestellt, der von einer mit Rechteckzinnen bewehrten und von 5 Toren und Türmen durchbrochenen Mauer wehrhaft umschlossen ist, auf der die Inschrift Ortus [sic] Conclusus steht. Es ist der verschlossene Garten aus dem alttestamentarischen Hohelied Salomos (HL 4, 12), der typologisch als Sinnbild für Mariens Unberührtheit gilt, und dessen feste Mauern als Schutz für Maria vor feindlichen Angriffen und vor der Sünde gedeutet werden. Der verschlossene Zugang zum Hortus Conclusus wird durch die Goldene Pforte (Inschrift: Porta Aurea) markiert, ist auf Maria bezogen, indem auf die Begegnung an der goldenen Pforte zwischen Joachim und Anna und somit auf die unbefleckte Empfängnis Mariens angespielt wird. In der linken Mitte der Mauer befindet sich eine verschlossene 27 Liebrich: Die Verkündigung, S. 55 f., mit Bezug auf Salzer: Die Sinnbilder, S. 35 f. 79

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Pforte, die als architektonisch recht aufwendig gestaltete und sehr realistisch gezeichnete Konstruktion im Stil von Stadttoren der Renaissance gemalt ist. Die Inschrift Porta Clausa (Hes. 44, 1-2) deutet sie aus als die Pforte, durch die nur Gott ein- und ausgehen kann, und bezieht sich so auf die wunderbare Empfängnis Mariens. Ihr spiegelbildlich ist auf der rechten Seite der Mauer ein ähnliches und ebenfalls sehr aufwendig gebautes Stadttor dargestellt, das aber offen ist und den Blick in die Landschaft außerhalb des Hortus Conclusus gewährt. Laut Inschrift ist hier die Porta Ezechielis (Hes. 44, 1-2) dargestellt, die aber eigentlich ebenfalls verschlossen sein sollte und gerne im Zusammenhang mit der Porta Clausa dargestellt wird, damit die darin enthaltene Aussage in der bildlichen Geminatio vereindringlicht wird. Die offene Porta Ezechielis ist das einzige Versehen, das sich Falconetto hat in der Umsetzung des ikonographischen Programms zuschulden kommen lassen, denn es handelt sich unverkennbar um die durchaus in die Bildlogik der Mystischen Einhornjagd passende Janua Coeli der marianischen Litaneien, das Himmelstor, dem Maria gleicht, durch die der Sünder in den Himmel gelangen kann. Zwischen den beiden Pforten ragt im hinteren Bereich der Mauer der Elfenbeinturm des Hohelieds (Inschrift: Turris eburnea) (HL 7, 5) empor, der auf Mariens Festigkeit im Glauben hinzielt.28 Ihm ist die Turris davidica (Inschrift: Vulgo scudi le clipei) (HL 4, 4) zur Seite gestellt: Die Tausend Schilder, mit denen dieser Turm behangen ist und die Mariens Wehrhaftigkeit durch ihre Tugenden bedeuten, sind von Falconetto als bunte ‚deutsche‘ Wappen wiedergegeben. In der Mitte des Hortus Conclusus sitzt Maria, die Virgo Intacta, in einen weiten blauen Mantel gehüllt, der faltenreich das darunter liegende rosarote Gewand fast gänzlich überdeckt. Sie trägt ihr langes, blondes, fließendes Haar offen, das von einer goldenen Krone, Zeichen der Himmelskönigin, geschmückt ist. Während sie ihre Augen nach rechts zu dem geflügelten und nimbierten Engel Gabriel wendet, der außerhalb der Gartenmauer kniet, hat Maria ihre rechte Hand auf eines der angewinkelten Vorderbeine des weißen Einhorns gelegt, die auf ihrem rechten Oberschenkel ruhen. Das Tier, das auf seinen Hinterfüssen steht, zeigt eindringlich mit seinem Horn auf das offene Buch, das Maria in ihrer Linken hält. Diese Darstellung bringt sinnfällig das Wunder der Menschwerdung Christi zum Ausdruck, indem die Gewalt Gottes, die durch das Einhorn als wildes Tier versinnbildlicht ist, durch die Keuschheit und Reinheit Mariens gebunden und überwunden wird. Die Haltung des Einhorns, das halb auf dem Schoß der Jungfrau ruht, deutet darauf, dass Ma28 Zur Interpretation der Turris Eburnea als Tabernakel s. Kretzenbacher: Mystische Einhornjagd, S. 25 f. 80

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ria Christus in ihren Schoß aufnimmt. Das Buch, auf das das Einhorn zeigt, spielt auf die im Buch der Bücher stehende Weissagung Jesajas an (ecce virgo concipit, Jes. 7, 14), die im Neuen Bund erfüllt wird, während die Tatsache, dass das Buch aufgeschlagen ist, auf die Empfängnis und also auf die Eröffnung des Heilsplans hindeutet.29 Der Hortus Conclusus enthält ferner zahlreiche symbolträchtige Gegenstände und Tiere, die nach dem Defensorium inviolatae virginitatis Beatae Mariae des Franz von Retz durchgängig auf Mariens Reinheit, ihre Jungfrauengeburt und immerwährende Jungfrauschaft sowie auf ihre Gottesmutterschaft hinweisen. Rechts von Maria sind dargestellt: die im Defensorium vorkommende Bärin, die durch Lecken ihre neugeborenen Jungen formt (Inschrift: Ursa fetum ore figurat), wie Christus durch Maria seinen irdischen Leib erhält. Oberhalb der Bärin sieht man den verschlossenen Brunnen des Hohelieds (Inschrift: Fons Signatus) (HL 4, 4), der nur Gott offen steht und von einem Pelikan gekrönt ist, der sich, laut Physiologus, gerade die Brust aufreißt, um mit seinem Blut seine Jungen zum Leben zu erwecken. Durch das Defensorium erfährt auch dieses christologische Symbol eine Umdeutung und wird auf Maria bezogen, die Christus mit ihrem Blut nährt. Ferner erblickt man oberhalb des Brunnens die Bundeslade (Inschrift: Archa D[ivi]ni), die das Heiligtum des Alten Bundes trug, wie Maria, Vas spirituale, in sich das Gotteskind und somit das Heil des Neuen Bundes birgt. Das rechts schräg vor Maria stehende Gefäß stellt den goldenen Krug, die urna aurea habens manna der Bibel (Hebr. 9, 4) dar, der Mannabrote, gewöhnlich in der Form von Hostien, in sich birgt, so wie Maria in ihrem Leib Fleisch und Blut Christi hält, die der irrenden Menschheit das Heil bringen. In schöner Symmetrie – einem von Falconetto durchgängig in seiner Verkündigung angewandten kompositorischen Prinzip – findet sich links von Maria, spiegelbildlich zur Bärin die im Physiologus und Defensorium vorkommende Sträußin abgebildet, die ihre Eier durch ihren Blick ausbrütet (Inschrift: Si[c] Strutio ova ex cubare valet), ein weiters Sinnbild für die Gottesmutterschaft, während spiegelbildlich zur Bundeslade der Altar steht, auf dem unter den elf kahlen Stecken die Virga Aaron, der blühende Stab Arons (Hebr. 9, 4) zu sehen ist, der durch das Wunder vom ergrünenden dürren Zweig als Sinnzeichen von Mariens Erwählung durch Gott steht. Die mariologische Aussage wird durch die Tatsache bestärkt, dass der Stab weiße Lilien trägt, die Blume, die par excellence Mariens Reinheit symbolisiert.

29 Siehe hierzu besonders Liebrich: Die Verkündigung, S. 50 f., mit Bezug auf Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Düsseldorf und Köln 1971, S. 59. 81

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Auf der rechten und linken Bildseite extra muros sind die oben bereits erwähnten vier typologischen Szenen aus dem Alten Testament wiedergegeben, die traditionell auf die Jungfrauengeburt und Jungfrauschaft Mariens hinweisen. Auf der rechten Bildseite (Abb. 2), hinter der Porta Ezechielis, erblickt man den Brennenden Dornbusch (2 Mos., 3, 1-6) als Wald dargestellt, aus dem der halbfigürliche Gott auf Moses hernieder schaut und ihm befiehlt (Inschrift: Moises, Moises, noli accedere (2 Mos., 3, 5), sich ihm mit bloßen Füssen zu nähern, während darunter Moses dargestellt wird, wie er sich in Ehrfurcht gerade die Schuhe auszieht (Inschrift: Vadam et videbo visionem hanc magnam, 2 Mos., 3, 3). Diese Szene wird von Gregor von Nyssa typologisch als eine Variatio des Themas der immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens gedeutet, denn „wie dort vom Gebüsch das Feuer umfasst wurde und das Gebüsch doch nicht verbrannte, so wurde hier von der Jungfrau das Licht geboren, ohne Verlust der Jungfräulichkeit“.30 Unter Moses kniet der geharnischte Gideon – als Römer in einer mit Liebe zum Detail aufwendig gezeichneten Prunkrüstung – vor dem Vellus Gedeonis (Inschrift: Descendit sicut pluvia in vellus, Richter 6, 37), der als Sinnzeichen für Mariens jungfräuliche Befruchtung steht. Hinter ihm ist die erste gepanzerte kniende Stifterfigur dargestellt. Auf der linken Bildseite extra muros (Abb. 3) steht im Bildvordergrund der barfüssige Erzengel Gabriel, der das Einhorn, Symbol der castitas,31 in den Schoß Mariens jagt. Mit seiner linken Hand führt der geistliche Jäger ein Hifthorn zum Mund, aus dem – wie die darüber liegende Inschrift erklärt (Ave Gratia Plena Dominus tecu(m)) (Luk., 1, 28) – die Musik ertönt, der Flatus Voci, der sich in die Worte des englischen Grußes verwandelt. Mit der Rechten hält Gabriel einen Jagdspeer und die Leinen umschlossen, die zu den vier vor ihm abgebildeten Hunden führen. Es sind ein weißer und ein hellbrauner Jagdhund, letzter erhält durch die Inschrift Pax seinen geistigen Bezug als Sinnbild des Friedens, während ersterer zwar keine erläuternde Schrift aufweist, jedoch die traditionelle Verkörperung der veritas, der Wahrheit, in der Mystischen Einhornjagd darstellen sollte, einer der vier Grundweisheiten Gottes (Psalm 85, 8-14), die traditionell durch diese Hunde im Sinngefüge der Mystischen Einhornjagd veranschaulicht werden. Die beiden anderen Hunde – zwei Molosse, ebenfalls jeweils weiß und hellbraun, die gerade den Boden beschnuppern – werden durch die Inschriften als Iustitia, Gerechtig30 Alfons Heilmann und Heinrich Kraft (Hg.): Texte der Kirchenväter. Eine Auswahl, nach Themen geordnet. Bd. II. München 1963, S. 174. 31 Zum Einhorn und seiner Symbolik im christlichen Kontext s. Jürgen Werinhard Einhorn: Spiritalis unicornis. Das Einhorn in Literatur und Kunst des Mittelalters. 2., aktualisierte u. erw. Aufl.. München 1998. 82

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keit, und Miserico(rdia), Friedfertigkeit ausgedeutet. Oberhalb der ihre Blicke fest auf Maria richtenden Hunde erscheinen eine Löwin und ein Löwe, die ihren Jungen durch ihr Brüllen zum Leben erwecken (Inschrift: Leo valet rugitu i(n)cubare), Sinnbild Mariens, durch die Jesus sein Leben empfangen hat. Hinter den Flügeln Gabriels und oberhalb der zweiten gepanzerten knienden Stifterfigur erblickt man friedlich weidende Hirsche, während ein Ziegenbock auf einem darüber liegenden Felsenvorsprung ruht. Zusammen mit den Schafen, die im Bildsegment des Brennenden Dornbuschs ebenfalls friedlich weiden, beschwören diese symbolträchtigen Tiere32 ein Bild paradiesischer Zustände herauf. Im linken Bildhintergrund erblickt man ferner einige Gebäude, die üblicherweise die himmlische Stadt Jerusalem andeuten und als Sinnzeichen der mariologisch gedeuteten Civitas dei gilt. Die Natur ist eher sparsam dargestellt: Falconetto verzichtet auf den bei der Mystischen Einhornjagd oft vorkommenden Blumenteppich im Hortus Conclusus, der aus einer großen Vielzahl allegorisch zu deutender Blumen besteht. Es werden nur einige Pflanzen, Sträucher und Bäume abgebildet, die zwar einen geistigen Bezug zur traditionellen marianischen Flora haben, wie der Ölbaum und die Palme, hier aber in Verbindung mit den grün bewachsenen Hügeln und den kahlen Felsen im Hintergrund eher den Eindruck einer ‚natürlichen‘, realen Landschaft erzeugen. Dieser Eindruck wird entschieden durch die architektonischen Elemente verstärkt, die im ganzen Bild zu sehen sind und auf den ersten Blick mit dem überkommenen Kompositionsprogramm dieses Bildtypus kompatibel scheinen, wo Türme, Tore, Tempel, Stadtsilhouetten, Mauern zum Bildbestanteil gehören. Im Kontext spätmittelalterlicher deutscher Mystik haben diese Bauten jedoch eine dienende Rolle, indem sie in der kognitiven Karte des Gläubigen Orte besonderer mariologischer Bedeutsamkeit markieren. Bei Falconetto erhalten diese Elemente eine eigenständige Rolle und zeugen vom zeitgenössischen Bemühen italienischer Künstler, Maler und Architekten der Renaissance, „alte römische und griechische Bauten, die größtenteils nur als Ruinen erhalten waren oder von denen man über-

32 Hirsche weisen meistens auf die Seelen der Menschen, die im Glauben erquickt werden, während der in der christlichen Kunst meist negativ besetzte Ziegenbock nach der Deutung des Physiologus sowohl Gottes Allmacht als auch Christus bedeuten kann, der sich an den Worten von Propheten und Patriarchen erfreut als auch an den Werken der Frommen weidet, s. hierzu Philipp M. Halm: Zur marianischen Symbolik des späten Mittelalters. Zeitschrift für Christliche Kunst, XVII, H. 7 (1904), S. 207-219: 212. 83

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haupt nur Beschreibungen kannte, möglichst vollständig zu rekonstruieren und anschaulich abzubilden.“33

4. Die neue Sprache des Raums Diese architektonischen Gebilde sind mit großer Genauigkeit ‚nach der Natur‘ gezeichnet, d. h. nach in der Realität vorkommenden Vorbildern einer von dieser Zeit erträumten idealen Antike, deren Wiederaufblühen den Anbruch einer Zeit einläutet, in der eine neue Auffassung von Raum und Natur zum Ausdruck kommt. Falconettos Werk spricht also gerade durch die architektonisch-antiquarischen Details, die er in die überkommene Komposition einschleust, eine gegenüber seiner Vorlage ganz andere Sprache des Raums,34 deren Syntax nicht mehr (nur) religiös konnotiert ist. Schon die Beischriften, welche mit erläuternden Worten die bildliche Botschaft bekräftigen sollen, werden nicht mehr auf geschwungenen Spruchbändern in gotischer Frakturschrift angebracht. Falconetto wählt hierfür die Capitalis Monumentalis-Schrift, die ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. für Inschriften auf römischen Denkmälern, wie z. B. auf der TrajanSäule, verwendet wurde und in Humanistenkreisen so beliebt war, dass daraus die Antiqua-Schrift entwickelt wurde. Wenn es anders nicht möglich war, brachte Falconetto die ausdeutenden Zitate direkt auf dem Bildhintergrund an, aber in der Regel ‚meißelte‘ er sie in die ‚Requisiten‘ der Mystischen Einhornjagd ein, die – im Gegensatz zur üblichen Darstellungsart – weitestgehend römischen Kunstwerken aus Marmor oder Pietra d’Istria nachempfunden sind. Die Bundeslade, der Schrein auf dem der Aronsstab blüht, der Brunnen, der Mannaeimer, die Tore und Türme im Hortus Conclusus sowie die Ruinenlandschaft hinter dem verkündenden Engel haben somit einen Wirklichkeitsbezug, der diesem Bildtypus zuvor völlig fremd war. Die Bundeslade ist einem antiken Sarkophag nachempfunden, und das Wunder des blühenden Aronsstabs ist nicht, wie im Sinngefüge der sakralen Einhornjagd geläufig, als Kasten mit zwei Tragestangen dargestellt, welche die zweifache Liebe Mariens gegen Gott und gegen die Menschen 33 Christoph Jobst: Das Vorbild der antiken Baukunst für die Baupraxis im 15. und 16. Jahrhunderts. In: Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo. Hg. von Bernd Evers. Ausstellungskatalog Berlin, 7. Oktober 1995 – 7. Januar 1996. München, New York 1995, S. 50-55: 50. 34 Vgl. Edward T. Hall: Die Sprache des Raums. Düsseldorf 1976 (The Hidden Dimension, 1966, dt.). 84

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versinnbildlichen, sondern als antike steinerne bzw. marmorne Ara. Der oft aus Holz oder aus Flechtwerk dargestellte Mannaeimer hat die Form eines antiken auf Löwenfüßen stehenden Gefäßes aus Gold und ist mit Akanthusblättern und Dekorationen im Groteske-Geschmack verziert, die Falconetto, wie bereits erwähnt, als erster in Verona einführte. Eine antike Urne schmückt ferner den Fons signatus, der darüber hinaus aufwendige Marmorinkrustationen im antikisierenden Stil, Grotesken und heidnische ornamentale Motive nach der zeitgenössischen römischen Mode aufweist. Im Hortus Conclusus hat sich der Veroneser Maler mit einer ausgeprägten Vorliebe für Architekturwerke der römischen Antike bei der Darstellung der Porta Clausa und der ihr gegenüber abgebildeten offenen Porta Ezechielis eingebracht. Perspektivisch dargestellt, sind sie mit Statuen, Halbsäulen und korinthischen Kapitellen gestaltet und antiken eintorigen Triumphbögen bzw. Porten nachempfunden. Sie finden in Vorzeichnungen, die Falconetto von antiken Denkmälern u. a. in Rom, Pola d’Istria und Verona verfertigte,35 und darüber hinaus in anderen Bildern dieses Malers ihre Entsprechung, z. B. in einzelnen Fresken seines den zwölf Monaten gewidmeten Zyklus im Palazzo D’Arco in Mantua.36 Diese antiken Zitate werden zudem ihre architektonische Realisierung erleben, denn der sich in späteren Jahren hauptsächlich als Architekt betätigende Maler wird ihnen z. B. in seiner Porta del Giardino Benvenuti in Este, nahe Padua, konkrete Gestalt geben.37 Es sind dies nicht die einzigen antik-antiquarischen Zugaben in Falconettos Fresko. Auch dem die beiden Türme verbindenden Teil der Hortus-Conclusus-Mauer verleiht der Maler klassisches Ansehen, indem er ihn die antikisierende Formensprache lehrt, die er in dem unteren Teil der in späteren Jahren von ihm realisierten Porta San Giovanni in Padua anwenden wird. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Darstellung architektonischer Bauten, die im linken oberen Bildhintergrund zu sehen sind. Es sind Versatzstücke imaginärer aber auch realer antiker Gebäude, die Falconetto im Umriss der Stadt auf einem Hügel einsetzt, um das zur überkommenen Bildkomposition der Mystischen Einhornjagd gehörende himmlische Jerusalem wiederzugeben, das auf die im mariologischen Sinn gedeutete Civitas Dei bezogen wird. Falco-

35 Vgl. Tilmann Buddensieg, Gunter Schweikhart: Falconetto als Zeichner. Zeitschrift für Kunstgeschichte, XXX, H. 1 (1970), S. 21-40. 36 Hierzu immer noch Tilmann Buddensieg: Die Ziege Amalthea von Riccio und Falconetto. Jahrbuch der Berliner Museen. Bd. V (1963), S. 121-150. 37 Siehe Giuseppe Fiocco: Le Architetture di Giovanni Maria Falconetto. Dedalo. Rassegna d’arte. Jg. 9, Bd. V (1930/31), S. 1203-1241: 1231. 85

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netto macht aus der Civitas dei eine Città ideale,38 indem er in dieser Darstellung auf konkrete Beispiele der römischen Antike zurückgreift, die ihm aus eigener Anschauung wohlbekannt waren und die er als erster in genauen Zeichnungen festgehalten hatte. Man erblickt also unter den am Bildhorizont aneinander gereihten Bauten nicht nur Häuser und Türme im Renaissancegeschmack, sondern auch einen runden Tempelturm, welcher der Torre degli Schiavi in Rom nachempfunden ist,39 sowie die unverwechselbare Ruine eines antiken Amphitheaters (Abb. 5), das mit dem Kolosseum bzw. der Arena in Verona identifizierbar ist, was nicht nur für die Kunstlandschaft in Verona ein Novum darstellte, denn Vasari unterstreicht, dass Falconetto als erster Ruinen antiker Bauwerke und insbesondere Amphitheater in die Landschaft gemalt hat. Den in diesen Bildern mit wissenschaftlichem Blick dargestellten antiken Baudenkmälern fällt eine präzise Funktion zu: Sie soll architektonische Realität vortäuschen und die Inhalte der sakralen Bilder in die Sprache des Humanismus übertragen. Die Anwendung der Prinzipien des perspektivischen Sehens in der Wiedergabe der beiden Tore des Hortus Conclusus bewirkt eine Erweiterung der umgebenden Realität auf den Betrachter hin und die Öffnung des Bildraums zum Tiefenraum.40 Die zweidimensionale, flache, auf die Widergabe geistiger Inhalte allein zielende Darstellung der Mystischen Einhornjagd erhält dadurch eine dreidimensionale, auf die Wiedergabe der genau beobachteten und erfassten Realität hinzielende Dimension. Der Bildraum hört auf, ein Seelenraum zu sein und wird egozentrisch: Die Linearperspektive ist mit wenigen gezielten Griffen gegen die Illusion schaffende Tiefenperspektive vertauscht worden. Der Betrachter soll nunmehr das Bild nicht weiter als Einleitung zur Andacht, als Aufforderung zur – im Falle der Mystischen Einhornjagd – Imitatio Mariens begreifen und sich ihm in meditativer Absicht nähern, indem er sich bemüht, die dort vorkommenden verschlüsselten Sinnbilder mit dem letzten Ziel zu entziffern, sich vom konkreten Bild abzuwenden und innere Einkehr zu halten. Nach den Intentionen des den perspektivischen Blick einsetzenden Malers soll vielmehr die dargebotene, nach den neuen Lehren verfertigte Abbildung den Be38 Vgl. besonders die Città Ideale, die in der Walters Arts Galery von Baltimore aufbewahrt ist, wo ein Triumphbogen, umgeben von erfundenen antiken Gebäuden, in der Mitte des Bildes aufragt und für das gewünschte antikisierende Ambiente sorgt. 39 Buddensieg: Die Ziege Amalthea, S. 144, bezüglich der Abbildung eines identischen Gebäudes in dem Fresko Falconettos im Palazzo d’Arco in Mantua, das dem Monat November gewidmet ist. 40 Andres Lepik: Das Architekturmodell der frühen Renaissance. Die Erfindung eines Mediums. In: Architekturmodelle der Renaissance, S. 10-20:17. 86

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trachter dazu auffordern, sie als Wahrnehmungsform zu akzeptieren, indem er sich auf die geschaffene Raumillusion einlässt und sich – wie es die Kunst in der Nachahmung der Antike forderte – ‚täuschen‘ lässt. Die durch die Aufgabe der Linearperspektive zugunsten der Dreidimensionalität erzeugte Illusion von Integrität und Einheitlich soll letztlich die heraufbeschworene Wirklichkeit mit der Realität „in einer mathematisch ‚korrekten‘ Ordnung verknüpfen“.41 Die in Bildern des Mittelalters angestrebte immaterielle und konzeptuelle Ordnung wird somit zugunsten einer ‚visuellen Ordnung‘ der Dinge aufgegeben, die so sind, wie sie das Auge wahrnimmt: Das Bild hört auf, eine ‚Vision des inneren Auges‘ zu sein, um dem wissenschaftlich erfassten ‚physikalischen Raum‘ den Vortritt zu lassen.42 Mit seiner perspektivischen Wiedergabe von real existierenden antiken Bauten zielt Falconetto mit seinem Bild in summa nicht mehr auf die christliche Seele, sondern schließt in sein Bild – im Einklang mit dem sich wandelnden Zeitgeist – den ‚körperlichen Standpunkt‘43 des Betrachters mit ein und schafft somit einen weitgehend entsakralisierten egozentrischen Ort, der durch kulturelle Marker verräumlicht wird. Durch diese Akzentverschiebungen schafft Falconetto ein Kunstwerk, das nicht mehr die Sprache des mystisch verbrämten deutschen Spätmittelalters spricht, sondern ein Werk, dem eine Sprache eigen ist, die vom intensiven Bemühen um „Annäherung und Angleichung an die Antike, aber auch [um] Umwandlung antiker Bauformen“ zeugt44 und deren Koordinaten im kulturellen Sinngefüge der italienischen Renaissance zu suchen sind. Trotz der viel versprechenden Prämissen löste Falconettos Verkündigung keine weiteren Entwicklungen in Italien aus und bleibt dort weiterhin einmalig. Viele Faktoren spielten dabei eine Rolle. Nach dem Abzug der Kaiserlichen Truppen und der Rückkehr Veronas in den Machtbereich Venedigs im Jahre 1517 verließ der Künstler die Stadt und kam zuerst nach Mantua, wo er sich mit profaner, von alchemistischem Gedankengut infizierter Malerei befasste, und später nach Padua, wo er sich hauptsächlich als Architekt einen Namen machte. Nach dem Weggang der kaiserlichen Truppen und der Machtübernahme durch die Serenissima hörte zudem auch die Tradition auf, dass Deutsche sich in San Giorgetto begraben und malerisch verewigen ließen, was Auswirkungen auf 41 Lepik: Das Architekturmodell der frühen Renaissance, S. 10-20: 17. 42 Siehe hierzu Margaret Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet. Aus dem Englischen von Ilse Strasmann. Zürich 2000, bes. S. 87, 117 und 121. 43 Wertheim: Die Himmelstür, S. 121. 44 Jobst: Das Vorbild der antiken Baukunst, S. 50-55: 50. 87

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die Form und Inhalte der lokalen Malern im Auftrag gegeben Kunstwerke hatte. Der Bildtradition der Mystischen Einhornjagd gereichte schließlich nicht zum Vorteil, dass sich das Tridentiner Konzil (1545-1563) aufgrund einer gewissen, ihr anhaftenden erotischen Komponente gegen sie aussprach. Dieser Umstand spielt sicherlich eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn weiterhin dieser Bildtypus im Deutschen und besonders im Südostalpenraum bis ins 18. Jahrhundert hinein anzutreffen ist,45 auf italienischem Gebiet sich jedoch keine weiteren Darstellungen dieser komplexen Form der Verkündigung mehr belegen lassen. Umso bedeutender nimmt sich deshalb Falconettos Umsetzung der deutschen Mystischen Einhornjagd, die im 15. Jahrhundert ihre Ausprägung erfuhr, in der italienische Kunstlandschaft der Renaissance zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus. Im Spannungsfeld der Kulturen und Kulturkonstrukte wurde Falconettos Verkündigung zu einem interkulturellen Experimentierfeld von besonderem Reiz, denn darin traten das Eigene und das Fremde in eine dialektische Beziehung, in einen konstruktiven Dialog miteinander und brachten Einmaliges hervor.

45 Siehe hierzu Kretzenbacher: Mystische Einhornjagd, S. 35-38. 88

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Abbildung 1: Maria Gail Villach Flügelgemälde

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Abbildung 2: G.M. Falconetto: Fresco in San Giorgetto, rechte Bildseite © Rita Unfer Lukoschik 2005

Abbildung 3: G.M. Falconetto: Fresco in San Giorgetto, linke Bildseite © Rita Unfer Lukoschik 2005

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Abbildung 4: G.M. Falconetto: Fresco in San Giorgetto, zentral, größer © Rita Unfer Lukoschik 2005

Abbildung 5: Amphitheater © Rita Unfer Lukoschik 2005

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DICHTEN BEI GELEGENHEIT. KASUALDICHTUNGEN ALS MEDIEN DES KULTURAUSTAUSCHS LINDA SIMONIS

1. Kasuales Liebesdichten als Modellierung von Kontingenz. Jean Lemaire de Belges: Épître d’un amant vert Lässt sich für Kommunikation im allgemeinen beobachten, dass sie auf ‚Medien‘, auf technische, materielle oder formbezogene Mittel, angewiesen ist, so gilt dies umso mehr für solche Äußerungsweisen, die über den Bereich einer einzelnen Sprache, Kultur oder eines Staates hinausgehen. Zwar ist es im Grunde nichts Ungewöhnliches, dass kommunikative Vollzüge politische Grenzen und kulturelle Differenzen überschreiten; gleichwohl haben sich seit der frühen Neuzeit und vor allem seit dem 18. Jahrhundert spezifische ‚Medien‘ herausgebildet, die solche nationenbzw. kulturübergreifenden Prozesse begünstigen und verstärken. Zu jenen Medien gehören etwa die seit der Aufklärungszeit aufkommenden überregionalen Zeitschriften, die zum Teil ein betont inter- oder transnationales Profil annehmen, wie z.B. die von Grimm, Raynal und Diderot herausgegebene Correspondance littéraire (1747-1793) und der zunächst von Antoine Suard und François Arnaud, dann von Antoine François Prévost betreute, in Paris erscheinende Journal étranger (1754-1764).1 Auch die im Untergrund zirkulierenden Texte der ‚clandestinen‘ Literatur streben ihrer Ausrichtung nach eine Verbreitung an, die politische Grenzen überschreitet bzw. unterwandert.2 Es liegt nahe zu vermuten, dass sich nationen- und kulturübergreifende Äußerungen im allgemeinen dort bündeln und verdichten, wo sich solche Transitionen begünstigende Medien ausbilden. Den damit angedeuteten Zusammenhang von transnationalem Kulturaustausch und einer spezifischen Art von Medialität möchte ich in der Folge am Beispiel eines Genres beleuchten, das auf 1 2

Vgl. Jean Sgard: Journaux et Journalisme. In: Dictionnaire européen des Lumières, publié sous la direction de Michel Delon. Paris 1997, S.628-631. Vgl. Michel Benitez: La face cachée des Lumières. Recherches sur les manuscrits philosophiques clandestins de l’Age classique. Oxford, Paris 1996. 93

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den ersten Blick als ein wenig wahrscheinlicher Kandidat erscheint, als Vehikel der hier anvisierten Übergangs- und Übertragungsvorgänge zu dienen: Gemeint ist das Genre der Kasuallyrik, der Gelegenheitsdichtung, die vor allem in der Frühen Neuzeit eine beliebte, in verschiedenen europäischen Literaturen verbreitete Form des poetischen Sprechens und Schreibens darstellte. Die damit angesprochenen Gattungen der Gelegenheitsdichtung fungieren dabei nicht nur, soviel sei vorgreifend bemerkt, im genannten Sinne als literarische Medien; sie haben überdies auch eine intermediale Dimension. Zur Spezifik des kasualen Schreibens gehört es, auf ein bestimmtes okkasionales Ereignis oder eine entsprechende, alltägliche oder zufallsbedingte Situation Bezug zu nehmen. Durch diese ihm innewohnende Verweisstruktur strebt das kasuale Dichten eine Verknüpfung an, die zwei unterschiedliche Medien aufeinander bezieht und punktuell zusammenführt: das Medium der literarischen bzw. poetischen Rede und das Medium einer zufallsbedingten Ereignishaftigkeit, d.h. das Medium Kontingenz. Dichten bei Gelegenheit kann somit buchstäblich als ein Inter-Medium aufgefasst werden, nämlich als ein kommunikatives Mittel, das zwei unterschiedliche Medien zueinander in Relation setzt: die Literatur als Ensemble literarischer Darstellungsweisen einerseits und die Kontingenz als lockere Folge zufälliger Ereignisse andererseits. Diese beiden Medien sucht das kasuale Schreiben in einem momenthaften Konnex miteinander zu verbinden. Wenn im Vorangehenden von ‚Medium‘ bzw. ‚Medien‘ die Rede war, so ist dabei ein allgemeiner, abstrakterer Medienbegriff vorausgesetzt, in dem Sinne, wie ihn Fritz Heider und, an dessen Vorschlag anschließend, Niklas Luhmann verwendet haben. Kriterium dieser Auffassung von Medien ist die Unterscheidung von Medium und Form, die sich ihrerseits durch die Grundidee einer Menge von Elementen und die je unterschiedliche Art ihrer Verknüpfung definiert.3 Legt man diese Vorstellung eines Ensembles von basalen Einheiten, von Elementen, zugrunde, so lassen sich grundsätzlich zwei mögliche Fälle ihrer Verknüpfung unterscheiden: lose Kopplung und feste Kopplung. Während ‚Medium‘ nach Heider den Fall lose gekoppelter Elemente bezeichnet, ergeben sich ‚Formen‘ dadurch, dass in solchen losen, möglichkeitsreichen Verbindungen (zeitweilig) bestimmtere Verknüpfungen, d.h. feste Kopplungen gebildet werden.4 Das für das Medium konstitutive Merkmal der losen Kopplung ist dabei vor allem als ein noch offenes, noch nicht limitiertes Repertoire an Möglichkeiten zu verstehen, als „Offenheit einer Vielzahl 3

4

Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 167-169. Vgl. auch Fritz Heider: Ding und Medium. Symposion 1 (1926), S. 109-157. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 168-171. 94

DICHTEN BEI GELEGENHEIT

möglicher Verbindungen“,5 wohingegen die feste Kopplung der Form für eine spezifische Selektion steht, die aus einer Mehrzahl von Möglichkeiten eine bestimmte herausgreift und somit, zumindest für den Moment, definit ist. Inwiefern die hier vorgeschlagene Unterscheidung von Medium und Form(en) für ein genaueres Verständnis des kasualen Genres nützlich sein kann, möchte ich in den folgenden Ausführungen an einigen Beispielen aus dem Bereich der frühneuzeitlichen Gelegenheitslyrik näher erläutern. Dabei wird auch zu erörtern sein, ob und auf welche Weise der spezifische Verknüpfungsmodus, den das gelegenheitshafte Schreiben ins Werk setzt, zugleich dazu disponiert ist, einen Effekt des kulturellen Übergangs oder Transfers hervorzubringen. Im Frühjahr 1505 ereignet sich auf dem Schloss Pont d’Ain im Herzogtum Savoyen ein Unfall: ein kleiner grüner Papagei, Lieblingstier der zu jenem Zeitpunkt abwesenden Hausherrin Margarete von Österreich, wird von einem Hund gefressen. Diesen unglücklichen Vorfall nimmt Margaretes Hofdichter, Jean Lemaire, zum Anlass, ein Gedicht zu verfassen. Unter dem Titel Épître d’un amant vert6 lässt er den Papagei gleichsam als Sprecher d’outre-tombe auftreten und die Rolle eines um die Gunst seiner Herrin werbenden Liebenden annehmen, der aus Kummer über ihre lange Abwesenheit den Freitod gewählt hat. Betrachtet man die Formulierungen und Motive, in denen das fiktive Ich des Rollengedichts diese Konstellation hervorruft, ist leicht ersichtlich, dass die Épître auf Konventionen der höfischen Liebesdichtung, des Minnesangs und der Troubadourlyrik, zurückgreift: Der Sprechende klagt über die Ferne und Unerreichbarkeit einer Dame, der er in selbstloser Verehrung dient und die er als unübertroffene Schönheit und Inbegriff der Perfektion bewundert.7 Unterdessen schließt das Gedicht an die genannte Tradition nicht nur an, sondern wandelt sie in einigen markanten Hinsichten auch ab. So bezeichnet schon der fingierte Freitod des amant vert ein der höfischen Minne fremdes Extrem. Darüber hinaus bezieht Lemaire aus dem Umstand der naturgegebenen Unerfüllbarkeit der Liebe eines Vogels zu einer menschlichen Geliebten die Lizenz, der Liebe des Papagei5 6

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Ebd., S. 168. Der Text wird hier nach folgender Ausgabe zitiert: Jean Lemaire de Belges: La premiere Epistre de l’Amant Vert. In: ders.: Les Épîtres de l’Amant Vert, édition critique par Jean Frappier. Genève 1948, hier S. 5-17. Nachweise (Zeilenangaben) finden sich im Folgenden in Anschluss an die zitierte Stelle in Klammern im Text. Vgl. Vers 23-28. Zu der hier abgerufenen höfischen Liebeskonzeption vgl. Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/ M. 1964, S. 115. 95

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en ein sinnliches Moment zu geben, sie spielerisch zu erotisieren: Die Angesprochene, die gleichermaßen als ‚Herrin‘ wie als ‚maitresse‘ erscheint, lässt ihrem grünen Troubadour neben symbolischen Gesten ihrer Gnade auch irdischere Gunstbezeigungen zuteil werden: „Elle me baisois et disois: „Mon amy“ (105). Doch damit nicht genug. Als vermeintlich naives und unschuldiges Haustier hat der grüne Vogel freien Zugang zu den Privatgemächern der Herrin und darf dort Dinge sehen, die den Blicken der übrigen Höflinge entzogen bleiben. So genießt er das Privileg, genauester Kenner ihres vollkommenen Körpers und dessen verborgener Schönheiten zu sein: „Que diray je d’aultres grandz privaultéz/ Par quoy j’ay veu tes parfaictes beautéz/ Et ton gent corpz, plus poly que fine ambre/ Trop plus que nul autre varlet de chambre“ (109-112). Mitunter gerät der intime Hausgenosse sogar in die Rolle des Beobachters des Liebesverkehrs der Dame mit ihrem Ehemann – ein Anblick, der ihm indes wenig Freude bereitet: „Quel autre aussi eut oncq en fantasie/ Plus grand raison d’entrer en jalousie,/ Quand maintes fois, pour mon cueur affoller,/ Tes deux mariz je t’ay vue accoller?/ Car tu scéz bien que un amant gracïeux/ De sa dame est jaloux et soucïeux“ (119-124). An der zuletzt zitierten Stelle klingt ein witzig-ironisches, spielerisches Moment an, das für Lemaires Einsatz insgesamt charakteristisch ist. Er verwendet bzw. zitiert bekannte Formvorlagen wie z.B. die Minnekonvention, jedoch in einer distanzierenden Weise, die zur Kontrafaktur und parodierenden Umschrift neigt. Zu den literarischen Formen, die das Gedicht auf solche Art adaptiert, gehört auch die auf die klassischantike epistula zurückgehende Versepistel, die in der Schule der Rhétoriqueurs eine distinkte, zugleich flexibel handhabbare Gestalt angenommen hat.8 Ein weiteres Element, das Lemaires Text aus dem tradierten Formenrepertoire aufnimmt, ist das Epitaph,9 mit dem das Gedicht schließt: Der Papagei bittet die Herrin, sein Liebesopfer durch einen ritterlichen Grabspruch zu ehren: „Soubz ce tumbel, qui est un dur conclave,/ Git l’Amant Vert et le tresnoble esclave/ Dont le hault cueur, de vraye amour pure yvre/ Ne peut souffrir perdre sa dame, et vivre“ (3778

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Vgl. Jean Frappier: Introduction zu: Jean Lemaire de Belges: Épîtres de l’Amant Vert, S. VII–XLIX. Zur Schule der Rhétoriqueurs siehe auch Marc Fumaroli: L’Age de l’éloquence. Rhétorique et res literaria de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genève 1980. Zur Tradition und Formtypik des Epitaphs vgl. Peter Friedrich: Literalität und Liminalität in der epitaphischen Texttradition. In: Grenzräume der Schrift. Hg. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein. 2008, S. 167-188, sowie Karl Siegfried Guthke: Sprechende Steine. Eine Kulturgeschichte der Grabschrift. Göttingen 2006. 96

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380). Auffallend ist hier wiederum die Doppelheit von Identifikation und Distanz, mit dem das Modell des Grabspruchs eingebracht wird. In der betont archaisierenden Sprache und den typisierten Wendungen bildet das Epigramm10 die Sprache ritterlicher Denkmäler nach – jedoch nicht ohne deren Zitatcharakter hervorzukehren. Im Blick auf das Ende des Gedichts ist noch ein weiterer Umstand bemerkenswert. Das Epitaph, das als inscriptio die poetische Erzählung, das Schicksal des Amant Vert, erläuternd pointiert, bildet noch nicht ganz den Abschluss des Gedichts. Angefügt ist vielmehr, in der Art einer Unterschrift, eine weitere kürzere Zeile: „de peu assez“ (381). In dieser Formel lässt sich die persönliche Devise Jean Lemaires wiedererkennen. Der Wahlspruch bildet so eine Art Unterschrift, eine Signatur, die auf den Autor verweist und ihn gewissermaßen als zweite persona hinter seiner Figur hervortreten lässt. In der Devise tritt damit ein Element in den Text ein, das gewissermaßen einen doppelten Bezug hat: Weist es zunächst zurück auf das vorangehende Gedicht, dem es sich kommentierend und signierend einschreibt und als dessen bündelndes Fazit es erscheint, eröffnet es in seiner Funktion als Unterschrift (des Autors) zugleich eine weitere Referenz, die über die Epistel hinaus auf deren Kontext hindeutet. Auf diese eigentümliche Doppelheit des Bezugnehmens, die für das gelegenheitshafte Schreiben charakteristisch ist, komme ich in der Folge noch zurück. Nun habe ich das Gedicht des grünen Papageien hier nicht um seiner selbst willen angeführt, sondern deshalb, weil es sich um einen Text handelt, in dem sich zur Zeit seiner Entstehung und primären Rezeption im frühen 16. Jahrhundert verschiedene kultur- und nationenübergreifende Linien überschneiden und bündeln. Dieser übergreifende Impuls wird deutlich, wenn man sich die kontextuellen Bezüge des Gedichts vor Augen führt. Da ist zunächst der Verweis auf die Adressatin, Margarete von Österreich, deren Name im Feld der damaligen dynastischen Verflechtungen für eine Mehrzahl politischer und kultureller Bezüge steht. Als Tochter von Kaiser Maximilian I. und Marie de Bourgogne, war Margarete schon als Kind zunächst als zukünftige Braut des späteren französischen Königs Karls VIII. vorgesehen und daher ihrer Sozialisation nach sprachlich und kulturell in Frankreich beheimatet; als der französische König indessen 1493 unvermittelt die Verlobung auflöste, entschied sich Margaretes Familie, sie mit Philibert II. zu vermählen, dessen Herzogtum Savoyen durch seine geographische Position als ‚Tor‘ zu Italien für die

10 Zur Spezifik der epigrammatischen Form, die Lemaire hier adaptiert, vgl. die Beiträge des Bandes: Gerhard Pfohl (Hg.): Das Epigramm. Zur Geschichte einer inschriftlichen und literarischen Gattung. Darmstadt 1969. 97

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Habsburger Heiratsstrategen nicht ohne Reiz war.11 Wichtiger als diese politischen Zusammenhänge ist unterdessen die kulturelle und sprachlich-literarische Mehrschichtigkeit, die sich vor allem in den Savoyer Jahren mit Margarete verbindet. Wie man aus inventarischen Untersuchungen weiß, verfügte sie über eine umfangreiche Privatbibliothek, die neben französischen und lateinischen auch italienische Titel enthielt.12 An ihrem Hof förderte Margarete Dichter verschiedener sprachlicher und kultureller Provenienz, ihr Name erschien in Widmungen französischer, deutschsprachiger und flämischer Texte. Diese Mehrsprachigkeit der Adressatin des Gedichts des Grünen Liebhabers teilt auch dessen Autor. Neben dem Französischen, das er für seine literarischen Arbeiten wählte, sprach Lemaire auch das Flämische und Italienische. Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Papageiengedichts verfasst er die Concorde des deux langues (1511),13 in der er für eine Gleichwertigkeit des Französischen und Italienischen plädiert. Das Gedicht des Amant vert verweist so auf eine Konstellation verdichteter Beziehungen, die ein verstärktes Potential der kulturellen Übertragung in sich birgt. Letzteres wird dann in der Rezeption der Épître manifest. Denn die Liebesklage des Papageien fand nicht nur bei der primären Adressatin Margarete wohlwollende Aufnahme, sie machte überdies in Manuskriptform die Runde an den führenden europäischen Höfen der Zeit, vor allem Frankreichs und des Reichs. Auf besondere Resonanz stieß dabei das Epitaph des Amant vert, das auch unabhängig von der Versepistel rezitiert und als vierstimmiges Lied gesungen wurde.14 Diese auf der Zirkulation des Manuskripts beruhende erste Veröffentlichung und Rezeption, die sich teils als Lektüre, teils als mündliche Kommunikation vollzog, darf wohl als die für den kommunikativen Erfolg des Gedichts zunächst entscheidende gelten, auch wenn Lemaire ihr eine zweite Publikation in Buchform folgen ließ, die zudem eine Fortsetzungsepistel mit weiteren Abenteuern des grünen Vogels in der Unterwelt enthielt.15 Die skizzierte Rezeption wirft Fragen auf. Wie kommt es zu dieser weitreichenden Wirkung, die über die geographischen und sprachlichen Grenzen Savoyens hinausgeht? Jener Erfolg lässt sich wohl nicht allein aus dem Renommee der Margarite d’Autriche noch aus dem witzigen 11 Vgl. Frappier: Introduction, S. VIII–XI. 12 Vgl. Marcel Françon: Albums poétiques de Marguerite d’Autriche. Paris 1934, S. 23-28. 13 Vgl. Marcel Françon: La concorde des deux langages par Jean Lemaire de Belges. Modern Language Notes 64 (1949), S. 280-282. 14 Vgl. Frappier: Introduction, S. xvi. 15 La Seconde Epistre de l’Amant Vert. In: Épîtres de l’Amant Vert, S. 18-37. 98

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Einfall, den Papageien zum Amant Vert zu machen, erklären. Er hat vielmehr, so ist zu vermuten, auch mit der Form des Textes zu tun. Seiner Form nach gehört das genannte Gedicht der Kasualdichtung, d. h. dem gelegenheitsbezogenen Schreiben an. Gelegenheitsdichtung – so ließe sich vorläufig definieren – zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus einem konkreten Anlass hervorgeht und dabei auf eine bestimmte, pragmatische Sprechsituation Bezug nimmt.16 Die möglichen Anlässe des gelegenheitshaften Schreibens sind vielfältig: Hochzeiten, Geburts- und Namenstage, Reisen, berufliche Erfolge und Jubiläen, Todesfälle, Begräbnisse, Kriege, Friedensschlüsse und andere mehr. Meist sind es exponierte Momente des privaten oder öffentlichen Lebens, die den Anstoß des Kasualdichtens bilden.17 Dabei nimmt die Kasuallyrik das Ereignis bzw. den gesellschaftlichen Bezug, von dem sie sich herleitet, nicht einfach als gegebenes Datum auf, sondern stellt diesen Bezug mit ihren eigenen sprachlichen und rhetorischen Mitteln erst her. Zu den Mitteln, mit denen sie dies tut, gehören insbesondere deiktische Ausdrücke, die der raumzeitlichen und personalen Konturierung der Sprechsituation dienen.18 Teil dieser deiktischen Ausrichtung des kasualen Sprechens ist auch der Adressatenbezug,19 der sich oft als eine den Text lenkende Referenz erweist. Zudem handelt es sich bei der Kasualdichtung um eine in hohem Maße stilisierte und typisierte Form des lyrischen Sprechens,20 die, in ihren Motiven wie in der Art ihrer Darstellung, auf ein spezifisches Repertoire von überlieferten Ausdrucksformen zurückgreift.21 Das Dichten bei Gelegenheit, so soll in der Folge dargelegt werden, hat ein spezifisches Potential, das es dazu disponiert, als ein Mittel des kulturellen Austauschs und der nationenübergreifenden Kommunikation 16 Vgl. Wulf Segebrecht: Artikel Gelegenheitsgedicht. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Hg. Klaus Weimar, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller, Berlin, New York 1997, S. 688-691. 17 Vgl. ebd., S. 688. 18 Vgl. Stefanie Stockhorst: Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung, in: Markus Joch und Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 55-71, hier S. 60. 19 Vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 23-25, S. 175-181. 20 Vgl. Stockhorst: Feldforschung, S. 58-59. Dass auch Gelegenheitsdichtung Literatur ist und somit eine Äußerungsform, die nicht in der Alltagsrede aufgeht, bemerkt auch Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‘bei Gelegenheit’. Heidelberg 1988, S. 128-130. 21 Vgl. Segebrecht: Artikel Gelegenheitsgedicht, S. 689. 99

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wirksam zu werden. Diese Überlegung mag zunächst erstaunen, wenn man in der Kasualdichtung eine kleine, eher marginale Form von geringer Reichweite und partikularer Valenz erblickt. Gleichwohl verhält es sich keineswegs so, dass allein die großen Gattungen und Werke – Epos, Drama, Roman – als Gegenstände und Medien literarischer Übertragungs- und Austauschprozesse auftreten. Vielmehr sind es mitunter kleinere, scheinbar beiläufige und randständige literarische Formen, durch die sich grenzüberschreitende Literaturbeziehungen ins Werk setzen. Dabei hat man es freilich nicht selten mit Vermittlungen zu tun, die sich auf etwas anderen Wegen vollziehen als den geläufigen Bahnen der Rezeption großer Werke; handelt es sich doch um Übertragungen, die sich zu einem Teil außerhalb oder am Rande der geläufigen Kanonisierungsprozesse vollziehen. Eine erste, wichtige Voraussetzung dafür, dass das kasuale Dichten für eine solche übergreifende Funktion überhaupt in Betracht kommt, ist dadurch gegeben, dass es sich in der frühen Neuzeit schon als eine wiedererkennbare Schreibform oder besser: ein Ensemble solcher Schreibformen etabliert hat. Die Kasualdichtung gehört bereits zu den verbreiteten Formen der neulateinischen Dichtung.22 Sie ist somit eine pränationale, europäische Schreibform, die aber auch nach der Auflösung der alten Gelehrtenkommunikation als Muster fortwirkt und in den volkssprachlichen Literaturen Nachbildungen findet. Die Gelegenheitsdichtung eröffnet so zwei verschiedene Hinsichten, die für eine komparatistische Untersuchung aufschlussreich sind: Zunächst lassen sich, vom einzelnen Kasualgedicht ausgehend, die Wege der Rezeption verfolgen, in denen – im günstigen Fall – ein die Einzelliteratur transzendierender Impuls greifbar wird. Darüber hinaus stellt sich jedoch die nicht weniger wichtige Frage nach dem Typus des kasualen Schreibens, nach der allgemeineren, zugrunde liegenden Form, die solche Vermittlungen ermöglicht. Im Grunde ist es erst hier, auf der Ebene der Form bzw. des Genres, dass sich die transnationale Disposition der Kasualdichtung in einem genaueren, begrifflichen Sinne erfassen lässt. Von dem vorgestellten Beispiel des Gedichts des Amant Vert ausgehend, gewinnt man einen Eindruck davon, worin, auf der Ebene des Genres, die Spezifik des Kasualdichtens besteht. Ein Grundzug liegt offenbar darin, dass die Gelegenheitsdichtung bekannte Formen aufgreift (z.B. solche der Liebeslyrik, aber auch Epigramm, Ode, Emblematik u.a.). Sie 22 Vgl. Walther Ludwig: Artikel Neulateinische Literatur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Hg. Harald Fricke, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar. Berlin, New York 2000, S.703-707. Vgl. auch Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962, S. 42-51 und S. 115-126. 100

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tut dies jedoch in einer leichteren, spielerischen Weise, die oft eine Abwandlung und Distanzierung, mitunter auch eine ironische Sichtweise mit sich bringt. Zudem neigt das Kasualgedicht dazu, tradierte Elemente auf neue Weise zu kombinieren: es benutzt, mit anderen Worten, das Reservoir überlieferter lyrischer Formen als ein Medium, d.h. als eine Menge lose gekoppelter Elemente, aus der es selektiv Elemente aufgreift und zu neuen Verbindungen zusammenfügt.23 Auf diese Weise erzeugt das kasuale Schreiben im Medium der lyrischen Tradition feste Kopplungen, bildet darin eigene Formen aus. Der Reiz des Gelegenheitsgedichts liegt so nicht zuletzt darin, dass es als Form leicht erkennbar ist, zugleich jedoch ein hohes Maß an Vielseitigkeit und Variation erlaubt. Diese Art des Dichtens erschöpft sich mithin gerade nicht darin, vorgegebene Muster bloß zu wiederholen; sie neigt vielmehr zu Abwandlungen, die zu einer Pluralisierung des kasualen Formenensembles führen.24 Mit dieser von der Medien/ Form- Unterscheidung geleiteten Charakterisierung ist indessen das Spezifische des gelegenheitshaften Sprechens und Schreibens noch nicht mit hinreichender Distinktion erfasst. Denn die Unterscheidung von Medium und Form bezeichnet ja ein allgemeineres Prinzip, das sich im Grunde auch für andere, wenn nicht sogar für sämtliche Gattungen der Literatur geltend machen ließe. Sucht man nach einem spezifischeren Kriterium, das das Besondere des gelegenheitsbezogenen Dichtens markiert, d.h. dasjenige Moment, worin sich die kasuale Rede von anderen literarischen Formen und Schreibweisen unterscheidet, ist es nützlich, ein weiteres Merkmal des kasualen Schreibens in den Blick zu nehmen. Ich meine die für den Kasualtext bestimmende Form des Verweisens und Bezugnehmens, die meist gleich zu Beginn ausgestellt wird, etwa in einer Anlass und Situation benennenden inscriptio oder Überschrift oder auch in Form eines Hinweises auf einen beigefügten Gegenstand, der als emblematische Gabe den Text begleitet, so Johann Christian Günthers „Als er der Phyllis einen Ring mit einem Todten-Kopffe überreichte“.25 Durch diese einleitenden Gesten des Verweisens stellen sich die Texte selbst als Antworten auf etwas dar, sie erwecken den Eindruck, an Zusammenhänge alltagssprachlicher und lebens23 Vgl. die zu Beginn dieses Beitrags eingeführte Unterscheidung von Medium und Form. 24 Zu dieser individualisierenden Tendenz der Kasuallyrik vgl. Rüdiger Zymner: Literarische Individualität. Vorstudien am Beispiel Johann Christian Günthers. In: Johann Christian Günther (1695-1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters, hg. Jens Stüben, München 1997, S. 249-288, hier S. 285. 25 Johann Christian Günther: Werke. Hg. Reiner Bölhoff, Frankfurt am Main 1998, S. 825. 101

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weltlicher Kommunikation anzuknüpfen und in diese eingebettet zu sein. Bei dieser Art der Präsentation rückt etwas in den Vordergrund, das in anderen Redezusammenhängen meist nicht eigens bezeichnet oder herausgestellt wird, nämlich das Moment des kommunikativen Anschließens, des Sich-Zurückbeziehens einer Äußerung auf eine andere. Diese Markierung des Anschlusses, die die Kasualdichtung vornimmt, ist keineswegs trivial. Gerade in diesem Sich-Austellen als kommunikative Rede liegt das eigentümliche Potential des kasualen Textes. Das Kasualgedicht bietet sich durch diese Geste selbst als Vorlage weiterer Rede dar; es lädt dazu ein, dass man es seinerseits als Aufhänger verwendet, um daran weitere Äußerungen anzuknüpfen. Dass das kasuale Schreiben dabei insbesondere auch Äußerungen anregt, die über einzelsprachliche und nationale Grenzen hinausgehen, hat mit dem europäischen und toposhaften Charakter dieser Dichtungsart zu tun. Das gelegenheitshafte Schreiben kann hier von einem gemeinsamen Fundus an Redeweisen und Themen profitieren, den, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Rhetoriktradition,26 auch die europäischen Nachbarliteraturen teilen. Wenn ich im Folgenden weitere Beispiele des kasualen Schreibens vorstellen möchte, ist es mir vor allem um diese zweite Blickrichtung zu tun. Mir geht es, anders gesagt, weniger um die je konkreten Bezüge und Umstände des einzelnen Rezeptionsereignisses, die ja bis zu einem gewissen Grad zufällige sind. Vielmehr richtet sich mein Augenmerk darauf, welches die formalen Merkmale und Eigenarten sind, die das kasuale Dichten dazu befähigen, zu einem Ansatzpunkt und movens literarischer Übertragungsprozesse zu werden.

2. Okkasionelle und panegyrische Aspekte in Tassos Lyrik Das eigentümliche Potential des gelegenheitshaften Schreibens lässt sich oft gerade auch dort bemerken, wo eine weitreichendere historische Wirkung aus äußeren Gründen nicht zustande kam. Für diese Variante eines in seiner tatsächlichen geschichtlichen Rezeption zwar wenig beachteten, jedoch in seiner formalästhetischen Disposition auf kommunikative Wirkung angelegten Gedichts steht mein zweites Beispiel, ein Gedicht aus der höfischen Lobdichtung Tassos. Kann schon für die Tassosche Lyrik insgesamt gelten, dass sie im Gesamtwerk des Dichters, insbesondere im Vergleich zur Gerusalemme Liberata, einen weniger exponierten und in der Literaturgeschichte, vor allem außerhalb Italiens, tendenziell ver26 Vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970; sowie Marc Fumaroli: L’Age de l’éloquence. Rhétorique et res literaria de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genève 1980. 102

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nachlässigten Teil bezeichnet,27 so trifft dies in erhöhtem Maße auf jene Gedichtzyklen der Rime zu, die dem Typus der höfischen, an pragmatische Kontexte des Lobens, Feierns und Rühmens anknüpfenden Lyrik angehören. Aus dem umfangreichen Ensemble Tassoscher Gedichte dieses Genres sei hier ein Text aufgegriffen, an dem sich die besondere Formtypik und Wirkungsdisposition des kasualen Schreibens exemplarisch nachvollziehen lässt: Loda una picciola bambina de la Signora Leonora S., quasi vivo specchio de la sua bellezza Si specchiava Leonora, e ’l dolce riso e ’l vago lume ch’immortal parea stanchi non già ma vinti i specchi avea co’ lieti raggi del sereno viso, quando amor, che mirava intento e fiso ne l’obietto medesmo e dentro ardea, L’idolo perde, e la terrena dea me con l’idolo caro ha pur conquiso. Ma poi, scotendo le saette e l’ali, ci dimostrò le vive forme e vere di pargoletta; e «Saran» disse «eguali!». Picciolo specchio di bellezze altere rende tutte le grazie a voi mortali di sí gran donna e le sembianze intere.28

Das Gedicht gehört werkgeschichtlich einer Gruppe von Texten an, die Tasso selbst unter dem Titel Encomi dei principi e delle donne illustre 27 Vgl. Hartmut Köhler: Tassos Lyrik in deutscher Übersetzung. In: Achim Aurnhammer (Hg.). Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1995, S. 537553, hier S. 537-539. 28 Torquato Tasso: Rime, a cura di Bruno Basile, Roma, Salerno 1994, Nr. 562, S. 607. Dt. Übersetzung: „Leonora betrachtete sich im Spiegel, und das sanfte Lächeln/ und das unbestimmte Leuchten, das unsterblich erschien,/ hatte zwar noch nicht ermüdet, aber besiegt die Spiegel/ mit den hellen Strahlen des heiteren Gesichts,/ als Amor, der eindringlich schaute und/ auf den gleichen Gegenstand gerichtet, innerlich brannte,/ das Bild [aus dem Blick] verliert, und die irdische Göttin/ hat mich mit dem teuren Bild ganz besiegt./ Doch dann, niederlegend die Pfeile und Flügel,/zeigte er dort die lebendigen und wahren Formen/ des kleinen Mädchen; und sagte: „Sie werden gleich sein.“/ Ein winziger Spiegel von hohen Schönheiten/ gibt wieder alle die Grazien, in Euch sterblich,/ Von einer so großen Dame und die vollkommenen Ähnlichkeiten“ (Übers. von mir). 103

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zusammengestellt hat.29 Es ordnet sich somit dem Bereich der panegyrischen Lyrik, der höfischen Lobdichtung, ein. Diesen Gattungsbezug markiert die auch typographisch vom Haupttext des Gedichts abgehobene Überschrift, der titolo oder argomento, der den Anlass des Gedichts, die ihm zugrunde liegenden Situation, erläutert: Der Dichter lobt ein kleines Mädchen, die Tochter der Leonora S., deren Schönheit sich in dem Kind widerspiegelt. In jener Leonora S. haben spätere Editoren der Rime eine Dame aus dem Umkreis des Hofes in Ferrara, wiedererkannt, nämlich Leonora Sanvitale, die Frau des Grafen von Scandiano, die sich seit ihrer Heirat im Jahr 1576 in Ferrara aufhielt. Die erwähnte Adressatin wird, der panegyrischen Konvention gemäß, gleich zu Beginn des Gedichts vorgestellt: Schon die erste Zeile nennt ihren Namen, Leonora. Den Einsatz bildet eine alltägliche Situation, die gewohnheitsmäßige Handlung der Dame, sich im Spiegel zu betrachten.30 Doch auch wenn hier zunächst ein Ton des Beiläufigen, im Vorübergehenden Bemerkten anklingt, ist das Gedicht im ganzen keineswegs anspruchslos. Es zeigt vielmehr eine Tendenz zur sprachlichen Gedrängtheit und gedanklichen Verdichtung, der formal die Sonettform entspricht. Das Gedicht verwendet eine Vielzahl von Bildern und sprachlichen Ausdrücken, die aus der Tradition bekannt sind. So ruft der Vorgang des Sich-Spiegelns in den Quartetten die Sprache der hohen Liebeslyrik ab. Vor allem die verschiedenen Ausdrücke aus dem Begriffsfeld des Lichts und des Leuchtens („il vago lume“, „lieti raggi“, „sereno viso“) sowie die der Dame zugewiesenen Attribute des Übernatürlichen und Göttlichen („immortal“, „terrena dea“) findet man in ähnlicher oder gleicher Form auch bei den Vertretern des dolce stil novo und bei Petrarca.31 Auch das Auftreten Amors als sinnbildhafter persona gehört diesem Zusammenhang an.32 Die Aufnahme dieser topischen Äußerungen führt hier gleichwohl nicht dazu, dass sich das Gedicht der Tradition der Liebeslyrik bruchlos einschreibt. Die genannten Elemente stehen vielmehr im Modus des Zitats und treten so in einen Rahmen, der sich durch die situativen Markierungen zu Beginn 29 Zu dieser Gruppe vgl. Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a. Main 1964, S. 465-472. 30 Der Spiegel ist ein, im konkreten wie im figurativen Sinne, in Tassos Lyrik verbreitetes Motiv, das die rime d’amore wie die rime d’occasione gleichermaßen durchzieht. Vgl. dazu die zahlreichen Stellenangaben, die die von Ottavio Besomi besorgte Konkordanz zu Tassos Gedichten unter den Lemmata specchio und specchi verzeichnet: Archivio Tematico della Lirica Italiano, Bd. 2,1-3, a cura di Ottavio Besomi, Janina Hauser, Giovanni Sopranzi, Hildesheim, Zürich, New York 1994, Bd. 2,3, S. 1119-1121. 31 Vgl. Friedrich: Epochen, S. 68-73 und S. 226-228. 32 Vgl. ebd. S. 229-231. 104

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und in den Terzetten als ein okkasioneller und panegyrischer ausweist. Der Rekurs auf die Liebeslyrik hat jedoch – auch wenn er sich durch den betonten Zitatcharakter ein Stück weit relativiert – einen für den Stil und die Redeweise des Gedichts wichtigen Effekt: durch ihn setzt sich eine Reflexivierung des poetischen Sprechens in Gang. Dieses Reflexivwerden lässt sich bereits an den Quartetten nachvollziehen. Was dort skizziert wird, ist eine recht komplizierte Beobachtungssituation, in der drei verschiedene Betrachter – Leonora, der Liebesgott und der Sprecher des Gedichts – gleichzeitig dasselbe Objekt, nämlich das Spiegelbild Leonoras, anschauen. Man könnte zudem sogar noch eine weitere, vierte Beobachterrolle geltend machen, nämlich die Spiegel selbst, die ja im Text weniger als ein bloßes Medium beschrieben, als vielmehr durch die Attribute „stanchi“ und „vinti“ gewissermaßen personifiziert werden. Nun ist das Bild oder Abbild der Dame schon in der Tradition ein Konzept, das zum Ort des Nachdenkens über die visuelle Wahrnehmung und Vorstellung und die daran anschließenden Gemütszustände des Subjekts wird. In der vorangehenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lyrik hat sich im Umkreis dieses Motivs bereits eine Mehrzahl differenzierter Zugehens- und Auffassungsweisen herausgebildet, die oft mit voraussetzungsreichen wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Implikationen einhergehen.33 Das betrachtete Bild wird dabei in den betreffenden Gedichten, je nach Standpunkt und Perspektive, teils auf einen perzeptiven, von außen an das Subjekt herangetragenen Sinneseindruck, teils auf eine innere Vorstellung zurückgeführt, die in der Imagination des Subjekts hervorgebracht wird.34 Das hier erörterte Sonett der Rime scheint in diesem vielschichtigen Bedeutungskomplex vorwiegend die Seite des Wahrnehmungsgegenstands zu betonen und dem Bild selbst („l’idolo“) größtmögliches Gewicht verleihen. Letzteres erscheint als Agens, das die Betrachter durch seine Ausstrahlung und Wirkungskraft affiziert. Der Liebesgott und mehr noch der Sprecher sind, so scheint es, vom Anblick der Schönheit der Dame gebannt und überwältigt: „la terrena dea/ me con l’idolo caro ha pur conquiso.“ Könnte man bis hierhin, wenn man von Titel und Anfang absieht, noch glauben, es mit einem Liebesgedicht zu tun zu haben, vollzieht sich mit dem Einsatz der Terzette ein Umschwung, der den Gattungsbezug, die Zugehörigkeit zum kasualen und panegyrischen Spre33 Zu dieser komplexen Diskussion, die hier nicht näher erörtert werden kann, vgl. die umfassenden Ausführungen von Michael Bernsen: Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Tübingen 2001, S. 241-255. 34 Die zuletzt genannte Erklärungs- und Deutungsfigur lässt sich, wie Bernsen darlegt, an Giacomo Lentinis Kanzone Meravigliosa-mente eindrucksvoll nachvollziehen. Vgl. Die Problematisierung, S. 252-253. 105

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chen, markiert. Auffallendste Geste dieser Distanzierung von der Liebeslyrik ist die Entwaffnung Amors. Der Liebesgott, der das schöne Spiegelbild aus dem Blick verloren hat, legt Pfeile und Flügel nieder und wendet sich einem anderen Gegenstand, dem kleinen Mädchen, der pargoletta, zu. Der Liebesaffekt weicht der Bewunderung für die Kleine, die nun ihrerseits als ein Spiegel, als „picciolo specchio“ der Schönheiten ihrer Mutter, erscheint. Die Form der okkasionellen Rede, bekundet sich überdies in dem Gestus des Zeigens, dem „ci dimostrò“, das den deiktischen Impuls des kasualen Sprechens hervorkehrt. Man kann den Schluss des Gedichts, der das Mädchen als winzigen Spiegel ausweist, als Lösung einer doppelten Schwierigkeit lesen, die in diesem Fall in der Aufgabe des Lobens impliziert ist: Einerseits gilt es, das Lob auf die Kleine so vorzubringen, dass es das Lob auf die Mutter nicht zurücknimmt oder schmälert, sondern in sich einschließt. Dies gelingt, indem Amor die zunächst in Gang kommende Überbietungsfigur des Gedichts auffängt und in seinem Schiedspruch „sarán eguali“ die zukünftige Gleichheit der beiden Frauen statuiert und so einen Ausgleich herstellt. Dass der damit postulierte Moment der völligen Übereinstimmung der beiden Frauen ein rein hypothetischer, fiktiver ist, der in deren tatsächlicher lebensgeschichtlicher Entwicklung so gar nicht vorkommen kann, scheint der Plausibilität jenes Diktums, die durch die Autorität des Liebesgottes gedeckt ist, indessen keinen Abbruch zu tun. Die Vorstellung der Gleichheit, die hier behauptet wird, entfaltet vielmehr gerade in ihrem fiktionalen, imaginären Charakter poetische Wirkungskraft. Doch auch wenn somit die Leitidee der Egalität und Äquivalenz die Terzette bestimmt, soll gleichwohl das kleine Mädchen – so fordert es die Überschrift – Hauptgegenstand des Lobens sein. Das Gedicht löst diese Aufgabe, indem es seinen Gegenstand als Paradox präsentiert: das Mädchen ist gerade in seinem Kleinsein dazu disponiert, das Große und Erhabene im Modus der Ähnlichkeit sichtbar werden zu lassen. An dieser Stelle ist es vor allem die geschickte, nunmehr metaphorische Reprise des Spiegelkonzepts, die es ermöglicht, das Mädchen zugleich als genaues Abbild und als Überbietung seiner Mutter darzustellen. Das Motiv der Spiegelung eröffnet hier einen Zusammenhang, der die Relation von Mutter und Tochter fokussiert, dabei jedoch auch über sie hinausweist: Denn in dem Maße, in dem sich das Mädchen als getreue Imago seiner Mutter offenbart, nimmt es zugleich noch in einem weiteren Sinne die Rolle eines „picciolo specchio“ wahr. Es deutet, wie der Begriff der „sembianze intere“ im Schlussvers anzeigt, auf einen im Prinzip der Analogie fundierten kosmischen Entsprechungszusammenhang, als dessen verkleinertes Abbild und Inbegriff es sich erweist.

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Entscheidend für das Gedicht insgesamt ist, dass es bei aller amplifizierenden und spekulativen Ausweitung die Bindung an die occasio höfischen Lobens wahrt. Gerade dieses Festhalten am situativen, pragmatischen Bezug macht die Stärke und das spezifische Wirkungspotential des Kasualgedichts aus. Durch den deiktischen Impetus gewinnt das Gedicht ein aufforderndes Moment. Es führt eine Bewegung vor, die nicht aus der kommunikativen Rede heraus, sondern wieder in sie hineinführt. Die oben genannte situative Bezugnahme bedeutet nun nicht, dass das Kasualgedicht nicht oder nur in eingeschränktem Maße Literatur wäre. Der kommunikative Erfolg des Dichtens bei Gelegenheit beruht vielmehr gerade darauf, dass der betreffende Text auch als distinkte, literarische Form erscheint. In diesem Sinne verstehe ich auch die verbreiteten Klagen über die Abhängigkeit der Gelegenheitsdichter, wie man sie bei frühneuzeitlichen Dichtern, etwa bei Martin Opitz,35 findet, weniger als Indiz einer (tatsächlichen) Fremdbestimmtheit des Genres. In diesen Klagen scheint sich vielmehr eine Sensibilität für die Form und die literarische Dimension der Texte zu bekunden.

3. Poetologische Reflexion in der Kasuallyrik Dass Gelegenheitsgedichte nicht in ihren lebensweltlichen Anlässen aufgehen, lässt sich auch daran ablesen, dass sie reflexive Momente enthalten und mitunter zum Ort des Nachdenkens über das Dichten werden können. Eine solche Tendenz zur poetologischen Reflexion äußert sich vor allem da, wo der Anlass des Textes durch ein Ereignis geboten wird, das die Literatur selbst berührt, wie z.B. der Abschluss eines Werks oder die Publikation eines Buchs. Als ein Beispiel dieses Typs mag hier das Widmungsgedicht A son Livre stehen, das Ronsard einer ersten Gesamtausgabe seiner bisherigen Gedichte, die 1560 erschien, voranstellte: A son Livre SONET

Va, livre, va, desboucle la barriere, Lasche la bride, et asseure ta peur, Ne doute point par un chemin si seur, D’un pied venteux empoudrer la carriere; Vole bien tost, j’entens desja derriere De mes suivans l’envieuse roideur, 35 Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 16-17. 107

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Opiniastre à devancer l’ardeur Qui me poussoit en ma course premiere. Mais non, arreste, et demeure en ton rang, Bien que mon cœur bouillone d’un beau sang, Fort de genoux, d’haleine encore bonne; Livre, cessons d’acquerir plus de bien, Sans nous fascher si la belle couronne Du Laurier serre autre front que le mien.36

Bemerkenswert an dem angeführten Text ist, dass er nicht nur den Vorgang des poetischen Schreibens erörtert, sondern überdies auch den Moment der Veröffentlichung und die Form der Publikation, das Buch, thematisiert. Das Gedicht lenkt so den Blick auf das Problem des Abschließens, das sich auf der Ebene des Buchs auf andere Weise stellt als auf der des einzelnen Gedichts. Während das einzelne Gedicht im Manuskript noch als vorläufig, als revidierbar gelten mag, verbindet sich mit dem Buch die Vorstellung der Abgeschlossenheit des fertigen Werks. Die beiden genannten Aspekte, das Nachdenken über das Dichten und die Reflexion auf die Publikation des Buchs, werden im Text durch ein Bild verknüpft, das als Metapher für die Dichtung bekannt ist: das Bild des Wettlaufs. Dazu passt es, dass das Buch als Rennpferd angesprochen wird. Die einleitende Apostrophe, die im Modus des Imperativs steht, fordert das Buch bzw. Pferd dazu auf loszulaufen. Begleitet wird diese Aufforderung von Formeln der Versicherung und Ermutigung: „assure ta peur“, „ne doute point...“. Solcher Zuspruch scheint auch nötig, denn obgleich die letzte Zeile des ersten Quartetts das Pferd bereits in vollem Galopp über die Rennbahn eilend vorstellt, bleibt dieser Lauf nicht unbestritten. Das zweite Quartett verweist auf die anderen Pferde, die mit dem Livre um den Preis im Wettlauf konkurrieren und diesem dicht hinterher eilen. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel als das erzeugende Prinzip des Dichtens, die poiesis selbst, denn jene Rivalen machen, wie es heißt, dem Livre die „ardeur“, d.h. jene Antriebskraft streitig, die den Sprecher, wie er sagt, in seiner „course première“, zu seinem ersten Lauf, d.h. seinem ursprünglichen dichterischen Einsatz, anregte. Während das Gedicht so die zugrunde gelegte Bildlichkeit des Rennens weiter entfaltet und differenziert, umreißt es zugleich eine bestimmte Vorstellung des Dichtens und der literarischen Kommunikation, die hier eine gleichsam programmatische Kontur annimmt. Die Metaphorik des Wettlaufs profiliert dabei nicht allein ein konstitutives agonales Moment, das Ronsards Selbstbeschreibung mit einer verbreiteten Grundrichtung rinascimentalen 36 Ronsard: Œuvres complètes, édition établie et annotée par Gustave Cohen, tome 1. Paris 1950, S. 1. 108

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Selbstverständnisses teilt. Sie beleuchtet überdies in der Differenz zwischen der Mehrzahl der Rennpferde und dem Singular des einen Lorbeerkranzes bzw. Siegers zugleich das Spannungsverhältnis zwischen literarischer Norm und Pluralisierung,37 das sich im literarischen Feld der Zeit abzeichnet und in das sich auch Ronsard mit der Veröffentlichung seines Gedichtbands einschreibt. Bedenkt man die oben skizzierte Konstellation poetischer Agonalität, muss es erstaunen, dass die sich beschleunigende Bewegung, die die ersten beiden Strophen vorführen, im zweiten Teil plötzlich angehalten wird. Auch hier ist es wieder ein Imperativ, „Mais non, arreste...“, der das Innehalten bezeichnet und sich zugleich als Entscheidung des Dichters zu erkennen gibt. Was auf diese Weise beleuchtet wird, ist die kontingente Handlung des Abschließens des Buchs, die den Vorgang des Gedichte-Schreibens an einer Stelle abbricht, die ebenso auch eine andere sein könnte. Diese Entscheidung wird im letzten Terzett als ebenso reflektierter wie souveräner Akt ausgestellt: „Livre, cessons d’acquérir plus de bien,/ Sans nous facher si la belle couronne/ Du Laurier serre autre front que le mien.“ Das Aufhören stellt sich hier als ein Moment asketischer Zurückhaltung dar, als Verzicht darauf, weitere Güter zu erwerben. Dennoch wird dieses Aufhören positiv gewertet: Es erscheint als ein konstruktives Tun, als ein Modus freiwilliger Selbstlimitierung, der das Entstehen des Buchs als selektiver Form überhaupt erst ermöglicht. Zugleich wird jedoch auch, dies zeigen die beiden Schlusszeilen, die andere, negative Seite dieser Entscheidung aufzuhören mit bedacht: Der literarische Erfolg, den sich Ronsard in der renaissancetypischen Figur des Dichterlorbeers vorstellt, kann immer auch einem anderen zufallen. Allerdings scheint diese Möglichkeit nicht ganz so bedrohlich, denn der Ton ruhiger Gelassenheit, in dem sie ins Auge gefasst wird, verrät, dass sich der Sprecher seiner Position im literarischen Feld bereits sicher ist.38 Die bei Ronsard beobachtete poetologische Spielart des Kasualgedichts findet sich, in freilich anderer Akzentuierung, auch bei demjenigen Autor, der, für den deutschsprachigen Bereich, als entscheidender Vermittler und Übersetzer Ronsardscher Lyrik bekannt geworden ist – Mar-

37 Vgl. dazu im europäischen Kontext: Klaus W. Hempfer: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts. Germanisch-Romanische Monatsschrift 69 (1988), S. 251-264. 38 Zum Konzept des Feldes und zu den Strategien, durch die sich Ronsard und die Pléiade-Dichter in der literarischen Kommunikation positionieren vgl. Christoph Oliver Mayer: Pierre de Ronsard und die Herausbildung des «premier champ littéraire». Herne 2001, S. 124-151. 109

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tin Opitz.39 Opitz’ Auseinandersetzung mit Ronsard steht dabei, wie man weiß, im Zusammenhang eines umfassenderen literatur- und kulturpolitischen Projekts, in dem es dem Autor darum ging, nach dem Vorbild der (aus seiner Sicht) bereits weiter entwickelten volkssprachlichen romanischen Literaturen eine entsprechend elaborierte und differenzierte deutschsprachige Literatur anzuregen bzw. in Gang zu setzen.40 Im Kontext dieses literarischen Reformprogramms sind auch die Übersetzungen von Gedichten Petrarcas und Gaspara Stampas zu sehen,41 die Opitz anfertigte und als paradigmatische Muster der angestrebten volkssprachlichen Literaturproduktion empfahl. Als Gegenstück und Parallele zu dem oben erörterten Widmungsgedicht Ronsards sei hier das Sonett An diß Buch aufgegriffen, das Opitz’ einem zentralen Gedichtzyklus seiner Weltlichen Poemata voranstellte:42 So wiltu dennoch jetzt auß meinen Händen scheiden Du kleines Buch vnnd auch mit andern seyn veracht? Gewiß du weissest nicht wie hönisch man jetzt lacht / Wie schwerlich sey der Welt Spitzfindigkeit zu meiden. Es muß ein jeglich Ding der Menschen Vrtheil leiden / Vnd / ob es tauglich sey / steht nicht in seiner Macht; Der meiste Theil ist doch auff schmähen nur bedacht / Vnd denckt was er nicht kan / dasselbe muß’ er neiden. Noch dennoch (daß du nicht so offt’ vnd viel von mir Auffs newe dulden dürffst daß ich dich nehme für) Muß ich dir loß zu seyn vnd außzugehn erleuben. So ziehe nun nur hin / weils ja dir so gefellt /

39 Opitz’ Übertragungen sind unterdessen nicht die erste Rezeption Ronsards von deutscher Seite. Schon Paulus Melissus Schede hatte, gut ein halbes Jahrhundert früher, Kontakte zu Ronsard und anderen Dichtern der Pléiade geknüpft und auch eigene Texte nach deren Vorbild verfasst. Diese Rezeption hatte jedoch schon deshalb nicht die Breitenwirkung des Opitzschen Projekts, weil Melissus als Verfechter der alten Gelehrtenkommunikation fast ausschließlich in Neulatein schrieb. Siehe dazu umfassend: Eckhard Schäfer, Paulus Melissus Schede, in: Deutsche Dichter der Frühen Neuzeit, Berlin 1993, S. 545-560. Vgl. auch Annemarie Nilges, Imitation als Dialog: Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg 1988, S. 50-60. 40 Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. Cornelius Sommer, Stuttgart 1970, S. 19-20. 41 Vgl. Martin Opitz: Gedichte. Eine Auswahl. Hg. Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1970, S. 173 und S. 174-176. 42 Die Parallele von Opitz An diß Buch und Ronsards A son Livre bemerkt auch Annemarie Nilges: Imitation als Dialog, S. 183, allerdings ohne eine vergleichende Analyse bzw. Interpretation der beiden Texte vorzunehmen. 110

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Vnd nimb dein Vrtheil an / zieh’ hin / zieh’ in die Welt; Du hettest aber wol zu Hause können bleiben.43

Das Sonett An diß Buch ist sicher keine Übertragung oder auch nur Nachdichtung von Ronsards Gedicht. Aber man darf annehmen, dass Opitz letzteres kannte und womöglich unter anderem dadurch dazu angeregt wurde, ein Widmungsgedicht gleichen Typs zu schreiben. Dabei ist freilich mit zu bedenken, dass Ronsards Text nur einen möglichen Bezug innerhalb eines weiteren Fundus bekannter Eingangs- und Widmungsgedichte darstellt, die sich hier als Vorlagen anbieten. Als ein weiterer prominenter Prätext drängt sich das berühmte Eröffnungsgedicht von Ovids Tristia auf, das gleichfalls in Form einer Anrede an das Buch konzipiert ist.44 Liest man Opitz’ Sonett zunächst als Gegenstück zu Ronsards A son Livre, tritt vor dem Hintergrund der Übereinstimmungen im Sujet des Buchs und in der Form der Apostrophe, die einen Vergleichspunkt der beiden Gedichte markieren, die Unterschiedlichkeit der beiden Texte umso deutlicher hervor. Im Vergleich zu der souveränen Geste von Ronsards Gedicht nimmt sich Opitz’ Geleitwort zaghaft und defensiv aus. An die Stelle des Imperativs ist die Frageform getreten, in der sich Unsicherheit und Zweifel bekunden. Das opus magnum des Livre hat sich in die Diminutivform des „kleinen Buchs“ zurückgezogen, und statt des Lorbeers wartet das ungewisse „Vrtheil“ einer Welt, die sich fast nur auf negative Weise äußert („hönisch“, „schmähen“, „neiden“). Der Schlussvers, so scheint es, zieht daraus nur die ernüchternde Konsequenz: „Du hettest aber wohl zu Hause bleiben können“. In historischer Hinsicht liegt es nahe, die skeptischere, pessimistischere Tonart von An diß Buch als Hinweis auf die kultur- und kommunikationsgeschichtlich anderen, ungünstigeren Bedingungen zu lesen, durch die sich Opitz’ Schreibsituation von der seines französischen Vorläufers unterscheidet. Der Gestus der Souveränität, der Ronsards Text charakterisiert, ist ja nicht zuletzt Ausdruck einer Erwartungssicherheit, die sich darauf gründet, dass es, in Gestalt geläufiger poetologischer Konzepte, einen literarischen Standard gibt, der als eine Art Common Sense der Renaissanceautoren und ihrer Leser vorausgesetzt werden darf. Gleichwohl würde man dem Gedicht An diß Buch kaum gerecht, wollte man es ausschließlich als Ausdruck der Selbstzurücknahme und Resignation verstehen. Schon die paratextuelle Rolle des Widmungsge43 Martin Opitz: Gedichte. Eine Auswahl. Hg. Jan Dirk-Müller. Stuttgart 1970, S. 169. 44 Vgl. Ovid: Tristia and Ex Ponte, with an English translation, ed. Arthur Leslie Wheeler, London, Cambridge, Mass. 1924. Reprint 1959, S. 2-12. 111

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dichts, dessen Funktion es ist, einen Text bzw. eine Sammlung von Gedichten zu eröffnen und einzuleiten, steht ja zu dieser resignativen Geste in einem merkwürdigen Widerspruch. Opitz’ Gedicht gibt jener Eingangsfunktion offenbar eine paradoxe Stilisierung, indem es die Rolle des Incipit, die ihm konventionsgemäß zukommt, partiell negiert. Auffallend ist indessen, dass der Text, nach anfänglichem Zögern, dem zu erwartenden Duktus des Anfangens und Aufbrechens schließlich doch Raum gibt: „So ziehe nun nur hin / weils ja dir so gefellt“. In dieser paradoxen Figur des gebrochenen, von Momenten der resignativen Zurücknahme durchsetzten Incipit scheint Opitz’ Sonett die Grundstruktur des oben erwähnten Eröffnungsgedichts der Ovidischen Tristia nachzubilden. Auch Ovids Text, der die Form der Elegie aufnimmt, ist durch die gleiche Doppelheit von affirmativem Einsatz und Negation gekennzeichnet. Auch hier wird das Buch allein, ohne seinen Autor, hinaus in die Welt bzw. die Stadt Rom gesandt: „Parve – nec invideo – sine me, liber, ibis in urbem“.45 Die Trennung des Buchs von seinem Autor, die das Gedicht hervorhebt, ist zunächst aus der historisch-biographischen Schreibsituation Ovids, der Konstellation des Exils,46 motiviert. Von daher verwundert es nicht, dass das elegische Ich vorwiegend die Gefahren der Ablehnung und des Missverstehens bedenkt, denen sich das Buch auf seinem Gang in die Welt aussetzt: „ne, quae non opus est, forte loquare,/ cave! Protinus admonitus repetet mea crimina lector,/ et peragar populi publicus ore reus“.47 Das Urteil des Publikums erscheint als eine verfängliche, zweifelhafte Instanz, vor der sich der Text selbst bei größter Vorsicht kaum zu schützen vermag. Diese Momente des Zweifels und der Negation werden unterdessen im Fortgang des Gedichts überwunden, in dem sich nach und nach ein positiver Impuls des Aufbruchs bekundet: „denique securus famae, liber, ire memento/ nec tibi sit lecto displicuisse pudor.“48 In dieser nachdrücklichen Geste nimmt der Text seine Eröffnungsfunktion entschieden auf: Die Formel des ire memento, d.h. die Aufforderung hinauszugehen, verbindet sich hier mit einer pointierten Bekräftigung, die die zuvor genannten Gefährdungen, die Äußerungen der fama und das mögliche Missfallen des Lesers, gleichermaßen abwehrt. Nicht zufällig wird der hier anklingende Gestus des Aufbruchs in 45 Ovid: Tristia, S. 2, Z. 1. 46 Einen guten Einblick in die politische Dimension der Tristia gibt, vornehmlich im Blick auf die zweite Elegie, Thomas Wiedemann: The Political Background to Ovid’s Tristia II, The Classical Quarterly, New Series, Bd. 25, 1975, S. 264-271. 47 Ebd., S. 4, Z. 24. Vgl. auch ebd., Z. 35-36: „Ut peragas mandata, liber, culpabere forsan/ ingeniique minor laude ferere mei.“ 48 Ebd., S. 6, Z. 49-50. 112

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den Schlussversen der Elegie wieder aufgenommen, wo er in dem pointierten Imperativ „longa via est, propera!“49 die Gestalt eines bündigen Entschlusses annimmt. Vor der Folie der hier angedeuteten Parallele des Eingangsgedichts der Tristia wird allerdings auch ein Aspekt sichtbar, in dem sich Opitz’ Text von der Ovidischen Vorlage unterscheidet bzw. über sie hinausgeht. Zunächst fehlt in Opitz’ Widmungsgedicht, wenn es aus den Tristia den Habitus resignierender Skepsis aufnimmt, der konkrete, äußere Anlass solchen Zweifels, der bei Ovid durch die Situation der Verbannung gegeben war. Die Ablehnung, die hier als drohendes Szenario beschworen wird, scheint so gegenüber dem antiken Vorgänger verallgemeinert, zu einer allgemeinen, Grunddisposition, die das Publikum schlechthin charakterisiert, ausgeweitet. Auf der anderen Seite erfährt bei Opitz indes auch der positive Akzent, der sich der befürchteten negativen Aufnahme des Gedichtbands entgegensetzt, eine schärfere Profilierung. Denn deutlicher als bei Ovid tritt hier der Gedanke eines Selbständigwerdens des Buchs hervor: Indem das Gedicht den Auszug in die Welt als Entscheidung des Buchs präsentiert („So wilt Du“), profiliert es diesen Vorgang als einen Akt der Emanzipation, durch den sich das Gedicht von seinem Autor ablöst und zu einer eigenständigen, unabhängigen Äußerungsform avanciert. Es ist somit nicht zuletzt die Eigendimension des literarischen Diskurses, die Opitz’ Widmungsgedicht hervorhebt. Mit dem Moment der Veröffentlichung tritt der Text, so die hier nahegelegte Implikation, in einen Kommunikationszusammenhang ein, der eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und der sich von der Position des Autors aus nicht mehr steuern oder kontrollieren lässt. An den zuletzt erörterten Beispielen von Widmungsgedichten, die das Buch als Motiv und Adressaten dedizierenden lyrischen Sprechens einbringen, tritt das vielseitige Adaptionspotential kasualen Schreibens, das es in kommunikativen Zusammenhängen unterschiedlichster Art wirksam werden lässt, eingängig hervor. Dabei sind es, wie sich zeigte, vor allem der deiktische Impuls, der Gestus des Hinweisens, und die sprachlichen Formen des Ansprechens und Aufforderns, die dem Gelegenheitsdichten sein spezifisches Profil verleihen: aus diesen sprachlichen Markierungen bezieht es seine verstärkte Disposition, sich als rekursive Figur auszustellen und dabei zugleich als Vorlage und Bezug weiterer Kommunikationen anzubieten. Die vorgestellten Buchgedichte zeichnen sich unterdessen nicht allein durch die Eigenart aus, Anschlussfähigkeit zu erzeugen bzw. zu suggerieren; charakteristisch für diese Texte scheint überdies eine besondere Art, Kontingenz zu bearbeiten bzw. zu reflektieren. Die angeführten Widmungsgedichte thematisieren 49 Ebd., S. 12, Z. 127. 113

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ja in der Fertigstellung und Veröffentlichung des Buchs einen Moment im Vorgang literarischer Kommunikation, der in zweifacher Hinsicht von Kontingenz betroffen ist: Ist zunächst, gewissermaßen auf der Innenseite jenes Geschehens, der Moment des Abschließens des Buchs bzw. Werks kontingent, so gilt dies nicht weniger für die durch den Akt der Publikation eröffnete Rezeption, die das Buch bei seinen Lesern erfahren wird und die ebenso Ablehnung wie Annahme bedeuten kann. Die zitierten Gedichte beschreiben das Zusammenwirken jener beiden Kontingenzen dabei in der Weise, dass das dargestellte Geschehen eine paradoxe Fassung erhält: Als der naheliegendere, wahrscheinlichere Ausgang jenes Geschehens präsentiert sich hier zunächst die negative Variante des Misslingens und der Ablehnung der Kommunikation. Erst in einem zweiten Schritt, gleichsam im Gegenzug zu dieser vorgängigen negativen Einstellung, artikuliert sich die Vorstellung des literarischen Erfolgs und rückt als die andere, immerhin auch mögliche Variante des Geschehensverlaufs in den Blick. Die Möglichkeit literarischen Erfolgs wird so gleichsam in paradoxem Widerspruch zu der ihr innewohnenden Unwahrscheinlichkeit vorgebracht, um sich schließlich als die aus der Sicht des Gedichts eigentlich präferierte und insgeheim erhoffte Alternative zu enthüllen und zu bekräftigen. Versucht man abschließend, die hier vorgestellten Formen des gelegenheitshaften Dichtens im Blick auf ihren historischen Stellenwert und ihre geschichtliche Reichweite zu betrachten, erscheint es naheliegend, vor allem in der zuletzt diskutierten poetologischen und selbstreflexiven Spielart kasualen Schreibens ein Potential zu sehen, das über den Zeitraum der Frühen Neuzeit hinaus aktuell bleibt.50 Dieses Fortwirken des Dichtens bei Gelegenheit nachzuzeichnen wäre unterdessen Aufgabe eines eigenen Projekts, das an anderer Stelle wieder aufgenommen und weiter verfolgt werden soll.

50 Vgl. dazu meinen Beitrag: Moderne Literatur im Spannungsfeld von poetischer Autonomie und Gesellschaftsbezug. Am Beispiel von Pablo Neruda, in: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Berlin, New York 2007, S. 525-547. 114

ERZÄHLTES UND ERZÄHLENDES THEATER IM 17. JAHRHUNDERT DIRK NIEFANGER Im Folgenden geht es um Effekte transmedialer Intarsien in Dramen und Erzähltexten, präziser um Narratives im Theater und um Theatrales im Narrativen, schließlich auch darum, was beides miteinander zu tun hat und welche Funktionen solche Gattungsinversionen im ‚Muttertext‘ und in Bezug auf das Verweismedium übernehmen. Diskutiert werden also Verfahren der ästhetischen Imagination in der Vormoderne, die wir gewohnt sind, mit der Klassischen Moderne in Verbindung zu bringen. ‚Episches Theater‘ im eigentlichen Sinne – und zwar als erzähltes und erzählendes Theater – hat es längst vor Brecht und Piscator gegeben. Die Forschung hat auch auf diese narrativen Elemente etwa im Barockdrama immer mal wieder hingewiesen.1 Doch interessierte sie sich dabei meist weniger für spezifische Formen der gattungsbezogenen Transmedialität als für inhaltliche Fragen. Dass sich aber gerade auch in der Vormoderne aus den Darstellungsverfahren eine eigene metadramatische Qualität ergibt, ist die meinen Ausführungen zugrunde liegende These.

1. Vor und hinter Diderots ‚vierter Wand‘ Das frühneuzeitliche Drama gestaltet das Verhältnis von Publikum und Bühne noch weitgehend anders, als wir es seit dem Aufkommen des Illusionstheaters im 18. Jahrhundert gewohnt sind. Erst mit dem festen, herausgehobenen Aktionsbereich der Schauspieler, mit dem ‚erhabenen Ort‘ der Aufführung, wie es im Zedler heißt,2 wird jene Trennungslinie eingezogen, die man seit der Sattelzeit als ‚vierte Wand‘ bezeichnet. Ihre 1

2

Vgl. etwa Gerhard Spellerberg: Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines ‚Märtyrerstückes‘. Zur Catharina von Georgien des Andreas Grypius, in: Wahrheit und Wort. FS Rolf Tarot. Hg. Gabriela Scherer / Beatrice Wehrli. Bern u.a. 1996, S. 437-461. Vgl. Art. Theater. In: [Johann Heinrich Zedler:] Grosses vollständiges Universal Lexicon [...]. Leipzig, Halle/S. 1732-1754. 115

DIRK NIEFANGER

Stabilisierung markiert das moderne Theater: Hinter ihr darf gesprochen, gesungen, gespielt und agiert werden, vor ihr hat man zu schweigen, zuzuhören und zu schauen. Rampe, Proszenium, Bogen und Vorhang indizieren seit der Frühen Neuzeit die Bühne, auf der spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein autonomes Geschehen wahrgenommen werden kann. Der Programmtext, in dem das neue Illusionstheater diskutiert wird, stammt bekanntlich vom Französischen Theatertheoretiker, Poeten und Lexikonschreiber Denis Diderot: De la Poésie dramatique (Dramatische Dichtkunst, 1758), übersetzt von Lessing 1760 als zweiter Teil von Das Theater des Herrn Diderot. In Diderots Ausführungen geht es um das Verhältnis von Dichter, Schauspieler und Zuschauer, genauer um die Frage, wie präsent soll die Botschaft des Dichters für den Zuschauer sein? Diderot ist der Meinung, dass der Schauspieler eine Aussage, die nicht für seine Rolle, sondern für den Zuschauer geschrieben wurde, nicht gut verkörpern kann. Will der Dramatiker also eine moralische Lehre vermitteln täte er gut daran, eine solche Person als Medium zu wählen, der man diese Lehre auch zutrauen kann. Man muss die Botschaft mit der Person identifizieren können. Folgt man dieser simplen Regel nicht, durchbricht man mit der Einheit der Rolle die Illusion der Bühne. Diderot veranschaulicht dies – der Problematik angemessen – mit einer erdachten metadramatischen Situation, die er erzählt und nicht als Drama präsentiert. Durch die intermediale Verzahnung gewinnt er die Aufmerksamkeit des Zuschauers für die von ihm diskutierte Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum: J’ai remarqué que l’acteur jouait mal tout ce que le poète avait composé pour le spectateur; et que, si le parterre eût fait son rôle, il eût dit au personnage : «A qui en voulez-vous ? Je n’en suis pas. Est-ce que je me mêle de vos affaires ? Rentrez chez vous.»3 Ich habe bemerkt, daß die Schauspieler alles das schlecht vorstellen, was der Dichter für den Zuschauer geschrieben hat; und hätte dieser seine Rolle mitgespielt, so würde er zu der Person gesagt haben: „Mit wem sprichst du? Warum mit mir? Was gehen mich deine Händel an? Bleib für dich.“4

Diderots Vorstellung ist, dass in der imaginierten Bühnensituation ausnahmsweise Zuschauer und Schauspieler miteinander reden könnten; tatsächlich war es ja vor 1730 üblich, dass ausgewählte Zuschauer am

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Denis Diderot: Œuvres Esthétiques. Ed. Paul Vernière. Paris 1988, S. 231. Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Hg. Klaus-Detlev Müller, Stuttgart 1986, S. 340. 116

ERZÄHLTES UND ERZÄHLENDES THEATER

Rand der Bühne Platz nahmen. Hier, bei Diderot, wehrt sich nun das Publikum, vom Zuschauer direkt angesprochen zu werden; es wehrt sich gegen eine Durchbrechung der Fiktion, obwohl es selbst die vierte Wand mit seiner Kritik umgeht, gegen eine Überschreitung dieser Grenze. Wenn man so will, gestaltet das Publikum selbst jenes Metadrama, das metadramatisches Sprechen unterbinden soll. Metadrama, das machte Diderot schon durch seine kommentierte Edition und seine Unterredungen über sein Drama Der natürliche Sohn deutlich, erscheint als zentrales Medium poetologischer und theatertheoretischer Botschaft. Deshalb wählt er es an diesem heiklen und für die Entwicklung der Theatertheorie so zentralen Punkt. Im folgenden Satz stellt sich Diderot vor, nicht nur der Zuschauer, sondern auch der Dichter selbst wäre mehr oder weniger barrierefrei in das Bühnengeschehen involviert, könnte also auch metadramatisch agieren, wie es ihm gefällt, so dass eine parallele Theatersituation entsteht: Et que, si l’auteur eût fait le sien, il serait sorti de la coulisse, et eût répondu au parterre : „Pardon, messieurs, c’est ma faute ; une autre fois je ferai mieux, et lui aussi.“5 Und hätte auch der Dichter seine Rolle mitgespielt, so würde er hinter der Szene hervorgekommen sein und dem Parterre geantwortet haben: „Verzeihen Sie, meine Herren, die Schuld ist meine: ein andermal wollen ich und er es besser machen.“6

Nun folgt jene „vielzitierte Passage“, die „die Grundlage der realistischen Theaterästhetik“ bildet.7 Zwischen Publikum und Bühne habe man sich eine imaginäre vierte Wand vorzustellen, die nicht durchbrochen werden darf: Soit donc que vous composiez, soit que vous jouiez, ne pensez non plus au spectateur que s’il n’existait pas. Imaginez, sur le bord du théâtre, un grand mur qui vous sépare du parterre ; jouez comme si la toile ne se levait pas.8

5 6 7

8

Diderot (wie Anm. 3), S.231. Diderot/Lessing (wie Anm. 4), S. 340. Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 32003, S. 53. Zum Kontext: Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg 2000. Diderot (wie Anm. 3), S. 231. 117

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Man denke also sowohl während dem Schreiben als auch während dem Spielen an den Zuschauer ebenso wenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rand der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.9

Das Illusionstheater geht – so gesehen – von einer radikalen Gegenwärtigkeit und damit zusammenhängenden Autonomie des Bühnengeschehens aus. Das Publikum schaut im Theater in eine zweite, ästhetisch erzeugte Wirklichkeit. Folgt der Dramaturg dieser Regel nicht, macht er tatsächlich die Bühne zur Kanzel, um ein Bonmot Lessings zu variieren: «Si l’on remarque son but, il le manque;» , schreibt Diderot über das didaktische Interesse des Dichters, «il cesse de dialoguer, il prêche.»10 – „Sobald er seinen Zweck merken lässt, verfehlt er ihn. Seine Personen hören auf zu reden, und er predigt.“11 Das Paradigma der vierten Wand stellen Brecht und Piscator mit ihren Theorien des Epischen Theaters in Frage. Für sie kann der Dichter am effizientesten predigen, wenn er die Illusion durchbricht, sich also direkt an den Zuschauer wendet. Der Schauspieler soll deshalb möglichst die Illusion der Diegese durchbrechen, ja, wie Brecht sagt, die „restlose Verwandlung in die Bühnenfigur aufgeben. Er zeigt die Figur, er zitiert den Text, er wiederholt einen wirklichen Vorgang.“12 Der Verfemdungseffekt hebt die Gegenwärtigkeit der Bühnenhandlung auf. Er zielt auf seine Historisierung und damit auf die Episierung des Geschehens. Der Zuschauer legt seine emotional getragene Identifizierung mit dem Helden ab und gewinnt ein rationales Verhältnis zum Dargestellten. ‚Episches Theater‘ vermittelt, weil es vom Geschehen distanziert, immer auch die künstlerische Gemachtheit des Dargebotenen; es erscheint idealerweise somit immer schon als Metadrama, mit dessen Hilfe mehr begriffen als ergriffen wird. Erwin Piscator hat in seinem folgenreichen Programmentwurf Das politische Theater (1929) den intermedialen Ausgangspunkt des ‚epischen Theaters‘ hervorgehoben. Bei diesem handele es sich „um die Ausweitung der Handlung und die Aufhellung der Hintergründe, also [um] eine Fortführung des Stückes über den Rahmen des nur Dramati-

9 10 11 12

Diderot/Lessing (wie Anm. 4), S. 340. Diderot (wie Anm. 3), S. 232. Diderot/Lessing (wie Anm. 4), S. 341. Bertolt Brecht: Vierter Nachtrag zur Theorie des ‚Messingkaufs‘ [1940]. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. Klaus Lazarowicz und Christopher Balme, Stuttgart 1991, S. 282. 118

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schen hinaus.“ Im ‚epischen Theater‘ kam es deshalb zu einer „Verwendung von szenischen Mitteln aus Gebieten, die bisher dem Theater fremd waren.“.13 Vor allem die von Piscator verwendeten intermedialen Verfahren – Lichtbildprojektionen, Filmausschnitte, projizierte Zwischentexte oder Geräuscheinspielungen – diese intermedialen Verfahren lassen das ‚epische‘ oder ‚politische Theater‘ als primär modernes Phänomen erscheinen – möglicherweise ein vorschnelles Urteil, wie wir sehen werden. Eine Behauptung, das ‚epische Theater‘ à la Brecht und Piscator habe es schon in der Vormoderne gegeben, ist in dieser Allgemeinheit vielleicht akzeptabel, aber gewiss nicht sonderlich subtil. Deshalb sei gleich zu Beginn eine deutliche Leitdifferenz eingeräumt: Im Prinzip dient bei vormodernen Theaterstücken der intermediale Wechsel zwischen narrativen und dramatischen Verfahren eher der Förderung ästhetischer Imagination, während er im modernen ‚epischen Theater‘ meist gerade für ihre systematische Durchbrechung genutzt wird. Als ausschlaggebend für die Neubewertung der intermedialen Wechsel kann das Illusionstheater des 18. und 19. Jahrhunderts angesehen werden. Diesen recht einfachen Befund möchte ich im Folgenden nicht eigens belegen; er scheint mir eigentlich unstreitbar. Wichtiger ist mir ein genauer Blick auf den Wandel ästhetischer Imaginationserzeugung durch intermediale Verfahren auf der sich ausdifferenzierenden und verändernden Bühne des 17. Jahrhunderts. Weit vor Brecht und Piscator, aber eben auch vor Diderot und Lessing, an der vormodernen Schwelle zum Illusionstheater bewegt sich meine folgende Argumentation. Ich möchte in einem ersten Schritt zeigen, wie der intermediale Wechsel zwischen dramatischer und epischer Kunst in der Frühen Neuzeit noch selbstverständlich jene Barriere aufzubrechen vermag, die seit Diderot und Lessing unsere Theaterwahrnehmung prägt. Intermedialität erscheint im vormodernen Theater als Mittel, die Grenzen der Bühne zu erweitern und Inhalte zu präsentieren, auf die das Drama sonst verzichten müsste. Als Folge für diesen impliziten Medienwechsel muss mit der partiellen Aufgabe der Theater-Illusion gerechnet werden; dies stellt aber nur nach unserem heutigen Verständnis ein mediales Defizit dar. Denn im frühneuzeitlichen Theater erscheint die Geschlossenheit des gegenwärtig aufgefassten Bühnengeschehens, wie seit dem späten 18. Jahrhundert, nicht als primärer ästhetischer Zweck. Dies aber ermöglicht, dass der intermediale Wechsel in der Frühen Neuzeit sogar

13 Erwin Piscator: Das politische Theater. Zitiert nach: Manfred Brauneck (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek 92001, S. 331. 119

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zum Illusionsgewinn beitragen kann. Mein erstes Beispiel kann dies zeigen. Komplementär zum Phänomen des ‚erzählenden Theaters‘ in der Vormoderne möchte ich zeigen, welche ästhetische Funktion der intermediale Verweis auf das Theater im Erzählen bekommen kann. Denn das ‚erzählte Theater‘ versucht hier genau jene Illusionserfahrung (und zwar als narratives Ereignis) zu erzeugen, die das ‚erzählende Theater‘ (als dramatisches Ereignis) durchbricht. Schließlich komme ich abschließend dann noch zu einem Theaterstück, in dem von einer Aufführung erzählt wird, wo also der intermediale Wechsel gleich zweimal, vom Theater zum Erzählen und vom Erzählen zum Theater inszeniert wird. Mein Beitrag ist also gewissermaßen dialektisch angelegt, um intermediale Möglichkeiten des älteren Theaters zu zeigen. Als etwas entlegene Beispiele dienen mir der Schulactus Herodes der Kindermörder vom Nürnberger Barockdichter Johann Klaj (1645), das Theatergespräch über eine Judith-Aufführung in Johann Rists Hamburger Monatsgesprächen (1666) und der heute kaum mehr bekannte anonyme deutsche Hamlet von 1710.

2. Erzählendes Theater in Johann Klajs Herodes der Kindermörder 1966 hat Conrad Wiedemann in seiner Dissertation14 auf den Nürnberger Barockdichter Johann Klaj aufmerksam gemacht und seine dramatischen Werke, die bislang als isolierte, schwierig zu beschreibende Phänomene des 17. Jahrhunderts angesehen wurden, in rhetorische und literarhistorische Traditionen eingeordnet. Sein Verdienst liegt in einer ersten Sichtung und grundlegenden Beschreibung der Texte Klajs. Bekannt sind ein halbes Duzend Stücke, von denen das Freudengedichte Der seligmachenden Geburt Jesu Christi (1650) als das bedeutendste gilt. Wiedemann nannte sie, für die ältere Forschung begriffsbildend, „Redeoratorien“, weil sie, wie er und seine Vorgänger glaubten, in der Nürnberger St. Sebaldus-Kirche vorgetragen wurden und weil sie ihn strukturell an die musikalischen Oratorien des Barockkomponisten Heinrich Schütz erinnerten.15

14 Vgl. Conrad Wiedemann: Johann Klaj und seine Redeoratorien. Untersuchungen zur Dichtung eines deutschen Barockmanieristen. Nürnberg 1966. 15 Vgl. Wiedemann (wie Anm. 14), S. 35f. 120

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Die neuere Forschung spricht seit Markus Pauls Studie16 von einem speziellen Nürnberger Typ des rhetorischen Schulactus. Trotz musikalischer Anteile sind in den Dramen deklamatorische Passagen dominant, so dass man vielleicht eher von Reden in Rollen oder einem Ensemble von Rollengedichten, als von einer dramatischen Form im engeren Sinn sprechen kann. Vorbild ist möglicherweise die epideiktische Rede oder das Redeportrait der Antike17. Paul bezweifelt die Zugehörigkeit dieser Texte zur Gattung Oratorium.18 Sie seien wohl nicht zur Aufführung in der Kirche gedacht gewesen, sondern wären im autditorium publicum vorgetragen worden, wie es eindeutig aus einer Nürnberger Stadtchronik hervorginge. Die umgebaute Konventstube des Egidienklosters diente den späten Gymnasialklassen als öffentliches, als festliches Forum. Die Stücke seien mit „;Rhetorikbetrieb‘ und ‚Schultheater‘ auf engste verknüpft“ gewesen.19 Die Aufführungen des Theologiestudenten Klaj fanden vermutlich vor einem ‚gebildeten‘ Publikum statt, das sich aus Gymnasiasten kurz vor dem Universitätsstudium, Eltern und Honoratioren der Stadt zusammensetzte. Die tatsächlichen Aufführungsbedingungen der Stücke Klajs sollte man nicht als nebensächlich empfinden, denn sie haben grundlegende Relevanz für die Semantik der Actus, wie Paul richtig bemerkt: Es macht eben einen Unterschied, ob ein Text in der Art eines Oratoriums in der Kirche aufgeführt und vielleicht sogar in einen Gottesdienst integriert oder aber separat und öffentlich als eine Art geistliches Theaterstück im gelehrten Rahmen gegeben wurde. Ja, offenbar verstand man die Redeakte auch als öffentlichen Leistungsnachweis im Bereich der präuniversitären eloquentia. Klajs Stücke wurden als Solo-Reden ‚szenisch‘ vorgetragen sowie von Instrumental- und Chormusik ein- und begleitet. Diese Aufführungspraxis, insbesondere die Dominanz eines Sprechers, bedingt eine im gedruckten Text nachvollziehbare Tendenz zum Narrativen. Auf den epischen Charakter der Dramen weißt schon Gottsched hin; Herodes der Kindermörder von Klaj sei „ein recht sonderbares Stück. Denn zwischen denen darinn redend aufgeführten Personen, spricht immer der Poet.“ Hier läge ein Text vor, der „nicht recht dramatisch, nicht recht episch“ sei.20 16 Vgl. Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002. 17 Vgl. Wiedemann (wie Anm. 14), S. 112. 18 Vgl. Paul (wie Anm. 16), S. 238ff. 19 Paul (wie Anm. 16), S. 243. 20 Johann Christoph Gottsched, Nöthiger Vorrath zur geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst […]. Leipzig 1757, [Bd. 1], S. 197f. 121

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Schauen wir uns also die genannten epischen Elemente in einem Beispieltext von Klaj einmal genauer an; sinnvoll ist vielleicht, wir nehmen den von Gottsched genannten Herodes aus dem Jahre 1645, der ausdrücklich einem Drama des Niederländers Daniel Heinsius nachempfunden wurde; er trägt also ein Schauspiel als indizierten intertextuellen Nukleus. Die Textfassung enthält eine Reihe von Paratexten, die offenbar nicht aufgeführt wurden, dem überlieferten Stück aber den Charakter eines Lesedramas verleihen: Es finden sich Widmungen, Widmungsgedichte, ein poetologisches Vorwort, Hinweise zur Versform, eine Inhaltsangabe und gelehrte Anmerkungen. Den Inhalt der Tragödie kennt man aus der Bibel oder aus Flavius Josephus21: Der gräuliche Wüterich Herodes wird als Mörder seines Schwagers, seiner Ehefrau, Söhne, des Hohenpriesters Hirkan und dessen Großvaters eingeführt. Das schlimmste aber sei der bethlehemsche Kindermord gewesen, den er angezettelt hat, als er von der Geburt des Heilands erfuhr. Am Schluss des Dramas „lässet er seinen Sohn und seiner Schwester Ehherrn jämmerlich niedermachen“ – wie es in der Inhaltsangabe noch heißt.22 Das Drama besteht aus erzählenden Passagen und einzelnen monologisch angelegten Redebeiträgen unterschiedlicher Protagonisten. Diese erhalten keine direkte Antwort; vielmehr werden die neuen Rollen durch Personenangaben und erzählte Szenenanweisungen eingeleitet, so dass die Dialoge von ein und derselben Person gesprochen werden können. Der Imaginationskraft des Erzählers kommt also eine Schlüsselrolle zu; ein Beispiel: Herodes hat den Befehl zum Kindesmord gegeben. Nun erwartet er einen Boten, der ihm von der Tat berichtet; der Erzähler: Hierauf nun kömt ein Bote und erzehlet dem König Herodes nach der Länge / wie es mit dem Bethlehemischen Müttern und Kindern hergangen / seine Post möchte diese sein:23

Das Zitat zeigt, wie ernst der Erzähler seine Rolle nimmt. Denn durch seine Formulierungen wird deutlich, dass die vorgestellte Handlung so aber auch anders hätte geschehen können. Er hebt dadurch die Fiktionalität des Geschehens hervor, betont die Eingeschränktheit historischen 21 Vgl. Flavius Josephus: De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Bd. I. Hg. Otto Michel und Otto Bauernfeind. Darmstadt 1959, S. 114-146. 22 Johann Klaj: Herodes. In: Johann Klaj: Redeoratorien und ‚Lobrede der Teutschen Poeterey’. Hg. Conrad Wiedemann. Tübingen 1965, S. 28 23 Klaj (wie Anm. 22), S. 17. 122

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Wissens und relativiert somit partiell die Illusionskraft der Bühne. Diese stellt er erst durch den plausiblen Fortgang der Handlung sowie die Lebhaftigkeit und ungeheure Rhetorizität seiner Darbietung wieder her. Denn nun folgt die erste, relativ kurze Rede des Boten, die er offenbar zu sich selbst spricht: […] Herodes wartet auf/ will seine Schmerzen heilen. Wie scheußlich siht er aus/ kein Zehren nichts gewint/ Wie blutig er auch her aus beiden Augen rinnt. Gleich einem harten Fels/ an welchem Schaum und Wellen Mit unerhörter Macht erbost zurücke bellen.24

Die Charakterisierung des Herodes liest sich wie eine implizite Regieanweisung. Sie vermittelt die psychologischen Rahmenbedingungen der Begegnung und trägt so natürlich zur Illusionssteigerung bei. Nach einem Erzählereinschub, der darstellt, wie Herodes voller Ungeduld auf den Boten zugeht, berichtet der Bote ausführlich vom Kindermord. Auch er erzählt also, aber mit einem anderen Status, nämlich als dramatische Figur. Und er erzählt in Bildern, die selbst wiederum Tropen nutzen, um zu imaginieren, was man nicht sachlich-chronologisch erfassen kann. Der Kindesmord generiert in der Erzählung des Boten zum Tsunami: Die bräunlich schwarze Nacht umfieng die müde Welt/ Weil gleich die Sonn das recht der Schwester eingestelt. Wie wann ein Wolkenbruch urplötzlich pflegt zu fallen/ Der Lufft und Erde mengt/ die Wetter knallend prallen. Und wie wann jetzt der Teich den Damm durchlöchert hat/ Bricht ungehindert durch/ kein Stopffen findet stat. Er rauschet grimmig fort/ wirfft alles übern Hauffen/ Vieh/ Felder/ Saat und Dorff/ und alles muß ersauffen. Die Nacht/ der Schlaf/ das Schwert/ der Landsknecht fallen Daß man kein Winseln/ Zorn/ noch Bitten hören kann. Man hat mit aller Macht die Häuser aufgebrochen/ Die Knaben in dem Schlaf zersebelt und durchstochen/ Hier klebet das Gehirn/ die Schale ligt allein/ Dort das verwundete Haupt/ ein zerquetschtes Bein/ Hier die gefärbte Hand/ in der das Leben zittert/ Der bloße Rumpff allda zuschmettert und zersplittert.25

24 Klaj (wie Anm. 22), S. 17. 25 Klaj (wie Anm. 22), S. 17f. 123

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Den Gräuelkatalog könnte man fortsetzen. Die Amplificatio und die alludierten Bildbereiche erinnern an Martin Opitz’ Trostgedicht In Widerwärtigkeit Deß Kriegs.26 Und das Motiv des Kindermordes findet sich nicht nur bei Giovanbattista Marino27, sondern natürlich auch in der zeitgenössischen Malerei. Denken Sie an Peter Paul Rubens’, Guido Renis oder Nicolas Poussins Bethlehemitischen Kindermord (1636/38, 1611/12 und 1628/29).28 Diese oder ähnliche Darstellungen sind als Stiche und Einblattdrucke zirkuliert, die Klaj hätte rezipieren können. Neben der Erzählung stehen dem Schulactus also auch intermediale Verweise auf Bilder zur Verfügung, die durch die Emblemmanie der Barockzeit noch erleichtert wird. Den Abschluss der Tragödie bildet ein Monolog Deutschlands, der eine Aktualisierung des Stoffes evoziert. Der Erzähler bezeichnet den Schluss als ein „bluttriefende[s] Winseln“,29 das die Schrecken der Handlung mit dem Leiden am Dreißigjährigen Krieg zusammenführt. Die Gegenwärtigkeit des dramatischen Geschehens durchbricht bei Klaj systematisch die Erzählerfigur, so dass eine historische Distanz zur präsentierten Geschichte erhalten bleibt. Sie ermöglicht, mit ähnlichen Techniken wie im ‚Epischen Theater‘, eine rational gesteuerte Aktualisierung des Vorgetragenen; hier freilich mit theologischer Perspektive. Doch steigert der Erzähler auch die ästhetische Imagination, wo das Medium ‚Theater‘ seine technischen und poetologischen Grenzen hat. Erzählt wird, was nicht oder nur schwer dramatisiert werden kann: die Gräuelbilder, die Skepsis des Boten, der Wahnsinn des Herodes oder die Analogie zum Dreißigjährigen Krieg.

3. Erzähltes Theater in Johann Rists Monatsgesprächen Beim zweiten Beispiel geht es um ein komplementäres intermediales Phänomen: um erzähltes Theater in narrativen Texten der Vormoderne. Und wieder stehen die Grenzen des darstellbaren zur Diskussion. Die Dramenerzählung findet sich in der „Alleredelsten Belustigung Kunst= und Tugendliebender Gemüther/ Vermittelst eines anmuthigen und er-

26 Vgl. Martin Opitz: Gedichte. Hg. Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1970, S. 34ff. 27 Zur Popularität des Textes in Deutschland vgl. etwa die Übersetzung von Barthold Heinrich Brockes: Verteutschter bethlehemischer Kinder-Mord des Ritters Marino. Cöln und Hamburg 1715. 28 Öl auf Leinwand, 268 × 170 cm. Bologna, Pinacoteca Nazionale und Öl auf Leinwand, 147 × 171 cm. Chantilly, Musée Condé. 29 Klaj (wie Anm. 22), S. 27. 124

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baulichen Gesprächs […] fürgestellet“, so der korrekte Titel des vierten Monatsgesprächs aus dem Jahre 1666 von Johann Rist, das in Hamburg publiziert wird. Als Gegenstand der gesamten Unterredung erscheint die Frage nach dem ästhetischen Wert des Dramas beziehungsweise des Schauspiels. Wie in der Barockzeit nicht anders zu erwarten, argumentieren die Gesprächsteilnehmer des Diskurses mit Exempeln. Überraschend (und von der Theaterwissenschaft übrigens weitgehend ignoriert) ist, dass sie vor allem von Aufführungen und sogar einzelnen Schauspielern sprechen. Wir haben es hier also mit Vorformen der Theaterkritik im erzählenden oder dialogischen Modus zu tun. Anfangs betonen die Sprecher die ungeheure Vielfalt des Theaters in Deutschland30: niederländische, italienische und englische Komödianten werden genannt, Opern, Freudenspiele, eine Studenten- und eine Handwerkertruppe erwähnt sowie die „Herren Patribus der Societät Jesu“31 mit Lob bedacht; letzteres obwohl Rist selbst protestantischer Geistlicher gewesen ist. Das Gesprächsspiel möchte offenbar weniger Regeln für das Theater aufstellen, als eine Bestandsaufnahme des Schauspiels in den deutschen Ländern bieten. In der Erzählung einer etwas makabren Wanderbühnenaufführung der biblischen Judith durch eine sächsische Truppe geht es Rist um die Illusionserzeugung auf der Bühne. Der „Rüstige“, wohl eine Rollenfigur des Autors,32 erzählt mit Genuss, „wie es nemlich mit Abschlachtung des Holofernes sey abgelauffen.“33 Um die Agonie des biblischen Bösewichts drastischer gestalten zu können, haben die Komödianten statt Holofernes „ein lebendiges Kalb“ ins Bett gelegt, „dem sie alle vier Füsse hatten zusammen gebunden.“ Wie nun die Judith ihre Helden-That wollte verrichten / hat sie die Gardinen des Bettes zurükke gezogen / die Dekke hinweg geworffen / und mit einem Band-Degen / so nahe beym Bette gehängt / dem armen / unschuldi-

30 Zur Bewertung dieser Vielfalt vgl. Dirk Niefanger: Barocke Vielfalt. Trauerspielformen auf deutschen und niederländischen Bühnen des 17. Jahrhunderts. In: Werner Frick, in Zusammenarbeit mit Gesa v. Essen, Fabian Lampart (Hg.): Die Tragödie: Eine Leitgattung der europäischen Literatur. Göttingen 2003, S. 158-178. 31 Johann Rist: Sämtliche Werke. Hg. Eberhard Mannack u. a., Bd. 5, Berlin u. a. 1974, S. 276. 32 So jedenfalls ist wohl der Titel der Unterredung zu verstehen. Zu Rist vgl. jetzt: Johann Anselm Steiger (Hg.): „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Neuendettelsau 2007. 33 Rist (wie Anm. 31), S. 285. 125

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gen Kalbe einen Hieb in den Halß gegeben / das es jämmerlich zu bölken anfieng / und dieweil sie mit der stumpfen Plötze noch immer zu hammerte / rarete und bölkete das Kalb so grausam / das es kläglich war anzuhören / biß sie ihme endlich den Kopf gantz herunter gefiedelt / welche sie in die Höhe gehoben / mit lauter Stimme dabey rufend: Sehet da ihr Herren und Freunde / daß ist das schelmische Haupt des Tyrannen Holofernes.34

Warum erzählt der „Rüstige“ diese misslungene Aufführung? Er versucht erstens ganz eindeutig mit der grotesken Erzählung seine Zuhörer zu unterhalten, wobei die Abschlachtung des Holofernes auch für die Gesprächsteilnehmer eine Klimax darstellt. Zweitens sucht er zu dokumentieren, wie hoch das Risiko unprofessionellen Schauspiels zu sehen ist. Die Abschlachtung könnte man insofern als rhetorisch inszenierte Spitze einer Amplificatio von Theaterfehlern sehen. Und drittens möchte er nachhaltig auf ein schon im 17. Jahrhundert, also deutlich vor Diderot und Lessing, virulentes Problem hinweisen: die Illusionserzeugung auf der Bühne. Denn dem frühen Theaterkritiker missfällt zu recht, dass die beabsichtige Stärkung der realistischen Wirkung in dieser Szene offenbar ins Gegenteil umgeschlagen ist. Das später zitierte Argument der Schauspieltruppe, ein Mensch hätte bei gleicher Behandlung nicht halb so viel Lärm wie das geschlachtete Kalb gemacht, muss vermutlich eher satirisch verstanden werden. Rist begnügt sich nicht mit der Hinrichtung des Kalbes, sondern schreitet auf der Gradwanderung zwischen Illusionserzeugung und Theaterwirklichkeit voran. Als nämlich im selben Stück die Kammerdiner ihren Herren, Holofernes, aufwecken wollten, entdeckten sie einen tatsächlichen blutüberströmten Leib ohne Kopf und „vermeineten das es der rechte Holofernes wäre“,35 nämlich derjenige, der die Rolle übernommen hatte. Der reale Schrecken führt nun zum Illusionsbruch, der aber – paradoxerweise – ein natürliches Körperspiel der Schauspieler hervorbringt, weil ihnen ja tatsächlich eleos und phobos in die Glieder gefahren sind. Dem Wahnsinn nahe, erzählt der „Rüstige“, liefen sie „auff dem Theatro umher“.36 Diese Abweichung vom abgesprochenen Text führt – erinnern Sie sich an den Peter Squentz von Anderas Gryphius – zu einer wüsten Schlägerei zwischen den Schauspielern. Die Gesprächsgruppe ist sich natürlich einig, dass die misslungene Judith-Tragödie eine der lustigsten Komödien gewesen sei, die in letzter Zeit in Hamburg gegeben wurde.

34 Rist (wie Anm. 31), S. 285. 35 Rist (wie Anm. 31), S. 286. 36 Rist (wie Anm. 31), S. 286. 126

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In Rists Monatsgesprächen werden Theaterstücke so erzählt, das zeigen die Reaktion der Zuhörer, dass sie begeistern, auch wenn sie eigentlich misslungen sind. „Dies schöne Spiel hätte ich selber wol sehen mügen“ sagt zum Beispiel einer der Gesprächsteilnehmer. Das ‘erzählte Theater’ thematisiert also jene Illusionserfahrung als Rezeptions- und Aufführungsproblem, die das ‘epische Theater’ durchbricht. Mehr durch seine lebhafte Erzählweise, bei der etwa bei den dramatischen Schlüsselszenen erzählte und erzählende Zeit deutlich angenähert werden, als durch die Qualität der Theateraufführung erweckt der „Rüstige“ ein Bedürfnis nach tatsächlicher Teilhabe am Theatergeschehen. Aus Goethes Wilhelm Meister wissen wir ja, dass erzählte Theaterstücke früher eine Wirkung wie heute vielleicht Rockkonzerte hervorbringen können.37 Zu einer Demolierung des Veranstaltungslokals wie bei Wilhelms Ritterdrama-Lesung kommt es bei Rist freilich nicht. Ich brauche es vermutlich kaum zu erwähnen, dass auch die Ermordung des Holofernes ein beliebtes Motiv der Barockmalerei war, das nicht wenigen Zuschauern, zumindest aber den Gesprächsteilnehmern bekannt sein konnte. Denken Sie nur an die Brauschweiger Judith von Rubens und die Judith des deutschen Barockmalers Johann Liss mit gleichem Motiv, ferner an Carlo Dolci, Cristofano Allori, Carravaggio oder Artemisia Gentileschi. Die dramatische Schlüsselszene der Enthauptung erscheint in der bildenden Kunst der Zeit nicht zufällig als bevorzugtes Motiv. Insofern könnte man nicht nur beim Bethlehemischen Kindermord, sondern auch bei der Judith in den Monatsgesprächen von einem intermedialen Spiel von Erzählung, Theater und Bildgedächtnis sprechen, das die Szene evoziert. Die Barockzeit liebt das grausame Detail. Seine Realisierung gilt seit der Postulation des Medea-Paradigmas durch Horaz als zentrales dramaturgisches Problem, zumal der frühen Neuzeit.38 Auch mein letztes Beispiel wird deshalb nicht ganz gewaltfrei abgehen:

37 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Werke [Hamburger Ausgabe]. Hg. Erich Trunz. München 131982, Bd. 7, S. 124-126. 38 Vgl. Horaz: Ars peotica, V. 182-188. Vgl. hierzu Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 1–16 und Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005, S. 173f. 127

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4. Erzähltes und erzählendes Theater im deutschen Hamlet von 1710 Es ist sinnvoll, zuerst einige Bemerkungen zur Datierung und zur Textgestalt der frühen deutschen Hamlet-Adaptation zu machen. Der heute bekannte Text des anonymen deutschen Hamlets wurde zuletzt in Joseph Kürschners Deutscher National-Litteratur Mitte des 19. Jahrhundert veröffentlicht.39 Seine Quelle sind zwei Abdrucke aus Ottocar Reichardts Gothaer Theaterkalender auf das Jahr 1779 und dessen Zeitschrift Olla Potrida 1781. Sie beziehen sich auf eine inzwischen verlorene Handschrift des Schauspielers Konrad Ekhoff, die mit dem Datum 27. Oktober 1710 versehen war. Die Ortsangabe auf dem Manuskript „Pretz“ (vermutlich für Pretzsch in Sachsen), der Schwiegervater von Ekhoff, der Wanderschauspieler Spiegelberg, einige inzwischen verschollene Quellen und einige Textstellen des deutschen Hamlets, lassen vermuten, dass das Manuskript aus dem Umfeld der Schauspieltruppe von Magister Johann Velt(h)en, den Kurfürstlich Sächsischen Hofkomödianten, stammt. Einige Motive der deutschen Version (vor allem das theatrum mundiMotiv, das Hamlet anführt40) weisen zudem auf deutlich barocke Wurzeln. In der älteren Forschung wird sogar die These vertreten der deutsche Hamlet sei schon Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden.41 Magister Velten, der erste Akademiker auf der Wanderbühne, der erste, der sich in Deutschland Prinzipal nannte und Lope de Vega, Molière, Gryphius und Shakespeare aufführte, war eine umstrittene und streitbare Gestalt, dem etwa in Hamburg und Leipzig das Abendmahl verweigert wurde. Aus seiner Truppe ist das erste deutsche Porträt eines Berufsschauspielers, die Abbildung Christian Janetschkys als Pickelhäring, überliefert. Dieser könnte im deutschen Hamlet den Hofnarren „Phantasmo“ oder den Komödianten „Carl“ gegeben haben. Der Name des Prinzipals, der bei Shakespeare ja nicht vorkommt, könnte eine Anspie-

39 Der bestrafte Brudermord oder Prinz Hamlet aus Dänemark [Deutscher Hamlet, 1710]. In: Die Schauspiele der englischen Komödianten. Hg. W[ilhelm]. Creizenach. In: Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe. Hg. Joseph Kürschner. Berlin und Stuttgart [1888], Bd. 213, S. 125-186. 40 Vgl. Frau Magister Velten verteidigt die Schaubühne. Schriften aus der Kampfzeit des deutschen Nationaltheaters. Hg. Ludwig Körner, o.O. 1940. Bl. Cr [S. 11]. 41 Vgl. Reinhold Freudenstein: Der bestrafte Brudermord. Shakespeares ‚Hamlet’ auf der Wanderbühne des 17. Jahrhunderts. Hamburg 1958, S. 83-95. 128

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lung auf Carl Andreas Paulsen sein, dessen Truppe sich Velten 1675 anschloss und dessen Tochter er zu dieser Zeit in Lübeck ehelichte. Natürlich kann man den deutschen Hamlet kaum mit Shakespeares Original vergleichen;42 er ist kürzer, weniger komplex und setzt insgesamt stärker auf das körperakzentuierte Spiel der deutschen Wanderbühne. Für unseren Zusammenhang – dem Wechsel von narrativen und dramatischen Präsentationsweisen – erscheint eine Passage relevant, die bei Shakespeare gänzlich fehlt. Eine solche Ergänzung ist angesichts der zum Teil massiven Kürzungen in Wanderbühnen-Varianten erstaunlich, zumal sie zur Handlung selbst überhaupt nichts beiträgt. Vor der Aufführung des Metadramas zur Überführung des Vatermörders, werden auch im deutschen Hamlet die Schauspieler zum richtigen Spiel angehalten. Anders als in der englischen Version animiert Carl nicht so sehr zum ‘natürlichen Spiel’, auch wenn das Stück die berühmte Spiegelmetapher aus Shakespeares Hamlet43 variiert, sondern setzt auf die Macht der Masken und Kostüme einerseits und auf die vraisemblance andererseits. Auch hier überhört man kaum die spätbarocken Akzente. Ähnliches gilt für die Szene, die uns interessiert: Denn den erhofften Erfolg des geplanten Schauspiels erläutert Hamlet in der deutschen Version mit einem analogen Exempel; das heißt, er erzählt konkret von der moralischen oder psychischen Wirkungsweise eines Schauspiels auf einen Rezipienten;44 ich zitiere Hamlets Wort zu Horatio: Die Comödianten treffen oft mit ihren erdichteten Dingen den Zweck der Wahrheit. Höre, ich will dir eine artige Historie erzählen: In Teutschland hat sich zu Straßburg ein artiger Casus zugetragen, indem ein Weib ihren Mann mit einem Schuhpfriemen durchs Herze ermordet, hernach hat sie mit ihrem Hurenbuhler den Mann unter der Thürschwelle begraben, solches ist neun ganzer Jahr verborgen geblieben, bis endlich Comödianten allda zukamen und von dergleichen Dingen eine Tragödie agirten; das Weib, welches mit ihrem Mann auch im Spiel war, fängt überlaut (weil ihr das Gewissen gerühret wurde) an zu rufen, und schreyt: o weh, das trifft mich, denn also hab ich auch meinen unschuldigen Ehemann ums Leben

42 Hierzu vgl. zusammenfassend: Ralf Haeckel: Die englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung in Ursprünge des deutschen Berufsschauspiels. Heidelberg 2004, S. 212-223. 43 Bei William Shakespeare: „to hold as `thwere the mirror up to nature“ (Hamlet. Hg. Holger M. Klein. Stuttgart 1984, Szene III,2, Bd. 1, S. 170), der deutsche Hamlet mahnt zu sehr „accurat[em]“ (Deutscher Hamlet [wie Anm. 39], S.163) Spiel: „denn man kann in einem Spiegel seine Flecken sehen“ (S. 164). 44 Hierzu vgl. jetzt Haeckel (wie Anm. 42), S. 222. 129

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gebracht. Sie raufte ihre Haare, lief aus dem Schauspiel nach dem Richter, bekannte freiwillig ihren Mord, und als solches wahrhaft befunden, wurde sie in großer Reue ihrer Sünden von denen Geistlichen getröstet, und in wahrer Buße übergab sie ihren Leib dem Scharfrichter, den Himmel aber befahl sie ihre Seele.45

Dem Theaterstück folgt eine Inszenierung vor Gericht, diesem das Schauspiel der Hinrichtung: ‘Das ganze Leben ist ein Spiel.’ Ich zweifle nicht daran, dass man diese oder eine ähnliche Geschichte in einer der Curiositäten-Sammlungen des späten 17. Jahrhunderts oder in den beliebten Klatschrelationen46 hat lesen können. Eine zum Teil vergleichbare Mord-Episode findet sich in den Memoiren der Glückl von Hameln, die zwischen 1691 und 1719 entstanden sind.47 Unter der Türschwelle wurde nach seiner Ermordung durch Orest und Hermione auch Pyrrhos vergraben, eine Analogie, die vielleicht den begrenzten Wert des Gattenmordes anzeigt. Dieser Stoff wurde von Euripdes und vor allem Racine 1667 auf die Bühne gebracht.48 Für unsere Fragestellung ist die Herkunft dieser Geschichte aber nicht sonderlich relevant. Zu fragen ist vielmehr, welche Funktion diese Erzählung von der Wirkung eines Theaterstücks in der sonst deutlich verknappenden Shakespeare-Adaptation hat. Warum erzählt Hamlet also diese Geschichte? Natürlich möchte er auf der Ebene der Diegese mit einem historischen Beispiel belegen, dass ein Theaterstück im realen Leben eine Conversio hervorrufen kann. Bekannt geworden ist in dieser Hinsicht ja die Geschichte von der Erstaufführung des Cennodoxus von Jakob Bidermann (1602), die zum Masseneintritt in den Jesuitenorden geführt haben soll. Erinnern könnte die Stelle auch an die ersten Gerüchte von Shakespeare-Aufführungen oder Lesungen Anfang des 18. Jahrhunderts. In Barthold Feinds Gedanken von der Opera von 1708 lesen wir, dass die Zuschauer, „wenn sie des renommierten Englischen Tragici Shakespear Trauer=Spiele verlesen hören / efft lautes Halses an zu schreyen gefan-

45 Deutscher Hamlet (wie Anm. 39), 165. 46 Vgl. Markus Fauser: Klatschrelationen im 17. Jahrhundert. In: Wolfgang Adam u. a. (Hg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Wiesbaden 1997, Bd. 1, S. 391–399. 47 Vgl. Memoiren der Glückl von Hameln [Glikl bas Judah Leib], Übersetzung aus dem Westjiddischen von Bertha Pappenheim, nach der Ausgabe von David Kaufmann 1896. Faksimile der Ausgabe von 1910, Weinheim 2005. 48 Vgl. Jean Racine: Andromaque. Paris 1668. 130

ERZÄHLTES UND ERZÄHLENDES THEATER

gen / und häufige Thränen vergossen“ hätten.49 Die Wirkung auf die Ehefrau wird ja im deutschen Hamlet ganz ähnlich beschrieben. Schließlich (und damit komme ich zum Wesentlichen) gelingt es mit der metadramatischen Intarsie ein zentrales Problem der Theatertheorie plausibel zu machen. Die Erzählung zeigt, dass ein Drama genau dann besonders nachhaltig wirkt, wenn sich der Zuschauer mit dem Protagonisten identifiziert. Die Wirkung des erzählten Schauspiels auf die Mörderin hängt davon ab, dass sie sich im Stück wiedererkennt, sich also in der Protagonistin wiederfindet. Dieser Mechanismus soll im Hamlet auf der Ebene des Dramengeschehens erprobt werden; für das Wanderbühnen-Publikum soll sie hier – wie es in den Poetiken des späten 17. Jahrhunderts üblich ist – anhand eines Exempels erläutert werden. Das erzählte Theater dient also nicht nur der Vorbereitung des Metadramas in der Hamlet-Handlung, sondern hat darüber hinaus eine wichtige poetologische Funktion, ja, vermittelt ein Stück Theatertheorie. Diese erlangt – wie bei Brecht und Piscator – deshalb Gehör, weil die Wirkung eines Dramas nicht vorgeführt, sondern außerhalb der eigentlichen Diegese erzählt wird: das ‘erzählte Theater’ übernimmt hier also Funktionen des ‘epischen Theaters’. Die Theorie, die es vermittelt, demonstriert freilich genau das Gegenteil: Die Illusionskraft der Bühne, die als dramaturgisches Ziel so dem deutschen Hamlet eingeschrieben wird. Shakespeare wird diese Reflexion vermutlich nicht nötig gehabt haben, die Konkurrenzsituation in der deutschen Theaterszene des Spätbarocks zwingt aber zur Erziehung des eigenen Publikums. * Anhand von drei Textproben aus dem 17. Jahrhundert wollte ich die Funktionen von erzählendem und erzähltem Theater herausarbeiten. Gezeigt werden sollte, inwieweit implizite Medienwechsel oder gattungsbezogene Formen der Intermedialität die ästhetische Imagination bestimmen und reflektieren. Anders als man es vielleicht für die Vormoderne erwartet, bekommt die Illusionserzeugung als dramaturgisches Problem hierbei eine Schlüsselstellung. Während bei Klaj durch die epischen Passagen die Illusionsfähigkeit des Dramas narrativ erweitert wird, diskutiert Rist in seiner Theatererzählung die Grenzen der dramatischen Illusionsfähigkeit. Wenn Hamlet schließlich ein Drama auf der Bühne erzählt,

49 Barthold Feind: Deutsche Gedichte. Faksimiledruck d. Ausg. v. 1708. Hg. W. Gordon Marigold, Bern, Frankfurt/M. 1989, S. 109. Feinds Belegstelle ist der Essai de la Poesie von Chevalier de Temple, der einige Jahre vorher erschienen ist. 131

DIRK NIEFANGER

kommt episches und erzähltes Theater zusammen. Die perfekte Illusionserzeugung, die essentielle Identifikation des Zuschauers mit dem Protagonisten, kann so als ästhetisches Ziel außerhalb der Theaterillusion, aber während der Handlung proklamiert werden.

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HOGARTHS METHODE AUF DER BÜHNE. LICHTENBERG, GARRICK UND DER „PROSAISCHE MALER“ ROMAN LACH Nach der Rückkehr von seiner zweiten Englandreise notiert Georg Christoph Lichtenberg 1776 in einem seiner Sudelbücher: Was für ein Werck liese sich nicht über Shakespeare, Hogarth und Garrick schreiben. Es ist etwas ähnliches in ihrem Genie, anschauende Kenntniß des Menschen in allen Ständen, anderen durch Worte, den Grabstichel, und Gebärden verständlich gemacht.1

Lichtenbergs zweite Englandreise steht ganz unter dem Zeichen eines Projektes, das ebenfalls auf den Erwerb anschauender Erkenntnis des Menschen ausgerichtet ist. Lichtenberg wird in London zum programmatischen Beobachter des Lebens der Metropole. Er besucht Ausstellungen und Theater, die Schlösser des Königs und Fabriken und Sternwarten, das Parlament und das Irrenhaus. Er trifft hohe Politiker und Prostituierte, Gelehrte und Pfarrer, erfährt Tagespolitik als etwas, das quer durch alle Schichten diskutiert wird. Bei dieser Begegnung mit einer in den deutschen Kleinstaaten vollkommen unbekannten Öffentlichkeitskultur sind ihm Shakespeare, Hogarth und Garrick hilfreiche Vergils, die ihm den Schlüssel zum Verständnis der inkommensurablen Eindrücke liefern. Gleichzeitig überprüft er an der Wahrnehmung die Methode, die die drei ihm an die Hand geben, eine Methode, die Kenntnis des Menschen erbringt und vermittelt. Denn London ist ihm die Schule, in der man das wird, was Garrick und Hogarth auf ihren Gebieten sind: Welt- und Menschenkenner.

1

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. Wolfgang Promies, Bd. 1, Sudelbücher 1, Heft F, Eintr. 37, S. 466. Hier zitiert nach: Lichtenberg in England. Dokumente einer Begegnung. Hg. Hans Ludwig Gumbert, 2 Bde. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1977, Bd. 1, Vorwort, S. XXX. 133

ROMAN LACH

Fast alle die neueren englischen Schriftsteller, die man bey uns so sehr liest, nachahmt und nachäfft, waren seine [Garricks] Freunde. Er half sie bilden, so wie sie ihn wiederum bilden halfen. Der Mensch lag seinem beobachtenden Geiste offen, von dem ausgebildeten und ausgekünstelten in den Sälen von S. James’s an, bis zu den Wilden in den Garküchen von S. Gilles’s. Er besuchte die Schule, in welche Shakespear gieng, wo er ebenfalls, wie jener, nicht auf Offenbarungen paste, sondern, studirte (denn in England thut das Genie nicht alles, wie in Deutschland) London meyne ich, wo ein Mann mit solchem Talent zur Beobachtung seinen Erfahrungssäzen in einem Jahr leicht eine Richtigkeit geben kann, wozu kaum in einem Städtchen, wo alles einerley hofft und fürchtet, einerley bewundert und einerley erzählt, und wo sich alles reimt, ein ganzes Leben hinreichend wäre. [...] ich wundere mich, daß London nicht mehrere bildet, ich meyne nicht mehrere Garricke oder Hogarthe oder Fieldinge, sondern Leute, die zwar etwas anderes wären, aber es so würden wie jene.“2

Was lernt man in der Schule, in die auch Shakespeare gegangen ist? Welt- und Menschenkenntnis sind einem Aufklärer teure, aber ganz unterschiedlich zu fassende Begriffe, die für alles Mögliche stehen können. Bei Lichtenberg stehen sie für ein Programm, für eine neu zu gründende Wissenschaft, die „Pathognomik“, die Deutung psychophysischer Zustände aus Gesichts- u. Körperbewegungen, die er zu einer Semiotik der Affekte ausarbeiten will. Obwohl der Begriff von Lavater kommt, geht es Lichtenberg um ein Gegenprogramm zu dessen Physiognomik, dessen Kern nach Hans-Georg von Arburg in dem Vorwurf besteht, dass Lavater die Zeichen selbst zugunsten ihrer vermeintlichen Voraussetzung übergehe, einer im Grunde nur intuitiv zu erfassenden „Seele“ oder „Wesenheit“, die sich hinter der Physiognomie verberge: Lavater lese den Körperausdruck, der als Zeichenkonfiguration vor ihm liege, nicht eigentlich, sondern überspringe vielmehr den zu lesenden ‚Text‘ und unterschlage damit die Schwierigkeiten der Lektüre im Vertrauen auf die Untrüglichkeit intuitiven Verstehens. Lichtenbergs Einwand, Lavater schließe „nicht etwa von langem Unterkinn auf Form der Schienbeine, oder aus schönen Armen auf schöne Waden“, sondern „spring[e] und stolper[e] von gleichen Nasen auf gleiche Anlagen des Geistes“ (SB III, 276), ist, so gesehen, mehr als ein witziges Aperçu. [...] Dieses wechselseitige Verhältnis einzelner physiognomischer Zeichen aber ist deshalb entscheidend, weil Lichtenberg erkennt, daß Ausdruckswerte – das

2

Lichtenberg in England (Anm. 1), Bd. 1, S. 348-349. 134

HOGARTHS METHODE AUF DER BÜHNE

heißt die Bedeutung einzelner dieser Zeichen – stets korrelativ beziehungsweise differentiell zustande kommen.“3

Die „Lesbarkeit“ der Hogarthschen Darstellungen ist ein Topos der Rezeption des 18. Jahrhunderts. Charles Lamb nimmt diese Tradition 1811 nur in romantisierender Perspektive erneut auf, wenn er Hogarths Bilder als Bücher charakterisiert, die man lese, nicht anschaue.4 Bereits Lessing, der im Laokoon ja auf eine Trennung der Zeichensysteme von bildender Kunst und Literatur aus ist, nennt doch in einem Fragment über die Möglichkeit einer prosaischen, also erzählenden Malerei, die sich willkürlicher statt natürlicher Zeichen bediene, als einzigen Künstler namentlich Hogarth.5 Für Lichtenberg wird die Auseinandersetzung mit Hogarth als pathognomische Lektüre zu einem unendlichen Prozess, bei dem kein Ende absehbar ist und keine endgültige Entzifferung in Aussicht steht: „For ever reading never to be read“ notiert er am 30. Oktober 17786: Die anthropologische Semiotik ist eine unendliche Wissenschaft und findet ihren Sinn im Prozess des Deutens und Enträtselns selbst. In dieser Hinsicht hat schon Hogarth selbst in seiner Analysis of beauty die Betrachtung eines Bildes als Jagd nach Bedeutung beschrieben, bei der letztlich keine Beute zu machen sei: Diese Liebe zum Verfolgen nur um des Verfolgens willen gehört zu unserer Natur und dient zweifellos nötigen und nützlichen Zwecken. Tiere haben sie augenscheinlich durch Instinkt. Der Jagdhund verschmäht das Wild, dem er so eifrig nachspürte, und selbst Katzen lassen ihre Beute fahren, um ihr noch einmal nachzujagen.7

3

4

5 6 7

Hans-Georg von Arburg: Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren. Göttingen (Wallstein) 1998, S. 110. „His graphic representations are indeed books: they have the teeming, fruitful, suggestive meaning of words. Other pictures we look at, - this prints we read.“ (Charles Lamb: On the Genius and Charakter of Hogarth. With some Remarks on a Passage in the Writings of the Late Mr. Barry, in: ders.: Critical Essays, hg. v. William Macdonald (Works Bd. 3), London 1903, S. 106. Lessing: Paralipomena zum Laokoon. 26. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2 (1766-1769), S. 312. Lichtenberg: Sudelbücher 1 (Anm. 1), S. 626. Hogarth: Analyse der Schönheit (d. i. Analysis of beauty). Aus dem Englischen von Jörg Heininger. Mit einem Nachwort von Peter Bexte. Dresden, Basel: Verlag der Kunst o. J., S. 60-61. 135

ROMAN LACH

Diese natürliche Lust am Verfolgen erklärt Hogarth mit der Eigenschaft des Auges, das Zusammenhänge nur durch unausgesetzte schnelle Bewegung erfasse, das Ganze eines Satzes durch sehr schnelles sukzessives Erfassen der Buchstaben, das Ganze einer Schlangenlinie durch Verfolgen ihrer „Verwicklung“. Anders als Lessing sieht Hogarth also auch das Erfassen eines Bildes, genauso wie das Lesen eines Textes als prozessualen, zeitlichen Vorgang und die Freude an der Bewegung um ihrer selbst willen ist ihm letztendlich in der Schlangenlinie, der „line of beauty“ Grundlage seines Begriffs des Schönen und der Kunst überhaupt. An ihr exemplifiziert sich Kunstwahrnehmung als Zeiterfahrung, als Bewegung, als Tätigkeit der Einbildungskraft. Hogarths Schönheitslinie ist weniger Ornament, Überbleibsel barocker Ästhetik (obwohl sie durch das Ornament, die elegante Schwingung eines Stuhlbeins, die anmutige Armhaltung eines Tänzers, repräsentiert wird), als ästhetisches Prinzip, Kategorie einer von der Imagination her gedachten Ästhetik.8 Nichts anderes führt Lichtenberg in seinen Beschreibungen der Hogarthschen Kupferstiche vor, wenn deren Lesbarkeit für ihn Anlass zu einem potenziell unendlich fortsetzbaren Interpretationsprozess ist. Jedes Detail wird von ihm als Teil eines komplexen Beziehungsgeflechts gelesen, das nicht mehr auf die Erfassung eines Augenblicks im Bild zielt, sondern auch dessen Vorher und Nachher erfasst. Werner Busch hat in einem Aufsatz über zwei Tafeln der Marriage à la mode aufgezeigt, wie hier ein sensualistisch-mechanistisches Weltbild zum Stifter eines Zusammenhangs der Dinge wird, in dem Bedeutung nur noch relativ ist und Deutung eine Aufgabe der Einbildungskraft wird, eine Verknüpfungsleistung.9 Über all dies ist also bereits erschöpfend geschrieben worden. Interessant ist, dass für Lichtenberg der Schauspieler Garrick eine ähnliche Bedeutung hat wie Hogarth, ja mehrfach, wie sich bereits gezeigt hat, werden beide in einem Atemzug genannt. Als ein Erweckungserlebnis geradezu vermerkt er bereits im Tagebuch der Englandreise die Darstellung des Hamlet durch Garrick, ein Eindruck, den ein zweiter Besuch im Theater nur noch bestätigen und steigern wird. 8

9

Auch Charles Lamb bringt Hogarths Kunst – in Abgrenzung vom Klassizismus eines Poussin – in Verbindung mit Coleridges Konzept einer synthetisierenden Tätigkeit der Einbildungskraft: „There is more of imagination in it – that power which draws all things to one“. Lamb (Anm. 4), S. 110. Werner Busch: Hogarths Marriage à-la-mode. Zur Dialektik von Detailgenauigkeit und Vieldeutigkeit. In: Marriage à-la-mode. Hogarth und seine deutschen Bewunderer. Hg. Martina Dillmann und Claude Keisch. Katalog Berlin: G und H-Verlag, 1998, S. 71-83. 136

HOGARTHS METHODE AUF DER BÜHNE

Den 2ten December [1774] hatte ich das Glück endlich einen meiner vorzüglichsten Wünsche erfüllt zu sehen an diesem Tage spielte Garrick die Rolle des Hamlet und ich habe ihn mit meinen Augen gesehen. Alle die Scenen wo er und der Geist zusammenkommen sind unbeschreiblich, sie sind von dem gewöhnlichen unterschieden wie das Leben von dem Tod.10

In einem Brief an Heinrich Christian Boie, den er im Oktober 1775 schreibt, und der ein regelrechter Essay über Garrick ist, heißt es über dessen Interpretation einer anderen Rolle, die Figur sei hier „aus der Absicht des Dichters abstrahirt, durch die ausgebreiteste Kenntniß individualisierender Umstände verbessert, und von der obersten Galerie herab leserlich ausgedrückt.“11 Abstraktion und Lesbarkeit sind Kategorien, die mit einem lebendigen, mitreißenden und einfühlsamen Spiel zunächst wenig zu tun zu haben scheinen. Aber Garrick ist für Lichtenberg eben mehr als nur Schauspieler. Auffällig lang hält sich Lichtenberg mit der Geschicklichkeit und Beweglichkeit von Garricks Körper auf, dem jede Gliedmaße wie eine rechte Hand zur Verfügung stünde. „In seinem Gesichte sieht jedermann [...] den glücklichen schönen Geist auf der heitern Stirne, und den wachsamen Beobachter und witzigen Kopf [...]. Seine Minen sind bis zur Mittheilung deutlich u. lebhaft.“12 Garrick verfügt völlig frei über seinen Körper, der ihm deshalb ein vollkommenes Ausdrucksmittel ist. Sowenig für Lichtenberg an Garrick irgendetwas Charakteristisches zu sein scheint, so wenig interessiert ihn, was seine Darstellung über Individualität oder Charakteranlage der verkörperten Figur verrät. Vielmehr richtet sich seine Aufmerksamkeit auf die Weise, in der Garrick Eindrücke in lesbare Gesten transformiert. So kann der Schauspieler Garrick für Lichtenberg zur lebendigen Widerlegung von Lavaters Physiognomik werden. Er führt Charaktere nicht als Naturprodukte vor, sondern als Produkte von Erfahrungen, Vorstellungen und Assoziationen, zeigt sie als Gegenstand einer Kette von Zuständen. Hierin ist er für Lichtenberg eine regelrechte Vermittlungsmaschine zwischen Werk, Welt und Publikum. Einen Hauptteil des Briefs an Boie macht die Beschreibung von Garricks Darstellung des Hamlet aus – insbesondere der Szene der ersten Begegnung mit dem Geist des Vaters. Hier arbeitet er seine Tagebuchnotizen zu mehreren Aufführungen zu einer eindrucksvollen Schilderung des Garrickschen Spiels aus, die die berühmte Schilderung derselben Szene beim Theaterbesuch des Schulmeisters Partridge im Tom Jones (der Folie aller Auseinandersetzungen mit der Ästhetik theatralischer 10 Lichtenberg in England (Anm. 1), Bd. 1, S. 46. 11 Ebd., S. 344-345. 12 Ebd., S. 347-348. 137

ROMAN LACH

Nachahmung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, etwa bei Lessing, im 7. Stück der Hamburgischen Dramaturgie) nicht ersetzen, sondern nur erklären soll, wie Lichtenberg schreibt. So wie man im Tom Jones „die wechselnden Gefühle, die man am Hamlet sah“, genauso auch am Schulmeister beobachten konnte13, gibt auch Lichtenberg eine minutiöse Detailbeschreibung der Bühnenvorgänge in Wechselwirkung mit der Beobachtung der eigenen Reaktion und der des Publikums als eine Gesamtschau des Zusammenhangs von Rollenidentität, Schauspielerleistung und deren Wirkung auf die Einbildungskraft: [...] das Theater ist verdunkelt und die ganze Versammlung von einigen tausenden, wird so stille, und alle Gesichter so unbeweglich, als wären sie an die Wände des Schauplatzes gemalt; man könnte am entferntesten Ende des Theater eine Nadel fallen hören. Auf einmal, da Hamlet eben ziemlich tief im Theater, etwas zur Linken, geht und den Rücken nach der Versammlung kehrt, fährt Horazio zusammen: Sehen Sie, Mylord, dort kommts, sagt er, und deutet nach der Rechten, wo der Geist schon unbeweglich hingepflanzt steht, ehe man ihn einmal gewahr wird. Garrick, auf diese Worte, wirft sich plötzlich herum und stürzt in demselben Augenblicke zwey bis drey Schritte mit zusammenbrechenden Knien zurück, sein Hut fällt auf die Erde, die beyden Arme, hauptsächlich der linke, sind fast ausgestreckt, die Hand so hoch als der Kopf, der rechte Arm ist mehr gebogen und die Hand niedriger, die Finger stehen auseinander und der Mund offen, so bleibt er in einen großen aber anständigen Schritt, wie erstarrt, stehen, unterstützt von seinen Freunden, die mit der Erscheinung bekannter sind, und fürchteten, er würde niederfallen; in seiner Miene ist das Entsetzen so ausgedruckt, daß mich, noch ehe er zu sprechen anfing, ein wiederholtes Grausen anwandelte. Die fast fürchterliche Stille der Versammlung, die vor diesem Auftritt vorherging, und machte, daß man sich kaum sicher glaubte, trug vermutlich nicht wenig dazu bey.14

Gerade in solchen Szenen der Begegnung mit dem Übernatürlichen muss Garrick die Zeitgenossen besonders beeindruckt haben. Vielfach wurde er in solchen Szenen porträtiert – als Hamlet und, sicher am berühmtesten und eindrucksvollsten, durch Hogarth als Richard III. Auch für Lichtenberg sind es diese Szenen der Geisterbegegnung, an denen sich die Besonderheit von Garricks Spiel am augenfälligsten zeigt. Die Realität der Geistererscheinung zeigt sich nämlich gerade nicht in 13 Henry Fielding: Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings. Deutsch von Roland U. und Annemarie Pestalozzi unter Benutzung der Übersetzung von Johann Christoph Bode aus den Jahren 1786 bis 1788. Hg. Norbert Miller. München (Hanser) 1966, S. 947. 14 Lichtenberg in England (Anm. 1), Bd. 1, S. 350. 138

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der physischen Präsenz des Toten auf der Bühne sondern in der Wirkung dieser Erscheinung auf Hamlet, die Garrick in expressiven Gesten zum Ausdruck bringt. So wird die Begegnung mit dem Geist zur Gelegenheit einer Veräußerlichung innerer Vorgänge, einem Moment, in dem sich das Funktionieren der menschlichen Einbildungskraft als Vermittlungsinstanz zwischen Sinnlichkeit, Vernunft und Körper erfassen lässt. So wie Partridge erklärt, er sei eigentlich nicht von dem Geist selbst in Schrecken versetzt worden, sondern „als ich den kleinen Mann so entsetzlich erschrocken sah, hat mich das angesteckt“15, so geht auch für Lichtenberg die besondere Wirkung der Theatervorstellung nicht vom bloßen Zeigen aus, sondern von der Übertragung von Vorstellungen durch deren Sichtbarmachung in Mimik und Gestik des Schauspielers. Garrick zeigt die Geisterbegegnung als Vorgang der Einbildungskraft und überträgt sie als solche. Anders als in den Kupferstichen Hogarth besteht so die Erklärung des Schauspiels nicht in der bloßen Analyse der Zeichen, sondern die Zeichen übertragen zugleich auch Affekte, die Lichtenberg mitbeschreibt. Faszinierend an seiner Schilderung ist, dass er einerseits darstellt, wie Garrick den Schauder des Übernatürlichen als Fiktion vorführt, und zugleich den eigenen Schauder und den der Menge und alles zusammen als Wechselwirkung beschreibt. Virtuos wechselt er dabei die Perspektive, indem er den Vorgang einmal aus der Fiktion heraus als Handlungen Hamlets beschreibt, einmal als Theaterereignis – und im Gang der Schilderung beides vermischt. Das beginnt bereits damit, dass die Zuschauer in gebannter, angstvoller Erwartung selbst zum Kunstwerk werden, wie gemalt erscheinen, bevor das Ritual auf der Bühne sich vollzieht. Einen Großteil der Wirkung der Szene macht diese Erstarrung des Publikums aus, wie Lichtenberg erklärt. Nicht allein die Bühne, sondern der Innenraum des Theaters als ganzer wird zum Gegenstand dieser pathognomischen Studie. Im Zusammenhang mit diesem Theatererlebnis hatte Lichtenberg im Tagebuch notiert: „Garrick und Shakespeare haben sich in einem dritten im Menschen einander erkannt.“16 Das heißt jedoch nicht, dass es Lichtenberg hier um den Ausdruck unverstellter Menschlichkeit oder Natürlichkeit in einem rousseauistischen Sinne ginge. Auffällig ist, trotz aller Ergriffenheit von der Unmittelbarkeit der Darstellung, die Betonung des Anständigen und Schönen in Garricks Körperhaltungen und Bewegungen. Lichtenberg geht es nicht um Authentizität der Darstellung sondern um die Genauigkeit der Zeichen, mit denen Garrick die inneren Zustände

15 Fielding (Anm. 12), S. 947. 16 Lichtenberg in England (Anm. 1), Bd. 1, S. 50. 139

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Hamlets zum Ausdruck bringt. Die Abfolge seiner statuarischen Posen bezeichnet eine Abfolge von Seelenzuständen und soll sich jederzeit an den Ansprüchen bildender Kunst messen lassen können. Es sind tableaux vivants, lebende Bilder. Dass Lichtenbergs Betrachtungsmaßstab dabei tatsächlich die bildende Kunst ist, zeigt sich, wenn er im Tagebuch anmerkt: Der Stellung in welche Garrick bei Erblickung des Gespenstes fällt, fehlt nicht[s] als das aufgehobene Haupt um einem Mahler zum Muster bei einem Saul, Saul was verfolgst du mich zu dienen. Hier kommt das Schrecken nicht vom Himmel, sondern der Ort von dem es kommt ist nicht höher als Hamlet, es ist kein Engel und kein Gott, sondern ein Gespenst.17

Werner Busch hat in Das sentimentalische Bild aufgezeigt, wie in der Kunst des 18. Jahrhunderts ikonographische Schemata, die bisher sakral konnotiert waren, profaniert werden und als Kompositionsmuster, Stellung oder Geste zu unterschiedlich kombinierbaren Zeichen werden.18 Eine Zeichenschrift der Bildzitate ergibt sich daraus, die nicht unbedingt parodistischen oder gar blasphemischen Charakter hat. In der fünften Tafel aus Hogarths Marriage à la mode etwa entdeckt Busch Zitate aus Rembrandts Petersburger Kreuzabnahme, die hier aber in völlig unheiligem Zusammenhang zitiert werden, handelt es sich doch um die Darstellung der beim Ehebruch überraschten Gräfin und des von seinem Nebenbuhler im Duell getöteten Grafen, Resultat einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Verbindung von Besitzbürgertum und degeneriertem Adel. Man könnte nun davon ausgehen, dass hier nur ein älteres, barockes Verfahren Anwendung findet, das in der Travestie des Heiligen das Frevelhafte des Vorgangs herausstellt und den Frevel darstellbar macht. Dabei würde die Sakralität des Zeichens selbst eher betont als in Frage gestellt. Busch bezweifelt das. Für ihn ist Hogarth „ein Lukasjünger ganz ohne Heiligkeit“19, der die Formen der klassischen Kunst als bloße Zeichen verwendet, ohne Glauben an ihren Gehalt. Für Lichtenberg scheint dies ebenfalls zuzutreffen, wenn er im Falle Garricks eine ganz gleichgeartete ikonographische Übereinstimmung der Gesten feststellt. Beim Vergleich der Geisterbegegnung im Hamlet mit der Bekehrung des Paulus interessiert ihn offenbar weniger die Kluft zwischen Pose und Gehalt, zwischen deren Anlässen – Gott oder Gespenst –, als die Gleichartigkeit der psychischen Erfahrung, die aus der 17 Ebd., S. 50. 18 Vgl. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München: Beck, 1993. 19 Werner Busch: Hogarths Marriage à-la-mode. (Anm. 9), S. 81. 140

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Vergleichbarkeit der Stellungen geschlossen werden kann, der Schrecken vor dem Unerwarteten und Übernatürlichen, welcher Herkunft auch immer. Das Verbindende zwischen Saulus und Hamlet liegt in der Gleichartigkeit ihres inneren Zustands, die sich in gleichen Stellungen zeigt. Dabei greift Lichtenberg, wie auch Hogarth und Garrick selbst, durchaus auf überkommene Affekttypologien zurück. Alastair Smart hat bereits 1965 darauf aufmerksam gemacht, dass Gérard de Lairesse in seinem Groot Schilderboek von 1707 Gesten als Zeichen für bestimmte Affekte vorschreibe, die auch von Hogarth und Garrick noch verwendet würden, so die erhobene Hand mit gespreizten Fingern als Zeichen der Überraschung.20 Schauspieleranweisungen des 18. Jahrhunderts, wie Thomas Wilkes General View of the Stage von 1759 orientierten sich laut Smart an den Gesten und Stellungen, wie sie dort für die Malerei vorgeschrieben seien oder übernähmen auch die Gesichtsausdrücke, die der Hofmaler Ludwigs XIV., Charles Le Brun, in seinem Traité des Passions vorgeschrieben habe. Wenn Zeitgenossen also immer wieder die Lesbarkeit des Garrickschen Minen- und Gestenspiels bewunderten, so sei darunter vor allem dessen Reproduktion eines lange tradierten und deshalb jedermann verständlichen Repertoires konventioneller Haltungen zu verstehen. Dasselbe gelte für Hogarth. Wenn das 18. Jahrhundert von lesbaren Bildern spreche, so heiße das, dass das System verbindlicher Zeichen, das das 17. Jahrhundert festgelegt habe, noch immer für gültig erkannt würde. Während Smart also den traditionellen Charakter der Hogarthschen Ausdruckssprache betont hatte, prononciert Busch deren Modernität. Für Smarts Lesart, zumindest in Bezug auf Garricks gespreizte Hand, scheint zunächst der Umstand zu sprechen, dass die meisten Darstellungen des Damaskuserlebnisses, sei es die berühmteste, von Caravaggio, oder sei es die des Manieristen Niccolò del Abbate, bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassung der Dramatik oder Stille des Vorgangs, die Handhaltung des Saulus verbindet. Da wo er eindeutig noch Saulus ist, ist sie abwehrend ausgestreckt, die Finger sind gespreizt. Nur Mittel- und Ringfinder stehen, antiken Vorbildern für eine schöne Handhaltung entsprechend, zusammen. In Lichtenbergs Beschreibung ist nun diese Handhaltung von entscheidender Prominenz. „die beyden Arme, hauptsächlich der linke, sind fast ausgestreckt, die Hand so hoch als der Kopf, der rechte Arm ist mehr gebogen und die Hand niedriger, die Finger stehen auseinander“21 schreibt Lichtenberg an Boie. Im Tagebuch hatte er hierzu noch ge-

20 Alastair Smart: Dramatic Gesture and Expression in the Age of Hogarth and Reynolds. In: Apollo 82 (1965), S. 90-97. 21 Ebd. S. 350. 141

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schrieben: „die Hand fast flach mit ausgespreizten Fingern. Ich brauche Worte von deren Bedeutung im strengsten Verstand der denckende Leser selbst wieder abnehmen muß, um dem Bild ideelle Schönheit zu geben.“22. Das Bild der gespreizten Finger bereitet ihm offenbar Schwierigkeiten, denn es steht im Widerspruch zu seinem Anspruch, dass Garricks Darstellung, aus der Naturbeachtung entwickelt, immer zugleich in Übereinstimmung mit den Regeln der Schönheit stehe. Zugleich entspricht diese Beschreibung einer (in Stichen weit verbreiteten) Darstellung Garricks, die Lichtenberg gekannt haben muss, auch wenn er sie nirgends beschreibt: William Hogarths Garrick als Richard III. Für Alastair Smart erweist sich an diesem Portrait, das zugleich Schauspielerbild und Historiengemälde ist, die die Kunstgrenzen übergreifende Gültigkeit des Gestenkodex’, durch den Malerei und Schauspiel in der gleichen Weise lesbar sind. Garricks Gesichtsausdruck ist eine Synthese aus Le Bruns Horreur und Admiration, und es wäre zu fragen, inwiefern nicht allein schon diese Synthese zweier entgegengesetzter Affekte in einem Gesicht einen Bruch mit der barocken Typologie bedeutet. Hogarth sagt selbst im Kapitel über die Gesichtszüge seiner Analysis of beauty: Sollte man aber glauben, ich würde wie ein Physiognom zu stark auf das äußere Aussehen achten, so bedenke man, daß es sehr viele verschiedene Ursachen gibt, die zu gleichartigen Bewegungen und Erscheinungen in den Gesichtszügen führen, und daß sehr viele Zufälligkeiten auf die Bildung des Gesichts einwirken. So wird im ganzen gesehen das alte Sprichwort ‚fronti nulla fides‘ immer seine Gültigkeit behalten.23

In der Berufung auf den Zufall zeigt sich, wie groß Hogarths Vorbehalte gegenüber der Typisierung und Festlegung der Körper- und Gesichtssprache auf verbindliche Zeichen denn doch sind. Diese Vorbehalte laufen aber nun gerade nicht auf eine Ablehnung der Lesbarkeit der Körperzeichen hinaus, sondern veranlassen Lichtenberg vielmehr, von einem komplexeren Zeichensystem auszugehen. Lichtenberg muss so genau sein in der Beschreibung der Garrickschen Darstellung, weil jedes Detail ein Hinweis auf eine individuelle Besonderheit, eine Abweichung ist. Unter Hogarths Gemälden nimmt Garrick als Richard III. eine herausragende Stellung ein. Zum ersten Mal wird hier, wie Frederick Antal aufgewiesen hat, ein Theaterbild – allein bereits durch das gewaltige

22 Ebd. S. 62. 23 Hogarth: Analyse der Schönheit (Anm. 7), S. 175. 142

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Format – ganz als Historiengemälde aufgefasst.24 Und zum ersten Mal wird das Einzelportrait eines Schauspielers in dieser Weise in einen szenischen Zusammenhang gesetzt, in dem zudem die dargestellte Situation zwar einen hohen Grad von Theatralik besitzt, die sich aber in nichts von der üblichen Theatralik des historischen Genres abhebt und in der nichts an die Bühnenhaftigkeit des abgebildeten Gegenstandes erinnert: das links im Hintergrund erkennbare, an Salvator Rosa gemahnende Feldlager mit den um ein Lagerfeuer gruppierten Wachsoldaten suggeriert eine real sich in die Tiefe erstreckende Landschaft. Zugleich ist das Bild aber ausdrücklich eine Darstellung einer Person ALS historische Gestalt. Und zwar nicht im Sinne barocker Personifikation, wo bestimmte Tugenden des Dargestellten allegorisch repräsentiert werden sollen, sondern als Darstellung der Arbeit eines Schauspielers. Das zeigt zum einen die enorme Aufwertung, die dieser Beruf durch Garrick (und allerdings zumeist auch auf diesen beschränkt) erfahren hat. Zum andern zeigt sich in der Wahl eines erzählenden Moments von großer emotionaler Expressivität auch ein anthropologisches Interesse, das dem Interesse Lichtenbergs an Garrick vergleichbar ist. Hogarth zeigt Garrick als Richard III. in einem Moment des Übergangs: Von einem Wahn in den nächsten übergehend, von der Traumvision, in der ihm die Geister der von ihm gemordeten Konkurrenten erscheinen zur Halluzination der antizipierten Schlacht, in dem Moment also, wo die Vision, der Alptraum in körperliche Aktion übergeht. Das Interesse an solchen Übergangsmomenten ist zunächst einmal sensualistisch bedingt. Die Frage, wie Ideen und innere Bilder sich in Bewegung, in Körperregungen umsetzen, beschäftigt Hogarth auch in seiner Analysis of Beauty. Die Komposition folgt dem heroischen Stil eines barocken Klassizismus à la Le Brun: zwei Diagonalen kreuzen sich in der quer hingestreckten Figur Garricks/Richards, der soeben aus dem Traum aufzu24 Vgl. Frederick Antal: Hogarth and his Place in European Art. London 1962, S. 68-69. Offenbar hat Hogarth diesen Doppelcharakter zwischen Schauspielerportrait und Historiengemälde in der Marketingkampagne für den Kupferstich zu diesem Gemälde bewusst herausgestellt. Während das Bild selbst sich in allen seinen Attributen geradezu überdeutlich in die Tradition der heroischen Historiendarstellung in der Tradition Carraccis, Poussins oder Le Bruns einreiht, zeigt der Subskriptionszettel eine Malerpalette, die zwischen Shakespeares Text und einer tragischen Theatermaske aufgehängt ist (vgl. Mark Hallett: Katalogtext zu David Garrick as Richard III. In: Hogarth. Katalog zur Ausstellung der Tate Britain. Hg. Mark Hallett, Christine Riding etc. London (Tate Publishing) 2006, S. 204. 143

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schrecken scheint. Mit der einen Hand wehrt er noch die Alptraumbilder ab, mit der andern greift er bereits nach dem Schwert, um sich in den imaginären Kampf zu stürzen. Links und rechts von Garrick sind elegant die Vorhänge des Zeltes drapiert und zeichnen die Haltung der Figur nach: der linke Vorhang die Linie von Bein und Oberkörper, der rechte folgt dem nach dem Schwert greifenden Arm und der Linie des Hermelinsaums von Richards Mantel. Auf diese Weise wird die Figur von dem Zelt umschlossen (an den beiden über ihr hängenden Troddeln erkennt man, dass das Zeltdach an der Vorderseite da, wo der obere Bildrand es abschneidet, noch weiter in den Vordergrund ragen muss). Mary F. Klinger hat dieses Zeltmotiv auf die bekannteste Zeltdarstellung, die es in jener Zeit in einem Historienbild gab, zurückgeführt.25 Charles Le Bruns Alexander im Zelt des Darius. In der Tat gibt es Parallelen in der Komposition, in beiden Bildern nimmt das Zelt rechts etwa zwei Drittel des Bildes ein. Gleichzeitig wird auch hier eine Dreiecksfigur eingefügt. Aber wo das Zelt bei Le Brun raumstrukturierend wirkt, die Gruppe der Familie des Darius zusammenfasst und vereinheitlicht, ist das bei Hogarth anders. Obwohl die Figur vom Zelt ganz eingefasst wird, wird sie durch grelles Schlaglicht, wie von einem Blitz erhellt, aus dieser Umhüllung herausgerissen, scheint wirklicher, gegenwärtiger und näher am Betrachter als ihre Umgebung. Das Zelt ist oben abgeschnitten. Durch diesen Trick kann Hogarth das Zelt als ein Mittel zur Verwirrung der Raumverhältnisse einsetzen, statt zu deren Klärung. Eine dynamische Spannung zwischen Auge und Vorstellung wird aufgebaut, die Unruhe statt klassische Ruhe stiftet. Wenn der Betrachter mit dem Auge von der Troddel, die den vordersten Punkt des Zeltdachs markiert, eine Linie nach unten zieht, so erscheint Garricks Kopf hinter dieser, also im Inneren des Zeltes, die Hand aber weit davor (auch wenn wir den Blick vom linken Vorhang zur Hand bewegen, ergibt sich dieser Effekt). Die Hand scheint aus dieser Umrahmung hervorzuragen. Genau in der Mitte des Bildes ist sie mit weit gespreizten Fingern dem Betrachter entgegengereckt. In noch helleres Licht getaucht, als die übrige Figur, scheint sie mit dieser Gebärde blanken Entsetzens aus dem Bild zu ragen, die ästhetische Grenze des Bildes zu durchbrechen. Sie holt das historisch Entrückte ins unmittelbar Gegenwärtige. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zu früheren Darstellungen einer derartigen Handhaltung. Die diffuse Raumsituation zwingt das Auge permanent zur Bewegung zwischen einzelnen Markierungspunkten, um die räumliche Situation in der Vorstellung immer wieder neu zu konstituieren. Und

25 Mary F. Klinger: Hogarth and eighteenth century drama. Diss. New York Univ. 1970, S. 133-136. 144

HOGARTHS METHODE AUF DER BÜHNE

stets aufs Neue endet diese Bewegung wieder bei der Hand, die immer wieder nach vorne zu springen scheint. Wenn hier also auch ein fest determiniertes Zeichen der Typenlehre Verwendung findet, so wird es hier nicht mehr nur zur Denotierung eines festgelegten Affekts verwendet: Überraschung oder Entsetzen, sondern es drückt diesen Affekt selbst aus, vermittelt ihn, überträgt ihn auf den Betrachter. Anders als in seinen Kupferstichen ist Hogarth hier nicht mehr nur Analytiker, der aus der Distanz Zusammenhänge herstellt und aufzeigt, er löst hier Distanz auf, rückt dem Betrachter regelrecht zu nahe, in dem er die Figur ihren Rahmen durchbrechen lässt. 1767, zwei Jahre nach Hogarths Tod, wird Garrick diesem eine Komödie widmen, The Clandestine Marriage, die zumindest in ihrer Ausgangssituation eine Dramatisierung der Marriage à la Mode ist. Im Prolog zu dieser Komödie bekennt sich der Autor zum Diebstahl bei seinem Freund, dem Maler und definiert das gemeinsame Ziel beider Künste in der Nachzeichnung der Natur: Poets and Painters, who from Nature draw Their best and richest Stores, have made this Law: That each should neighbourly assist his Brother, And steal with Decency from one another.26

Doch gemeinsam sind beiden Künsten nicht die Mittel, sondern die Gegenstände ihres Bemühens. Poesie und Malerei schilderten beide gleichermaßen „morals and mankind“ ab, täten dies jedoch von unterschiedlichen Seiten her: „Both labour for one end, by different means“. Der grundsätzliche Unterschied beider Künste bestehe – und hier wird deutlich, dass Garrick, wenn er von Dichtung spricht, Theaterdichtung meint, mehr noch: auf der Bühne dargestellte Theaterdichtung – in der zeitlichen Ausdehnung ihrer Wirkungen: But he who struts his Hour upon the Stage Can scarce extend his Fame for Half an Age; Nor Pen nor Pencil can the Actor save, The Art, and Artist, share one common Grave.27

Zugleich aber wird das Transitorische der Schauspielkunst zu ihrer Legitimation: Denn sie zeige nicht nur Sitten und Handlungen auf wie 26 David Garrick, George Colman: The Clandestine Marriage. Hg. Noel Chevalier, Peterborough (Broadview Press) 1995, S. 41. 27 Ebd. (die Kursivsetzung bezeichnet ein Zitat aus Macbeth V/5). 145

ROMAN LACH

Hogarth – sie ist das Leben selbst. So vergänglich die Eindrücke, die sie hervorruft, so heftig und unvergesslich sind sie auch. The greatest Glory of our happy few, Is to be felt, and be approved by YOU.28

Dass die Nachwelt „dem Mimen keine Kränze“ flicht, macht den Glanz, nicht das Elend seiner Kunst. Denn der Ehrgeiz des Schauspielers ist nicht auf die Nachwelt, nicht auf die Ewigkeit gerichtet. Sein Ruhm ist ein Ruhm des Augenblicks, liegt unmittelbar in den Empfindungen, die sein Spiel beim Zuschauer auslöst. Die Legitimation des Theaters wird hier nicht beim Stück und seinem Inhalt gesucht, sondern in die Schauspielkunst selbst verlegt. Garricks ausdrucksvolles Spiel der Hände wurde immer wieder gelobt. In Hogarths Gemälde wird die Hand geradezu zum Synonym seines Spiels. In ihr kulminiert die reale Gegenwärtigkeit seiner Vision, die psychologische Spannung, die sich in dieser Hand ausdrückt, ist gegenwärtiger als alle historischen Reminiszenzen, die als stilllebenhafte Staffage über das Bild verteilt sind. Ganz ungewöhnlich für Hogarth sind diese Dinge nämlich der Figur im Bild untergeordnet, geben keine zusätzlichen Bedeutungen und auch keine Rätsel auf. In diesem Bild scheint Hogarth seine Kunst zu messen an dem, was sein Freund 20 Jahre später als Essenz der Schauspielkunst definieren wird: die absolute Gegenwärtigkeit, die Vergänglichkeit und Augenblickshaftigkeit ihrer Hervorbringungen, finden ihre Entsprechung in der Haltlosigkeit, der sich das Auge beim Betrachten dieses Bildes ausgesetzt sieht. Die Wirkung auf den Betrachter, die Lichtenberg als Schauder beschrieb, der das ganze Theater ergreift, wenn Garrick die Bühne betritt, wird hier mit den Mitteln der Malerei angestrebt, verewigt und zugleich einem dynamischen Prozess ausgesetzt. Wo die Einbildungskraft herangezogen wird als Fähigkeit, Bild- und Textzeichen in zeitliche und räumliche Beziehung zueinander zu setzen, ist die Lesbarkeit der Bilder nicht mehr nur Allegorese, die in der Verbildlichung eines Weltbilds ihre Basis hätte, sondern wird zur prozessualen Interpretationspraxis, zur Wechselwirkung zwischen sinnlicher Wahrnehmung, Einbildungskraft und Verstand. Die „line of beauty“ ist die gleitende Bewegung des Auges entlang der kompositorischen Linien des Bildes wie entlang der Reihe der Buchstaben in Shakespeares Text, aber sie ist auch die unsichtbare Linie zwi-

28 Ebd., S. 42. 146

HOGARTHS METHODE AUF DER BÜHNE

schen der panischen Gebärde Garricks und dem entsetzten Auge Partridges im Raum des Theaters.

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NOVALIS’ SPRACHKÖRPER. ZUR INTERMEDIALITÄT DES LEIBES. GREGOR SCHWERING

Vom menschlichen Leib zu sprechen, ist heutzutage nicht unbedingt gewöhnlich. Meist wird die Vokabel als ein Synonym zu ‚Körper‘ begriffen und auch so verwendet: Man schreibt z.B. ‚Leib‘, wenn man im Satz zuvor schon ‚Körper‘ geschrieben hatte, sich also nicht unmittelbar wiederholen will. Dennoch kann beides auch dezidiert voneinander unterschieden werden und darin fruchtbare Ergebnisse liefern. Namentlich die moderne Phänomenologie hat dazu einiges und Wegweisendes beigetragen.1 Wie allerdings ist diese Differenz strukturiert? Wie muss man sie sich vorstellen? Und welchen Ertrag bringt sie genau? „Das Phänomen des Leibes eröffnet“, registriert etwa Bernhard Waldenfels, „keinen bloßen Gegenstandsbereich, sondern der Leib selber wirkt zurück auf die Zugangsweise, in der uns dieses oder jenes begegnet.“2 In dem Sinne reicht „die Leiblichkeit bis in die Rede und bis in die Satzbedeutung“ hinein.3 Das aber hat Konsequenzen, da für den Moment des Sprechens oder Schreibens nicht mehr ein souverän mit den Zeichen umgehender Geist oder dessen Bewusstsein im Zentrum steht, der oder das sich seines Körpers als eines Werkzeug bedient bzw. diesen im Buchstabengitter hinter sich lässt. Oder allgemeiner formuliert: So wie die Sprache vom Leib ausgeht, ist der Leib durch die Sprache benannt; so wie die Sprache ohne den Ort ihrer Artikulation keine wäre, bliebe der Leib als Unbenannter ein Phantom. Es ist mithin nicht so, dass die Sprache ein nur abstraktes Regelwerk mit diversen Möglichkeiten der Anwendung, der Leib nur eine diesem System wesentlich äußerliche Plattform solcher Anwendungen ist. Beide ‚Pole‘ geraten vielmehr in eine Gemengelage 1

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Vgl. beispielsweise Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt/Main 2000. Hier finden sich auch Zitate insbesondere aus und einführende Kommentare zu Edmund Husserls und Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. 149

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oder Intermedialität,4 die sich, das ist meine These, allein analytisch entwirren lässt. Mit dieser Schwierigkeit einher geht die Spannung des Leibes als eines nicht nur biologischen Körpers: Wenn er zugleich Bezeichnetes wie Bezeichnender ist oder sein kann, wenn ich von meinem Körper nur zu sprechen in der Lage bin, insofern er darin schon mitspricht, spannt sich ein Leibraum auf, der den Körper aus dessen Objektivität verschiebt: Der Leib ist in solcher Hinsicht immer schon mehr als ein Ding, welches sich auf seine organischen Funktionen festlegen lässt. An Stelle dessen sprengt der Leib, da er über eine nur passive, allein von einem Intellekt her gesteuerte Körperlichkeit hinausweist, also auch aktiv in seine Umgebung ausgreift, gewisse Schemata auf: Körper und Geist (oder: Leib und Seele, Psyche und Soma) können nicht länger als voneinander getrennt betrachtet werden – weder gibt es einen Leib, der bar jeder Vernunft wäre noch einen unkörperlichen Geist. Vielmehr müsste von einer der Vernunft impliziten Leiblichkeit oder einem Wissen des Körpers gesprochen werden, die sich nicht sofort in festgelegte Bahnen aufspalten, da sie sich chiastisch ineinander verschlingen.5 Somit möchten die im folgenden präsentierten Lektüren von Schriften des Novalis Leib und Sprache als je schon verknüpfte Seiten eines intermedialen Prozesses analysieren, in dem die sog. ‚Materialität der

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Vgl. aktuell zur ‘Intermedialität’: Intermedialität Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen. Hg. von Joachim Paech und Jens Schröter. München 2008 sowie Joachim Paech: Intermedialität. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. Franz-Josef Albersmeier. Stuttgart 42001, S. 447-475 und Jens Schröter: Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs. In: montage/av 2 (1998), S. 129-154. Im Sinne des oben Gesagten möchte ich ‘Intermedialität’ in Anlehnung an Schröters Befund zu einer Intermedialität (allerdings der technischen Medien) wie folgt verstehen: „Vielleicht bedeutet dies alles anzuerkennen, dass nicht die einzelnen Medien primär sind und sich dann inter-medial aufeinander zu bewegen, sondern dass die Intermedialität ursprünglich ist und die klar voneinander abgegrenzten ‘Monomedien’ das Resultat gezielter und institutionell verankerter Zernierungen, Einschnitte und Ausschlussmechanismen sind.“ (ebd., S. 149) Vgl. dazu auch zur Position des Leibes im Spannungsfeld zwischen Bild und Text vom Verf.: Ästhetik des Fleisches. Fragen zu einer Theorie gestellt an Bret Easton Ellis, René Magritte und Maurice Merleau-Ponty. In: Ästhetische Positionen nach Adorno. Hg. Gregor Schwering und Carsten Zelle. München 2002, S. 167-190 (hier: S. 167172). Vgl. dazu Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (hg. von Claude Lefort). Übersetzt von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1986, S. 326-333. 150

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Kommunikation‘,6 einerlei, ob sie als Materialität der Zeichen oder sprechakttheoretisch (‚how to do things with words‘) gedacht wird, auf ein grundsätzlicheres Moment verwiesen ist: Wie kommt der Leib zur Sprache? – wobei die hier eingezogene Doppelbödigkeit der Frage ihre Problematik nicht verschleiert, sondern sie eher präzisiert: Wie wird über den Leib gesprochen und inwiefern hat er selbst an seiner Erzählung teil.

1. Sprache Beginnen wir aber mit dem, jedenfalls in der allgemeinen Wahrnehmung, offensichtlicheren Medium, d.h. mit der Sprache. Was qualifiziert diese, ist hier die Frage an Friedrich von Hardenberg zu stellen, als Medium? Es wäre also nach dem bzw. einem Punkt zu fahnden, der das Mediale als Zwischenraum einführt, der es ihm damit gestattet, etwas auszusagen.7 Novalis notiert: „Sollte das höchste Princip […] [e]in Satz sein, der schlechterdings keinen Frieden ließe – der immer anzöge, und abstieße – immer von neuem unverständlich würde, so oft man ihn auch verstanden hätte? Der unsre Thätigkeit unaufhörlich rege mache, ohne sie je zu ermüden, ohne je gewohnt zu werden?“8 Das Licht, das hier auf die Sprache fällt, scheint sie vor allem zu entmachten: Was nämlich ist das für eine Sprache, die zum Schluss vor sich selbst kapitulieren muss, die einzusehen gezwungen ist, das ihr gerade dann, wenn es darauf ankommt, wenn es um die Nennung des ‚höchsten Prinzips‘ geht, die Worte fehlen? Oder: Wie anders (als eben) wäre es zu verstehen, dass das höchste Prinzip zwar ein „Satz“, eine nach den Regeln der Sprache verfasste Wendung ist, die als solche jedoch und im Grunde „unverständlich“ bleibt: So oft die Sprache sich der Unverständlichkeit zu bemächtigen versucht, so oft entgleitet diese solchem Zugriff, um weiterhin Unfrieden zu stiften. Entscheidend dabei ist, dass der Satz, obwohl unverständlich, nichtsdestoweniger ein Satz ist. Insofern er das Universum der Sprache aushöhlt, verlässt er es dennoch nicht: Ein Satz, der annährend gelesen – „so oft 6

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Zum Stichwort als „Suchbegriff“ vgl. den umfangreichen und nach wie vor instruktiven Band Materialität der Kommunikation. Hg. Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/Main 1988 (Zitat: S. 915). Vgl. Georg Christoph Tholen: Medium ohne Botschaft. Aspekte einer nicht-instrumentellen Medientheorie. In: Nummer 4/5 (1996), S. 102-112 (hier: S. 111f.). Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. Paul Kluckhohn und Richard Samuel Bd. 2 (hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz). Stuttgart 21965, 523f. 151

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man ihn auch verstanden hätte“ –, nie allerdings ganz ergründet werden kann, stellt keineswegs eine alle Wegmarken überschreitende Wendung dar. Vielmehr indiziert er eine innere Grenze der Sprache, d.h. jenen Punkt, an dem diese sich einerseits unendlich ausdehnt, andererseits dennoch, da sie irgendwann unverständlich wird, unterbrochen ist. In dem Sinne gibt der Satz, der „immer anzöge, und abstieße“,9 keine Ruhe und geht in keine Gewöhnung über, weil er die Sprache insgesamt betrifft. Nicht nur erschüttert er sie dann, wenn sie das „höchste Princip“ zu sagen und es folglich zu kassieren trachtet. Außerdem macht er deutlich, dass dies im Allgemeinen so ist, da sich die Sprache nicht schließen kann. In der Hinsicht birgt dann jeder Satz einen Teil der Unverständlichkeit, welche die Sprache sich an ihrem Rande und Abgrund einfängt. Das aber ist mitnichten ein nur beklagenswerter Umstand des Austauschs, es gestattet ebenso dessen Fruchtbarkeit: Der Satz, „[d]er unsre Thätigkeit unaufhörlich rege mache“, warnt davor, die Sprache zu einem Selbstläufer verkommen zu lassen, d.h. in ihr die Macht zu entfesseln, die sich, indem sie auf Offenheit verzichtet, von den Dingen abtrennt und darin ein Universum schafft, das nur vorgeblich in Bewegung bleibt. Mit anderen Worten: Laut Novalis ist es der Riss oder die Aufspaltung an der Wurzel der Sprache, der oder die es ihr erlaubt, ein Medium zu sein. Bedingung dafür ist, dass sie ein Netz von Verbindungen stiftet, das seinen Nutzern „schlechterdings keinen Frieden ließe“. Vor das gelungene Gespräch oder den präzisen Austausch, also die Versprachlichung und Erfassung von Lebenswelt, ist demnach eine Unschärfe geschaltet, die gleichwohl in diesen Prozessen nicht verschwindet, da sie „immer von neuem unverständlich würde“. Das muss jeglicher „Theorie des Zeichens“ oder jeder Spekulation darüber, was denn „durch das Medium der Sprache wahr seyn [kann]?“ zugrunde gelegt werden.10

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Novalis Konzept erinnert hier an die Funktion des dynamisch Erhabenen bei Immanuel Kant, das ja ebenfalls ein Grenzwert ist, wenn es die Einbildungskraft an ihren „Abgrund“ führt: „Das Gemüt fühlt sich in der Vorstellung des Erhabenen in der Natur bewegt […]. Diese Bewegung kann (vornehmlich in ihrem Anfange) mit einer Erschütterung verglichen werden, d.i. mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen eben desselben Objekts. Das Überschwengliche für die Einbildungskraft (bis zu welchem sie in der Auffassung der Anschauung getrieben wird) ist gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet […].“ (ders.: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werkausgabe. Hg. Wilhelm Weischedel. Bd. X, S. 181; Hervorhebung im Original gesperrt; G.S.) 10 Novalis: Schriften Bd. 2, 108. Vgl. dazu Alice A. Kuzniar: Delayed Endings. Nonclosure in Novalis and Hölderlin. Athens (Georgia)/London 1987, S. 97. 152

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Ganz praktisch aber resultiert daraus dies – Hardenberg schreibt: „Über die Natur des Worts. Jedes Wort hat seine eigenthümliche Bedeutung, seine Nebenbedeutungen, seine falschen, und durchaus willkührlichen Bedeutungen.“11 Die „Natur“ eines Worts ist keine vollkommen bestimmte, vielmehr passt es sich vielfältig ein. Je nach Kontext, je nach Möglichkeit der Assoziation, je nach Gebrauch changiert es als Möglichkeit der Benennung. Vor und mit diesem flexiblen, offenen Horizont entsteht der Raum, in dem sich die Sprache – „Natur“, die sie in diesem Stadium ist – um die Dinge legt, d.h. ihnen einen Namen zuspricht.12 Darin markieren die „Sprachzeichen“ zwar eine Differenz,13 sie sind aber noch „nicht specifisch“, betont Novalis, „von den übrigen Phaenomèns unterschieden“:14 So schützen sie den Rest einer Unregelmäßigkeit, mit der die Dinge ihr Eigengewicht behalten – da die Sprache ihnen in der Benennung nicht zu nahe tritt, die Koppelung lose bleibt, können die Dinge sich der Sprache und in ihr mitteilen.15 Das ist die eine Seite der Sprachzeichen, die Hardenberg beschreibt. Die andere Seite stellt er in den Logologischen Fragmenten so vor: „Die ganze Sprache ist ein Postulat.“16 Damit betreten wir den Raum der Sprache, der selbige auf eine Konvention verpflichtet: Man muss „sich einverstehen, bey gewissen Zeichen gewisse Dinge zu denken“. Als Postulat oder Forderung „bildet“, sagt Novalis, sich die Sprache zum „Ausdruck der Idee der Organisation, zum System […]“. Indem sie sich aber durchgreifend ordnet sowie abstrakt wird, verliert sie den Rest des (Ab-) 11 Ders.: Schriften Bd. 2, S. 277. 12 Entscheidend ist hier, „pointiert gesagt, dass der Ausdruck dem Gedanken voraufliegt, dass die Sprache Sinneffekte erzeugt, statt dass ein jenseits der Sprache liegender Sinn deren Bedeutung garantiere.“ (Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 212 [Hervorhebung von mir; G.S.]) 13 „Was zur Sprache kommt, wohnt nicht in der Sprache.“ (Bernhard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4. Frankfurt/Main 1999, S. 33) 14 Novalis: Schriften Bd. 3. Hg. R. Samuel in Zusammenarbeit mit H.-J. Mähl und G. Schulz. Stuttgart 21968, S. 450. 15 „Jede Aussage ist also eigentlich ein Wagnis, zugleich riskant und bewundernswert […].“ (Jurij Striedter: Die Fragmente des Novalis als ‘Präfigurationen’ seiner Dichtung. München 1985, S. 85) Weiterhin ist sie – eingebunden in eine Mitteilung der Dinge – von jeder Beliebigkeit weit entfernt. 16 Novalis: Schriften Bd. 2, S. 558 (folgende Zitate ebd.). Striedter kommentiert diesen Satz wie folgt: „In jedem Akt des Sprechens bekundet sich die Fähigkeit des Menschen Postulate aufzustellen, an sich nicht gegebene Identitäten zu setzen und im Glauben an diese seine Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen.“ (ders.: Die Fragmente des Novalis, S. 85) 153

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Grunds und der Zerstreuung, die sie selbst zum Phänomen macht und zwischen die Phänomene stellt. In seinem berühmten Monolog findet der Dichter dafür die folgenden Worte: „Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner.“17 Hier zeigt sich der Selbstbezug der Sprache ungebrochen und es ist ihr routinierter Gebrauch, der ihn herstellt: Die „Leute“, die sich tagtäglich mit und in ihr verständigen, die meinen, darin ‚Dinge‘ zu verhandeln und zu bewegen, sind so fest in diese Konvention eingebunden, dass sie sie nicht einmal mehr ignorieren. Schon vorauseilend – ohne es zu wissen – setzen sie das „Eigenthümliche“ der Sprache, d.h. sie gehen davon aus, dass diese sich in sich selbst fügt und daher alles mit ihr gesagt werden kann. Vor den Umgang mit den Dingen, vor deren Benennung als Versuch, sie in ihrer Mitteilung, ihrer Signatur zu respektieren, ist nun eine Automatik des Austauschs getreten, deren „Formularwesen“ (Novalis) derart einschlägig und gewöhnlich geworden ist, dass es bereits unbewusst funktioniert. Nichts muss man mehr erklären, keine Regel ist zu legitimieren. Vielmehr sind die Worte immer schon und quasi natürlich zur Hand. Das ist der Schein, in dem die Sprache die Dinge zu Vehikeln formt, um nunmehr für sich zu sein. Aber, fährt der Text fort, „will er [einer; G.S.] […] von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.“ Die wurzellose Sprache kann nur zu sich zurückkehren und läuft darin leer bzw. zeigt an, dass diese Leere einer Perversion entspricht. Ihr „furchtbares Geheimniß“ als das, was die Leute nicht wissen, wird so und vorerst nur beiläufig offenbar: Dass die Sprache sich und sie eingeschlossen hat. Dabei stellt jedoch dieser Umstand eine Möglichkeit dar, ihm auch zu entkommen. Es ist gerade die erhöhte Aufmerksamkeit für das „Eigenthümliche“ der Sprache, dafür, dass ihre „Formeln“ nur „mit sich selbst [spielen]“, für das also, was alle anderen in ihrem naiven Gebrauch der Sprache vergessen, welche zu einem „feine[n] Gefühl“ für deren „Applicatur“, deren „Takt“, für „das zarte Wirken ihrer innern Natur“ führen kann. Die Sensibilität für die Wirkmacht der Sprache, d.h. für die Möglichkeit, in ihr einen vollendeten Selbstbezug in Szene zu setzen, verhindert es, „von der Sprache selbst zum Besten gehalten“ zu werden. Denn indem diese Erkenntnis die Reinheit der 17 Ders.: Schriften Bd. 2, S. 672 (folgende Zitate ebd.). Der Einfluss des Monologs auf Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief ist bekannt und wurde von letzterem auch freimütig eingeräumt. Beiden Texten strukturell gemeinsam ist ihr „Sprechen über das Sprechen“ (Striedter: Die Fragmente des Novalis, S. 129). Aber auch die direkte Ähnlichkeit einiger Passagen ist verblüffend. 154

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Sprache zum Gegenstand nimmt,18 die Konvention sozusagen auf die Spitze treibt und sie somit dem Vergessen entreißt, macht sie Platz für das „fein[e] Gefühl“ einer „Eingebung der Sprache“: Der Rekurs auf das Erhabene der Sprache, ihr „[W]underbares“ oder höchstes Prinzip, d.h. ihren Selbstbezug, artikuliert unversehens das „furchtbare Geheimnis“, den Selbstentzug, das/der darin verborgen liegt. Von da aus aber kann die Gefahr des Entzugs gleichfalls relativiert werden, wenn nun die Sprache nicht länger als Maß aller Dinge, vielmehr als Eingebung, als Gabe vom Anderen her gedacht wird. Auf dem Spiel steht in der Folge die andere Seite der Sprache als deren Anbindung an und Einbindung in jenes prekäre, „seltsame Verhältnißspiel der Dinge“, mit dessen „freien Bewegungen“ sich „die Weltseele [äußert]“ und „zu einem zarten Maaßstab und Grundriß“ wird. So aber – in der Wendung zu einer Medialität als Mitteilung des Anderen – bewegt sich die Sprache aus der Gewöhnung und Gewöhnlichkeit fort.19 Zwar lässt sie als Hort des, wie der Monolog sagt, ‚Seltsamen‘,20 ihre Nutzer in dem Riss, der sie durchquert, nicht in Frieden, doch gewährt sie gerade dabei die Chance für einen produktiven Umgang mit ihr. Ist die Konvention erst einmal gelöst, „könnte dies ja

18 Novalis zieht hier eine Analogie zur Mathematik. Zu Novalis „’Mathematisierung’“ der Sprache vgl. Winfried Menninghaus: Es „liegt die Pointe der romantischen ‘Mathematisierung’ gerade nicht im Austreiben des – die reine sprachfreie Vernunft trübenden – Eigensinns der Sprache. Sie zielt vielmehr umgekehrt auf eine sowohl technische wie philosophische Sicherung der irreduziblen Produktivität der Sprache.“ (ders.: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt/Main 1987, S. 82) oder (mit ähnlicher Stoßrichtung) Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 21992, S. 220 und Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 192. 19 „Sie muss […] instrumentelle Funktionen ablegen wie die der Verständigung in der Alltagskommunikation oder die des Abbildens in einer Literatur, die sich als ‘Nachahmung’ der Wirklichkeit versteht“. (ebd.) Oder anders: „Die Sprache kehrt zurück in die Welt, von der sie spricht“. (Manfred Frank: Das Problem ‘Zeit’ in der deutschen Romantik. Zeitbewusstsein und Bewusstsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. München 1972, S. 230) Vgl. auch den Hinweis auf das Porträt einer Sprache der Aufklärung, das Novalis im bösen Schreiber des ‘Klingsohr-Märchens’ im Heinrich von Ofterdingen zeichnet bei Detlef Kremer: Romantik. Stuttgart/Weimar 2001, S. 189f. oder Pikulik: Frühromantik, S. 232. 20 Und: „Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache […].“ (Novalis: Schriften Bd. 2, S. 672) 155

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am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein“.21 Ohne mein Wissen, das ist der Punkt. Denn die Erweiterung des Bewusstseins im Gespür für ein Anderes der Sprache bedingt keinen Zuwachs an bewusster Handlungsmacht: Etwas in und an der Sprache ist auch nach deren Ausweitung, nach dem Erkennen der Konvention unaufklärbar. In diesem Sinne wird es, das sei hier noch im Vorgriff gesagt, für Hardenberg die Poesie sein, die an diesem Ort gestärkt einrückt. Es existiert demnach eine Magie der Sprache, die genau nicht in einer ‚Ordnung der Dinge‘ als deren unumschränkte Sagbarkeit und vollendete Festigkeit beschlossen liegt. Folglich steht eine Ausdrucksweise auf dem Programm, die nicht gewillt ist, vom Staunen über die und in der Sprache zu lassen. Und so schreibt Novalis im Allgemeinen Brouillon: „Überall liegt eine grammatische Mystik, wie mir scheint zu Grunde – die sehr leicht das erste Erstaunen über Sprache und Schrift erregen konnte. (Die wilden Völker halten die Schrift noch jezt für Zauberey.)“22 Das Staunen über Sprache und Schrift haben sich allein die „wilden Völker“ bewahrt, die ‚zivilisierten‘ hingegen vergessen es. Solchermaßen fundiert, sind jegliche „Erklärungen“, so meint Hardenberg, lediglich „verdaute Geheimnisse.“23 Jene achten diese nicht und verlieren daher den Boden unter den Füßen. Das Resultat daraus ist eine Automatisierung der Kommunikation, die einem allgegenwärtigen ‚Formularwesen‘ entspricht. Zwar garantiert die Sprache darin einen gewissen Austausch, doch ist sie zu einem leb- und reglosen Akt verkommen. Zwar hat man ihr ihr Geheimnis ausgetrieben, doch wird man darin nun permanent und in gesteigerter Form „zum Besten gehalten“. Für den Dichter geht es hier darum, in Vermeidung der ‚Verdauung‘ ein Geheimnis, indem man von ihm spricht oder schreibt, zugleich sein zu lassen. Das aber meint noch keineswegs, die „Mystik“ in Esoterik ausarten zu lassen, d.h. einem kruden Animismus der Sprache das Wort zu reden. Ebenso wenig steht der umgekehrte Fall, eine letzte Opazität der Dinge ‚an sich‘, zur Debatte, da laut Hardenberg die Dinge deut- und benennbar, nicht aber in ihrer darin – innerhalb dieser Beziehungen – uneinholbar andrängenden Andersheit verhandelbar sind. Was jedoch konkret mit dem Hinweis auf ein ‚Geheimnis‘ in Frage steht, ist, erstens, dass das Sprechen der Sprache vom Akt der Erklärung zunächst zu entlasten ist, da, zweitens, die Sprache dort zum reinen Vehikel zu werden droht.

21 Ebd., S. 673. 22 Novalis: Schriften Bd. 3, S. 267. 23 Ebd., S. 267. 156

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2. Tonschrift Explizit gegen diese Faktoren wendet sich Novalis, wenn er eine andere, eine, mit einem seiner bevorzugten Worte, „ächte“ Performanz der Sprache ins Spiel bringt: „Unser Alphabet ist eine TonSchriftkunst und noch obendrein von einem individuellen Instrumente, dem menschlichen Sprachwerckzeugssystem. Allgemeines, reines Schriftsystem – und besondre, abgeleitete Schriftsysteme. (vid. das Zahlensystem.) Noten.“24 Diese Aussage ist in ihrer Komplexität nun gar nicht zu unterschätzen. Gehen wir deshalb der Reihe nach vor: Nicht allein veranschlagt die Notiz für die Sprache diverse Ebenen – das wäre noch keineswegs ungewöhnlich –, sondern vermengt diese im Wort der „TonSchriftkunst“ zu einer. Allerdings scheint es mit der Vereinigung auch nicht so einfach, wenn zwischen Ton und Schrift ebenso eine Lücke klafft: Beide wollen sich, das ‚S‘ in ‚Schrift‘ indiziert es, nicht recht in die Mischung fügen. So aber wird es schwierig, die „TonSchriftkunst“ mit den im Text gleichfalls genannten „Noten“ eng zu führen. Sie ist nicht schlicht mit der Kunst des Komponisten, eine Partitur zu erstellen, identisch. Vielmehr sieht es so aus, als wäre zumindest der Schrift, da sie sich im Wort durch ihre Majuskel merklich abhebt, noch eine weitere Rolle zugedacht. Dies könnte ein erster Anhaltspunkt für die Lektüre sein. Ein zweiter ergibt sich sofort aus dem folgenden Satzteil, in dem Novalis das „menschlich[e] Sprachwerckzeugssystem“ in den Blick rückt: Als „TonSchriftkunst“ erweist sich dieselbe mit der Stimme verknüpft. Dass letztere dabei nicht unproblematisch, also als dienendes Werkzeug markiert ist, zeigt sowohl der Hinweis auf deren Individualität als auch der auf das „Sprachwerckzeugssystem“, den Sprechapparat. Dort verschränkt sich die Stimme in ihrem Tonfall mit den Organen, die sie/ihn erzeugen. Impliziert demnach die „TonSchriftkunst“ eine Leiblichkeit? Wie aber verbindet sich diese mit Ton und Schrift? Der zweite Teil des Texts rekurriert dann auf ein „[a]llgemeines, reines Schriftsystem“, das er von „abgeleitete[n]“ unterscheidet. Allerdings: Geht eine solche Verbindung von einesteils Mischungs-, andernteils Trennungsverhältnissen zusammen? In der Aufzeichnung sind sie zwar durch einen Absatz voneinander geschieden, dennoch aber innerhalb des Notats direkt nacheinander gestellt. Was hat es dabei mit der Schrift auf sich, da sie ja auf beiden Seiten der Aussage eine wegweisende Position – als buchstäblich hervorstechendes Element sowie als allgemeiner Anhaltspunkt – besetzt? Die „TonSchriftkunst“ verknüpft Ton und Schrift und hebt somit die Trennung zwischen der stillen Schrift und den hörbaren Tönen auf. 24 Ebd., S. 283. 157

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Nehmen wir zunächst letztere ins Visier: Die Hinwendung der Romantiker zur Musik auch als Sehnsucht nach einer neuen Sprache ist ein Allgemeinplatz, der sich ebenso bei Novalis findet: „Unsre Sprache – sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt – so enttönt. Es ist jetzt mehr Schallen geworden – Laut, wenn man dieses schöne Wort so erniedrigen will.“25 Die Musik, heißt das, drückt noch aus, was der gesprochenen Sprache längst schon versagt ist.26 In ihrer Entfaltung ist sie von einer Prosa des Alltags frei. So stellt der Text in seinem Vermerk vor allem eines heraus: Das gesprochene Wort ist endgültig ins Zwielicht geraten. Deutlicher als jede andere Sprachebene dokumentiert es die allgemeine Entmündigung des Mediums, dessen Floskelhaftigkeit. Ergo ist von ihm, jedenfalls in seiner gegenwärtigen Verfassung, eine Umkehr der Verhältnisse am wenigstens zu erhoffen. Das lenkt den Blick nun auf eine andere Möglichkeit des Umgangs mit der Sprache: die Schrift. Sie scheint sich, da sie auf der einen Seite stumm ist, auf der anderen jedoch die Noten als ein per se „abgeleitete[s] Schriftsystem“ umfasst, weit eher zu einer Reanimation der Sprache zu eignen. Allerdings: Ist das nicht paradox? Ist es nicht gerade die Stummheit der Schrift, die sie zum Medium der Distanz macht, zu einem Mittel, welches ich nur ergreife, wenn ich nicht reden kann, weil der Gesprächspartner mir wesentlich fern ist? Und ist es nicht weiterhin so, dass auch die Noten ohne den Klang der Instrumente an das leblose Papier gefesselt bleiben, auf dem sie zuerst niedergelegt wurden? Ist im Umkehrschluss 25 Novalis: Schriften Bd. 3, S. 283f. Und: „Über die allgemeine n Sprache der Musik. Der Geist wird frey, unbestimmt angeregt – das thut ihm so wohl […]“ (ebd.) Oder: „Hat die Sprache nicht auch ihre Discant und Bass und Tenortöne? Nicht ihren Tact – nicht einen Grundton – nicht mannichfaltige Stimmen und Geschwindigkeiten.“ (ebd., S. 617) Vgl. dazu Manfred Frank: Die Philosophie des sogenannten ‘magischen Idealismus’. In: Euphorion 63 (1969), S. 88-116 (hier: S. 113). Zur „Offenbarungsfunktion der Musik“ in der und für die Romantik sowie deren Sprachskepsis vgl. konzis Kremer: Romantik, S. 66f. oder, ausgehend von Ernst Florens Chladnis Klangfiguren, Bettine Menke: Adressiert in der Abwesenheit. Zur romantischen Poetik und Akustik der Töne. In: Die Adresse des Mediums. Hg. Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher, Eckhard Schumacher. Köln 2001, S. 100-120 (zu Novalis insbesondere 106f., 116). Helmut Schanze formuliert prägnant: „‘Ut pictura poesis’ findet im 18. Jahrhundert seinen Gegensatz in ‘ut musica poesis’“ (ders.: Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis. Nürnberg 21976, S. 107). 26 „Was hier skizziert wird, ist ein Ideal, das bewusst als Gegenpol zu einer engen, abbildrealistischen Sprachauffassung entworfen wird.“ (Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 192). 158

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nicht genau die Rede von diesen Hemmnissen unabhängig, wenn sie die Nähe zu ihrem Ausgangspunkt macht?27 Für Hardenberg stellt nun exakt dies das Problem dar: Die Nähe des Gesprächs verführt dazu, es zu prosaisieren, d.h. in ihm und ununterbrochen dem „Schallen“ zu verfallen: Ohne Pause gibt ein Wort das andere, während das Prekäre des „Laut[s]“ sich verflüchtigt. Die Fixierung der Gewohnheit im Unbewussten der Teilnehmer schlägt darin voll durch. In der Schrift wird das nun sichtbar, da sie diesen Zustand unterbricht. Schriftlich ist das „Schallen“ in weite Ferne gerückt und verliert so an Signifikanz; mit dem Ausbleiben der Nähe wird sie zum Problem. Gleichzeitig tritt auch die Sprache anders hervor. Aus der Fessel der Präsenz – dem Zwang, diese ihm gesprochenen Wort einsetzen und vergegenwärtigen zu müssen – entlassen, erwächst nun ein Gespür für die Ferne, die darin verborgen liegt: Das Gespräch unter den Vorzeichen des „Schallen[s]“ ist kein intensiver – von Angesicht zu Angesicht – Austausch von Botschaften, sondern ein Rauschen. Mithin betont es eigentlich die Ferne der scheinbar direkt involvierten Partner, ihr Aneinander-vorbei-reden. In diesem Sinne nähert sich die Rede strukturell der Schrift an. Es ist aber die Schrift, die das allererst deutlich macht, da sie auf den Anschein der Nähe verzichtet. Wo das gesprochene Wort letztere vorspiegelt, sucht sich die Schrift als Mitteilung, die sie ebenfalls ist, einen anderen Weg, die Ferne zu überbrücken. Nach Novalis ist es jener der „TonSchriftkunst“, in dem die Schrift, als tönende (stimmhafte), durchaus auf eine Nähe verweist, sie aber von der Ferne her, d.h. unter Auszeichnung der Schriftlichkeit in Szene setzt.28 In der Konsequenz können sowohl eine vermeintliche Nähe als auch eine unnahbare Ferne relativiert werden; der Ton der Stimme impliziert nicht ohne weiteres die Unmittelbarkeit, die Stummheit der Schrift nicht ein27 Das ist, Jacques Derrida zeigt es wiederholt, ein fundamentales Phantasma des Abendlandes: Die Stimme als Abdruck der Präsenz und des Logos verleugnet ihre Problematik (Schriftähnlichkeit): „Der Logos aber kann unendlich und sich selbst gegenwärtig nur sein, kann als Selbstaffektion sich nur ereignen durch die Stimme: als Ordnung des Bezeichnens, durch die das Subjekt in sich aus sich heraustritt, in der es den Signifikanten, den es selbst äußert und von dem es gleichzeitig affiziert wird, nicht aus sich heraus setzt. Derart ist zumindest die Erfahrung – oder das Bewusstsein – der Stimme: Sich-im-Reden-vernehmen. Sie erlebt und versteht sich als Ausschließung der Schrift, denn sie beruft sich nicht auf einen ‘äußeren’, ‘sinnlichen’, ‘räumlichen’, die Selbstpräsenz unterbrechenden Signifikanten.“ (ders.: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt/Main 1983, S. 175) 28 Anders gesagt: „Die unbestimmt offene Reichweite der Schrift erweitert die begrenzte Sprechnähe der mündlichen Rede durch eine medial hergestellte Nähe in der Ferne.“ (Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 28) 159

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fach die Entlegenheit des Austauschs. Vielmehr sind beide von einem Zwischenraum aus zu fassen, in welchem der Schrift als Indiz eines „[a]llgemeine[n], reine[n] Schriftsystem[s]“ gleichwohl eine prominente Rolle zugestanden werden muss. Denn sie ist es, die als allgemeine Disposition das Phantasma der Mündlichkeit maßgeblich in Frage stellt, also den Schein unterminiert, der die Rede sowohl zum „Schallen“ erniedrigt als es auch unterhält. Nichtsdestoweniger aber stiftet erst die Rückbindung der Schrift an den Ton jene Alternative, die, da sie den Buchstaben aus dem Schweigen verschiebt, ihm eine gewisse Lebendigkeit, einen Tonfall zugesteht. Das führt uns jetzt zum „menschlichen Sprachwerckzeugssystem“.

3. Menschliches Sprachwerkzeugssystem Der Sprechapparat bezeichnet die Organe, welche die Luft in Schwingungen versetzen, die dann als gesprochene Worte vernehmbar werden. Ohne ihn bliebe die Sprache folglich ein ‚Aufschreibesystem‘. So aber ist der Körper allzeit an der Rede beteiligt, sie ‚bricht‘ nicht aus ihm heraus, um fortan ein Eigenleben zu führen. Vielmehr bleibt sie einem spezifischen Platz, eben dem Körper des Menschen, der augenblicklich das Wort ergreift, verbunden. In der Hinsicht kann Novalis den Sprechapparat als ein „individuelle[s] Instrumen[t]“ zu dem Orchester hinzuzählen, dass Sprache insgesamt in Szene setzt. Das allerdings hat einige und weitreichende Konsequenzen, insofern nochmals und anders deutlich wird, warum der Versuch, in der Sprache ein abstraktes System oder eine reine Konvention zu erkennen, letztere zu einem automatischen, im Prinzip stummen Werkzeug werden lässt. Denn: Die Mitsprache des „Sprachwerckzeugssystem[s]“ als ein „individuelle[s] Instrumen[t]“ im Konzert der Sprache richtet dieselbe auf einen Tonfall aus: Er und nicht irgendein Inhalt, ein Objekt oder ein Mitgeteiltes ist es, der (um weiter im Bilde zu bleiben) die Musik macht. Vor alle Aussage tritt der Akt des Aussagens, insofern der Sprechapparat bereits in Tätigkeit ist, wenn die Zuhörer sich noch bemühen, das mit ihm Artikulierte zu verstehen. Gleichzeitig markiert der Tonfall schon vorausgehend die Tonlage eines Sprechakts: Bevor überhaupt feststeht, was ein Sprecher seinem Gegenüber genau zu sagen hat, lässt sich am Tonfall eingangs ausmachen, ob dieser sich jenem zornig oder ruhig, hasserfüllt oder liebevoll, distanziert oder freundlich zuwendet.29 Das gilt auch, falls der Redner eine fremde Sprache spricht. In diesem Sinne ist das „individuell[e] Instrumen[t]“, auf das Hardenberg unsere Aufmerksamkeit lenkt, keine marginale Angele29 Vgl. Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 33-39. 160

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genheit, sondern im Zentrum der Rede zu orten. Es begleitet diese nicht völlig oder weitgehend neutral, da es dort stets und von Beginn an im Spiel ist. Im selben Zug wäre das „menschlich[e] Sprachwerckzeugssystem“ nicht im Rekurs auf eine dinghafte oder dingähnliche Körperlichkeit zu bestimmen, vielmehr greift es, indem es derart aktiv wirkt, in eine Mittlerstruktur der Leiblichkeit aus. Die Sprache, hier vorerst: das gesprochene Wort, verliert darin an Abstraktheit bzw. Konventionalität, weil es die „Plastizität des Menschen zu formen erlaubt“,30 ohne sie darin endgültig still zu stellen – die Sprache erobert den Raum, sie kann ihn jedoch niemals totalisieren. Umgekehrt befähigt erst die Hingabe des Körpers an die Sprache ihn zu jenen „Mittönungen“,31 welche die reine Körperlichkeit auch (nicht: ganz) überschreiten. Dabei verdichten sich die Prozesse zur Struktur des Chiasmus, der individuelles – das „menschlich[e] Sprachwerckzeugssystem“ und seinen je spezifischen Tonfall – und allgemeines – die Sprache – verbindet, um sie gemäß dieser Verknüpfung aufeinander abzustimmen. So jedenfalls könnte es sein. Doch und wie gesehen misstraut Novalis der Mündlichkeit. Zu groß und zu dominant ist darin die Verführung, einer ‚Enttönung‘ der Sprache das Wort zu reden. Zu seiner Zeit, sagt der Dichter, hat das „Schallen“ der Rede deren einstigen „Gesang“ so stark überwuchert,32 dass nach einem anderen Ausweg zu fahnden ist. Dass die Schrift für Hardenberg kein stummes Artefakt der Rede bzw. kein uneigentliches Mittel zu deren Präsenz sein muss, wurde bereits gesagt. Doch beobachtet er auch hier „individuell[e] Instrumen[te]“: „Sind die verschiedenen Arten des Styls“, argumentiert er mit einer rhetorischen Frage, „nicht verschiedene Instrumente?“33 Was für die Rede der Tonfall, ist mithin für die schriftliche Äußerung der Stil. Er färbt den Text in einer bestimmten Weise ein, indem er ihm seinen individuellen Rahmen gibt: Zur Spur des Autors in der Schrift wird der Stil immer dann, wenn er dieselbe über die üblichen und konventionalisierten Formen hinaus entfaltet: Es ist der Stil und nicht die Sterilität einer Aussage, der sie kennzeichnet. Damit gerät nun zunächst die Verfahrenstechnik eines Textes in den Fokus: Wie stellt er sich auf, welchen Rhythmus bevorzugt er? Vor diesem Hintergrund aber lässt sich die Analogie von Tonfall und Stil noch weiter treiben. Wenn dem Tonfall einer Rede der Sprechapparat zu Grunde liegt, ist die Hand die Prämisse des Stils eines Textes. Sie führt das Werkzeug des Schreibens, welches die Buchstaben 30 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/Main 1991, S. 11. 31 Novalis: Schriften Bd. 3, S. 283. 32 Ebd., S. 284. 33 Ebd., S. 617. 161

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zu Papier bringt. Doch geschieht das nicht irgendwie. Jeder, das impliziert Hardenbergs Hinweis auf die „verschiedenen Arten des Styls“, findet darin seinen eigenen Ausdruck. In diesem Sinne markiert der Begriff der ‚Handschrift‘ genau diesen doppelten Boden:34 Zum einen rekurriert er auf das Glied des Körpers, mit dem die Schrift Gestalt gewinnt, zum anderen erinnert er an jene Einschreibung, die sich dabei – als individuelle – zur Geltung bringt. Danach ist es allererst die Verkopplung beider Faktoren, in der sich ein Text oder Schriftzug ergibt. Zugleich ist, wiederum analog zum „menschlichen Sprachwerckzeugssystem“, angezeigt, dass die Hand, indem sie unter solchen Umständen zum Organ einer Handschrift wird, mehr als nur ein Mittel zum Zweck darstellt. Vielmehr erweist sie sich als Mitglied eines Ensembles oder einer Intentionalität, die, im Hinblick zuerst auf eine Technik des Verfahrens – Stil –, der Schrift Raum gewährt. Anders gesagt: Indem Novalis die strukturelle Ähnlichkeit von Tonfall und Stil herausarbeitet, konzipiert er den Stil als das Moment, in dem sich eine Schrift zu ihrer (nach Iser) „Plastizität“ steigert, d.h. als individuelle Kunst allgemeiner TonSchrift entwirft. Der Dichter präzisiert weiter: „Die Plastisirungsmethode“, unterstreicht er, „ist die ächte Experimentalmethode. Man soll nicht blos in Einer Welt – in beyden zugleich soll man zugleich thätig seyn – nicht denken, ohne zu s i n n e n, nicht sinnen, ohne zu denken. […] Worte und Figuren bestimmen sich in beständigem Wechsel – die hörbaren und die sichtbaren Worte sind eigentlich Wortfiguren. […] Das wird die goldne Zeit seyn, wenn alle Worte – Figurenworte – Mythen – und alle Figuren – Sprachfiguren – Hieroglyfen seyn werden – wenn man Figuren sprechen und schreiben – und Worte vollkommen plastisiren, und Musiciren lernt.“35 Erst die plastische Sprache schafft einen Raum, weil sie von diesem ausgeht. Ihr ist der Buchstabe oder Text nicht bloß ein Zeichen oder Nennendes, sondern zugleich die Einkleidung des Namens in eine Figur, die das Benannte, dessen Signatur, weder eskamotiert noch unterdrückt. So bleibt in der Aussprache oder Schreibung des Namens jene Geste, jene Handlung lebendig, die zuerst und vor jeder Aussage im Spannungs-

34 Demnach ist hier vor allem anzumerken, dass der „Stil“ immer zuerst „der Mensch [ist], zu dem man spricht.“ (Friedrich A. Kittler: ’Das Phantom unseres Ichs’ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan.“ In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hg. ders. und Horst Turk. Frankfurt/Main 1977, S. 139-166 [hier: S. 166]): Der Stil ist nicht einfach durch eine Nähe zum Subjekt motiviert, sondern muss darin ebenso und zunächst vom Anderen her ausgezeichnet werden. 35 Novalis: Schriften Bd. 3, S. 123f. 162

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feld zwischen den Dingen zu sich kommt.36 Die Hieroglyphen – zu Novalis’ Lebzeiten sind sie noch nicht entschlüsselt – taugen dafür als Beispiel, weil sie diesen Zwischenraum und Zwiespalt zu illustrieren scheinen: Einerseits kann man sie im Zeichen einer Sprache deuten, andererseits geht darüber die manuelle Kunst, ihr Rätsel wie das Staunen darüber nicht verloren.37 Gleichzeitig sind damit jene Trennungen als zwei Seiten einer Medaille unterlaufen, welche die Sprache zum einen in sich, in Rede und Schrift teilen, zum anderen sie auf eine Mechanik des Denkens bzw. der Abstraktion verpflichten. An Stelle dessen rückt jetzt ein leibhafter – auch: intermedialer – Sprachraum näher, der beides in einem erlaubt, da er die vermeintlichen Pole ineinander involviert, sie zu einer Textur vermischt. Insofern dort nämlich Reflexion („denken“) und sinnliches Gespür („sinnen“) verschmelzen sowie zusammen artikuliert werden,38 fällt auch der Gegensatz von Geist und Buchstabe als Resultat der Differenz von Rede und Schrift:39 Denn indem sich diese nur konventionell unterschiedenen Koordinaten auf einer Ebene und einander zugewandt begegnen, ist der Logos nicht länger und exklusiv an dessen Präsenz im Modus der Stimme verwiesen und die Schrift folglich nicht mehr 36 Indem man die „Worte vollkommen plastisiren“ lernt, lassen sie uns „die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen ahnden“ (ebd., S. 429). Zu seiner Zeit, bedauert Hardenberg, ist dem nicht so: „Die Natur ist eine versteinerte Zauberstadt.“ (ebd., S. 564; zu diesem gegenwartsdiagnostischen Befund Hardenbergs vgl. Ulrich Stadler: Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs (Novalis). In: Novalis und die Wissenschaften. Hg. Herbert Uerlings. Tübingen 1997, S. 87-103 [hier: S. 97f.]) Striedter betont, dass insofern nach Novalis der „echte Philosoph ebenso wie der echte Physiker“ die „Erscheinungen der ‘Natur’ und Körperwelt als ‘Figuren’ zu sehen und zu lesen lernt“, er „lernt […] die Sprache der Natur verstehen; ja die Natur gewinnt eigentlich erst dadurch Sprache – eben ‘Sprache der Körperwelt durch Figur’.“ (ders.: Die Fragmente des Novalis, S. 204f.; Zitat Novalis; G.S.) Vgl. auch weiterhin zur Problematik der „figura“ ebd., S. 197-204. 37 Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt 1986, S. 236. 38 Dass Novalis die Vokabel ‘sinnen’ mit dem Sinnlichen („empirische Anschauung“) verknüpft, zeigt Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 377 (Zitat ebd.). 39 In diesem Sinne beabsichtigt „die medienreflexive Literatur mit einer Tradition zu brechen, für die der ‘tote’ Buchstabe nur ein Hilfsmittel zur Proliferation des lebendigen Geistes ist.“ (Natalie Binczek, Nicolas Pethes: Mediengeschichte der Literatur. In: Handbuch der Mediengeschichte. Hg. Helmut Schanze. Stuttgart 2001, S. 282-315 [hier: S. 300]). Vgl. dazu im Hinweis auf F. Schlegel Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 83. 163

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die fragwürdige Mitgift dieser Koppelung, also das nur tote Anhängsel, das ein lebendiges Wissen zum Schweigen verurteilt. Es ist vielmehr eine Art und Weise – die Methode – einer Plastisierung, die in einer Aussage den Ausschlag gibt und die, insofern sie sich dem bloßen „Schallen“ einer Rede entzieht, sich eher am Umgang mit der Schrift (Stil) als an dem mit dem gesprochenen Wort orientiert. Das Wort ist damit jedoch nicht an den alten Platz der Schrift gerückt, sondern markiert dieselbe als und öffnet sie zur TonSchrift. So bleibt im Medium als Möglichkeit zu einer Methode jene Nicht-Identität, jene Unruhe der Ebenen und Differenzen gewahrt, die es der Sprache verwehrt, sich gegen die Außenwelt zu sperren. Anstatt sich also von der „launige[n] Sprache“ zum Bestem halten zu lassen, d.h. blindlings einem „lächerliche[m] Irrthum“ aufzusitzen, wendet Hardenberg dieses imaginäre Verhältnis in ein insofern reales, als es in der Sprache die Plastizität würdigt, die im Laufe des Fortschritts der Konventionalisierung von derselben nun ihrerseits zum Irrtum erklärt wurde. Indem der Dichter so zwei Irrtümer gegeneinander ausspielt, beharrt er darin zwar nicht auf einer wahren Erkenntnis, wohl aber darauf, dass etwas „durch das Medium der Sprache wahr seyn [kann]“, dass sie keineswegs und notwendig über alles hinweg spricht. In dieser Hinsicht ist die Sprache einerseits selbst ein Opfer der Tendenz, die der Romantiker im Monolog bloßstellt. Andererseits erweist sich Novalis’ berühmter Vergleich – „Der Mensch – Metapher“40 – als nur scheinbar widersinnig oder provokant. Nicht die Zersetzung des Menschen im Universum der Sprache, sein Schwinden hinter einem Gitter aus Zeichen, Worten und Sätzen steht dabei zur Debatte, sondern und im Gegenteil jener Raum, der es dem Menschen gerade als Sprachwesen erlaubt, von sich reden zu machen: Indem er auf diese Weise nicht außerhalb der Sprache steht, kann er sie leibhaftig nutzen. Er kann als Sprecher oder Autor wahrhaft von Anderem sowie von sich erzählen, falls er sich darin um eine „Plastisirungsmethode“ bemüht, d.h. die „TonSchriftkunst“ zum Ausgangspunkt seines Stils bestimmt. Ich komme zum Schluss: In diesem Sinne ist Hardenbergs Forderung, dass „[d]as Leben […] kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn [soll].“ 41 eine keinesfalls nur metaphorisch, sondern eher buchstäblich zu lesende Aussage. Doch geht sie hierin weniger von einem romantischen (Künstler-) Ideal als vielmehr von einem Umkehrschluss aus: „Ein Roman ist ein Leben, als Buch.“42 Mitnichten also

40 Novalis: Schriften Bd. 2, S. 561. 41 Ebd., S. 563. 42 Ebd., S. 599. Vgl. zu beiden Textstellen, ihrem historischen Kontext sowie dem damit verbundenen Ideal Helmut Schanze: ’Leben, als Buch’. In: Die 164

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soll ein Autor sich selbst zur Figur eines Romans ‚machen‘, sein Leben als einen Text und einen Text ‚wie das Leben‘ inszenieren, um beides zu vereinen. Das wäre wieder nur eine ‚enttönte‘ Willkür. Hingegen gilt es für den Schriftsteller, im Roman die figürliche Vitalität der Schrift sowohl auszuhalten als auch zu wahren – „Die ächt poetische Sprache soll aber organisch, lebendig seyn.“43 – sowie von da aus zu einer anderen Sprache, einer anderen Beschreibung als Mitteilung der/von Welt durchzustoßen. In dieser Hinsicht avanciert der Roman als ‚Poesie der Prosa‘ zum Paradigma romantischer Weltsicht:44 Denn zum einen, sagt Novalis, „handelt [der Roman] vo[m] Leben – stellt Leben dar“, zum anderen enthält er „kein bestimmtes Resultat – er ist nicht Bild und Factum eines Satzes.“45 Wohin dieser Leitfaden einer Lingua Romana führt oder führen könnte und was dabei auf dem Spiel steht, kann ich hier leider nicht mehr erläutern.46 Soviel sei jedoch noch (mit des Dichters Worten) gesagt: „ROMANTIK. Sollte nicht der Roman alle Gattungen des Styls in einer durch den gemeinsamen Geist verschiedentlich gebundnen Folge begreifen?“47

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Aktualität der Frühromantik. Hg. Ernst Behler und Jochen Hörisch. Paderborn u.a. 1987, S. 236-250. Novalis: Schriften Bd. 2, S. 441. Hardenberg selbst gibt die Stoßrichtung in einem Brief an Caroline Schlegel vom 27.02.1799 so an: „[I]ch habe Lust mein ganzes Leben an Einen Roman zu wenden – der alleine eine ganze Bibliothek ausmachen – vielleicht Lehrjahre einer Nation enthalten soll. Das Wort Lehrjahre ist falsch – es drückt ein bestimmtes Wohin aus. Bey mir soll es aber nichts, als ÜbergangsJahre […] bedeuten.“ (ders.: Schriften Bd. 4, S. 281) Vgl. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.1. Hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1991, S. 7-122 (hier: S. 103; siehe dazu auch ebd., S. 99-109). Vgl. diesbezüglich auch aktuell Kremer: Romantik, S. 114-117 oder kritisch Blumenberg: Lesbarkeit der Welt, S. 237-244. Novalis: Schriften Bd. 2, S. 570. Oder: „Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie.“ (ebd., S. 647) Es würde den Rahmen sprengen. Vgl. aber meine demnächst erscheinende Monographie zum Sprachlichen Gespür. Ders.: Schriften Bd. 3, S. 271. 165

FLUCHT IN DIE BILDER – LUDWIG TIECKS BILDPOETIK (WILLIAM LOVELL – DER BLONDE ECKBERT – FRANZ STERNBALD) CORD-FRIEDRICH BERGHAHN

I. Ludwig Tieck hat es seinen Lesern nie leicht gemacht. Er hat seit seiner frühen Autorschaft alle literarischen Kategorien unterminiert, alle Zuordnungsversuche unterlaufen, und er hat im Moment der sich konstituierenden Gattungspoetik auch die Gesetze der Gattungen seinen subversiven Schreibstrategien unterzogen. Diese Beobachtung gilt in besonderem Maße für das Berliner Frühwerk des Autors. Zwischen 1794 und 1799, dem Jahr des Aufbruchs nach Jena in den Kreis um die Schlegels, hat Tieck das literarische Deutschland mit einer Fülle heterogener Produkte überschwemmt. In ihnen wird nicht nur nahezu jedes existierende literarische Muster imitiert, parodiert oder an ein Ende geschrieben, in diesen Werken werden zugleich die Ordnungsmuster, die Selbstbestimmungen des Autors und die literarischen Epochenbegriffe von Anfang an als willkürlich entworfene evident. Tiecks frühe Dichtung erodiert fast alles: die eigene Rolle als Berufsschriftsteller auf dem literarischen Markt, die Dichotomie von Hoher und Niedriger Literatur, die Rollenzuschreibungen von Autor und Leser, die Grenzen zwischen den literarischen Modellen der Spätaufklärung und der Frühromantik. In meinen Überlegungen möchte ich diese gewaltige Schreibbewegung näher untersuchen. Ausgangspunkt meiner Betrachtungen wird der Briefroman William Lovell des Jahres 1795, Fluchtpunkt wird der Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen des Jahres 1798 sein. Zwischen beiden Texten soll Tiecks Blonder Eckbert als Beispiel einer extremen Poetik der Subversion gelesen werden, die ihrerseits eine neue Praxis des Schreibens hervorbringt. Die drei Werke stehen im Zeichen einer doppelten Denkbewegung, die auf die Krisensymptome der Moderne reagiert: der Arbeit am Ich und der Arbeit an der Kontingenz. Die Arbeit am Ich, die Auseinandersetzung mit einer gefährdeten und problematisch gewordenen Subjektivität findet sich in den Subjektentwürfen der Texte, die sämtlich scheiternde Subjekte im Sinne der Ganzheitskonzeption aufklärerischer Anthropologie sind. Die Arbeit an der Kontingenz führt Tieck 167

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über das Spiel mit Entlastungsdiskursen des nachmetaphysischen Zeitalters – Geschichte, Ästhetik und Psychologie –, über eine komplexe Selbstinszenierung in literarischen Rollen und über eine riskante Suspension der Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit hin zum Extrempunkt einer Poetik des verwehrten Sinns und einer „Poetik des Schwindels“ an deren Rändern – so meine These – eine neue Bildpoetik aufscheint, die schließlich im Sternbald ihren Ausdruck findet. Der Aufbruch nach Jena 1799 markiert daher in mehrfacher Hinsicht einen Neubeginn. Zunächst kommt Tieck nach der polyzentrischen gesellschaftlichen Mischung Berlins in einen annähernd geschlossenen Kreis; dieser steht ein für ein ästhetisches und literarisches Programm, das sich in wesentlichen Teilen aus Tiecks frühen Berliner Werken speist. In einer transzendentalphilosophischen Auffangbewegung aber begegnen Friedrich Schlegel in der Theorie und Novalis in der poetischen Praxis den inkommensurablen und anarchischen Textmodelle Tiecks, die sich auch dem offenen Systematisierungsversuchen der Frühromantik entziehen. Tiecks Berliner Texte stellen zwar den eigentlichen Beginn der Romantik dar, sie bilden aber zugleich den Kulminationspunkt einer urbanen Poetik der Spätaufklärung, die wie keine zweite der Umbruchszeit ‚um 1800‘ ihr anarchisches und provokantes Potential bewahrt hat. Bis in die neuere Forschung waren die Bewertungen entweder von normativen Positionen der Goethezeit geprägt, versuchten also vergeblich, sich der Tieckschen Textwelt mit den Vorstellungen des geschlossenen, organischen Werks und der intensiven, sinnstiftenden Wechselbeziehung von Leben und Werk zu nähern oder, fast schlimmer, apologetisch diese Geschlossenheit und Organizität zu postulieren. Auch die Versuche, Tiecks literarisches Frühwerk im Rahmen der europäischen, insbesondere der englischen Vorromantik zu positionieren, gehören hierher. Zur Autopsie unseres Problems gehört die merkwürdige Unfassbarkeit des literarischen und des empirischen Phänomens Tieck, die Tatsache, dass sich dieser Autor der subjektversessenen Goethezeit mehr als jeder andere Zeitgenosse entzieht. Das zeigt sich in den verschiedenen Versuchen, Tieck biographisch zu fassen. Weder in der literarisch virtuosen Montage von Klaus Günzel,1 noch in Roger Paulins soliden Werkund Personenbiographien2 gelingt der für die Goethezeit so charakteristische Nexus von Autor und Werk; vielmehr scheint Tiecks Werk als per1

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König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten, vorgestellt von Klaus Günzel. Berlin (Ost) 1981. Roger Paulin: Ludig Tieck. A Literary Biography. Oxford 1985; ders.: Ludwig Tieck (Sammlung Metzler 185). Stuttgart 1987. 168

LUDWIG TIECKS BILDPOETIKEN

petuierte Krise, als Krisensymptom der „Schrift“ von je zu existieren, als Verweigerung der Kommunikation. Das betrifft auch seine Briefe: Derselbe Autor, der in seinem Roman Wiliam Lovell den Glauben in das Medium Brief ad absurdum führt, ist, perspektivisch zerlegt, in seinen eigenen Briefen eine nur ephemer ahnbare Person. Diese Schwierigkeiten gilt es bei folgender Annäherung zu berücksichtigen.

II. 1795 erschien beim Berliner Verleger Carl August Nicolai anonym der erste Teil des Briefromans William Lovell. In seiner Anlage gehorcht er den Konventionen des Geheimbund- wie des Schauerromans der europäischen Spätaufklärung. Ja mit Carl Grosses fast zeitgleichem Genius und mit Rétif de la Bretonnes Paysan perverti lassen sich unmittelbare Vorbilder des Lovell benennen. Und doch stellt Tiecks Roman in fast jeder Hinsicht einen Ausnahmefall in der Geschichte des europäischen Romans da: Im Lovell ist offensichtlich alles mit Kontingenz überzogen – in dieser Hinsicht stellt Tiecks Roman das genaue Gegenbild zum zeitgleichen Wilhelm Meister dar, das Transzendenz vernichtende Negativ einer „transzendentalen“ Geschichte. In der Tat ist der skandalöse Roman – zugleich ein Skandalon in der Geschichte des Romans – schon früh sowohl in seiner strukturellen und motivischen Stringenz beschrieben, wie in seiner sinn- und formerodierenden Gewalt erkannt und befragt worden: als spätaufklärerischer Hybrid des „anthopologischen Romans“; als antizipatorisches Muster frühromantischer Ironie; als systematischer Traktat des Nihilismus; als Endpunkt einer Poetik der Sinnstiftung und der Ich-Gewinnung im dichterischen Text und, besonders eindrücklich, als „gefährliche Rede“, deren eigentliches Thema die Sprache, vielmehr: deren Verschwinden ist.3 Die differenzierten Untersuchungen des Romans in der neueren Forschung haben den Fehlern jener älteren normativen Wertungen des William Lovell widersprochen, die den Text zumeist vor der Folie des Wil3

Die umfassendste, in ihrer Sensibilität für diese epistemischen und semiologischen Krisen unüberholte Darstellung findet sich in der Arbeit von Christoph Brecht: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks (Studien zur deutschen Literatur 126). Tübingen 1993. An seine Lektüre des „Lovell“ schließen meine Überlegungen in vieler Hinsicht an. Daneben sind von Bedeutung die Arbeiten von Marianne Thalmann (Die Romantik des Trivialen. Von Grosses „Genius“ bis Tiecks „William Lovell“. München 1970) und Markus Heilmann (Die Krise der Aufklärung und die Krise des Erzählens. Tiecks „William Lovell“ und der europäische Briefroman. Stuttgart 1992). 169

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helm Meister, der Frühromantik oder im Kontext der Modelle der Spätaufklärung untersuchten. Schwieriger ist es, aus diesen Arbeiten zu extrahieren, was der Roman denn nun eigentlich im positiven Sinne ist. Hier ist Manfred Frank in seinen Arbeiten am weitesten vorgestoßen.4 Tiecks William Lovell verweigert sich in der Tat auf eine merkwürdige Weise positiven Beschreibungen; damit stellt er nicht nur Elemente der frühromantischen Poetik des Romans als unendlich reflektierten, unendlich verweisender und ‚grenzenloser‘ Schrift zur Verfügung, die Friedrich Schlegel in seiner Rezension des Wilhelm Meister drei Jahre nach Erscheinen des Lovell konkretisiert und Walter Benjamin als Analogon einer Poetik der Moderne beschrieben hat, sondern zieht zugleich auf eine vertrackte Weise das Fazit des aufklärerischen Romans. In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, wie folgenlos die Vielzahl der im Roman verarbeiteten Typen des Aufklärungsromans für die eigentliche Ebene der Handlung und des Inhalts bleiben: Der Briefroman, der das Vertrauen in den Brief unterminiert und diesen als Mittel der intersubjektiven Kommunikation ad absurdum führt; der Geheimbundroman, in dessen Verlauf die eigentlich handlungsführende Intrige nicht nur scheitert, sondern eigentlich unerkennbar bleibt und im Sande verläuft; der empfindsame Roman, der sich der Beschreibung des Individuums widmet und diese als nicht mehr praktizierbar erfährt oder – im Falle der englischen Diener – allenfalls als parodierbar; der psychologische Roman, der aus der Aufgabe der Gattung wie sie Moritz im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde formuliert hatte, nämlich der Zusammenführung des Diskontinuierlichen und die Versöhnung der Disharmonien, ein fast ritualistisches Procedere der Selbst- und Fremdbeschreibungen macht, aus der Analyse ein Analyse-Ritual; schließlich der anthropologische Roman der Spätaufklärung, dessen Rückführung der Handlungsweisen und -situationen auf Grundsätze der menschlichen Natur, und dessen avancierter Rekurs auf den philosophischen Materialismus der Aufklärung im William Lovell durch den bewussten und schematischen Umgang mit dem Materialismus als These handlungsmäßig im Sande verläuft. Man ist versucht, den Roman als eine frühe romaneske Auseinandersetzung mit der durch Kant beförderten Erkenntnis einer transzendentalen Obdachlosigkeit zu lesen – allein: der Lovell gibt weder in der Handlungsführung, noch in der Logik der einzelnen Figuren ein weiterführendes Interesse an der Ausformulierung einer Ethik zu erkennen. Dies liegt durchaus in der Logik der Ausdifferenzierung des Systems Literatur um 4

Manfred Frank: Das Problem „Zeit“ in der deutschen Romantik. Zeitbewusstsein und Bewusstsein von Zeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. München 1972; ders.: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt/M. 1989. 170

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1800. Bei Tieck gehorcht die selbstreflexiv gewordene, sich systemimmanent entfaltende Schrift nicht länger einem Heteronomen, der Rhetorik, der Moral, ja selbst der Ästhetik. War noch Schillers Werk auf die eigene ästhetische Theorie zu beziehen – bedingte also die Autonomieästhetik im Hinblick auf das System Literatur Heteronomie –, so haben sich die Diskurse bei Tieck autonomisiert, und zwar ohne jene ästhetische Reflexion, die zeitgleich in den Fragmenten und Aphorismen von Novalis und Friedrich Schlegel vorgenommen wurde. Dieser Befund schafft für den William Lovell die poetologisch schwierige Situation, einerseits der Unverfügbarkeit von Sprache in einer nie wieder versuchten Differenziertheit und Vollständigkeit nachzuspüren, andererseits aber die ironische, reflexive Distanz zu dieser Autopsie nicht immer wahren zu können. Der Lovell ist ein auseinanderbrechender Roman, ein Roman der die tradierten Elemente auslöscht; ein Transzendentalroman – wie Goethes Meister in Friedrich Schlegels Lesart – ist er nicht, und vielleicht liegt in dieser historisch-poetologischen Schwellenposition das Skandalon des Buchs – und hier besteht zugleich seine unhintergehbare Literarizität. Wenn die Elemente der Romanpoetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts also montiert werden, ohne deren Absichten zu verfolgen, so stellt sich die Frage nach dem Wesen dieses Textes. Eine mögliche Antwort auf die verstörende Autopsie eines Romans, der als für den Markt geschriebener Trivialroman der Zeit zugleich alle Erwartungshaltungen dieses Marktes destruiert – und damit ein Element einer Poetik der Moderne vorwegnimmt, wie sich ansatzweise auch im Anton Reiser, vor allem aber in Kellers Erstfassung des Grünen Heinrich abzeichnet – ist der Verweis auf den Schriftcharakter des Textes: William Lovell ist ein Roman der ‚Schrift‘. Nicht nur in seiner atemberaubenden Anlage als Roman einer absoluten Polyphonie der Stimmen, der aus Briefen, aus Schrift, montiert ist, und der in seinem die Moderne antizipierenden Verzicht auf jegliche Erzählinstanz diesen Stimmen in Briefen ein ganz und gar ungewöhnliches Maß an Autonomie gibt. In der Tat genießen fast alle Protagonisten des William Lovell im Moment der Schrift einen Moment des Authentischen, der aber in der Textur des Romans höchst prekär ist, und der stets relativiert, widerlegt und als kontingent entlarvt wird. Doch nicht nur im Hinblick auf die Konzeption dieses Romans als Textur schriftlicher Positionsbestimmungen und Selbst- und Fremdbeschreibungen (die kontingent sind) ist Tiecks Lovell als Roman der Schrift zu bezeichnen. Er ist dies auch als ein Text, der sich aus einer höchst eigenwillig fusionierten Genealogie von Romanmodellen speist; er ist ein Roman aus zweiter Hand, wenn man so will: ein eklektischer Roman. Doch diese Begriffe vermögen nur

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unzureichend zu fassen, was das Skandalon des Lovell eigentlich ist: Es ist der Widerruf der Authentizität, der Personalität und des Subjekts. Damit erreicht Tieck eine bemerkenswerte Kongruenz zwischen Form und Inhalt – gerade das, was ihm eine auf das ‚Authentische‘ und das ‚Subjekt‘ fixierte Forschung stets abgesprochen hat. Mentalitätsgeschichtlich erfüllt Tiecks Lovell als Roman der Schrift den Übergang in die Frühromantische Spekulation um das Unendliche im Endlichen. Schrift als Medium der Offenbarung einer zweiten Naivität tritt der mündlichen Rede spätesten seit dem Zeitalter der Empfindsamkeit „nicht mehr subsidiär, sondern substitutiv“5 gegenüber; damit kann durch Reflexion eine neue Unmittelbarkeit erreicht werden. „Literarische Schrift speichert ein Reales und Imaginäres, das im ‚toten Buchstaben‘ zwar mortifiziert ist, als imaginäre Präsenz aber aufersteht, indem sie dem Leser das Abgeschnittene aisthetisch wiedererstattet.“6 Der Katarakt von individuellen Momenten, von Fixierungen des Individuums in Briefen, der für den Lovell so charakteristisch ist, zeigt historisch genau diese Epochenschwelle, diese Neusemantisierung zwischen Aufklärung (mit ihrem Subjektbegriff in der Schrift) und Frühromantik (mit ihrem Schriftbegriff als wiedererschaffenem Subjekt) an. Doch auch hier sperrt sich Tiecks Roman einer allzu glatten Rechnung. Die end- und ziellose Folge individueller Momente in den Briefen des Lovell, die nur im Augenblick Gültigkeit haben und schon im nächsten Brief widerrufen werden, vertauscht die innere Logik des Briefromans: Symptome werden Ursachen, Befindlichkeiten Inszenierungen, Themen Diskurse. Gattungsgeschichtlich stellt Tiecks Roman eine Aporie des Briefromans dar, indem er auch das Medium Brief einer Geschichte des Endes von Verständigung preisgibt. Literaturgeschichtlich aber öffnet Tieck gerade hier die für die literarische Frühromantik so entscheidende Möglichkeit der unendlichen Reflexion im Text. Sie braucht notwendig die Krisis, die verlangt die Überantwortung der aufklärerischen Episteme an die Kontingenz: Erst „wo Gesellschaft als Ort leerer Konvention, Sprache als prinzipiell unverständlich, Subjektivität als wesentlich inkonsistent und jeder Wahrheitsanspruch als Produkt einer Selbsttäuschung benannt ist, wird Auslegung überflüssig“7 – und damit wird an einem literarischen Nullpunkt die Idee der unendlich produktiven, unendlich reflexiven und unendlichen Poesie überhaupt möglich.

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Albrecht Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans Jürgen Schings. Stuttgart 1999, S. 605-628, hier S. 606. Ebd., S. 623. Christoph Brecht: Die gefährliche Rede (Anm. 3), S. 10. 172

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Die Briefe des Lovell, weit entfernt von Blanckenburgs Forderung, der Roman habe die „innre Gestalt irgend eines Menschen“ nachzuzeichnen,8 werden zu Momenten einer energischen Produktion von Schrift, werden in der unablässigen Folge des Festschreibens und Verwerfens von Subjektivität zum movens der literarischen Selbstreproduktion. Ihr werden alle Gattungen unterworfen, in ihr gehen die Gattungen auf. Das gilt für Goethes Meister nicht weniger als für Tiecks Lovell – mit dem Unterschied, dass Goethes Roman die transzendentalphilosophische Forderung nach unendlicher Sinnhaftigkeit zu erfüllen sucht, während Tieck auf der Spur des Unsinns, des sinnerodierenden Texts, ist. Wie Goethe im zeitgleichen Wilhelm Meister saugt auch Tieck alle Möglichkeiten der Darstellung auf: Gedichte, Briefe, Schilderungen, szenische Präsentationen. Aber wo die literarischen Mittel vollkommen verfügbar sind, entzieht sich die Sprache als Instrument des Sinns: „Es ist“, in Lovells Worten, „ein Fluch, der auf der Sprache des Menschen liegt, daß keiner des anderen verstehen kann“. (WL 514)9 So korrespondiert Tiecks Roman mit allen Modellen der autonomisierten Literatur um 1800 und steht doch isoliert in der Literaturlandschaft der Jahrhundertwende. Daher bedingt die scheinbare Nähe Tiecks zu den frühen Spekulationen Novalis’ und Friedrich Schlegels zugleich das Potential des Missverstehens: Für Schlegel ist der Meister nicht weniger Muster der romantischen Poesie wie der Lovell – eher mehr. In Tiecks Romans hat Schlegel ein Dokument der „absoluten Phantasie“ gesehen, und er hat diesen Befund auf die Hauptfigur des Romans übertragen: „ein vollkommner Fantast in jedem guten und in jedem schlechten, in jedem schönen und in jedem häßlichen Sinne des Worts“.10 Damit aber legt Schlegel zumindest in der Romanpsychologie Maßstäbe an, die das Wesen den Lovell verfehlen. Schlegels Vorwurf der mangelnden Ironie schreibt sich auf eine Norm des oszillierenden Darstellens zurück, der Tiecks Roman aus guten Gründen nicht entspricht. Sein Romanheld ist kein Muster jener ‚schwebenden‘ Existenz aus dem Geist der Ironie, seine Struktur gehorcht, wie oben gezeigt, einer ganz anderen literarischen Produktionslogik. So kön8

Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 388. 9 Ludwig Tieck: William Lovell. Hg. von Walter Münz. Stuttgart 1999. Nach dieser bislang verlässlichsten Ausgabe wird künftig unter Verwendung der Sigle WL zitiert. 10 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler [u.a.] (künftig KFA). Abt I, 2. Bd., S. 244; vgl. auch Markus Heilmann: Die Krise der Aufklärung (Anm. 3), S. 244. 173

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nen frühromantische Theorie und frühromantischer Roman nicht übereinkommen. Schlegels Reflexion auf den Lovell-Roman entstammt einem späteren Zeitpunkt, zu dem der Sternbald-Roman bereits vorlag. Es ist ein teleologischer Standpunkt, der seine Argumente gegen den Schwellencharakter des Romans aus der transzendentalpoetischen Vorstellung der Selbstbegründung der poetischen Produktivität bezieht. Schlegels Formulierung, Tiecks Roman sei „ein Kampf der Prosa und der Poesie, wo die Prosa mit Füßen getreten wird und die Poesie über sich selbst den Hals bricht“ markiert den historischen Moment des Textes.11 Neben diese Merkmale, die den Schriftbegriff als Charakteristikum und poetologischen Kern des William Lovell nahe legen und ihn im Spannungsfeld der Frühromantik verorten, ohne ihn subsumieren zu können, tritt noch ein weiterer Punkt: Der Roman ist auch ein Roman der Schrift im Sinne neuerer dekonstruktivistischer und kognitionspsychologischer Ansätze. Für eine solche Lesart sprechen neben oberflächlichen Kongruenzen wie etwa der Unterordnung der Subjekte unter den Prozess des Schreibens und der Verwandlung von Subjektivität in Schrift-Körper – „Ist es nicht wunderbar, daß sich aus einem Schreibebuche der Charakter eines Menschen zum Teil entwickeln konnte?“ (WL 394) – auch der Befund der Inkongruenz zwischen dem Autor-Ich Tieck und seinem Text. Auch dies ist unter den Auspizien einer subjektzentrierten und subjektpositionierenden Theorie des Romans in der Goethezeit oft als defizient diagnostiziert worden. Aus diesem Befund ließe sich aber auch die These einer intertextuellen Disposition des Romans ziehen; sie würde der biographischen Lektüre den Boden entziehen und damit die Richtung des Lesens wenden. In der Tat gehört ja zu den merkwürdigen Aspekten des Phänomens Tieck, dass dieser Großstadtautor, dessen Sozialisation die Elemente der Berliner Kultur zwischen 1786 und 1797 nachzeichnet und auf sie reagiert, dessen Poetik eine der urbanen Geselligkeit ist, und dessen narratives Konzept Bausteine zum Entwurf einer urbanen Theorie von Intellektualität umfasst, von eben dieser Sphäre des Urbanen so wenig in sein Werk exportiert. Liest man Tiecks Frühwerk – und hier insbesondere den Lovell – als Manifestation der Schrift im Sinne Benjamins, dann wird aus den literarischen Schriften der Text seiner Existenz. Und dieser ist vor allem durch seine Auslassungen und seine Leerstellen bemerkenswert. Eine solche Lektüre muss sich freilich dem Vorwurf der A-Historizität stellen. Dieser begleitet die Geschichte der Lovell-Deutungen, seit Manfred Frank in seiner Dissertation die erste den Text intensiv lesende und theoretisch 11 KFA I. Abt., Bd. 2, S. 244. 174

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reflektierende Deutung des Romans vor dem Hintergrund der frühromantischen Philosophie vorgelegt hat. Seine These, dass Tieck in diesem Roman das – in Kategorien Husserls und Sartres beschreibbare – Paradigma moderner Subjektivität entworfen habe, findet sich freilich in ersten Andeutungen schon bei Karl Rosenkranz; Manfred Frank entwickelt diese Lesart aus dem Aufeinendertreffen zweier Bewusstseinsebenen, die sich in den Briefen des Romans begegneten: Einem präreflexiven, unhintergehbaren Selbstbewusstsein, vor dessen Grundierung sich die momentanen Reflexionen und Wandlungen, eben der „Geist Lovells“ abspiele.12

III. Wohl kaum ein Text der deutschen Literatur hat eine solche Menge von Deutungen erfahren wie Der blonde Eckbert. Früh von August Wilhelm Schlegel als Tiecks eigentliches Meisterwerk und als paradigmatischer Text der frühromantischen „Poesie der Poesie“ apostrophiert, von Heine als die „vorzüglichste“ der Novellen Tiecks gelobt und selbst von Rudolf Haym in seiner ansonsten tieckkritischen Romantischen Schule den anderen Tieckschen Frühwerken positiv gegenübergestellt hat der seltsame Text durch die dichte Textur des Heterogenen zugleich früh die Ratlosigkeit der Interpreten provoziert.13 Am eindrücklichsten hat Emil Staiger 1960 auf den Rätselcharakter des Eckbert hingewiesen, darauf, dass sich die Elemente in diesem „seltsamsten Vorkommnisse der Literatur“ nicht zu einer klassischen, organischen Erzählung runden: „Wir fangen an zu lesen“, so Staiger, „wir lesen zu Ende und sind noch völlig ratlos – ratlos und doch festgebannt“.14 Staigers eminentes literarisches Gespür und sein normativer Bezugsrahmen, der auf die klassisch-romantische Transzendentalpoetik ausgerichtet ist, haben bei einem völligen Missverstehen für das literarisch Gewollte doch den Sinn für das Erreichte bewahrt: für die Tiecksche Poetik des Schwindels, die Jörg Bong in einer umfangreichen Analyse des Blonden Eckbert aus der Erzählung selbst rekonstruiert hat.15 Zugleich jedoch sind die widersprüchlichen Signale des Textes zu Fixpunkten der unterschiedlichsten Interpretationen geworden, und auch 12 Manfred Frank: Das Problem „Zeit“ (Anm. 4), S. 249. 13 Die wichtigsten Urteile finden sich zusammengestellt im „Wege-derForschung“-Band zu Ludwig Tieck, hg. von Wulf Segebrecht (Darmstadt 1976). 14 Emil Staiger: Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik. In: Ludwig Tieck. Wege der Forschung (Anm. 13), S. 322-351, hier S. 334. 15 Jörg Bong: Texttaumel. Poetologische Inversionen von „Spätaufklärung“ und „Frühromantik“ bei Ludwig Tieck. Heidelberg 2000. 175

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die Gattungsfrage (Märchen – Novelle – „Märchennovelle“) hat in der Forschung, nicht zuletzt durch die neuere strukturale Anthropologie und deren Symboldeutung, die unterschiedlichsten Antworten gefunden. Tieck hat im Blonden Eckbert seine Poetik der Absage an den sinnhaften Text einer radikalen Konzentration unterworfen, und er hat auf die darstellungstechnischen Aporien der früheren und gleichzeitigen Texte mit der „Erfindung“ einer Gattung, mit einem Textexperiment mithin, und mit einem neuen Stil lakonischer und atemloser Kürze reagiert. So ist der Blonde Eckbert stets eine Herausforderung der Literaturgeschichte gewesen; ein Text, der inmitten des wohl heterogensten Prosawerks der klassisch-romantischen Epoche entstand und der auf fast magische Weise diesem Umfeld entzogen scheint – und zugleich ein Text, der fast sofort und bis heute als „zentrales Archiv der romantischen Literatur“ gelesen wurde. Schon der Anfang des Blonden Eckbert zeigt den enormen Verdichtungs- und Verrätselungsprozess, den des Überlagerns von Zeichen und des Aussendens von Signalen, der für diesen Text charakteristisch ist. Jedes Zeichen spielt dabei mit der Gattungskonvention und der Lesererwartung zugleich: In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man gewöhnlich nur den blonden Eckbert nannte. Er war ohngefähr vierzig Jahr alt, kaum von mittler Größe, und kurze hellblonde Haare lagen schlicht und dicht an seinem blassen eingefallenen Gesichte. Er lebte sehr ruhig für sich und war niemals in die Fehden seiner Nachbarn verwickelt, man sah ihn nur selten außerhalb den Ringmauern seines kleinen Schlosses. Sein Weib liebte die Einsamkeit eben so sehr, und beide schienen sich von Herzen zu lieben, nur klagten sie gewöhnlich darüber, daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kindern segnen wolle. (FTA VI, 126/1260)16

Die ganze Ambivalenz der folgenden Geschichte ist hier angelegt. Märchenuntypisch wird der Ort der Handlung genau bezeichnet: der Harz, der Ort der literarischen Imagination des Erhabenen seit der Dichtung des Göttinger Hain, der Harz, den Goethe nach der Brockenbesteigung im Dezember 1777 emphatisch mit Sinn aufgeladen und zu einem trigonometrischen Punkt seines symbolischen Lebensentwurfs gemacht hatte. 16 Der Blonde Eckbert wird nach der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags unter Verwendung der Sigle FTA zitiert: Ludwig Tieck: Schriften (bislang 5 von 12 Bänden). Hg. von Manfred Frank [u.a.]. Frankfurt/M. 1985ff. Bd. VI: Phantasus. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt/M. 1985. Der Band präsentiert den Eckbert im Zusammenhang des Phantasus, also in der Fassung des Jahres 1812. Die Abweichungen vom Erstdruck sind im Variantenapparat dokumentiert; auf sie wird hier unter Angabe der Seitenzahlen zurückgegriffen. 176

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Der Harz wird nun zum Schauplatz der Ambivalenz;17 außer dem Ort ist fast nichts des hier gesagten sicher: der Name („den man gewöhnlich … nannte“) eine fragwürdige Konvention, das Alter unsicher, die Physiognomie unauffällig, die Beziehung zwischen EckBert und Bertha, den „Namensgleichen“, ebenso ungesichert („beide schienen sich von Herzen zu lieben“) wie genealogisch folgenlos, solipsistisch (was auf das ansonsten „blinde“ Inzestmotiv des Schlusses deuten könnte).18 Soziologisch herrscht die Isolation der (hier kinderlosen) Kleinfamilie, jene neuzeitliche Konstellation, die Tieck als erster zum Schauplatz der Literatur, und zwar der Literatur des subtilen Schreckens und der Deformation gemacht hat. Auch der Freund Walther, „an dem sich Eckbert sehr gehängt hatte, weil er an ihm ohngefähr dieselbe Art zu denken fand, die er selbst hatte“ (FTA VI, 126/1260), entspricht dieser bürgerlichen Pathologie, er „sammelte Kräuter und Steine, und beschäftigte sich damit, sie in Ordnung zu bringen“. (FTA VI, 126) Für ein Märchen ein ungewöhnlich realistischer Auftakt. Diesem ersten, realistischen Erzählbeginn wird in Berthas Erzählung ein zweiter entgegengesetzt. Dazwischen schiebt die Erzählinstanz einen erfahrungsseelenkundlichen Passus, wie überhaupt der Blonde Eckbert mit erfahrungsseelenkundlichen Signalwörtern durchsetzt ist. „Es gibt Stunden“, so wird hier in der objektiven Stimme des Psychologen, aber zugleich in zwei atemlosen Sätzen postuliert, in denen es den Menschen ängstigt, wenn er vor seinem Freunde ein Geheimnis haben soll, was er bis dahin oft mit vieler Sorgfalt verborgen hat, die Seele fühlt dann einen unwiderstehlichen Trieb, sich ganz mitzuteilen, dem Freunde auch das Innerste aufzuschließen, damit er um so mehr unser Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich die zarten Seelen einander zu erkennen, und zuweilen geschieht es wohl auch, daß einer vor der Bekanntschaft des anderen zurück schreckt. (FTA VI, 126f.)

Dieser ‚objektive‘ Einschub bereitet die Erzählung Berthas vor; in einer für ein Märchen untypischen Reflexion auf das Märchen – „Nur haltet meine Erzählung für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.“ (FTA VI, 127) – stellt diese ihre Geschichte, den märchenhaften Kern 17 Vgl. zum Folgenden Cord-Friedrich Berghahn: Ludwig Tiecks Harzmotive. In: Literarische Harzreisen. Bilder und Realität einer Region zwischen Romantik und Moderne (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 10). Hg. von Cord-Friedrich Berghahn, Herbert Blume, Gabriele Henkel und Eberhard Rohse. Bielefeld 2008, S. 93.114, insbes. S. 99ff. 18 Vgl. Jörg Bong: Texttaumel (Anm. 15), S. 350. 177

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des Blonden Eckbert, vor. Es ist eine Geschichte der Isolation, ausgelöst durch Berthas ‚Nutzlosigkeit‘ im Kreis ihrer Kleinfamilie; in ihr avanciert Einsamkeit, wiederum untypisch für die Konventionen des Märchens, von der unbewussten Isolation des Helden zum bewussten Zustand. Als Einsame wird Bertha durch Landschaften des Schönen und des Erhabenen geführt, durch Landschaften, die den Gegensatz Bergland / Tiefland semantisch funktionalisieren, wird, ganz in der Tradition der erzählten Landschaft des 18. Jahrhunderts, Szenenwechseln unterworfen, die von der Gleichung zwischen Landschaft und Protagonist leben.19 Inmitten der schrecklich-erhabenen Landschaft des Harzes – des Ortes des Wunderbaren im Eckbert – trifft sie schließlich auf den ambivalenten locus amoenus der Hütte der Alten. Berthas Erzählung schöpft aus dem reichen Inventar der Märchentradition, aber sie travestiert die aufgenommenen Motive, sie psychologisiert und reflektiert sie. Dass der Blonde Eckbert ein Märchen ist und kein psychologischer Beitrag des Magazins für Erfahrungsseelenkunde, kein psychologischer Roman wie der Lovell oder eine phantastische Erzählung wie der Abdallah, liegt an Tiecks virtuoser Kunst des Übergangs zwischen der realen Welt und dem Wunderbaren, und an dem Schauer, den er auf der Basis seines poetologischen Kalküls und seiner Beobachtungen zu Shakespeare’s Behandlung des Wunderbaren zu inszenieren versteht. Beides kulminiert in der Darstellung der seltsamen Alten, die Bertha im Gebirge trifft: „Indem ich sie so betrachtete, überlief mich mancher Schauer, denn ihr Gesicht war in einer ewigen verzerrten Bewegung, indem sie dazu wie vor Alter mit dem Kopfe schüttelte, so daß ich durchaus nicht wissen konnte, wie ihr eigentliches Aussehn war.“ (FTA VI, 133/1262) Die Korrespondenzen zwischen Berthas Schilderung der Alten und den poetologischen Beobachtungen im Shakespeare-Aufsatz, in dem Lachen wie Schrecken als durch „unbegreiflich schnelle[] Beweglichkeit der Imagination“ (FTA I, 703) benachbart gedeutet werden, drängen sich auf. Die Welt des Eckbert ist die des Wunderbaren des ShakespeareAufsatzes, gespiegelt im Medium der Prosa. Daher die fehlende Rückbindung der Physiognomie der Alten an einen sinnlich zureichenden Grund.20 Im Eckbert hat Tieck – nach dem Aus-Schreiben der anthropologischen Prosa der Spätaufklärung, nach dem anti-hermeneutischen Experiment des Lovell, der sich gerade durch seine Anti-Hermeneutik auch als philosophische Standortbestimmung im Rahmen der transzendentalen Wende der Ästhetik verstehen lässt – ein Modell des sich-selbst19 Cord-Friedrich Berghahn: Ludwig Tiecks Harzmotive (Anm. 17), S. 99f. 20 Wolfgang Rath: Ludwig Tieck. Das vergessene Genie. Studien zu seinem Erzählwerk. Paderborn 1996, S. 264. 178

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vernichtenden Textes aufgestellt,21 absolut autonom. Und er hat zugleich die Bestimmungen zwischen Erhabenheit und Witz und die des Psychologischen, des Unterbewussten provokant neu bestimmt: als Phänomen der Lektüre. Zwischen Lektüre und Handlung entfalten sich zahllose Korrespondenzen, und Tieck lässt die Personen im Selbstkommentar, aber auch die Kommentare ironisch und wie unabsichtlich darauf deuten. So, wenn die Erzählinstanz nach der Geschichte Berthas von Eckbert wachsendem Misstrauen berichtet: „Es fiel ihm ein, daß Walther nicht so herzlich von ihm Abschied genommen hatte, als es nach einer solchen Vertraulichkeit wohl natürlich gewesen wäre. Wenn die Seele erst einmal zum Argwohn gespannt ist, so trifft sie auch in allen Kleinigkeiten Bestätigung an.“ (FTA VI, 140) Der Blonde Eckbert radikalisiert in dieser Hinsicht textuelle Konfigurationen, die sich in den Berliner Werken früh gezeigt hatten und die Tieck vor allem im Briefwechsel mit Wackenroder als Grenzgang zwischen ‚authentischem‘ Dokument und literarischer Fiktion in allen Variationen durchgespielt hat. Dies geschieht unter dem Einfluss der Erfahrungsselenkunde, aber auch unter dem poetologisch-medizinal-pathologischen des anthropologischen Romans. Der blonde Eckbert radikalisiert diese Konstellation nicht zuletzt durch sein ungeheures, schwindelerregendes Erzähltempo. Nach der Binnenerzählung Berthas vollzieht sich die Auslöschung des Textes wie seiner Figuren auf kaum einem halben Dutzend Druckseiten. Das korrespondiert mit den Thesen des Shakespeare-Aufsatzes, aber auch mit der Medizinalpathologie der Zeit. Marcus Herz’ Versuch über den Schwindel des Jahres 1786 hatte aus medizinischer Sicht das Phänomen der Reizüberflutung – also die Amplituden des modernen Lebens – untersucht, und seine Beobachtungen lassen sich auch als poetologische Bemerkungen zu Tiecks Text lesen. So schreibt Herz, dass die zu schnelle Abfolge von Vorstellungen diese um „Klarheit und Lebendigkeit“ bringe: „die Seele unterscheidet sie nicht mehr deutlich, sondern stellt sie sich als ein verworrenes Ganze vor, in dem [sie] weder Ordnung noch faßliche Abstechung der Theile findet; und endlich gerät sie selbst in den Zustand der Verwirrung: einen Zustand, der eigentlich den Schwindel ausmacht“.22 Ein Blick auf den Schluss des Blonden Eckbert soll das verdeutlichen. Wohl nie wieder im Klassisch-Romantischen Zeitalter ist die Erwartung 21 Vgl. Jörg Bong: Texttaumel (Anm. 15), S. 368ff. 22 Marcus Herz: Versuch über den Schwindel. Zweite Auflage. Berlin 1791, S. 174; der Passus ist zentral für die Thesenbildung bei Jörg Bong: Texttaumel (Anm. 15), S. 122 und 355. 179

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an Literatur so subversiv unterlaufen worden – obwohl der Text wie durch eine ästhetikgeschichtliche List der Geschichte kanonisch geworden ist. Der Schluss radikalisiert den Erzählgestus des Eckbert, der sich durch eine Praxis des permanenten Neuanfangs charakterisiert. In der Tat können die 72 Absätze des Textes als 72 Erzählschritte gelesen werden.23 Perspektivwechsel, Wechsel in der Erzählinstanz, Zweifel und Konjunktivisches, vermischt mit lapidaren Feststellungen – der Schluss der Erzählung bietet alle Ambivalenzen auf, um in einer hermeneutischen Gewaltorgie Text und Person des „Eckbert“ im Akt der Auslöschung, des „Verscheidens“ zusammenzuführen. Auch das Lied von der „Waldeinsamkeit“, das zum dritten Mal im Text in einer Metamorphose, seiner letzten, erscheint, unterläuft den Anspruch, den Lyrik im Roman spätestens seit Goethes Wilhelm Meister kanonisch behauptet: Evidenz der Wahrheit und Orakel der Handlung zu sein. [Eckbert] stieg träumend einen Hügel hinan; es war, als wenn er ein nahes Bellen hörte, Birken säuselten dazwischen, und er hörte mit wunderlichen Tönen ein Lied singen: Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid, Von neuem mich freut Waldeinsamkeit. Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckbert geschehn; er konnte sich nicht aus dem Rätsel heraus finden, ob er jetzt träume, oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig. (FTA VI,145/1266)

Hier vollzieht sich, eingebettet in ein neues Anfangen des Erzählens, das sich doch bald zersetzt, die Auflösung des Texts: äußerlich als allmähliche Subversion der sinnlichen Gewissheit Eckbert, motivisch als Subversion und Parodie der Apokatastasis. In der Tat, die Dinge des Märchens, die unerlösten Dinge der Erzählung Berthas, die Dinge, an die sich Schuld geheftet hat, kehren im Schluss zurück: „Eine krummgebückte Alte schlich hustend mit einer Krücke den Hügel heran. Bringst Du meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund? schrie sie ihm entgegen. […] Eckbert lag wahnsinnig in den letzten Zügen; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied wiederholen.“ (FTA VI, 146/1266) Keine restitutio in integrum, nicht „Wieder23 Vgl. Jörg Bong: Texttaumel (Anm. 15), S. 288ff. 180

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herstellung und Neubeginn“, keine apokatástasis pánton, von der die Apostelgeschichte 3,21 kündet: Die Dinge der Handlung kehren nicht als erlöste wieder, aber auch nicht als Fluch, als märchenadäquate Werkzeuge einer finalen Gerechtigkeit. Der Schluss des Eckbert hebt sowohl die Poetik des Märchens auf – es gibt keine erkennbare Schuld und keine Wiederherstellung eines gerechten Urzustand vor der Geschichte – wie auch die des psychologischen und anthropologischen Erzählens. Statt dessen wird mit dem Inzestmotiv ein neuer gewaltiger Schuldzusammenhang, der sich mit keiner Handlungsmaxime des Vorangegangenen erklären ließe, „abrupt und unverständlich“ eröffnet. Das Überlagern der Schuld – Diebstahl der magischen Requisiten, Mord, Inzest – führt aber tatsächlich zur Inflation von Schuld, hebt diese auf. Übrig bleibt ein dem tradierten Sinn entzogenes Zeichensystem. Nicht nur Eckbert liegt am Schluss des Erzählens wahnsinnig und verscheidend „in den letzten Zügen“, sondern auch Der blonde Eckbert, der Text selbst. An einem Extrempunkt seiner erzählerischen Praxis hat Tieck im Blonden Eckbert die Traditionen des anthropologischen und des erfahrungsseelenkundlichen Erzählens zum Implodieren gebracht. Dabei ist dieses negative Ausschreiben des psychologischen Modells dieser verpflichtet, wie es überhaupt fest in der spätaufklärerischen Literaturlandschaft wurzelt, deren Modelle benutzt und mit deren Signalwörtern falsche Fährten legt. So fingiert Tieck mit dem wiederholten Aufnehmen erfahrungsseelenkundlicher Schlüsselwörter eine Hermeneutik des Psychologischen, die der Text kunstvoll unterläuft; nicht länger die von Blanckenburg eingeforderte „innere Geschichte“, sondern Aufhebung von Subjekt und realer Welt, die Widerlegung des Psychologischen und das autonome Spiel der Zeichen stehen im Mittelpunkt des Blonden Eckbert, der damit zugleich auf eine Moderne vorausdeutet, die selbst die modernistische Frühromantik durch ihre transzendentalpoetische Ausrichtung nicht impliziert. Der Blonde Eckbert wird zum Skript einer Literatur der Kontingenz, die zuletzt nur auf den Text selbst verweist. So positioniert sich Tiecks Blonder Eckbert implizit am Ende einer Entwicklung und zugleich als Solitär. In der Tat hat der Text weder im Zusammenhang der Volksmährchen noch in Tiecks weiteren Schaffen ein Pendant gefunden. Tieck hat an dieses Modell nicht sinnvoll anknüpfen können, aber er hat zentrale Elemente der hier gezeigten Poetik in die Gemeinschaftsprojekte mit dem Freund Wackenroder eingebracht. Aus ihnen ist der Sternbald in einem katalytischen Prozess hervorgegangen.

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IV. Mit dem Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen lässt Tieck 1798 – mittlerweile 25jährig – zum ersten Mal sein Inkognito fallen. Dieser programmatische Auftakt einer Autorschaft verleiht der „altdeutschen Geschichte“, wie der Sternbald im Untertitel heißt, eine Sonderstellung im Kosmos der Werke seiner Berliner Zeit. Und in der Tat scheint der Roman von Tiecks früheren erzählerischen Experimenten deutlich getrennt. „In Thematik, Tonlage und Erzählstil sind die […] Bücher so grundsätzlich verschieden, daß man sich fragen kann, ob sie überhaupt in einem spezifischen Sinn vergleichbar sind.“24 Der Roman hat eine weit intensivere Rezeption erfahren als alle vorigen Werke.25 Das mag zum einen mit der fortgeschrittenen Konstitutierung der literarischen Frühromantik zusammenhängen, die im Erscheinungsjahr des Sternbald mit dem Athenäum ihre eine literarische und literaturtheoretische Plattform bekam, zum anderen mit der allmählichen Herauskristallisierung des Weimarer Projekts von Goethe und Schillers das seit dem Winter 1794 auch institutionell Kontur gewann. Die Grenzen zwischen Klassik Romantik waren zu diesem Zeitpunkt zwar changierend und es sollten noch fast zehn Jahre vergehen, bis die literarischen Akteure selbst die Existenz jener „Schulen“ konstatierten, von denen am Ende der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen die Rede ist. Die entscheidenden diskursiven Neubestimmungen des literarischen Feldes jedoch fallen in die Jahre zwischen 1795, dem Erscheinungsjahr der Horen, und 1798, dem Erscheinungsjahr des Athenäum. Kaum ein anderer Text markiert den literaturgeschichtlichen Ort dieser Ausdifferenzierung besser als Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre; die entschiedene Zurückweisung des Textes durch die literarischen Protagonisten der Spätaufklärung (in deren Reihen Tieck seine schriftstellerische Sozialisation erfuhr) ist ein Seismograph der Neubestimmung der Idee des Poetischen und der Form des Romans. Seine enthusiastische Aufnahme durch die Frühromantik bildet die entscheidende Konstante in der Formation ihres Literaturbegriffs. Dass Goethes Roman sofort als Paradigma erkannt wurde, zeigt wohl kaum ein Umstand besser als die Entstehung des Sternbald. Tieck hat seinen Roman, ja sein Romanschaffen überhaupt, aus der späten Dresdner Perspektive konsequent in Beziehung zu Goethes Roman gesetzt, er hat die Elemente des Meister mit den Bausteinen der von Wackenroder 24 Christoph Brecht: Die gefährliche Rede (Anm. 3), S. 77. 25 Vgl. die Rezeptionszeugnisse in der vorzüglichen Ausgabe von Walter Münz, nach der im Folgenden unter Verwendung der Sigle FS auch zitiert wird: Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte, herausgegeben von Ludwig Tieck. Stuttgart 1999, S. 495-533. 182

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entwickelten Ästhetik und vor allem den Möglichkeiten seiner Prosa amalgamiert. Zugleich aber stellt der Sternbald auch ein Moment in jenem Prozess der Subversion der Schrift dar, den ich in meinen Überlegungen zum Lovell und zum Blonden Eckbert angedeutet habe. Tieck fällt hinter das bereits erschriebene Projekt keineswegs zurück. Auch der Sternbald ist ein aporetischer Text, verweigert sich den Bestimmungen des Transzendentalromans. Weder lässt sich die Geschichte Franz Sternbalds als sinnvoller Bildungsprozess interpretieren, noch führt seine Wanderschaft – zumindest im uns überkommenen Romanfragment – an ein wirkliches Ziel; weder wird aus den Gesprächen über Bilder, Kunst und Künstler eine in sich geschlossene Ästhetik, noch gelingt es dem labilen Titelhelden, die Kunst befriedigend in’s Leben zu überführen; weder erscheint eine historische Perspektive des Handelns, noch ein für das gefährdete Subjekt schützender Rückzug aus der Geschichte. In dieser Hinsicht erinnert die Beschreibung des Subjekts im Sternbald an Tiecks Subjektdemontage im Abdallah, im Lovell und im Eckbert (um nur Schlüsselwerke aus einem ganzen Kosmos narrativer, dramatischer und lyrischer Subjektsubversionen zu nennen). Doch zugleich, und das mag für die intensive Diskussion des Romans vor dem Hintergrund der Jahrhundertwende um 1800 einstehen, zugleich kennzeichnet den Sternbald nicht nur ein neuer Ton, sondern auch eine neue narrative Technik. Dem Prozess der Auflösung des Erzählens wie vom Abdallah zum Eckbert geführt wurde, wird hier mit einer neuen narrativen Strategie begegnet, die intermedial ist – und die in der Geschichte der Romantik auch intermedial gewirkt hat. Seit Richard Alewyn 1962 das Fragment einer Fortsetzung des Sternbald publiziert hat, ist die geisteswissenschaftliche Fragestellung nach der Nähe des Romans zur idealistischen oder romantischen Kunstphilosophie oder nach seiner Affinität zum Wilhelm Meister zurückgetreten zugunsten einer Betrachtung der Textur des Romans.26 Und in der Tat ist die vermeintliche Naivität des Helden, ja der kindliche Ton der Protagonisten überhaupt das Ergebnis eine äußerst komplexen Konfiguration, in der sich problematische Subjekt der Epoche wiederfindet. Auf literarischer Ebene korrespondiert dieser Autopsie der Zerfall des Romans in unzählige heterogene Bruchstücke: Briefe, Bilder, Bildbeschreibungen, Lieder, Gedichte. Zugleich erodiert ein oszillierender Erzähler mit seinen Kommentaren die Versuche, sich auf die Wahrnehmungen der Protagonisten zu verlassen.27 26 Richard Alewyn: Ein Fragment der Fortsetzung von Tiecks „Sternbald“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1962), S. 58-68. 27 Die drei von Ernst Ribbat ausgemachten Haupttendenzen der SternbaldExegese werden damit problematisch: sowohl die Deutung des Romans als 183

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Damit ist jeder Versuch zum Scheitern verurteilt, der Tiecks Roman mit den Mitteln des Bildungsromans zu lesen unternimmt. Im Folgenden soll der Sternbald daher als allegorischer Roman gelesen werden. Dies ist in der Geschichte der Tieck-Forschung kein neuer Ansatz: Als erster hat Paul Böckmann auf die zentrale Bedeutung des Allegoriebegriffs für Tiecks Erzählen hingewiesen;28 Hans Geulen hat dies aufgegriffen und im Sternbald einen perspektivischen, mit Simultaneitätskonzepten durchsetzten Roman gesehen, in dem die einzelnen Episoden unterschiedliche Momente desselben Gegenstands repräsentieren.29 Seine Beobachtungen decken sich – wie Christoph Brecht gezeigt hat – mit Paul de Mans Beobachtung einer Wiederkehr der Allegorie in Texten der europäischen Frühromantik. Diese ist keine identische, sondern eine, die in Distanz zum eigenen Ursprung steht und damit auf Identität verzichtet. Ist Identität zwischen Subjekt und Objekt der Kern der symbolischen Literaturkonzeption um 1800,30 so deuten die allegorischen Tendenzen der Literatur der Zeit auf das Scheitern dieses Identitätsprojekts.31 Tiecks Sternbald

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Bildungsroman, als „Selbstdarstellung des ‚romantischen‘ Geistes und als propädeutischen Roman einer neuen Generation (vgl. Ernst Ribbat: Ludwig Tieck: Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie. Kronberg/Ts. 1978, S. 99ff. – Vgl. dazu auch Konrad Feilchenfeldt: „Franz Sternbalds Wanderungen“ als Roman der Jahrhundertwende. In: „… laßt uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn! –“. Ludwig Tieck (1773-1853). Hg. vom Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin; unter Mitarbeit von Heidrun Markert (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 9). Bern [u.a.] 20, S. 163-177, hier S. 164. Paul Böckmann: Die romantische Poesie Brentanos und ihre Grundlagen bei Friedrich Schlegel und Tieck. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1934/35), S. 56-175, insbes. S. 144ff. Hans Geulen: Zeit und Allegorie im Erzählvorgang von Ludwig Tiecks Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 18 (1968), S. 281-298, hier S. 290. Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 65ff.; – Zur Konjunktur des Symbolbegriffs in der Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. Bengt Algot Sörensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der Romantik. Kopenhagen 1963; Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1965, insbes. S. 70f. Aus diesen Elementen einer Theorie der frühromantischen Allegorie und aus den Ansätzen, das Fehlen eines Symbolbegriffs bei Tieck nicht als Mangel zu interpretieren hat Christoph Brecht die wohl überzeugendste Lesart des Sternbald als allegorischem Roman destilliert. Ihr sind die nun folgenden Überlegungen zur Intermedialität und zur Bildpoetik des Sternbald verpflichtet (vgl. Die gefährliche Rede [Anm. 3], S. 77-115). 184

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ist das vielleicht früheste Zeugnis dieses historischen Moments in der Geschichte der Frühromantik. Das Scheitern von Identität ist der Kern des Sternbald-Romans. Franz Sternbalds Wanderungen führen nicht nur, wie von der Germanistik lange kritisiert wurde, an kein wirkliches Ziel, sondern sie lösen die Gewissheiten des Romananfangs und damit auch die Ideenwelt der TieckWackenroderschen Gemeinschaftsprojekte auf in einen Kosmos der Kontingenz. Am Ende seiner allegorischen Wanderschaft steht der Künstler, der schon lange keine Kunst mehr schafft, nach der Vereinigung mit Marie in allegorischer Beziehung zum Anfang des Romans.32 Und er steht in einem Bild, das er seit der Kindheit in sich trägt und das er als Bild auch im Verlauf seiner Wanderschaft auf rätselhafte Weise auffindet. Man hat den Sternbald als die Geburtsstunde der romantischen Landschaft bezeichnet.33 Und in der Tat ist der Roman mit seinen zahlreichen Naturschilderungen, seinen Landschaftsevokationen und synästhetischen Momenten aus Landschaft, Kunst und Musik ein Bildinventar aller späteren Romantik geworden.34 Dabei ergibt eine eingehende Autopsie dieser Naturbilder des Sternbald, dass sie weder den ekphrastischen Reichtum jener erzählten Bilder des europäischen Schauerromans erreichen, noch in ihrer Detailfülle und in ihrem mimetischen Anspruch an die des William Lovell heranreichen. Im Lovell, in dem doch romantheoretisch und erzählpraktisch so vieles implodiert, funktioniert wenigstens momenthaft die symbolische Gleichung zwischen dem erzählten Subjekt und der ihn spiegelnden Landschaft. Anders als Rousseau in der Nouvelle Heloise hat Tieck die allegorisierenden Tendenzen seiner Landschaften hier bewusst gedämpft.35 Die erzählten Landschaften sind erzählte Bilder, die sich ihrerseits auf die erzählten Bilder des Erhabenen Berufen. Der mimetische Anspruch des erzählten Bildes und damit auch der Anspruch des erzählten Individuums auf Identität bleibt so prinzipiell gewahrt. Das ändert sich im Sternbald grundsätzlich. Seine Landschaften sind Montagen, aus 32 Hans Geulen: Zeit und Allegorie (Anm. 31), S. 283. 33 Vgl. für viele Christoph Brecht: Die gefährliche Rede (Anm. 3), S. 88; vgl. dazu umfassend Johanna Matzner: Die Landschaft in Ludwig Tiecks Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“. Diss. Heidelberg 1971. 34 Vgl. Käthe Harnisch: Deutsche Malererzählungen. Die Art des Sehens bei Heinse, Tieck, Hoffmann, Stifter und Keller. Berlin 1938, S. 40ff. 35 Für de Man werden gerade die Landschaften in Rousseaus Nouvelle Héloϊse zu paradigmatischen Texten für seine Theorie der Rückkehr der Allegorie als leerer unter dem Signum der nachmetaphysischen Moderne; vgl. ders.: Allegorie und Symbol in der europäischen Frühromantik. In: Festschrift für Max Wehrli. Zürich 1969, S. 409-431, hier S. 417. 185

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wenigen, immer wiederkehrenden Elementen zusammengesetzt36 – und vielleicht aus genau diesem Grund so eindrücklich. Der Anspruch des Symbols, Identität zwischen Subjektivem und Objektivem zu stiften und das zeitliche Schicksal des Subjekts im Kunstwerk zu suspendieren wird in diesen allegorischen Bildern aufgegeben.37 Das ist das eine Verstörende am Sternbald. Die Insistenz seiner Bilder verdankt sich wesentlich der Aufgabe von Identität und der Akzeptanz von Diskontinuität, die ein Opfer ist und eine Geste radikaler Autonomie zugleich. Denn „während das Symbol die Möglichkeit einer Identität oder Identifikation postuliert, bezeichnet die Allegorie zunächst eine Distanz zum eigenen Ursprung, und durch ihren Verzicht auf den Wunsch und die Sehnsucht nach dem Zusammenfallen stellt sie ihre Sprache in die Leere dieser zeitlichen Differenz. Indem sie das tut, erhält sie das Ich in der ganzen Kraft seiner Autonomie und schützt es gegen die illusorische Identifikation mit dem Nicht-Ich […]“.38 Schauen wir, wie die Bildpoetik des Sternbald funktioniert. Stellen wir also die Frage nach der strukturellen Bedeutung der Landschaft und die nach der strukturellen Funktion der im Roman beschriebenen und gedeuteten Kunstwerke. Tieck hat mit dem Sternbald mehr vorlegen wollen als eine arabeske Fortsetzung des Lovell mit anderen Mitteln. Dabei bleibt die psychologische Befindlichkeit des Engländers auch beim Nürnberger Maler als Konstante: Auch Franz Sternbald ist durch unendliches Räsonnement charakterisiert. Im Unterschied zum Engländer, der am Ende einer eigentlich bedeutungslosen Geschichte in der Flut der heterogenen Schriftzeugnisse förmlich verschwindet, verschwindet das Autonomiestreben des jungen Malers im Sternbald unter der „Kunst genannten endogenen Bilderflut“, die jeden „Ansatz zur reflexiven Selbstaneignung vollends erstickt“.39 Im ersten Teil des Romans, der noch deutlicher als der zweite die Signatur der gemeinsamen Überlegungen mit Wackenroder trägt, klaffen die im Stil der Herzensergießungen beschriebenen Bilder und Franz Sternbalds psychische Disposition, in der Flut der Bilder das Ich zu verlieren, unvermittelt auseinander. So folgt auf die Klosterbrüderliche Paraphrase der heiligen Familie des Lukas von Leyden Sternbalds Bekenntnis:

36 Marianne Thalmann: Formen und Verformen durch Vergeistigung der Farben. In: Romanik in kritischer Perspektive. Heidelberg 1976, S. 152-184, hier S. 157. 37 Vgl. Paul de Man: Allegorie und Symbol (Anm. 37), S. 416 und passim. 38 Paul de Man: Allegorie und Symbol (Anm. 37), S. 424. 39 Christoph Brecht: Die gefährliche Rede (Anm. 3), S. 85. 186

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Seit meiner Abreise aus Nürnberg hat sich alles das geändert. Meine innerlichen Bilder vermehren sich bei jedem Schritte, den ich tue, jeder Baum, jede Landschaft, jeder Wandersmann, Aufgang der Sonne und Untergang, die Kirchen, die ich besuche, jeder Gesang, den ich höre, alles wirkt mit quälender und schöner Geschäftigkeit in meinem Busen, und bald möcht’ ich Landschaften, bald heilige Geschichten, bald einzelne Gestalten darstellen, die Farben genügen mir nun nicht, die Abwechslung ist mir nicht mannigfaltig genug, ich fühle das Edle in den Werken andrer Meister, aber mein Gemüt ist nunmehr so verwirrt, daß ich mich durchaus nicht unterstehen darf, selber an die Arbeit zu gehen. (FS 99)

„Alle meine Entwürfe“, heißt es in einem Brief des Malers an seinen Freund Sebastian, „Hoffnungen, Mein Zutrauen zu mir geht vor neuen Empfindungen unter, und es wird leer und wüst in meiner Seele, wie in einer rauhen Landschaft, wo die Brücken von einem wilden Waldstrome zusammengerissen sind.“ (FS 34) Diese aporetische Subjektposition schlägt sich in der Sprache der Romanfiguren, ja in der gesamten Sprache des Sternbald nieder. Tiecks Roman ist nicht nur in der Flexibilität seiner Erzählpositionen meisterhaft, sondern auch in seiner Fähigkeit, aus der Reflexion über die defizitäre Sprache die narrative Struktur des Geschehens zu generieren. Sie konzentriert sich auf die Schwellenmomente zwischen Bild und Text-Bild. Im ersten Teil folgt so auf Franz’ Autopsie der defizitären Sprache, die defizitär schon für das Individuum ist, die emphatische Anrufung Raffaels und seiner Kunst. „Meinst Du nicht“, so Sternbald, „daß es dem großen Künstler möglich sei, in einem Historiengemälde oder auch auf andre Weise einem fremden Herzen das deutlich hinzugeben, was wir jetzt empfinden?“ (FS 205) Und die Bilddeutung Florestans von Raffaels Fresken der Farnesina ist eine allegorische – also eine, die genau das von Franz eingeklagte verwehrt. Im Sternbald entwickelt Tieck in zwei großen Erzählkomplexen des zweiten Teils seine allegorische Bildpoetik: in der Episode mit dem Eremiten (II.i.5, FS 247-265) und im Gespräch mit der Äbtissin über den Ausdruck in der Malerei (II.ii.2, FS 353f.). Sternbalds Begegnung mit dem wahnsinnigen Eremiten ist ein mit dem anderen Selbst des Künstler. Allegorisch ist sie schon in der sie einbettenden Landschaft gestaltet, die den wandernden Maler am Scheideweg des Herkules zeigt. Am Scheideweg ist er nicht nur in künstlerischer Hinsicht, sondern auch in identitätsgeschichtlicher: „denn er selbst war hier anders“ heißt es im Roman über den Maler, der im endlosen Räsonnement das Ich zu verlieren droht; und in einer solchen prekären Situation befindet sich Sternbald auch jetzt, wenn der Grund seiner Wanderungen in Frage gestellt wird. So schlägt die erzählte Landschaft um in medientheoretische Überlegungen: 187

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Der Weg wand sich enge und schmal zwischen Felsen hindurch, Tannengebüsch wechselte auf dem kahlen Boden, und nach einigen Stunden stand Franz auf dem höheren Gipfel des Gebirges. / Nun war es wie ein Vorhang niedergefallen, seinem Blicke öffnete sich die Ebene wieder, die kahlen Felsen unter ihm verloren sich lieblich in dem grüne n Gemisch der Wälder und Wiesen, die unfreundliche die unfreundliche Natur war verschwunden, sie war mit der lieblichen Aussicht eins, von dem übrigen verschönert, diente sie selber, die anderen Gegenstände zu verschönern. Da lag die Herrlichkeit der Ströme vor ihm ausgebreitet, er glaubte vor dem plötzlichen Anblick der weiten, unendlichen, mannigfaltigen Natur zu vergehen, denn es war, als wenn sie mit herzdurchdringender Stimme zu ihm hinaufsprach, als wenn sie mit feurigen Augen vom Himmel und aus dem glänzenden Strom heraus nach ihm blickte, mit ihren Riesengliedern nach ihm hindeutete. […] die Wolken zogen unten am Horizont durch den blauen Himmel, die Widerscheine und die Schatten streckten sich auf den Wiesen aus und wechselten mit ihren Farben, fremde Wundertöne gingen den Berg hinab, und Franz fühlte sich wie festgezaubert, wie ein Gebannter […]. / O unmächtige Kunst!“ rief er aus und setzte sich auf eine grüne Felsbank nieder; „[…] Ich höre, ich vernehme, wie der ewige Weltgeist mit meisterndem Finger die furchtbare Harfe mit allen ihren Klängen greift […]. Die Hieroglyphe, die das Höchste, die Gott bezeichnet, liegt da vor mir in tätiger Wirksamkeit, in Arbeit, sich selber aufzulösen und auszusprechen, ich fühle die Bewegung, das Rätsel im Begriff zu schwinden – und fühle meine Menschheit. – Die höchste Kunst kann sich nur selbst erklären, sie ist ein Gesang, deren Inhalt nur sie selber zu sein vermag.“ (FS 249f.)

Die Szene scheint zunächst traditionelle Allegorie; und zwar eine, die eine symbolische Konfiguration von Natur zugrunde legt: sie verbürgt jene Stabilität, die dem Subjekt so schmerzlich abgeht.40 Sternbald, dem sich die Bilder entziehen, ist plötzlich selbst im Bild, und zwar in einem, dem die komplexe Zeichentheorie Herders zugrunde liegt, die Schöpfungshieroglyphe der Ältesten Urkunde nämlich.41 Damit ist das Wahrgenommene nicht mimetisch erfassbar; es ist selbst ein Zeichensystem – Signifikant, nicht Signifikat. Auch der wahnsinnige Eremit, dessen Leben sich wie eine redundante Spiegelschrift zu Sternbalds Weg verhält,

40 Vgl. Paul de Man: Allegorie und Symbol (Anm. 37), S. 416. 41 Vgl. Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Werke in zehn Bänden. Hg. von Günter Arnold, Martin Bollacher, Jürgen Brummack, Ulrich Gaier, Gunter E. Grimm, Hans Dietrich Irmscher, Rudolf Smend, Rainer Wisbert. Frankfurt/M. 1985-2000 (künftig: FHA), Bd. IV, S. 179-660. 188

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macht den jungen Maler auf die Chiffrenschrift der Natur aufmerksam, sieht die Natur als allegorischen Text: Franz war vor Erstaunen wie gefesselt, denn dermaßen hatten ihn bis dahin noch keine Worte angeredet; er erschrak über sich selber, dass er aus dem Munde eines Mannes, den die übrigen Leute wahnsinnig nannten, seine eigensten Gedanken deutlich ausgesprochen hörte, so dass wie mit Bannsprüchen seine Seele aus ihrem fernen Hinterhalt hervorgezaubert ward und seine unkenntlichen Ahndungen in anschaulichen Bildern vor ihm schwebten. (FS 253) Das aus dem Bild generierte Gespräch über Bilder jedoch nimmt arabeske Wendungen. So muss ausgerechnet die Ästhetik Schillers dafür herhalten, zum Urgrund der allegorischen Ästhetik des Sternbald zu werden:42 „Alle Kunst ist allegorisch“ (FS 257), heißt dementsprechend der Kernsatz des widergängerischen Klosterbruders. Er findet sich im Zentrum der Eremitenepisode – inmitten einer Welt aus erzählten Bildern, die alle allegorisch auf die Handlung des Romans und auf die polymorphe Befindlichkeit seines Helden zu beziehen sind. In ihrem Zusammenhang wird die allegorische Wanderschaft, die zumindest diese Episode konsequent durchzieht, selbst wieder zum Bild, das wieder im allegorischen Diskurs aufgelöst wird: Er machte hierauf den jungen Maler auf eine Landschaft aufmerksam, die etwas abseits hing. Es war eine Nachtszene, Wald, Berg und Tal lag in unkenntlichen Massen durcheinander, schwarze Wolken tief vom Himmel hinunter. Ein Pilgram ging durch die Nacht, an seinem Stabe, an seinen Muscheln am Hute kennbar: um ihn zog sich das dichteste Dunkel, er selber nur von verstohlenen Mondstrahlen erschimmert; ein finsterer Hohlweg deutete sich an, oben auf einem Hügel von fern her glänzte ein Kruzifix, um das ich die Wolken teilten; ein Strahlenregen vom Monde ergoß sich und spielte um das heilige Zeichen. (FS 257)

In der für den frühen Tieck so charakteristischen Mischung aus lapidarer, ja atemloser Prosa – die immer bereit scheint, über die so bedeutsamen Zeichen hinwegzueilen – findet sich hier die ganze Welt Runges, Friedrichs und der Nazarener vorweggenommen. Doch nicht diese antizipierte

42 Vgl. zu Tiecks Nähe zur Schillerschen Ästhetik Erich Meuthen: „[…] denn er selbst war hier anders“: Zum Problem des Identitätsverlusts in Ludwig Tiecks „Sternbald“-Roman. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 30 (1986), S. 383-406, hier S. 395. 189

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Bildwelt allein macht das erzählte Bild bedeutsam, das aus der den Aporien des Gesprächs über die Kunst herausführen soll und doch nur wieder in die Allegorie, zum Zeichen (des Kreuzes) führt.43 Tieck entwickelt hier eine Bildpoetik, die dem Text über die Aporien der Schrift hinweghilft. Der Sternbald unterscheidet sich darin grundsätzlich vom Lovell. Wo der Briefroman eine Kaskade polyphoner Stimmen montierte, um das endlose und doch stillgestellte Räsonnement seines Helden fortzuschreiben, reiht der Sternbald Bilder an Bilder, die zugleich Erzählräume sind und Allegorien. In ihnen manifestiert sich die höchst artifizielle Poetik des Romans, die Innenwelt und Außenwelt in einer komplexen Figuration von Schrift zusammenfallen lässt. Diese ist Darstellung, Handlung und Reflexion zugleich. Die Realität wird „zum künstlerisch arrangierten environment, das Bild zum Lebensraum, außerhalb dessen keine andere Erfahrung mehr existiert“.44 Es gehört zu den Stärken des Romans, dass der Sternbald aus dieser krisenhaften Konstellation von Schrift und Bild zugleich ein ironisches Konzept des Erzählens gewinnt. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als im jenem Kapitel, in dem Franz seine Idee der Kunst im Streit mit dem Bildhauer Bolz präzisiert und diese dann im Kunstdisput mit der Äbtissin wieder modifizieren muss (II.ii.2, FS 336-367). Das lange, und vielleicht zentrale Kapitel des Romans zeichnet sich im Hinblick auf Tiecks weiteres Schaffen nicht zuletzt dadurch aus, dass die (allegorische) Gestalt des Phantasus hier zum ersten Mal erscheint, und zwar in einem Gedicht, das eine Handlungsstillstellung bewirkt.45 Der spätere Knabe Phantasus – der Schutzgeist der Sammlung von 1812 – ist hier noch ein alter, gefesselter Mann. Aber schon hier verbürgt seine Anwesenheit – nicht anders als die des Einsiedlers Serapion bei E.T.A. Hoffmann – als Allegorie die künstliche „Natürlichkeit und Lebendigkeit der losgelassenen Phantasie“.46

43 Vgl. Christoph Brecht: Die gefährliche Rede (Anm. 3), S. 97f. 44 Ernst Ribbat: Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen (1798). In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1993, S. 58-74, hier S. 63. 45 Über die Bedeutung die Tieck diesem Gedicht (Die Phantasie, nicht zu verwechseln mit dem Phantasus-Gedicht in der gleichnamigen Sammlung von 1812) zugemessen hat, informiert die vorzügliche Ausgabe der Tieckschen Gedichte von Ruprecht Wimmer (FTA VII, 612f.). 46 Ethel Matala de Mazza: Die Kraft der Einbildung oder wie erfindet sich ein romantischer Autor? Zwei Lektionen in zwei Lektüren von Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann. In: Bild und Schrift in der Romantik. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Oesterle (Stiftung für Romantikforschung; VI). Würzburg 1999, S. 255-277, hier S. 259. 190

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Das Kapitel setzt ein mit der knappen Schilderung eines Jahrmarkts, die erst in Franz’ Monolog zum wirklichen, detaillierten Bild avanciert: Franz sagte zu sich selbst: „Welch ein schönes Gemälde! und wie wäre es möglich, es darzustellen? Welche angenehme Unordnung, die sich aber auf keinem Bilde nachahmen läßt! Dieser ewige Wechsel der Gestalten, dies mannigfaltige, sich durchkreuzende Interesse, daß die Figuren nie auch nur auf einen Augenblick in Stillstand geraten, ist es gerade, was es so wunderbar schön macht.“ (FS 336)

Das erzählte Bild löst sich im Folgenden auf in die Montage fiktiver Bilder, die auf das Kommende der Handlung Verweisen: auf die Sklaverei Roderigos und auf die anthropologische Konstante der Phantasie. Von diesem Punkt ausgehend entwickelt Franz Sternbald eine anthropologische Theorie der Kunst als Kunst des Ausdruck und des Realismus (wenn der historisch anders besetzte Begriff hier einmal verwendet werden darf), die im selben Kapitel noch in den Strudel der divergentesten Kunstkonzepte gerät. Der Auftrag, in einem Kloster ein altes Wandbild zu restaurieren, führt in erneut mit dem irasziblen Bildhauer Bolz zusammen. Gemeinsam durchwandern sie während ihres Gesprächs über Kunst eine Kette erzählter Landschaftsbilder. Und während Bolz Michelangelo als den einzigen Weg der Kunst, und die zukünftige wahre Kunst als einen einzigen Weg verkündet, wird es dunkel und das Bild einer neuen, industriellen Erhabenheit erscheint vor den Disputierenden: Der Mond stieg eben unten am Horizont herauf, sie hatten schon fernher Hammerschläge gehört, jetzt standen sie vor einer Eisenhütte, in der gearbeitet wurde. Der Anblick war schön; die Felsen standen schwarz umher, Schlacken lagen aufgehäuft, dazwischen einzelne grüne Gesträuche, fast unkenntlich in der Finsternis. Von Feuer und dem funkelnden Eisen war die offene Hütte erhellt, die hämmernden Arbeiter, ihre Bewegungen, alles glich bewegten Schatten, die von dem hellglühenden Erzklumpen angeschienen wurden. Hinten war der wildbewachsene Berg so eben sichtbar, auf dem alte Ruinen auf der Spitze vom aufgehenden Monde schon beschimmert waren: gegenüber waren noch einige leichte Streifen des Abendrots am Himmel. (FS 340f.)

Das Gespräch über die Kunst nimmt durch dieses gesehene Naturbild eine neue Wendung. Das erzählte Bild führt zu einem Disput, der sich als Ästhetik einer neuen Art der Landschaftsmalerei ebenso deuten lässt wie als poetologische Reflexion der Romans Franz Sternbalds Wanderungen. Wie im Blonden Eckbert, wo mit Eckbert auch der Text selbst im Wahnsinn dahinscheidet fallen auch im Franz Sternbald die Ebene der Handlung und der Selbstreflexion des Romans in ein untrennbares Drittes zu191

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sammen, dass weder Erzählung noch Theorie genannt werden kann. Von hier aus mutet die spätere Abwendung der Frühromantik von diesem Text als entschieden falsche Tendenz an;47 von hier aus auch wird der Unterschied zwischen der Bildpoetik des Sternbald und der der Dresdner Novellistik evident: Selbst wenn in den späteren Texten Versatzstücke des Frühwerks erscheinen, so doch in ganz anderer Absicht und in einem, wie mir scheint, weniger komplexen Verhältnis zwischen exoterischer und esoterischer Dimension. So markiert das Wiedererscheinen der Bilder des Franz Sternbald in der Novelle Die Gemälde (1821) einen gegenüber dem Künstlerroman ganz anders gearteten Erzählmodus, der vielleicht als realistischer bezeichnet werden kann.48 So heißt es in Anbetracht der wahrgenommenen Landschaft: Nun, mein Freund, [so Franz] was könntet Ihr sagen, wenn Euch ein Künstler auf einem Gemälde diese wunderbare Szene darstellte? Hier ist keine Handlung, kein Ideal, nur Schimmer und verworrene Gestalten, die sich wie fast unkenntliche Schatten bewegen. Aber wenn Ihr dies Gemälde sähet, würdet Ihr Euch nicht mit mächtiger Empfindung in den Gegenstand hineinsehen? Würde er die übrige Kunst und Natur nicht auf eine Zeitlang aus Eurem Gedächtnisse hinwegrücken, und was wollt Ihr mehr? Diese Stimmung würde dann so wie jetzt Euer ganzes Inneres durchaus ausfüllen, Euch bliebe nichts zu wünschen übrig, und doch wäre es nichts weiter als ein künstliches […] Spiel der Farben. (FS 341)

Franz entwickelt im Anschluss an diese Ästhetik der Landschaftsmalerei, die eine des Romans als komplexer Schrift ist, gewendet gegen den trivialen Handlungsroman, aber auch gegen den anthropologischen Roman der Aufklärung; und er entwickelt hier die Vorstellung einer neuen Mythologie aus dem Geist der Moderne um 1800, einer Mythologie, deren Pluralismus den der Kunst aufzufangen vermag. Doch diese Spekulationen führen – in der Logik der Handlung – Bolz und Sternbald aus der Gesellschaft und isolieren sie. Indem sie durch eine Kaskade wahrgenommener Landschaftsbilder geführt werden, verlieren sie den Weg zu47 Vgl. FS 485ff.; dazu Ernst Ribbat: Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen (Anm. 46), S. 60. 48 In intermedialer Hinsicht ist allerdings auch dieser neue Modus äußerst komplex. Die Bilder des Sternbald erschienen nämlich nicht lediglich wieder, sie werden auf eine seltsame Weise „zitiert“, nicht erzählt, sind eher Sinnfermente als in ihrer Autonomie belassene Artefakte; vgl. Walter Hinderer: Erzählte Bilder und eingebildete Texte: Anmerkungen zu Tiecks Novelle Die Gemälde (1821). In: Bild und Schrift in der Romantik (Anm. 48). S. 217-234, insbes. S. 225f. 192

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rück zur Stadt. Dass sich die beiden dabei über Kunst streiten, führt sie ebenfalls vom rechten Weg ab. Tiecks Roman führt gerade in diesem Kapitel emphatische Kunst- und Naturbilder mit einer hintergründigen Ironie zusammen, lässt auf den vielleicht schönsten Seiten des Romans die Handlung in’s Banale kippen. Der Mond war indes heraufgekommen und glänzte ihnen im vollen Lichte entgegen, durch die Hohlwege, die sie durchkreuzten, über die feuchte Wiese herüber, von den Bergen in zauberischen Widerscheinen. Die ganze Gegend war in eine Masse verschmolzen, und doch waren die verschiedenen Gründe leicht gesondert, mehr angedeutet als ausgezeichnet; keine Wolke war am Himmel, es war, als wenn sich ein Meer mit unendlichen goldenen Glanzwogen sanft über Wiese und Wald ausströmte und herüber nach den Felsen bewegte. / „Könnten wir nur die Natur genau nachahmen“ [und sie ist ja hier durchaus künstlich, ist Text], sagte Sternbald, „oder begleitete uns diese Stimmung nur so lange, als wir an einem Werke arbeiten, um in frischer Kraft, in voller Neuheit das hinzustellen, was wir jetzt empfinden, damit auch andre so davon ergriffen würden, wahrlich, wir könnten oft Handlung und Komposition entbehren und doch eine große, herrliche Wirkung hervorbringen!“ (FS 342)

Von diesem Punkt einer Ästhetik der Unmittelbarkeit und des absoluten Ausdrucks führt kein Weg mehr in die zeitgenössische Gesellschaft. Bolz und Sternbald verirren sich. In der Nacht, in der Franz nicht schlafen kann, erscheint ihm als poetische Vision die allegorische Gestalt des Phantasus. Auch dieses Gedicht kann als Binnenpoetik des Kapitels gelesen werden. Am folgenden Morgen nun geht Franz an die Restaurierung alter, fast verblasster Wandbilder in ein einem nahen Kloster. Diese stellen die Geschichte der heiligen Genoveva dar, und zwar mit jenen altertümlichen Zetteln, die in Schrift das Gesehene erklären, ergänzen und deuten. Hier will Franz seine Ästhetik des absoluten Ausdrucks, der absoluten und aus dem Wie des Kunstwerks, aus der Poiesis entspringenden Bedeutsamkeit in praxi demonstrieren. Franz entwirft das Bild aus seiner Ästhetik heraus neu;49 aus dem narrativen Kunstwerk, das jeden mimetischen Anspruch versagt, soll jenes Oszillieren zwischen Wahrheit und Täuschung werden, das insgesamt als poetische Idee der KlassischRomantischen Epoche gelten darf. Doch daraus wird nichts. „Nein, Herr Maler“, wendet die Äbtissin ein, der nichts an Franz’ pluralistischer Ästhetik, ja am Gedanken der Autonomie der Kunst überhaupt gelegen ist, „Ihr müsst das Bild im ganzen so lassen, wie es ist, und um alles ja die Worte stehenlassen. […] An der sogenannten Wahrheit und Täuschung 49 Christoph Brecht: Die gefährliche Rede (Anm. 3), S. 111. 193

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liegt mir sehr wenig: wenn ich mich einmal davon überzeugen kann, daß ich hier in der Kirche diese Wildnis mit Tieren und Felsen antreffe, so ist es mir ein kleines, auch anzunehmen, daß diese Tiere sprechen und daß ihre Worte hingeschrieben sind, wie sie selbst nur gemalt sind.“ (FS 354) Auf der einen Seite thematisiert Tieck hier jene historische Spannungslage der Exegese, wie sie Hans Belting für die abendländische Kunst zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit beschrieben (und wie sie Walter Benjamin in ein ästhetisches Konzept gefasst) hat: Bild und Kult, Anspruch der Kunst und des Rituals geraten in ein aporetisches Verhältnis, dessen Lösungsversuche die Re-Auratisierung der Schrift und die Kunstreligion sein werden.50 Auf der anderen Seite korrespondiert diese Passage mit dem Abbrechen der ästhetischen Perspektive des Romans selbst. Sein mimetischer Anspruch, seine Forderung nach absoluter Bedeutung ist nicht einzulösen, das haben ja schon Lovell wie Eckbert gezeigt. Und wie dem Flaneur in Baudelaires Le Cygne51 wird auch Sternbald, dem Maler der nun bald nicht mehr malen wird, das Wahrgenommene zur Allegorie: Die Verworrenheit aller dieser Vorstellungen bemächtigte sich seiner so sehr, daß er zu weinen anfing und keinen Gedanken erhaschte, der ihn trösten konnte. […] Er schweifte durch die Stadt, und die bunten Häuser, die Brücken, die Kirchen mit ihrer künstlichen Steinarbeit, nichts reizte ihn, es genau zu betrachten, es sich einzuprägen, […] in jedem Werke schaute ihn Vergänglichkeit und zweckloses Spiel mit trüben Augen, mit spöttischer Miene an. Die Mühseligkeit des Handwerkers, die Emsigkeit des Kaufmanns, das trostlose Leben des Bettlers daneben schien ihm nun nicht mehr, wie immer, durch große Klüfte getrennt: sie waren Figuren und Verzierungen von einem großen Gemälde […]. (FS 356f.)

Dem melancholischen Maler zerfällt im Moment des Scheiterns seiner ästhetischen Utopie der Sinnzusammenhang der Phänomene. Übrig bleibt, ganz im Sinne Benjamins, die Allegorie als das Bild des Diskontinuierlichen, übrig bleibt jene Kontingenz, von der der Lovell in psycho50 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990; vgl. auch Jörg Träger: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. München 1997, insbes. S. 11-43. 51 Charles Baudelaire: Les fleurs du mal. Tableaux parisiens, LXXXIX. Le Cygne: „[…] tout pour moi devient allégorie / Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.“ (Baudelaire: Sämtliche Werke und Briefe [8 Bde.]. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois. Bd. III. München 1975, S. 231.) 194

LUDWIG TIECKS BILDPOETIKEN

logischer und der Eckbert in narratologischer Hinsicht handelten. Im Sternbald korrespondiert der Psyche des melancholischen Künstlers die Allegorie; sie wird ihm zur einzig möglichen Erfahrung. Ihm wird alles – die Landschaften, in denen er sich erfährt wie die Kunstwerke – zur Allegorie, und dies in einem eminent modernen Sinn: zur Allegorie nämlich für das Ich selbst. Dem melancholischen Künstler wird der Modus der Allegorie zur einzig möglichen Erfahrung, und Tiecks Poetik der Bilder zur einzig möglichen Darstellungsform. An die Stelle der symbolischen Landschaft, die seit Petrarca das Ineins von Subjekt und Reflexion verbürgte, tritt hier die allegorische, die genau dies versagt. V. Franz Sternbalds Wanderungen ist ein Roman der Medienkrise der Romantik. Seine semiologische Ökonomie ist grundsätzlich aus den Fugen geraten,52 und in seinen Experimenten mit erzählten Bildern, mit erzählter Musik und erzählten Liedern schlägt sich das grundsätzliche Misstrauen dem diskursiven Erzählen gegenüber nieder, das schon den William Lovell und den Blonden Eckbert charakterisiert hatte. Diesen Texten gegenüber erschreibt sich Tieck im Künstlerroman über einen Künstler, dem sich die Bilder zunehmend entziehen, einen Standpunkt des Allegorischen, der die zentralen Erfahrungen der Moderne einschließt. Romantisch ist der Roman also nicht etwa in der Lebenswelt Florestans oder in den gezeigten Alternativen zwischen Kunst und Leben, romantisch ist er vielmehr in der Thematisierung jener fundamentalen Diskontinuität. Von daher lässt er sich als Protest gegen den Entwicklungsroman lesen,53 dessen diskursives Telos er durch eine Flut stillgestellter Bilder unterminiert. Diese Bilder – Kunstwerke und Landschaften – werden einem permanenten subversiven Wandel unterworfen; so wird die erzählte Landschaft zur erzählten Musik (der allegorischen Kunst kat exochén), und so begegnet uns der Klang des Waldhorns im Moment seines Ertönen nicht als Urszene romantischer Imagination, sondern schon als verhallter. Tiecks Sternbald steht also nicht zufällig am Ende einer Entwicklung seiner Prosa, die erst wieder mit den Dresdner Novellen wirklich einsetzen sollte, also über 20 Jahre später. Tieck hat in den Prosawerken bis zum Franz Sternbald alle Möglichkeiten der Prosa ausgelotet, um im Künstlerroman ein Drittes zu erschreiben, einen Text zwischen Darstellung und Theorie, Handlung und Reflexion, eine Text, der die Kategorien unterläuft und die Kritik ratlos machen musste. Hier endet die Geschichte 52 Vgl. Gerhard Neumann / Günter Oesterle: Einleitung. In: Bild und Schrift in der Romantik (Anm. 46), S. 9. 53 Vgl. Erich Meuthen: „… denn er selbst war hier anders“ (Anm. 44), S. 400. 195

CORD-FRIEDRICH BERGHAHN

des Romans der Aufklärung, ja die Geschichte des Handlungsromans überhaupt, aber hier beginnt auch etwas: der romantische Text einer absoluten Einbildungskraft. Im Künstlerroman über Franz Sternbald hat Tieck eine Bildpoetik entworfen, die mit ihrer komplexen Intermedialitätsstrategie eine produktive Kontingenzbewältigung möglich macht. Möglich wird sie in der unhintergehbaren Schrift, die der Autopsie einer fragwürdigen Wahrnehmung – zu der im Roman die kippenden Bilder und Bilderzählungen geführt haben – zugleich mit einer Bildkritik sekundieren. Die Bilder lösen sich auf in erzählte Musik, und sie geben so dem Paradigma Raum, das zur eigentlichen idée fixe des romantischen Jahrhunderts avancieren sollte. Zu dieser Bildpoetik gehört wesentlich eine produktive Theorie des Lesens, die den entgrenzten Mitvollzug des in der Schrift induzierten ermöglicht. Hier überschneiden sich die Welt des Romans und die Sphäre der Lektüre: „Vermöge der halluzinativen Kraft wird der Leser in diese Räume hineingeführt und gleich einem Cyberspace, den die Lektüre eröffnet, eingeschlossen.“54 In seinem eigenen Cyberspace ist auch Franz Sternbald, wenn es ihn vor den erlebten Bildern in die Bilder zieht und er aus diesen Bildern im Moment der Erfahrung auch schon wieder herausfällt. So erfährt er in seiner Geschichte die absolute Macht der Phantasie, der Imagination, der Simulation, und er erfährt das eigene Verschwinden im Text.

54 Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik (Quellen und Forschungen 26). Berlin/New York 2003, S. 32. 196

DIE MYSTIFIKATION EINER EKPHRASIS ALS POTENZIERUNG DES POETISCHEN REALISMUS. EDUARD MÖRIKES L. RICHTERS KINDER-SYMPHONIE (1861) GÜNTER OESTERLE

1. Einleitung: Drei mögliche Überschriften und ein poetisches Spiel mit der Ekphrasis Anders als bei Mörikes bekannten Gedichten, etwa Denk’ es o Seele, zu denen mir kein Alternativtitel einfallen würde, kann man zu dem von antiken Episteln inspirierten „Plaudergedicht“1 L. Richters KinderSymphonie gut und gern ein halbes Dutzend treffsichere und eigenständig sprechende Überschriften finden und erfinden. Etwas reißerisch, aber reizvoll wäre eine modernistische Variante als passende Überschrift: „Der erste Lokomotivenpfiff in der deutschen Lyrik.“2 Kafka war faszi-

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Im Anschluss an Mörikes Einleitung seiner Übersetzung von Horaz (Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. Hans-Henrik Krummacher u.a., Bd. 8.1, Hg. Ulrich Hötzer, Stuttgart 1976, S. 199f.) hat Ulrich Hötzer den Begriff „Plaudergedicht“ für die artistische Übertragung antiker „Sermones“ und „Episteln“ geprägt. Hötzer fügt ergänzend hinzu, Mörike habe „die paraphrasierende Versform in die deutsche Dichtung eingeführt.“ Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität. Hg. Eva Baummüller, Tübingen 1998, S. 283, 294, 298. Vgl. Günter Oesterle: „Die Grazie und ihre modernen Widersacher. Soziale Verhaltensnormierung und poetische Polemik in Eduard Mörikes Epistel ›An Longus‹“. In: Wolfgang Braungart, Ralf Simon (Hg.): Eduard Mörike. Ästhetik und Geselligkeit, Tübingen 2004, S. 191 – 220. Das Motiv des Pfiffs einer Lokomotive findet sich in der Lyrik schon vor Mörikes Einsatz in seinem Gedicht L. Richters Kinder-Symphonie (in: ders.: Werke und Briefe (s. Anm. 1), Bd. 1.1, hg. v. Hans-Henrik Krummacher, Stuttgart 2003, S. 278ff.), z.B. in Gedichten von Justinus Kerner. Der Vergleich der Verwendung dieses ‚modernen’ Motivs bei Kerner und Mörike verdeutlicht freilich die Innovation Mörikes. Während der Pfiff in Kerners Gedicht Im Eisenbahnhofe polemisch abwehrend von einem schrecklichen getöseverursachenden Ungeheuer namens „Lokomotive“ 197

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niert von Mörikes Arbeitstitel seiner später Mozart auf der Reise nach Prag genannten Novelle. Zunächst hieß diese Erzählung schlicht und einfach Auf der Landstraße.3 Als Pendant zu diesem Arbeitstitel der Mörikeschen Novelle wäre als Untertitel unseres Gedichts denkbar: „Eine Entdeckung während eines Zwischenaufenthalts mit der Eisenbahn“. Vergleichbar der Mozartnovelle wäre diese Entdeckung die eines momenthaften überraschenden Einbruchs eines Kunst und Leben bündelnden Glücks mitten in eine prosaische Alltagswelt. Mörike hat einmal als sein poetisches Verfahren einem Dichterkollegen gegenüber offengelegt, man müsse ein Thema „aus seinen bisherigen Zusammenhängen herauslösen“, um es dann dem Leser „unversehens nahe zu rücken“.4 – Mit diesem „überraschend extemporierten Herausheben“ seien „kühne und kecke Ergebnisse zu erzielen“.5 Zu solchen kühnen und kecken intermedialen Ergebnissen – so meine erste Arbeitsthese – gelangt der listige Poet Mörike, indem er das „nicht genug bekannte[s] Kunstblatt“6 von Ludwig Richter7 aus bisherigen Verstehenshorizonten

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herrührt, also gleichsam pseudomythisiert wird, tritt er bei Mörike als Zeichen einer beschleunigten Zeit, die lyrische Komposition bestimmend, auf. Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, München 1982, S. 68. In der Prosa ist der Pfiff der Lokomotive bei Theodor Fontane und Arthur Schnitzler nachweisbar. Vgl. Theodor Fontane: Cécile, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 2, hg. Walter Keitel, 3. Aufl, München 1990, S. 206; Arthur Schnitzler: Therese. Chronik eines Frauenlebens, Berlin 1928, S. 36. In den Briefen Mörikes spielt der Pfiff der Lokomotive bei den Stuttgarter Spaziergängen ebenfalls eine Rolle. Vgl. bspw. den Brief Mörikes an Familie Hartlaub am 2. April 1853, in: ders.: Werke und Briefe (s. Anm. 1), Bd.16. Hg. Bernhard Thurn, Stuttgart 2000, S. 134. Brief Mörikes an Klara Mörike am 26. Juni 1853, in: ebd., S. 148. Vgl. Kafkas Brief an Max Brod am 20. Juli 1922. Franz Kafka: Briefe 1902 – 1924. Hg. Max Brod, Frankfurt am Main 1958, S. 395 – 398. Mörike: Werke und Briefe (s. Anm. 1), Bd. 9.2, hg. Hans-Ulrich Simon, Stuttgart 1999, S. 439. Ebd. Vgl. den Paratext zu dem Gedicht Ludwig Richters Kinder-Symphonie in: Mörike: Werke und Briefe (Anm. 2), Bd. 1.1, S. 278. Alle Zitate aus Mörikes Gedicht beziehen sich im Folgenden auf die in Anm. 2 nachgewiesene Ausgabe. Gemeint ist die 1858 von Ludwig Richter entstandene Lithographie mit dem Titel Kindersymphonie. Vgl. Johann Friedrich Hoff, Karl Budde (Hg.): Adrian Ludwig Richter, Maler und Radierer. Verzeichnis seines gesamten graphischen Werkes, Freiburg i. Br. 1922; vgl. auch Lothar Kempe: Ludwig Richter, Dresden 1955. 198

DIE MYSTIFIKATION EINER EKPHRASIS

herauslöst, um es mit Hilfe narrativ-raffinierter Künste unversehens näher zu rücken und mit lyrischen Extemporationen ‚herauszuheben‘. Man kann die vorgeschlagene modernistische Lesart mit ihrer fingierten Überschrift: „Der erste Lokomotivenpfiff in der deutschen Lyrik“ durch eine traditionelle Alternative ergänzen. Es handelt sich beim vorliegenden Gedicht nämlich auch um ein Casualgedicht, ein ‚Hochzeitscarmen mit begleitendem Orchester‘. Der Originaltitel des Gedichts L. Richters Kinder-Symphonie wird entsprechend ergänzt durch den paratextuellen Untertitel „als Hochzeitsgeschenk für Marie Hocheisen, geb. v. Breitschwert“. Aber auch diese detaillierten Angaben sind noch nicht präzise genug. Das Gedicht präsentiert nämlich ein Hochzeitscarmenkinderorchester, mit der Eigentümlichkeit, dass es sich hier um eine „Probe“ handelt, eine Probe, der, wie später berichtet wird, keine festliche Uraufführung folgt. An die Stelle der realen Aufführung bei der Hochzeit tritt als „Ersatz“ eine Lithographie dieser Orchesterprobe, eine „stille Musik“, wie es im Gedicht heißt. Dabei ist eine spezifische Pointe zu vermerken, nämlich dass in Mörikes Gedicht L. Richters Kinder-Symphonie das Wort „Probe“ zweimal in zwei verschiedenen Bedeutungen – am Anfang und am Ende – vorkommt, nämlich Probe erstens als Übung der Kinder und Probe zweitens als Zeugnis für großartiges Können. Aus dieser zweideutigen Verwendung von „Probe“ im Gedicht leitet sich die zweite Arbeitshypothese her. Zu bestimmten historisch-gesellschaftlichen Zeiten ist Kunst nur noch im Zusammenwirken aller Vorkünste möglich. Unter Vorkünste und Vorübung von Künsten sind sowohl ästhetische Grenzphänomene wie Grenzphänomene des Ästhetischen zu verstehen, in der Musik also sowohl der dilettantische Versuch wie das Geräusch, in der Dichtung sowohl die prosaischste Information wie der kunstvolle Plauderton, in der bildenden Kunst sowohl die Daguerreotypie wie die Skizze. Damit sind wir nach dem Blick auf ‚moderne und traditionelle Lesearten des Gedichts‘ schließlich drittens bei dem komplexen Zusammenspiel der Künste und Vorkünste angelangt. Wenn wir als ersten Vorschlag eines Titels: „Der erste Lokomotivenpfiff in der deutschen Lyrik. Eine Entdeckung während eines Zwischenaufenthalts mit der Eisenbahn“ wählten, dann als zweite Möglichkeit einer Überschrift erwägen: „Die Probe eines Hochzeitscarmen durch ein Kinderorchester“, so bietet sich als dritte poetologische Variante an: „Von der Ekphrasis zum Zusammenspiel und Widerspiel der Künste“. Ekphrasis ist in der rhetorischen Theorie der Antike keine Gattung der Bildbeschreibung, wohl aber eine Übungsform (Progymnasmata), die sich verpflichtet durch Sprache innere visuelle Bilder zu erzeugen.8 Mö8

Fritz Graf: „Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike“, in: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunst199

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rike ist bekanntlich ein guter Kenner der Antike, u.a. ausgewiesen als Übersetzer aus dem Griechischen. Sein Gedicht L. Richters KinderSymphonie spielt alle Formen der Ekphrasis, des Vor-Augenstellens durch Sprache aus: die Beschreibung, die Narration, die Vision, die evidentia, auch ganz spezifische Formen wie die „Schaurede“9, die in der kaiserlichen Zeit der Antike Festbeiträge mit einer impliziten Beschreibung des Festes selbst verbunden hatte. Dabei lag es zugleich nahe, im Rahmen der Ekphrasis und ihrer Bemühung das innere Auge der Einbildung zu üben, einen Wettstreit der Künste, ein ‚Paragone‘ zwischen Zeichnung und Poesie einzubauen, um die größte visuelle Energie im Gedicht herauszufordern. Mörikes Gedicht L. Richters Kinder-Symphonie ist eine raffinierte und virtuose Übertragung der antiken Ekphrasis in die Moderne. Viele winzige Details wie die Doppeldeutigkeit von „Probe“ als Vorübung und höchste Kunstfertigkeit oder die Verwendung von Anekdoten oder das Motiv des „Stadtbummels“10 sind variantenreiche versteckte Anspielungen auf die Geschichte der Ekphrasis in der Antike. Bevor wir aber auf Spurensuche nach Ekphrasis und ‚Paragone‘ gehen, ist es ratsam, zuerst den dichten und verschachtelten Handlungsstrang des Gedichts zu resümieren. Ein schwäbischer Dichter und ein bildender Künstler aus Dresden entdecken auf der Bahnreise von Friedrichshafen nach Stuttgart während eines Zwischenaufenthaltes – nachmittags, die Uhrzeit wird sogar genannt – im äußersten Winkel des Städtchens Biberach ein Kinderorchester bei der Probe. „Aus dem wirren Getöse“ der „nicht nach Noten“ spielenden Kinder erhebt sich auf einen „Wink“ hin der „helle Glockenklang einer himmlischen Mädchenstimme“, die offensichtlich mit ihrem Anhang einen „bräutlichen Festgesang“ einübt. Der für die beiden Zuhörer überraschende und unerwartete Kunsthochgenuss wird von der „höllischen Pfeife“, die vom Bahnhof her „scholl“, jäh unterbrochen. Der Aufbruch der Reisenden ist unumgänglich. Nach der knappen und amüsanten Schilderung des unterschiedlichen Abschiedsverhaltens der beiden Künstler – der Poet küsst, noch ganz im „Taumel“ der Entzückung befindlich, das „süße Kind“, während der Maler, „praktischer“ veranlagt, den „Beutel“ „zog“ – „rannten“ beide eiligst „fort“ „und Stuttgart zu gings.“ Zu Hause angekommen, entdeckt der Poet „staunend“, dass das kleine „apokryphe Wunder“ des Kunstereignisses beim Zwischenaufenthalt in beschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 143 – 155. Don P. Fowler: Narrate and describe: The problem of ekphrasis. In: Journal of Roman Studies 81 (1991), S. 25 – 35. 9 Graf (ebd.), S. 144f. 10 Ebd., S. 148. 200

DIE MYSTIFIKATION EINER EKPHRASIS

Biberach mit seiner Lebensgeschichte in geheimer Verbindung steht. Denn die Kinderprobe und der „bräutliche Festgesang“ galten der Vorbereitung einer zwischenzeitlich angekündigten Hochzeit einer der liebsten Freundinnen des Hauses Mörikes. Man sieht, dass in dem Gedicht nicht nur die Künste, sondern auch Kunst und Leben auf mannigfache Weise miteinander verstrickt erscheinen. Freilich ist diese Verbindung von Kunst und Leben keinesfalls immer störungsfrei: denn die anstrengenden Vorbereitungen der Kinder werden nicht belohnt. Man fand – typisch schwäbisch – den „Einfall“ eines Auftritts des Kinderorchesters bei der Hochzeit „am Ende zu kühn – die Fahrt zu kostspielig“. Es folgt der fünfzeilige Abgesang: Der Sprecher des „Plaudergedichts“ überreicht als „Ersatz“ für das Nichtauftreten des Kinderorchesters eine Lithographie mit der Darstellung der Kinderszene – eine „stille Musik“, wie es heißt, als Hochzeitsgabe, um mit einem sinnigen Spruch zu Ende zu kommen.

2. Zwei Formen von Bildbeschreibung: Deskription und Performanz Der originale Titel L. Richters Kinder-Symphonie verfügt über zwei Richtungspfeile: Die Nennung des Namens des damals nicht unberühmten Dresdner Zeichners, Malers und Holzschnitterneuerers Ludwig Richter11 lässt eine Ekphrasis erwarten. Das Thema „Kindersymphonie“ hingegen verweist auf ein musikalisches Virtuosenstück vor der Wiener Klassik.12 Offensichtlich ist, dass drei Künste im Spiel sind: Poesie, Musik und Zeichnung. Der Text setzt gleich zweimal mit einer Bildbeschreibung ein, einmal im Paratext deskriptiv und einmal im Gedicht – performativ. Die Bildbeschreibung im Paratext nennt die beteiligten Personen, ihre Kleidung, ihre Instrumente, ihre Haltung und Physiognomie, sogar die Staffage wird beschrieben, freilich mit einem die Bildbeschreibung überschreitenden Zusatz, der mit einem Bindestrich abgetrennt

11 Johann Friedrich Hoff: Adrian Ludwig Richter, Dresden 1877; Kempe (Anm. 7). 12 Den Titel Kindersinfonie erhielt diese Kammerkomposition aus der Zeit vor der Klassik erstmals 1813 durch eine Notenausgabe des Musikverlages Hofmeister. Der Originaltitel lautete Berchtoldsgaden-Musik. Vgl. Robert Illing: Berchtolds gaden musick: a study of the early texts of the piece popularly known in England as Haydn’s Toy Symphony and in Germany as Haydns Kindersinfonie, and of a cassation attributed to Leopold Mozart which embodies the Kindersinfonie, Melbourne 1994; Hildegard Herrmann-Schneider: Edmund Angerer (1740–1794) aus Stift Fiecht/Tirol: Der Komponist der Kindersinfonie? In: Mozart-Jahrbuch 1996, S. 23 – 38. 201

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wird, nämlich der Angabe der von Ludwig Richter „nicht genannte[n] Stadt“ „Biberach“. Der Paratext lautet: Ein nicht genug bekanntes Kunstblatt des vortrefflichen Meisters; Lithographie mit leichter Färbung, Querfolio. – Eine Anzahl Kinder, mehr ländlich als städtisch, in Werktagskleidung, hat sich dicht bei der Stadt am halbverfallenen Zwinger versammelt, wo sie, ganz unter sich, Musik machen. Mit Ausnahme eines ältern Knaben, der eine wirkliche Geige spielt, hat Jedes nur ein Kinderspielzeug, oder ein zufällig gefundenes Surrogat für das betreffende Instrument, einen Trichter, eine Gießkanne und dergleichen in Händen. Der Violinist und ein zweiter Knabe, sowie das älteste Mädchen, welches mit letzterem zusammen singt, haben den edelsten musikalischen Ausdruck auf dem Gesicht. Unmittelbar hinter der Versammlung ist Wäsche zum Trocknen aufgehängt und bildet eine Art von künstlerischer Draperie. – Die nicht genannte Stadt ist Biberach, woselbst der Vater des Bräutigams als erster Geistlicher lebt.

Mit dieser präzisen Angabe der Stadt und der Beziehung dieser Örtlichkeit zu dem Hochzeitspaar wird das „Kunstblatt“ zurückgebunden an eine bestimmte Lokalität und eine präzise umrissene Gelegenheit. Mörike ist nach Goethe wahrscheinlich der bedeutendste Poet der Gelegenheit. Die große Kunst moderner Gelegenheitsdichtung war es, den traditionellen Anlass eines Casualgedichts umzumünzen in eine örtliche oder zeitliche günstige Gelegenheit, das heißt mit Bouterweks Definition der Gelegenheitspoesie zu sprechen, entweder eine „merkwürdige Begebenheit“ oder einen „interessanten Augenblick“13 zu entdecken. Beides gelang Mörike in seinem hochartistischen und gleichwohl bislang unbemerkten Gedicht L. Richters Kinder-Symphonie. Nach der ausführlichen Kunstblattbeschreibung, die sich mit den Angaben zum Bildmedium selbst „Lithographie mit leichter Färbung, Querfolio“ höchst professionell gibt, kann sich der Leser über Gegenständlichkeit, Spielart und Anlass des Geschehens gut informiert fühlen. Er kann sich nun ganz auf das Gedicht und seine Darbietung konzentrieren. Und in der Tat, das Gedicht beginnt im Unterschied zur vorausgegangenen paratextuellen starren Bilddeskription mit einem deiktischen Trick. Die Eingangszeilen „Hier, Liebwerteste, seht ihr einen kleinen / Dilettantenverein“ sind nur verständlich, wenn der Leser sich einen „Schaufestredner“ vor der Hochzeitsversammlung stehend imaginiert, wie er, das „Kunstblatt“ in der Hand, die Braut anzusprechen beginnt. Das Geschick dieses Sprechers ist 13 Friedrich Bouterwek: Geschichte der deutschen Poesie und Beredtsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, Bd. 10, Göttingen 1817, S. 109. Vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977, S. 295f. 202

DIE MYSTIFIKATION EINER EKPHRASIS

es, dass er zwei Geschichten zu erzählen weiß: eine Geschichte des Bildes und eine Geschichte der Bildfindung durch einen Maler und einen Poeten. Die erste Geschichte orientiert sich noch weitgehend an dem vorgegebenen Bildinhalt – nur dass der Bildexeget ihn performativ aufbereitet und dabei nicht versäumt, die Stimmungslage – die Bänglichkeit der Zuhörer angesichts der Verwendung der „Tonwerkzeuge“ und des Anfängercharakters der jugendlichen Musikantengruppe – einzufangen. Bei der Beschreibung der von den kleinsten Kindern verwendeten Musikinstrumente „bis zum Rätschchen und Vater Haydns Kuckuck“ wird die Anspielung auf die Joseph Haydn damals zugeschriebene Kindersinfonie und die dort verwendeten Kinderinstrumente, eben „Kuckuck, Wachtel, Trompete, Trommel, Ratsche, Orgelhenne und Cymbelstern“, ganz offensichtlich.14 Der zeichnerischen Vorlage von 1858 für die poetische Ekphrasis von 1861 ging also ihrerseits eine musikalische Vorgabe aus dem 18. Jahrhundert voraus. Dabei fällt ein eigenes Licht auf die musikalische Experimentierfreudigkeit des 18. Jahrhunderts und die hier dargebotene Distanz zu den dilettantischen Versuchen. Wurden damals die sieben Kinderinstrumente in sieben Sätzen virtuos zur instrumentellen Tonerweiterung genutzt, so geht es jetzt um die Abgrenzung der Künste, ihre Grenze zur Unkunst, in diesem Fall zu Lärm und Getöse. Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Sprecher zu seiner zweiten Geschichte anheben kann, der Erzählung von der Genese der Bildidee des „Kunstblatts“, der zufälligen Entdeckung des Motivs bei einem Zwischenaufenthalt in Biberach. Hatte die erste Geschichte das experimentierfreudige Virtuosenkunststück des 18. Jahrhunderts in Frage gestellt, so dekonstruiert die zweite Geschichte die bildnerische Genrevorgabe im buchstäblichen Sinne: Sie unterläuft das Genre mit krudem Naturalismus, und sie überhöht es in lyrisch-hymnischer Epiphanie.

3. Zur Differenz von Richters idyllischem Genre und der poetischen drastischen Unterbietung und lyrisch-hymnischen Überbietung Richters Blatt hält biedermeierlich streng das idealtypische Reglement von Idylle und Genre ein, nämlich, die Lizenz für konkrete Situativität

14 Die Urheberschaft der sogenannten Kindersinfonie war lange ungeklärt. Zeitweise wurde das Werk Leopold Mozart, Johann Rainprechter, oder auch Joseph Haydn oder dessen Bruder Michael Haydn zugesprochen. Heute gilt Edmund Angerer als Komponist. Vgl. Anm. 12. 203

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nur bei Erfüllung eines Maximums an Generalisierung zu gestatten.15 Richters gezeichnete Kinder, Tiere und Draperien sind typisiert, stilisiert und idealisiert. Im Gegenzug zu dieser Kunstregel plaudert der Hochzeitsredner von den krudesten prosaischen Dingen, vom Vier-Uhr-Zug – und von verarmten Kindern des seligen Kantors. Dieser naturalistischen Unterbietung des Biedermeiergenres korrespondiert auf der anderen Seite eine nicht weniger die Genregattung sprengende Überhöhung: der plötzliche Einbruch einer lyrisch-musikalischen Evokation. Der Stilwechsel von niederster Tonlage im buchstäblichen Sinne zum metaphorisch überhöhten Ton ist nicht zu überhören: Unvollständig noch, als wir kamen, lärmte, Sang und pfiff das Orchester durcheinander: […] Doch verstummend auf unsern Wink mit einmal Wich das wirre Getös dem hellen Goldklang Einer himmlischen Mädchenstimme, wie wenn Nachts aus krausem Gewölk des Mondes Klarheit Tritt, ein Weilchen die reine Bahn behauptend.

Die Abweichung von der Ekphrasis ist hier augenfällig, denn in der bildlichen Darstellung ist die Sängerin stumm; noch zu Beginn des Gedichts wird die Stummheit noch eigens notiert und begründet. „Offenbar“, heißt es, „kommt die Sängerin schon nicht mehr zum Worte“.16 Präzis an dieser Stelle des ‚Paragone‘ wird zugleich das raffinierte Zusammenspiel der beiden Künste demonstriert. Mareike Hennig hat jüngst in ihrer Dissertation mit dem treffenden Titel Sensible Bilder die „optische Undarstellbarkeit einer lautlichen Qualität“ reflektiert.17 Die „Unsichtbarkeit

15 Auch in seinen Schriften bestätigt Ludwig Richter seine Orientierung an dem idyllischen Genrebild. In seinen Lebenserinnerungen eines deutschen Malers (1885) endet das erste Kapitel mit der Darstellung eines paradiesähnlichen Gartens der Großeltern, um danach diese nostalgische Erinnerung mit der Gegenwart des Fröbelschen Kindergartens zu konfrontieren. Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers [1885], Frankfurt am Main 1895, S. 2 – 6. 16 In Briefen hat Eduard Mörike die Abweichung seiner poetischen Bilddeutung von der Richterschen Vorlage eigens thematisiert: „Natürlich habe ich für meinen Zweck das Bild um etwas anders fassen müssen als der Zeichner meinte“. Mörike: Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 17. Hg. Regina Cerfontaine, Stuttgart 2002, S. 131, 636 (Brief an Wilhelm Hartlaub, 21./28. Februar 1861). 17 Mareike Hennig: Asmus Jakob Carstens: Sensible Bilder, Petersberg 2005, S. 93. 204

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des Gesungenen“18 kann allenfalls kompensiert werden durch die Darstellung von Haltung und Gestik der Sänger. Die Poesie nutzt nun ihrerseits ihr Defizit der Unbeschreiblichkeit des himmlischen Goldklangs einer Stimme, um im Bündnis mit der gezeichneten Gestik dennoch die Imagination zu beflügeln: Aber nimmer beschreib ich dieser Kehle Herzgewinnenden Ton, noch jenes Lächeln, Das verschämt um die frischen Lippen schwebte, Noch den wonnigen Ernst, mit dem der Geiger Ihr zunächst sie begleitete, der Bruder; Neigend beide das Haupt nach einer Seite, Wie zwei Wipfel, geneigt von einem Hauche, Seelenvoll dem beseelten Zuge folgend. [Hervorh. im Orig.]

Der zitierte Unsagbarkeitstopos („nimmer beschreib ich“) signalisiert mehr die Stärke der Imaginationsbildung als die Beschreibungsschwäche der Poesie. Im Folgenden spielt die Poesie ihr Potential auf vielfältige Weise aus, „in der sprachlichen Reflexion Sehen und Denken“ auf raffinierte Weise zusammentreffen zu lassen, „um im Dargestellten den Modus der Darstellung erkennbar werden zu lassen.“19 Zunächst nutzt sie ihre metaphorische Energie, um die in der Lithographie nur angedeutete gemeinsame Kopfneigung von Schwester und Bruder beseelend zu vertiefen und zu überhöhen. Dann aber schöpft sie das nur ihr mögliche Imaginationsfeld aus, um Abwesendes, hier den im Probestadium befindlichen „bräutlichen Festgesang“, nun bei der Hochzeit präsent zu machen. Diese erinnernde Apostrophe des Festredners und Gratulanten – „‚Heil! ‘ so klingt es aus Kindermund noch helle / Mir im Sinn“ – hat es freilich in sich, denn ein leicht hingetupfter Vorwurf ist dabei kaum zu überhören. Die Poesie ist nämlich auch in der Lage, durch die imaginative Evokation der Verhinderung dieser festlichen künstlerischen Darbietung Satirisches einzublenden. Die Ekphrasis soll – das ist ihre erwähnte Gattungsvorgabe – mit den Mitteln der Sprache intensivste Innenbilder produzieren, die eindrücklicher ausfallen als es die visuell operierenden Künste vermögen. Sprache und Poesie leisten dies, wie wir seit Lessings Laokoon wissen, durch sukzessiv dargestellte Bewegungsabfolge. In unserem Falle meistert die poetische Imagination diese Aufgabe, indem sie das kleine Kinderorchester – ersatzweise für einen leibhaftigen Auftritt – imaginativ mit Bändern und mit Blumensträußen geschmückt in den

18 Ebd., S. 102. 19 Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 319. 205

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Hochzeitssaal einmarschieren lässt. Der poetische Text beschwört dieses bewegte Innenbild herauf, um eben dadurch um so eindringlicher die Empfindung für den Schmerz der Versagung dieser harmlosen künstlerischen Improvisation spürbar zu machen: – Zwar sie hofften, so hör ich, hier im Saale Heut, sonntäglich geputzt, mit Bändern und mit Blumensträußen, geführt vom Herrn Provisor, Ihre Sache vor euch zu produzieren. Doch das sollte nicht sein, man fand den Einfall Doch am Ende zu kühn, die Fahrt kostspielig.

4. Die Entscheidung im Wettstreit der Künste und die Bedeutung eines Sinnspruch Es gibt nichts daran herumzudeuteln: Die Versagung von Glück und Freude im Lebensvollzug können die Künste prinzipiell nicht wiedergutmachen. Sie bleiben gemeinsam nur „Ersatz“, also eine Kompensationsleistung. In dieser undarstellbaren sekundären Rolle verharren die Künste freilich nicht. Die Poesie weiß Rat auch fürs Leben. Das Gedicht endet mit einem Sinnspruch.20 Das zweideutige Spiel mit der „Probe“ der Kunst – einerseits als improvisierende Vorübung, andererseits als Zeugnis höchster Könnerschaft – nutzt die Poesie, um Kunst und Leben aus dem Bann der teleologischen Vollendung, des Resultatzwangs zu befreien. Alle drei, die Liebe, das Glück und die Kunst können sich von der Fixierung auf das Endprodukt befreien im Blick auf die nicht weniger kostbaren Augenblicke des Vorspiels. Die letzte Strophe lautet: Laßt euch denn, als Ersatz aus Richters Mappe, Diese stille Musik hier auch gefallen –

20 Die Vorliebe des älteren Mörike fürs Epigrammatische hat sein angeblicher Freund David Friedrich Strauß denunziatorisch kritisiert. Vgl. den Brief von David Friedrich Strauß an Friedrich Theodor Vischer am 25. Juni 1853 (Mörike: Werke und Briefe (Anm. 2), Bd. 16, S. 545). Vgl. Siegbert Salomon Prawer: Mörike und seine Leser, Stuttgart 1960. Hubert Arbogast hat hingegen die produktiven Folgen von Mörikes Übersetzung hellenistischer Dichtung treffend charakterisiert: „Mit dem Hauch der hellenistischen Dichtung hat er [Mörike, G. Oe.] das Epigramm, die die Poetik seiner Zeit noch keinen deutlichen Ort angewiesen hatte, zu einer Spezies des Lyrischen umgeformt.“ Hubert Arbogast: ‚… In meinem nahen Versteck’. Über Eduard Mörikes Gedichte. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft (1996), S. 583. 206

DIE MYSTIFIKATION EINER EKPHRASIS

Eine Probe nur freilich, aber war nicht Stets den Liebenden selber ihres Glückes Vorbereitung so süß wie die Erfüllung?

5. Die Mystifikation einer gemeinsamen Entdeckung einer Bildidee durch den Maler Richter und den Poet Mörike und seine Folge: die poetische Gestaltung eines Hyperrealismus Das in Catullischen Versen21 verfertigte „Plaudergedicht“ ist ein instruktives Beispiel für Mörikes Fähigkeit, das Künstliche der Kunst zu verstecken und alles darauf anzulegen, die raffiniertest gearbeiteten Texte als Casualgedichte getarnt anzubieten, in Form von „ein paar Kleinigkeiten […] zum Zeitvertreib bei einer NachmittagsCaffee-Cigarre“22. Gegenüber den Zumutungen seiner Freunde, sich doch endlich statt subjektiven Tändeleien „objektive[n] Stoffe[n]“ zu widmen, betont Mörike beharrlich abwehrend: „Was ich nicht aus mir selbst & etwa aus dem Leben nehmen kann, hat keinen Reiz für mich u. ich kann gar nichts damit anfangen […]“.23 Mörikes Lyrik reagiert auf das ästhetische Verbot, das allzu Intime und Persönliche zur Darstellung zu bringen, indem sie die dokumentarische Authentizität bis auf haptische Details simuliert. Mörike hat den Dresdner Maler und Zeichner persönlich nie gesehen, Ludwig Richter war nie reisend im Schwabenland. Mörike betreibt diese Mystifikation, ein Zusammen- und Wettspiel der drei Künste Musik, Zeichnung und Poesie intermedial so zu inszenieren, auf dass ihre ästhetische Entgrenzung zum Pfiff, Getöse, zum Skript und zur Daguerreotypie hin auf ihren aisthetischen Grund hin sichtbar wird. (Jedes Orchester – zu Beginn – vollzieht den Prozess vom lärmenden Chaos zur kalkuliertgeordneten Kunst). Mörike nutzt die offenen Vorgaben der ‚Vorübung‘ Ekphrasis um zur Veranschaulichung eine – mit Novalis gesprochen – täuschende aber höchst „charakteristische“ Künstleranekdote einzu-

21 In einem Brief erläutert Mörike die komplizierte Anwendung „hochzeitlicher Elffüßler“ durch die Adaption Catullscher Verse: „Meine Verse sind HENDECASYLLABI, auch Phaläcische geheißen, die der Catull so gern gebraucht. Die 3 ersten Zeilen jeder Strophe in Matthissons Adelaide sind auch dergleichen“. Mörike: Werke und Briefe (Anm. 16), S. 131, 636. 22 Mörike an Friedrich Theodor Vischer am 22. Dezember 1861, ebd., S. 170. 23 Mörike an David Friedrich Strauß am 12. Februar 1838. In: Mörike: Werke und Briefe (Anm. 1), Bd. 12. Hg. Hans-Ulrich Simon, Stuttgart 1986, S. 164. 207

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schwärzen,24 die Vision eines Klangerlebnisses poetisch imaginativ zu inszenieren – eine kühne „inspiratio interrupta“25 durch einen Lokomotivenpfiff zu platzieren, danach Erinnerung, Satire und Sinngedicht zu einer virtuosen Sequenz zu bilden. Die Konsequenzen dieser Mystifikation für den poetischen Realismus sind gewichtig und weittragend. Mörike inszeniert die Mystifikation der gemeinsamen Entdeckung einer Bildidee durch den Maler Richter und den Poeten Mörike: um durch eine Übersteigerung der Illusionsästhetik durch eine Mystifikationsästhetik schockhaft transparent zu machen, dass Realismus Ergebnis einer raffinierten, alle verfügbaren Medien nutzenden Konstruktion ist. Wirklichkeit ist eine Frage des Mediums. Rudolf Helmstetter findet, Valérys Aperçu zitierend, in der Zeitung das „transzendentale Medium“ des poetischen Realismus: „Wenn Zeitungen gelesen werden, wird alles wie Zeitungen gelesen.“26 Das ist treffsicher formuliert und doch ergänzungsnotwendig. Die Konstruktion des poetischen Realismus synthetisiert alle verfügbaren Medien – und die Künste sind nur ein Teilsegment dieser Medienlandschaft – zum Zwecke einer Verdichtungsleistung, die den Realismus realistischer erscheinen lässt als die Realität. Die intermedial inszenierte poetische Mystifikation tritt dem „transzendentalen Medium“ Zeitung auf diese Weise ebenbürtig an die Seite. In der Mystifikationslust übertrifft die Poesie sogar die Publizistik. Nur zielt sie nicht rhetorisch auf Effekte nach außen, sondern macht – unter dem Vorwand eines Gelegenheitsgedichts – das poetisch Gelegene, aber in der Moderne Verborgene ausfindig. Paul Heyse hat für diesen einzigartigen Vorgang einen treffsicheren Ausdruck gefunden: „Mörike gehört zu den Wenigen, die, wenn das Wort erlaubt ist, immer nur nach innen feilen […]“.27

24 Novalis: Anekdoten, in: ders.: Schriften. Hg. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Bd. 2, Darmstadt 1965, S. 567 – 569. 25 Arbogast (Anm. 20), S. 528. 26 Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, München 1997, S. 255; Anm. 56. 27 So Paul Heyse im Berliner Kunstblatt in einem Artikel über Mörikes Gedichte. In: Mörike: Werke und Briefe (Anm. 2), Bd. 16, S. 621. 208

DIE MYSTIFIKATION EINER EKPHRASIS

Abbildung: Ludwig Richter, Kindersymphonie, Lithographie, 1858 (Aus: Viktor Paul Mohn: /Ludwig Richter/, Mit 184 schwarzen und 9 farbigen Abbildungen nach Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Holzschnitten, sowie einem Brief-Faksimile, 5. Aufl., Bielefeld u. Leipzig 1914, Abb. 144, S. 119. Reihe Künstlermonographien, in Verbindung mit Anderen hg. H. Knackfuß; 14)

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GEDACHTE INTERMEDIALITÄT. ZUR WECHSELSEITIGEN ILLUSTRATION DER KÜNSTE IN ÄSTHETIKEN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS LOTHAR L. SCHNEIDER

If you’re sitting in a hole stop digging! Donald Rumsfeld

1. Mediale Differenzierung Aus akademisch-disziplinärem Blickwinkel betrachtet, ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts interdisziplinären Unternehmungen eher ungünstig, denn, so könnte man salopp formulieren, die Ästhetik hebt ab und die Kunstwissenschaften laufen auseinander. Die Musikwissenschaft, die in der Ernennung von ‚Universitätsmusikdirektoren‘ (Forkel, Göttingen 1779) schon eine gewisse Repräsentanz erfahren hatte, erlangt in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts breitere Institutionalisierung (Hanslick, Wien 1861; Bellermann, Berlin 1866; Ambros, Prag 1869), in der Kunstwissenschaft tritt Jacob Burckhardt 1854 seine ordentliche Professur für Kunstgeschichte an der Eidgenössischen Hochschule in Zürich an, der erste ordentliche Lehrstuhl für Kunstgeschichte auf deutschem Boden wird 1860 an der Universität Bonn eingerichtet, während in Berlin noch 1873 ein Lehrstuhl für Neuere Kunstgeschichte für Hermann Grimm eigens geschaffen werden muss. Die Germanistik etabliert sich bekanntlich in zwei Schüben: Mitte des Jahrhunderts als Philologie und nach der Reichsgründung als Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Man ist versucht, diese disziplinäre Differenzierung als Bedeutungsverlust der Philosophie und insbesondere der philosophischen Ästhetik, die bisher zuständig gewesen war, zu bedauern. Allerdings scheint die Philosophie darüber nicht unglücklich gewesen zu sein. Evident wird dies im Bereich der formalen Ästhetik in der Tradition Johann Friedrich Herbarts: Sie beschränkt den Geltungsbereich der Ästhetik allein auf die Analyse formaler Verhältnisse im Kunstwerk, während alle anderen As-

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pekte des Artefakts – etwa genetische und rezeptive Bedingungen oder inhaltliche Momente – an je spezifische „Kunstlehren“ delegiert werden.1 Versteht sich schon diese Strömung in der Nachfolge der – so ihre Gegner – inhaltsleeren Kantschen ‚Tapetenmusterästhetik‘, so überrascht kaum, wenn der Neukantianer Hermann Cohen 1889 im Vorwort seiner Darstellung Kants Begründung der Aesthetik apodiktisch feststellt, der Zweck seiner Arbeit sei „lediglich auf die Begründung der Aesthetik im Systeme der Philosophie gerichtet. Aesthetik ist nicht Theorie der Künste. Die Künste haben keine gemeinsame, sondern jede ihre besondere Theorie.“2 Dies bedeutet – ebenso wie in der formalen Ästhetik - zwar keineswegs, dass es zwischen der Ästhetik und einer Theorie der Künste überhaupt keinen Bezug gäbe, aber die Philosophie beschränkt sich darauf, eine allgemeine Voraussetzungstheorie für die Kunstwissenschaften zu formulieren, die aus dem Material der Kunstwissenschaften selbst nicht erschlossen werden kann. Cohen fährt fort: „Theorien enthalten Begriffe; die Aesthetik allein Principien. Und alle Beschäftigung mit der Aesthetik muss unzulänglich und äusserlich bleiben, wenn die Begriffe die Pincipien ersetzen sollen.“3 An dieser Stelle kann eingewandt werden, dass die kantianische Ästhetik durch ihr kritisches Methoden- und Gegenstandsverständnis per se differenzielle Aspekte forciere, während die spekulative Gehaltsästhetik in der Tradition Hegels und Schellings nicht nur in dieser Hinsicht viel offener, sondern vor allem auch in der Epoche bedeutender gewesen sei. Aber auch hier zeigen sich ähnliche Befunde: In den Ästhetiken Köstlins, Lotzes, Schaslers und Carrieres werden weiterhin alle Künste traktiert, doch man beschränkt sich weitgehend auf Parallelstellungen ohne echte inhaltliche Vermittlung. Selbst Friedrich Theodor Vischers Aesthetik, die zur Jahrhundertmitte noch einmal eine Zusammenführung aller Künste unter dem Dach der spekulativen Philosophie versucht hatte, zerfiel in der Selbstrevision des Autors. Obwohl er weiterhin betonte, dass „Rapporte zwischen allen Künsten hinüber und herüber [spielen] und zeigen, dass in ihnen eine Seele waltet“4 und noch in seinem letzten Aufsatz Das Symbol eine umfassende Grundlegung

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Vgl. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. Wien: Braumüller 1865, S. 10f., § 23f.; vgl. S. 524-527, § 976-980. Hermann Cohen: Kants Begründung der Aesthetik. Berlin 1889: F. Dümmler, S. V. Ebd. Friedrich Theodor Vischer: Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Aesthetik. 2. Aufl. Stuttgart: J. G. Cotta 1898, S. 298. 212

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anvisierte,5 konnte das System nicht mehr zusammengeführt werden. So wurde Vischers Aesthetik zwar noch zur Jahrhundertwende als Autorität genannt, meist allerdings verbunden mit der Bemerkung, Vischer biete eine Fülle treffender Beobachtungen, sein System jedoch sei obsolet geworden. Im Mittelpunkt zeitgenössischen Interesses steht nicht die Einheit des ästhetischen Feldes, sondern die Differenz und Spezifik der einzelnen Künste. Dazu einige Stimmen: Hermann Lotze wendet gegen Versuche, der Ästhetik einen identischen Schönheitsbegriff zu Grunde zu legen, ein, solches Schöne sei nur noch ein „Sammelname für verschiedene Gattungen des ästhetisch Wirksamen, die zwar alle den letzten Grund ihres Interesses in demselben Gedanken finden mögen, diesen Gedanken selbst jedoch in sehr verschiedenen Formen und Wendungen und mit mannigfachen Abstufungen der Lebendigkeit zum Ausdruck bringen.“6 Er unterstreicht: „Jeder ästhetische Gegenstand wirkt auf das Gemüth in einer besonderen Weise; ...“ und kommentiert Versuche der ‚Übersetzung‘ einzelner Kunstformen und deren Transposition ins Begrifflich sarkastisch: „Man führt noch häufig den Ausspruch an, dass Baukunst gefrorne Musik sei; dies lässt mich auch auf einige Unsterblichkeit hoffen, wenn ich noch einen Schritt weiter zurücktue und die Mathematik getrocknete Musik nenne.“7 Hermann Cohens Skepsis ist zitiert worden; auch Max Schasler, der für sich selbst in Anspruch nimmt, weniger akademischer Theoretiker als Mann kritischer und kunsthistorischer Praxis zu sein, konstatiert gegen Humboldts These vom ‚gemeinsamen Band der Künste‘ und ihrer gemeinsamen Erhebung der Phantasie gewandt: „Im Gegentheil: je reiner eine bestimmte Kunstwirkung ist, desto specifischer ist sie, und nichts verunreinigt dieselbe mehr als eine Vermischung mit den einer anderen

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Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Das Symbol. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. Unveränderter Nachdruck der Orginalausgabe 1887. Leipzig 1962, S. 151193; auch in: Ders.: Altes und Neues. Neue Folge. Stuttgart: Bonz & Comp. 1889, S. 291-342. Hermann Lotze: Geschichte der Aesthetik in Deutschland. München: Cotta 1868, S. 249. Hermann Lotze: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. 3 Bde. 5. Aufl. Leipzig: S. Hirzel 1909, 3, S. 328. Zum Topos von Architektur als ‚gefrorener Musik‘ vgl. Khaled Saleh Pascha: ‚Gefrorene Musik‘. Das Verhältnis von Architektur und Musik in der ästhetischen Theorie. http://edocs.tu-berlin.de/diss/2004/salehpascha_khaled.pdf. 213

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Kunst angehörigen Wirkungen.“8 Eduard von Hartmann urteilt salomonisch: „Die einfachen Künste können die zusammengesetzen ebenso wenig ersetzen, als diese im Stande sind, jene überflüssig zu machen.“9 Adolf Zeising schließlich, der als ‚Entdecker‘ des goldenen Schnitts in die Geschichte eingegangen ist, schreibt in seinen Aesthetischen Forschungen schon 1855: „Jede einzelne Kunst muß streben, sich innerhalb ihrer Gränzen zur höchsten Vollkommenheit auszubilden, und gerade hierdurch sich würdig und fähig machen, die Leistungen der übrigen Künste als bloß dienende, unterstützende Elemente für sich zu benutzen und die Wirkungen derselben in ihren eigenen Effecten aufgehen zu lassen. [....] Ein Universalkunstwerk in dem Sinne, dass wirklich jede einzelne Kunst darin vertreten wäre und sämmtliche Künste darin zu einer gleichmäßigen Gesammtwirkung gelangten, ist ein Unding; denn die Realisation der Schönheitsidee ist immer nur im Reiche des Besonderen möglich; ...“10

Hier klingt bereits der Problematik des Gesamtkunstwerks an. Bevor ich mich ihr zuwende jedoch noch zwei Belege aus dem Werk des mildesten und integrativsten Ästhetikers der Zeit, des Realidealisten Moritz Carriere. Im ersten Teil seiner Ästhetik steht schlicht zu lesen: „Jede Kunst hat ihre eigene Sphäre, in der es ihr keine andere gleichthut, geschweige denn zuvorthut, in jeder waltet der ganze Geist. [...] So verwirklicht sich der Begriff der Kunst in jeder einzelnen, jede ist etwas in sich Vollendetes; die Mannichfaltigkeit der Künste entspricht der Mannich8

Max Schasler: Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst. Neudruck der Ausgabe Berlin 1872. 2 Bde. Aalen: Scientia Verlag 1971, 1, S. 725; vgl. das analytische Inhaltsverzeichnis in: Max Schasler: Das System der Künste aus einem neuen, im Wesen der Kunst begründeten Gliederungsprincip mit besonderer Rücksicht auf das Drama entwickelt. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich 1882, S. XIIIf.: Die Verbindung der Künste zu einer künstlerischen Totalwirkung: „Wenn dieselbe eine Gleichwerthigkeit der einzelnen miteinander verbundenen Künste für eine Totalwirkung zur Voraussetzung haben soll (wie im sog. ‚musikalischen Drama‘ der Zukunftsmusik), so ist sie, als auf einem principiellen Mißverständnis beruhen, unmöglich.“ 9 Eduard von Hartmann: Aesthetik. 2 Bde. Leipzig: Hermann Haacke 1886f., 2, S. 824. Ähnlich abgeklärt formuliert auch Kirchmann: „Die Beobachtung lehrt, dass dergleichen Verbindungen bis zu einem gewissen Grade möglich sind und bestehen.“ Johann Hermann von Kirchmann: Aesthetik auf realistischer Grundlage. 2 Bde. Berlin: Springer 1868, hier 2, S. 235. 10 Adolf Zeising: Aesthetische Forschungen. Frankfurt a. M.: Meidinger & Sohn Comp. 1855, S. 563f. 214

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faltigkeit des geistigen und natürlichen Lebens, dessen Harmonie in jeglicher offenbar wird.“11

An anderer Stelle ergänzt Carriere: „[D]ie Künste werden groß durch Vereinzelung und werden ihre Selbständigkeit behaupten; ...“12 Dies ist der Blickwinkel der Ästhetiker; was in den Künsten selbst und in der begleitenden Kritik vorgeht, braucht damit nicht identisch zu sein. Teilt man die These, jede Kunst nehme eine selbstgesetzlichen Entwicklung, so erscheint es sogar wahrscheinlich, dass die Positionen der Ästhetik von jenen der einzelnen Künste und diese wiederum untereinander differieren. Hier sind derartige Überlegungen jedoch nur im Rahmen einer allgemeinen ästhetischen Reflexion über Intermedialität relevant. Dabei sehe ich zwei hervorstechende Gegenstandsbereiche: 1. die Photographie; 2. das Gesamtkunstwerk. Letzterer ist, denke ich, unmittelbar plausibel; der erste hingegen erscheint legitimationsbedürftig. Beide Felder markieren Grenzbereiche der ästhetischen Reflexion: Die Photographie steht quasi am unteren Ende, bezeichnet den Übergang von der Autonomie des sittlichen Subjekts zur absoluten Heteronomie eines natürlichen, also die Grenze zwischen Geist und Natur. Aus idealistischer Sicht, welche die Kunst dem genuin menschlichen Bereich von Freiheit und Autonomie zurechnet, bedeutet Photographie praktisch die Auslieferung der Kunst an den Bereich der Naturgesetze und damit den Selbstmord des Ästhetischen. Das Gesamtkunstwerk wiederum steht für die Totalität einer verfehlten Subjektivität, die in der Hybris absoluter ästhetischer Freiheit die ‚realistischen‘ Bedingungen und Notwendigkeiten des Subjekts als Naturwesen ignoriert. Weil seine sinnliche Geschlossenheit eine Totalität usurpiert, die nur im Geistigen und selbst dort nur qualitativ zu erlangen ist, simuliert und parodiert die Erfahrung des Gesamtkunstwerk die Autonomie des sittlichen Subjekts, anstatt sie im ästhetischen Freiraum exemplarisch zu vollziehen. Bei all ihrer Verschiedenheit stimmen diese beiden Kunstformen darin überein, dass die jeweiligen medialen Bedingungen der Kunstwerke ihre Aussagen insoweit determinieren, dass nach Ansicht der zeitgenössischen Kritiker die Souveränität des ästhetischen Subjekts – und damit die Kunst selbst beschädigt wird. Abschließend werde ich anhand zweier signifikanter 11 Moritz Carriere: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung im Leben und in der Kunst. 3. neu bearbeitete Auflage. 1. Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus 1885, S. 627. 12 Moritz Carriere: Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit. 5. Bd.: Das Weltalter des Geistes im Aufgange. Literatur und Kunst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 2. Aufl. Leipzig: F. A. Brockhaus 1874, S. 649. 215

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Interpretationen deshalb die Vermutung wagen, dass beide Phänomene nicht durch einfache Modifikation der ästhetischen Theorien zu bewältigen waren, sondern eine Neukonzeptionierung der Ästhetik erforderten, die das Kunstwerk nicht mehr als Interaktion von Form und Inhalt begriff, sondern die konkrete Interdependenz formaler und inhaltlicher Aspekte, d.h. seine konstitutive Medialität wahrzunehmen ermöglichte.13

2. Photographie oder: die Kamera und ihr Opfer Photographie im gegebenen Kontext zu thematisieren ist gleich aus zwei Gründen problematisch: 1. Weil sie zeitgenössisch nicht als Kunst verstanden worden ist und 2. wenn man sie auch als Kunst erachten will – und schon dies sei nach dem Ansatz meiner Ausführungen methodisch bedenklich -, so ist es doch nur eine Kunst und kein Fall von Intermedialität. Diesem Einwand möchte ich hier nur mit dem summarischen Verweis auf ihre Konvertibilität als Metapher zur Beschreibung der verschiedenen naturalistischen Künste und als metaphorisches Modell derer Selbstbeschreibung begegnen. Die konkreten Reaktionen der Ästhetik auf den neuen Konkurrenten hat Gerhard Plumpe unter der Metapher des ‚toten Blicks‘ aufgearbeitet.14 Er kommt zu dem Schluss, dass die Photographie als mechanische Nachahmung der Natur die basale Theoreme der idealistischen Kunstauffassung negiere. So hatte schon William Henry Fox Talbot den ersten erschienen Bildband The Pencil of Nature betitelt und stolz betont, durch die Mechanik und Chemie des photographischen Prozesses werde die Fehlbarkeit der menschlichen Hand vermieden.15 Gerade diese ‚Fehlbarkeit‘ jedoch galt dem idealistischen Ästhetiker als notwendige Freiheit, welche die künstlerische Reproduktion von der deterministischen Kausalität eines naturhaften Prozesses schied und dem Künstler ermöglichte, die Reproduktion von der Kontingenz des jeweiligen Augenblicks zu lösen und zum Wesentlichen einer tendenziell überzeitlichen Bedeutung vorzudringen. So kommentiert Fechner die Geschichte von einem Steinmetz, der eine Statue des jungen Kaisers Rudolph geschaffen hatte und sie später durch die Hinzufügung altergemäßer Runzeln und Falten ‚nachbesserte‘, abfällig mit den Worten: „Un13 Strikt konstruktivistische interpretiert bedeutete dies: Da es vor der Moderne kein Bewusstsein von Medialität als solcher gibt, kann es auch keine Intermedialität gegeben haben. 14 Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München: Fink 1990. 15 Vgl. Erwin Koppen: Literatur und Photographie. Entstsehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1987, S. 41-43. 216

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streitig nun kann man sagen: das war ein Steinmetz und kein Künstler, und sein Werk kein wahres Kunstwerk, sondern nichts mehr und besseres als steinerne Photographie“16 Als Distributionstechnik zur Verbreitung von Kunst konnte die Photographie noch angehen, weil sie in ihrer Genauigkeit die Fähigkeiten eines durchschnittlichen Kopisten bei weitem übertraf, so eine wiederholt geäußerte Ansicht.17 Auch sprach ihr Moritz Carriere mit einem frühen product placement, einem Verweis auf das Münchner Atelier Hanfstaengel, eine Existenzberechtigung als „Maschine in der Hand des Künstlers“ zu, weil sie mit sorgfältig arrangierten Bildern die „gewöhnlichen Bildnisse der meisten Porträtmaler“ übertreffe.18 Etwas näher kommt Fechner der Logik dieser neuen Kunstform, wenn er das ästhetische Gelingen einer Porträtphotographie selbst bei merklichen technischen Mängeln für möglich hält. Nachdem er die Irritation eines Freundes über ein gelungenes Porträt von dessen Tochter notiert hat, bestätigt er: „Doch sieht man mitunter photographische Bilder namentlich von Frauen mit unbefangenem ruhigem Ausdrucke und natürlicher Haltung, die es, abgesehen von manchen technischen Unvollkommenheiten der Photographie, mit dem bessten [!] Portrait aufnehmen können; ...“19 Allerdings wehrt er anschließend sofort ab: „...; aber es sind Zufälle und die Kunst soll den günstigsten Zufall zur Regel erheben. Die Kunstenthusiasten werden dies nicht zugeben; aber es ist so.“20 Bereits zuvor hatte Fechner selbst die qualitative Differenz zwischen Kunst und Photographie etwas nivelliert, als er wiederum mit Bezug auf ein Kaiserbildnis schrieb: „Selbst Vertreter der idealistischen Richtung möchte es mehr interessieren, dieses getreuliche Conterfei zu sehen, was den Kaiser so menschlich als er war, dargestellt, als ein idealisirtes Schemen desselben desselben, worin der Künstlergeist die Gestalt des Kaisers im Sinne seiner höheren Idee von demselben auszuprägen gesucht, und jedes Fältchen, was nicht zu diesem idealen Kaiser zu passen schien, wegliess. Nun mag man darauf zurückkommen, solche treue Nachbildungen seien vielmehr Sache der Photogra16 Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik. 2 Theile. 2. Aufl. Leipzig 1897f., hier 2, S. 39; vgl. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Nachdruck der 2. Auflage München 1922/23. Hildesheim/New York: Olms 1975, 3. Bd.: Die Kunstlehre, S. 199; Karl Köstlin: Aesthetik. Tübingen: Laupp 1869, S. 987. 17 Vgl. Carriere: Aesthetik, 2, S. 239; Köstlin: Aesthetik, S. 920; Hartmann: Aesthetik 2, S. 557f.; Max Dessoir: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in den Grundzügen dargestellt. Stuttgart: F. Enke 1906, S. 416f. 18 Carriere: Aesthetik 2, S. 309. 19 Fechner: Vorschule 2, S. 111. 20 Ebd. 217

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phie als der Kunst, und man wird in gewissem Sinne Recht haben, nur damit den Vorzug, den die Photographie in gewisser, ich sage nicht in aller, Beziehung vor der Kunst vorausbehält, nicht wegbringen. Wirklich ziehen wir desshalb oft die Photographie, bei der wir wissen, woran wir sind, dem Bilde, bei dem wir das nie recht wissen können, vor und möchte es wünschenswerth sein, zum bessten Bilde von einer uns interessierenden Persönlichkeit noch eine gute Photographie derselben zu haben, stimmt dies schon nicht zu der oft gehörten Aeusserung, dass jedes gute Bild uns mehr von dem uns interessirenden Wesen der dargestellten Persönlichkeit giebt, als die besste Photographie.“21

In seiner Einschätzung des Idealisten geht Fechner, wie wir noch sehen werden, fehl. Zwei Aspekte der Darstellung aber sind bemerkenswert: Das Zitat der Falte weist auf die kunstgeschichtliche Diskussion um den Naturalismus seit Caravaggio zurück, die Betonung des Eigenwerts photographischer Wahrheit deutet auf die Legitimationsstrategien des Naturalismus voraus.22 Allerdings schränkt Fechner seine avancierte Position mit einem grotesken und unfreiwilligen dialektischen Positionswechsel wieder ein: „Was aber von diesem Ausspruche richtig ist, hängt nicht sowohl an Abweichungen des Bildes von der Natur, als daran, dass der Künstler einen besonders charakteristischen und glücklichen Moment der Natur sei es nach der Wirklichkeit selbst oder den Bedingungen der Wirklichkeit, die wir bei der Besprechung unsrer Frage überall mit zur Natur rechnen, besser wählen, als der Photograph zufällig treffen kann; ja das Sitzen einer Person

21 Fechner: Vorschule, 2, S. 46; zu einer vergleichbaren, auf Malerei bezogenen Argumentation vgl. a.a.O., S. 139-143. Vgl. auch Kirchmann: Aesthetik, 1, S. 270: „Die Photographie hat das Seelenvolle und das Bildliche des Schönen; es fehlt ihr nur die Idealisierung und nur deshalb ist sie kein Schönes. Die Photographie giebt die feinen Härchen, die kleinen Flecken, die zufälligen Verletzungen der Haut, wie sie das Original im Moment der Aufnahme hat, obgleich sie ein Seelenloses und Zufälliges sind. Die Photographie giebt die Züge der Stimmung, welche in dem Moment der Aufnahme bestehen, wenn sie auch dem Charakter und Temperament des Originals widerspricht; sie copiert das Seelenlose, was durch den Zwang des Stillsitzens selbst in die geistreichen Gesichter sich eindrängt. Dies alles tut der Maler nicht; er reinigt sein Bild von diesen zufälligen, störenden oder nichtssagenden Elementen.“ 22 Vgl. Lothar L. Schneider: [ Art.] Naturalismus, Literaturtheorien des. In: Ansgar Nünning [Hg.]: Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 1998, S. 392f. 218

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vor dem Photographischen Apparate ist wohl eine der ungünstigsten Bedingungen, den günstigen Moment treffen zu lassen.“23

Hier spricht wohl Erfahrung – und zwar eine Erfahrung, die auch Vischer kennt, wenn er anlässlich einer Diskussion über Naturnachahmung gegen die „Prinzipienreiter des Naturalismus und die Prinzipienreiter des Idealismus“ die Bedeutung der Phantasie herausstreicht und dabei am Beispiel des Porträts die Pilatusfrage stellt: „Was ist die Wahrheit dieses Gesichts? Ist es das wahre Gesicht dieses Mannes, wie es in Wirklichkeit aussieht? Wird man photographiert, so befindet man sich in einem Zustande der Spannung, und diese bekundet sich im Antlitz. Man wartet bis der Moment kommt, wo man geköpft wird. Nun fixiert der Mechanismus des Apparats dieses Gesicht; er kann fürchterlich treffen, eine entsetzlich scharfe Wahrheit geben. Aber diese photographische Wahrheit ist eine vollendete Unwahrheit, denn das Original hat in diesem Moment eben noch nicht sein wahres Gesicht gehabt. Der Künstler dagegen, der wahre Künstler kann und darf nicht ganz naturtreu sein. Warum? Eben weil er wahr und naturtreu sein muß. Wahrhaft getroffen ist bloß das idealisierte Porträt; ...“24 23 Fechner, Vorschule 2, S. 46. 24 Beide Vischer, Das Schöne, S. 251. Zum Gleichen in etwas gemäßigterer Diktion siehe: Vischer, Ästhetik, 4. Bd.: Kunstlehre, Bildnerkunst/Malerei, S. 392. Dabei – und in Hinblick auf die unter zitierte Nietzschestelle – ist daran zu denken, dass für Vischer das Porträt „in gewissem Sinne an die Stelle der Götterstatue [tritt].“ Vischer: Ästhetik, 4. Bd., S. 391. In ähnlicher Weise gegen den ‚Momentcharakter‘ der Photographie argumentiert Wilhelm Dilthey, doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass er dabei – wie Lange nach ihm (s.u.) – idealistische Terminologie mit der Apparate-Metapher der Zolaschen Naturalismus-Definition verschränkt. Seine Argumentation ist zirkulär und weißt in Richtung einer konservativen Moderne, die in der Kunst nicht die Erfahrung eines Neuen (wie Fechner), sondern eine medial aufgerüstete Bestätigung ihres Ressentiments sucht: „Das Genie des Porträtmalers besteht zunächst in der normalen und doch mächtigen Erfassung des dominierenden Punktes und in dem Aufbau des Bildzusammenhanges durch Ausschneidung, Betonung und Zurückstellen. So nähert sich das Porträt nicht dem Original, von dem bloß die photographische Platte etwas weiß, sondern dem Auffassungsbild im Kopfe derer, welche das Original kennen und genau kennen. Und eben darin liegt sein Vorzug vor der Photographie. Das Porträt gibt das vertraute Auffassungsbild, in welchem die ganze Kenntnis vom Original gleichsam aufgespeichert ist. Daher gibt es nun nicht ein Moment, sondern wie jedes echte Kunstwerk ein zur Dauer Erhobenes. Denn nur solches verträgt immer wiederholte Betrachtung und bleibt dabei unerschöpflich. Gelingt das Port219

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Die Reihe wäre fortzusetzen – allerdings nach meiner Kenntnis nicht mit vergleichbar prägnanten Beispielen.25 Photographie ist nicht nur ein technisches Medium, sondern zugleich ein ästhetisches Paradigma, in und an dem sich die Krise der ästhetischen Theorie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts artikuliert. Dass alle Naturalismen ‚photorealistisch‘ funktionierten, ist ostinater Vorwurf der Zeit und vielfach auch akzeptierte Selbstbeschreibung.26 Selbst das ‚Temperament‘ Zolas ist letztlich ein transparenter Apparat, durch den sich der Gegenstand unter medialen Bedingungen selbst konterfeit.27 rät gut, dann vermisst man nichts in ihm und wird durch nichts Fremdes gestört. Gelingt es in höchstem Grade, dann schließt das Porträt denen, die das Original seit lange kennen, doch das Gesicht tiefer auf. Und dies ist dann der höchste Triumph der Porträtkunst. So zeigt sich im einfachen Fall des Porträts, dass die nachahmende Kunst nicht Abmalung der Wirklichkeit, sondern Anleitung zum tieferen Verständnis derselben vermittels des Durchgangs der Bilder durch einen geniale auffassenden Kopf wird.“ (Wilhelm Dilthey: Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe. (1892) In: Ders. Gesammelte Schriften. 6. Bd. 4. Aufl. Stuttgart: B. G. Teubner / Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1962, S. 242287, hier S. 282f.) 25 Vgl. Karl Rosenkranz: Aesthetik des Häßlichen. Königsberg: Verlag der Gebrüder Bornträger 1853, S. 119f. Die formale Ästhetik R. Zimmermanns handelt Photographie als neutrales optisches Phänomen des Malerischen. Vgl. Zimmermann: Aesthetik als Formwissenschaft, S.493f, § 626f. Nach der Jahrhundertwende wird Konrad Lange ihre Nähe zum „extremen Naturalismus“ festgestellt und in der Malerei Hang zur Stilisierung als „Flucht vor der Photographie“ diagnostizieren. Konrad Lange: Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen Kunstlehre. 2 Bde. Berlin: G. Grothe, 1, S. 207 u. 249. Schließlich behandelt Max Dessoir den Gegenstand zwar beiläufig, fügt aber seinen Bildtafeln auch zwei photographische Aufnahmen bei. Vgl. Dessoir, Aesthetik, S. 414 sowie die Tafeln XVII u. XVIII. Allerdings wird Johannes Volkelt noch 1925 die Photographie für ästhetisch irrelevant erklären, weil sie lediglich angewandte Kunst sei. Vgl. Volkelt, System der Ästhetik. 3. Bd.: Kunstphilosophie und Metaphysik der Ästhetik. 2. Aufl. München: Beck 1925, S. 410. 26 Vgl. z.B. Conrad Alberti: Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchunng ihres gegenseitigen Verhältnisses. Leipzig: Verlag Wilhelm Friedrich 1890, S. 124f.; Karl Bleibtreu: Revolution der Literatur. Nachdruck der 2. Aufl. 1886. Hg. Johannes J. Braakenburg. Tübingen: Niemeyer 1973, S. 31; Wilhelm Bölsche: Ziele und Wege der modernen Dichtung. In: Moderne Dichtung. Zeitschrift für Literatur und Kritik 1890, S. 29-34, hier S. 33. 27 Zwar lehnt Zola selbst den Vergleich ab und betont die subjektive Komponente des Temperaments (vgl. Emile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie. (Paris 1879) Leipzig: Zeitler 1904, S. 17), aber Claude Bernard, auf 220

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3. Das Gesamtkunstwerk oder: Wagners verdammte Erlösung Auch im Falle Wagners sind die grundsätzlichen Positionen forschungsnotorisch und brauchen hier nicht weiter expliziert werden: Hier die Wagnerianer, dort die Verteidiger musikalischer Form. Letztere in zwei Fraktionen: Hier die Konservativen, welche die Neuerungen der Wagnerschen Oper als zerstörerischen Angriff auf die Gattung ablehnen, dort, unter ihrem Flaggschiff Eduard Hanslick, die Vertreter einer avanciert formalen Musikästhetik, für die der Anspruch Wagners, die Oper als Leitmodell der Musik zu etablieren, ästhetisch verfehlt ist, weil sie die Autonomie des Mediums, die sich einzig in der Instrumentalmusik ungehindert entfalten kann, zerstört.28 Und dann natürlich noch das Dokument radikaler Konversion zum Anti-Wagnerianismus, also Nietzsche.29 Aber auch hier will ich nicht Heerschau halten, sondern lediglich einige argumentative Strategeme im Kampf um das Gesamtkunstwerk beschreiben, deren Wertungen oft nach beiden Seiten zielen können. Durchgängig hält sich unter Befürwortern wie Gegnern die These, dass eine Verschmelzung der einzelnen Künste zu einem Gesamtkunstwerk nicht möglich sei, wohl aber ein „Kunstverein“ – so der wagnerfreundliche Formästhetiker Ottokar Hostinsky – in dem verschiedene Künste unter der Hegemonie einer zusammengeführt werden könnten.30 dessen experimentelle physiologische Methode er sich stattdessen beruft, hatte den Blick des Expermintators ausdrücklichen dem des Photgraphen parallelisiert (vgl. Claude Bernard: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin. (Paris 1865) Leipzig: Barth 1961, S. 41f.) – wie Zola selbst zitiert (siehe Zola, Experimentalroman, S. 12). 28 Vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik in der Tonkunst. Teil 1: Historisch-kritische Ausgabe. Hg. Dietmar Strauss: Mainz e.a.: Schott 1990; vgl. dazu: Lothar L. Schneider: Form vs. Gehalt. Konturen des intellektuellen Feldes im späten 19. Jahrhundert. Vortrag auf dem Symposion Eduard Hanslick. Zum Gedenken an seinen hundertsten Todestag. Tagung des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Wien und der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Wien, 8. u. 9. Oktober 2004 (im Druck). 29 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. 6. Bd. München: dtv/Berlin/New York: de Gruyter 1980, S. 9-54. 30 Ottokar Hostinsky: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpuncte der Formalen Aesthetik. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1877, S. 81-110: Der Kunstverein; vgl. Köstlin, Aesthetik, S. 1010f.; Zeising: Ästhetische Forschungen, S. 561f.; Vischer, Schönes, S. 302; Kirchmann: Aesthetik, 2, S. 239; Hartmann: Aesthetik, 2, S. 802 u. 826; Carriere: Die Kunst, S. 643; Wilhelm Dilthey: Die Einbildungskraft des Dichters. 221

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Im Falle Wagners geschehe dies unter der Herrschaft des Gedankens und damit unter Herrschaft der Poesie.31 Dies mag zunächst verblüffen; allerdings bemängelt insbesondere Hermann Cohen dann im zweiten Schritt eine falsche, romantizistische Sprachauffassung Wagners, die auf die sinnlichen Qualitäten einer vermeintlich rein vokalischen Ursprache abziele und über die Musikalität dieser Sprache wiederum das musikalische Moment favorisiere.32 Damit – so auch Konrad Zeising – bliebe in der Wagnerschen Oper die Musik letztlich doch hegemonial.33 Produkt dieses permanenten Wechselspiels zwischen sprachlich-begrifflichen und melodisch-vokalischen Komponenten, das schon Hermann Cohen als Geschlechtermetaphysik charakterisierte,34 ist in den Augen der Kritiker eine sensualistische Wirkungsästhetik, die sowohl die Form als auch den Gedanken des Kunstwerks der Dramaturgie sinnlicher Effekte opfert.35 Wagners Opern erscheinen als „Spectacelopern“, so Robert Zimmermann,36 sein Theater als „Theatrokratie“, so Nietzsche,37 ohne begriffliche Kontrolle angesiedelt in einer „Nachbarschaft des Pathologischen“, so Dilthey.38 Moritz Carriere schließlich findet, dass das Wagnersche Gesamtkunstwerk vor allem der Selbstverherrlichung seines Autors diene.39 Einen vergleichbaren Vorwurf inhaltsleerer Virtuosität wird Friedrich Theodor Vischer gegen die naturalistische Malerei Courbets erheben (s.u.), Wagner dagegen provoziert ihn lediglich zu einer undifferenzierten Schimpfwortkaskade: „Richard Wagners Kunstwerk der Zukunft, d.h. eine Oper, worin sämtliche Künste gleichwertig vorkommen sollen, ist ein Phantom, ein Ungeheuer, eine Strapaze, seine Theorie der theatra-

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Bausteine für eine Poetik (1887). In: Ders.: Gesammelte Schriften, 6, S. 103-241, hier S. 279. Viele der im Folgenden zitierten Argumente finden sich schon bei den publizistischen Wagnerkritikern der fünfziger Jahre. Vgl. Carriere: Die Kunst, S. 649. Vgl. Cohen: Kant’s Begründung, S. 323f. Vgl Zeising: Ästhetische Forschungen, S. 562; vgl. Cohen, Kant’s Begründung, S. 321-326. Vgl. Cohen: Kants Begründung, S. 321-328. Vgl. Carriere: Die Kunst, S. 648: „Coulisseneffekte“; Lotze, Geschichte der Aesthetik, S. 499; Hartmann, Aesthetik 2, S. 74; Dilthey, Drei Epochen, S. 244: „eine potenzierte Wirkungskraft des Musikalischen. Zimmermann, Aesthetik als Formwissenschaft, S. 355, § 662. Nietzsche: Der Fall Wagner, S. 42. Dilthey: Die Einbildungskraft, S. 138, vgl. Cohen, Kant’s Begründung, S. 328. Vgl. Carriere: Die Kunst, S. 648. 222

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lischen Allkunst, worin die einzelnen Künste aufgehen sollen, ein utopischer Wahn.“40 Allerdings war kaum zu leugnen, dass Wagner einem Bedürfnis der Zeit antwortete, auch wenn dies vielfach nicht als Argument für den Komponisten, sondern als Argument gegen seine Anhänger und gegen die Zeit im allgemeinen verstanden wurde.41 Nietzsche zieht lediglich dies Summe solcher Kulturkritik, wenn er Wagner als „Schauspieler in der Musik“, als „vollkommenen Decadent“ und seine Oper als „nervöse Maschine“, getrieben vom „Bedürfnis nach Erlösung“ charakterisiert.42 Wagners Gesamtkunstwerk inszeniert eine – mehr oder weniger gelungene – instantane Intermedialität, einen permanenten, sich wechselseitig akkumulierenden und hysterisierenden Transfer zwischen den beteiligten Künsten. Kunst liefert prinzipiell eine verdichtete, strukturell überdeterminierte Erfahrung. Durch zusätzliche ‚Beschleunigung‘ in der intermedialen Verdichtung des Gesamtkunstwerks wird sie bis zum Umschlag in phantasmagorische Totalität wirkungsästhetisch gesteigert. Dabei soll der Betrachter jede Möglichkeit zu reflektierender Distanznahme einbüßen; er verliert also jene Freiheit, die das idealistische Subjekt als ethisches, begriffliches und ästhetisches auszeichnete. An deren Stelle setzt Wagner die pathetische Unmittelbarkeit einer ästhetischen Versöhnung, die das naturhafte Radikal des Subjekts, seine Sinnlichkeit, gegen seine Freiheit in Anschlag bringt.43

4. Coda oder: zur Oberfläche Nietzsches Der Fall Wagner ist eine Spätschrift, seine nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsche contra Wagner gar stehen am Rande des Zu-

40 Friedrich Theodor Vischer: Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Aesthetik. Vorträge. 2. Aufl. Stuttgart 1898, S. 302. Zum Verhältnis Vischers zu Wagner vgl. Alexander Reck: Friedrich Theodor Vischer und Richard Wagner. Mit dem unveröffentlichten Entwurf der Wagner-Satire: Riccardini Carradowsky der edle Viehmensch im Gletscherwald Patagoniens oder die Genesis des Dicht-Tondichters. Räuber- und Schauerroman. In: Euphorion 92 (1998), S. 375-393. 41 Vgl. Zeising: Ästhetische Forschungen, S. 561; Kirchmann, Aesthetik 2, S. 244. 42 Vgl. in Reihenfolge: Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 37, 27, 23 u. 51. 43 Zur späteren Konjunktur der Gesamtkunstwerkskonzeption in den Avantgarden und im Faschismus vgl. Klaus Englert: Der Traum vom Gesamtkunstwerk. Das ästhetische Dispositiv der Moderne? In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 44 (1999), S. 5-25. 223

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sammenbruchs – und können als Dokument eines Versuchs gelesen werden, sich selbst zu behaupten und zu therapieren. Es ist ein Weg aus der Tiefe der Bedeutung zu einer Ästhetik der Oberfläche. In seinen eigenen Schlagwörtern: Baubo statt Sais. Nachdem Nietzsche - obwohl naturalistischer Sympathien gänzlich unverdächtig - Flaubert seine Referenz erwiesen hat,44 kommt Nietzsche zu einer Apologie des Scheins, einer Apologie jener Oberfläche des Kunstwerks, die seine Bedeutung zugleich fakturiert und kaschiert: „[W]enn wir Genesenden eine Kunst noch brauche, so ist es eine andre Kunst – eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte Kunst, göttlich künstliche Kunst, [...] Vor Allem. Eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! [...] Und was unsre Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen versteckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. [...] Wir glauben nicht daran, dass die Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht, - wir haben genug gelebt, um dies zu glauben ... Heute gilt es als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht alles nackt sehen, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehen und ‚wissen‘ wolle. [...] Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der die Natur sich hinter Räthseln und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen?... Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?... Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben! Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich aus Tiefe. ...“45

Für die Apologeten der Tiefe aber war solche ‚Oberflächlichkeit‘ nicht leicht zu verstehen. Dies wird dort deutlich, wo eine quasi photographisch getreue Transposition ins Bildmedium nicht mehr der Mechanik

44 Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagner. In: Ders.: Sämtliche Werke 6, S. 413-446, hier S. 426f. 45 Nietzsche: Nietzsche contra Wagner, S. 438f. Die identische Formulierung findet sich auch im Vorwort der 2. Auflage der fröhlichen Wissenschaft. Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke, 3, S. 343-652, hier S. 352; vgl. auch S. 616-618. Zur Figur der Baubo – die bisweilen mit Iambe identifiziert wird – vgl. Fritz Graf: Eleusis und die orphische Dichtung Athens in vorhellenistischer Zeit. Berlin/ New York: de Gruyter 1974, S. 165-171 u. 194-199; Georges Devereux: Baubo: Die mythische Vulva. Frankfurt a. M.: Syndikat 1981. 224

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eines technischen Apparats zugeschrieben werden kann, sondern als willentlicher künstlerischer Akt interpretiert werden muss wie im Falle naturalistischer Malerei. So scheitert Friedrich Theodor Vischer am Verständnis der Steinklopfer von Gustave Courbet, die schon 1850 auf dem Pariser Salon eine Sensation gewesen waren und noch bei ihrer Präsentation in München 1869 beträchtliches Aufsehen erregt hatten.46 Courbet hatte schon dadurch Irritationen provoziert, dass er – wie in seinem monumentalen Begräbnis von Ornans - für ein ‚banales‘ Sujet, das dem kleinformatigen Genre zuzurechnen gewesen wäre, eine Format gewählt hatte, das bisher Historienbildern vorbehalten gewesen war. Damit hatte er suggeriert, hier werde eine Haupt- und Staatsaktion von hohem ideellen Gehalt präsentiert. Auf dem Begräbnis war immerhin die Bedeutung der Situation unstrittig, wenngleich das Personal unangemessen schien; bei den Steinklopfern jedoch handelt es sich um eine Alltagsszene mit anonymem Personal. Vischer kann keinen Gehalt finden, er sieht weder die ästhetische Aufgabe der Transposition eines normalen, vielleicht sogar banalen Sujets in das Medium der ‚hohen‘ Malerei, noch die damit verbundene politisch-inhaltliche Aussage, sondern interpretiert Courbets Naturalismus als formalistische Kunst im pejorativen Sinn, als inhaltloses, selbstverliebtes Virtuosentum: „[E]r [Satz von der Gleichgültigkeit des sogenannten Gegenstandes] trennt den geistige Akt, den Phantasieakt, wodurch der Künstler aus der Masse der Bilder, die das Leben an uns vorüberführt, eines herausgreift und künstlerisch im Innern umbildet oder frischweg ein Bild, das packt und wirkt, erfindet: diesen Akt trennt er von dem anderen, wodurch der Künstler die Farbe zu einem stimmungsvollen Ganzen verarbeitet. Warum soll denn nun beides im Geiste des Künstlers nicht auch ein Akt sein können? Warum soll in ihm die Frage: ist auch Leben und Wärme in dem, was ich vorstellen will? Nicht zusammenfallen können mit der Frage: wie wird es sich in der Farbe präsentieren? Es wird nun nicht nur in zwei Akte geschnitten, was ein Akt sein soll, sondern der eine von den vermeintlich zwei Akten, nämlich die Erfindung, wird als gleichgültig beiseite gestoßen und die Folge ist – eine Welt von gut gemalten und langweiligen Sittenbildern. Als ob das Malerauge nur dann ein wahres Malerauge wäre, wenn es aus allen möglichen Steine, denen man an jeder Landstraße gar wohl manches gemüthlich ergötzende oder ernste Gedanken an Menschenlos weckende Individuen 46 Vgl. Michael Nungesser: Die Steinklopfer. In: Werner Hofmann [Hg.]: Courbet in Deutschland. Köln: Du Mont 1977, S. 558-573; Michael Nungesser: Und selbst die sociale Frage zieht ein in die geöffneten Pforten der Kunst. Die Steinklopfer im Spiegel der Kritik. In: Klaus Herding [Hg.]: Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 177-193. 225

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finden kann, die zwei nichtsagendsten, indifferentesten Figuren herausgewählt und nun als Träger für eine gutgehaltene Farbenstimmung benützt! Wir sprechen, wie schon gesagt, indem wir diese Art von Kunstkritik beurteilen, zugleich vom Künstler selbst und von seinem Urtheil. Dem Maler kann es leichter verziehen werden, wenn er, der ganzen Schwierigkeit seiner Technik sich bewusst, von dem Anblick der Meisterschaft in dieser Seite des wahren Ganzen so hingerissen wird, dass er die andere, die innere Seite vergisst und über ein Bild, das nach dieser betrachtet, schwach und leer ist, in Entzücken gerät, aber es ist Pflicht, ihn zu warnen. Wer Menschen malt hat mehr zu leisten, als eine landschaftliche Stimmung, Genrebild und Landschaft sind zweierlei.“47

Es fehlt eine Ebene inhaltlicher Bedeutung, die der Darstellung von Menschen angemessen gewesen wäre. Ohne Gehalt bleibt nur die formale Inszenierung als artistisches Problem von Kolorit und Stimmung.48 Für 47 Friedrich Theodor Vischer: Kritik meiner Ästhetik. In: Ders.: Kritische Gänge. 4. Band. 2., vermehrte Auflage. München: Meyer & Jessen 1922, S. 222-419, hier S. 397f. Schon einige Seiten zuvor hatte Vischer bemerkt: „Der sogenannte Realismus ist besonders in dieser Kunst [Malerei] stark vertreten, und zwar meist (nicht notwendig) als Kolorismus, d.h. als Bevorzugung der Farbstimmung auf Kosten des idealen Wertes in Zeichnung und Ausdruck, Courbet und seine Richtung hat auch Deutschland zahlreiche Anhänger.“ Vischer: Kritik, S. 394. Die Stelle leitet über zur Kritik der ‚kranken‘ Kunst der Abundantia-Bilder Makarts, der auch die im Folgenden zitierten Passage als zweite Spielart eines ‚falschen‘ Realismus begleiten wird. Lediglich diese zweite Passage ist berücksichtigt in: Götz Pochat: Friedrich Theodor Vischer und die zeitgenössische Kunst. In: Ekkehard Mai/Stephan Waetzold/Gerd Wolandt: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Berlin: Gebr. Mann 1983, S. 99-132. 48 1881 kommt Vischer erneut auf Courbet zu sprechen. Diesmal geht es um die Sonderung eines ‚wahren Realismus‘, den Vischer als ‚indirekten Idealismus‘ begreift, von einem Naturalismus, der nur ‚umgekehrter Idealismus‘ ist, weil er „in der Natur nur das Hässliche [ausliest] und [zusammenstellt]“. (Friedrich Theodor Vischer: Über neuere deutsche Karikatur. Die Fliegenden Blätter. In: Ders.: Kritische Gänge 5, S. 308-336, hier S. 331. Dabei nimmt Vischer lediglich Caravaggio wegen seines „wilden Naturgeists“ und Rembrandt aus. [Vgl. ebd., S. 330]) Doch auch dies trifft auf Courbet nicht zu:„Er dozierte noch nicht: das Schöne muß eine Auslese des Hässlichen sein, sondern nur: eine Auslese des höchst Gewöhnlichen! Er hatte zwei Gründe. Der eine ist die genannte Losung der ganzen Schule: wir wollen keine Schminke, keine Beschönigung! Der andere: würde der Künstler aus der Stoffwelt Schönes, Bedeutendes, Interessantes auslesen, so wäre die Folge, dass sein Werk durch den Stoff als solchen wirken wür226

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Vischer begeht Courbet einen Kategorienfehler: Er malt ein menschliches Sujet als Landschaft, als an sich indifferente Szenerie, deren Bedeutung sich darin erschöpft, Spiegel menschlicher Befindlichkeit zu sein, Stimmung zu repräsentieren. Doch Vischers ‚Versagen‘ ist zugleich hellsichtig: Landschaft und Stimmung werden um die Jahrhundertwende zentrale Themen bildkünstlerischer Ästhetik und Erprobungsfelder eines neuen Kunstverständnisses sein, das auf metaphysische Regulierung verzichtet, um sich ganz den Gesetzmäßigkeiten der eigenen Sphäre, d.h. der Untersuchung der Konstitutionsbedingungen des eigenen Mediums zu widmen.49

de statt durch die Form.“ Vischer: Über neuere deutsche Karikatur, S. 331f. Nun findet es Vischer zwar „ganz in der Ordnung, daß auch Steinklopfer daran kommen (Vischer, Über neuere deutsche Karikatur, S. 332), doch er unterstellt Courbet wiederum, dass er den Inhalt einem „stimmungsvollen Gesamtton“ opfere, damit die eigene Leistung nicht von der Bedeutung des Gegenstands in den Schatten gestellt werde. (Vischer: Über neuere deutsche Karikatur, S. 332) 49 Vgl. David Wellbery: [Art.] Stimmung. In. Ästhetische Grundbegriffe. Hg. Karlheinz Barck e.a.. 5. Bd: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 703-733. 227

EVIDENZ UND GESETZ. DAS LÜGEN DER BILDER IN BEER-HOFMANNS DER TOD GEORGS STEFAN SCHERER

Richard Beer-Hofmanns Roman Der Tod Georgs von 1900 gehört zu den avanciertesten Prosatexten der Frühen Moderne. Bemerkenswerterweise unternimmt es aber diese literarische Kritik des Ästhetizismus zum Schluss, mit den Sinnstiftungsstrategien des Realismus die Ordnung der Welt zu behaupten: wie die Prosa seit der Goethezeit auch in Form ihrer visuellen Beglaubigung. Genau daran offenbart sich eine Aporie, wie auch immer sich diese Ordnungsbetätigung auf die naturwissenschaftlich begründete Erkenntnis der Jahrhundertwende vom ‚Gesetz‘ der Dinge beruft. Die Evidenz der Bilder zur Plausibilisierung dieses ‚Gesetzes‘ lügt, weil es im Kern eben nicht anschaulich gemacht werden kann. Insofern betreibt Beer-Hofmanns Roman auch eine veritable literarische Bildkritik. Er positioniert sich damit im virulenten Diskurs der Jahrhundertwende zu den ‚Problemen der Sichtbarkeit‘.1 Technische Innovation führen dazu, dass sich mit den neuen Wahrnehmungsformen die Grenzen der Erkenntnis verschieben. Das mit den ‚normalen‘, d.h. unbewaffneten Sinnen des Menschen Sichtbare wird von einem Bereich des Unsichtbarem getrennt, der allein technologisch realisiert werden kann. Genannt seien der Einblick in das Innere des Menschen durch Röntgentstrahlen, die Momentphotographie für Detailbeobachtungen in Bewegungsstudien oder die Visualisierung der Bakteriologie durch Photogramme. Umgekehrt wird das Sichtbare unsichtbar, indem mathematische Funktionen die Zusammenhänge abstrakt erfassen. Kurzum: Anschaulichkeit als Kategorie zur Erkenntnis der Welt wird problematisch, damit derjenige

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Dazu grundsätzlich Gustav Frank: Probleme der Sichtbarkeit. Die visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts und Okkult-Fantastisches in Literatur und Film um 1910: Afgrunden (Gad/Nielsen), Die Versuchung der steillen Veronika (Musil), Der Student von Prag (Rye/Ewers/Wegener/Seeber). In: Recherches Germaniques Hors Série 1 (2002), S. 59-101. 229

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Modus, der noch dem Poetischen Realismus dazu verhalf, die Ordnung der Dinge literarisch zu s(t)imulieren.2 Der Tod Georgs ist auch vor diesem Hintergrund ein Roman der Jahrhundertwende, dessen Problemgehalt weit über sein offenkundiges Darstellungsinteresse hinaus weist, und zwar gerade auch, was Visualität als Erkenntnisform betrifft. Angeleitet von den aktuellen Debatten zur Visuellen Kultur3 und zum Text-Bild-Problem, Beer-Hofmanns Roman nach dem Problemfeld ‚Bildkritik‘4 zu scannen, wird auffällig, wie sehr hier das Sehen thematisiert und problematisiert wird. Der Roman trägt damit die Aporien von Visualität als Modus der Ordnungsstiftung aus. Der Tod Georgs ist deshalb nicht nur eine literarische Reflexion auf die Problematik metaphysischer Sinnstiftung in der Moderne. Er kann auch als ein literarischer Text über Problemlösungsstrategien des Realismus gelesen werden, die auf die optische Codierung von Ordnung bauen.

1. Augen Der Tod Georgs präsentiert ein dichtes Geflecht im leitmotivischen Einsatz von Augen als Motivkomplex, eingespannt zwischen die Pole naives Sehen vs. wissendes Sehen. Kennzeichen seiner Darstellung sind überhaupt interpretierende Adjektive: Immer wieder tauchen Formeln wie die ‚nicht lügenden‘ und ‚blöden‘ Augen auf, daneben ist von ‚offenen‘, starrenden, ausgehöhlten oder ‚leidgequälten‘ bzw. ‚ungequälten‘ Augen die Rede. Offene Augen stehen für den trostlos ins Leere starrenden Blick der Sterbenden,5 in einer zweiten Isotopie-Kette aber auch für das naive wie projektiv anverwandelnde Sehen des Ästheten, das sich konventionalisierten Bedeutungszuschreibungen verweigert. Diese Augen erkennen die „Schönheit alltäglicher Dinge“, „die jeder Augenblick neu gebar“

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Zur Ordnungsstiftung im Realismus vgl. Gustav Frank / Stefan Scherer: Komplexer Realismus in der Synthetischen Moderne: Hermann Broch – Rudolf Borchardt. In: Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik. Hg. Sabine Kyora, Stefan Neuhaus, Würzburg 2006, S. 111-122. Gustav Frank: Textparadigma kontra visueller Imperativ: 20 Jahre Visual Culture Studies als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Ein Forschungsbericht. In: IASL 31, H. 2 (2006), S. 26–89. Vgl. das Baseler eikones-Forschungsprojekt Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder: http://www.eikones.ch (25. März 2008). Vgl. Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. In: Große Richard-BeerHofmann-Ausgabe, Bd. 3. Hg. u. mit. einem Nachwort von Alo Allkemper, Paderborn 1994. Im folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe direkt in Klammern nach dem Zitat nachgewiesen, vgl. hier S. 99, 101. 230

DAS LÜGEN DER BILDER IN BEER-HOFMANNS DER TOD GEORGS

(23), von Paul vernommen im naiven Blick der Kinder oder in den ‚ungequälten‘ Augen der Figuren aus 1001-Nacht. Diese ‚innocence of the eye‘ (Ruskin)6 hält sich offen für das „Wunder“ der Anschauung gegenüber dem „selbstverständliche[n] Begreifen“ (26), das gesteuert wird durch Wissen und begriffliche Identifikation. Schließlich ist noch die Rede von den „unerbittlich klaren Augen“ des Arztes Georg, die den Tod kennen. Sie spenden zwar Trost, wenn sie den todkranken Patienten die Sonne zeigen; sie durchschauen aber auch mit „einem Blick“ das „ganze törichte Gewebe“ ihrer Hoffnungen (83). Deshalb können auch die Augen lügen wie die Sprache: „Blicke und Worte und erratene Gedanken der Menschen, waren lügnerische Brücken die nicht trugen“ (80). Über das Augen-Motiv entfaltet der Roman, so ist einzusehen, ein epistemologisches Feld, das zwischen den Polen ‚reines Sehen – Einbilden / Projizieren – Wissen / begriffliche Identifikation – Glauben‘ aufgespannt wird. Zu Beginn simuliert der Roman zunächst auf literarische Weise, was Hofmannsthal im Stuck-Essay von 1893 als Sehnsucht nach dem ‚unbefangenen‘ Sehen ausgeführt hatte. In erkennbarer Nähe zur Kunsttheorie Konrad Fiedlers7 oder zu den Reflexionen auf den stilisierenden Blick durch das ornamentale Sehen bei Alois Riegl8 charakterisiert Hofmannsthal dieses Vermögen als ein ‚unmittelbares‘ Schauen „für ein ganz unbefangenes, nicht, wie unsere Augen, blitzschnell unbewusst kombinierendes und interpretierendes Auge“. Für dieses „naiv[e]“ Sehen gibt es „nichts, was Knie, Brust und Stirn bedeutet: es ist nichts da als eine geschwungene Linie gegen den Abendhimmel, eine bloße Form“. Erst der Künstler befähige dazu, so zu sehen, also die „Dinge unbeschadet ihrer konventionellen Bedeutung als Form an sich zu erblicken“. Franz Stuck figuriert damit als „Vorschule“ dafür, „das Lebendige ornamental und das Ornament lebendig [zu] verwenden“, indem die dargestellten Gegenstände „auf ihren ornamentalen, also reinen Formgehalt“

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Vgl. dazu im Zusammenhang Ralph Köhnen: Das physiologische Wissen Rilkes und seine Cézanne-Rezeption. In: Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Hg. Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riedel, Sabine Schneider. Würzburg 2005, S. 141-162, hier S. 141f. Vgl. Helmut Rath: Wo die Anschauung aufhört. Konrad Fiedlers Schriften zur Kunst. In: Merkur 518, Mai 1992, 432-435. Alois Riegl: Die Ausstellung orientalischer Teppiche im k.k. Oesterr. Handelsmuseum. In: Mitteilungen des k-[aiserlich]-k[öniglichen] Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Wien 3 (1891), S. 393-391, 405414. 231

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‚geprüft‘ werden, um damit zum „Kern der Dinge“ vorzudringen.9 Diesem „Doppeltsehen, gleichzeitig real und stilisiert“10, eignet ein projektiver Zug: Es ist ein ästhetisches Sehen, das an den Lineaturen des Jugendstils geschult, also durch Gestaltungsweisen der bildenden Kunst hindurchgegangen ist. Die zentrale Problemstellung des Tod Georgs – die Unverantwortlichkeit des Ästheten gegenüber dem ethischen Impuls zur sozialen und persönlichen Anteilnahme – wird vor dem Hintergrund dieser Kunstdebatte auch über Optionen des Sehens ausgetragen. Der isoliert lebende Ästhet Paul wird unverhofft mit dem plötzlichen Tod seines zu Besuch verweilenden Freundes Georg konfrontiert. Am übernächsten Tag muss er mit der Leiche im Gepäckwagen die Eisenbahnfahrt nach Wien antreten. Der Roman jedoch sieht von der Schilderung solcher äußeren Ereignisse ab: „Nichts geschah wirklich“ (96). Denn er verbleibt zunächst rein in der Innenperspektive seines Protagonisten Paul. Diesem Blickwinkel entspricht das erstmals in einem deutschsprachigen Prosatext konsequent durchgeführte personale Erzählen, das zwischen erlebter Rede und inneren Monologen oszilliert, wenn Imaginationen, Erinnerungen, Träume und Antizipationen zukünftiger Ereignisse mit Wahrnehmungen der äußeren Welt verschmelzen, so dass verschiedene Ebenen ineinander gleiten. In dieser literarischen Grenzverwischung schreibt die erlebte Rede die Logik von Assoziationen nach, die den Projektionen der Einbildungskraft folgen. Dabei der Roman diese Bewusstseinsprozesse im Ästheten auch mit den flüchtigen Bewegungsbildern der rasch vorbeiziehenden Landschaft beim Eisenbahnfahren eng. Die Verschränkung dieser Perspektiven zwischen innerem Sehen der Vorstellungsbilder und äußerem Sehen der tatsächlichen Welt führt dazu, dass sich im Tod Georgs der Stilpluralismus der Jahrhundertwende niederschlägt. Einerseits zeichnet er die Wahrnehmungsform eines Ästheten nach, der die Realität in ein ornamentales Arrangement nach Maßgabe der zeitgenössischen Jugendstil-Malerei verwandelt. Andererseits gleiten die Bildeindrücke so an den Augen des Lesers vorbei, wie es den übergänglichen Assoziationen im Träumen entspricht. Aus dieser Verschränkung ergibt sich die 9

Hugo von Hofmannsthal: Franz Stuck (1893). In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Reden und Aufsätze I: 1891-1913. Frankfurt/M. 1979, S. 529-533, hier S. 530. 10 So Hofmannsthal über Jens Peter Jacobsen, der dieses Doppeltsehen „zuerst dargestellt“ habe (Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1893. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Reden und Aufsätze III: Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889-1929. Frankfurt/M. 1980, S. 359. 232

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stilistische Ambivalenz zwischen Stilisierung, impressionistischer Verflüchtigung und detailgenauer, geradezu naturalistischer Erfassung der empirischen Welt. Auf diese Weise zeigt sich der ausgeprägte Konstruktcharakter einer musikalisierten und hypotaktisch durchgeformten Prosa bei komplizierter Verschachtelung verschiedener Zeit- und Wirklichkeitsebenen. Dabei kann man aber auch sehr genau den Assoziationskonnex der Bild- und Satzverknüpfungen verfolgen, der diese Prosa ebenso kennzeichnet wie ihren Zwang zur genauen sprachlichen Fixierung der inneren und der äußeren Welt der Erscheinungen. Kennzeichnend ist daher auf der einen, ästhetizistischen Seite die literarische Anverwandlung der Jugendstillinie ins sprachliche Ornament, daneben die impressionistische Gestaltauflösung in asyndetisch aneinandergereihten Bilderketten. Auf der anderen Seite betreibt diese Prosa aber auch eine naturalistische, durch Adjektivketten gleichsam mikroskopisch präzisierte Detailbeobachtung in der möglichst genauen sprachlichen Fixierung der Bildeindrücke. Auf beiden Ebenen wirken die präsentierten Bilder dabei wie katalogartig aneinandergereihte, isolierte Elemente, die aufgrund ihrer Überladenheit durch interpretierende Adjektive erlesen wirken. Diese ‚Lexem-Autonomisierung‘ durch Verzicht auf inhaltslogische Zusammenhänge erzeugt eine Textur, die vom erzählten Gehalt abführt und die Aufmerksamkeit auf die Form lenkt, weil in dieser Darstellung die Verfahrensweisen hervortreten. Der literarische Text reflektiert so die Möglichkeit, „sich von Inhalten prinzipiell zu trennen und sich auf Formprobleme, modern gesprochen: auf sich selbst, zu konzentrieren“.11 Auch von daher wird die Bedeutung der Bilder und Motive nicht nur durch ihre anschauliche (und damit symbolische) Qualität begründet, sondern auch durch den Text selbst: auf der einen Seite diskursiv durch die explizite Interpretation eines Bilds, auf der anderen Seite vor allem aber auch relational durch die formale Vernetzung der aufgebauten Isotopie-Ketten. Aus diesen Verfahren der Isolierung und textuellen Verknüpfung von Bildern resultiert eine spezifische Unanschaulichkeit durch Verselbständigung der Form: ein durchaus paradoxer Effekt, weil der Roman ja höchst konkrete Bilder aneinanderreiht, die erst durch das sprachliche Arrangement ornamental wirken und dadurch spezifisch abstrakt werden, z.B. durch Überattribuierung eines Bildes mittels ganzer Adjektivketten, oder auch durch die Verknüpfung mittels einer Leitmotivtechnik, die der

11 Gotthart Wunberg: Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Arcadia H. 1 (1995), S. 31-61, hier S. 58f.; zum Tod Georgs vgl. S. 37. 233

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Roman ganz gezielt betreibt.12 Der Effekt der Grenzverwischung resultiert deshalb auch daraus, dass gleiche Sequenzen bzw. ähnliche oder gar identische Formulierungen auf den verschiedenen Zeit- und Wirklichkeitsebenen der Erzählung wiederholt werden. Auch diese Technik führt dazu, dass die Darstellung spezifisch unanschaulich wirkt. Zugleich problematisiert der Tod Georgs Anschaulichkeit als Erkenntnisform, wenn er identischen oder ähnlichen Bildeindrücken im Prozess der textuellen Vernetzung konträre Bedeutungen einschreibt, ohne damit den Bezug auf die vormalige Semantik abzuschneiden. Auf jeden Fall aber neigt diese ‚texturierte‘ Darstellung zur Abstraktion. Dieser Effekt hängt auch damit zusammen, dass diese Prosa, wenn sie die Ästhetisierungsstrategien ihres Protagonisten im Modus des personalen Erzählens verfolgt, von auktorialen Explikationen absieht. Die neue Bedeutung, die einem Bild im Lauf des Textes eingeschrieben wird, geht daher auf einen subjektiven Perspektivenwechsel des Ästheten zurück. Als Modell für die Isolation seiner Hauptfigur legt die Darstellung das Labyrinth als Wahrnehmungsform zugrunde. In der konsequent personalen Durchführung dieser Konstruktionsanordnung wird das Labyrinth zum Erzählmodell: homolog zur labyrinthischen bzw. arabesken und damit ornamentalen Struktur des Traumbewusstseins. Die kausallineare Ereignisabfolge, die den realistischen Text kennzeichnet, wird dadurch abgelöst von einer flächenhaften Darstellung, die einer Jugendstil-Tapete entspricht: In Aussee traf er sie. Im Dämmern stand er ihr gegenüber; am Wiesenhang, zwischen hohen Narzissen die so dicht wuchsen, daß jeder Schritt die schlanken Stiele zu knicken drohte. Hinter ihr stieß der Saum der Wiese an den lichten Abendhimmel, und scharf grenzten sich von ihm ab, die dichtgedrängten duftenden Blumen und ihre schmächtige weiße Gestalt. Lässig stützte sie ihren Arm auf den zu hohen Griff des Schirmes, und wie sie langsam bergab schritt, glitt ihr Umriß vom lichten Himmel ab auf den weißblühenden Wiesenhang, der steil wie eine Wand hinter ihr emporstieg. Fast körperlos schien sie; nur ihr eignes weißes Bild, das sich in fremden Linien von den Blüten und [dem] Stengelgewirr der narzissenübersäten Tapete hob. (21f.; Hervorh. St. Sch.) Die literarische S(t)imulation eines Sehens, das durch die bildende Kunst präformiert ist, ornamentalisiert die Darstellung – u.a. auch, wie man sieht, durch optische Zitate aus der zeitgenössischen Malerei. Kenn12 Vgl. Stefan Scherer: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S. 269-273. 234

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zeichnend für diese Textur ist neben der ‚Entfabelung‘, also der Auflösung der Narration in ein parataktisches Nebeneinander von Bildsequenzen, eine Distanznahme zur Realität, die den stilisierenden Blick durch die Kunst hindurch erst ermöglicht. Berührt ist damit das Problem des ornamentalen Schreibens. Es gibt keine Textur, die rein auf ihre formalen Bezüge zu reduzieren wäre (bestenfalls in die Richtung, die man von Mallarmés Un Coup de dés von 1897 bis zu Morgensterns Fisches Nachtgesang oder Schwitters Ursonate verfolgen kann). Über die Möglichkeit, Sprache ornamental zu benutzen in einer Darstellung, deren Zweck allein darin besteht, „nur schön“ zu sein, spekuliert Beer-Hofmann beim Anblick eines Botticelli-Bildes während seiner Italienreise 1894, wenn er über das Verhältnis von ornamentalem Hintergrund und „Haupthandlung“ im Vordergrund nachdenkt: Rom, 9. Oktober In der Sixtinischen. Auf dem Bild Botticellis (Bestrafung der Rotte Korah), in keinem Zusammenhang mit Haupthandlung. Im Hintergrund römischer Triumphbogen, nur weil er schön ist. Solche Darstellungsart (unorganisch) auch bei Dichtung möglich? Warum nicht? Warum: Unmöglichkeit oder Schwermöglichkeit mit der Sprache Vorder- und Hintergrund zu trennen. Vielleicht bei starker Durchbildung der Sprache und starker plastischer Arbeit möglich, z.B., genaue Überlegung ob etwas mittels Adjektiv, Adverb, Substantiv, Infinitiv, Relativsatz, eigenem Satz gesagt werden soll. Hintergründe sollten nie eigene Sätze haben.13

13 Richard Beer-Hofmann: Italienische Reise-Aufzeichnungen aus dem Jahre 1894. In: ders.: Schlaflied für Mirjam. Lyrik, Prosa, Pantomime und andere verstreute Texte, Große Richard Beer-Hofmann-Ausgabe in sechs Bänden, Bd. 1. Hg., mit einem Nachwort und einem editorischen Anhang versehen von Michael Matthias Schardt, Oldenburg 1998, S. 282f. 235

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Abbildung 1: Sandro Botticelli: Bestrafung der Rotte Korah (1481-1482), Fresko, Vatikan, Sixtinische Kapelle

Beer-Hofmann fragt hier nach der Möglichkeit einer ‚unorganischen‘, also auf Abstraktion abzielenden „Darstellungsart“. Ein Text wird demzufolge ornamental, wenn er ‚schöne‘ Sätze ohne Bezug auf einen Inhalt um ihrer selbst willen präsentiert, so dass der dargestellte Sachverhalt vom ornamentalen Arrangement nicht mehr getrennt erscheint, sondern von ihm affiziert und überformt wird. Das Thema der Darstellung verliert seinen Eigenwert, indem es in der ornamentalen Anordnung aufgeht und darin dann gewissermaßen verschwindet. In einer nicht-ornamentalen Darstellung dagegen müssen Bildgegenstand und schöner Rahmen deutlich voneinander geschieden bleiben, d.h. die Trennlinie von Bildthema und Hintergrund sichtbar einhalten. Kurzum: Das Ornament des Rahmens darf nicht ins Bild einwandern und dadurch die Darstellung selbst ornamentalisieren. Wenn dies aber der Fall ist, so entsteht daraus Beer-Hofmann zufolge eine „zwecklose Kunst, die nicht einmal etwas sagen will“, sondern nur „schön sein“ in ihrer Aufmerksamkeit rein „auf ornamentaler Wirkung hin“.14 Diese „Darstellungsart“ wird von ihm verworfen. Auch in seinem Roman geht es deshalb zentral um eine Kritik des Ästhetizismus als Kritik des ornamentalen Sehens, das aus „der Annäherung der organischen 14 Ebd., S. 280. 236

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Wesen an mineralisch-geometrische Configurationen“ resultiert.15 Bereits in den Aufzeichnungen der Italienreise heißt es entsprechend: „Villa Seerbelloni. Vor dem Ornament sind alle gleich. Menschen die in Delphinschwänzen enden. Delphine, die zu Akanthusblättern ringeln, Wegnehmen der Scheidung zwischen Mensch, Tier, Pflanze. Morallosigkeit des Ornaments“.16 Die Kritik des ornamentalen Blicks entzündet sich an einem zentralen Problem: der Rolle des Todes für das Leben des einzelnen in menschheitsgeschichtlicher Hinsicht. Aber auch noch das dritte Kapitel des Romans, das sich dieser Frage stellt und das sehr viel mehr mit dem Naturalismus als mit anderen literarischen Strömungen der Zeit zu tun hat, präsentiert wegen der Genauigkeit seiner Beschreibung noch attributiv überladene, damit ornamental wuchernde Bildsequenzen, wie sie bei den dezidiert ästhetizistischen Abschnitten eingangs des Romans zu beobachten waren. Auch hier erscheint die Darstellung trotz ihrer veränderten Perspektive noch ornamental, so dass sich die tatsächliche Abkehr vom stilisierenden Sehen erst zum Schluss des Romans ereignet. Die idiosynkratische Genauigkeit dieser Sprache ist Konsequenz des sentimentalischen Differenzbewusstseins. Die ornamentale Darstellung versucht ihm gegenüber, die verlorene Einheit durch Wiedererlangung von Naivität im Wunder der Anschauung herzustellen; eine Erfahrung, die Paul als Kind mit den Erzählungen aus 1001-Nacht machte. Das Ornament wird zu einer Form der visuellen Beglaubigung dieser Ganzheit. Die Künstlichkeit des Textes resultiert deshalb auch aus der Wunscherfüllung eines Bewusstseins, das sich die verloren gegangene Einheit von Einzelnem und Allgemeinem ersehnt und in den Figurationen des Jugendstils ästhetisch erfüllt sieht. Daraus geht eine Textur hervor, die keine Geschichte mehr erzählt, sondern auf gleichermaßen literarische wie zunehmend dann auch diskursive Weise die Frage nach der visuellen Erkennbarkeit der Welt reflektiert. Solche Diskursivierung der literarischen Prosa ist ein Kennzeichnen des modernen Romans.17 Man könnte

15 So Alois Riegl zum ‘Stilisieren’: Das Rankenornament. In: Mitteilungen des k-[aiserlich]-k[öniglichen] Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Wien 5 (1894), S. 122-130, 149-155, hier S. 125, zit. nach Harald Tausch: „von dem Inneren des Labyrinths aus gesehen“. Beobachtungen zur Architektur von Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs (1900). In: Poetik der Evidenz, S. 31-50, hier S. 46/ Anm.41; hier bei Tausch auch eine Interpretation der zitieren Passagen aus Beer-Hofmanns Aufzeichnungen der Italienreise S. 44ff. 16 Ebd., S. 280 (Hervorh. St. Sch.); vgl. dazu auch die Interpretation dieser Passagen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Reflexionen auf das Ornament bei Riegl u.a. 17 Vgl. Ulf Eisele: Die Struktur des modernen Romans. Tübingen 1984. 237

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für den Tod Georgs daher auch von einer textuellen Opposition sprechen, insofern die ästhetische Gegenwirklichkeit im stilisierenden Sehen eine abstrakte Textur durch eine primär formale Verknüpfung der sprachlichen Elemente nahe der Verfahrensweisen moderner Lyrik erzeugt. Dies geschieht allerdings nur solange, bis der Ästhet die ‚Gerechtigkeit‘ der Welt einsieht. Mit dieser Erkenntnis wird eine Rückwendung zur alten „erzählerischen Ordnung“ behauptet, über deren Unmöglichkeit in der Moderne Musils Ulrich im Blick auf das „Abstraktwerden des Lebens“ und auf die Ausbreitung aller Bezüge zu einer „unendlich verwobenen Fläche“ räsoniert. Dieser Auffassung ist das „primitiv Epische“ abhanden gekommen, also die „einfache Reihenfolge“ an „jene[m] berühmten ‚Faden der Erzählung‘, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht“.18 Der Tod Georgs dagegen kehrt am Ende, nachdem sich zuvor sein Text in der von Musil beschriebenen Flächigkeit ausgesponnen hat, zum konventionellen Erzählen und damit einhergehend zum symbolischen Sehen zurück, das die ‚Gerechtigkeit‘ des Lebens in der räumlich wie zeitlich gegliederten Landschaft erkennt. Die „milde herbstliche Klarheit“ der entlaubten Bäume mache die Ordnung der Welt, ihr ‚Gesetz‘, direkt einsehbar: [...] wo sonst grüne Massen wirr ineinanderquollen, entwirrten sich die Stämme, und man verstand ihren Wuchs, ihr Verzweigen, wie sie zueinander sich neigten oder, dem beherrschenden Schatten anderer entweichend, sich dem Licht entgegenbogen. [...] und deutlicher sah man das sanfte Ansteigen der Äcker, den Abfall der Wiesen zu Tälern hin [...]. Die Fernen schwammen nicht im Dunst; in sicheren Linien schieden sie sich von Wolken. (106; Hervorh. St. Sch.) Kraft der Einsicht Pauls, Angehöriger eines höheren Ganzen, genauer des Judentums zu sein, kehrt der Roman mit dem gewonnenen ‚Faden‘ der auktorialen Erzählung zur symbolischen Ordnung im Zeichen des Realismus zurück, die auf eine bestimmte Evidenz der Anschauung baut: auf die ‚geschaute‘ Einsicht in das ‚Gesetz‘ der Natur. Wie der Realismus versucht auch der Tod Georgs zum Schluss, diese Ordnungsidee visuell zu beglaubigen. Das symbolisch gesehene Detail eröffnet hier die Verweisung auf das Allgemeine. Schnitzler erkannte in diesem Wechsel einen „frechen Schwindel“, der „irgendwo“ im vierten Kapitel stecke: „Sie

18 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hg. Adolf Frisé, Bd. 1, Reinbeck bei Hamburg 1978, S. 650. 238

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setzen sich sozusagen plötzlich an eine andre Orgel, die auch herrlich klingt – aber das beweist nichts“.19 Beer-Hofmanns Roman versucht also, die Überwindung des Ästhetizismus auch visuell, durch eine literarische Bildpolitik zu plausibilisieren: In der schönen Ordnung des barocken Parks (der zwar namentlich nicht genannt, aber durch die Beschreibung architektonischer Details als Schönbrunn zu identifizieren ist) wird die ornamentale Flächigkeit der Jugendstil-Tapete von einem zentralperspektivisch gegliederten Raum abgelöst: Klar schien sich Alles um ihn zu gliedern. Wie es sich sonderte und stufte, erkannte er die Zusammenhänge. Was ihn umgab, begriff er so, als übersähe er es aus der Ferne. Das Einzelne bestach nicht mehr. Gerechter als vorher, vermochte er im stillen klärenden Licht des Herbstes den stummen Willen der Landschaft zu erfassen, durch die er schritt, und ihr Gesetz. (106, Hervorh. St. Sch.) Damit ist das Gegenprogramm zum intensiven Kontakt mit dem isolierten ‚Einzelnen‘ in der Einbildungskraft des Ästheten formuliert: „Aber sie [die Figuren aus 1001-Nacht] waren zu nahe; hart vor seinen Augen sah er nur das Wirrsal ihrer kleinen Geschehnisse – nicht wie ihr Schicksal sich groß und unerbittlich daraus formte“ (25). Die herbstliche Klarheit im barocken Schlosspark lässt dagegen das ‚Gesetz‘ der Welt kraft Integration jedes „Einzelne[]“ in einem plastischen Raum sehen, während vorher im Ornament die konkrete Gestalt von ihrer Umgebung nicht getrennt war, so dass sie in formalen Arrangement aufgeht und darin als etwas Eigenes und Eigenständiges verschwindet. Es handelt sich folglich um die Wiederherstellung eines Erzähl- und Bildprogramms, das seine Idee von Ordnung visuell organisiert und beglaubigt. Beer-Hofmann unternimmt es, die Rückkehr zu diesem Modus der Sinn- und Ordnungsstiftung von der Goethezeit bis zum Realismus durch Umcodierung eingeführter Leitmotive evident zu machen. Genau durch diese Uminterpretation von Bildern bei Wahrung ihrer visuellen Plausibilität aber relativiert der Text gerade ihre Evidenzverheißung. Der Tod Georgs steht auch deshalb am Beginn des modernen Romans, weil er gegen die eigene Darstellungsabsicht die Aporien visuell orientierter Problemlösungsverfahren offenlegt.

19 Brief Schnitzlers an Beer-Hofmann, 2. März 1900. In: Arthur Schnitzler – Richard Beer-Hofmann. Briefwechsel. Hg. Konstanze Fliedl. Wien/Zürich 1992, S. 144. 239

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2. Poetik der Evidenz Die Frage nach der poetischen ‚Bildkritik‘ aufgreifend, kann also gezeigt werden, wie der Roman die Evidenz des Bilds problematisiert. In gewisser Weise polemisiert er damit bereits gegen das Sinnstiftungsprogramm, mit dem Hofmannsthal im späteren Brief des Lord Chandos von 1902 auf die Sprachproblematik durch eine daseinsunmittelbare Sprache der Bilder reagiert, in der „die stummen Dinge zu mir sprechen“.20 Im Kern reflektiert bereits der Tod Georgs dagegen die Unmöglichkeit, eine immanente Sinnstiftung durch diese stumme Sprache der Bilder herbeizuführen, indem er demonstriert, wie gleiche Bildeindrücke ganz unterschiedlich wahrgenommen und gegensätzlich interpretiert werden können. „Das Erzählproblem der Moderne manifestiert sich wesentlich im Fragwürdigwerden von Visualität als Erkenntnis“.21 Der Tod Georgs trägt diese Problematik auf genuin literarische Weise aus, indem er reflektiert, dass gerade Bilder trotz ihrer vermeintlichen Evidenz lügen. Evidenz ist hier gefasst als Einsicht ohne methodische Vermittlungen, als etwas Offenkundiges ohne argumentative Herleitung, als eine „anschauende Gewißheit“.22 Als Postulat der Anerkennung ist Evidenz eine ebenso zentrale wie umstrittene Instanz der offenkundigen, weil unmittelbar einleuchtenden Selbstbezeugung wahrer Anschauung. Evidenz stellt sich ein, oder sie bleibt aus; sie kann erzeugt, aber nicht bewiesen, durch Angabe von Gründen weder gesichert noch bestritten werden. Sie ist etwas, das unmittelbar ein-leuchtet, weil es gleichsam aus sich selbst heraus leuchtet. Ihr eignet daher etwas Instantanes, so dass sie sich auch in dieser Hinsicht von geregelten Schlussfolgerungsverfahren aus Prämissen unterscheidet. Manfred Sommer hat das Extrem dieses Erkennens, das ‚Maximum der Evidenz‘ am Beispiel von Ernst Mach auf die Doppelformel „Klarheit und Verschwommenheit, Transparenz und Konfusion“ zugespitzt.23 Die spezifische Modernität dieser Implikation des Verworrenen und Intuitiven bei großer Klarheit und Offenkundigkeit, geschuldet einer „überkomplexen Zeichenfülle jenseits der Mangellogik des Begriffs“, 20 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden Hg. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt/M. 1979, S. 461-472, hier S. 472. 21 Eisele: Die Struktur des modernen Romans, S. 43. 22 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe, Bd. 4. Hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1982, S. 627 (B 762). 23 Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt/M. 1987, S. 292. 240

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betont im Rekurs auf Sommer die jüngere Diskussion einer ‚Poetik der Evidenz‘. Erschlossen wird dabei eine „Verheißung der Bilder“ im „Spannungsfeld von Bild und Sprache“,24 die sich kraft ihrer ein‚leuchtenden‘ Energie in den sprachskeptischen Texten Hofmannsthals plausibel macht. Das „fieberische[] Denken“ in Bildern, also in einem „Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte“,25 werde hier als Problemlösung für die Grenzen der Sprache eingesetzt.26 Hofmannsthals Poetik der Evidenz induziere folglich „keinen Sprachmangel, sondern kreative Sprachanstrengungen im Spannungsfeld von Bild und Sprache [...]. ‚Bilder‘ in literarischen Texten ermächtigen textuelle Verfahren, die solche nichtmimetische Evidenz des Bildes in der Sprache erzeugen wollen“. „In der Sprachkritik der Zeit, bei Hofmannsthal oder Fritz Mauthner, sind diese einleuchtenden Augenblicke als ‚Sprache der stummen Dinge‘, als Evokation von Bedeutungsfülle im Bedeutungslosen zugleich Glücksversprechen und schmerzhafte Grenzerfahrungen für die rationaler Ordnung verpflichtete Sprache.“27

3. Das Lügen der Bilder I: Umsemantisierung Beer-Hofmanns Roman entzaubert nun aber genau dieses Glückversprechen, weil es sich als bloß subjektiver Effekt der Phantasietätigkeit im Augenblick erweist. Bilder lügen gerade wegen ihrer evidenzverheißenden Kraft. Denn ihre Bedeutung ist schlicht interpretationsabhängig, genauer gesagt abhängig von der spezifischen Einstellung der Augen auf den visuellen Eindruck. Aus ein und demselben Bild können, so zeigt der Roman an verschiedenen Motivkomplexen, gegenläufige Wahrnehmungsoptionen und damit konträre Bedeutungen abgelesen werden. Auch darin besteht ein Zweck der legendären Leitmotivtechnik: Bilder oder ganze Bildsequenzen werden mehrfach, teils sogar wörtlich wiederholt und dann – umcodiert durch einen anderen Kontext oder durch neues Wissen – anders gesehen. Damit hebt sich aber die jeweils aufgebaute Semantik wechselseitig aus den Angeln. Der Tod Georgs betreibt eine Poetologie des Sehens in der literarischen Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der Bedeutungsstiftung durch Bilder. Das Sichtbare kann die Ordnung der Welt eben nicht verbürgen, wenn aus gleichblei24 Helmut Pfotenhauer/Wolfgang Riedel/Sabine Schneider: Einleitung. In: Poetik der Evidenz, S. VII-XVII, hier S. IX. 25 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 471. 26 Vgl. auch Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium der Literatur um 1900, Tübingen 2006. 27 Pfotenhauer/Riedel/Schneider: Einleitung, S. IX. 241

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benden Bildern unterschiedliche Lesarten, vergleichbar dem Kippmechanismus in der zeitgenössischen Gestalttheorie bei Christian von Ehrenfels,28 abgeleitet werden. Ich will diesen Vorgang an wenigen Beispielen ausführen, vor allem am Bild des Sees, das Pauls narzisstische Wahrnehmung der Frauen spiegelt. Pauls Blick auf den See wandelt sich im Verlauf des Texts auf bemerkenswerte Weise. Das Motiv erscheint vor allem im zweiten Kapitel bei der Beschreibung der sterbenden Geliebten und wird dort an drei verschiedenen Stellen mit fast identischem Wortlaut wiederholt: „[…] lag regungslos der spiegelnde See. Die Berge an seinem Saum wuchsen schwarz in seine Tiefe und gipfelten von Neuem darin, der satt-blaue Himmel lag tief unten und, blitzend, auf dem Grund die weißblendende Sonne“ (20/45/56). Dieses Bild des Sees, dessen Tiefe nur im Spiegel seiner Oberfläche invers aufscheint, verweist auf Pauls Narzissmus: „Sich selbst nur hatte er in Allen gesucht die ihm begegnet waren, und von dem ganzen Reichtum ihres eigenen Lebens, den Frauen ihm entgegentrugen, hatte er nichts wissen wollen [...]; in Allem hatte er nur sich gesucht und sich nur in Allem gefunden“ (123f.). Paul sieht hier nur die ‚Lichtplatte‘ einer Oberfläche (so die Formel aus Doderers Divertimento II), weil er nicht willens ist, die Tiefe darunter als etwas Lebendiges und Eigenständiges anzuerkennen, damit als etwas, das unabhängig von seinen narzisstischen Projektionen existiert. Wiederholt wird erwähnt, dass „nichts [...] unter der beruhigten Fläche die Tiefe“ verrate (45). In genau dieser Weise verhält sich Paul zu seiner sterbenden Geliebten, indem er sie zur bloßen Oberfläche seiner Wünsche degradiert: „Wie einer über ein schlafendes unbewegtes Wasser sich neigt, sehnsüchtig, sein eigenes Bild zu sehen, so hatte er sich über sie geneigt, bis es ihm schien, als starrten durch geschlossene Lider seine eigenen ruhlos flackernden Gedanken, verzerrt, mit dem vertraulichen Lächeln Mitschuldiger, ihn an“ (124). Die narzisstische Selbstbespiegelung mortifiziert das Lebendige im ornamentalen Arrangement: „Alles wonach er griff“, heißt es in der späteren Selbstkritik, sei von ihm gewichen und verlor „zwischen seinen Fingern [...] seine Körperlichkeit, zerrann und flachte sich zum Bild in einem dunklen Spiegel“ (125). Der Wandel des Ästheten ist dann, dieser vom Text aufgebauten Bildlogik zufolge, an der veränderten Interpretation des See-Bildes abzulesen: Nachdem Paul seinen Narzissmus durchschaut hat, öffnet sich ihm der Blick in die Tiefe: „Das frühere Bild war verloren; seine Augen verstanden es nicht mehr, nur die dunkle Fläche des Wassers zu sehen. [...] Fast wider Willen mußte er durch das sonnenhelle Wasser dorthin star28 Vgl. dazu im Zusammenhang Scherer: Beer-Hofmann und die Wiener Moderne, S. 351-354. 242

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ren. [...] Er sah nicht mehr die Gipfel der Berge im See sich spiegeln. Er wußte, daß sie aus dem Seeboden stiegen“ (57; Hervorh. St. Sch.). Die vormals „regungslos“ glatte Fläche (56) ist jetzt aufgebrochen: „Ein silbernes Blitzen zerriß das Bild; ein Fisch war emporgeschnellt, und in immer weiter verrinnenden Kreisen wellte das Wasser“ (56). Lebendig wird das „schlafende[] unbewegte[] Wasser“ (124) durch die ‚eigenständige‘ Außenwelt (Weidenspitzen) und durch das eigene fruchtbare Leben in ihm (Fische), damit vor allem durch Wirkungen, die unabhängig von den narzisstischen Projektionen des Ästheten existieren: „Seinen eigenen Zwecken dienend, erfüllt von Lebendigem und Verwesendem war der See – mehr als bloß ein Spiegel, der Sonne und Wolken und Berge und ein Antlitz, das mit fragenden Augen sich über ihn neigte, in seiner glatten Fläche fing“ (58, Hervorh. St. Sch.) Die damit wahrgenommene Tiefe des Sees entspricht der nunmehr wahrnehmbaren Tiefe von Raum und Zeit. Beide Kategorien der Anschauung sind jetzt gegliedert. Diese ‚realistische‘ Sicht am Schluss des Romans hat neben der Flächigkeit des Ornaments auch die Zeitlosigkeit überwunden, insofern die Dinge nun in einer Raum-Zeit-Matrix lokalisiert sind, so dass ihnen je ‚eigenes Recht‘ zukommt: dies eben im Gegensatz zur arabesken Fläche, wo das Besondere im ornamentalen Arrangement verschwindet. Das flächige Nebeneinander isolierter Bildeindrücke, durch die Lineatur des Ornaments im Zeichen ‚zweckloser Schönheit‘ integriert, wird nun abgelöst von einer Struktur, in der jeder einzelne Mensch am ‚Faden des Lebens‘ seinen genau bestimmten, zeitlich und räumlich fixierten Platz einnimmt, so dass ihm eine je besondere Funktion für das Ganze des Lebens zukommt. Man kann diese Logik der Bildabwandlungen bei Wahrung ihrer Evidenz auch an anderen Beispielen durchdeklinieren: so am Bild des Sandes, das durch textuelle Operationen vermittels einer Isotopie-Kette vom Wasser über die Wolken auf den Faden des Lebens verschoben wird, wobei Elemente des vorherigen Bildzusammenhangs – so der durch die Hand rinnenden Sand – präsent gehalten bleiben. „Denn was Einer auch lebte, er spann nur am nichtreißenden Faden des großen Lebens, der – von Andern kommend, zu Andern – flüchtig durch seine Hände glitt, ein Spinner und, wie sein Leben sich mit hineinverflocht, Gespinst zugleich für die nach ihm. Unlöslich war ein jeder mit allem Früheren verflochten“ (127). Hier wird, wie man sieht, nicht nur die Form der ornamentalen Integration präsent gehalten. Der Text reflektiert vielmehr auch seine eigene Poetologie, indem er den etymologischen Konnex von ‚Gewebe‘ und ‚Textur’ mit der Rolle der Phantasietätigkeit („Gespinst“) für die Zukunft in der Ahnenkette verknüpft. Auf diese Weise lädt der Text, indem er seine Vernetzung der Leitmotive in einer

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selbst leitmotivisch aufgeführten Netz-Metaphorik reflektiert (vgl. etwa 119), das von ihm erzeugte poetisches Gewebe mit einer neuen Semantik auf. Bei Wahrung ihrer vorherigen Evidenz wird negativen Bildern (Sand für die Vergänglichkeit) eine positive Bedeutung eingeschrieben: Der durch die Hand rinnende Faden repräsentiert jetzt Dauer, Kontinuität und Bewahrung.

4. Das Lügen der Bilder II: Wahrnehmungsoptionen zwischen Ornament und Objektivität An den ausgewählten Bildkomplexen sollte deutlich geworden sein, dass scheinbar marginale und isolierte Bild-Motive durch Vernetzung ihrer Konnotationen zuletzt gegenläufige Bedeutungshorizonte aufbauen. Mit der Einsicht in die ‚Gerechtigkeit‘ werden die Bilder der Einsamkeit, Vergänglichkeit und des Todes so spezifisch umcodiert, dass sie zum Schluss die Ordnung der Welt beglaubigen. Dabei legt der Text erkennbar Wert darauf, die Kontinuität zu ihrer vorherigen Explikation zu wahren. So steht die herbstliche Klarheit in Kapitel IV der arabesken Verschlingung in Jugendstilbildern wie der impressionistisch ineinsfließenden Natur eingangs des Romans entgegen. Lösten sich dort alle plastischen Gestalten und Zusammenhänge ins flächige Labyrinth auf, so „zeichnet[] sich“ die Gestalt der Frauen jetzt „[s]charfumrissen“ vor dem „grauen Hintergrund der steinernen Gruppe“ ab (112). „Scharf“ grenzten sich ihre Konturen zwar auch im oben zitierten ‚Jugendstilbild‘ ab, dort aber verlor sich ihre weiße „körperlos[e]“ Gestalt im Liniengewirr (21). Jetzt hingegen sticht die beobachtete junge Frau deutlich vor dem grauen Hintergrund des selbst plastischen Brunnens als raumgreifende Figur ab. Auch hier unterscheidet Paul ihre Züge nicht, und auch jetzt zeichnet sich deren Gestalt durch die „überschlanken Glieder“, die „schmalen Kinderschultern“ und die „wächserne Fahlheit“ des Gesichts aus, auf eine Weise also, die der „lebenerfüllten reichentfalteten Nacktheit der Frau auf dem Delphin“ einer Steingruppe am Brunnen kontrastiert (112f.). Trotz dieser überdeutlich markierten Ähnlichkeiten, überformt durch den zeitgenössischen Frauen-Typus der femme fragile, werden die Frauen jetzt aber auf ganz andere Weise gesehen: Obwohl die Verbindung zu den Jugendstil-Figurationen präsent gehalten wird, kann von einer Stilisierung zu präraffaelitischen Frauenfiguren nicht mehr die Rede sein. An keiner Stelle verfällt Paul der früheren Assoziationstätigkeit, in der sich die Ebenen seiner Vorstellungsbilder wie in einem Palimpsest unentwirrbar überlagern. Es ist ja die Pointe dieser Szene, dass die Frauen ihn zwar an die frühere „Übermalung“ (10) erinnern, ohne dass sich

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nun aber der Effekt wie zuvor automatisch einstellt. In gewisser Hinsicht sieht Paul die beiden Frauen jetzt ‚realistisch‘, also so, wie sie sich ihm leibhaftig präsentieren. Sie verweisen damit nicht mehr auf seine Sehnsucht nach einem mortifizierten, unfruchtbaren und sensitiv gesteigerten Leben, sondern sie werden wahrgenommen als das, was sie sind: eigenständige Personen, die an einem bestimmten Platz einen Raum einnehmen. Entsprechend kommt der Begegnung nun auch eine andere Funktion als in Kapitel I zu: Löste sie dort die im Bildgedächtnis gespeicherten Assoziationsketten geradezu automatisch, gleich einer mémoire involontaire aus, so muss Paul sich jetzt mühsam der Augustnacht erinnern, in der er den Frauen erstmals begegnet war. Mit der Wahrnehmung des Vergangenen, das nun tatsächlich als etwas Vergangenes genommen wird, etabliert sich ein realistischer Blick, in dem das unmittelbar Geschaute von den imaginären Überschreibungen geschieden ist. Entsprechend ist Paul jetzt auch „begierig“ danach, „ihr wahres Antlitz“ zu sehen (120). Mit dieser neuen Sicht haben die Dinge eine ‚Bedeutung‘ erlangt, so die Behauptung, die unabhängig sei von der projizierenden Phantasie des Ästheten: „Mehr als bloß entlaubte Bäume und gemeißelter grauer Stein und stehendes dunkles Wasser und Wind und graue Wolken, schien ihm dies alles; über seinen eigenen Sinn hinaus, wies es noch auf anderes: Es bedeutete. Unverhüllt, aus nicht lügenden Augen, sah eine Erkenntnis ihn an“ (125). Im Kern handelt es sich freilich erneut um eine „bewusste Projektion“29, bedingt durch eine jahreszeitliche Stimmungsänderung. Genau dies wird Paul als Problem reflektieren, so dass es für ihn schließlich nötig wird, dem neuen Sehen die Qualität von Objektivität zuzuschreiben.30 Dies geschieht im Tod Georgs dadurch, dass die veränderte Sicht auf die Welt mit zwei nicht mehr visuell zu beglaubigenden Behauptungen verschränkt wird, die beide über den Begriff des ‚Gesetzes‘ eingesetzt werden: dem monistischen ‚Gesetz‘ der Natur und dem monotheistischen ‚Gesetz‘ des Judentums. In der Immanenz des Romans bleibt Pauls Bekenntnis zum Judentum vornehmlich an das ‚Blut‘ gebunden. Trotz seiner Evidenz als realer Trä29 Vgl. zur These, derzufolge in gewissem Sinn alles Wahrnehmen Projizieren sei, Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Th. W. A.: Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt 1997, S. 212-214. 30 Zur Geschichte dieser Kategorie, die als mechanische Objektivität (etwa durch die photographische Reproduktion) in den Naturwissenschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine prominente Rolle spielt, und dazu, wie diese Objektivität in Bildern u.a. auch bei Ernst Haeckel veranschaulicht wird, vgl. Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität. Frankfurt/M. 2007. 245

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ger des vererbten Lebens bleibt auch dessen Bedeutung tatsächlich ebenso unanschaulich wie unbestimmt, was allein der Schlusssatz des Tod Georgs deutlich macht: „Aber was er fühlte, war nur das Schlagen seines eigenen Bluts“ (136). Keine gegensätzlicheren Deutungen, als sie dieser Satz erfahren hat, lassen sich denken.31 Dies hat allerdings nicht nur mit der Vieldeutigkeit der Blutmetaphorik selbst zu tun, sondern auch mit der sprachlichen Ambivalenz des Satzes, geschuldet der adversativen und modalen Wirkung der Wörter ‚aber‘ und ‚nur‘: Entweder akzentuiert dieses ‚nur‘, dass Paul ausschließlich das Blut und somit die jüdische Tradition, von der er nunmehr durchdrungen sei, verspürt; oder es verweist auf die erneute Isolierung von den Arbeitern, weil er nur das Schlagen seines eigenen Blutes hört. Dann bliebe Paul der Ästhet, der nur sein eigenes Innere versteht. In den Nachlassfragmenten findet sich ein Entwurf, der eine eindeutige Lesart zugunsten der Einbindung in das Judentum liefert. In der publizierten Fassung eignet dem Schluss jedoch eine Ambivalenz, die seine metaphysische Lösung selbst in Frage stellt. Denn die behauptete Sicherheit einer ‚gerechten‘ Welt ist gesetz-te Metaphysik. Verbindlichkeit käme ihr nur dann zu, wenn sie über das rein Subjektive hinausweisen würde. Doch nicht einmal Paul selbst ist sich sicher, ob seine neue Sicht mehr ist als nur das ephemere und zufällige Gefühl einer Stimmung: Aber woran wollte er erkennen, daß das Schicksal früherer Stunden nicht auch dieser Abendstunde bereitet war. Das Erkennen, das sie ihm gegeben, hatte er ‚Gerechtigkeit‘ genannt und wie ein schützendes Schild und Wappen über seinem Leben aufgerichtet. Aber wußte er denn, ob nicht auch dies aus vielem, das ihn fremd umgab, nur herangeweht an ihn war? Aus dem Erinnern an einen Traum, aus dem Schatten fremder Frauen, der über ein dunkles totes Wasser fiel, aus Wolken und dem Abend und dem Wind? Welches Zeichen war ihm denn gegeben, daß dies nicht vergänglich in ihm war, daß es ihn nicht verlassen konnte, daß er sich dessen sicher fühlen durfte, daß es – wie das Blut in seinen Adern – immer ihm, und nur ihm gehörte? (132) Zwar wird die Antwort mit dem Bild des Bluts gegeben. Kaum aber ist damit die Irritation darüber beruhigt, dass etwas, das sein bisheriges Leben bestimmt hatte, nun ‚verloren‘ sein solle. Auch das Blut, mit dem Paul eine feste Größe gefunden zu haben glaubt, ist nur eine sinnliche

31 Vgl. den Überblick über diese Deutungskontroverse bei Daniel Hoh: Todeserfahrung und Vitalisierungsstrategien im frühen Erzählwerk Richard Beer-Hofmanns. Oldenburg 2006, S. 112. 246

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Wahrnehmung, deren Bedingtheit er trotz aller gefühlten Evidenz eben selbst durchschaut hat. So reflektiert der Text letztlich auch die Fragwürdigkeit seiner eigenen Bildpolitik. Trotz ihrer unmittelbar einleuchtenden Qualität lügen die Bilder, weil sich auch das neue Sehen augenblicklich wieder verflüchtigen kann. Verbürgt wird die behauptete Sicherheit erst durch eine abstrakte Idee: „Ein Wort nur hatte sich herabgesenkt, und aller Glanz ging von dem einen aus: ‚Gerechtigkeit‘“ (126). Diese Problemlösung ist jedoch nicht anschaulich zu machen, obwohl die „ganze Welt der Reflexion“, wie Schopenhauer im Zeichen des Realismus betont, auf der anschaulichen Welt „ruht und wurzelt. [...] Alle letzte, d.h. ursprüngliche Evidenz ist eine anschauliche“.32 Das damit angedeutete Problem – nur das bildhaft Angeschaute ist evident, die Ordnung der Welt ist damit jedoch nicht zu erfassen – kehrt bei der ‚Gerechtigkeit‘ wieder. Ähnlich dem Engel in Hofmannsthals gleichlautendem Prosagedicht von 1893 senkt sie sich als eine Art Personifikation hernieder: „Gerechte Lose! – Das Wort traf und erschreckte ihn, als wäre es vom Himmel herab, schwer und eisern, gefallen“ (118). Zwar gewinnt die metaphysische Größe damit für Paul geradezu körperliche Qualität. Plausible Bilder aber, mit denen er sie sich verbildlicht wünscht, stellen sich nicht ein: „Ungläubig wie die Andern, hatte er sie immer von Neuem bewiesen haben wollen. Glaubhaft wie die Sonne, sollte sie täglich ihren Lauf vollenden, leuchtend an jedem Morgen aufsteigen [...]. Sie aber – die Herrin über allen Sonnen – war anders“ (126). Der Text gesteht damit selbst ein, dass seine Lösung nicht anschaulich gemacht werden kann – und nach Maßgabe ihrer jüdischen Herkunft mit der Vorstellung des abwesenden, abstrakten Gottes auch gar nicht anschaulich werden darf. In verschiedener Hinsicht also betreibt der Roman Bildkritik, indem er das „Fragwürdigwerden von Visualität als Erkenntnis“ (Eisele) literarisch durchspielt. Das Wort ‚Gerechtigkeit‘ bleibt abstrakt: Metaphysische Kraft kommt ihm allein durch einen Verweiszusammenhang zu, der sich über den Begriff des ‚Gesetzes‘ organisiert. Dieser zwingt freilich auf höchst widersprüchliche, wenn nicht kontradiktorische Weise den jüdischen Begriff mit dem naturwissenschaftlichen Begriff des zeitgenössischen Monismus zusammen. Beer-Hofmanns Versuche, die ‚Gerechtigkeit‘ bildlich zu plausibilisieren (Herbstlandschaft, Schwerkraft, Blut, Lebensfaden, Marionetten usw.), können über die Unsichtbarkeit 32 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Bd. 1, Zürich 1977, S. 104. „Die Vernunft kann immer nur wissen; dem Verstand allein und frei von ihrem Einfluß bleibt das Anschauen“ (S. 55). „Ueberall folglich ist unmittelbare Evidenz der bewiesenen Wahrheit vorzuziehen“ (S. 108). 247

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der behaupteten höheren Ordnung nicht hinwegtäuschen. Man ‚muss daran glauben‘ (Gretchen, Faust I), als Setzung jedoch basiert ihre Anerkennung auf subjektiver Willkür. Auf eine andere Weise aber, als es vom Roman alternativ durchgespielt wird, ist Sinn und Ordnung in der Moderne nicht mehr zu haben: entweder durch den stilisierenden Blick, in dem das ornamentale Arrangement die höhere Einheit anschaulich macht, oder aber per Dezision in Form eine Behauptung, die abstrakt bleibt. Auch ihr kann transsubjektive Verbindlichkeit nicht mehr zukommen, weil sie abhängig ist von spezifischen Einstellungen der Augen, des Wissens oder des Glaubens. Der Schluss des Tod Georgs bringt damit, indem er beansprucht, eine objektive Wahrheit erkannt zu haben, etwas Objektives zum Ausdruck, das dieser Wahrheit diametral entgegensteht: nämlich die Einsicht in die Unmöglichkeit, zu den alten, realistischen bzw. goethezeitlichen Modalitäten der Sinnstiftung zurückzukehren, in denen Bild und Bedeutung konvergieren.

5. Abstraktionsdrang Die Erkenntnisproblematik, die Beer-Hofmanns Roman am Beginn der literarischen Moderne aufwirft, lässt sich an einer zeittypischen Variante des Bilderdenkens illustrieren: an der Visualisierung des GesetzesBegriffs im zeitgenössischen Monismus, die Haeckels Bildersammlung Kunstformen der Natur unternimmt. An den von Haeckel präsentierten Tafeln kann man das skizzierte Problem geradezu augenscheinlich, gleichsam als gestaltpsychologisches Wahrnehmungsexperiment studieren. Mit antiidealistischem Impuls versteht sich der Monismus Haeckels bekanntlich als letztes Band zwischen Wissenschaft und Religion, als Verbindung der naturwissenschaftlichen Einsicht mit dem Glauben. Die zwischen 1899 und 1904 publizierte Sammlung von 100 Lithographien setzt Haeckels monistische Weltanschauung ins Bild: Gezeigt werden u. a. Quallen, Korallen, Schildtiere, Algen oder auch Kolibris und Antilopen. Sie repräsentieren das ‚Gesetz‘ der Natur in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen. Die Kunstformen der Natur tragen so maßgeblich zur Popularisierung der zeitgleich erschienenen Welträtsel (1899) bei. Anschaulich gemacht wird das Prinzip der allumfassenden Einheit der Dinge dadurch, dass die Abbildungen der Natur nach Kompositionsprinzipien zwischen mikroskopischer Detailgenauigkeit und Stilisierung erfolgen. Nicht um die Stilisierung selbst geht es ihnen jedoch, sondern um die Erkenntnis der Natur. Ihre ‚Gesetze‘ werden phänomenal gesehen, d.h. sie werden als visuell erschließbar behauptet: Die Doppelung von mikroskopischer Detailwahrnehmung und ornamentalem Arrangement

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soll die Ordnung in den Symmetrien der Natur erweisen. Die Darstellung organisiert sich folglich vor allem nach zwei Aspekten: Der Symmetrie des Einzelphänomens korrespondiert die ebenso symmetrische Anordnung im Ganzen, wobei nicht selten die einzelnen Figuren einer Zentralfigur radial oder rahmenförmig zugeordnet werden. Das resultierende Ornament verbildlicht die schöne Ordnung der organischen Natur. Die Natur gibt sich damit selbst als „Kunstform“ zu erkennen. In der Vielfalt der Erscheinungen offenbart sich die Einheit des Lebendigen. Die Darstellung zeigt die grundlegende Ähnlichkeit aller Lebensformen ähnlich den Verfahrensweisen im zeitgenössischen Jugendstil. Die Kunstformen der Natur sind damit gerade für die erläuterten Zusammenhänge im Tod Georgs interessant. Die von Haeckel selbst gezeichneten Abbildungen repräsentieren genau jene Übergangsstelle zwischen Mimesis der Natur und Konstruktion des stilisierenden Sehens, die wenig später in den ‚Abstraktionsdrang‘33 der Moderne mündet, ja sie machen diesen Übergang gewissermaßen sichtbar. Abhängig davon, wie der Betrachter seine Augen einstellt, kann man die Abbildungen auf grundsätzlich zweierlei Weise betrachten: entweder auf die Gestalt und die Plastizität der Naturphänomene fokussiert, oder auf deren Umrisslinie in der graphisch-ornamentalen Anordnung in der Fläche. Je nachdem also, worauf der Betrachter seine Aufmerksamkeit lenkt, auf das optische Detail im Nahblick oder auf die Komposition einer Tafel aus der Distanz, ergibt sich – ähnlich dem von der Gestalttheorie beschriebenen Kippmechanismus – eine alternative Wahrnehmung. Man sieht entweder die gegenständliche Qualität des Phänomens oder ein abstraktes Ornament: im zweiten Fall u.a. dadurch, dass die abbildende Qualität überlagert wird von der ‚reinen Form‘, und zwar genau so, wie es Hofmannsthal im Stuck-Essay diskutiert hatte. Bei Haeckel schlägt die Darstellung vom Gegenständlichen ins abstrakte Ornament etwa dort um, wo die Umrisslinie den plastischen Eindruck flächig werden lässt (z.B. Stachelstrahlinge, Tafel 21); aber auch dort, wo die Transparenz von Quallen durch die Lineatur akzentuiert wird (Kammquallen, Tafel 27) oder wo die Faktur der Oberflächengestaltung dominiert (z.B. Sternkorallen, Tafel 29), nicht zuletzt schließlich dort, wo die Gestalt in flächige Querschnitte zerlegt wird (z.B. Scheiben-Strahlinge, Tafel 11).34 Auf jeden Fall aber entspre33 Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne. München 2005. 34 Abbildungsnummern nach Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Die einhundert Farbtafeln. Mit einem Geleitwort von Richard P. Hartmann und Beiträgen von Olaf Breidbach und Irenäus Eibl-Eibesfeldt. München/New York 1998; die Abbildungen sind einsehbar unter http://caliban.mpizkoeln.mpg.de/~stueber/haeckel/kunstformen/natur.html (25. März 2008). 249

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chen diese Abbildungen kaum mehr dem Erscheinungsbild im natürlichen Zusammenhang, obwohl sie im ‚Erkennen der Natur‘ nichts anderes als mimetisch sein wollen. (Es gibt freilich auch gleichsam ‚mimetischere‘ Abbildungen, so z.B. die Schildkröten auf Tafel 89). Das, was man sieht, ist folglich von der Einstellung der Sehens abhängig, je nachdem, worauf es seine Aufmerksamkeit lenkt: auf die Identifikation der Gegenstände mit jeweiliger Bedeutung in einer räumlichen Ordnung der Dinge (Realismus), oder auf das formalisierte Arrangement, das ein abstraktes Ornament ohne dezidierte Semantik zeigt. Bedeutung und Sinn des Einzelphänomens für das Ganze werden allerdings in beiden Fällen nicht anschaulich, wie auch immer die Darstellung die ‚schöne‘ Ordnung des Gesetzes repräsentieren will. Die höchst sinnliche Konkretheit lügt über die tatsächliche Unanschaulichkeit dieses Gesetzes hinweg. Die Abstraktion zeigt nicht das ‚Gesetz‘ der Natur, sondern eine gesetzmäßige bzw. kunstförmige Organisation ihrer Phänomene. Die Identifikation, d.h. die begriffliche Bestimmung ist deshalb in der Regel erst nur durch die Bildunterschrift möglich: also durch die Zuordnung von Anschauung und sprachlicher Erfassung. Karl Kraus wird seit dem 1. Weltkrieg seine ganze satirische Energie darauf verwenden, vorzuführen, wie Bilder, genauer die Photographie als Dokument der Wirklichkeit, gerade durch die hinzugefügten Bildunterschriften lügen.35 In einer Darstellung, wie sie Haeckel präsentiert, wirken beide Wahrnehmungsoptionen gleichermaßen evident: die abstrakte Ordnung wie das optisch isolierte Einzelne, das in seiner gegenständlichen Gestaltqualität gezeigt wird. Es gibt kein richtiges Sehen in dieser Unentscheidbarkeit. Auf Haeckels Tafeln sieht man damit gewissermaßen die Schnittstelle zwischen Jugendstil und abstrakter Kunst seit Kandinsky oder Mondrian. Versteht sich der Monismus noch einmal als eine philosophische Lehre, die in spezialisierte Diskurse zerfallende Welt zu synthetisieren und ihre Ganzheit visuell zu beglaubigen, so macht genau diese Visualisierung die Krise der ‚Realität‘ als Krise der visuellen Repräsentation erkennbar. Darauf reagiert dann die literarische Moderne, weil sie realisiert, dass eine Welt der ‚Ströme und Strahlen‘36 von Sachverhalten bestimmt wird, die mit den normalen Sinnen nicht mehr wahrzunehmen ist.37 35 Vgl. Burkhard Müller: Karl Kraus. Mimesis und Kritik des Mediums. Stuttgart 1995. 36 Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989. 37 Vgl. dazu am Beispiel der Bakteriologie Philipp Sarasin (Hg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920. Frankfurt/M. 2007. Auch die Photogramme von Bakterien präsentieren 250

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Damit zeichnet sich an der Jahrhundertwende vor, was an den einschlägigen Debatten Worringers und Kandinskys als ‚Abstraktionsdrang‘ um 1910 ausgeführt worden ist.38 Die Abstraktion im Zeichen der Lebensideologie, z.B. im Fasziniertsein vom Kristall und seiner geometrischen Ordnung, versucht, das Unsichtbare und Undarstellbare, das wahre Sein hinter der Oberflächenerscheinung verfügbar zu machen. Dem entspricht das stereoskopische Sehen in der Synthetischen Moderne, also das Doppeltsehen von empirischem Befund und höherer Ordnung, das etwa Ernst Jünger in seiner Kurzprosa-Sammlung Das Abenteuerliche Herz (1929) postuliert.39 Der Tod Georgs will diesen ‚Abstraktionsdrang‘ noch einmal abwehren: durch Rückkehr zum Erzählprogramm des Realismus. Wenn ein mögliches Differenzkriterium zwischen realistischem und modernem Roman in der Antwort auf die Frage liegt, „wo die Wahrheit verortet wird, von der der Text spricht (in der Realität oder im Text)“,40 dann lässt sich daran die Übergangsstellung diese Romans erkennen. Denn er spielt beide Modalitäten an Möglichkeiten und Grenzen des ‚Denkens in Bildern‘ durch – und macht daran dessen Aporien sichtbar.

sich als ornamentale Arrangements, vgl. Abb. 13 in Poetik der Evidenz, o.S. 38 Vgl. auch Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg 2004. 39 Dazu im einzelnen Gustav Frank / Stefan Scherer: „Stoffe sehr verschiedener Art … im Spiel … in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen“. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne. In: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche, Tübingen 2007, S. 253-279. 40 Peter Bürger: Prosa der Moderne. Frankfurt/M. 1988, S. 387. 251

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Abbildung 2: Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. 1899-1904, Tafel 1: Phaeodaria. Rohrstrahlinge. http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/~stueber/haeckel/kunstformen/natur.html

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KLÄNGE – WORTE – BILDER. MEDIALE WECHSELWIRKUNG UND KONSTRUKTION KULTURELLER IDENTITÄT IN LIEDERN VON SCHUMANN, SCHÖNBERG UND HENZE ANNETTE SIMONIS UND MICHAEL SCHWARTE

Liedvertonungen bilden seit der klassisch-romantischen Epoche vertraute Bestandteile der europäischen Literatur- und Musikgeschichte. Aufgrund ihrer Beliebtheit und weiten Verbreitung ist leicht zu übersehen, dass sie eine vielschichtige und komplexe ästhetische Grundstruktur aufweisen, die sich seit der Romantik noch weiter ausdifferenziert. Kunstlieder stellen intermediale Gebilde par excellence dar, insofern sie ein spezifisches Verhältnis zwischen Wort und Musik herstellen und einen Spannungsbogen zwischen Sprache bzw. Text und Musik ausloten. Textuelle und melodische Aspekte gehen eine enge Verbindung und ästhetische Wechselwirkung ein. Neben den genannten künstlerischen Medien lassen sich die beteiligten auditiven und visuellen Wahrnehmungsmedien unterscheiden, das Hören oder Lesen der Gedichte bzw. der Lieder und ihrer Partitur, aber auch rein innermusikalisch bilden die menschliche Singstimme und die instrumentale Begleitung eine interessante Form des intermedialen Zusammenspiels. Die letztgenannte Relation erscheint in der modernen Musikgeschichte hochgradig modellierbar, seit die Unterordnung des Instrumentalen in der Liedform aufgegeben ist zugunsten gleichberechtigter Interaktionspartner und die zunächst komplementär konzipierte Beziehung zwischen Gesang und Instrumentierung durch eine Vielzahl, ein weites Spektrum neuer möglicher Relationen ersetzt wird: Ein agonales oder sogar antagonistisches Verhältnis zwischen Gesang und Instrumentierung ist seit der romantischen Epoche ebenso denkbar wie ein wechselseitiges ironisches Unterlaufen. Den drei hier zu diskutierenden Komponisten Schumann, Schönberg und Henze ist gemeinsam, dass sie ein besonderes, reflektiertes Verhältnis zur Sprache haben, insbesondere zur poetischen Ausdrucksform. Mehr noch: Bei ihnen wird der poetische Text in je unterschiedlicher Weise zu einem unverzichtbaren Orientierungspunkt und integralen Bestandteil für das eigene Komponieren und fungiert sogar als Triebfeder 253

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bei der Entdeckung neuartiger musikalischer Formen wie der freien Atonalität oder der Emanzipation der instrumentalen ‚Begleitung‘. Die musikalische Kompositionskunst stellt sich als mediale Transformation der jeweiligen poetischen Texte dar, die nicht allein anregend und impulsgebend, sondern mitunter strukturbildend wirken. Die textuellen Strukturen und Besonderheiten der lyrischen Vorlagen prägen die Vertonungen und können sogar neue kompositorische Prinzipien stimulieren. In Schönbergs und Henzes Liedkompositionen fließen zudem Merkmale ästhetischer und kultureller Alterität und eine heterogene Vielschichtigkeit ein, die den Rahmen der überlieferten Vorgaben und kulturellen Codierungsmuster sprengen. In unserem Beitrag möchten wir mit Schumanns HeineVertonungen, Schönbergs George-Liedern op. 15 und Henzes neapolitanischen Liedern drei Beispiele vorstellen, in denen das intermediale Zusammenspiel von Sprache und Musik jeweils unterschiedlich gestaltet ist und epochentypische und individuelle Stilvorlieben zu erkennen gibt.

1. Schumanns Dichterliebe – Spannungsmomente und ironische Brechungen zwischen Text und Klang „Leichter hätte man es noch, wenn man geradezu Texte komponierte, die Worte wegstriche und so der Welt übergäbe, aber dann ist es nicht das Rechte, sondern sogar eine Art Betrug – man müsste denn damit eine Probe der musikalischen Gefühlsdeutlichkeit anstellen wollen und den Dichter, dessen Worte man verschwiege, veranlassen, der Komposition seines Liedes einen neuen Text unterzulegen.“1

Robert Schumanns „Dichterliebe“ markiert bereits ein fortgeschrittenes Stadium in der Tradition der Liedvertonung mit pianistischer Begleitung in der Nachfolge Beethovens und Schuberts. Vom ausgehenden 18. Jahrhundert an wurde bekanntlich das Klavier zu einem beliebten, ja dem bevorzugten kammermusikalischen Begleitinstrument. Um 1800 übernimmt die pianistische Begleitung eine mehr als nur unterstützende Funktion neben der expressiven Gesangskunst. Insbesondere ausgedehnte pianistische Vorspiele und Nachspiele, die sich bei den Komponisten und beim Publikum wachsender Beliebtheit erfreuen, verleihen dem gesungenen Text zusätzliche Bedeutungsnuancen. In Schumanns Oeuvre findet die Ausdifferenzierung der Klaviermusik gegen Ende der klassisch-romantischen Epoche ihren Höhepunkt, da sie zu einem eigenständigen Dialogpartner avanciert, zu einem quasi-souveränen Partner in der 1

Robert Schumann: Schriften über Musik und Musiker. Hg. Josef Häusler. Stuttgart 1982, S. 56. 254

MEDIALE WECHSELWIRKUNG UND KONSTRUKTION KULTURELLER IDENTITÄT

Kommunikation mit dem der menschlichen Stimme bzw. mit dem Gesang. Bemerkenswert ist, dass Schumann seine Aufgabe als Liedkomponist nicht so sehr in einer Vertonung der Gedichte im Sinne des Entwurfs einer den poetischen Text und die menschliche Stimme begleitenden musikalischen Komposition begriffen hat, sondern sich selbst als unabhängiger Künstler und kreativer Dichter verstanden wissen wollte. Weit mehr als nur Interpret des Heineschen Werks hatte Schumann selbst poetische Ambitionen, was sich in seinen punktuellen Eingriffen in den Wortlaut der Texte ebenso zeigt wie in der inneren Differenziertheit der musikalischen Kompositionen selbst. Letztere verselbständigen sich immer wieder von der durch den Text suggerierten Stimmung im Sinne einer atmosphärischen Zuspitzung und Pointierung, einer die ursprüngliche Textsemantik erweiternden Ergänzung oder gelegentlich sogar kontrastierenden Wirkungsabsicht. Sowohl die emotionale Dichte der Textvorlage als auch die für Heine typische ironische Modellierung werden in den musikalischen Ausdruck übernommen, verlängert und in der musikalischen Gestaltung selbstständig fortgeführt. Allerdings setzt Schumann durchaus andere Akzente und bringt ironische Brechungen oder Binnendifferenzierungen meist an anderen Stellen ein als Heines Texte, ohne eine exakte Eins-zu-einsRelation anzustreben. Dies mag dazu geführt haben, dass man die Ironiesignale in den Schumannschen Vertonungen in älteren Interpretationsansätzen vielfach übersehen oder unterschätzt hat. In der anglo-amerikanischen Forschung wird das Ironiepotential der Schumannschen Vertonungen im allgemeinen höher eingestuft2 und deutlicher herausgearbeitet als in den deutschsprachigen Studien. In diesem Zusammenhang ist vor al-

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Vgl. Eric Frederick Jensen: Schumann. Oxford: University Press US 2005, S. 195. Vgl. John Daverio: Robert Schumann: Herald of a “new Poetic Age”. Oxford: University Press US 1997, S. 210-211. Daverio führt das Missverständnis bzw. Vorurteil, Schumann habe die Heinesche Ironie verkannt oder absichtlich ignoriert, auf Debussys Fehlurteil zurück. Vgl. Claude Debussy: Debussy on Music, transl. and ed. Richard Langham Smith. New York: Knopf 1977, S. 250: „Schumann […] might be a great genius, but he could never capture that fine spirit of irony that Heine embodies. Look at the Dichterliebe, for example: he misses all the irony.” Auch in der französischen Diskussion um Schumanns Liedvertonungen ist deren ironische Modellierung ein vertrauter und selbstverständlicher Bestandteil: „Schumann est sensible à l’ironie grinçante du poète qui cache une trop vive sensibilité. Les sujets des lieder sont l’amour contrarié…” (Marie-France Castarède, Benoît Berthou (Hg.): L’indispensable de la culture musicale. Collection Principes. Jeunes Editions 2004, S. 72.) 255

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lem die aufschlussreiche Studie von Beate Julia Perrey zu nennen.3 Allerdings konzentriert sich Perrey vor allem darauf, Schumanns Affinität zur frühromantischen Ironiekonzeption aufzuzeigen und damit seinen Ansatz von Heines wiederum abzugrenzen.4 Es ist aber fraglich, ob Schumann lediglich die ältere frühromantische Ironievorstellung wiederbelebt, was ja bedeuten würde, dass er die Heine-Lieder gleichsam in die romantische Gesprächs- und Schreibkultur zurückprojizieren würde. Es wäre vielmehr zu erwägen, ob sich Schumann bei der Vertonung der Dichterliebe nicht auch jene punktuelle, oft schockartig und gezielt eingesetzte Ironie zu eigen macht, die den typischen Heine-Ton ausmacht. Es gelingt dem Komponisten zwar durchaus im Sinne der frühromantischen Ästhetik, eine beachtliche Erhöhung der Intensität des Ausdrucks und eine nochmalige Potenzierung der Bedeutungsvielfalt5 im intermedialen Zusammenspiel von Text und Musik zu erzeugen. Zugleich adaptiert er aber auch Heines Technik der subtilen Pointierung und aggressiven Unterwanderung der Textaussage, indem er die Klaviermusik mitunter als Gegenpol zur poetischen Semantik einsetzt. Jene Verselbständigung der pianistischen Instrumentalkunst spiegelt sich besonders pointiert im aufschlussreichen Kommentar Dietrich Fischer-Dieskaus zu Schumanns musikalischer Umsetzung des Stücks „Das ist ein Flöten und Geigen“: „Das Klavier reißt die Initiative an sich, es lässt die Singstimme nurmehr melodisch dazu deklamieren.“6 Der genannte Ausschnitt zeigt beispielhaft, wie die für Heine typische ironische Brechung des Textes mit musikalischen Mitteln angemessen umgesetzt,

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Beate Julia Perrey: Schumann’s “Dichterliebe” and Early Romantic Poetics: Fragmentation of Desire. Cambridge: University Press 2002. Zu Schumanns Umgang mit der Heineschen Ironie vgl. auch die abwägende Position von Charles Rosen: The Romantic Generation: based on the Charles Eliot Norton lectures. Harvard: University Press 1995, besonders S. 67. Vgl. Perrey: Schumann’s “Dichterliebe” and Early Romantic Poetics: Fragmentation of Desire, S. 33: „It is important to realize first of all that Romantic irony differs distinctly in function and in effect from its traditional version as a rhetorical figure of speech. Rather than occurring at a certain point over the course of speech, and often, as with Heine, at the end of a poem for the sake of reversal as well as a humorous effect, Romantic irony negates the whole idea of an end.” Ähnlich argumentiert auch Paul Peters in seinem aufschlussreichen Beitrag Musik als Interpretation: Zu Robert Schumanns ‘Dichterliebe’. HeineJahrbuch 33 (1994). S. 124-144. Dietrich Fischer-Dieskau: Robert Schumann. Das Vokalwerk. Stuttgart 1981, S. 129. Eine andere Position im Blick auf das genannte Liedbeispiel vertritt Eric Frederick Jensen: Schumann. Oxford: University Press US 2005, S. 195. Jensen konzediert zwar generell Schumanns ironische Gestaltung kann sie aber in „Das ist ein Flöten und Geigen“ nicht entdecken. 256

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gleichsam aus der Latenz hervorgelockt und sogar in den Vordergrund gerückt werden kann. Bei der kompositorischen Arbeit wird Schumanns Verhältnis zum poetischen Text zudem durch seine Auffassung vom Dichter bzw. seine Idee von der grundlegenden Affinität des Komponisten zum Dichter wesentlich geprägt. Sein Selbstverständnis als musikalischer Dichter tritt immer wieder in brieflichen Äußerungen zu tage. Ein biographischer Rückblick auf die Kindheit und Jugend des späteren Liedkomponisten bestätigt die Nähe zum Dichterberuf: Lange Zeit schwankte Schumann offensichtlich zwischen seiner musikalischen und poetischen Begabung, dem ernsthaften Ziel, den Dichterberuf zu ergreifen. Als Zehnjähriger betätigte sich Robert als Autor von Räuberkomödien, die er im Elternhaus zur Aufführung brachte. Noch während seiner Schulzeit entstanden zahlreiche weitere schriftstellerische Versuche, darunter nicht nur die üblichen Gelegenheitsdichtungen von Gymnasiasten zu besonderen feierlichen Anlässen, sondern auch ambitionierte Entwürfe, wie etwa die hundertzwanzig Verse eines Coriolan-Dramas aus der Feder des Schülers, der Entwurf zu einer großen Tragödie und zu einem ‚gotischen‘ Stück.7 E.T.A. Hoffmann und Jean Paul avancierten bald zu den Lieblingsautoren des Jugendlichen, nicht zuletzt weil sie jene Doppelexistenz und die persönliche Gespaltenheit, die Schumann selbst in sich wiedererkannte, eindringlich literarisch gestaltet hatten. Eine Rede mit dem Titel „Das Leben des Dichters“, die der Siebzehnjährige im September 1827 am Zwickauer Gymnasium hielt,8 gibt die uneingeschränkte Bewunderung zu erkennen, die der Heranwachsende für die Schriftstellerexistenz und poetische Texte empfand. Die späteren ausgedehnten Tagebuchaufzeichnungen Schumanns zeigen durchaus poetisches Talent und sind durch eine melodische Prosa und rhythmische Eleganz gekennzeichnet. Es gibt viele Stationen im Werk Schumanns, die seine Nähe zur Literatur, insbesondere zur romantischen, prägnant hervorheben: Die im Jahr 1838 entstanden Kinderszenen op. 15 zeigen beispielhaft eine solche Tendenz zum Poetischen und zur literarischen Fiktion. Ähnlich verhält es sich mit einem Stück aus dem Album für die Jugend op. 68 (1848), das mit dem Titel Mignon überschrieben ist und sich explizit an Goethes Romanfigur orientiert. Zugleich lässt es erkennen, wie Schumann das

7 8

Vgl. Paula und Walter Rehberg: Robert Schumann. Sein Leben und sein Werk. 2. Auflage. Zürich 1969, S. 26-27. In euphorischem Ton und romantischer Idealisierung heißt es: „Der schönste Schmuck eines Volkes sind seine Gesänge; wie ewige Sonnen strahlen sie über das Leben hin und strömen das geistige Rosenlicht über die Trümmer des untergegangenen Staates; des ist uns das große Hellas zeuge.“ (Ebd., S. 51.) 257

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literarische Motiv bzw. Thema in musikalischer Form adaptiert und ausgestaltet. Das Tempo des Stücks ist verhalten und zart, umkreist die Fragilität der Mignongestalt ebenso wie ihre schillernde androgyne Natur, die unsichere oszillierende Geschlechtszugehörigkeit zwischen Knabe und Mädchen. In der Komposition finden sich aufsteigende Bewegungslinien, die immer wieder neu ansetzten, sich zögernd entfalten, ohne ganz zum Durchbruch zu gelangen. Der Eindruck des schwer Fasslichen entsteht dadurch dass der Taktschwerpunkt der Komposition zunächst nicht exakt festgelegt ist und die Melodie noch nicht zu erkennen ist. Erst mit dem 13. Takt entfaltet sich eine auftaktige Melodie. Auch Schumanns Schriften über andere, ähnlich ausgerichtete Musiker wie zum Beispiel sein Beitrag über „Schuberts letzte Kompositionen“, der 1838 erschien, geben interessante Aufschlüsse über den Stellenwert des Literarischen und Fiktiven für die Kompositionen des „genialen“ Musikers. Weit davon entfernt, durch die enge Anlehnung an literarische Vorlagen als bloßer Nachahmer zu gelten, zeige sich gerade in den Liedvertonungen Schuberts die originelle Leistung des Komponisten, komme das individuelle musikalische Talent zur gelungensten Entfaltung. Im Zusammenhang seines Schubert-Essays kommt Schumann noch auf einen anderen höchst interessanten Punkt zu sprechen, wenn er über die Wirkungsweise der Imagination reflektiert: „Dabei beflügelt er des Spielers eigene Phantasie wie außer Beethoven kein anderer Komponist; das Leicht-Nachahmliche mancher seiner Eigenheiten verlockt wohl auch zur Nachahmung; tausend Gedanken will man ausführen; die er nur leichthin angedeutet; so ist es, so wird er noch lange wirken.“9 Eine der zentralen Aufgaben des Komponisten besteht für Schumann darin, die Phantasie des Interpreten anzusprechen und, man darf vermuten, auf diesem Wege auch die Phantasie des Zuhörers bzw. Rezipienten. Mehr noch: Die zitierten Zeilen verraten eine spezifische Auffassung von der Aufgabe des Komponierens und der Funktion der Partitur. Letztere gibt die musikalische Dimension nicht in Form einer eindeutigen Fixierung wieder, sondern sie deutet nur an, was die Ausführenden, die Instrumentalisten und Sänger, weiterführen und das Publikum beim Zuhören imaginativ ergänzen und ausfüllen wird. Gerade die Kunst der Suggestion, die Schumann als grundlegendes Kompositionsprinzip anspricht, gewährleistet eine produktive Rezeptionsleistung sowie eine besondere wirkungsgeschichtliche Dimension: In dem Maße, in dem die Partitur Leerstellen und offene Spielräume enthält, vermag sie als Generator einer Fülle von Interpretationen zu wirken, die in einer einzigen Epoche 9

Robert Schumann: Schriften über Musik und Musiker. Hg. Josef Häusler. Stuttgart 1982, S. 137. 258

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nicht ausgeschöpft werden können und im historischen Verlauf eine lange Dauerhaftigkeit des Werks in seiner Deutungsvielfalt als Serie von Interpretationen garantieren. Schumann formuliert hier einen Kerngedanken, der schon für die frühromantische Literaturtheorie von Friedrich Schlegel und Novalis zentral war und in der neueren Rezeptionsästhetik weitergedacht wurde. Das wirkungsästhetische Konzept der ästhetischen Unbestimmtheitsstellen erweist sich als ein kunstübergreifendes, transmediales Phänomen, das im Prozess der ästhetischen Rezeption – insbesondere von modernen Werken – eine zentrale Rolle spielt. Bei der vergleichenden Gegenüberstellung von unterschiedlichen Kunstarten ist es geeignet, eine Brückenfunktion und epistemologisch aufschlussreiche Scharnierstelle zu bilden. So lässt sich im jeweiligen Wirkungsaspekt ein gemeinsamer Nenner finden, auch wenn die jeweiligen Ausdrucksmittel, die beteiligten Medien, Strukturen und ästhetische Konventionen jeweils sehr unterschiedlich sein mögen und in ihren jeweiligen medienspezifischen und semiotischen Eigenheiten zu berücksichtigen sind. Zwar ist die Rezeptionsästhetik in vielfacher Hinsicht ein bereits klassisch gewordener literaturtheoretischer Ansatz, der mit namhaften Vertretern wie Roman Ingarden, Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser verbunden wird,10 nichtsdestoweniger hat sie in den letzten Jahren nicht an Aktualität eingebüßt. Insbesondere auf dem Gebiet der intermedialen Forschung, der Relation zwischen Texten und neuen Medien sowie der Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den Künsten verzeichnet sie eine neue Hochkonjunktur.11 Denn das wirkungsästhetische Konzept der ästhetischen Unbestimmtheitsstellen erweist sich als ein kunstübergreifendes, transmediales Phänomen, das im Prozess der ästhetischen Rezeption – insbesondere von modernen Werken – eine zentrale Rolle spielt. Inzwischen ist die Konzeption der ‚Leerstellen‘ bzw. ‚Unbestimmtheitsstellen‘ in verschiedenen Disziplinen angewandt und produktiv wei-

10 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968; Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München, 4. Auflage, 1994, S. 228-252; H.R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 4. Auflage. 1994, S. 126-162; Harald Weinrich: Für eine Literaturgeschichte des Lesers. In: ders.: Literatur für Leser. Stuttgart 1970, S. 23-34. 11 Vgl. zum Beispiel Hans Dieter Huber: Leerstelle, Unschärfe und Medium. In: Stephan Berg, René Hirner, Bernd Schulz (Hg.): Unschärferelation. Fotografie als Dimension der Malerei. Ostfildern-Ruit: Cantz Verlag 2000, S. 84-87. 259

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ter gedacht worden.12 Betrachtet man die Lektüre eines Textes oder einer Partitur als Konkretisierung von derartigen Unbestimmtheiten, so kristallisiert sich die Tätigkeit des Lesens als ein dialogischer Akt heraus, der sich zwischen den Lesern und dem Text abspielt. Im Lektürevorgang werden Spielräume für die Imagination des Rezipienten eröffnet, die eine selbständige Weiterführung und Umsetzung der wahrgenommenen Strukturen herausfordern. Die wegweisende Bedeutung von Wolfgang Isers Ansatz zeigt sich nicht zuletzt darin, dass jener innerhalb der ‚Konstanzer Schule‘ eine eigene literarische Anthropologie inspiriert hat, der es darum zu tun ist, die Idee der ‚Fiktionsbedürftigkeit‘ des Menschen und die Schlüsselrolle des kulturellen Imaginären theoretisch zu fundieren.13 Während die Rezeptionsästhetik im allgemeinen meistens die literarischen Texten eigenen Leerstellen und Spielräume für die Imagination der Leser bzw. Zuhörer untersucht und beschreibt, gewinnt jener wirkungsästhetischer Ansatz im Blick auf die Liedvertonungen Schumanns eine neue zusätzliche Dimension: Die musikalische Komposition modelliert die im Text vorgefundenen Leerstellen und Ambivalenzen, indem sie diese mit anderen, musikästhetischen Mitteln fortsetzt und ergänzt, ohne sie indes zu vereindeutigen. Im Gegenteil, sie verleiht dem poetischen Text neue Wendungen und Akzentuierungen, die für sich genommen mehrdeutig sind und der Interpretation bedürfen. Gerade wegen ihrer Suggestivität und hohen Polyvalenz erscheint es berechtigt, nicht nur im Blick auf die Gedichte selbst, sondern auch in Hinsicht auf die musikalischen Kompositionen von poetischen Texturen zu sprechen. Im Folgenden soll genauer gezeigt werden, welche künstlerischen Gestaltungsprinzipien Schumann in der „Dichterliebe“ bei der musikalischen Textadaption umsetzt und inwiefern er mit Hilfe von ästhetischen Leerstellen seinen Kompositionen die Rolle eines impliziten Zuhörers einschreibt. Wie aus seinen Schriften über die Werke anderer Musiker hervorgeht, hat sich Schumann den musikalischen Rezeptionsprozess als einen emi-

12 Vgl. die kenntnisreichen und erhellenden neueren Arbeiten: Sabine Schmidt: Theorie der sprachlichen Leerstelle und ihre Anwendung auf das Französische. Tübingen 1989; Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne. Frankfurt/M. 1994; Georg Vielmetter: Die Unbestimmtheit des Sozialen. Zur Philosophie der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M./New York 1998. Vgl. ferner die grundlegenden Beiträge: M. Richter: Wirkungsästhetik. In: H. L. Arnold, H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 516-535; Peter V. Zima: Literarische Ästhetik. Tübingen 1995. 13 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. München 1991. Vgl. ferner: Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Hg.): Theorien der Kunst. Frankfurt am Main 1999. 260

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nent kreativen Vorgang vorgestellt, insofern er – wohl aufgrund eigener Erfahrungen beim konzentrierten Zuhören – annahm, dass die Musik im Zuhörer Assoziationsketten hervorrufe, die wiederum visuelle und bildhafte Gestalt annehmen können. Diesen Sachverhalt belegen seine scharfsinnigen Äußerungen von 1835 über die Symphonie fantastique von Hector Berlioz, die den bezeichnenden Titelzusatz Episode de la vie d’un artiste trägt. Weit davon entfernt, eine nur passive Aufnahme von Eindrücken zu bilden, wird der Vorgang der Musikrezeption selbst bereits als die unbewusste Erzeugung von intermedialen Klang-BildStrukturen aufgefasst: „Unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohre das Auge, und dieses, das immer tätige Organ, hält dann mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich mit der vorrückenden Musik zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden können.“14 Die evozierten Vorstellungsbilder können hinsichtlich ihrer jeweiligen Prägnanz und Genauigkeit variieren. Produktionsästhetische und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte greifen in Schumanns musikologischen Überlegungen aufs engste ineinander. Denn das Ziel eines poetischen Kompositionsstils, der durch sinnlich-konkrete Suggestionen zu überzeugen vermag, kann nur durch eine lebhafte und zugleich präzise Imagination erreicht werden, wie sie auch vom kongenialen Zuhörer erwartet wird: „Je mehr nun der Musik verwandte Elemente die mit den Tönen Gedanken oder Gebilde in sich tragen, von je poetischerem oder plastischerem Ausdruck wird die Komposition sein.“15 Auch an anderer Stelle des Textes macht sich die Tendenz zur Visualisierung musikalischer Kompositionen bemerkbar, insbesondere da sich Schumann der Leitmetapher des Gebäudes als eines sinfonischen Raums bedient. So vergegenwärtigt er die Struktur der Sinfonie als ein komplexes architektonisches Gebilde, wenn er im Stile E.T.A. Hoffmanns einen Hinweis auf die Wirkung seiner Überlegungen auf den Leser unvermittelt in seine Schrift über Berlioz integriert: „Geläng’ es mir auch, dem Leser, welchen ich treppauf, treppab durch dieses abenteuerliche Gebäude begleiten möchte, ein Bild von seinen einzelnen Gemächern zu geben.“16 Auch in der „Dichterliebe“ wird ein solches Wechselspiel zwischen dem übergreifendem Zusammenhang, der die zyklische Gestalt und den Erzählverlauf der Liedsammlung konstituiert, und einer sorgfältigen Binnendifferenzierung der einzelnen Lieder erkennbar. Die Entstehungsmodalitäten des Zyklus Dichterliebe zeugen von einer beachtlichen kompositorischen Präzisierungsarbeit. Es handelt sich ja 14 Robert Schumann: Schriften über Musik und Musiker. Hg. Josef Häusler. Stuttgart 1982, S. 51. 15 Ebd., S. 51. 16 Ebd., S. 36. 261

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bereits um die zweite Phase der Heine-Adaption innerhalb eines Jahres, nach der ersten Serie von Heine-Vertonungen im Liederkreis Ende Mai. Zwar vertonte Schumann Ende Mai bis Anfang Juni 20 von 65 HeineGedichten in rascher Folge in einem Zeitraum von nur 9 Tagen, um dann aber vier davon für die Erstveröffentlichung auszuschließen, vermutlich wegen ihrer düsteren Grundierung. Es spricht für Schumanns präzise Kompositionsarbeit, dass innerhalb der Heinevertonungen minimale Umstellungen mitunter entscheidende Modifikationen bewirken können, wie zum Beispiel ein unvermuteter Wechsel der Tonarten oder eine plötzliche Umstellung des Tempos. In das Lied Nr. 15 „Aus alten Märchen winkt es“ hat Schumann einen interessanten Tempowechsel hineinkomponiert. Die eingangs verwendete Charakterbezeichnung „lebendig“ ist der traumhaften Märchenwelt zugeordnet, die Heine mit motivischen Anspielungen an Novalis und die Romantiker in den sechs Strophen evoziert. Das anfänglich lebhafte Tempo verlangsamt sich merklich in der vorletzten Strophe, da Schumann beim gleich bleibenden Grundschlag zu längeren Notenwerten übergeht. Dabei dient die Verlangsamung der Melodie dem Ziel, den Eindruck melancholischer Nachdenklichkeit und Desillusionierung des Sprechers bei der Rückkehr aus der traumhaften Fiktion in die alltägliche Realität zu transportieren. Heine wechselt im Text an eben dieser Stelle vom Indikativ der anfänglichen Darstellung in den Modus des Konjunktivs, so dass auch im Gedicht die plötzliche Kluft und Distanzierung zwischen der Wirklichkeit des lyrischen Ich und der visionären Traum bzw. Märchenwelt greifbar werden: Ach könnt ich dorthin kommen, und dort mein Herz erfreuen und aller Qual entnommen und frei und selig sein! Ach! Jenes Land der Wonne Das seh ich oft im Traum Doch kommt die Morgensonne Zerfließts wie eitel Schaum.

Indessen setzt mit dem Ausklingen des Gesangs wieder ein beschleunigtes Tempo ein, um in ein übermütiges Nachspiel einzumünden, das der ernüchternden Wirklichkeit noch einmal die beflügelnde, aber zugleich flüchtige und fragile Kraft des Imaginären entgegenhält, um dann entsprechend dem Wortlaut der Textaussage zu zerfließen, wie es die markierenden Basstöne zum Ausdruck bringen.

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Die Forschung hat für die Dichterliebe bekanntlich einen Handlungsbogen von der aufkeimenden Liebe über die Erfahrung des Bruchs und der Trennung bis hin zu einer Phase der melancholischen Erinnerung rekonstruiert.17 Trotz der zyklischen Struktur weist die Dichterliebe indes keine strenge strukturelle Geschlossenheit auf. Im Gegenteil: es handelt sich eher um einen offenen Entwicklungsprozess, der mit Heines Rückblick auf die romantische Literatur in Nr. 15 „Aus alten Märchen winkt es“ und der Absage an die volkstümliche Liedtradition in Nr. 16, „Die alten, die bösen Lieder“ nur locker abgerundet wird. Die Liebesthematik in der Dichterliebe wird zudem unterbrochen bzw. ergänzt durch die ästhetischen Reflexionen über Dichtung und Musik, die das hohe selbstreflexive Potential von Schumanns Kompositionen verdeutlichen. Die miteinander eng verflochtenen Motive von Traum – Phantasie – Dichtung bilden nicht zufällig thematische Aspekte, die den Zyklus in immer neuen Variationen durchziehen. Eine ähnliche ästhetische Offenheit lässt sich auch in anderen Liedern der Dichterliebe entdecken. So bemerkt Fischer-Dieskau treffend im Blick auf das Eingangsgedicht „Im wunderschönen Monat Mai“: „In der kurzen Einleitung … schwankt die Tonart zwischen Fis-moll (ohne eigentliche Erwähnung des Akkords) und A-Dur, und auch noch beim Eintritt der Singstimme wirkt jede harmonische Wendung unerwartet. Die Gesangslinie ließe sich als später erfunden denken, so selbständig vorgeformt erscheint die verträumte Klavierarabeske à la Chopin. Der ‚offene‘ Schluß lässt an das Wort ‚Aleatorik‘ denken, den Pierre Boulez in unserem Jahrhundert in Anspruch nahm … der unaufgelöste Dominantseptakkord am Schluß unseres Liedes zeigt, daß Schumann hier Vorarbeit leistete, indem er Begrenzung und Abschluß verwischte.“18 Ganz gleich, ob man sich Fischer-Dieskaus Beurteilung Schumanns als eines Vorläufers der modernen Musik anschließen mag, so wird doch ersichtlich, welche Ambivalenzen und Spannungen der Komponist in seine Vertonung einbringt und dass jenes ästhetische Spannungsverhältnis am Ende des Lieds unaufgelöst bleibt und wie eine Frageform im Raum steht. Das Lied Nr. 5, „Ich will meine Seele tauchen“ thematisiert eine unschuldig-kindliche Liebe, die in einer oberflächlich schlichten Liliensymbolik vorgestellt wird, aber zugleich die unbewusste psychologische Dimension chiffrenartig andeutet. Fischer-Dieskau hat auf einen bemerkenswerten verborgenen Deutungsgehalt aufmerksam gemacht, der in die Komposition latent hineingeschrieben ist und suggestiv eine Dimension 17 Vgl. Günther Spies: Robert Schumann [Reclams Musikführer]. Stuttgart 1997, S. 124. 18 Dietrich Fischer-Dieskau: Robert Schumann. Das Vokalwerk. Stuttgart 1981, S. 125. 263

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des Unbewussten und der Phantasie zum Ausdruck bringt: „Der Text spricht von Musik, ein nicht gesungenes Lied bildet auch den Kern des Stücks. Das Wiedererklingen in der Phantasie erscheint durch Instrumentalfigurationen realisiert. Sie wird in einzelnen Tupfenreihen angedeutet und nicht zur Klangfläche aufgefüllt…“19 Die Kunst der Suggestion und der subtilen Nuancierung, der vorsichtigen Modifizierung von Bedeutungsaspekten, kristallisiert sich als ein durchgängiges und charakteristisches Kompositionsprinzip der Dichterliebe heraus. Die Heine-Vertonungen Schumanns zeugen von einer neuen Konzeption des liedhaften Genres, dessen eigentümliche Ästhetik als reziprokes Zusammenspiel von Text und Komposition betrachtet wird, wobei beiden Medien eine weitreichende Eigenständigkeit zukommt. Nur durch die gelungene Interferenz der musikalischen Dimension und des lyrischen Texts kann eine hinreichend präzise und umfassende Bedeutungskonstitution erfolgen. Schumanns wirkungsästhetische Konzeption der musikalischen Komposition und Partitur ist allerdings nicht mit einer Beliebigkeit der Interpretationen zu verwechseln, vielmehr handelt es sich um ein gelenktes Spiel der Assoziationen und Konnotationen des Zuhörers, das Bedeutungsvielfalt erzeugt und einen weit gefächerten Deutungsspielraum eröffnet. Dafür sprechen vor allem die innere Differenziertheit der Kompositionen und das Streben nach musikalischer und ästhetischer Präzision. Zugleich stellen die Kompositionen einen erhöhten Anspruch an die Zuhörer, die sich am Zustandekommen der intendierten Wirkung selbst aktiv beteiligen müssen, indem sie den eigenen Assoziationsketten folgen und diese zu plausiblen sinnhaltigen Ordnungen zusammenfügen. In der Schumannforschung wurde immer wieder bemerkt, dass Schumanns Verdienst nicht zuletzt darin bestand, eine neuartige Sensibilität und Subtilität der musikalischen Ausdrucksformen entwickelt zu haben, die bei den Zeitgenossen nicht selten auf Ablehnung und Unverständnis stieß. Die ungewöhnliche Vieldeutigkeit und Dichte sowie die verschlungene musikalische Form konnten leicht als unverständlich und hermetisch empfunden werden. So verwundert es nicht, wenn erst moderne Musiker des 20. Jahrhunderts die Bedeutungsdichte und Kompositionsprinzipien der Schumannschen Lieder angemessen zu verstehen und zu würdigen wussten. In diesem Sinne hat Alban Berg20 die Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen und die Entdeckung der Erinnerungs19 Ebd., S. S. 127. 20 Zum Verhältnis Alban Bergs zu Robert Schumanns Werk vgl. ausführlich den Aufsatz von Albrecht Dümling: Alban Berg und Robert Schumann. Die versteckte Verwandtschaft. In: Musik und Bildung 1985/12, S. 861866. 264

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funktion in Schumanns Liedkompositionen hervorgehoben, die einer neuen Modalität des Insichgekehrtseins und einer bemerkenswerten Intimität des Ausdrucks entsprechen. Berg notierte über Schumann, er sei einer der ersten großen Komponisten gewesen, der den „Gestus des sich Erinnerns, nach rückwärts Schauens und Hörens“ entdeckt habe.21 Der kompositorische Gestus, den Alban Berg in Schumanns Oeuvre beobachtet, gibt die bemerkenswerte innere Vielschichtigkeit der Kompositionen zu erkennen und deutet an, dass die eigentliche Genese von Ausdruck und Sinnfülle sich gleichsam in den Zwischenräumen, zwischen den verschiedenen subjektiven Zeitebenen und Erfahrungshorizonten vollziehen.

2. Schönbergs George-Vertonungen op. 15 Mit seiner Vertonung von Gedichten aus Stefan Georges Buch der hängenden Gärten, op. 15, gelingt Schönberg 1908 der Durchbruch zu einem neuartigen musikalischen Ausdruckstyp, zu jener Kompositionsform, die man später mit dem etwas irreführenden Attribut ‚atonal‘ bezeichnet hat. Dabei war sich der Komponist der innovativen Qualität seiner GeorgeLieder durchaus bewusst, wie seine Selbstaussage anlässlich der Wiener Uraufführung 1910 bestätigt: „Mit den Liedern nach George ist es mir zum erstenmal gelungen, einem Ausdrucks- und Formideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt. Es zu verwirklichen, gebrach es mir bis dahin an Kraft und Sicherheit. Nun ich aber diese Bahn endgültig betreten habe, bin ich mir bewußt, alle Schranken einer vergangenen Ästhetik durchbrochen zu haben.“22 In der Forschung ist man in Anlehnung an die zitierte Selbstaussage zu der These gelangt, Schönberg habe sich in op. 15 von seinem früheren Liedschaffen, das noch ganz im Bannkreis von Brahms und Hugo Wolf gestanden habe, sowie von der Tradition des (spät)romantischen Kunstlieds emanzipiert und zu seinem eigentlichen individuellen Stil sowie zu einer neuartigen, freien atonalen Kompositionstechnik durchgerungen.23 In diesem Zusammenhang hat man sich des öfteren die Frage gestellt, 21 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kalenderblatt/523952/ 22 Zit. nach Alexander L. Ringer: Arnold Schönberg. Das Leben im Werk. Stuttgart, Weimar 2002, S. 184-85. 23 Vgl. den neueren Forschungsüberblick und aufschlussreichen Kommentar von Bryan R. Simms: The atonal music of Arnold Schoenberg, 1908-1923. Oxford University Press US 2000, S. 57. Vgl. auch die wegweisende, theoretisch fundierte Dissertation von Albrecht Dümling: Die fremden Klänge der hängenden Gärten: Die öffentliche Einsamkeit der neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George. München 1981. 265

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warum dieser entscheidende Schritt sich gerade auf der Basis der Textvorlage Stefan Georges vollzogen hat.24 Die Wahl von George und dessen 1898 publiziertem Buch der hängenden Gärten 25 als Textvorlage ist in der Tat ebenso bezeichnend wie aufschlussreich.26 Was jedoch das genaue Verhältnis Schönbergs zu Georges Dichtungen betrifft, so fehlt es in der Forschungsdiskussion nicht an Mutmaßungen und Spekulationen. Schönberg, so ein wenig plausibles Argument, habe der textuellen bzw. sprachlichen Stütze bedurft, da er mit dem Schritt zum Atonalen sonst in einen formlosen Abgrund gestürzt wäre. Die in anderer Hinsicht wegweisende Arbeit von Karl Heinrich Ehrenforth mutmaßt gar, Schönberg habe sich in dem „formstrengen“ George, bewusst einen künstlerischen Antipoden ausgesucht, um dessen starre Formen auflösen zu können: „Weil er Grenzen braucht, an denen er seine Kräfte misst, die er einstürzen, die er aufbrechen will und muss.“27 Dabei wird dem Dichter allerdings eine Traditionalität unterstellt, die aus literaturwissenschaftlicher

24 Brinkmann betont vor allem die Notwendigkeit einer sprachlich-textuellen Vorlage als solcher, von der sich die Komponisten bei ihren atonalen Versuchen anregen und leiten lassen können: „An der Grenzscheide zur Wiener Atonalität stehen vornehmlich Lieder bzw. Vokalwerke. […] Das ist offensichtlich kein Zufall. Die zentrale Bedeutung eines Textes für die Lösung der Formprobleme in der freien Atonalität ist von Schönberg und Webern immer wieder betont worden.“ (Reinhold Brinkmann: Schönberg und George. Interpretation eines Liedes. Archiv für Musikwissenschaft 26 (1969), H. 1. S. 1-28, hier S. 1.) Vgl. ferner Reinhold Brinkmann: The lyric as paradigm: poetry and the foundation of Arnold Schönberg’s new music. In: German literature and music. München, 1992. S. 95-129, hier besonders S. 105-114. 25 Es handelt sich um das dritte Buch einer Gedichtsammlung (neben dem „Buch der Hirten- und Preisgedichte“ und dem „Buch der Sagen und Sänger“), das 1895 bereits in einer semi-privaten, gehefteten Ausgabe im Freundeskreis des Dichters zirkulierte. 26 Das zeigt auch die rege Forschungsdiskussion um Schönbergs Verhältnis zu Georges Dichtungen. Die neuere Dissertation von Calvin Scott entwirft ein stark formalisiertes Modell der auditiven Intermedialität, um die genannte Relation zu erfassen. Vgl. Calvin Scott: "Ich löse mich in tönen": zur Intermedialität bei Stefan George und der zweiten Wiener Schule. Berlin: Frank & Timme 2007. Stärker poetologisch orientiert sind die impulsgebenden Arbeiten von Wolfgang Osthoff und Horst Peter Neumann. Vgl. Wolfgang Osthoff: Stefan George und »Les deux musiques«. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit. Wiesbaden 1989. Vgl. auch Peter Horst Neumann: Arnold Schönbergs Lieder nach Texten von Stefan George und Francesco Petrarca. Freiburger Universitätsblätter 14 (1975), 50. S. 45-50 und ders.: Schönberg vertont George. GeorgeJahrbuch 6 (2006). S. 150-159. 27 Karl Heinrich Ehrenforth: Ausdruck und Form. Schönbergs Durchbruch zur Atonalität in den George-Liedern op. 15. Bonn 1963, S. 47. 266

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Sicht kaum haltbar ist. Das Gegenteil scheint der Fall: Offenbar hat Schönberg in George eine ästhetische Affinität erkannt und letztere in seinen Vertonungen produktiv umgesetzt. Denn wie schon Adorno, der ebenfalls George-Verse vertonte, scharfsinnig bemerkt hat, kann George durchaus als modernetypischer Dichter und sogar als Vorläufer avantgardistischer Autoren gelten.28 Zu Georges poetischen Stileigenheiten gehören eine erhöhte Sprachreflexion und eine gesteigerte ästhetische Selbstreflexion, wie sie der Poetik des französischen l’art pour l’art entspricht, die George in Deutschland eingeführt und etabliert hat. So finden sich im Gedichtzyklus der ‚hängenden Gärten‘ immer wieder Hinweise auf semiotische Strukturen und auf den Zeichencharakter der Texte, Indizien einer immanenten ästhetischen Selbstreflexion:29 Da schien es, dass durch hohe gitterstäbe Der blick, vor dem ich ohne laß gekniet, Mich fragend suchte oder zeichen gäbe. (Nr. 4) Von allen dingen ist nur dieses not, Und weinen daß die bilder immer fliehen (Nr. 6) Liebe zeichen seien trauerflöre (Nr. 8)

Als charakteristisches Merkmal der ästhetizistisch-symbolistischen Dichtung darf die konzentrierte Aufmerksamkeit auf die Ausdrucksseite des Zeichens gelten, die u. a. zu einer Verselbständigung und Isolierung der einzelnen Worte im Sinne Stéphane Mallarmés führt. Dieser hatte in „Un coup de dés“ dafür plädiert, bei der Werkgenese die Initiative den Worten zu überlassen. George entfaltete auf dieser Grundlage ein formbewusstes Dichtungsideal und einen von Zeitgenossen als äußerst spröde empfundenen poetischen Stil eigener Art. Besonders zu erwähnen sind eine unkonventionelle, zuweilen esoterische oder altertümelnde Wortwahl sowie eine Tendenz zu ungewöhnlicher Syntax, die von der Alltagssprache deutlich abweicht, und auf die zeitgenössischen Leser irritie-

28 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 145. 29 Schönbergs George-Vertonungen op. 15 werden hier zitiert nach folgender Ausgabe: Schönberg: 15 Gedichte aus: Das Buch der hängenden Gärten; für eine Singstimme und Klavier. Notentext nach der Gesamtausgabe Band I/1 von Josef Rufer. Wien, London, New York: Universal Edition. o.J. Vgl. auch die Internet-Ausgabe des Arnold Schönberg Center: http:// www.schoenberg.at/6_archiv/music/works/op/compositions_op15_texts.htm 267

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rend gewirkt hat. Vergleiche etwa das Lied Nr. 2 der vertonten Gedichte von op.15: Vögelreihen matten scheines Auf den schiefen firsten trillern

Hinzu kommen eine gezielt von der Norm des Deutschen abweichende Zeichensetzung und Orthographie, welche vor allem durch die konsequente Kleinschreibung innerhalb eines Satzes und eine an Georges Handschrift angenäherte Drucktype bewirkt wird. Darüber hinaus kultiviert der Dichter in seiner Lyrik sowie in den poetologischen Beiträgen syntaktische und grammatikalische Eigenheiten. So verwundert es nicht, dass die Zeitgenossen die Andersartigkeit und irreduzible Fremdartigkeit des George-Stils betonten. Fritz Mauthner fasst die Irritationen und Schwierigkeiten der zeitgenössischen Leser 1899 bündig zusammen, wenn er notiert: „Kein Komma verstattet dem Leser, Atem zu holen. […] George bietet auf silberner Schale ungenießbare Früchte. […] mühelos erscheinen Georges Reime nicht immer. Zu oft müssen ungebräuchliche Worte, gequälte Satzstellungen und ab und zu selbst grammatische Freiheiten nach veraltetem Poetenrecht mithelfen.“30 Auch Rudolf Borchardt betont den Eindruck einer künstlich inszenierten Kulturschwelle, die dem Erwerb einer Fremdsprache innerhalb der Dichtungen ähnelt. Der Autor scheint „in einem Vakuum ohne jedes Erbe zu leben und seine Sprache fast zu schreiben, um sich in ihr zu üben wie in einer fremden.“31 Georges Dichtungen erschienen wie Übersetzungen aus einer fremden Sprache, deren möglicherweise romanischen Ursprung die Leser erahnen konnten: „Nur im Französischen, in der Sprache, in der sie koncipiert waren, klangen die Verse für den, der sie in Gedanken rückübersetzte, wenn nicht natürlich, so doch künstlerisch.“32 Rudolf Borchardt hat jenen fremdartigen Eindruck der Verse Georges in seinem Essay aus dem Jahr 1928 sehr prägnant beschrieben: „Die Gedichte waren an sich nicht mitteilsam und ihre gesamten Stilvoraussetzungen lagen jenseits der deutschen Sprachgrenze wie der deutschen Geschichte.“33 An die Leser der George-Texte werden entsprechend hohe Anforderungen gestellt und 30 Fritz Mauthner: „Die Allerjüngsten und ihre Artistenlyrik. Die graue Theorie“ (1899). In: Stefan George in seiner Zeit. Hg. Ralph-Rainer Wuthenow. Band I, S. 41-50, hier S. 47 und 49. 31 Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges (1928). In: Stefan George in seiner Zeit. Hg. Ralph-Rainer Wuthenow. Band I, S. 203-218, hier S. 206. 32 Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges (1928). In: Stefan George in seiner Zeit. Hg. Ralph-Rainer Wuthenow. Band I, S. 203-218, hier S. 210. 33 Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges (1928). In: Stefan George in seiner Zeit. Hg. Ralph-Rainer Wuthenow. Band I, S. 203-218, hier S. 210. 268

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besondere Erwartungen herangetragen, da die Lektüre die geläufigen Konventionen und Automatismen des Leseprozesses überschreiten muss:34 „Das Auge mußte sich langsam an Schrift und Druckgestalt gewöhnen, das Ohr zu Hilfe nehmen, darauf verzichten, den Satz auf einmal zu überblicken, und vielmehr Wort nach Wort seiner Sprödigkeit entfremden.“35 Hervorgehoben wird der Eindruck einer (ästhetischen) Differenz, die der Erfahrung kultureller Alterität gleichkommt: Mit „scheinbar deutschen Worten“ habe George „ein äußerlich festgepacktes und scharfgefaßtes […] Mosaik aus Vokabeln“, das an gewisse „Übersetzungen aus dem Orientalischen“ erinnere.36 Auch Friedrich Gundolfs Bemerkung ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: „So hat sich mit Georges Buch der Hängenden Gärten die Phantasieferne des Ostens, der Fremdzauber aus Tausendundeinernacht, … wieder wachgesungen.“37 Gundolf deutet Georges Gedichtzyklus zu Recht als poetische Auseinandersetzung mit dem Orientalischen in der Nachfolge von Goethes West-östlichem Divan.38 Die Liebesbeziehung zu Ida Koblenz wird in einen west-östlichen Dialog transformiert, der in einer mythisch-fantastischen und zeitenthobenen Gartenszenerie stattfindet. Dabei setzen die exotischen Referenzen auf Babylon und die sagenumwobene Gestalt der Königin Semiramis die Goethesche Tradition des west-östlichen Diwans fort. Die Begegnung mit der orientalischen Welt vollzieht sich auf der imaginären Ebene in der Vorstellungswelt des lyrischen Sprechers. Jedoch wird die Konfrontation mit der fremdartigen Kultur nicht nur in semantischer Hinsicht realisiert, sondern prägt auch die ästhetischen Stilvorlieben. Am Vorbild Mallarmés orientiert, entwickelt George eine andeutungsreiche Schreibweise und Kunst der Suggestion, die die Leser durch die assoziative Tätigkeit aktiv in die Werkgenese im Lektüreprozess miteinbezieht. Der französische Dichter hatte in diesem Sinne als Antwort auf eine Umfrage zur literarischen Evolution programmatisch geäußert: «Nommer un objet, c’est supprimer les trois quarts de la jouissance du poème qui est faite du bonheur de deviner peu à peu; le suggérer, voilà le

34 Vgl. Annette Simonis: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 86-90. 35 Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges (1928). In: Stefan George in seiner Zeit. Hg. Ralph-Rainer Wuthenow. Band I, S. 203-218, hier S. 210. 36 Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges (1928), S. 210. 37 Friedrich Gundolf: George. Berlin: 3. erweiterte Auflage 1930, hier S. 115124, S. 115. 38 Ebd., S. 116. 269

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rêve.»39 Ein solcher Lektürevorgang stellt wiederum hohe Erwartungen an die Leser und bewegt sich auf einem anspruchsvollen Niveau. Als Beispiel sei hier das in semantischer Hinsicht offene, etwas abrupte Ende von Lied Nr. 2 genannt, das der Ergänzung durch den Leser bzw. Zuhörer bedarf: Und die goldnen binsen säuseln, Doch mein traum verfolgt nur eines.

Erwähnenswert ist ferner, dass sich Georges Lyrik selbst bereits durch eine hohe Musikalität auszeichnet und wohl auch deswegen zahlreiche Vertonungen angeregt hat. Am Vorbild des französischen Symbolismus, besonders der Poetik Paul Verlaines, geschult, zeigt George eine deutliche Vorliebe für Lautmalerei und Assonanzen, die der Lautebene der Dichtungen eine bislang ungeahnte Eigenständigkeit verleihen und mitunter sogar zu einer Dominanz des Phonetischen gegenüber der semantischen Dimension führen können. Das Hervortreten des Melodischen in Georges Lyrik mag Schönberg zu der Bemerkung veranlasst haben, er habe Stefan Georges „bloß aus dem Klang heraus vollständig vernommen.“40 Die besonderen Eigenheiten der Lyrik Georges werden nun von Schönberg keineswegs in einem 1 zu 1 Verhältnis umgesetzt, es lassen sich aber gewissermaßen analoge poetische und musikalische Besonderheiten in den Texten bzw. Kompositionen feststellen. Während Schönberg zweifellos von den ästhetischen Anregungen Georges profitiert, führt der ‚atonale‘ Innovationsschub in Schönbergs Kompositionstechnik zu einer äußerst gelungenen und passenden Adaption von Georges Gedichten, die deren modernetypische Züge besonders prägnant hervortreten lässt. Es wäre im Folgenden zu überlegen, wie Text, Gesang und instrumentale Begleitung in op. 15 im einzelnen zusammenwirken und welche neuen (über ihre Rollen in der klassisch-romantischen Liedtradition hinausgehenden) Funktionen ihnen dabei jeweils zukommen. Thematisch sind die Georgetexte durchaus der Situation in Heines Dichterliebe vergleichbar (z. B. „Wenn ich in deine Augen schaue…“; „Allnächtlich im Traume“), denn auch hier wird eine wechselhafte, zwischen Hoffnung und Verzweiflung unsicher schwankende psychische Befindlichkeit des Liebenden gestaltet (wie in Lied Nr.7):

39 Vgl. Stéphane Mallarmé: Réponse à des enquêtes. Sur l’évolution littéraire, in: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Henri Mondor, G. JeanAubry. Paris 1945, S. 700. 40 Arnold Schönberg: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (Gesammelte Schriften I). Hg. Ivan Vojtech. Frankfurt a. M. 1976, S. 5. 270

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Angst und hoffen wechselnd mich beklemmen, Meine worte sich in seufzer dehnen, Mich bedrängt so ungestümes sehnen, Daß ich mich an rast und schlaf nicht kehre, Daß mein lager tränen schwemmen, Daß ich jede freude von mir wehre, Daß ich keines freudes trost begehre. (Nr. 7)

Als Grund für jene seelische Zerrissenheit ist jedoch nicht allein die traditionell ambivalente Liebessemantik seit Petrarca zu nennen, vielmehr artikuliert das lyrische Ich darüber hinaus explizit ein unerfülltes sexuelles Begehren, das den Aspekt des Körperlichen betont, indem es auf Nähe drängt: Wenn ich heut nicht deinen leib berühre, Wird der faden meiner seele reißen Wie zu sehr gespannte sehne. (Nr. 8)

Akzentuiert werden die bleibende Einsamkeit und Isolation der Partner, die als wiederkehrende Grunderfahrungen der Moderne gelten können. Es überwiegt der Eindruck der Unerfülltheit und unausweichlichen Vergänglichkeit der Liebe, eine desillusionierende, melancholische Stimmung, die mit dem mythisch-exotischen Lokalkolorit der hängenden Gärten der Semiramis auffallend kontrastiert. Streng ist uns das glück und spröde, Was vermocht ein kurzer kuß? Eines regentropfens guß Auf gesengter, bleicher öde, (Nr. 9)

Die dem Zyklus eigenen starken Spannungen und Diskrepanzen bieten sich einer Vertonung an, die über die Grenzen der traditionellen Harmoniebildung und Tonalität hinausweist. Das Prekäre und Zerbrechliche der Liebesbeziehung wird von Schönberg durch die Wahl einer leichten, hohen Sopranstimme angedeutet, die er ausdrücklich für die Aufführung seines Werks verlangt. Die Gedichte evozieren einen verhaltenen Ton des Insichgekehrtseins, einen Gestus der Introspektion, der auch in der Musik aufgenommen wird. Schönberg stellt sich mit seiner Vertonung von Georges Gedichtzyklus zunächst wohl bewusst in die Tradition der romantischen Liederzyklen Schuberts und Schumanns. Neuartig ist bei ihm indessen die Technik

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der freien Atonalität,41 die er selbst als „Emanzipation der Dissonanz“42 bezeichnet hat. Dass sich Schönberg außerhalb der vertrauten Dur-mollTonalität bewegt, steigert die Aufmerksamkeit der Zuhörer und unterstreicht zugleich den esoterischen Charakter und das Außergewöhnliche der dargestellten Liebesbeziehung. Innovativ wirkt auch die erstaunlich sprachbezogene Kompositionsform. Die Konzentration des Komponisten und seiner Hörer ist stärker als bisher auf die poetischen Worte selbst gerichtet. Aus der Besonderheit der Phrasierung und dem Einsatz der Singstimme resultiert eine bemerkenswerte Hervorkehrung einzelner Worte und Morpheme, die eine Intention auf das sprachliche Zeichen selbst zu erkennen gibt. In diesem Zusammenhang sind unter anderem auch die deklamatorische Art des Singens sowie die Annäherung an die Sprechstimme zu nennen. (Vgl. Lied Nr.1):43

41 Vgl. dazu ausführlich Alexander L. Ringer: Arnold Schönberg. Das Leben im Werk. Stuttgart, Weimar 2002, S. 184-195. Vgl. auch Eberhard Freitag: Schönberg. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 52. 42 In: Österreichische Musikzeitschrift 5/6 (1969), S. 286. 43 Aus: Schönberg: 15 Gedichte aus: Das Buch der hängenden Gärten; für eine Singstimme und Klavier. (Anm.28), S. 1. 272

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Beim Einsatz der Singstimme nach dem instrumentalen Vorspiel tritt das Klavier zunächst bewusst in den Hintergrund, verstummt erst ganz, um dann zaghaft wieder einzusetzen. Dadurch wird der Gesang besonders profiliert. Der Gesang wirkt rezitativisch, weitgehend an den natürlichen Sprechduktus angenähert. Traditionell, bzw. an Schumann anschließend wirkt demgegenüber der Einsatz von pianistischem Vor- und Nachspiel als Rahmen sowie der Dialog, der sich zwischen Klavier und Singstimme entfaltet. Wie intuitiv Schönberg sich den Texten Georges verbunden fühlte und sich beim Komponieren an einem einzelnen Wort orientieren konnte, bezeugt seine Bemerkung von 1912, er habe seine Lieder meist „berauscht vom Anfangsklang der ersten Textworte“ niedergeschrieben und erraten, „was diesem Anfangsklang mit Notwendigkeit folgen musste.“44 In der Tat arbeitet er mit Stilmitteln und ästhetischen Verfahren, die denjenigen Georges analog sind: Die ungewöhnlichen Akzentsetzungen, Phrasierungen, (z.B. auch Dehnungen einer Silbe über mehrere Noten, Komprimierung mehrerer Worte auf einer Note) können beispielsweise als Entsprechungen zu Georges eigenwilliger Syntax gelten, die aus den Sprechgewohnheiten und den deutschen Sprecherintuitionen teilweise heraus fällt. Ähnlich desorientierend auf den Zuhörer wirkt Schönbergs Umgang mit dem vertrauten Tonalsystem. Das lässt sich am Vorspiel zu Lied 1 beispielhaft zeigen: Schönberg beginnt mit einer Terz, die im tonalen Zusammenhang der Funktionsharmonik genusbildend ist, also entscheidend dafür, ob ein Tonstück als Dur oder moll zu verstehen ist. Es ist bezeichnend, dass er mit dieser Terz im melodischen Verlauf spielt, Mehrstimmigkeit selbst aber umgeht und damit auch eine harmonisch-schlüssige Bewegung vermeidet. Tonale Abschlüsse werden vorenthalten, und dort, wo tonale Deutungen entstehen könnten, werden sie sogleich wieder in Frage gestellt bzw. unterlaufen. Das Resultat ist eine schwebende Tonalität, die sich je nach Sichtweise als noch tonal bzw. nicht mehr tonal deuten lässt.45 George und Schönberg verfolgen eine gemeinsame wirkungsästhetische Intention, denn sie zielen beide auf eine „‚Entautomatisierung‘ der Wahrnehmung“ (– eine Formulierung, die Iser im Blick auf den angloamerikanischen Imagismus gebraucht –), eine Loslösung von den herkömmlichen Sprach- und Hörgewohnheiten, die mit einer neuen Intensität der ästhetischen Erfahrung verbunden ist.

44 Arnold Schönberg: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (Gesammelte Schriften I). Hg. Ivan Vojtech. Franfurt a. M. 1976, S. 5. 45 Vgl. Alexander L. Ringer: Arnold Schönberg. Das Leben im Werk. Stuttgart, Weimar 2002, S. 185-186. 273

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Der neue ‚pantonale‘ Stil erzeugt Leerräume außerhalb der vertrauten Tonalität, die an die Anregungsfunktion der weißen Seite bei Mallarmé und den Symbolisten erinnern. „Aber die Kunst, soll sie irgend etwas mit dem Ewigen gemein haben, hat das Vakuum nicht zu scheuen.“46 notiert Schönberg bezeichnenderweise in seiner Harmonielehre von 1911. Die Zuhörer werden sozusagen in einen Schwebezustand versetzt und angeregt, andersartige tonale Erfahrungen47 als die gewohnten zu durchlaufen und nach neuen Stimmigkeiten zu suchen. Schönberg bemerkt mit einer beinah romantischen Emphase: „Denn wir können in ihr (der modernsten Musik) vielleicht die Tonalität oder etwas ihr entsprechendes noch nicht nachweisen. Der Vergleich mit der Unendlichkeit könnte kaum näher gerückt werden als durch eine schwebende sozusagen unendliche Harmonie, durch eine die nicht Heimatschein und Reisepass beständig mit sich führt.“48 George und Schönberg rufen mit je eigenen Ausdrucksmitteln im Medium der Texte bzw. der Musik Suggestionen des Fremdartigen und Anderen hervor, die auf den Dichter und Komponisten wohl faszinierend gewirkt haben, im kulturellen Kontext um 1900 jedoch nicht integrationsfähig schienen. Intermedialität zwischen Text und musikalischer Komposition sowie der Prozess der medialen Transformation ins Musikalische werden geschickt genutzt, um jene Tendenz der Georgeschen Lyrik zur provokanten sprachlich-stilistischen Abweichung zu intensivieren und zur unmittelbaren Konfrontation mit Alterität zu steigern. Eine solche Wirkungsästhetik der Schönbergschen George-Vertonungen resultiert offenbar aus dem Umstand, dass die Technik der freien Atonalität aus den damaligen kulturellen Codierungen und Hörgewohnheiten der europäischen Gesellschaft um und nach 1900 weitgehend herausfällt.

3. Hans Werner Henze: Fünf neapolitanische Lieder Auch nahm mich das italienische Volkslied in seinen Bann, ich studierte die Folklore, besonders den aus Nordafrika und Kleinasien kommenden Gesang der Bauern und Fischer. Es läßt sich nämlich eine geschichtliche Entwicklung der südeuropäischen Musik bis in den neapolitanischen Kunstgesang, den Bel Canto hinein verfolgen. Seitdem habe ich angefangen, mich in jedem Stück mit Synthesemöglichkeiten auseinanderzusetzen, die es zwischen volkstümlichen Musiktraditionen und dem entwickelten

46 Arnold Schönberg: Harmonielehre. Wien 1911, S. 151. 47 Vgl. zu diesem Aspekt besonders Albrecht Dümling: Die fremden Klänge der hängenden Gärten: Die öffentliche Einsamkeit der neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George. München 1981. 48 Arnold Schönberg: Harmonielehre. Wien 1911, S. 151. 274

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Kompositionsstil unserer Zeit, der ja auch viele nützliche Dinge hervorgebracht hat, geben könnte.“49

Handelte es sich bei Schönbergs George-Liedern op. 15 um eine suggerierte bzw. simulierte kulturelle Alterität, so kommt es in Hans Werner Henzes neapolitanischen Liedern zu einer tatsächlichen Überlagerung von zwei Kulturtraditionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Denn darin strebt Henze nach einer kunstvollen Engführung von volkstümlicher Lyrik des 17. Jahrhunderts aus der Feder unbekannter neapolitanischer Dichter mit der Gegenwartsmusik der Nachkriegszeit. Im neapolitanischen Dialekt verfasst, heben sich die von Henze als Liedvorlagen gewählten Texte von jener ‚klassischen‘ italienischen Opernsprache markant ab, die über Italien hinaus in ganz Europa Verbreitung fand. Im Gegensatz zur Leichtigkeit und hohen kulturellen Akzeptanz der italienischen Sprache in der Operntradition tragen die neapolitanischen Lieder Züge des Rätselhaften, Unverständlichen und Dunklen sowie das Stigma des Dialekts und der subkulturellen Devianz von der Hochsprache. Welche Motivation und welche Intentionen können, so wäre zu überlegen, den Komponisten dazu bewogen haben, gerade auf ein derart unbekanntes, dem zeitgenössischen europäischen Leser oder Zuhörer weitgehend unvertrautes Textmaterial zurückzugreifen. Welche eigenen, individuellen Stilvorlieben kann Henze bei der Adaption der Liedvorlagen verwirklichen? Geht die Annäherung an das Fremdkulturelle möglicherweise so weit, dass die modernen Züge und der Henzesche Kompositionsstil zurücktreten und gewissermaßen dahinter verschwinden? Den eigenen Selbstaussagen zu Folge geht es Henze vornehmlich darum, „Synthesemöglichkeiten“ 50 zu finden, also eine Verschmelzung von Elementen der eigenen und der fremden Kulturtradition herbeizuführen. Eine derartige Mischform anzustreben kam nicht zuletzt seiner Konzeption der musica impura entgegen – ein Begriff, den Henze in Anlehnung an Pablo Nerudas Idee einer poesia impura entwickelte.51 „Meine Musik

49 Hans Werner Henze: Die Schwierigkeit, ein bundesdeutscher Komponist zu sein: Neue Musik zwischen Isolierung und Engagement (1980). In: Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955– 1984, erweiterte Neuausgabe, mit einem Vorwort herausgegeben von Jens Brockmeier, München 1984, S. 324-325. 50 Hans Werner Henze: Die Schwierigkeit, ein bundesdeutscher Komponist zu sein: Neue Musik zwischen Isolierung und Engagement (1980), S. 324325. 51 Zu diesem Konzept vgl. auch Jens Brockmeier: Eine Sprache in harter Währung. Die Idee musikalischer Sprachlichkeit bei Hans Werner Henze. In: Ulrich Tadday (Hg.): Hans Werner Henze. Musik und Sprache. München: edition text + kritik 2006. S. 5-25, hier S. 6. Vgl. auch: Hans-Jürgen 275

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ist impura,“ so Henzes pointierte Formulierung, „sie ist ‚befleckt‘: mit Schwächen, Nachteilen, Unvollkommenheiten.“52 Offenbar lässt sich eine solches Ideal der „unreinen“ Musik auf verschiedenen Wegen anstreben. Die Distanzierung von einer zu glatt erscheinenden zeitgenössischen Musikästhetik in der Nachfolge der Avantgarde vollzieht sich bei Henze zunächst im Rückgriff auf poetische Texte, in der engen Orientierung am sprachlichen Material und am Arrangement der Worte. Die Übertragung sprachlich-stilistischer Eigenheiten auf die Ausdrucksmöglichkeiten der Musik soll die erwünschten Unebenheiten und Unreinheiten produzieren, die eine technisch perfektionierte Musikkultur der Gegenwart vermissen lässt. Derartige individuelle Abweichungen und Brüche fehlen in der Gegenwartsmusik der fünfziger Jahre auch insofern, als sich die moderne Musik selbst zu einem Kanon und Gesetzeswerk stilisiert hat, wie Henze sie in den Donaueschinger Musiktagen kennengelernt hat. Die intensive Beschäftigung mit dichterischen Werken, die anhaltende Auseinandersetzung mit Texten der Weltliteratur,53 hat nicht von ungefähr Henzes Kompositionen, und zwar sowohl seine Instrumentalmusik als auch seine Liedvertonungen geprägt. An Percy B. Shelleys Ode an den Westwind erprobte der Komponist 1953, wie er in einem Interview mit Oliver Knussen näher erläuterte, erstmals die enge Orientierung eines Instrumentalwerks an einem poetischen Text. Es gelang ihm, in dem genannten Werk „für Violoncello und Orchester über das Gedicht von Percy Bysshe Shelley“ eine enge Verbindung zwischen der poetischen Form und der Musik zu verdeutlichen, obwohl er auf die menschliche Stimme bzw. den Gesang verzichtete. Vielmehr verwendete er eine Instrumentalstimme (verkörpert durch das Violoncello) als gleichsam unhörbare Worte, die vor der Folie des Orchesters Kontur gewinnen.54 Der Aufbau von Shelleys Ode, die sich aus fünf Teilen zusammensetzt, soll zudem die fünfsätzige Form jenes Cellokonzerts (I. Calmo, II. Vivo,

Schaal: Musik aus dem Geiste des Theaters. Über die Instrumentalmusik des Opernkomponisten Hans Werner Henze. 1996. http://www.hjs-jazz.de/?p=00047 52 Henze: Musica impura – Musik als Sprache. In: Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984, erweiterte Neuausgabe, mit einem Vorwort herausgegeben von Jens Brockmeier, München 1984, S. 190-199, hier S. 191. 53 Vgl. Hartmut Lück: „Literarische Bilderwelten. Zu Henzes früher vokaler Kammermusik“, in: Ulrich Tadday (Hg.): Hans Werner Henze. Musik und Sprache. München: edition text + kritik 2006, S. 27-50, hier S. 27. 54 Vgl. Hans-Jürgen Schaal: Musik aus dem Geiste des Theaters. Über die Instrumentalmusik des Opernkomponisten Hans Werner Henze. 1996. http://www.hjs-jazz.de/?p=00047 276

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III. Tranquillo, IV. Al tempo di una marcia solenne, ma non lenta, V. Grave) inspiriert und die besondere Melodieführung geprägt haben.55 Die Texte der fünf Lieder in neapolitanischem Dialekt soll Henze 1956 unter dem Titel „Lieder auf dem Tambourin“ in einer alten Bibliothek gefunden haben;56 ihre Herkunft gilt als unbekannt, da der oder die Dichter anonym geblieben sind:57 1. Aggio saputo ca la morte vene; 2. A l'acqua de li ffuntanelle; 3. Amaie 'na nenne pe' tridece mise; 4. Amaie 'nu ninno cu' sudore e stiente; 5. Arbero piccerillo, te chantaie. Ob es sich bei den genannten Gedichten wirklich um einen Fund aus der anonymen volkstümlichen Dichtungstradition Neapels handelt, der bisherigen Spezialisten entgangen ist, muss bis zu einem gewissen Grad offenbleiben. Die geheimnisvolle Quelle, über die nähere Informationen fehlen, legt es ebenso nahe, zu überlegen, ob Henze die Texte nicht selbst geschrieben hat. Von den 1997/98 komponierten und 1999 durch Ian Bostridge (Tenor) und Julius Drake (Klavier) uraufgeführten „Sechs Gesängen aus dem Arabischen“ ist bekannt,58 dass Henze sich bei fünf der genannten Lieder selbst als Textdichter betätigt hat, während er im letzten Gesang („Das Paradies“) auf Rückerts Übersetzung eines Originaltexts von Hafis zurückgriff. Offenbar zögerte Henze in den Liedern „Selim und der Wind“ „Die Gottesanbeterin“, „Ein Sonnenaufgang“, „Cäsarion“ und „Fatumas Klage“ nicht, das Fremdkulturelle und ethnisch Andere mit Hilfe der poetischen Ausdrucksmittel selbst zu konstruieren, um es dann wiederum in ein anderes künstlerisches Medium, das der Musik, zu transformieren. Ende der 1990er Jahre hat sich der Komponist zu einer solchen imaginativen Erfindung und Konstruktion von kultureller Identität freimütig bekannt. Als junger Musiker hätte er in den 1950er Jahren vor einer solchen Enthüllung wohl eher gezögert, zumal die neapolitanischen Lieder einen existenziellen Teil der eigenen Identitätssuche bildeten.

55 Vgl. ebd. 56 Vgl. den Artikel: Wenn die Musik das Wort erhellt Auf den Spuren Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes. Neue Zürcher Zeitung. 9. März 2002: http://www.nzz.ch/2002/03/09/li/article80CBV.html 57 Vgl. die Studien-Partitur: Hans Werner Henze: Fünf neapolitanische Lieder (Canzoni ’e copp’ ’o tammurro) auf anonyme Texte des 17. Jahrhunderts für Bariton und Kammerorchester (1956). ED 4579. Mainz, London, Madrid, New York: Schott o.J. 58 Vgl. zu diesem Werk auch Arnold Whittall: Henze’s haunted sensibility. Musical Times, Summer 2006. Auch online verfügbar unter: http:// findarticles.com/p/articles/mi_qa3870/is_200607/ai_n16522877/pg_2?tag=art Bo dy; col1 277

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Die „Fünf neapolitanischen Lieder“ erscheinen als Variationen auf das Thema der unglücklichen und hoffnungslosen Liebe.59 Es handelt sich (mit Ausnahme des zweiten Lieds) überwiegend um einen melancholischen Liebenden, der zugleich die Trennung von der Geliebten beklagt und die unvermeidliche Vergänglichkeit irdischer Schönheit in Erinnerung ruft. Auch andere traditionelle Versatzstücke der abendländischen Liebeslyrik finden sich ein: eine wechselhafte Liebesbeziehung, die in Verlusterfahrung mündet, ein erfolgreicher Rivale sowie die abschließende Todessehnsucht. Der folkloristische Ton bringt indes neben dem Ausdruck von Trauer, Melancholie und Verbitterung mitunter auch eine fast ausgelassene Fröhlichkeit und Heiterkeit in die Texte ein, die mit den übrigen Stimmungen merkwürdig kontrastiert. Das dritte Lied, in dem Mutter und Tochter den Liebenden zuerst in ihr Haus einladen, um ihn wenig später vor die Tür zu setzen, erinnert an die Eingangskonstellation von Schuberts Winterreise, die hier allerdings ins Komisch-Parodistische gewendet wird. Die komische Wendung wird durch die Wiederholung derselben Klangfigur in Zeile 3 ff. „La mamma me faceva 'o pizz(o)'a riso“ erzielt, die in ihrer plappernden Konsonantenverliebtheit auch aus der Opera buffa stammen könnte: Amaie 'na nenne pe' tridece mise, nun le putette dà tridece vase... La mamma me faceva 'o pizz(o)'a riso; la figlia mme diceva: "Viene! Trase!" È asciuto lu scaccione da la casa. Ich liebte ein Mädchen dreizehn Monate lang, aber ich konnte ihr keine dreizehn Küsse geben ... Die Mutter lächelte mir zu; Die Tochter sagte: „Komm herein!“ Und dann wurde ich aus dem Haus geworfen.

Ob Henze primär an der sprachlichen Gestaltung der Gedichte und dem melancholischen Sujet der enttäuschten Liebe Gefallen fand oder ob er 59 Uraufgeführt wurde der Zyklus in Frankfurt am 26. Mai 1956 durch den Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter der Leitung von Otto Matzerath. Schon am 4. Dezember desselben Jahres entsteht mit dem Sänger der Uraufführung die erste Tonaufnahme des Zyklus in Berlin; Richard Kraus leitet dabei ein Ensemble der Berliner Philharmoniker (BMG 74321-73536-2). Nicht minder ansprechend, vor allem aber in der Orchesterbehandlung weitaus ausgereifter, ist die Deutung der Lieder, die Hermann Prey am 21. Januar 1960 mit Mitgliedern des Gewandhausorchesters Leipzig unter der Leitung von NilsEric Fougstedt vorlegt (BMG 74321-73558-2). 278

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mit seiner Hinwendung zum Volkstümlichen ein bewusstes Zeichen gegen den Personenkult60 des zeitgenössischen Musikbetriebs und der Vermarktung setzen wollte, muss bis zu einem gewissen Grad offen bleiben. Demgegenüber lässt sich der Entstehungszusammenhang der Kompositionen recht genau rekonstruieren. Die Widmung der neapolitanischen Lieder an die Dichterin Ingeborg Bachmann erinnert an eine gemeinsame ‚Flucht‘ der beiden gleichgesinnten Künstler aus dem restaurativen Klima der Nachkriegszeit im Deutschland der 1950er Jahre. Henze notiert im Blick auf das Entstehungsjahr seiner Lieder, 1956, rückblickend folgende Eindrücke: „Nun wohnten also die Inge und ich während eines der kältesten Winter des Jahrhunderts in Neapel in dem grossen Kasten, worin wir eine Etage hatten, viel Platz, viel Licht. Woran wir nicht gedacht hatten, das war die Sache mit der Heizung: Es gab keine. (...) Aber im Moment war Winter, und es kamen grosse Kälte und viel Schnee. Wölfe strichen durch die Vorstädte. Ich schrieb mit klammen Fingern Fünf neapolitanische Lieder und Ingeborg die Lieder auf der Flucht.“61 Bachmanns Gedichttitel Lieder auf der Flucht fängt die Atmosphäre des freiwilligen Exils und die ernüchterte Stimmung der beiden Ausgewanderten treffend ein. Neben der Unzufriedenheit mit der politischen Situation fühlte sich der im westfälischen Gütersloh geborene Henze auch aufgrund seiner Homosexualität in Deutschland gesellschaftlich zunehmend isoliert und geächtet. Er hegte die gewagte Hoffnung, in Italien eine völlig neue kulturelle Identität annehmen und sich dort einer mittelmeerisch-arabischen Welt jenseits des eurozentrischen Denkens zugehörig fühlen zu können: „Ich wollte woanders sein, wollte ein Anderer sein! Hier, in der griechisch-arabischen Welt, in der Magna Graecia! Einer anderen ethnischen Gruppe angehören dürfen als der meinen! Eine andere Adresse führen! Unsichtbar, anonym werden dürfen.“62 Marion Fürst hat in ihrem Beitrag zum Stellenwert des Exotischen im Werk Henzes die Fluchtbewegung aus der deutschen Kultur und Gesellschaft um 1950 sehr plausibel dargelegt und kommt zu dem Ergebnis, Henze hätten seine Italienaufenthalte letztlich nicht zu einem Ausbruch aus den Grenzen der Nationalkultur, sondern zu einer Rückkehr zur eigenen Identität geführt, die in der deutschen Bildungstradition verankert sei: „Im Laufe der Zeit aber entwickelte sich ein neues Bewusstsein für 60 So die interessante These von Michael Eidenbenz in seinem Beitrag: Flucht vor der Kälte – Hans Werner Henzes ‘Fünf neapolitanische Lieder’. http://www.texthalde.ch/Henze.htm 61 http://www.texthalde.ch/Henze.htm 62 Hans Werner Henze: Musiksprache und künstlerische Erfindung. In: Hans Werner Henze (Hg.): Musik und Mythos. Frankfurt am Main 1999, S.116136, hier S. 121. 279

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die eigene Herkunft. Die Fremde bot ihm langfristig die Chance, sich mit der durch die Erinnerung belasteten deutschen Kultur, ihrer Sprache, ihrer Musik, beschäftigen zu können. Um so zu sich selbst zu finden.“63 Fürst beruft sich dabei auch auf die Selbstinterpretation des Komponisten aus einem programmatischen Text der 1970er Jahre. 64 Die Textauswahl für die Liedkompositionen scheint im Blick auf die persönliche Situation Henzes zur Zeit der gemeinsamen Schaffensperiode mit Ingeborg Bachmann nicht zufällig. Die neapolitanischen Lieder beruhen auf fünf Liebesgedichten, die eine sehnsuchtsvolle unerfüllt bleibende Liebe beschreiben. War die mit Bachmann in Italien verbrachte Zeit auch äußerst fruchtbar, so musste einer Liebesbeziehung zwischen den beiden zuletzt Henzes Homosexualität im Wege stehen. Letztere war auch der Grund, warum er sich einer Heirat mit der Dichterin trotz aller Sympathie und intellektueller Affinität letztlich entzog. Vermutlich hat Henze in den ihr gewidmeten Vertonungen auch die untergründigen erotischen und emotionalen Spannungen in der freundschaftlichen Beziehung zwischen den beiden verarbeitet.65 „Die Wohnung in Neapel“, so notiert Henze im Vorwort zum 2004 veröffentlichten Briefwechsel zwischen ihm und Ingeborg Bachmann, „kann man ansehen als einen Ver63 Marion Fürst: Das Fremde im Blick. Überlegungen zur Funktion des Exotischen im Werk Hans Werner Henzes. In: Ulrich Tadday (Hg.): Hans Werner Henze. Musik und Sprache. München: edition text + kritik 2006, S. 105-122, hier S. 108. 64 Hans Werner Henze, Ein Manifest gegen die Gewalt (1976). In: Hans Werner Henze: Schriften und Gespräche 1955-1979. Hg., mit einem Vorwort und Aufführungsverzeichnis versehen von Hans-Peter Müller, Berlin 1981, S. 253-256, hier S. 254: „Meine eigentliche kulturelle Bildung hat zweifellos in Italien stattgefunden, aber durch die räumliche Distanz habe ich auch gelernt, daß ich in den deutschen Kulturraum gehöre.“ 65 Vgl. auch den anonym publizierten Beitrag: Wenn die Musik das Wort erhellt. Auf den Spuren Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes. Neue Zürcher Zeitung vom 9. März 2002. http://www.nzz.ch/2002/03/09/li/article80CBV.html: „1956, Bachmann schrieb gerade ihre ‘Lieder auf der Flucht’, komponierte Henze die ‘Fünf Neapolitanischen Lieder’, die er der Freundin widmete. Immer wieder hat er die Phase der konzentrierten gemeinschaftlichen Arbeit in Italien als die schönste Zeit seines Lebens bezeichnet, sie zu einem nirwanahaften Zustand für zwei Menschen verklärt, zu einer Zeit, die durch eine fabelhafte Produktion geprägt war. Seine radikale Abkehr vom Musikbetrieb der Bundesrepublik hatte den Komponisten in einen Zustand der Isolation geführt, in dem Bachmann zu seinen wichtigsten Weggefährten gehörte. Indem Henze ihr ein Werk zueignet, das während ihrer Lebensgemeinschaft entstanden ist und durch seinen Titel an die Stadt Neapel erinnert, gedenkt er der Dichterin und der von ihm hoch geschätzten Lebensphase.“ 280

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such der Festmachung, als ein Surrogat für Verlöbnis oder Ehestand...“ Gerade der erwähnte Surrogatcharakter der italienischen Wohngemeinschaft mag längerfristig belastend auf die Beziehung gewirkt haben, da das Illusionäre der eheähnlichen Beziehung offenbar beiden deutlich bewusst war.66 Die Fünf neapolitanischen Lieder heben sich in ihrer Struktur von den Liederzyklen der Romantik merklich ab. Oberflächlich betrachtet wird eine zyklische Struktur der fünf neapolitanischen Lieder zwar textlich durch die Verwendung des Todesmotivs im ersten und letzten Lied suggeriert, die eine Art Rahmung bildet. Auch die Parallelität der Syntax und Wortwahl in den Anfangszeilen des dritten und des vierten Lieds, „Amaie 'na nenne pe' tridece mise“ und „Amaie 'nu ninno cu' sudore e stiente“ geben einen strukturbildenden Zusammenhang der Texte zu erkennen. Dennoch erzählen die fünf Gedichte keine in sich geschlossene Geschichte bzw. stringente chronologische Handlung, sondern vermitteln aperçuhafte Eindrücke, die in lockerer Folge das Grundthema der sehnsuchtsvollen oder desillusionierten Liebe variieren. Es ist nicht einmal sicher, ob es sich jedes Mal um denselben Sprecher bzw. dasselbe lyrische Ich handelt, das mal von heterosexueller Liebe spricht, um sich im vierten Lied möglicherweise zu (enttäuschten) homosexuellen Neigungen zu bekennen. In diesem Fall wären ein autobiographischer Charakter der Lieder und eine Referenz auf Henzes eigene Situation nicht zu verkennen. Es könnte sich aber auch um einen Wechsel der Sprecher handeln, wenn man davon ausgeht, dass in Gedicht 4 und 5 eine Frau darüber klagt, dass sie von ihrem Geliebten verlassen wurde. Die Wahl einer kammermusikalischen Orchesterbesetzung ist keineswegs Henzes Erfindung; vielmehr ist das orchesterbegleitete Lied seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der französischen und deutschen Liedtradition verbreitet, zum Beispiel in Hector Berlioz’ Orchesterliederzyklus Les Nuits d’été (1840/1841), Gustav Mahlers Kindertotenlieder (19001904) und Alban Bergs Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg, die 1913 in Wien uraufgeführt wurden. Die kammermusikalische Orchesterbegleitung kommt Henze jedoch sehr entgegen, denn sie betont die innere Vielstimmigkeit und Heterogenität der Instrumentierung. Auffallend an der instrumentalen Orchesterbegleitung ist zudem das Fehlen der hohen Streicher bzw. Violinen. Stattdessen dominieren die dunklen Klangfarben der tiefen Streicher und der Bläser (Bassklarinette, Englischhorn, Kontrafagott und Posaune), die den Kompositionen eine düstere Klangfarbe und eine melancholischen 66 Hans Werner Henze. Ein Vorwort. In: Briefe einer Freundschaft Ingeborg Bachmann - Hans Werner Henze. Herausgegeben von Hans Höller. Mit einem Vorwort von Hans Werner Henze. München 2004. 281

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Charakter verleihen. Der überwiegend dunkle Klangcharakter hat wiederum den Vorteil, dass sich die Baritonstimme vor dieser Folie klar abheben kann. Die Soloflöte erscheint im ersten Lied als eindringliche helle Klangfigur mit heiterem Charakter, die auf der semantischen Textebene dem Schönheitsmotiv und der Geliebten korrespondiert. Die Lieder weisen in der melodischen Diktion deutliche Anklänge an die frühe Oper Monteverdis und dessen Monodie auf; darüber hinaus lässt sich im zweiten Lied „A l’acqua de li ffuntanelle“ mit seinem ausgeprägtem Parlando-Charakter auch ein Bezug zum ‚Bel Canto‘ der späteren italienischen Oper erkennen. Das erste Lied „Aggio saputo ca la morte vene“ beginnt mit einem längeren Teil der unbegleiteten Singstimme, die ein prägnantes Hervortreten der Melodik bewirkt, ähnlich wie in der alten Musik, der Gregorianik und der arabischen Musik. Jener Rückgriff des Komponisten auf ältere Musiktraditionen, etwa die Monteverdische Monodie, und auf die außereuropäische Musikkultur ist bezeichnend, da er den Vertonungen eine dem zeitgenössischen Zuhörer unvertraute kulturelle Ausdrucksform zumutet und somit den Eindruck der Fremdartigkeit integriert. Letzterer wiederum unterbricht den automatisierten Rezeptionsprozess und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Neuartige und Ungewohnte. Indem Henze die Singstimme gleich eingangs derart profiliert, konzentriert er sich zudem auf das Melos und die Modellierung der Ornamentik, die für ihn eine entscheidende Rolle bei der Komposition der Lieder spielen. Im Vordergrund steht die menschliche Stimme, losgelöst von dem (konventionalisierten) gesellschaftlichen Kontext des Ensembles als gleichsam unmittelbarer Ausdrucksträger. Gleich zu Anfang der neapolitanischen Liedersammlung signalisiert Henze damit eine Abkehr vom vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen, vom seriellen Korsett und der provinziellen Enge seiner westfälischen Herkunft. Die folgenden neapolitanischen Lieder weisen hingegen kunstvolle, teilweise recht ausgedehnte instrumentale Vor- und Nachspiele auf. So verfügt beispielsweise das fünfte Lied „Arbero piccerillo, te chantaie“ sowohl über ein ausgeprägtes Vorspiel als auch ein ausgedehntes Nachspiel. Das vierte Lied „Amaie 'nu ninno cu' sudore e stiente“ weist das bei weitem längste Vorspiel von 38 Takten auf, das sich genauer zu betrachten lohnt. Jene instrumentale Einleitung übernimmt bei Henze zunächst eine ähnliche Funktion wie in der Romantik, insofern sie der Einführung in eine Stimmung dient. Im vierten Lied wie im ganzen Zyklus werden bevorzugt kleingliedrige Motive verwendet, die sich innerhalb des Orchestergeflechts durchziehen, Rede und Gegenrede darstellen, aber auch Zitatcharakter gewinnen (so in den Anklängen, die das vierte Lied bei Takt 10 an das voran-

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gegangene dritte erkennen lässt). Zu Anfang von Lied 4 sind zunächst Schichtungen von Nachbartönen zu beobachten (es – d – cis – f), bevor die Harfe eine Wellenbewegung einleitet, an die sich Oboe und Klarinette anschließen. Immer wieder kommt es zu Reibungen von benachbarten Tönen c-cis, d-dis, h-b, etc. Daraus resultiert eine eigentümliche Suchbewegung, die graduell zum Raumentwurf und zur melodischen Gestaltung beiträgt. Enharmormischen Verwechslungen vergleichbar werden Nachbartöne unmittelbar nebeneinander gestellt, wodurch eine vorläufige Offenheit evoziert wird und auf Seiten der Zuhörer eine gespannte Erwartungshaltung und Aufmerksamkeit provoziert werden. Durch die fehlende tonale Festlegung im Tongeflecht wird der Schwebeklang aufrecht erhalten und hinausgezögert, um dann in eine atonale Schreibweise umzuschlagen. Henze nimmt die Freiheit des Atonalen, um die Komposition zu realisieren. Diese Offenheit wird auch in rhythmischer Hinsicht angestrebt, wenn in Takt 24 und 25 des Vorspiels im 4. Lied eine Zwei- und Dreiteilung nebeneinander stehen. Mit dem Einsatz der Singstimme im 39. Takt werden Erinnerungen an mittelalterliche Lieder und gregorianische Melodiefloskeln ausgelöst. Während der Hörer zu Beginn noch einen tonalen Bezug auf den Grundton Fis vernimmt, weitet Henze in den beiden Folgetakten die Melodie in eine freie Atonalität aus. Durch die Ausweitung und die Durchbrechung der tonalen Illusion werden das Verlassen der ursprünglichen Bindung an den Geliebten und der im Text angesprochene Wahnsinn zum Ausdruck gebracht. In einer beinahe barocken Manier findet diese Deutung bei Takt 50 ihre Entsprechung in Henzes Anspielung auf den passus duriusculus, jenen chromatisch abwärts geführten Leidensbass, wie er etwa aus Purcells Schlussgesang in Dido und Aeneas vertraut ist. Bei Henze sind es die abwärts geführten Töne b, as, ges und f, die auf erster und vierter Zählzeit der Takte 50 bis 53 zum „dulore“ des Sängers und seinem schmerzhaften Verlust des Geliebten in eine ebenso markante wie verschlossene Beziehung gebracht werden: eine gebrochene Anleihe Henzes bei der Tradition. Das instrumentale Nachspiel des vierten Liedes nimmt den Klageruf des Sängers aus der Schlusszeile auf und setzt ihn fort. Die gedehnte Klage der Instrumente – losgelöst vom Text und darin Vertreter des Unsagbaren – unterstreicht dabei die Endgültigkeit der Verlassenheit und Einsamkeit. Henzes eigene individuelle Signatur, die auf den ersten Blick in den Liedkompositionen nicht leicht zu identifizieren ist, besteht gerade in der gelungenen Mischform und dem uneinheitlichen, synkretistischen Cha-

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rakter der Klanggebilde, deren Elemente aus unterschiedlichen Kulturen und Epochen entlehnt scheinen, aber trotz aller Heterogenität als intensiver Gefühlsausdruck und musikalische Einheiten sui generis wahrgenommen werden. Die inhomogenen, zusammengesetzten Elemente aus diversen Stilrichtungen und Epochenströmungen der ‚hohen Musik‘ bzw. des europäischen Liederkanons und der folkloristischen Überlieferung lösen jene Konzeption der musica impura ein, die Henze als Zielvorstellung des eigenen Komponierens vorschwebte. Die neapolitanischen Lieder markieren zudem eine Schlüsselphase in Henzes künstlerischer Entwicklung. Denn in jener Schaffensperiode erprobte er erstmals die Konstruktion einer neuen kulturellen Identität. Neapel bzw. Italien figurierte für ihn nicht so sehr als integraler Bestandteil der europäischen Kultur und Mentalität, sondern als ein symbolischer Raum des Außerhalb, ein imaginärer Erinnerungsort an diejenige östlichmediterrane Welt, die Henze selbst als griechisch-arabisch zu bezeichnen pflegte. Einen vergleichbaren fiktiven Entwurf in der Gattung des Kunstlieds unternahm Henze erst wieder in den 1990er Jahren, mehr als 40 Jahre nach der Uraufführung der „Fünf neapolitanischen Lieder“, mit den „Sechs Gesängen aus dem Arabischen“. Dass der zentrale Stellenwert der frühen ‚neapolitanischen‘ Liedkompositionen in der Forschung lange Zeit verkannt wurde und das Werk in Einspielungen und Aufführungen eher ein Schattendasein führt, hat sicher unterschiedliche Gründe. Die Kürze des Werks mit einer Dauer von nur 15 Minuten und die vergleichsweise aufwendige Orchesterbesetzung implizieren einen höheren organisatorischen und finanziellen Aufwand, als bei der Aufführung oder Aufnahme von Liedern mit Klavierbegleitung wie den Sechs Gesängen aus dem Arabischen nötig ist. Zudem hat Henze den Aspekt ethnischkultureller Andersheit in den neapolitanischen Liedern im volkstümlichen Kolorit der Stücke versteckt und weniger eindeutig profiliert als in späteren Werken, zu denen auch die 2003 in Salzburg uraufgeführte, märchenhafte Oper L’ Upupa und der Triumph der Sohnesliebe zählt – mit ihrem suggestiven Untertitel „Lustspiel in elf Tableaux aus dem Arabischen.“

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„NOW THE SUBLIME IS LIKE THIS.“ SYNCHRONIE UND EINFLÜSSE ZWISCHEN DER AMERIKANISCHEN, FRANZÖSISCHEN UND DEUTSCHEN THEORIEBILDUNG BEI DER WIEDERBELEBUNG DES ERHABENEN HERBERT GRABES

1. Die Erneuerung der Ästhetik des Erhabenen in der amerikanischen Postmoderne Einen ersten Ansatz gab es bereits in der späten Moderne. Als der zu den American Abstract Expressionists gehörende Maler Barnett Newman 1948 eine Art Manifest veröffentlichte unter dem Titel „The Sublime Is Now“, ging es um so etwas wie eine künstlerische Declaration of Independence, um den patriotischen Anspruch, dass nun endlich einige amerikanische Künstler dabei seien, sich völlig von der europäischen Tradition zu lösen und eigene erhabene Werke zu schaffen – etwas zu erreichen, was der europäischen Moderne nicht möglich war: „modern art, caught without a sublime content, was incapable of creating a new sublime image“1. Und getreu dem amerikanischen Grundsatz „Make it new!“, dem Verlangen nach stetigen Neuanfängen, sollte diese erhabene Kunst kein historisches Wissen voraussetzen und für jeden zugänglich, wahrhaft demokratisch sein:

We are reasserting man’s natural desire for the exalted, for a concern with our relationship to the absolute emotions. We do not need the obsolete props of an outmoded and antiquated legend. We are creating images whose reality is self-evident and which are devoid of the props and crutches that evoke associations with outmoded images, both sublime and beautiful. We are freeing ourselves of the impediments of memory, association,

1

Barnett Newman: The Sublime Is Now. In: „The Ides of Art, Six Opinions on What is Sublime in Art?“, Tiger’s Eye (New York), No. 6 (15 December 1948), S. 52-53, zitiert nach Herschel B. Chipp, Hg.: Theories of Modern Art: A Source Book by Artists and Critics. Berkeley: University of California Press 1968. S. 552-553; S. 553. 285

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nostalgia, legend, myth, or what have you, that have been the devices of Western European painting. Instead of making cathedrals out of Christ, man, or “life,” we are making it out of ourselves, out of our own feelings. The image we produce is the self-evident one of revelation, real and concrete, that can be understood by anyone who will look at it without the nostalgic glasses of history.2

Was Newman offensichtlich nicht wusste war, dass schon die englischen Kritiker des 18. Jahrhunderts bei ihrer Rezeption und Umgestaltung des pseudo-longinischen Erhabenen mindestens ebenso sehr an „absolute emotions“ interessiert waren und daran, das Erhabene „out of ourselves“ entstehen zu lassen. Wer das bezweifeln sollte, braucht nur Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful aus dem Jahre 1757 zu lesen. Newmans theoretischer Anspruch auf eine amerikanische Erneuerung des Erhabenen wurde zur damaligen Zeit auch nicht weiter aufgegriffen, obwohl man ihm zugestehen muss, dass seine eigenen übergroßen Farbflächenbilder aus den 1950er Jahren ebenso wie die von Ad Reinhardt und Marc Rothko zu den wenigen Werken des 20. Jahrhunderts gehören, denen man eine erhabene Wirkung nicht absprechen kann – eine Wirkung, die insbesondere dann zu spüren ist, wenn man nach Anweisung Newmans so nahe an die Bilder herantritt, dass man ihre äußere Begrenzung nicht mehr sehen kann und sie sich gleichsam ins Unendliche zu erstrecken scheinen. Doch in der derzeitigen Kritik der zeitgenössischen Literatur und Kunst war vom Erhabenen nicht die Rede, und noch 1970 konnte Réne Wellek schreiben: „There is, I suppose, least to be said in favor of Kant’s concept of the sublime. Most aestheticians have given up the concept and have rejected its implied division of the realm of art.”3 Besonders prophetisch war er mit dieser Ansicht allerdings nicht, denn schon drei Jahre später, mit der Veröffentlichung von Harold Blooms einflussreichem Werk The Anxiety of Influence4, änderte sich die Situation, und die Erneuerung der Ästhetik des Erhabenen, einschließlich des Ideenaustauschs über den Atlantik, begann. Die freudianische Konzeption seiner Dichtungstheorie ermöglichte es Bloom, im Kapitel über „Daemonization or the Counter-Sublime“ das Erhabene des starken Dichters oder Autors, 2 3 4

“The Sublime Is Now”, S. 553. Discriminations: Further Concepts of Criticism. New Haven und London: Yale University Press 1970, S. 140. The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York: Oxford University Press 1973. 286

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„the strong poet’s Sublime“, Burkes Erhabenem des Rezipienten, dem „reader’s Sublime“, als ein „Counter-Sublime“ entgegenzusetzen, das das bereits bekannte Erhabene unterdrückt: „Daemonization or the Counter-Sublime is a war between Pride and Pride, and momentarily the power of newness wins.“5 Allerdings bleibt dabei eine Kontinuität erhalten, denn dem Erschrecken des Lesers in der Erfahrung des Erhabenen entspricht die „anxiety“, die Angst auf Seiten des starken Dichters in dessen Kreation des „Gegen-Erhabenen“ durchaus: „The reader’s terror of and in the Sublime is matched by every post-Enlightenment strong poet’s anxiety of and in the Counter-Sublime“ – was im gegenwärtigen Kontext besonders wichtig erscheint, denn nach Bloom ist „the American Sublime [...] always a Counter-Sublime.“6 Es ist bezeichnend, dass nicht nur Newmans, sondern auch Blooms Wiederbelebung des Erhabenen motiviert ist durch die Intention, ein besonderes „American Sublime“ im Gegensatz zur europäischen Tradition zu reklamieren und definieren. Dieses „American Sublime“ wurde denn auch im Kapitel über Emerson und Whitman von Blooms drei Jahre danach erschienenem Werk Poetry and Repression: Revisionism from Blake to Stevens ausführlich erörtert. Und es erscheint in der Tat amerikanisch, wenn nach Bloom die Anfänge dieser besonderen Art des Erhabenen bei Emerson mit einer bedrohlichen Wirtschaftskrise in Zusammenhang gebracht werden: „The origins of the American Sublime are connected inextricably to the business collapse of 1837“, heißt es, und „The Yankee virtues, as internalized by Emerson himself, no longer triumph over the Transcendental vision, which indeed now turns transumptive, projecting all the past as a lame, blind, deaf march, and introjecting a Sublime future, mounted over fate, the finite, the cosmos.”7 Bloom vergisst dabei nicht, Emersons berühmte Definition des Erhabenen zu zitieren:

That is always best which gives me to myself. The sublime is excited in me by the great stoical doctrine, Obey thyself. That which shows God out of me, makes me a wart and a wen.8

Die Konsequenz ist eine radikale Diskontinuität zwischen Ich und Welt, nach Emerson: „for every seeing soul there are two absorbing facts,- I

5 6 7 8

Ebd., S. 101. Ebd., S. 103. New Haven und London: Yale University Press 1976, S. 236-237. Ebd., S. 246. Zitiert wird aus Emersons Divinity School Adress. 287

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and the Abyss,” 9 “Ich und der Abgrund”. Und weil für Bloom der “Abyss”, dieser Abgrund, aus “tradition, history, the other” besteht und das „I“, das Ich verallgemeinert werden kann als „any American“, folgert er: „We are left with a simple, chilling formula: the American Sublime equals I and the Abyss.”10 Doch es gibt noch eine Steigerung, denn das Erhabene des vielleicht amerikanischsten aller amerikanischen Dichter, Walt Whitmans, erscheint noch größer und stärker als das Erhabene seines Vorläufers Emerson: „Emerson says: ‚I and the Abys‘; Whitman says: ‚The Abyss of My Self‘. The second statement is necessarily more Sublime and, alas, even more American.”11 Für Bloom ist dieser “Abgrund meines Selbst” selbst noch erhabener als das Erhabene in Wallace Stevens’ berühmtem Gedicht „The American Sublime“. Entscheiden Sie selbst: But how does one feel? One grows used to the weather, The Landscape and that; And the sublime comes down To the spirit itself. The spirit and space, The empty spirit In vacant space. What wine does one drink? What bread does one eat?12

Im selben Jahr wie Blooms Poetry and Repression, 1976, erschien mit Thomas Weiskels The Romantic Sublime: Studies in the Structure and Psychology of Transcendence13 eine weitere psychologische Neukonzeption des Erhabenen, die viel breiter angelegt war und sehr großen Einfluss auf die nachfolgende Diskussion ausüben sollte. Ausgehend von der Auffassung, dass das „Romantic sublime“ als Ideologie inzwischen so gut wie tot sei, präsentiert Weiskel einen „‚realist‘ or psychological account“ des kantischen Erhabenen14, zentriert auf „a moment – call it the sublime or original moment – in which a burden (of the past, but not 9 10 11 12

Ebd., S. 255. Ebd., S. 255. Ebd., S. 266. The Collected Poems of Wallace Stevens. New York: Knopf, 1967, S. 130131. 13 Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1976. 14 Ebd., S. 23. 288

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exclusively) is lifted and there is an influx of power”15. Weiskel entwickelt seine Konzeption des Erhabenen am Modell des Lesevorgangs, und die Erfahrung des „sublime moment“ besteht dabei aus drei Phasen. In der ersten Phase kann man ohne Problem eine ganz bestimmte Verbindung zwischen den wahrgenommenen Zeichen und einer Bedeutung im Bewusstsein herstellen. In der zweiten Phase bricht dieses problemlose Verbinden auf zweierlei Weise zusammen: Entweder, so heißt es, „The signifiers [...] overwhelm the possibility of meaning in a massive underdetermination“ oder „meaning is overwhelmed by an overdetermination which in its extreme threatens the state of absolute metaphor“.16 In der dritten Phase sucht das Bewusstsein des Lesers durch spezifische Reaktionen auf diese zwei Möglichkeiten seine Balance wiederzufinden: “In the first case [...] the syntagmatic flow must be halted [...]. This can only be done through the insertion of a substituted term into the chain, i.e., through metaphor.”17 Weiskel spricht diesbezüglich von einem metaphorischen oder „reader’s sublime“. Im zweiten Fall entsteht ein Erhabenes, das er ‚metonymisch‘ nennt: “Overwhelmed by meaning, the mind recovers by displacing its excess of signified into a dimension of contiguity which may be spatial or temporal. [...] The metonymical mode suggests the poet’s as opposed to the reader’s sublime.”18 Für Weiskel stellt das Erhabene eine Art von ‚homöopathischer Therapie‘ dar gegen „the most basic of modern anxieties, the anxiety of nothingness, or absence“19, denn “the last defense against fear is a strong superego, which the sublime both requires and nourishes”.20 Der interessanteste Augenblick innerhalb von Weiskels psychologischer Lesart des Erhabenen ist ganz offensichtlich die zweite Phase des “sublime moment”, und sie war es denn auch, die Neil Hertz anschließend in seinem einflussreichen Aufsatz “The Notion of Blockage in the Literature of the Sublime”21 näher untersuchte. Zwar gilt sein Hauptinteresse der Erfahrung dieser plötzlichen Blockade in Wordsworths romantischem Epos The Prelude, aber Hertz beginnt in seiner eigenen Zeit. Er verweist auf „the scholar’s fear that we shall all be overwhelmed by the

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Ebd., S. 11. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd. , S. 30. Ebd., S. 18. Ebd., S. 94. In: Geoffrey H. Hartman (Hg.): Psychoanalysis and the Question of the Text. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1978, S. 62-85. 289

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rising tide of academic publication”22, die Furcht vor einer bereits von Schopenhauer formulierten Situation, in der „Reading no longer anticipates thinking, but entirely takes its place.”23 Es ist eine Furcht, die sich nicht mehr beseitigen lässt, weil der ‚denkende Mensch‘ ohne den ‚lesenden Menschen‘ ebenso unmöglich geworden ist, und wir es mit einem „scenario characteristic of the sublime“ zu tun haben, einer Situation, in der “an attempt to come to terms with plurality in the interest of an “integration of awareness” has generated a curious spare tableau: the mind blocked in confrontation with an unsettling and indeterminate play between two elements (here called “man thinking” and “man reading”) that themselves resist integration.”24 Anschließend verfolgt Hertz die Diskussion des Moments der plötzlichen Blockade innerhalb der Erfahrung des Erhabenen von Addison bis Weiskel, wobei erwartungsgemäß Kants Analyse eine herausgehobene Position einnimmt. Überhaupt ist ein extensiver Rückgriff auf Kants Kritik der Urteilskraft ein Kennzeichen der Wiederbelebung des Erhabenen – und zwar nicht nur in Amerika. Dies zeichnete sich bereits ab, als 1977 Ted Cohen und Paul Guyer einen Band von Essays in Kant’s Aesthetics25 herausgaben, spätestens aber mit dem Erscheinen von Paul de Mans Aufsatz „Phenomenality and Materiality in Kant“ (1984). Diesem Aufsatz wurde ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit zuteil, weil de Man im Zusammenhang des damals dominierenden Dekonstruktivismus zu zeigen versuchte, dass Kants Kritik der Urteilskraft einen zentralen, in den Schlussbemerkungen zur Analytik des Erhabenen deutlich zutage tretenden Bruch enthält, der auf der unhinterfragten sprachlichen Struktur der gesamten Konzeption basiert: „It depends on a linguistic structure (language as a performative as well as a cognitive system) that is not accessible to the powers of transcendental philosophy.“26 Es ist nicht hier der Ort zu untersuchen, ob und inwieweit diese Überlegung tragfähig ist, denn der dekonstruktivistische Panlinguismus erscheint schließlich mindestens so problematisch, weil Derridas Basiskonzept der 22 Ebd., S. 63. 23 Ebd., S. 65. Hertz zitiert das Schopenhauer-Zitat aus Thomas McFarlands Besprechung „Recent Studies in the Nineteenth Century“, SEL 16 (1976), 693-94, womit die ständige Transformation von Gelesenem in Geschriebenes und wiederum von Gelesenem in Geschriebenes usw. direkt vorgeführt wird. 24 Ebd., S. 66. 25 Chicago: University of Chicago Press, S. 177. 26 Phenomenality and Materiality in Kant. In: Hermeneutics: Questions and Prospects. Amherst: University of Massachusetts Press, 1984, S. 121-44; S. 132. 290

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différance ebenfalls als ein unhinterfragbares quasi-transzendentales Prinzip fungiert. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass de Man die kantische Konzeption des Erhabenen in die damals in den USA vorherrschende dekonstruktivistische Diskussion einbrachte. Deshalb wurde sein Beitrag auch in dem vom Dekonstruktivismus dominierten Theorieband The Textual Sublime von 1990 nachgedruckt, wobei gesagt werden muss, dass Rodolphe Gasché in seiner ebenfalls in diesem Band enthaltenen Erwiderung27 zu zeigen vermag, dass die von de Man angeführten Brüche und Inkonsistenzen im kantischen Text allein das Ergebnis von dessen dekonstruktivistischer Lesart sind und sich auf der Ebene des üblichen philosophischen Diskurses leicht argumentativ auflösen lassen. Kants Konzeption des Erhabenen spielt auch eine bedeutende Rolle in Gary Shapiros Beitrag „From the Sublime to the Political: Some Historical Notes“, der 1985 im Winterheft der Zeitschrift English Literary History (ELH) erschien28, das ganz dem Erhabenen und Schönen gewidmet war. Dieser Aufsatz ebenso wie derjenige von Donald Pease über „Sublime Politics“ in der ein Jahr darauf von Mary Ahrensberg herausgegebenen Anthologie The American Sublime29 zeigt im Übrigen, dass zu jener Zeit auch die politischen Implikationen des Erhabenen diskutiert wurden. Was das genannte Heft von ELH angeht, so ist bezeichnend, dass in seinem Titel „The Sublime and the Beautiful: Reconsiderations“ das Erhabene vorangestellt wird, und es ist in der Tat so, das 11 der 12 Beiträge fast ausschließlich ihm gewidmet sind und nicht dem Schönen. Gemäß der historischen Grundrichtung dieser Zeitschrift verwundert es aber nicht, dass – obwohl die Frage nach der gegenwärtigen Funktion des Erhabenen immer wieder auftaucht – der Blick auf die Vergangenheit stark überwiegt. Da geht es um einschlägige Gemälde der Europäer Turner, Vernet und Monet sowie der amerikanischen Landschaftsmaler Church und Cole, um Longinus, das Erhabene im Schauerroman und die Begriffsgeschichte des Erhabenen seit der Romantik. Aber es wird auch versucht, das Erhabene zur Stärkung der Position zeitgenössischer marxistischer Literaturkritik gegenüber der poststrukturalistischen Lesetheorie in Dienst zu nehmen, ein „Performative Sublime“ zu konzipieren (Charles Altieri)30 oder ein spezielles „Human Sublime“ (Ronald Paul27 On Mere Sight: A Response to Paul de Man. In: Hugh J. Silverman and Gary E. Aylesworth (Hg.): The Textual Sublime. Deconstruction and Its Differences. Albany: State University of New York Press 1990, S.109-115. 28 ELH 16:2 (Winter 1985), S. 213-236. 29 Albany: State University of New York Press, 1986. 30 Plato’s Performative Sublime and the End of Reading. ELH 16:2, S. 25173. 291

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son)31. Gerade dieser breite Fächer von Themen zeigt, dass das ‚Erhabene‘ Mitte der achtziger Jahre in den USA zu einem zentralen Signifikanten avanciert war, der eine Vielzahl von Bedeutungen zu generieren vermochte. Wenn man gebeten würde, diese Ansicht noch stärker zu belegen, könnte man leicht auf den bereits genannten Theorieband The Textual Sublime: Deconstruction and Its Differences (1990) verweisen. Obwohl das Wort „sublime“ außer im Titel und den beiden ebenfalls schon genannten Aufsätzen von de Man und Gasché in keinem der Beiträge vorkommt, sucht Hugh E. Silverman in der Einleitung die Titelformulierung zu rechtfertigen, indem er nicht nur eine weit offene Definition des „Textual Sublime“ als „the articulation of deconstruction supplementing itself with both philosophy and criticism“32 präsentiert, sondern auch noch das Kunststück fertigbringt, die in den übrigen Beiträgen behandelten äußerst heterogenen Aspekte und Themen durch Umformulierung als Manifestationen ein und desselben Chamäleons erscheinen zu lassen. Wie zentral die Rolle des Erhabenen zu jener Zeit insbesondere als „American Sublime“ war, zeigen Arbeiten über die überwältigenden amerikanischen Naturansichten wie Raym ond J. O’Briens The American Sublime: Landscape and Scenery of the Lower Hudson Valley (1981)33 und Elizabeth Mc Kinseys Niagara Falls: Icon of the American Sublime (1985)34. In diesen Bereich gehören auch die Aufsätze über die amerikanischen Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts Church und Cole sowie Judith Balfes neue Sicht Barnett Newmans und der American Abstract Expressionists35 in dem bereits genannten ELH-Heft von 1985. Wichtig und in seiner Thematisierung neuartig ist auch das sogenannte „technological sublime“, wie es in David E. Nyes Electrifying America (1990)36 und seinem The American Technological Sublime (1994)37 sowie in Joseph Tabbis Postmodern Sublime. Technology and American Writing from Mailer to Cyberpunk38 zur Darstellung gelangte - vor allem auch in der angsteinflößenden Variante des „nuclear sublime“, die zunächst angemessene Aufmerksamkeit erhielt in dem gleichnamigen DiacriticsAufsatz von Francis Ferguson von 198439 und dann in Rob Wilsons be31 32 33 34 35 36 37 38 39

Versions of a Human Sublime. ELH 16:2, S. 427-37. The Textual Sublime, S. xi. New York. Columbia University Press. Cambridge und New York: Cambridge University Press. Sociology and the Sublime. ELH 16:2 (1985), 237-49. Cambridge, MA: The MIT Press. Cambridge, MA: The MIT Press. Ithaca, NY, und London: Cornell University Press. The Nuclear Sublime, Diacritics 14 (1984), S. 4-10. 292

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eindruckender Monographie American Sublime40 von 1990. Im Bereich der Ideen entspricht dem im Diskurs jener Jahre vielleicht die von Fredric Jamesons formulierte unheimliche Version eines künstlichen Unendlichen , eines „artificial infinite“ in Gestalt der „whole world of production and reproduction of the image and of the simulacrum“ im Zeitalter des Spätkapitalismus, und eines sublime as a relationship of the individual subject to some fitfully or only intermittently visible force which, enormous and systematized, reduces the individual to helplessness or to that ontological marginalization which structuralism and poststructuralism have described as a “decentering” where the ego becomes little more than an “effect of structure.”41

In Bezug auf die Literatur ist hingegen der bereits genannte, von Mary Arensberg herausgegebene Band The American Sublime von 1986 schon insofern besonders erwähnenswert, weil er den wichtigen Aufsatz „In the Twilight of the Gods: Women Poets and the American Sublime“ von Feit Diehl enthält, in dem für die amerikanischen Dichterinnen Adrienne Rich und Elizabeth Bishop ein „counter-sublime that gestures towards an asexual world“42 reklamiert wird. Elizabeth Bishop wurde anschließend auch von Patricia Yaeger als wichtigste Autorin auf dem Weg „Towards a Female Sublime“43 angesehen. Soweit mein Hinweis auf einzelne Beiträge zu einer sehr lebhaften Diskussion. Den besten Überblick über die amerikanische Rezeption, Wiederbelebung und Umschreibung des Erhabenen bietet im Übrigen Rob Wilsons Monographie American Sublime: The Genealogy of a Poetic Genre von 199144, die den gesamten Zeitraum von den frühen Puritanern über Whitman und Stevens bis zu den ‚hysterischen‘ postmodernen Neuschreibungen abdeckt und in der der Verfasser auch kritisch auf Einflüsse aus Europa eingeht.

40 The American Sublime. The Genealogy of a Poetic Genre. Madison: University of Wisconsin Press. Vgl. S. 228-66. 41 Baudelaire as Modernist and Postmodernist: The Dissolution of the Referent and the Artificial ‚Sublime’. In: Chaviva Hosek and Patricia Parker (Hg.): Lyric Poetry Beyond New Criticism. Ithaca, NY, und London: Cornell University Press 1985, S. 247-63; S. 262-63. 42 The American Sublime, S. 173-214; S. 210. 43 In: Linda Kauffman (Hg.): Gender and Theory. Oxford und New York: Basil Blachwell, 1989, S. 191-212. 44 Madison, WI: University of Wisconsin Press, 1991. 293

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2. Der europäische Einfluss auf die amerikanische Diskussion Was Wilson stärker einbezieht in seine Darstellung des postmodernen Erhabenen, sind die verschiedenen Ideen Jean-Francois Lyotards, die durch in den USA publizierten Übersetzungen einer ganzen Reihe seiner Aufsätze und Bücher bekannt wurden. Seine Intervention in die amerikanische Diskussion begann 1982 mit einem kurzen Aufsatz im Artforum, „Presenting the Unpresentable: the Sublime“45. Darin wird die Auffassung vertreten, dass die Malerei der Avantgarde sich an der Ästhetik des Erhabenen orientiert habe, nachdem die Photographie sich des Feldes der Ästhetik des Schönen bemächtigt hatte. Das Erhabene wird dabei gesehen in der Wirkung von Werken der abstrakten Malerei, die durch die Abstraktion indirekt das Undarstellbare zu präsentieren versuchten. Lyotards Einfluss wurde aber erst so recht spürbar, als einer seiner wichtigsten Essays, „Reponse a la Question: Qu’est-ce que le Postmoderne?”46, 1983 auf Englisch unter dem Titel „Answering the Question: What is Postmodernism?“ in dem von Ihab und Sally Hassan herausgegebenen Theorieband Innovation / Renovation47 erschien und ein Jahr später als Anhang zu The Postmodern Condition: A Report on Knowledge48, einem der zentralen Werke der Postmoderne. In diesem Essay wird das ‚kantische Thema des Erhabenen‘ als eine frühe Modulation jenes Mangels an Realität, „lack of reality“, gesehen, ohne den, so heißt es, die Moderne nicht existieren könne. und der dazu geführt habe, „that it is in the aesthetic of the sublime that modern art (including literature) finds its impetus and the logic of the avant-gardes finds its axioms“.49 Die Intention der Kunst sowohl der Moderne wie der Postmoderne sei deshalb „to present the fact that the unpresentable exists. To make visible that there is something which can neither be seen nor made visible...“ Aber wie, so fährt Lyotard fort, soll dies gelingen, how to make visible that there is something that cannot be seen? Kant shows the way when he names formlessness, the absence of form, as a possible index to the unpresentable. He also says of the empty abstrac-

45 46 47 48

Übers. von L. Liebmann. Artforum 20:8, S. 64-69. Critique. Tome XXVII, No. 419 (Avril 1982), S. 357-67. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 1983, S. 329-41. Übers. von Geoff Bennington und Brian Massami. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1984. 49 Answering the Question: What is Postmodernism? In: Innovation / Renovation, S. 336. 294

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tion which the imagination experiences when in search for the presentation of the infinite, its negative presentation.50

Das Erhabene dient aber nicht nur dazu, die Verbindung zwischen Moderne und Postmoderne zu markieren, sondern auch die Differenz: modern aesthetics is an aesthetic of the sublime, though a nostalgic one. It allows the unpresentable to be put forward only as the missing contents; but the form, because of its recognizable consistency continues to offer the reader or viewer matter for solace and pleasure. [...] The postmodern would be that which, in the modern, puts forward the unpresentable in presentation itself, that which denies itself the solace of good forms, the consensus of a taste which would make it possible to share collectively the nostalgia for the unattainable; that which searches for new presentations not in order to enjoy them but in order to impart a stronger sense of the unattainable.51

Es ist hier nicht der Ort einer systematischen Auseinandersetzung mit dieser These. Allerdings kann sie aus der inzwischen gewonnenen Distanz auch nicht ganz kommentarlos referiert werden. Wie z.B. die abstrakte Kunst der Moderne, die wegen ihrer Nähe zu Kants „formlessness, the absence of form“ bzw. zur „empty abstraction“ das Unendliche negativ präsentieren soll, zugleich „the solace of good forms“ , eine Tröstung durch gute Formen zustande bringen soll, bleibt wohl Lyotards Geheimnis. Und dass viele Werke der frühen Postmoderne schon sehr bald als Poster in den Handel kamen (denken Sie nur an Andy Warhols Marilyn Monroe-Serien) und ganz offensichtlich einer großen Anzahl von Betrachtern als „good forms“ angesehen wurde und ihnen ebensoviel Vergnügen bereiten sollten wie diejenigen der klassischen Moderne, ja einer jüngeren Generation vielleicht sogar mehr, konnte Lyotard zwar damals noch nicht wissen, war aber angesichts des baldigen Wandels der zunächst als skandalös geltenden Werke der Avantgarde zu Ikonen der ‚klassischen Moderne‘ nicht schwer vorauszusehen. Gravierender aber erscheint mir die Tatsache, dass mit dem Begriff des Erhabenen bzw. sublime operiert wird, obwohl fast alle zentralen Elemente eliminiert werden, die ihn in der vorausgehenden ästhetischen Diskussion, vor allem auch bei Kant, auszeichnen: Ich nenne hier nur die Begegnung mit überwältigend großer Quantität, Ausdehnung oder Macht, das sich anschließende Gefühl des Schreckens, das einen Schock auslöst, und die plötzliche Wende in ein positives Gefühl des Machtzuwachses, die durch

50 Ebd., S. 337. 51 Ebd., S. 340. 295

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einen Rekurs auf die Idee des Unendlichen herbeigeführt wird. All dies fehlt nämlich auch in der Kunst der Moderne wie der Postmoderne. Wichtig im gegenwärtigen Zusammenhang ist aber, dass Lyotards Neuschreibung ungeachtet aller Problematik in den USA rezipiert wurde, und zwar sogar in ihren verschiedenen Varianten. Und er war sich der Tatsache, dass es sich nicht um eine Wiederbelebung, sondern um eine Neuschreibung des sublime handelte, sehr bewusst. Dies wird deutlich in seinem Essay „The Sublime and the Avant-Garde“, der 1984 in der Zeitschrift Artforum erschien.52 Darin wird „the unpresentable“, das nicht Darstellbare, mit einer Anspielung auf Heidegger als „that something happens, dass etwas geschieht“ definiert53, und es heißt, man müsse Barnett Newmans „The Sublime is Now“ umformulieren, um den Unterschied zwischen der Romantik und der ‚modernen‘ Avantgarde deutlich zu machen: „one would have to read The Sublime is Now not as The Sublime is Now but as Now the Sublime is Like This“.54 Dies verhinderte aber nicht, dass Lyotard in seinem etwas späteren Essay „Newman: the Instant“ dem Maler bescheinigte, dass er seine Pflicht als Künstler in ausgezeichneter Weise erfüllt habe, „to bear witness that there is, to respond to the order to be“55- ‚Zeugnis abzulegen davon, dass da etwas ist, zu antworten auf die Weisung zu sein.‘ Abschließend sei vermerkt, dass in den USA neben denjenigen Lyotards auch die Ideen anderer französischer Theoretiker hinsichtlich einer Wiederbelebung des Erhabenen zum Teil auch dann rezipiert wurden, wenn sie nicht in Übersetzung vorlagen. Dies zeigt z.B. die Reaktion auf Jean-Luc Nancys „L’Offrande sublime“56 und auf Jacques Derridas Essay „Parergon“ aus La Verité en peinture57 in David Carrolls einflussreicher Monographie Paraesthetics: Foucault, Lyotard, Derrida von 1987.58

52 Artforum 22:8 (April 1984), S. 36-43. Zitiert wird aus dem Nachdruck in: Jean-Francois Lyotard: The Inhuman. Reflections on Time. Cambridge: Polity Press, 1991, S. 89-107. 53 Ebd., S. 90. 54 Ebd., S. 93. 55 “Newman: The Instant”, übers. von David Macey. In: Andrew Benjamin (Hg.): The Lyotard Reader. Oxford: Blackwell, 1989, S. 240-49. Zitiert nach The Inhuman, S. 78-88; S. 88. 56 In: Du Sublime. Paris: Editions Belin, 1988, S. 37-75. 57 Paris: Aubier-Flammarion 1978; die englische Übersetzung The Truth in Painting von Geoff Bennington und Ian McLeod erschien ebenfalls 1987 (Chicago: University of Chicago Press), aber zu spät für Carrol. 58 New York: Methuen. S. 155-184. 296

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3. Synchrone Entwicklungen und Reaktionen auf die amerikanische Diskussion in Frankreich und Deutschland Ein Ideenfluss in der einen oder anderen Richtung über den Atlantik erscheint im Zeitalter moderner Kommunikationsmedien so gut wie selbstverständlich. Schwerer zu erklären ohne Rekurs auf einen ‚Zeitgeist‘ oder gar eine synchronisierenden ‚Weltgeist‘ sind zeitlich parallele Entwicklungen, wie sie in Bezug auf die Wiederbelebung des Erhabenen vor allem in Amerika und Frankreich, teilweise aber auch in Deutschland zu konstatieren sind. Ich habe diesbezüglich zwar eine These, möchte sie aber zurückstellen und zunächst die seinerzeitige Situation in Frankreich und Deutschland skizzieren. Derrida hatte schon 1978 seinen umfangreichen Essay über Kants Kritik der Urteilskraft unter dem Titel „Parergon“ in La Verité en peinture veröffentlicht, und Lyotard begann bereits 1980 in einem völlig anderen Kontext über das Erhabene zu schreiben. Michel Deguy publizierte 1984 seine völlig neuartige Interpretation des pseudo-longinischen Peri Hypsous in der Zeitschrift Poétique, und die literarische Zeitschrift PoEsie brachte zwischen 1984 und 1986 eine ganze Serie von Aufsätzen zum Thema „Analytique du sublime“, von denen mehrere anschließend in dem Theorieband Du Sublime von 198859 abgedruckt wurden. Zu den Beiträgen, die sich in Du Sublime neben dem bereits genannten Aufsatz von Deguy über Peri Hypsous finden, gehört der von Carroll in Paraesthetics diskutierte Aufsatz „L’Offrande sublime“ von Jean-Luc Nancy. Nancys zentrale Idee bezüglich einer Erneuerung der Kunst beruht hauptsächlich auf einer Neuinterpretation von Kants Kritik der Urteilskraft, und was er vor allem zeigen möchte ist, dass das Erhabene essentiell verknüpft ist mit „la fin de l’art“ im doppelten Sinne: mit dem Ziel, der Aufgabe der Kunst und zugleich auch – dabei denkt man unwillkürlich an Arthur Dantos zwei Jahre zuvor erschienenen, Aufsehen erregenden Essay „The End of Art“60- mit ihrem historischen Ende oder ihrer Aufhebung im Sinne Hegels: „Le sublime a partie liée, d’un lien essentiel, avec la fin de l’art en tous les sens de l’expression: ce pour quoi l’art est là, sa destination, et la cessation, le dépassement ou le suspens de l’art.“61 Es ist über diesen wichtigen Aufsatz Nancys hinaus ein Kennzeichen fast der gesamten französischen Bemühungen um eine Wiederbelebung des Erhabenen, dass sie sehr eng an Kants Konzeption orientiert sind und 59 Paris: Editions Belin. 60 In: The Philosophical Disenfranchisement of Art. New York: Columbia University Press 1986, S. 81-115. 61 Du Sublime, S. 38. 297

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dass die durchaus neuartigen Ideen im Rahmen von Kant-Interpretationen vorgetragen werden. So sind auch die vier auf Nancy folgenden Beiträge in Du Sublime solche Neuinterpretationen von einschlägigen Teilen der Kritik der Urteilskraft: Eliane Escoubas schreibt über „Kant ou la simplicité du sublime“, Phillipe Lacon-Labarthe über „La vérité sublime“, Jean-Francois Lyotard über „L’ intérêt du sublime“ und Jacob Rogozinski über „Le don du monde“, und alle gelangen erwartungsgemäß zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Ganz offensichtlich besaß der Versuch, das Neue auf der Folie der anspruchsvollsten traditionellen Konzeption des Erhabenen zu entfalten, eine von mir sehr gut nachvollziehbare besondere Faszination. Doch die Hegemonie der KantInterpretationen ist begrenzt, denn komplettiert wird der Band Du Sublime durch einen Aufsatz über „Tragédie et sublimité“ von Jean-Francois Courtine und einen weiteren mit dem Titel „Sur une tour de Babel: Dans un tableau de Poussin“ von Louis Marin. Dabei gilt es in unserem Zusammenhang festzuhalten, dass nur in einem all dieser Beiträge sich die Bemerkung „Le sublime est à la mode“ findet, und obwohl deren Autor Jean-Luc Nancy in der dazugehörigen Fußnote62 deutlich macht, dass er wusste, was in Berlin, Rom und Tokyo vor sich ging und dass er sogar über eine performance von Mike Kelley 1984 in Los Angeles informiert war, besteht die einzige offen angegebene Verbindung mit der entsprechenden Diskussion in den USA aus einem Verweis auf Paul de Mans Essay „Hegel on the Sublime“63 Das bedeutet natürlich nicht, dass man diese Diskussion nicht gekannt hat, und insbesondere Lyotard hat sie ganz gewiss gekannt. In Frankreich ging es aber ganz offensichtlich erstens um ein besseres Verstehen der Tradition, zweitens um Vorschläge für eine historisch notwendig gewordene Uminterpretation der kantischen Konzeption des Erhabenen, und drittens keinesfalls um die Etablierung von so etwas wie einem französischen Erhabenen in Analogie zu den Bemühungen um ein „American Sublime“. In Deutschland war die Situation insofern anders, als zwischen der Mitte der siebziger und dem Anfang der neunziger Jahre eine ganze Anzahl von Büchern und Aufsätzen erschien, in denen der eine oder andere Aspekt aus der Geschichte des Erhabenen in Literatur, Malerei oder Musik behandelt wurde, aber die Frage einer Aktualisierung bzw. Um- oder gar Neuschreibung kaum behandelt wurde. Natürlich gab es Ausnahmen, darunter z.B. ein langes Kapitel in Burghart Schmidts Studie über die Postmoderne, worin das Erhabene mit den „Strategien des Vergessens“

62 L’ Offrande Sublime. Du Sublime, S. 37. 63 Ebd., S. 41. 298

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zusammengebracht wird64, oder einen Aufsatz von Martin Seel, der sich unter dem Titel „Dialektik des Erhabenen“ mit dem Vorwurf einer angeblichen „ästhetischen Barbarei heute“ auseinandersetzt. Aber Beiträge wie diese erschienen erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, ebenso wie die umfangreiche, von Christine Pries herausgegebene Aufsatzsammlung Das Erhabene (1989)65. Die Tatsache, dass die Wiederbelebung des Erhabenen somit später als in den USA und Frankreich erfolgte, bot natürlich die Möglichkeit, die Ergebnisse der vorausgegangenen Diskussionen zu integrieren, und ich möchte an dem zuletzt genannten Sammelband demonstrieren, inwiefern diese Chance genutzt wurde. Dass sie genutzt, aber aus meiner Sicht allzu einseitig genutzt wurde, wird schon beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis und einer Lektüre der Einleitung von Christine Pries deutlich. Einleitend heißt es – in offensichtlicher Unkenntnis der vorausgegangenen Debatte in den USA: „Jean-François Lyotard hat durch seine Wiederaufnahme des Erhabenen gerade unter Rückgriff auf Kant die zeitgenössische Diskussion um das Erhabene entfacht. Kant und Lyotard sind die beiden Fluchtpunkte der in diesem Band versammelten Beiträge.“66 Um dieser Intention zu entsprechen, folgt dann bald ein wichtiger, von der Herausgeberin übersetzter Aufsatz Lyotards, und der Band endet mit einem Interview, das sie mit Lyotard geführt hat. Deutlicher konnte man den französisch-deutschen Theorieimport kaum demonstrieren, und es ist ja auch fraglos so, dass Lyotards These, die Ästhetik der Moderne und Postmoderne sei eine Ästhetik des Erhabenen, die Diskussion in Deutschland am nachhaltigsten beeinflusst hat. Man wird aber dem Band nicht gerecht, wenn man nur auf die von Pries genannten Fluchtpunkte Kant und Lyotard eingeht. Andererseits entspricht er in seiner Vielgestaltigkeit nämlich durchaus der Ankündigung, nur „mit vielen unterschiedlichen Stellungnahmen“ könne man „der Komplexität, ja Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit des Erhabenen gerecht werden und sich einer Theorie desselben nähern.“67 Und gerade einige der thematisch etwas unorthodoxen Beiträge verdienen besondere Aufmerksamkeit. Da es hier um den interkulturellen Ideentransfer geht, muss ich mich jedoch auf die erkennbare Integration französischer und amerikanischer Umschreibungen des Erhabenen beschränken. Was Frankreich anbetrifft, ist mit neben einem einleitenden Verweis auf Jean-Luc Nancys 64 Postmoderne – Strategien des Vergessens. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1986, S. 132-70. 65 Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora. 66 Ebd., S. 14. 67 Ebd., S. 13. 299

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„L’Offrande sublime“ aus dem Band Du Sublime68 mit dem Hinweis auf die dominierende Stellung von Lyotard bereits alles gesagt. Anders verhält es sich hinsichtlich der vorausgegangenen amerikanischen Diskussion, denn darauf wird nirgends zusammenhängend oder ausführlicher, sondern nur durch Verweise auf einzelne Autoren in einigen Beiträgen Bezug genommen. So hebt Jörg Villwock in seinem Aufsatz über die pseudo-longinische Schrift Vom Erhabenen einen einschlägigen Aufsatz von Suzanne Guerlac69 aus dem bereits genannten Sonderheft von NLH über das Erhabene besonders hervor70, und Klaus Poenicke verweist in seinem Beitrag über das Erhabene in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts71 auf die bereits von mir genannten Beiträge von Gary Shapiro und Ronald Paulson im selben Heft, vor allem aber durchgängig auf die einflussreiche Monographie The Romantic Sublime von Thomas Weiskel, die auch von Klaus Bartels in seinem Beitrag „Das TechnischErhabene“72 gewürdigt wird. Den deutlichsten Bezug zu Amerika hat jedoch ein Beitrag von Max Imdahl über „Barnett Newman. Who’s afraid of red, yellow and blue III“73. Leider gehört aber Newmans Manifest The Sublime is Now von 1948 weniger in den Zusammenhang der neueren amerikanischen Diskussion, als in den der französischen Wiederbelebung des Erhabenen, weil es erst in den achtziger Jahren von Lyotard bekannt gemacht wurde, und außerdem muss man schon ein arg unaktuelles Verständnis des Begriffs „zeitgenössisch“ haben, um zu verstehen, weshalb 1989, als die radikale frühe Postmoderne schon zu Ende war, die spätmoderne Farbflächenmalerei des Abstract American Expressionism aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg als Beispiel für „Das Erhabene in den zeitgenössischen Künsten“ herhalten muss. Das heißt: Newman erscheint in dem Band, weil er für Lyotard wichtig war. Insgesamt lässt sich abschließend sagen, dass es einen interkulturellen Ideentransfer bei der Wiederbelebung des Erhabenen gegeben hat, und zwar in sehr deutlicher Weise von Frankreich aus nach Deutschland, in nennenswertem Maße auch von Frankreich in die USA, sehr sporadisch von den USA nach Deutschland, und in für mich keiner erkennbaren Weise von den USA oder Deutschland nach Frankreich. Daneben ist allerdings ein ganz erhebliches Ausmaß an autonomer Parallelentwick68 Ebd., S. 1. 69 Longinus and the Subject of the Sublime. NLH 16:2 (1985), S. 278f. 70 Zu einigen noologischen Implikationen der Schrift Vom Erhabenen. In: Das Erhabene, S. 33-53; S. 52-53. 71 Eine Geschichte der angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Das Erhabene, S. 76-90. 72 Ebd., S. 295-316. 73 Ebd., S. 233-252. 300

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lung zu konstatieren, für die aus meiner Sicht nicht unbedingt der ‚Zeitgeist‘, aber die inzwischen allgemein als ‚postmodern‘ bezeichnete Entwicklung in den Künsten seit den sechziger Jahren verantwortlich ist. Nachdem man sich nämlich endlich an die avantgardistische Kunst und Literatur der Moderne so weit gewöhnt hatte, dass sie nicht mehr nur durch Fremdheit zu schockieren, sondern zumindest teilweise unter der Kategorie ‚klassische Moderne‘ zu gefallen wusste (und Newman und andere Vertreter des American Abstract Expressionism trugen kräftig zu dieser Entwicklung bei), demonstrierten die Autoren und Künstler der frühen Postmoderne mit ihrem experimentellen Rückgriff auf die Klischees der Populärliteratur und die Sujets und medialen Ausdrucksmittel der Konsumgesellschaft, dass man es bei ihren Werken nicht mehr mit den „schönen Künsten“ zu tun hatte. Und nun sollte sich zeigen, wie sehr der im 17. Jahrhundert mit Boileaus Einführung des pseudolonginischen Peri Hypsous in die Kritik beginnende, im 18. Jahrhundert durch Burke und Kant fest etablierte und trotz teilweiser Auflösung in der Romantik die weitere ästhetische Diskussion total beherrschende Dualismus des Schönen und Erhabenen noch immer absolut in Geltung war. Gleichgültig ob in den USA, in Frankreich oder in Deutschland – oder meines Wissens auch anderswo: Gemäß dem Glaubenssatz, was im Bereich des Ästhetischen nicht mehr schön ist, kann gar nicht anders als erhaben sein, begann man den Begriff des Erhabenen so umzuschreiben, dass er wenigstens einigermaßen auf die neue Art von Literatur und Kunst zu passen schien. Dass damit die begriffliche Kontinuität fast völlig aufgehoben werden musste und außer den Signifikanten ‚Erhabenes‘ oder ‚sublime‘ kaum etwas übrig blieb, wurde klaglos in Kauf genommen. Dabei ist es, lässt man solche definitorischen Kunststücke einmal beiseite, nicht allzu schwer zu sehen, dass die Literatur und Kunst der Moderne wie der Postmoderne von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen weder im traditionellen Sinne schön noch erhaben genannt werden kann. Weder vermag sie wie einst das Schöne direkt zu gefallen, noch einen quasi lebensbedrohlichen Schock auszulösen, der für die Erfahrung des Erhabenen eine notwendige Voraussetzung bildet. Gerade den überzeugenderen Werken der modernen Literatur und Kunst eignet bis heute vielmehr ein Ausmaß an fremdartiger Wirkung, das eine problemlose Einordnung unter die Kategorie des Schönen verhindert, und andererseits vermögen selbst die Werke, deren Fremdartigkeit bis ins Unheimliche reicht, selten genug jenes Gefühl des totalen Überwältigtwerdens auszulösen, ohne das die Erfahrung des Erhabenen nicht zu erlangen ist. Ich habe deshalb vor kurzem den Versuch gemacht, den Dualismus des Schönen oder Erhabenen zu überwinden und dafür plädiert, im Hinblick auf die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne von ei-

301

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ner dritten Ästhetik zu sprechen, einer „Ästhetik des Fremden“74, die den gesamten Zwischenbereich zwischen den extremen Polen des Schönen und Erhabenen nutzt, der sich vom fast noch Schönen über das Fremdartige bis hin zum Unheimlichen erstreckt. Dabei ist mir sehr wohl bewusst, gegen ein wie gewaltiges Konstrukt eingefahrener Ideen ein solcher Vorschlag angeht. Vor allem geht er auch an gegen die bislang übliche Illusionierung einer begrifflichen Pseudokontinuität durch die Beibehaltung von Signifikanten wie das ‚Erhabene‘ oder ‚sublime‘, einer verfälschenden Illusionsbildung, die in restaurativer Weise das Neue selbst dann noch als bloße Variante des Alten erscheinen zu lassen versucht, wenn es so gut wie nichts mehr damit gemein hat. Für mich ist demnach die Bemühung um eine Wiederbelebung des Erhabenen eine kulturgeschichtlich durchaus interessante Episode, die aber eine Fortsetzung zumindest so lange nicht lohnt, wie sich die Literatur und Kunst nicht grundlegend geändert hat. Bislang ist auch die ganz neue Kunst und Literatur weder im traditionellen Sinne ‚schön‘ noch überwältigend ‚erhaben‘.

74 Herbert Grabes: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne: Die Ästhetik des Fremden. Tübingen und Basel: A. Francke, 2004. 302

GESPENSTER. METAPHERN DER PHOTOGRAPHIE IN DER LITERATUR MONIKA SCHMITZ-EMANS I. Metaphorische Modellierungen der Photographie Die Photographie ist von ihren Anfängen an metaphorisch beschrieben und interpretiert worden; Bernd Stiegler hat dies mit einer Kollektion einschlägiger Belegstellen dokumentiert. Wie Stiegler darlegt, lassen gerade die Metaphern der Photographie erkennen, wie ambig man photographische Bilder wahrnahm.1 Die Metaphorisierungen der Photographie beeinflussten die Modi der Betrachtung von Photos und den Umgang mit ihnen. Man könnte zuspitzend von einer Erfindung der Photographie im Medium sprachlicher Analogisierungen und Gleichnisse sprechen, welche die Geschichte der einschlägigen technischen Erfindungen nicht nur begleitete, sondern mittelbar auch auf die Technikgeschichte selbst zurückwirkte. Neben Metaphern im engeren Sinn (die auf entdeckten bzw. konstruierten Ähnlichkeiten des jeweiligen Bildspenders mit dem Bildempfänger Photographie beruhen) finden sich in Stieglers BelegstellenAlbum (ebenfalls eine konnotationsbesetzte Metapher!) auch Metonymien, die durch Kontiguitätsbeziehungen motiviert sind. Hierzu gehört etwa das Bildfeld um das Archiv und andere Erinnerungsspeicher.2 Der funktionale Zusammenhang von Photo und Archiv ist die Grundlage assoziativer Verknüpfungen von Photographie und Gedächtnis. Stiegler betont die Ambiguität gerade dieser Spielform der Photometaphorik zu Recht:3 Komplementär zur Vorstellung, Photos höben die Vergangenheit im Sinn des Konservierens auf und erleichterten so deren Revokation, gelten sie umgekehrt auch als Medien des Vergessens – als Substrate, in 1 2 3

Vgl. Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt/M. 2006, S. 7-9, insbes. S. 8. Zum Stichwort „Gedächtnis“ vgl. ebd., S. 102-105. Vgl. ebd., S. 24. Verwiesen wird auf die „höchst ambivalente Doppelgestalt des photographischen Archivs als Ort des Aufbewahrens und des Verschwindens“ (Ebd., S. 23). Zum Stichwort „Archiv“ vgl. ebd., S. 21-25, hier S. 21. 303

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welche die Vergangenheit gebannt wird, um dort zu verschwinden. Photographische Bilder werden aber ferner – um ein anderes Bildfeld zu nennen – vielfach als Beutestücke bezeichnet, so dass der metaphernträchtige Assoziationsraum von Jägern und Gejagten, von Tätern und Opfern ins Spiel kommt.4 Oft betrachtet man sie auch als Doubles des jeweils Abgebildeten5 – als dessen dauerhafter Ersatz oder aber als sein totes und trügerisches Surrogat (die semantischen Potenziale dieser letzteren Vorstellung sind besonders ergiebig). Nicht zuletzt erscheinen sie sowohl als Produkt wie auch als Medien magischer Operationen; die Arbeit des Photographen, die aus rein physikalisch-technischen Gründen in der Dunkelkammer stattfindet, erinnert scheinbar bereits durch ihre Rahmenbedingungen an okkulter Praktiken.6 Italo Calvinos Erzählung „L’avventura di un fotografo“ („Abenteuer eines Photographen“) versammelt eine ganze Reihe topischer Vorstellungen über die Photographie, die durch solche Metaphern konturiert sind – durch die Bildfelder um Jagd und Beute, um Archivierung, um Fixierung und Abtötung, um Aufhebung im zweifachen Sinn von Rettung und Vernichtung sowie um ambige magische Operationen. Als eine Erzählung über die Passion des Photographierens ist der Text zugleich ein intertextuelles Gewebe aus Elementen des Photo-Diskurses. Er bezeugt damit exemplarisch das Interesse der Literatur an der sprachlich-diskursiven Erfindung von Photographie und das ihm zugrundeliegende Wissen um das in diesem Sinne medienschöpferische Potenzial der Sprache und ihrer Metaphern.7 Hans Blumenberg hat von ersten Begegnungen mit einem Photolabor in einer Weise berichtet, die den Bild-Entwicklungsprozess im Säurebad zum Sinnbild der Schöpfung von Welt, aber auch des Begreifens von Schöpfung werden lässt. Dieser Entwicklungsprozess – die Verwandlung eines physikalischen Vorgangs in die Metapher sinnlich-intellektueller Prozesse – findet ihrerseits im Medium des Erzählens selbst statt.

4 5 6 7

Zum Stichwort „Beute“ vgl. ebd., S. 49-53. Vgl. auch Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983, S. 31. Zum Stichwort „Doppelgänger“ vgl. Stiegler: Bilder der Photographie, S. 77ff. Zum Stichwort „Kunst, schwarze“ vgl. ebd., S. 127; vgl. auch ebd., S. 126. Italo Calvino: Abenteuer eines Photographen. In: Ders.: Abenteuer eines Reisenden. Erzählungen. München, Wien 1986, S. 74-89. Originalausgabe: L’avventura di un fotografo. In: Ders.: Romanzi e racconti. Edizione diretta da Claudio Milanini a cura di Mario Barenghi e Bruno Falcetto. Mailand 1992, S. 1096-1109. Der spätere Photograph wird zunächst als jemand eingeführt, der statt zu photographieren eloquent über das Photographieren redet (das er zu diesem Zeitpunkt noch verachtet, um ihm später umso nachhaltiger zu verfallen). 304

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„Mein Vater war ein Photograph. [...] Mich erfreuten die Exkursionen zur Einholung der optischen Beute nur in der Vorfreude auf das, was danach kam. Mein Vater entwickelte selbst. er hatte eine Dunkelkammer mit rotem Licht, allerlei Flaschen und Schalen, mit denen ‚Bäder‘ bereitet wurden [...]. Die von meinem Vater als gut befundenen Resultate interessierten mich wenig. Was mich faszinierte war der Prozess, wie aus dem Nichts etwas entstand, was vorher ganz und gar nicht dagewesen war. [...] Ich wusste, ich sah es vor mir, wie es bei der Erschaffung der Welt zugegangen war. Erst nichts, und dann etwas – und etwas nur, weil zuerst einmal für Licht gesorgt worden war. Die biblische Prozedur erschien mir phototechnisch als ganz richtig, und die Dunkelkammer als Imitation der Gesamtlage im Universum vor dem ersten Schöpfungstag. Ohne dass es finster gemacht wurde, konnte aus nichts nichts werden, und Licht war dann die wichtigste Bedingung für das, was eine richtige Belichtung genannt wurde. Unter meinen Händen, bei vorsichtigem Schwenken der Platten in den Bädern kam die Welt zutage – natürlich nicht mit soviel Aplomb und Tohuwabohu wie am biblischen Auftakt, aber doch im Prinzip nach keinem anderen Verfahren. [...] Einer, der an die Schöpfung nicht glaubt, versteht ihren Begriff doch immer noch, wie er ihn in der Dunkelkammer anschaulich vor sich ‚produzierte‘. Seither ahne ich wenigstens, wie Begriffe entstehen.“8 Auf programmatische Weise durchdringen sich in diesem Beispiel Bildliches und Sprachliches: Erstens beeinflusst die Kenntnis des biblischen Schöpfungsberichts die Wahrnehmung des physikalischen Entwicklungsprozesses durch den Jungen; die photographischen Bilder erscheinen – neben aller physisch-materiellen Bedingtheit durch das Licht – von Anfang an auch im (metaphorischen) ‚Licht‘ von Metaphern. Zweitens erleichtert es die Beobachtung dieses augenfällig gemachten ‚Schöpfungs‘-Prozesses dem Betrachter, sich von Schöpfung überhaupt einen ‚Begriff‘ zu machen – und mehr noch: Die exemplarische Verschmelzung von visueller Erfahrung und erst durch sie katalysiertem Begriff wird zugleich zur Metapher für den Prozess der Begriffsbildung an sich – einer Begriffsbildung, welche metaphorologischer Prämisse zufolge ihren Ausgang von Metaphern nimmt und sich über sich selbst im Horizont von Metaphern verständigt. Unübersehbar steht diese Geschichte von der Bild-Entwicklung im Labor-Licht in Korrespondenz zu Blumenbergs wegweisender Abhandlung über die Lichtmetaphorik als Fundament der Selbstverständigung des Intellekts.9 8 9

Hans Blumenberg: Begriffe in Geschichten. Frankfurt/M. 1998, S. 7f.: „Eine Begriffsgeschichte“. Ders.: Licht als Metapher der Wahrheit (1957). In: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt/M. 2001, S 139-171. 305

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An Geschichten über Bilder und Bilderzeugungstechniken wie die Calvinos und Blumenbergs wäre vor allem angesichts geläufiger Proklamationen eines visual turn erinnern; über die zunehmende Hegemonie der Bilder über die Sprache scheint ja ein weiter Konsens zu bestehen.10 Teils technikbegeistert, teils kulturpessimistisch akzentuiert, wurden solche Diagnosen eines Siegeszugs der Bilder bereits in den 60er Jahren erstellt;11 Calvinos Erzählung ist lesbar als literarische Reaktion hierauf. Gegenüber voreiligen Dichotomisierungen der Sphären des Bildlichen und des Sprachlichen wäre mit Michel Butor, Calvino und Blumenberg darauf zu insistieren, dass auch und gerade die Wahrnehmung von Bildern selbst durch – freilich oft im Hintergrund wirksame – Texte gesteuert wird.12 Neben Titeln, Bildlegenden, Bildbeschreibungen und -kommentaren sind hier vor allem die Metaphern wichtig, mittels derer visuelle Wahrnehmungsprozesse, Verfahren der Bilderzeugung und deren Produkte umschrieben und ausgelegt werden.13 I.1. Gespensterdiskurse und Bildmedien Gespenster sind volkstümlichen Vorstellungen zufolge Untote: Verstorbene, die keine Ruhe finden und die Lebenden heimsuchen.14 Die Vorstellung einer möglichen Erlösung unerlöster Seelen verbindet sich im christlichen Denkhorizont mit dem Gespensterglauben aufs engste; die Ursprünge dieses Glaubens reichen aber viel weiter zurück – wie Mircea Eliade plausiblerweise annimmt, ergibt er sich aus der Überzeugung von der Existenz psychischer Kräfte, die vom sterblichen Leib unabhängig

10 Vgl. u.a.: Christa Maar (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004. 11 Karl Pawek: Das optische Zeitalter: Grundzüge einer neuen Epoche. Olten / Freiburg i.B. 1963. 12 Michel Butor: Die Wörter in der Malerei. Essay. Aus. d. Frz. v. Helmut Scheffel. Frankfurt/M., 2. Aufl. 1993. – Orig.: Les mots dans la peinture. Genf 1969. 13 Umgekehrt spielen Bilder und Bildproduktionsverfahren nach wie vor die Hauptrolle unter den Bildspendern sprachbezüglicher Gleichnisse und Metaphern und vielfach bedienen sich sprachliche Darstellungsformen (in Blumenbergs Fall geht es um die Begrifflichkeit selbst) solcher BildMetaphern um ihrer Selbstverständigung willen. Sprachliche und bildliche Darstellungsformen ‘schöpfen’ einander insofern wechselseitig. 14 Vgl. Gero von Wilpert: Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv, Form, Entwicklung. Stuttgart 1994. – Ferner: Moritz Baßler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Gespenster. Erscheinungen, Medien, Theorien. Würzburg 2005. 306

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sind.15 In vielen überlieferten Gespenstergeschichten erscheinen die Untoten, um sich der Lebenden zu bemächtigen und sie selbst mit ins Totenreich zu holen. Als körperlos-immaterielle Wesen sind sie Grenzgänger von schemenhafter Erscheinung. Ihr Ort ist die Schwelle zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Tod und Leben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Bei der metaphorischen Modellierung und Interpretation der Photographie spielt das Bildfeld um Gespenster schon früh eine wichtige Rolle. (Analoges gilt später für den Film.) Volkstümliche, teilweise auf atavistische Vorstellungen zurückgehende Elemente des Gespensterglaubens werden reaktiviert, um die Photographie zu diskursivieren. Die Wahrnehmung des phantomatischen Zugs von Photographien nimmt Einfluss auf die photographische und die mediologische Praxis selbst. Das 19. Jahrhundert ist nicht nur eine Zeit rasanter technologischer Entwicklungen; es entwickelt auch ein ausgeprägtes Interesse an spiritistischen Vorstellungen und Praktiken, wobei volkstümliche Vorstellungen mit medizinisch-psychologischen und mediologischen Wissensdiskursen vielfältige Bündnisse eingehen. Unter dem Einfluss spiritistischer Lehren werden mit der jungen Technologie des Photographierens zahlreiche Experimente angestellt, die gerade in jüngerer Zeit wieder das Interesse von Diskurse– und Medienhistorikern, Kultur- und Literaturwissenschaftlern auf sich gezogen haben.16 Diverse Photographen des 19. Jahrhunderts – unter ihnen gläubige Spiritisten, aber auch rein kommerziell interessierte Betrüger – präsentierten der Öffentlichkeit sogenannte Geisterphotos: Photographische Aufnahmen, welche als Manifestation geisterhafter Erscheinungen interpretiert wurden, als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, das Unsichtbare sichtbar zu machen und ins Bild zu bannen, um so die Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit der spiritistischen Manifestationen zu kompensieren. Technisch gesehen, handelte es sich bei dessen photographischen „Geister“-Bildern vielfach um Resultate von Doppelbelichtungen; teilweise resultierten die sogenannten Geisterphotos aus geschickten räumlichen Installationen; hinzu kamen chemische Manipu15 Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen. Bd. 1: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis. Freiburg/Basel/Wien 1993, S. 21. 16 Vgl. den Katalog: Andreas Fischer (Hg.): Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren. Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach/Kunsthalle Krems/Fotomuseum Winterthur. Ostfildern-Ruit 1997. – Ferner: Sabine Haupt/Ulrich Stadler (Hg.): Das Unsichtbare sehen. Zürich/Wien/New York 2006. – Zum Okkultismus der Moderne insgesamt: Priska Pytlik: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Paderborn/München/Wien/Zürich 2005. 307

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lationen oder zufällige Konfigurationen beim Entwickeln und Fixieren der Bilder. Die Technik des „Geister“-Photographen zielt auf das Vordringen in eine übersinnliche Sphäre; ihre Photos sollten die Existenz einer unsichtbaren Dimension der Welt beweisen (bzw. plausibilisieren). Indem so die Photographie zum Ort der Manifestation von Geistern deklariert wurde, verschmolz der Diskurs über Photos mit dem Gespensterdiskurs. Dass das Photo in den Jahrzehnten um 1900 das vielleicht wichtigste Medium für Geistererscheinungen war, bildet die Basis für metaphorische Semantisierungen der Photographie, die als eine Technik zur Erzeugung von Phantomen interpretiert wird – allerdings unter verschiedenen Akzentuierungen. Während etwa für Siegfried Kracauer die Photos Phantome visualisieren, welche als Bestandteile einer anderen Zeit die jeweilige Gegenwart heimsuchen und so zu einer Komplizierung der Chronologie führen,17 sieht der Zivilisationskritiker Günter Anders in der Photographie ein Medium, das der Phantomatisierung der Welt – im Sinne der Ersetzung lebendiger Originale durch Reproduktionen – Vorschub leistet.18 Als Medien der Visualisierung Abwesender, insbesondere Verstorbener, haben Photographien analoge Effekte wie Praktiken der Beschwörung von Geistern; sie verleihen dem Unsichtbaren Sichtbarkeit, vermitteln zwischen Gegenwärtigem und Nichtgegenwärtigem. Die Lebenden an den bevorstehenden Tod zu mahnen, ist volkstümlichen Vorstellungen zufolge eine der typischen Funktionen von Gespenstern. Photos nun erinnern einem folgenreichen Topos zufolge ebenfalls nicht nur als Abbilder der Verstorbenen an den Tod, sondern auch als Porträts der Lebendigen. Denn durch die Fixierung ihrer Erscheinung im Bild wird diesen ihre eigene Zeitlichkeit und Sterblichkeit sinnfällig gemacht.19 Daran hat unter anderem Susan Sontag erinnert.20 Stiegler allerdings hebt anlässlich der Memento-Mori-Semantik von Photographien wiederum deren semantische Ambiguität hervor: Das photographische Bild ist einerseits als Antizipation des Todes, als Mortifikation des Lebendigen, andererseits als Widerstand gegen die Vergänglichkeit deutbar; es scheint den Moment und das im Moment dargestellte Weisen der Zeitlichkeit zu entreißen, entreißt ihr stattdessen aber nur ein Bild und verweist den Abgebildeten 17 Zum Stichwort: „Phantom“ vgl. Stiegler: Bilder der Photographie, S. 167171. 18 Vgl. ebd., S. 169. 19 Nach der photographischen Aufnahme altert der Porträtierte gleichsam von seiner im Bild fixierten Gegenwart weg, er ist fortan gespalten in ein gegenwärtiges und ein vergangene Ich – auch über die Spaltungsidee bestehen Anschlußstellen an die Semantik der Doppelgängerei. 20 Susan Sontag: Über Photographie. München 1978, S. 21. 308

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umso nachdrücklicher darauf, dass er der Zeit und dem Tod ausgeliefert ist.21 I.2 Der phantomatische Charakter von Photos im Spiegel literarischer Texte Sei es, dass Photographie und Spiritismus auf der Basis von Analogien in metaphorische Beziehungen gesetzt werden (im Sinne der Semantisierung der für beide konstitutiven Spannung von Präsenz und Absenz), sei es, dass ihre Beziehung metonymisch (durch ihre Kontiguitätsbeziehungen im Feld der Geisterphotographie) bedingt sind – ihre Korrespondenzen sind in jedem Fall diskursiv produziert. Die Literatur hat daran maßgeblich Anteil genommen und seit dem 19. Jahrhunderts aus der Idee gespenstischer photographischer Manifestationen viele Impulse bezogen. In Villiers de L’Isle-Adams Roman „L’Eve future“ (1886) wird eine dreidimensionale Photographie dazu benutzt, eine lebendige Frau durch eine künstliche Doppelgängerin zu ersetzen. Diese hinter ihrem Modell an Lebendigkeit nicht zurückstehende Kunstfrau wird ihrerseits zum Medium, durch welches sich eine Verstorbene manifestiert und ihre Botschaften aus dem Geisterreich übermittelt. In Guy de Maupassants Erzählung „L’Horla“ (1887) verbindet sich das Motiv des photographischen Porträts mit dem eines gespenstischen unsichtbaren Verfolgers, und beide Motive verweisen auf die zentrale Thematik der Ichspaltung und des Selbstverlusts an der Grenze zwischen Erfahrenem und Imaginärem. Jules Vernes Roman „Le Château des Carpathes“ (1892) erzählt von der phantomatischen Erscheinung einer verstorbenen Opernsängern, die durch technische Arrangements erzeugt wird; Photographie und Phonograph ermöglichen die Genese des Simulacrums, doch zuletzt erfolgt die Aufdeckung der Täuschung. In Theodor Fontanes „Effi Briest“ (1894/95) wird das unheimliche photographische Bildchen eines toten Chinesen zum Botschafter aus einer mit dem Alltäglichen und begreiflichen kontrastierenden Dimension der Welt; es erzeugt eine vage, rational unbegründbare Atmosphäre der Angst und des Befremdens. Auch wenn der Geist des Chinesen nur in Effis Phantasie existiert, verweist er doch mittelbar auf die Gesamtthematik des realistischen Romans, auf das gespenstische Nachleben des Einstigen, auf die Präsenz und die Macht der Vergangenheit im Gegenwärtigen. Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) enthält Reflexionen über den phantomatischen Charakter von Röntgenphotographien, die als eindrückliches Memento Mori fungieren;22 beim Blick auf die eigenen Knochen ist der Betrachter ja antizipatorisch mit dem 21 Zum Stichwort „Memento Mori“ vgl. Stiegler: Bilder der Photographie, S. 139ff. 22 Stiegler: Bilder der Photographie, S. 139f. 309

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eigenen postmortalen Zustand konfrontiert. Manns Roman über die Zeit ist ein Medien-Roman; neben Photos repräsentieren auch Grammophonstimmen eine phantomatische Sphäre präsenter Abwesender, und von phantomatischen Erscheinungen im engeren Sinn berichtet dann ja auch das Spiritismuskapitel. Das metaphorische Konzept des Photos als Phantom und das ihm eng benachbarte Motiv des Geisterphotos spielen bei Mann wie bei vielen anderen Vertretern der literarischen Moderne als Katalysatoren poetologischer Reflexion eine wichtige Rolle. Gerade im Rekurs auf sie lässt sich die Spannung zwischen Repräsentation und Abwesendem als poetologische Thematik entwickeln; gerade über sie lässt sich verdeutlichen, dass Evokation und Auslöschung zwei Seiten eines Sachverhalts sind – und zwar bezogen auf die photographische wie auf die sprachlich-literarische Darstellung.

II. Bildmediale Phantome in der Gegenwartsliteratur Die Topik des Gespenstischen und der Geisterphotographie wird auch jenseits spiritistischer Überzeugungen zu einem wichtigen Bezugsfeld literarischer Reflexionen über die Photographie. Sie illustriert in ihren verschiedenen Verwendungskontexten exemplarisch, dass ältere bildtheoretische und bildästhetische Topoi ihre Signifikanz auch angesichts einer rasanten Entwicklung der Bildtechnologien nicht verlieren.23 Auch im Zeitalter digitaler Bilderzeugung spuken Vorstellungen über die Photographie durch literarische Texte, deren Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen. II.1. Roland Barthes: La chambre claire / Die helle Kammer, 1980 Roland Barthes hat die Pilotgeschichte einer ganzen Sequenz literarischer Erzählungen übers Photographieren geschrieben; er rekurriert in „La chambre claire“ dabei seinerseits auf ältere bildtheoretische Topoi, insbe23 In Werken der Gegenwartsliteratur wird bei der Modellierung der Photographie und des Kinos auch und gerade an ältere Konzepte und Topoi angeknüpft. In den Spuren früher Filmtheoretiker werden die Figuren und Ereignisse auf der Leinwand etwa als Bilder aus der Innenwelt interpretiert; die Film-Welt erscheint einerseits als ein Traumreich, andererseits aber auch als Modell für Kohärenzverlust und Kontingenzerfahrung, das Kino als ein Raum der Entdifferenzierung von Wirklichkeit und Scheinbildern – sei es, daß diese als Inbegriff lustvoller Erfüllung eines Begehrens dargestellt, sei es, daß sie zum Anlaß eines tragischen Scheiterns versuchter Orientierung und Selbstverständigung wird. 310

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sondere auf den von Konzepten des Phantomatischen geprägten Photodiskurs des 19. Jahrhunderts. Wenn er vom „spectrum“ der Photographie spricht, so ist ihm die assoziative Verknüpfung zum Bildfeld um Gespenster bewusst.24 Barthes erzählt, zugespitzt gesagt, von Phantomen und ihrer imaginativen Vergegenwärtigung, indem er am Leitfaden der Selbstbeobachtung über das Betrachten von Photographien reflektiert; nicht die Photographie an sich ist sein Thema, sondern die Wahrnehmungsmodi von Photos. (Insofern erübrigt sich die Frage, ob seine Thesen zur Photographie ‚richtig‘ sind.25) Motiviert ist sein Interesse an diesem Bildmedium durch die Auseinandersetzung mit dem Tod, insbesondere dem der eigenen Mutter. Barthes’ Modellierung zufolge ist die Beziehung des Bildes zum Abgebildeten bei Photos eine andere ist als bei Gemälden: Das Bild wird wahrgenommen als an einen Referenten gebunden, als dessen Emanation.26 Die Seinsweise dieses Referenten ist allerdings eine rein phantasmagorische.27 Stiegler betont zu Recht, dass

24 Was photographiert wird, die „Zielscheibe“, der „Referent“, „eine Art kleines Götzenbild“, möchte Barthes das „Spectrum“ nennen, da das Wort einen Konnotation der Unheimlichkeit mit sich führt, wie sie „jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr der Toten“ (Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Dt. v. Dietrich Leube. Frankfurt/M. 1989, S. 17. – Orig.: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980) 25 Barthes hat indirekt bestätigt, daß sein Text als literarischer zu lesen ist: Als Erzähler, so sagt er im Interview mit Guy Mandery, habe er sich „in die Lage eines naiven, nichtkulturellen und ein bißchen zivilisationsfremden Menschen [versetzt], der nicht aufhören kann, über die Fotografie zu staunen.“ (Roland Barthes: Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Mandery (1979). In: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Hg. Herta Wolf. Frankfurt/M. 2002, S. 82-88, hier: S. 85f.) 26 „Eine Photographie ist immer die Verlängerung dieser Geste; sie sagt: das da, genau das, dieses eine ists’s! und sonst nichts [...].“ (Barthes: Die helle Kammer, S. 12) Die Photographie lasse sich im ersten Moment nicht von ihrem Referenten unterscheiden. „Man könnte meinen, die Photographie habe ihren Referenten immer im Gefolge und beide seien zu der gleichen Unbeweglichkeit verurteilt [...]: sie sind aneinander gebunden [...]“ (Ebd., S. 13) Photos sind „[...] Zeichen, die nicht richtig abbinden, die gerinnen wie Milch“. (Ebd., S. 14) 27 Vgl. Hubertus von Amelunxen: Photographie und Literatur. In: Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Hg. Peter V. Zima. Darmstadt 1995, S. 209-231, hier: S. 213f. und S. 224. 311

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Roland Barthes bei seiner Modellierung der Photographie auf alchimistische Emanationsmodelle rekurriert.28 Über die Referenten photographischer Bilder zu sprechen, bedeutet über Phantome zu sprechen, die – wie Gespenster – aus der Abwesenheit zur Erscheinung kommen. Diese Perspektivierung bildet aber nicht das einzige Bindeglied zwischen dem Photographischen und dem Phantomatischen, das Barthes (re-)konstruiert: Wer sich photographieren lasse, so sein Argument, verwandle sich eben damit momentan in ein Phantom. Denn mit dem Photographiert-Werden löse sich die Erscheinung des Photographierten von diesem selbst und seinem Leben ab, gewinne im Medium des Photos eine eigenständige Existenz und erinnere auf doppelte und dabei zugleich paradoxe Weise an den Tod. Barthes unterstreicht, dass zum einen das aus dem Leben herausgetretene Bild selbst Produkt einer Mortifikation sei, dass es zum anderen voraussichtlich aber dauerhafter sein werde als das photographierte Objekt, dieses also gleichsam ‚überlebe‘ – der Blick auf ein Photo ist demnach der antizipatorische Blick in eine Zeit, da der Abgebildete nicht mehr leben wird. Photographierte sind Un-Tote; der Betrachter von Photos kommuniziert mit ihrer Sphäre – teils über mehrere Vermittlungsschritte. Der Blick in die Augen photographierter Gestalten ist zugleich Blick in Augen, die ihrerseits in imaginäre Räume blicken. Der zum Tode verurteilte Lewis Payne, dessen von Alexander Gardner angefertigtes Photoporträt Barthes in seinem Buch reproduzieren lässt, sieht im Moment der Abbildung dem Tod selbst ins Auge.29 Das Objekt des Begehrens in „La chambre claire“, die verstorbene Mutter, ist Inbegriff eines Referenten, der zwar in verschiedenen medialen Formen dargestellt werden kann, aber nicht im emphatischen Sinn zu re-präsentieren ist. Der Erzähler berichtet von der Betrachtung verschiedener Photos der Mutter in verschiedenen Lebensaltern; zunächst habe er sie nicht finden können. Doch schließlich sei ihm die Mutter in einem Photo aus ihrer Jugend erschienen. (Dass es sich um ein Photo handelt, welches die Mutter in einem Alter zeigt, da der Erzähler sie noch gar nicht kennen konnte, beweist, dass es mit Barthes’ Geschichte nicht etwa darum geht, ein vages Erinnerungsbild aufzufrischen; es geht ihm nicht um die Psychologie des Erinnerns, sondern sein Text kreist um das Konzept des ‚wahren‘ Bildes, der Manifestation eines Wesens in seinem Bild.) Obwohl nun Barthes’ Erzählung von vielen reproduzierten Photos begleitet wird, fehlt doch jenes Bild der Mutter, in dem der Erzähler „sie“ 28 „Der letzte Alchimist der Photographiegeschichte ist [...] Roland Barthes, dessen Emanationstheorie laut John Tagg aus dunkler Vorzeit stamme“ (Stiegler: Bilder der Photographie, S. 127) 29 Vgl. Barthes: Die helle Kammer, S. 107. 312

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nach ihrem Tod wiedergesehen haben will; dies wird im Text selbst auch ausdrücklich hervorgehoben. (Ersatzweise sehen wir das Bild einer von Nadar photographierten Frau, von der aber nicht einmal klar ist, ob es sich um dessen Mutter oder Frau handelt.30) Gerade das Fehlen des narrativ thematisierten, aber nicht gezeigten Photos verweist nun auf die Bedeutung der Erzählung selbst. Diese markiert die Leerstelle als solche und exponiert sich selbst als ein Verfahren indirekter Darstellung von Undarstellbarem. Photos können nicht zeigen, was sie nicht zeigen, aber Texte könne von dem sprechen, was die Photos nicht zeigen, das Unsichtbare indirekt markieren und so zu „Phantombildern“ werden.31 Das Phantomatische findet im Erzähltext einen Ort der indirekten Manifestation – indem dieser Erzähltext eine Spannung aufbaut: zwischen einem sprachlich evozierten Bild, in dem in Abwesendes sich angeblich ‚zeigt‘, und der Abwesenheit dieses Bildes. II.2 Hervé Guibert: „L’image fantôme“ / „Das Phantombild“, 1981 Der Titel der Textsammlung von Hervé Guibert zum Thema Photographie („L’image fantôme“), zugleich Titel einer einzelnen Geschichte, lässt mehrere Interpretationen zu.32 Erstens erinnert er an das Genre des Phantombildes, wie es bei polizeilichen Fahndungen eingesetzt wird. Solche Phantombilder dienen – worauf Guibert bewusst anspielen dürfte – der Suche nach abwesenden Personen. Sie entstehen nicht als Abbilder eines gegenwärtigen Urbildes, sondern in dessen Abwesenheit – auf der Grundlage oft verschwommener Erinnerungen von Zeugen an vergangene Eindrücke. Zweitens wird durch das Stichwort „fantôme“ an die Geisterphotographie erinnert: Unter einem Phantombild kann auch das Bild eines Phantoms verstanden werden. Phantombilder dienen in beiderlei Bedeutung der Visualisierung des Unsichtbaren. Drittens ließe sich das Kompositum aus Phantom und Bild auf ein Bild beziehen, das selbst ein Phantom ist bzw. phantomatisch im Sinne von imaginär geblieben ist. Schließlich ließe sich das Kompositum sogar im Sinne einer Gleichung lesen: ‚Ein Bild ist ein Phantom‘. Guiberts autobiographischer Text bewegt sich in den Spuren Barthes’. Erzählt wird von den Versuchen des 18jährigen, seine damals 45jährige Mutter zu photographieren. Darin dokumentierte sich ein ödipales Aufbegehren gegen den Vater, gegen dessen die Familien-Szene beherrschenden Blick und die hierdurch indu30 Vgl. ebd., S. 79. 31 Bilder können zwar auf Undarstellbares verweisen, aber nur, wenn die sie virtuell oder aktuell umgebenden Texte ihnen diese Funktion zuweisen. 32 Hervé Guibert: Phantombild. Leipzig. 1993, S. 12-18: „Das Phantombild“. – Orig.: L’image fantôme. Paris 1981. 313

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zierten Verfälschungen und Entstellungen des Bildes der Mutter. (Dass es ihm insgeheim darum geht, den Tod des Vaters zu inszenieren, indem er die Bild-Bühne von diesem befreit und selbst regiert, verschweigt der Erzähler nicht.) Zur Vorbereitung der Aufnahme wird Verdeckendes und Entstellendes beseitigt: die verhasste Dauerwelle und die falschen, an Rollenspiele gebundenen Kleider. Unter den Vorbereitungen entspannt sich die in Unterkleidung posierende Mutter, ihr ‚wahres‘ Gesicht kommt zum Vorschein, selbst die entstellenden Altersspuren verschwinden; der Photograph hält bei der Herrichtung seines Bild-Objekts Zeit und Alter für Momente an. Dabei ist ihm die Ambiguität einer solchen Aufhebung der Zeit bewusst: Sobald die Aufnahme gemacht ist und den photographierten Moment fixiert, wird die Alterung des Urbildes im Vergleich mit dem Photo nur umso deutlicher hervortreten und sich aus subjektiver Betrachterperspektive ‚beschleunigen‘. Durch den Sucher erblickt der Sohn die Mutter in einem epiphanischen Moment aufscheinender Schönheit. Doch sein Bild bleibt ein Phantom, denn die Kamera – signifikanterweise ein väterlicher Besitz – hat keine Aufnahme gemacht, vielleicht weil der Film nicht richtig eingelegt war. Jahre später, anlässlich des Abschieds der Eltern aus der Wohnung, soll der Sohn auf Geheiß des Vaters im selben Salon mit derselben Kamera noch einmal ein Bild der Mutter machen. Als er sie im Sucher erblickt, zeigt sie Empörung und Trauer, ähnelt aber ihrem früheren Bild. Der Sohn verzichtet auf eine Fixierung dieser Erscheinung. Hatte der Erzähler bei Barthes angeblich immerhin ein materielles Bild seines geliebten Phantoms gefunden, so konfiguriert sich dieses Bild bei Guibert nur augenblicksweise auf der Retina des Erzählers selbst. Im letzten Absatz wird Guiberts Text explizit selbstbezüglich: Er verfüge über keine Illustration, so betont er in Abwandlung des Bartheschen Arrangements von Text und Leerstelle, bloß unbelichtete Filme. Der Text selbst allerdings wäre nicht entstanden, wenn es das Photo gegeben hätte – und dieser Text wird nun seinerseits als Phantombild bezeichnet. Deutlicher als sein Vorbild, aber in Fortführung der poetologischen Thematik von „La chambre claire“, drückt Guiberts Erzählung aus, dass es ihr mit der Thematik von Darstellung und Undarstellbarkeit um eine reflexive Selbstvergewisserung geht. Guibert setzt gleichsam expliziter und ostentativer auf das Erzählen als indirekte Revokation von Abwesenden, indem er die Inexistenz des Bildes zum Grund des Erzählens erklärt. Dass sich gegenüber Barthes der Akzent stärker auf die narrative Darstellung als solche verlagert, wird dadurch bekräftigt, dass Guiberts Text nicht von Photos begleitet wird. Die bei Barthes von Bildern und Texten umgebene Leerstelle erzeugt hier der Text allein – um sich selbst als Medium zur Evokation abwesender Referenten ins Bild zu setzen.

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II.3 Thomas Bernhard: „Auslöschung. Ein Zerfall“, 1986 Thomas Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ ist ein intertextuelles Gewebe aus photoästhetischen Topoi, Metaphern und Diskursen. Inhaltlich nehmen die an die Betrachtung von Photos geknüpften Erinnerungen und Assoziationen breiten Raum ein; die Photos werden jedoch nicht gezeigt. Der Erzählermonolog betreibt gleichzeitig ihre Evokation und ihre Auslöschung – und diese steht für ein analoges Verfahren mit den photographisch dargestellten Personen selbst. Bernhards Ich-Erzähler erhält in Rom die Nachricht vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders, reist heim nach Österreich und nimmt auf dem Familienanwesen an der Beerdigung der Unfallopfer teil: Auf diese kurze Paraphrase lässt sich die äußere Handlung des umfangreichen Romans komprimieren, welche aber nur den Hintergrund für die Wortschwälle des Erzählers darstellt. Dieser versetzt sich erzählend in die Vergangenheit zurück und verleiht vor allem seinem Hass auf Eltern und Bruder wortreich Ausdruck – einem Hass, der letztlich der morbiden Welt als ganzer gilt. Wie Geistererscheinungen stellen die Photoporträts die Abgebildeten in verzerrter, verfremdeter Form dar; allerdings bedingt gerade ihre Verzerrung ihre Eindringlichkeit und ihre tiefere Wahrheit.33 Wie eine bewusst verzerrende Anspielung auf Barthes’ Erzählerbericht über die Erscheinung seiner toten Mutter in einem Jugendbildnis, aber auch wie ein Hinweis auf den subjektiven Gestus der „chambre claire“ liest sich die Reflexion des Bernhardschen Erzählers darüber, dass aus Photos in all ihren Verzerrungen „die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser sozusagen Abfotografierten“ zutage trete – und zwar genau dann, wenn der Betrachter sie mit subjektivem Blick betrachte.34 Der subjektive (in diesem Fall hasserfüllte) Blick erscheint als notwendiges Pendant zur scheinbaren Objektivität des Photos, als Kompensation photographischer Verzerrung, gleichsam

33 „Bei der Betrachtung von Fotografien hat es mich immer wie bei nichts sonst geekelt. Aber, sagte ich mir jetzt, so verzerrt die Eltern und mein Bruder auf diesen einzigen von mir gemachten Fotografien mit dem meinem Bruder gehörenden Fotoapparat sind, sie zeigen, je länger ich sie betrachte, hinter der Perversität und der Verzerrung doch die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser sozusagen Abfotografierten, weil ich mich nicht um die Fotos kümmere und die drauf Dargestellten nicht, wie sie das Foto in seiner gemeinen Verzerrung und Perversität zeigt, sehe, sondern wie ich sie sehe.“ (Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/M. 1986, S. 29f.) 34 Das dem Roman vorangestellte Motto von Montaigne verdeutlicht die Kernthematik: „Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist überall da.“ (Ebd., S. 5) 315

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als Rück. Verzerrung. (Der Hass des Bernhardschen Erzählers auf seine Mutter bildet übrigens die Liebe des Barthesschen Erzählers zur Mutter in einer Weise ab, die an die Beziehung von Negativ und Positiv in der Photographie erinnert.) Für den Erzählprozess selbst besitzen die Familienphotos, welche neben Mutter, Vater und Bruder auch die noch lebenden und nicht weniger gehassten Schwestern zeigen, katalysatorische Funktion.35 Seine Kommentierung der Photos wird für Bernhards Erzähler zu einer einzigen langen Meditation über den Tod. Was immer die Photos ihm deutlich oder auch nur andeutungsweise zeigen, sind Indikatoren des Todes; der Moment, den sie festgehalten haben, entstammt einem Leben, das zu Ende gegangen ist, und sie markieren selbst wie Un-Tote eine Grenze zwischen dem Einst und dem Jetzt. Implizit, aber durch Wiederholungen und Variationen dennoch nachdrücklich markiert, fließen bildmagische Vorstellungen in den Erzählermonolog ein, Anspielungen auf die Macht, welche Bilder über Abgebildete aber auch auf den Betrachter ausüben, auf die evokatorischen Potenziale von Abbildungen, die den Abgebildeten eine beklemmende Scheinpräsenz verleihen. Einen lebendigen Menschen zu photographieren, bedeutet, ihn in ein Phantom seiner selbst zu verwandeln: Dieser phototheoretische Topos wird von Bernhards Erzähler aufgegriffen und erklärt die Signifikanz des Motivs Photographie für die Geschichte eines Familien-Hassers. Der Moment, in dem er seinerzeit – abweichend von seinen sonstigen Gewohnheiten – Eltern und Bruder photographiert hat, erweist sich im Rückblick als der einer rituellen Ermordung. Die photographische Mortifikation der Angehörigen zielte auf ihre „Auslöschung“. Es ist insofern nur konsequent, dass der Erzähler seine Angehörigen nur einmal photographiert hat, denn man kann jemanden ja auch nur einmal töten. Verständlich wird auch, warum der Bruder die Aufnahme von sich seinerzeit zerriss. Verständlich wird aber vor allem, warum der Erzähler von den Photos so fasziniert und zugleich so beklemmt ist: Sie sind die gespenstischen Revenants, die ihn an die symbolische Tötung der eigenen Familie 35 Nicht nur, daß sich der Erzähler angesichts der Bilder insofern mit Phantomen konfrontiert sieht, als sie ihm die Vergangenheit in Erinnerung rufen. Aus der doppelten Perspektive dessen betrachtet, den die Photos in die Vergangenheit zurückversetzten und der doch zugleich Bescheid weiß über das, was später folgte (u.a. der Unfall), wirken die Photos zugleich beklemmend und grotesk: Sie sind Bilder von Lebenden, die Bilder von Toten sind. Die Beobachtung des Bildbetrachters, daß auf einem Bild aus dem Jahr 1960 der zu lange Hals seiner Mutter unvorteilhaft sichtbar wird, gewinnt ihren makabren Hintersinn auf der Folie des Wissens darum, daß sie bei dem Jahrzehnte späteren tödlichen Autounfall enthauptet wurde. 316

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erinnern. Die Untoten sind als Bilder von anhaltender Präsenz. Es bedürfte einer anderen Auslöschung, und der Erzählermonolog ist deutbar als ein sprachliches Ritual, mit welchem diese endgültige Auslöschung vollzogen werden soll. Sein direktes Gegenüber sind die Phantom-Bilder; diese sollen ausgelöscht werden. Es geht also – in konkretem wie im übertragenen Sinn anlässlich der Bilder – um einen sprachlichperformativen Akt.36 Bernhards Roman ist dessen Selbstdarstellung. Die verbale Beschwörung der Phantom-Bilder erscheint als ein insgesamt ambiger Vorgang, entsprechend dem Doppelsinn von „Beschwörung“ im Sinn von Evokation und Bannung. Der rituelle Charakter des sprachlichen Geschehens motiviert die vielen Redundanzen: Mit der Nennung von Gegenständen und Personen ist es nicht getan, das Wort muss durch Wiederholungen seine magische Kraft entfalten. Das von den betrachteten Photos ausgelöste Ritual des Erzählers gilt übrigens nicht allein den Phantomen der Toten, sondern auch denen seiner noch lebenden, für ihn aber nicht minder gespenstischen, scheinlebendigen und hassenswerten Schwestern. In den Passagen, die diesen Schwestern gelten, werden auf rituelle Weise die „spöttischen Gesichter“ der Schwestern beschworen; die durch unzählige Wiederholungen charakterisierten Passagen lassen die Prosa in eine eigentümlich ‚gebundene Rede übergehen.37

36 Aus der Perspektive dieser Bannungs-Idee gelesen, ist „Auslöschung“ ein Roman über das Erzählen als ritueller Kampf gegen die Untoten der Erinnerung und ihre Memento-Mori-Botschaft – und der Titel Hinweis auf die Absicht, die photographisch erzeugten phantomatischen Erscheinungen in einem performativen narrativen Akt zum Verschwinden zu bringen. Über den eigenen Bericht sagt der Erzähler: „Das einzige, das ich schon endgültig im Kopf habe, [...] ist der Titel ‘Auslöschung’, denn mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Woflsegg ist, alles [...]. Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen, auslöschen.“ (Bernhard: Auslöschung, 199) – „[...] Auslöschung werde ich diesen Bericht nennen, hatte ich zu Gambetti gesagt, denn ich lösche in diesem Bericht tatsächlich alles aus, alles, das ich in diesem Bericht aufschreibe, wird ausgelöscht, meine ganze Familie wird in ihm ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht, Wolfsegg wird ausgelöscht in meinem Bericht auf meine Weise [...].“ (Bernhard: Auslöschung, S. 201) 37 „Die spöttischen Gesichter meiner Schwestern auf dem Foto, das sie in Cannes zeigt, sind meine Schwestern, ich sehe sie immer nur als diese spöttischen Gesichter, die sie haben, gleich wann und wo und in welchem 317

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Analog zur ambigen Bannung der Photographierten ins Photo wiederholt sich die Ambiguität solcher Bannung ins Wort: Der monologische Text deklariert Wolfsegg und seine Familie so nachdrücklich, wiederholend und beschwörend zu morbiden Phantomen, dass er sie einerseits auf suggestive Weise tatsächlich ins Jenseits schickt. Andererseits verhilft der Erzählermonolog seiner Wiederholungsstruktur den (für den Leser unsichtbaren) Bildern samt den Abgebildeten gerade zu einer nachdrücklichen Präsenz. Dass dies geschieht, ohne dass wir auch nur ein Bild sehen, signalisiert die Macht des Textes über das Unsichtbare. Aus Hass auf die photographierten Untoten entstanden, wird der – als Dokument der Erinnerung an Toten – paradoxerweise zu deren Komplizen. Und dies, weil er den von Barthes (und Guibert) verwendeten Kunstgriff des ausgesparten, vom Text umkreisten Bildes aufgreift und auf die Spitze treibt. Als narratives Experiment ist der Text auf eine unauflösbare Weise ambig. Einerseits beansprucht er für sich eine vor allem auf dem Gestus der Wiederholung beruhende beschwörende Kraft; er will Monolog in dem Sinne sein, dass der Erzähler alles auslöscht, was er hasst, um zuletzt mit sich und seinen Worten allein zu sein. Aber so wie die Betrachtung von Photos laut Barthes die Suggestion der Emanation eines Referenten mit sich führt, wie der Referent „haften“ bleibt, so bleiben auch an der Hasstirade des Bernhardschen Erzählers die Referenten haften. Seiner Sprache gelingt es nicht, sich von ihren Gegenständen zu lösen; es gelingt ihr nicht, autonom zu werden. Bernhards Roman ist ein Text über Sprache in ihrer paradoxalen Eigenschaft als Medium der Evokation und der Auslöschung. II.4 Marcel Beyer: „Spione“, 2000 Thema des Romans „Spione“ von Marcel Beyer ist der phantasmagorische Charakter sozialer, insbesondere familiärer Beziehungen und in Zusammenhang damit der Konstruktcharakter von Geschichte. Imaginäre Figuren, Beziehungen und Gegebenheiten erweisen sich als ebenso ‚wirklich‘ wie dokumentarisch bezeugte – und umgekehrt lösen sich die dokumentarischen Zeugnisse der Vergangenheit in ihre hypothetischen Interpretationen auf. Erzählt wird von vier Jugendlichen, die gemeinsam Familienphotos betrachten. Das Album wirkt unvollständig; manche Bilder scheinen entfernt worden zu sein, die verbliebenen sind vergilbt, unscharf und vieldeutig. Diese Defizite des Familienalbums stimulieren nun gerade zum Erzählen – zur hypothetischen Rekonstruktion der Familiengeschichte in Varianten. Dabei erstehen im Medium der Erzählung die Verhältnis zu ihnen ich sie sehe, ich sehe immer nur ihre spöttischen Gesichter [...]“ (Ebd., S. 240; vgl. insgesamt S. 240-244) 318

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Mitglieder der Familie als Protagonisten möglicher Geschichten auf, insbesondere die Angehörigen der Großelterngeneration: ein Großvater, der als Soldat der Luftwaffe vielleicht an den Luftangriffen auf Guernica beteiligt war und von dem nicht ganz klar wird, ob er vielleicht auf gespenstische Weise in Gestalt eines mysteriösen sogenannten „Taubenmannes“ weiterlebt, eine Großmutter, deren Bilder im Familienalbum fehlen und über deren Schicksal der Schleier eines Geheimnisses liegt, schließlich die zweite Frau des Großvaters, die scheinbar erzwungen hat, dass alle möglichen Zeugnisse der Vergangenheit getilgt wurden, dabei aber die Phantome der Erinnerung niemals losgeworden ist und selbst als ein Phantom in den Imaginationen (und mittlerweile in den Erinnerungen) ihrer Stiefenkel herumspukt. Topische Versatzstücke aus dem Geisterglauben spielen in die erzählerische Darstellung von Großmutter, Großvater und Stiefgroßmutter immer wieder hinein. Gerade das Getilgte, Verschwundene, Verdrängte, niemals Fixierte ist von einer Präsenz, die als gespenstisch empfunden wird.38 Zumal der Blick auf Leerstellen in Photos und Lücken in Photoalben entdeckt diese halluzinatorische Präsenz; der Betrachter selbst wird von unsichtbaren Augen angeblickt.39 Die interessanteste und zugleich ungreifbarste Gestalt ist die Großmutter. Sie nimmt in ihrer Abwesenheit – einer Abwesenheit, welche durch den Verlust oder die Nichtexistenz von photographischen Aufnahmen noch bekräftigt wird – eine ähnlich zentrale Rolle ein wie die Mutter bei Barthes. Im Raum der erzählten oder angedeuteten Geschichten gibt es keine Trennlinie zwischen dem Faktischen und dem Imaginären, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigkeit. Offen ist auch die Grenze zwischen unsichtbaren und sichtbaren Bildern. Denn die Erzählung selbst erweist

38 „Ich weiß, wie hartnäckig erfundene Bilder sein können, sie legen sich über einen Anblick, und während man sie anfangs noch wie einen Schleier wahrnehmen mag, der leicht zu lüften wäre, haben sie sich schon festgesetzt, sind ins geschehene eingedrungen, haften dort wie eine tiefere Schicht. Manchmal ist es, als lenkten Geister meinen Blick, als würde ich von einer geheimen Kraft dazu gezwungen, in einem Menschen, einer Landschaft etwas zu erblicken, das nicht der Wirklichkeit entspricht.“ (Marcel Beyer: Spione. Roman. Frankfurt/M., 2. Aufl. 2002, S. 185f.) 39 „Man mag die Lupe nehmen, es nützt nichts, man kann sich nie endgültig sicher sein, daß die Figur getilgt ist. Von dieser Opernsängerin dürfen keine Spuren bleiben. Die Photographie ist leer, trotzdem aber ist noch etwas geblieben, dieser beunruhigende Blick läßt sich einfach nicht abschütteln. Er ist an allem ablesbar, er hat die Schatten und den Baum berührt, er liegt, die Italieneraugen sind schon lange fort, noch immer auf dem Betrachter.“ (Ebd., S. 41) 319

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sich als ein Medium zur Substitution fehlender Bilder. Im IchErzählerbericht des Protagonisten mischen diese sich unter den Bericht über das, was er ‚wirklich‘ sieht und weiß – so wie sich die Gespenster der abwesenden Familienmitglieder in die Sphäre der Lebenden hineindrängen. Das Erzählen bespiegelt sich in Beyers Roman auf modellhafte Weise: Es findet zunächst statt anlässlich von Photos, die die Imagination zur Erfindung von Geschichten, von Zusammenhängen, von Figuren stimulieren. Das auf den betrachteten Photos Sichtbare interessiert hauptsächlich in seinem Verweisungscharakter: als Hinweis auf Unsichtbares, als Indiz, als Schwelle ins Imaginäre. Noch überboten wird dieses Erzählen von Geschichten zu sichtbaren Photos durch Erzählungen über jene imaginären Photos, die in die Lücken eines unvollständigen Photoalbums hineinhalluziniert werden. Ins Imaginäre führen auch die Blicke in die Augen abgebildeter Personen, die ja auf unsichtbare Wirklichkeiten gerichtet sind. Das Motiv der Geisterphotographien unterstreicht die Thematik halluzinatorischer Präsenz. Von ihnen ist in hypothetischer Form die Rede, in inkompatiblen Teilerzählungen. Der Erzählerbericht selbst liefert von der erzählten Geschichte anlässlich des Themas „Geisterphotographie“ also ein programmatisch unscharfes Bild.40 Unscharfe und vereinzelte Momentaufnahmen bieten die Lücken, in denen sich Geschichten entfalten können. Worte, nicht die Photos an sich selbst, lassen die Phantome der Abwesenden lebendig werden. Diese begleiten den Ich-Erzähler bis ins Erwachsenenalter. Worte haben aber auch das Potenzial, diese Phantome wieder zu bannen. Der bildersüchtige Erzähler empfindet allerdings Wi40 Vgl. exemplarisch ebd., S. 294-296. – Aus der vom Erzähler imaginierten (!) Sicht der „Alten“ heißt es: „Bald nach seiner Pensionierung hat ihr Mann wieder mit dem Photographieren angefangen. Vielleicht hatte er einfach das Bedürfnis, sich von seiner Toten abzulenken, die er nachts nicht mehr vor dem Fenster sehen konnte. Anders kann sie sich das kaum erklären, denn es gibt hier doch nichts, das zu photographieren lohnt, sie bekommen keinen Besuch, fahren auch nicht in Urlaub. Im Grunde verschwendet ihr Mann bloß Filme, sie möchte gar nicht sehen, was er für Bilder macht, womit er seine Alben füllen will. Er geht durchs Haus und knipst immer wieder dieselben Ecken, die Blumen auf der Fensterbank, die Küche, richtet seine Kamera auf die Polstergarnitur. / Die Filme kommen vom Entwickeln, es müssen unzählige Aufnahmen von ihrem Sessel sein, einmal sitzt sie darin, einmal ist er leer, aber ansonsten sind die Bilder doch wahrscheinlich fast identisch. Als sähe ihr Mann Dinge, die nicht vorhanden sind. Als würde er getrieben, etwas Unsichtbares einzufangen, als wäre er auf der Suche nach Geistern. [...] Vielleicht läuft er sogar bei Nacht mit seiner Kamera durchs Haus, um Bilder von der völligen Dunkelheit zu machen.“ (Ebd., 217f.) 320

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derstand gegen die einschlägigen Mahnungen seines Cousins Carl.41 Dessen Rat, die einst mit dem Photoalbum verknüpften Spekulationen über die verschwundene Großmutter endlich aufzugeben, erzeugt nicht den intendierten Effekt. Dass viele Bilder aus der Vergangenheit verschwunden sind oder vernichtet wurden, macht dem Erzähler nichts mehr aus, nachdem ihm die Macht der Worte bewusst geworden ist. „Wir haben die Macht der Worte unterschätzt“.42 Sein „Blick auf die Großmutter“ sei nun unverdeckt, so meint er.43 Und er beginnt, mit Mikroerzählungen zu experimentieren, die um eine Frau (hier die Großmutter) kreisen. Dieses narrative Experiment zielt keineswegs eindeutig im Sinne des besonnenen Carl auf eine Bannung der Phantome aus der Sphäre des Imaginären ab – eher auf einen Versuch, als Erzähler die evokative Macht der Sprache zu nutzen, um die nichtrekonstruierbare Vergangenheit durch eine fingierte Gegenwart zu ersetzen. Die Erprobung diverser erzählerischer Darstellungsstrategien leitet über zur imaginären Begegnung mit der Großmutter in Rom – einer Begegnung, die ausschließlich im Medium der Erzählung stattfindet. Vordergründig eine Geschichte über die magisch-evokativen Effekte sichtbarer und gedachter Photographien, ist Beyers Roman subkutan eine autoreflexive Geschichte über die Macht der Wörter, die über die Bilder gebieten (um Bild-Lücken zu füllen, um Bildern hypothetische Bedeutungen zuzuweisen) und über alles, was in

41 Den Kontext bildet der Bericht des erwachsenen Ich-Erzählers aus Stockholm, der dort von seinem Cousin Carl besucht und zur Abkehr von den Bild-Phantasien der Kinderzeit ermahnt worden ist – mit der Drohung, er werde sich an das Erinnerungs-Erfindungsspiel verlieren, wenn er nicht damit aufhöre. Carl ruft dem Erzähler in Erinnerung, daß ihre gemeinsamen Vorstellungen von der verschwundenen Großmutter Erfindungen waren – sprachliche Fiktionen, produziert, um andere zu beeindrucken: „Eine berühmte Opernsängerin, die heute in Italien lebt: Meine Schwestern und ich hatten dies nur erfunden, damit die Nachbarskinder uns in Frieden ließen, wie hätten wir damals ahnen sollen, daß es dich so beschäftigen würde. Wir haben die Macht der Worte unterschätzt, vielleicht waren wir noch nicht alt genug, um zu begreifen, wie vorsichtig man mit Worten umgehen muß. Und du warst vielleicht noch zu jung, um die erfundene Geschichte einfach Erfindung bleiben zu lassen, die irgendwann ganz von allein ihre Bedeutung verliert, weil sie durch andere Erfindungen ersetzt wird. / [...] Du hast dich dieser Geschichte ausgeliefert, bis selbst eine Figur darin geworden, Und irgendwann wirst du vielleicht auf die Idee kommen, es gebe keine Toten in unserer Familie, [...] weil dir unsere Großmutter so lebendig erscheint wie du selbst.“ (Ebd., S. 251) 42 Ebd., S. 272. 43 Ebd., S. 273. 321

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der Gegenwart wie in der Vergangenheit Gegenstand wirklicher oder möglicher Bilder ist. II.5 W. G. Sebald: „Austerlitz“, 2001 Den Vorgang der Entwicklung von Photos im Labor metaphorisiert Sebald ähnlich explizit wie Blumenberg, aber unter anderem Akzent: Für ihn ist das Auftauchen und Verschwinden der Bildkonturen Metapher des Erinnerns.44 Ohne Entwicklerbad bleiben die Bilder unsichtbar, doch zu lange entwickelte Bilder verlieren ihre Konturen wieder; Erinnerungsbilder entstehen also unter temporalem Aspekt auf einem schmalen Grat. Als Metapher des Erinnerungsprozesses ist die Photo-Entwicklung natürlich hier zugleich Analogin des literarischen Textes selbst. Besonders in den Bann gezogen hat mich bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht, genau wie Erinnerungen, sagte Austerlitz, die ja auch inmitten der Nacht in uns auftauchen und die sich dem, der sie festhalten will, so schnell wieder verdunkeln, nicht anders als ein photographischer Abzug, den man zu lang im Entwicklungsbad liegenlässt.“45

„Austerlitz“ ist wie andere Sebaldsche Erzählungen auch eine Komposition aus Text und Bildern. Der Ich-Erzähler Sebald stellt, eingebettet in den Bericht über eigene Reiseerinnerungen, die Geschichte des Jacques Austerlitz dar, der als Kleinkind aus dem besetzen Prag nach London verschickt wurde, weil seine Eltern Juden waren und er in Sicherheit gebracht werden sollte. Austerlitz erzählt dem Ich-Erzähler in mehreren Etappen, was dieser dann wiedergibt: Während Austerlitz’ Eltern an unterschiedlichen Orten umkamen, wuchs der Junge, lange in Unkenntnis seiner Vorgeschichte als Ziehsohn in einem walisischen Predigerhaushalt auf; am Ende der Schullaufbahn erfuhr er seinen wahren Namen; sein Verhältnis zur Welt ist durch das Trauma der verlorenen Identität nachhaltig geprägt. Erst als alternder Mann bemüht er sich, durch einen Zufall auf die richtige Spur geraten, (erfolgreich) um die Feststellung der Identität seiner Eltern, erkennt Prag als Kindheitsort wieder und versucht in diesem Zusammenhang seiner ‚archäologischen‘ Bemühungen, sich ein Bild von den Schauplätzen der Deportation seiner Mutter zu machen. Er 44 Heiner Boehncke hat auf die Berührungspunkte zu Barthes aufmerksam gemacht. In: Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder. In: Text + Kritik: W.G. Sebald. Hg. Heinz L. Arnold. München 2003, S. 43-62, hier: S. 54-57. 45 Winfried Georg Sebald: Austerlitz. München/Wien, 2. Aufl. 2003, S. 117. 322

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besucht Terezin (Theresienstadt) und beschafft sich zeitgenössische Filmaufnahmen des Theresienstädter Ghettos. Von einem deutschen Propagandafilm, der sich in einem Archiv erhalten haben soll und der eine gänzlich verzerrende Verharmlosung der Theresienstädter Zustände betreibt, verspricht er sich Bildaufnahmen, die ihm die verlorene Mutter Agáta zeigen. Immerzu dachte ich, wenn nur der Film wieder auftauchte, so würde ich vielleicht sehen oder erahnen können, wie es in Wirklichkeit war, und einmal ums andere malte ich mir aus, daß ich Agáta, eine im Vergleich zu mir junge Frau, ohne jeden Zweifel erkannte. etwa unter den Gästen vor dem falschen Kaffeehaus [...] oder als Olympia in dem Bühnenspiel ‚Hoffmanns Erzählungen‘, das, wie Adler berichtet, während der Verschönerungsaktion in Theresienstadt zur Aufführung gebracht worden ist. Auch bildete ich mir ein, sagte Austerlitz, sie auf der Gasse zu sehen in einem Sommerkleid und einem leichten Gabardinemantel: allein in einer Gruppe von Ghettobewohnern hielt sie genau auf mich zu und kam Schritt für Schritt näher, bis sie zuletzt, wie ich zu spüren meinte, aus dem Film herausgetreten und in mich übergegangen war.“46

Der Perspektivenwechsel im Verlauf dieses Erzählerberichts ist programmatisch: Zuerst kennt Austerlitz den Film nur aus verbalen Darstellungen, und zudem handelt es sich ja um einen die Lebensverhältnisse im Ghetto verzerrend darstellenden Propagandafilm, in dem zudem Bilder einer angebliche Theateraufführung erwartet werden – aber aus diesen doppelten und dreifachen Repräsentationen ersteigt in den Imaginationen des Erzählers die Mutter selbst und verschmilzt mit ihm. Als er endlich eine Kopie des Films mit dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ erhält, verhindert die Schnelligkeit der Abfolge der Filmbilder, dass der Betrachter die dargestellten vergangenen Szenen wirklich sehen kann. Die Bilder enteilen, bevor er wirklich sehen könnte, was sie alles darstellen.47 Die Bilder vergehen immer schon im „Aufscheinen“.48 Er lässt deshalb eine Zeitlupenkopie des Films anfertigen und diese technische Manipulation macht ihm vieles zuvor Übersehenes sichtbar. Der Hinweis auf die Geschwindigkeit konventioneller Filme und auf die durch Verlangsamung bewirkte Sichtbarmachung von zuvor Unsichtbarem gilt zunächst und vordergründig einem technisch und wahrneh46 Ebd., S. 350. 47 „[...] nichts von all diesen Bildern ging mir zunächst in den Kopf, sondern sie flimmerten mir bloß vor den Augen in einer Art von kontinuierlicher Irritation [...].“ (Ebd., S. 352) 48 Ebd. 323

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mungsphysiologisch bedingten Umstand: Wo der Betrachterblick quantitativ und qualitativ von einem Film überfordert wird, sieht er notgedrungen selektiv. Dies – und auch die Kompensation des Defizits durch die Zeitlupenkopie – ist zugleich aber ein Sinnbild des ‚Blicks‘ in die Vergangenheit. Auch dieser ist (immer) selektiv und erfasst nie Urbilder, sondern stets nur Repräsentationen. Aber es hängt von den medialen Zurüstungen ab, wieviel sichtbar wird (und was sichtbar wird); wo sich der Blick auf zuvor Übersehenes richten kann, enthüllen sich zuvor unzugängliche Segmente verlorener Zeit. Wie alles Dargestellte ist auch das Nichtdargestellte etwas Relatives, Bedingtes; es in Darstellungen zu überführen ist möglich – durch Erinnerungsanstrengungen, deren Metapher die Zeitlupenkopie ist. Weist schon der erinnernde (im Filmbetrachten reflektierte) Blick in die Vergangenheit Analogien zur Beschwörung von Geistern auf, so ist diese Analogie noch stärker, wenn dabei etwas zuvor Übersehenes und insofern „Unsichtbares“ in den Blick rückt. Sebalds Erzähler (der selbst ja einen bericht Austerlitz’ wiedergibt) beschreibt die FilmbildErscheinungen in einer Weise, die gespenstische Manifestationen assoziieren lässt. Erinnerung erscheint als ein Revokationsprozess, bei dem auch und gerade unsichtbare, vergessene Bilder wiederkehren – allerdings in unscharfer Form.49 Erinnerung als solche spiegelt sich in einem evokativen Darstellungsprozess, der zugleich verfälscht und (dadurch) Wahres zutage fördert. Der Preis für das weitere Vordringen des Blicks ins zuvor Unsichtbare ist allerdings, dass die neuerlich gewonnenen Bilder sich teilweise von innen heraus zersetzen. Neue Unsichtbarkeitsstellen machen sich geltend. Übertragen auf den metaphorisch bespiegelten Erinnerungsprozess als eine Evokation von Bildern aus der Vergangenheit heißt dies, dass jeder Zugewinn neuer Erinnerungsbilder mit neuen Unschärfen und Unterbrechungen erkauft werden muss.50

49 In einem Interview hat sich Sebald zu Fragen geäußert, welche seine Beziehung zur Photographie und zum Film sowie deren Funktion für seine Werke betreffen. Auf die Frage, warum er sich nicht um gutes Filmmaterial bemühe, antwortet er: „Ich will [...] nicht Bilder von hoher photographischer Qualität in die Texte einbauen, sondern es sind einfach Dokumente von Fundstücken, etwas Sekundäres. Es ist eigentlich ganz schön, wenn dieses Undeutliche irgendwie in die Bilder eingeht.“ Ferner verortet er die Photographie im Übergangsbereich von Leben und Tod. (Winfried Georg Sebald: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Über W.G. Sebald. Ein Gespräch über Literatur und Photographie, [mit Christian Scholz]. (Abruf: 2. 4. 2007) 50 Vgl. Sebald: Austerlitz, S. 354f. 324

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Wie bei Barthes zentriert sich auch bei Austerlitz – der bei Sebald selbst eine Figur innerhalb eines Erzählerberichts ist – die Erzählung um die Suche nach einem Bild der toten Mutter, die sich in mehreren Phasen abspielt.51 Gegen Ende des Films werden Szenen von der Erstaufführung eines in Theresienstadt komponierten Musikstücks gezeigt. Neben einem – vermutlich eigens für den Propagandafilm hergerichteten – Zuschauerraum werden auch die Gesichter einzelner Zuhörer in Nahaufnahmen ins Bild gerückt. Beim Anschauen der Zeitlupenversion entdeckt der Austerlitz hinter dem Bild eines alten Mannes das von (später hinzugefügten) Digitalziffern partiell verdeckte und zunächst übersehene Gesicht einer jungen Frau, „fast ununterschieden von dem schwarzen Schatten, der es umgibt“52 – und er versucht, die verlorene Mutter zu beschwören.53 Zwar ist das durch die komplexen technisch-medialen Zurüstungen wieder zum Erscheinen gebrachte Gesicht dann doch nicht das der Mutter, wie Austerlitz von einer in Prag noch lebenden Freundin Agátas erfährt, doch immerhin handelt es sich um die visuelle Manifestation einer Toten – um eine aus dem Dunkel nur vage heraustretenden, geisterhafte, von den Zeichen der Zeit auf deutungsträchtige Weise verdeckte Erscheinung. Im Prager Theaterarchiv dann sichtet Austerlitz die Bestände aus den Jahren 1938 und 1939 und entdeckt „die unbeschriftete Photographie einer Schauspielerin [...], die mit meiner verdunkelten Erinnerung an die Mutter übereinzustimmen schien“, und die Freundin der Mutter erkennt darin, „zweifelsfrei“ die Gesuchte, „so wie sie damals gewesen war“.54 Hatte das Medium Film mit seinen unterschiedlichen Geschwindigkeiten eine Metapher für den Erinnerungsprozess als eine Suche nach verlorenen, aus dem Unsichtbaren (dem Blick entzogenen) sichtbaren Bildern geboten, so wird das Photo also zur Repräsentation des Verlorenen – zum wahren Bild. Obwohl eine auffällige Parallele zu jenem Moment besteht,

51 Der Erzählerbericht selbst steht, abgestimmt auf seinen Gegenstand und sein Thema, im Zeichen der Wiederholung und der durch Wiederholungen suggerierten Verlangsamung von Zeitabläufen. 52 Ebd., S. 358. 53 „Gerade so wie ich nach meinen schwachen Erinnerungen und den wenigen übrigen Anhaltspunkten, die ich heute habe, die Schauspielerin Agáta mir vorstellte, gerade so, denke ich, sieht sie aus, und ich schaue wieder und wieder in dieses mir gleichermaßen fremde und vertraute Gesicht, sagte Austerlitz, lasse das Band zurücklaufen, Mal für Mal, und sehe den Zeitanzeiger in der oberen linken Ecke des Bildschirms, die Zahlen, die einen Teil ihrer Stirn verdecken, die Minuten und die Sekunden, von 10:53 bis 10:57, und die Hundertstelsekunden, die sich davondrehen, so geschwind, daß man sie nicht entziffern und festhalten kann.“ (Ebd., S. 358f.) 54 Ebd., S. 360f. 325

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in dem der Erzähler in Roland Barthes „chambre claire“ unter allerlei Hinterlassenschaften ein Bild der Mutter findet, auf dem er sie wiedererkennt, sind doch auch signifikante Unterschiede zu registrieren. Bei Sebald ist des die Freundin mit dem bemerkenswerten Namen Vera, welche das Photo als Porträt der Mutter identifiziert, während sie den Screenshot von der jungen Frau aus Theresienstadt kopfschüttelnd beiseitelegt; die Erinnerungsbilder in Austerlitz’ eigenem Kopf sind so unscharf, dass sie sich offenbar mit verschiedenen konkreten Bildern zur Deckung bringen lassen – und damit unzuverlässig. Dafür wird, anders als bei Barthes, das Bild der Mutter gezeigt, und seine Bildqualität ist Bestandteil des ästhetischen Arrangements: auch dieses Gesicht löst sich, wenngleich mit prägnanten Konturen, aus dem Dunkel, hat etwas von einer „Erscheinung“. Auch der verlorene Vater wird gesucht, ausgehend von Paris, seinem letzten bekannten Aufenthaltsort. Die Betrachtung des gegenwärtigen Paris wird dem Erzähler dabei zum Blick in die Vergangenheit – eine Vergangenheit, deren Bilder er aus dokumentarischen Filmaufnahmen bezieht, und welche die Gegenwart in seiner Wahrnehmung durchdringt, so dass der Raum der Pariser Straßen zugleich von Gegenwart und Vergangenheit erfüllt ist. Diese halluzinatorische Wahrnehmung einer medial konstituierten Vergangenheit geht für ihn die die halluzinatorische, durch kein materielles Bild gestützte Wahrnehmung des Vaters über. Wie schon der Bericht über die Filmbilder aus Theresienstadt, aus denen Austerlitz die Mutter entgegenzutreten schien, ist auch der parallele Bericht über die halluzinatorische Wahrnehmung des Vaters angelegt: Berichtet wird, als habe die Manifestation wirklich stattgefunden, als sei dieser wirklich erschienen. (Die Ausgangssituationen sind einander zumindest sehr ähnlich: Betrachtete Austerlitz auf der Suche nach der Mutter einen Film, so betrachtet er auf der Suchen nach dem Vater eine Stadtszenerie, deren Wahrnehmung von der Erinnerung an Filme überlagert wird.)55 Sein Erzählerbericht über die halluzinatorischen Erinnerungen an den verlorenen

55 „Ich glaubte manchmal [so berichtet der Erzähler aus einem sommerlichen Paris Jahrzehnte nach Kriegsende, aber unter Anspielung auf Filme aus dem besetzten Paris der 1941, welche deutsche Razzien auf Juden darstellen Anm. der Verf.], die fensterlosen Polizeiwagen durch die vor Schreck erstarrte Stadt rasen zu sehen und die zusammengefangene [...] Menschenmenge und die Transportzüge, mit denen man sie bald darauf von Drancy und Bobigny aus verschickte; sah Bilder von ihrer Reise durch das Großdeutsche Reich, sah den Vater, immer in seinem schönen Anzug und [mit] dem schwarzen Velourshut auf dem Kopf, aufrecht und ruhig, unter all diesen angstvollen Leuten. [...] es war mir, [...] als sei der Vater nach wie vor in Paris und warte gewissermaßen nur auf eine gute Gelegenheit, um sich zeigen zu können.“ (Ebd., S. 366f.) 326

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Vater werden Austerlitz zum Anlass einer grundsätzlichen Bemerkung über die Zeit: Es gebe „Orte [...], die eher zur Vergangenheit als in die Gegenwart gehören“, so meint er, an denen das Vergangene und das Gegenwärtige einander treffen, die noch Lebenden ihre Gespenster.56 Ein Photo des Vaters findet sich übrigens nicht – darf es doch auch der Logik jüdischer Bildtheologie zufolge, vom „Vater“ kein Photo geben –, dafür allerdings mehrere, die zu ihm in Beziehung stehen. Ambig ist die Beziehung zwischen Text und Bildern, und im Zusammenspiel mit den Bildern inszeniert der Text seine Ambiguität gleichsam ostentativ. Einerseits übernimmt er die Rolle des Statthalters unauffindbarer oder inexistenter Bilder; vom Vater kann, auch wenn es kein Bild wird, doch erzählt werden. Und er macht an gegenwärtigen Bildern auch das sichtbar, was sich wegen deren Unschärfe dem Blick zu entziehen sucht. Andererseits bietet auch die Sprache des Erzählers nur Repräsentationen, die kein Äquivalent der verlorenen Wirklichkeit sind. Die mehrfachen Vermittlungsschritte, durch welche aus einer lebendigen Frau eine Filmszene, aus dieser ein Zeitlupenfilm, aus diesem ein Screenshot und aus diesem eine Abbildung in einem Buch wird, korrespondiert den 56 „Wenn ich beispielsweise irgendwo auf meinen Wegen durch die Stadt in einen jener stillen Höfe hineinblicke, in denen sich über Jahrzehnte nichts verändert hat, spüre ich beinah körperlich, wie sich die Strömung der zeit im Gravitationsfeld der vergessenen Dinge verlangsamt. Alle Momente unseres Lebens scheinen mir dann in einem einzigen Raum beisammen, ganz als existierten die zukünftigen Ereignisse bereits und harrten nur darauf, daß wir uns endlich in ihnen einfinden, so wie wir uns, einer einmal angenommenen Einladung folgend, zu einer bestimmten Stunde einfinden in einem bestimmten Haus. Und wäre es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, daß wir auch in der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die, quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?“ (Ebd., S. 367). Auf dem Friedhof von Montparnasse, angesichts von Grabstätten und Gedenktafeln jüdischer Bewohner von Paris, fühlt sich Austerlitz, obwohl er über seine eigene jüdische Herkunft und das Schicksal seiner Eltern erst so spät erfahren hat, als habe er unter diesen Toten immer schon gelebt und werde von ihnen nach begleitet. Daß er selbst in der Nachkriegszeit, nur ein gutes Jahrzehnt nach den letzten Deportationen aus Paris, an diesem Ort gewesen ist, läßt ihm diese „zwölf oder dreizehn Jahre“ als einen „einzige[n], unabänderlich qualvolle[n] Punkt“ erscheinen. Seine damalige Zimmerwirtin Amélie Cerf, die die Verfolgungen offenbar überstanden hatte, war „als eine körperhafte Person kaum noch vorhanden gewesen“, und nicht abwegig erscheint Austerlitz die Idee, auch sie habe sich, wie die Deportierten, „in graue Luft“ aufgelöst. (Ebd., S. 370) 327

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Schichtungen der Erzählung: Der Erzähler gibt Austerlitz’ Berichte wieder, der seinerseits erzählt, was man ihm erzählt hat.

III. Bilanzen und Thesen Das Jahrhundert der ersten Geisterphotographien, hat auch das ‚unzuverlässige Erzählen’ hervorgebracht, wie es meisterhaft insbesondere von Edgar Allan Poe und Henry James („The Turn of the Screw“) kultiviert wird, deren Affinitäten zum Spiritismus ihr literarisches Oeuvre geprägt haben. Als Gegenstand bzw. Vehikel narrativer Autoreflexion wird gerade das Motiv des Gespensterphotos wiederholt zum Verweis auf spezifische erzählerische Darstellungsverfahren: auf solche nämlich, die ihre Gegenstände nicht zu fixieren und klar zu konturieren beanspruchen, weil es sie die literarisch thematisierte Wirklichkeit selbst als opak und unkonturiert, vielschichtig und vieldeutig bespiegeln. Gespenster sind vage, schwach konturierte, auch im Photo oft verschwimmende Erscheinungen; die Schemenhaftigkeit ihrer Umrisse verweist auf ihren eigentümlichen Status an der Schwelle zwischen Absenz und Präsenz: Dies qualifiziert sie zu Sinnbildern einer sich entziehenden, allenfalls halluzinatorisch präsenten Wahrheit. Insbesondere das Erzählen in seiner Eigenschaft als Darstellung halluzinatorischer Erinnerungen findet sein Gleichnis in unscharfen und vieldeutigen Bildern – und hier insbesondere in Gespensterphotos. Die Photo-Texte von Barthes, Guibert, Bernhard, Beyer und Sebald stehen im Zeichen einer doppelten Metaphorisierung: Im Medium der Erzählung, ihrer Metaphern und Gleichnisse werden photographische und filmische Bilder modelliert und interpretiert. Solches Erzählen über Bilder steht aber zugleich im Zeichen der Selbsterkundung bzw. Selbstbespiegelung des narrativen Prozesses. Der Akzent liegt dabei auf dem unüberbrückbaren Abgrund zwischen einem imaginär bleibenden Referenten und seinen einander überlagernden Repräsentationen. Jedes Bild, sei es ein photographisches, sei es ein sprachliches (metaphorisches oder ekphrastisches) bleibt ein Phantom-Bild. Die vorgestellten Beispiele, deren Reihe von „La chambre claire“ angeführt wird, illustrieren exemplarisch die verschiedenen Strategien, eine gemeinsame Thematik und einen gemeinsamen Fundus an Topoi und Motiven gestalterisch zu nutzen: Barthes zeigt Bilder, aber das der Mutter nicht, Sebald zeigt das Bild der Mutter, ohne dass die durch deren Absenz gerissene Lücke dadurch gefüllt würde. Guibert, Bernhard und Beyer sprechen nur über Bilder, wobei Guibert von einem niemals materialisierten wahren Bild erzählt, Bernhard seinen Text einen doppelbödigen Kampf gegen Bild-Phantome

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GESPENSTER. METAPHERN DER PHOTOGRAPHIE

führen lässt und Beyer seinen Erzähler die „Macht der Worte“ entdecken lässt. Das Motiv des Gespensts legt es nahe, auch und gerade in einer den Bildern scheinbar verfallenen Welt an die Macht der Worte zu erinnern. Das Grimmsche Deutsche Wörterbuch zählt unter dem Stichwort „gespenst“ übrigens als erstes Bedeutungen auf, die auf sprachliche Phänomene und Handlungen verweisen; die ersten im deutschen Sprachraum belegten „Gespenster“ sind verbale Gespenster.57 Literarische Erzählungen über die Photographie und ihre Phantome nehmen die bildmedialen Darstellungsformen zum Anlass der Selbstexploration sprachlicher Darstellungsprozesse. Wenn sich die Texte von Guibert, Bernhard und Beyer als „Wiederholungen“, als Revenants darstellen, dann ist es ja vor allem der Text von „La chambre claire“, der jeweils neuerlich im Hintergrund erscheint. Barthes’ „chambre claire“ und seine literarischen Hypertexte sind Indizien eines verbal turn in der Literatur, freilich nicht im Sinn eines gänzlich neuen Paradigmas, sondern in dem Sinn, dass auch die Proklamation anderer Wenden die Literatur nicht davon abbringt, sich auf ihre eigenen verbalen Darstellungsverfahren zurückzuwenden.

Abbildung 1: zu W.G. Sebald: Austerlitz

57 „1) eingebung, beredung [...] / [...] gloubich und getruwe / machet er (der heilige geist) den Menschen / mit sinen gespensten [...] vil manigen si [priester] bekerten / mit guten gespensten [...]. / 2) verlockung, verführung, versuchung [...] / 3) blendwerk, täuschung, trug. [...]“ (Jacob und Wilhelm Grimm: Art.: „gespenst“. In: Deutsches Wörterbuch. Bd. 5, Sp. 4140) 329

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Abbildung 2: zu W.G. Sebald: Austerlitz

Abbildung 3 und 4: zu Roland Barthes: La chambre claire

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LIEBE ZWISCHEN MEDIEN, TAUSCH UND ALTERITÄT. SOFIA COPPOLAS FILM ‚LOST IN TRANSLATION‘ SIEGLINDE GRIMM Wie der Einfluss der Medien auf den Menschen, auf seine Wahrnehmung und seine Identität zu beurteilen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Schon bei Platon warnte der ägyptische König Thamus den Gott Theuth vor dem Medium der Schrift, da diese das Gedächtnis vernachlässige und den Seelen der Lernenden „Vergessenheit einflößen“ werde.1 Diese Skepsis gegenüber den Medien setzt sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Ernst Jünger etwa schreibt, dass mit dem Siegeszug der Technik, im Laufe dessen das Theater vom Lichtspiel (Kino) abgelöst werde, ein Verlust an Individualität einhergehe, da die „Charaktermaske“ des Theaterschauspielers durch den „maskenhaften Charakter einer ganzen Zeit“, den der Filmakteur verkörpere, ersetzt werde.2 Ähnlich führt Heidegger Klage über den Verlust des ‚Wesens‘ in der filmischen Anschauung; er sieht hier die Gefahr, dass wir „die filmische Anschauung mit der ‚Wirklichkeit‘ gleichsetzen.“3 Der österreichische Schriftsteller Günther Anders legt den Schwerpunkt seiner Kritik auf die Konsumorientierung der Medien, welche dazu führe, dass wir „maschinell infantilisiert“ würden. Er erkennt in der „ganze[n] Bebilderung unseres Lebens eine Technik des Illusionismus, weil sie uns die Illusion gibt und geben

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Platon: Phaidros. Werke in acht Bänden. Hg. Gunther Eigler. Darmstadt 1990, Bd. 5, S. 177, 274d-275a Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932). In: E. J.: Sämtliche Werke. Bd. 8: Essays II. Stuttgart: Klett Cotta 1981, S. 1-317, hier S. 138. Jünger erklärt: „Man wird begreifen, warum man beim Schauspieler die Individualität, die Auffassung zu spüren sucht, während diese Individualität beim Filmschauspieler gar nicht zu den Voraussetzungen gehört.“ Ebd. Martin Heidegger: Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens (1943). In: M. H.: Gesamtausgabe. Abt. 2: Vorlesungen 1923-1944, Bd. 55. Hg. Manfred S. Frings. Frankfurt/M.: Klostermann 1979, S. 137f. 331

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soll, wir sähen die Wirklichkeit.“4 Mit der Feststellung einer Gegenläufigkeit von Medienwelt und Wirklichkeit treibt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz die Problematik auf die Spitze: Je tiefer „die Medien mit ihrer Inszenierungsmacht […] in die Wirklichkeit eindringen“, desto mehr, so Bolz, „wächst die Sehnsucht nach dem ‚wirklich Wirklichen‘ […].“5 Diesen Bedenken, Medien verstellten die Wirklichkeit, tritt der Philosoph Bernhard Waldenfels vehement entgegen. Gestützt auf Robert Musils Auseinandersetzung mit den Modalitäten Wirklichkeit und Möglichkeit6 weist er den durch die Medien kreierten ,virtuellen‘ Welten Erfahrungsgehalte mit dem Modalwert des Möglichen zu: „Virtualisierung besagt im Bereich der Erfahrung, dass etwas als möglich erfahren, betrachtet oder behandelt wird“. Er setzt dabei den Gegensatz nicht mehr, wie üblich, zwischen (medialer) Virtualität und Wirklichkeit an, sondern zwischen „Potentialität oder Virtualität“ einerseits und „Aktualität“ andererseits. Grund dafür ist laut Waldenfels, dass die „Wirklichkeit immer schon Spielräume der Möglichkeit offen lässt […].“7 Eine noch engere Verzahnung von Wirklichkeit, Medien und individueller Wahrnehmung propagiert der Medienpapst Marshall McLuhan. Im Zuge seines berühmt gewordenen Slogans ‚the medium is the message‘ entwickelt er einen anthropologischen Medienbegriff, demzufolge Medien eine Ausweitung der menschlichen Sinne darstellen.8 So etwa gilt das Geschriebene als „the principal manifestation of the extension of our visual sense“.9 Der Gebrauch von Werkzeug (‚tool‘) „extends the fist, the nails, the teeth, the arm.“ Der (Buch-)Druck schließlich als erste vollständige Mechanisierung eines Handwerks „breaks up the movement of the hand into a se4

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Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München: C.H. Beck 1980, S. 252ff. Norbert Bolz: Wirklichkeit ohne Gewähr. In: Der Spiegel 26 (2000), S. 130. Zitiert nach: Texte zur Medientheorie. Hg. Günter Helmes und Werner Köster. Stuttgart: Reclam 2002, S. 327. Musil thematisiert die Modalitäten v.a. in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1952). Bernhard Waldenfels: Experimente mit der Wirklichkeit. In: Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Hg. Sybille Krämer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1998] 2000, S. 213-S. 243, hier S. 236. Marshall McLuhan: Understanding media – the Extensions of Man. Ed. by W. Terrence Gordon. Corte Madera. California, Gingko Press 2003 [im Folg. Understanding Media]; McLuhan spricht von „our human senses, of which all media are extensions […].” Ebd., S. 34. McLuhan: Understanding Media, S. 155. 332

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ries of discrete steps that are repeatable as the wheel is rotary.”10 Demnach werden Identität und Wahrnehmung des Menschen in einer geradezu existentiellen Weise durch Medien bedingt. Aus diesen einander widersprechenden Deutungen ergibt sich die Frage, ob die Medien eher als etwas Äußeres und Fremdes zu sehen sind, das unsere Wahrnehmung und damit unsere Identität verstellt, oder ob sie zu unserem Selbst gehören als Mittel zur Erweiterung unsere Sinne und Erfahrungsbereiche. Daraus folgt, dass die in Frage stehende Funktion der Medien eng mit dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem verknüpft ist. Um die Spannung zwischen Identitätssuche, Fremderfahrung und der Rolle der Medien geht es auch in dem 2003 erschienenen Film ‚Lost in Translation‘ der jungen Regisseurin Sofia Coppola über eine Liebesgeschichte zweier Amerikaner in Tokio. Die Idee zu dem Film kam Coppola, als sie während der 90er Jahre ein Tokioter Modeunternehmen leitete. Ihre Erfahrungen mit Jet-Lag und den verschiedenen Landessprachen inspirierte sie, über das Phänomen der Losgelöstheit von kulturellen Bindungen und die Kameradschaft unter Ausländern in einem fremden Land zu schreiben. Über Tokio sagt sie in einem Interview: „Die Art wie die Stadt funktioniert, sich anfühlt, hat mich sehr beeindruckt, das sonderbare Gefühl, dort ein Fremder zu sein. Es ist anders, als irgendwo sonst. Einzigartig. Und auch wenn man mehrmals dort war, ändert sich das nicht. Darum wollte ich über diese Stadt eine romantische Geschichte schreiben […]“11 ,Lost in Translation‘ wurde mit Bill Murray alias Bob Harris und Scarlett Johannson alias Charlotte besetzt. Der Film erhielt verschiedene Preise, im Jahr 2004 den Oscar für das beste Drehbuch und den Bundesfilmpreis für den besten ausländischen Film; bei den Filmfestspielen in Venedig gab es den Sonderpreis für Sofia Coppola und der Preis für die beste Nachwuchsdarstellerin ging an Johannson. Das Ineinandergreifen von Identität, Fremdheit und Medien soll am Beispiel von ‚Lost in translation‘ genauer untersucht werden. Gleich zu Beginn zeigt sich der Einfluss der Medien auf das Selbstverständnis der beiden Protagonisten. Als der alternde Filmstar Bob, verheiratet und Vater kleiner Kinder, mit dem Taxi vom Flughafen zum Hotel fährt, erblickt er das eigene Konterfei auf einem riesigen beleuchteten Werbeplakat im Lichterdschungel der Großstadt. Das Plakat verdeutlicht ihm den Zweck seiner Reise, für eine japanische Whiskeyfirma Werbespots zu drehen. Aber nicht nur seine Identität in der fremden Stadt wird durch Werbung 10 McLuhan: Understanding media, S. 206. 11 http://www.artechock.de/film/text/interview/c/coppola_sofia_2004.htm [9.7.2007] 333

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und seine früheren Filme bestimmt, auch die Verbindung zu seiner Familie kann nur mehr medial aufrecht erhalten werden. So erwartet ihn schon bei der Ankunft im Hotel ein Brief seiner Frau: Er hat den Geburtstag seines Sohns vergessen. Noch benommen vom Jet-lag reißt ihn im Hotelzimmer ein Fax aus dem Schlaf: Er soll ein Regal für die neue Wohnungseinrichtung zu Hause aussuchen. Seine Hilflosigkeit und Irritation angesichts dieser Situationen zeigen seine Entfremdung. Bob entwickelt gleichsam ein mediales Alter Ego, welches das Gefühl des Fremdseins verstärkt und die Identifikation mit der neuen Kultur erschwert. Die Situation Charlottes, eine Yale-Absolventin Mitte zwanzig, die nach ihrer Lebensaufgabe sucht, ist ähnlich. Sie begleitet ihren Ehemann John, einen gefragten Mode-Fotografen auf einer Geschäftsreise, verbringt die meiste Zeit aber alleine. Auch sie leidet unter dem Jet-lag. Während sie wach liegt, schnarcht John in tiefem Schlummer. Nachdem dieser sich am Morgen mit einem dahingeworfenen ‚I liebe dich‘ verabschiedet hat, zappt sie durch die Programme des Hotel-TVs und kämpft gegen den Schlaf. Auf einem Spaziergang beobachtet sie religiöse Riten der Mönche, die ihr nichts sagen. Den Tränen nahe, versucht sie in einem Telefonat, ihre Probleme mit einer Freundin zu besprechen: ‚Mein eigener Mann ist mir fremd‘. Doch die Kommunikation ist schwierig. Das Telefon, für McLuhan eine Art „extrasensory perception“,12 reduziert die Wahrnehmung auf die Stimme und sie kann sich der Freundin nicht vermitteln. Bob und Charlotte wohnen im selben Hotel. Ebenso wie Charlotte spürt, dass sich in der für sie ungewohnten Umgebung eine Kluft zu ihrem Ehemann auftut und sie in eine Identitätskrise schlittert, entfremdet das Leben im Großstadtmoloch Tokio Bob kurzzeitig seiner Familie. Die Medien, die in dieser Situation die Kommunikation mit der gewohnten Lebenswelt aufrecht erhalten und den Kontakt zur neuen Umgebung aufbauen sollen, verstärken die Isolation der Protagonisten. Dieser Zusammenhang von Medien und Kommunikation lässt sich aus der Sicht von Hans Magnus Enzensberger wie folgt erklären: „In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.“13 Das umschriebene Verhältnis zwischen Sender und Empfänger trifft auf die Situation Bobs und Charlottes zu. Als sich beide in nacheinander 12 McLuhan: Understanding Media, S. 357. 13 Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20 (1970) [im Folgenden: Baukasten], S.159-186, hier S. 160. 334

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geschnittenen Szenen durch die Programme der hoteleigenen TVApparate zappen, haben sie als bloße Empfänger keine Möglichkeit zu antworten. Diese Erfahrung überlagert sich mit der des Fremdseins. Eine Antwort ist nicht nur technisch, sondern auch aufgrund fehlender Enkulturation nicht möglich. Für Enzensberger hat der fehlende Austausch der medialen Kommunikation bedenkliche Konsequenzen; da an dieser Kommunikation jeder teilnehmen könne, seien die neuen (elektronischen) Medien hinsichtlich ihrer Struktur zwar „egalitär“;14 ihre monologische Struktur jedoch mache Film, Funk und TV zu autoritären Instrumenten der „Manipulation“.15 Dies verstärke sich in dem Maße, in dem sich die Medien mit Reklame und Konsum zu einer „permanenten Inszenierung“ verbänden.16 In dieser Beobachtung steht Enzensberger McLuhan in nichts nach, der behauptet, die Werbeindustrie ziele auf „a programmed harmony among all human impulses and aspirations and endeavours.“17 Die Konstellation einer von den Werbemedien ‚programmierten Harmonie‘, die jede Individualität kappt, prägt die Erfahrungen Bobs und Charlottes. Zwei Filmausschnitte sollen dies verdeutlichen. Als Bobs Werbespot gedreht wird, empfängt er die Anweisungen des japanischen Regisseurs und mutiert damit zum monologischen Sender. Immer wieder verkündet er – das Whiskeyglas in der Hand – den Werbeslogan: „Während der Prime time heißt es nur ‚Santory Time‘“. Der Mangel eines konkreten Gegenübers und die Reduktion seiner Identität auf das Produkt, für das er werben soll, verstärken das Gefühl des Fremdseins, und er wirkt verkrampft und unnatürlich. Die von der Übersetzerin weiter gegebenen Anweisung, ‚mehr Intensität‘ zu zeigen, verrät, dass er nur halb bei der Sache ist. Bob ist verunsichert, da die Vorgaben des Regisseurs weit umfangreicher sind, als die Übersetzung. Der Künstlichkeit der Situation entspricht, dass das Glas mit Eistee anstatt mit Whiskey gefüllt ist und er – bei einem späteren Fotoshooting – Filmstars wie Frank Sinatra oder Roger Moore mimen soll. Die Kameraeinstellung unterstützt Bobs Beklemmung: Er wird überwiegend aus der Aufsicht (von oben), der Regisseur hingegen aus der Untersicht (von unten) gefilmt, wodurch Bobs Unterlegenheit filmtechnisch zum Ausdruck gebracht wird. In dieser für ihn erdrückenden Situation will Bob Tokio so schnell wie möglich verlassen

14 15 16 17

Enzensberger: Baukasten, S. 167. Enzensberger: Baukasten, S. 166. Enzensberger: Baukasten, S. 172. McLuhan: Understanding Media, S. 306. Er führt aus: “Any community that wants to expedite and maximize the exchange of goods and services has simply got to homogenize its social life.“ Ebd., S. 308. 335

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und er lehnt das Angebot seines Agenten, in ein paar Tagen in einer japanischen Show aufzutreten, sofort ab. Auch Charlottes Entfremdung wird durch die medialen Werbemechanismen verstärkt. Ihrem karrierebewussten Ehemann sind Kameras wichtiger als seine Frau. Auf dem Boden des Hotelzimmers sitzend ist er mit seiner Kamera beschäftigt und hat kein Auge für Charlotte, die in einem verführerischen rosa Slip an ihm vorbeitänzelt. Seine Zugehörigkeit zur schnelllebigen Medien- und Werbewelt wird deutlich, als er und Charlotte in der Hotellobby das selbstverliebte Starlet Kelly treffen, die nach Tokio gekommen ist, um ihren Film zu promoten. Bobs Erfahrungen mit der Whiskeywerbung finden hier ihr Pendant. Der oberflächliche Smalltalk Kellys ist Charlotte fremd, und damit ist es auch ihr Mann, der sich offensichtlich von Kelly angezogen fühlt. Augenfällig wird das in der ,mise en scène‘, die Charlotte, ihren Mann und Kelly in unterschiedlichen Dreier-Konstellationen darstellt: Zuerst wird Kelly zwischen Charlotte und ihren Mann positioniert, was den Eindruck vermittelt, als wollte Kelly in die eheliche Beziehung eindringen; in der zweiten mise en scène jedoch, als das Gespräch nur noch von John und Kelly weiter geführt wird, erhält Charlotte die Mittelposition, wodurch sie plötzlich als Eindringling in die Beziehung zwischen Kelly und dem eigenen Mann erscheint. Charlotte verschlägt es die Sprache, als sie die gemeinsame Wellenlänge der beiden bemerkt. Die anschließende Meinungsverschiedenheit des jungen Ehepaars über Kellys Bildungsniveau wird von John mit der – gegen Charlotte gerichteten – Bemerkung ‚nicht jeder war in Yale‘ abgetan. Charlotte und Bob sind in einer Scheinwelt der Werbung und des Konsums gefangen, die keine Individualität zulässt. In der Welt der idealisierten Bilder nehmen die Bilder Rache; sie geben nichts zurück und der für eine gelungene Kommunikation notwendige Austausch wird unterbunden. McLuhan hat dieses Szenario treffend beschrieben: „[…] it [advertising] offers a way of life that is for everybody or nobody.“18 Dies gilt für Bob und auch für Charlotte, deren Erfahrungen komplementär angeordnet sind: So wie Bob zum Objekt der Werbefotografen degeneriert, werden Charlotte und auch Kelly zu Objekten des jungen Fotografen. Kelly bietet sich direkt als Fotomodell an, und auch Charlotte wird für ihn zum idealisierbaren Objekt, etwa als er sie ermahnt, mit dem Rauchen aufzuhören. Eine Wende setzt ein, als sich Bob und Charlotte begegnen. Zunächst ist es nur ein unscheinbares Lächeln Charlottes im Aufzug, an das sie sich später nicht mehr erinnern kann. Dann erfolgt ein kurzes Gespräch in der Hotelbar. Charlotte, die sich in der Gesellschaft Kellys und Johns 18 McLuhan: Understanding Media, S. 309. 336

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langweilt, flirtet mit Bob, der verschmitzt erklärt: ‚Ich plane einen Gefängnisausbruch, aus der Hotelbar, aus dem Hotel und aus dem Land und suche einen Komplizen …‘ Mit diesem Gedankenspiel findet er bei Charlotte sofort Gehör. Von nun an verbringen beide die begrenzte Zeit ihres Aufenthalts in Tokio mit gemeinsamen Unternehmungen in ihrem Hotel und auf den Straßen der Metropole. Die Veränderung, die mit dieser Freundschaft einsetzt, ist nun hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Kommunikation, die Bewertung der Alterität und die Rolle der Medien zu untersuchen. Die gegenseitige Anziehung zwischen Bob und Charlotte beruht auf den gemeinsamen Erfahrungen des Fremdseins in Tokio. Diese Erfahrungen werden zur Grundlage des kommunikativen Austauschs, der zuvor nicht möglich war. Angedeutet wird diese Veränderung während der Karaoke-Party, als Charlotte und Bob als Pseudosänger in eine andere Identität schlüpfen. Charlotte trägt eine pinkfarbige Perücke und Bob ein jugendliches Hemd. Einen Höhepunkt erfährt dieser Tausch, als sich beide, in einem der Hotelbetten liegend, miteinander über ihre Lebenssituation unterhalten. Die Bedeutung, welche die Szene für ihre Beziehung besitzt, wird filmtechnisch durch die Vogelperspektive ausgedrückt. Diese Kameraeinstellung lässt beide Figuren entblößt erscheinen; inhaltlich spiegelt dies der Dialog insofern wider, als sich beide einander ihre Zweifel in der momentanen Lebenskrise anvertrauen. So gesteht Charlotte: ‚Ich weiß nicht weiter‘, und Bob bekennt, dass seine Ehe ‚Routine‘ geworden ist. Geradezu symbolisch für das in dieser Situation vorausgesetzte Vertrauen dem Gesprächspartner gegenüber wirkt die körperliche Haltung Charlottes, die – gekrümmt wie ein Säugling im Mutterbauch – auf dem Bett liegt. In dem Dialog erklären Bob und Charlotte einander die Veränderungen, die das in ihr Leben hereingebrochene Fremde bewirken. Somit muss das Fremde nicht mehr am Eigenen gemessen, sondern es kann mit der Erfahrung des Anderen verglichen und bewertet werden. Und eben dieser Tausch ist es, der eine neue Bewertung der Alterität in der fremden Kultur ermöglicht. Schon nach der Karaoke-Party beschließt Bob, sich fortan nach dem Vorbild der japanischen Küche gesünder zu ernähren. Auch teilt er seinem Agenten mit, er wolle nun doch in der japanischen TV-Show auftreten, was er zuvor abgelehnt hatte. Ähnliches gilt für Charlotte, die nun in die Lage ist, sich in die japanische Kultur hineinzuversetzen, und ergriffen eine japanische Hochzeit beobachtet. Als Folge des mit ihrer Freundschaft möglich gewordenen Austauschs erleben Bob und Charlotte das fremde Andere in der Großstadt Tokio als Herausforderung und Hinterfragung ihrer eigenen Welt. Dabei wird das fremd gewordene Eigene nicht nur bewusst gemacht, sondern auch neu geordnet. Diesen Rückbezug auf den eigenen ‚Blickwinkel‘ hat

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bereits die Fremdheitsforschung für das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem eingefordert. Demnach wird das Fremde als das „aufgefasste Andere […], also als Relationsbegriff und Interpretament von Andersheit und Differenz“19 definiert. Alois Wierlacher betont, „dass sich von kulturell Fremdem nur unter der Bedingung sprechen lasse, dass auch der Blickwinkel in die Analyse einbezogen werde, unter dem man Alteritäten in ihrer Andersheit als Fremdes interpretiert, so dass Erkenntnisse über Alteritäten ohne Rückblick des Erkennenden auf sich selber gar nicht gewonnen werden können, weil wir im Umgang mit Alteritäten nicht umhin können, unsere eigene Sicht auf Anderes und Fremdes zu überprüfen.“20 Wierlacher begreift das Verstehen von Alteritäten im Sinne von Fremdheitserfahrungen als Tätigkeit, „die auf den Akten der Selbstaufkärung aufruht, diese immer verstanden als prüfende Selbstauslegung“.21 Dies gilt auch vice versa. Im Film lässt sich die veränderte Selbsteinschätzung vor allem in einer neuen Wahrnehmung der Beziehungen zum eigentlichen Partner festmachen. In der Hotelbettszene macht Charlotte Bob bewusst, was ihm – trotz der gegenwärtigen Entfremdung – seine Familie bedeutet. Umgekehrt gibt Bob Charlotte, die sich durch die Entfremdung von ihrem Ehemann einmal mehr auf sich gestellt sieht, das Selbstvertrauen zurück: ‚Du wirst deinen Weg finden.‘ Ausdruck dieser Bewusstwerdung ist, dass Bob, nachdem er Charlotte nach der Karaoke-Party ins Bett gebracht hat, mit seiner Frau telefoniert. Dieses Gespräch, das zum ersten Mal von ihm initiiert wird, wirkt nicht mehr als eine Störung in Bobs gegenwärtigem Dasein oder als etwas, womit er angesichts der vielen fremden Eindrücke nichts Rechtes anfangen kann. Vielmehr zeigt das Telefonat, dass sein normaler Alltag und der Aufenthalt in Tokio keine Gegensätze mehr sind. Auch Charlotte wird, was ihre Zukunft anbelangt, sei es nun als Schriftstellerin oder beim Aufbau einer Familie, wieder zuversichtlich. Wie es mit ihrer Ehe weitergeht, bleibt jedoch offen. Diese Revision der eigenen Position insbesondere im Hinblick auf die eigentlichen Partner, durch welche die Fremdheit aufgehoben wird, bedingt auch, dass die Freundschaft zwischen Bob und Charlotte platonisch bleibt. Wenngleich unterschwellige erotische Anklänge nicht fehlen, so beruht die Anziehung doch zuallererst auf emotionaler Nähe. Die 19 Alois Wierlacher: Interkulturalität. Zur Konzeptualisierung eines Leitbegriffs interkultureller Literaturwissenschaft. In: Henk de Berg und Matthias Prangel (Hg.): Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Steinmetz. Heidelberg 1999, S. 155181, hier S. 159. 20 Wierlacher: Interkulturalität, Ebd. 21 Wierlacher: Interkulturalität, S. 163. 338

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Aussparung einer körperlichen Erotik wird unterstrichen durch Bobs Abenteuer mit einer Hotelsängerin und Charlottes Ehe. Es ist zu fragen, welche Konsequenz das Konzept des Tausches aus der Sicht der fremden Kultur nach sich zieht. Wierlacher führt das Tauschverhältnis als „produktives Wechselverhältnis zwischen Eigenem und Fremden“ weiter,22 bei dem beide Seiten ihre Standpunkte verändern. Diesem Anspruch wird der Film jedoch gerecht, da die Figuren, welche die japanische Kultur verkörpern, nicht aus der Innensicht dargestellt werden. In dieser Aussparung wurzeln viele gegen den Film erhobenen Vorwürfe, die von einer zu negativen Darstellung des modernen Japan bis hin zu „anti-Japanese racism“ reichen.23 Allerdings geht es dem Film nicht in erster Linie um die Darstellung der japanischen Kultur. Es mag zutreffen, dass nur das alte Japan mit Würde und das moderne Japan, etwa durch Szenen ekstatischer Jugendlicher in Spielhallen, die westliche Verhaltensweisen nachäffen, nicht gerade positiv erscheint. Jedoch ist eine Einfühlung in die japanische Kultur oder gar deren Veränderung nach dem Modell Wierlachers nicht das primäre Ziel der Regisseurin. Im Mittelpunkt steht statt dessen die Evokation des Fremdseins auf Seiten der amerikanischen Protagonisten, das ästhetisch eine nicht nur distanzierte, sondern auch irritierende Konfrontation mit fremden Verhaltensweisen erfordert, und sei es, dass diese in der Parodie des eigenen Lebensstils besteht, der dadurch aber wiederum selbst in Frage gestellt wird. Anstelle von Wierlachers Ansatz möchte ich für ‚Lost in Translation‘ die Denkfigur des Chiasmus vorschlagen, wie sie Maurice Merleau Ponty konzipiert hat. Ursprünglich stammt der Chiasmus aus der Rhetorik und bedeutet die kreuzartige Stellung der Satzglieder. Die chiastische Verschränkung entspricht der doppelten Alteritätserfahrung der Protagonisten des Films, zum einen gegenüber der fremden Kultur, zum anderen im Hinblick auf die Fremdwerdung der eigenen Welt, wozu die Freundschaft zwischen Bob und Charlotte beiträgt. Merleau-Ponty findet die chiastische Figur, bei der es sich um ein Tauschverhältnis zwischen dem 22 Wierlacher: Interkulturalität, S. 156. 23 So schreibt die Musikerin und US-Japanerin Kiku Day: “There is no scene where the Japanese are afforded a shred of dignity. The viewer is sledgehammerded into laughing at these small, yellow people and their funny ways, desperately aping the western lifestyle without knowledge of its real meaning. It is telling that the longest vocal contribution any Japanese character makes is at a karaoke party, singing a few lines of the Sex Pistols’ God Save the Queen.” http://film.guardian.co.uk/features/featurepages/=”1130302,00.html [28.10.2006]. 339

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Künstler und den anderen Menschen handelt, bei Paul Valery: „Jener Austausch verwirklicht, wie schon der Name sagt, in einer sehr kurzen Zeit eine Umstellung, eine Metathese: einen Chiasmus zweier ,Schicksale‘, zweier Gesichtspunkte. Dadurch kommt es zu einer Art simultaner wechselseitiger Abgrenzung. Du nimmst mein Bild, meine Erscheinung, ich nehme die deine. Du bist nicht ich, da du mich siehst und ich mich nicht sehe. Was mir fehlt ist jenes ich, das du siehst. Und was dir fehlt, bist du, den ich sehe. [Und wir werden, bevor wir voneinander Kenntnis nehmen, im selben Maße, wie wir uns reflektieren, andere werden.]“24 Dieses Verhältnis lässt sich auf die Situation Bobs und Charlottes insofern übertragen, als beiden die Alteritätserfahrung hilft, die eigene Situation zu verstehen und zu revidieren. Während Wierlacher auf der grundlegenden Opposition von Eigenem und Fremdem beharrt, hat Merleau-Ponty die Figur des Chiasmus als eine reversible Beziehung aufgefasst. „Es gibt nicht das Für sich und das Für andere. Das eine ist die Kehrseite des anderen.“ Reversibilität bedeutet, „dass jede Wahrnehmung durch eine GegenWahrnehmung verdoppelt wird, dass sie ein Akt mit zwei Seiten ist“, in der man nicht mehr weiß, „wer spricht und wer zuhört.“ In der Folge ergibt sich eine „Zirkularität“ von „SprechenZuhören, Sehen-Gesehenwerden, Wahrnehmen- Wahrgenommenwerden […] – Aktivität = Passivität“.25 In der Zirkularität werden die Gegensätze aufgehoben: „Diese Vermittlung durch Umkehrung und dieses Chiasma bewirken, dass es nicht einfach eine Antithese Für-sich Für-Andere gibt, sondern dass es das Sein gibt, das alles dies in sich enthält, […].“26 Bernhard Waldenfels hat den Chiasmus auf das Verhältnis von Eigenem und Fremden übertragen und spricht von einem „Ineinander von Eigenem und Fremden“27 oder auch von „Verflechtung von Eigenem und Fremdem“.28 Das Tauschverhältnis wie es der Chiasmus symbolisiert, stellt somit eine Balance her zwischen dem veränderten Selbstverständnis der Protagonisten und deren Verhältnis zur japanischen Kultur. Der Ort, an dem 24 Paul Valery, Tel Quel, S. 42; zitiert nach: Maurice Merleau-Ponty: Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge. In: Ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hg. von Hans Werner Arndt. Hamburg: Meiner 1984, S. 115-134, hier S. 123. 25 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 331f. 26 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 274. 27 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 422. 28 Bernhard Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 360. 340

LIEBE ZWISCHEN MEDIEN, TAUSCH UND ALTERITÄT.

sich Bob und Charlotte treffen, nämlich das Hotel, lässt sich dem Kreuzungspunkt, bei Merleau-Ponty der „Nullpunkt des Seins“,29 zuordnen. Das Hotel als Treffpunkt wird so zum Übergang vom eigenen Selbst zur Welt, zur Erfahrung der Alterität, bis sie durch „eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden.“30 Die „Rivalität Ich-Anderer“ wird abgelöst durch ein „Mitfungieren“. 31 Im Zuge dessen ist das Fremde als Kehrseite des Eigenen vertraut geworden. So schreibt Merleau-Ponty, „dass das Aussichherausgehen auch Rückkehr zu sich ist und umgekehrt.“32 Es bleibt die Frage, welche Rolle in diesem Konzept des Mitfungierens die Medien übernehmen. Zunächst ist zu sehen, dass Telefon, FaxGerät, Hotel-TV, Werbeplakat und Werbespot, Fotografie etc. in einem intramedialen Verhältnis zueinander stehen. Für die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen Medien und Identitätsfindung ist die mit der Freundschaft zwischen Bob und Charlotte eingetretene Wende relevant. Bevor Bob und Charlotte sich treffen, besteht die Funktion der Medien darin, die Fremderfahrungen der Protagonisten zu verstärken und deren Verunsicherung zu veranschaulichen. Mit der Ermöglichung des kommunikativen Tauschs setzt sich das intramediale Verhältnis im Film in anderer Weise fort. Von zentraler Bedeutung ist wiederum das Gespräch im Hotelbett. Bevor die Kamera in die Vogelperspektive einschwenkt, welche Charlotte und Bob von oben zeigt, wird das Hotel-TV eingeblendet. Doch diesmal läuft kein japanisches Programm, sondern Frederico Fellinis Film ,La Dolce Vita‘ aus dem Jahr 1960. Die Thematik dieses Films spiegelt die Erlebnisse Bobs und Charlottes in der Fremde, was ein kurzer inhaltlicher Abriss verdeutlicht: Der Boulevard-Journalist und Möchtegern-Journalist Marcello (gespielt von Marcello Mastroiani) ist stets auf der Jagd nach Geheimnissen der Prominenz für die römische Klatschpresse. Er begreift die Leere seines Tuns erst, als sich ein enger Freund und Vorbild das Leben nimmt. Fellinis Kritik zielt sowohl auf den aufgeblasenen Medienapparat wie auch auf das sinnentleerte, dekadente Leben der oberen Zehntausend, die, bestimmt von einer konsumorientierten Oberflächlichkeit, im Rausch des ‚süßen Lebens‘ Vergessen suchen. Die Problematik des Films spiegelt die Spannung Charlottes und Bobs zwischen einer nur durch Medien bestimmten, schnelllebigen Realität und existentiellen Fragen wider. In dem Gespräch im Hotelbett geht es genau um diese Sinnfragen, welche in der gleichermaßen als kurzlebig erfahrenen Welt der Werbung und des schnellen Fotos keinen Platz mehr haben. Der Film im Film spiegelt so 29 30 31 32

Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 327. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 209. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 274. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 256. 341

SIEGLINDE GRIMM

das eigene Thema wider, er reflektiert sich selbst, ein Verfahren, das aus der Literatur als ‚Spiel im Spiel‘ hinreichend bekannt ist.33 Und wie Merleau-Pontys Chiasmus, so enthält auch das ‚Spiel im Spiel‘ eine Doppelung. Nicht nur das Thema von Fellinis Film lässt sich zu ,Lost in Translation‘ ins Verhältnis setzen, sondern auch der gezeigte Ausschnitt, in dem sich Marcello und der amerikanische Filmstar Silvia, gespielt von Anita Ekberg, vor den Fontana di Trevi, dem berühmten römischen Brunnen, befinden. Silvia wird von den Paparazzi gejagt, sie muss nichtssagende Fragen beantworten und sucht bei Marcello Hilfe, um den Fotografen in der für sie fremden Stadt zu entkommen. Beide werden durch das unausgesprochene Bewusstsein der Nichtigkeit ihres Tuns voneinander angezogen. Auf der nächtlichen Flucht durch die engen Gassen Roms, für die Amerikanerin ungewohnt und fremd, findet sie sich plötzlich vor dem berühmten Brunnen wieder. In der Sequenz, die in ‚Lost in translation‘ gezeigt wird, ist nur der Ruf der Blondine zu hören: „Marcello, komm her!“ Ekbergs Bad im Brunnen war seinerzeit ein Skandal. Auch für Marcello im Film ist das Verhalten der Amerikanerin fremd, aber gerade dies scheint ihn zu faszinieren: ,Sie [Silvia] hat recht, ich mach´ es ganz falsch, wir alle machen´s ganz falsch.‘ Dieser Ausschnitt mit Marcello und Silvia spiegelt das Verhältnis zwischen Bob und Charlotte, was durch die zeitliche Parallelisierung mit der Hotelbettszene unterstrichen wird. Dabei aber setzt Coppola auch einen Kontrast. Denn das Gespräch im Hotelbett führt einen gelungenen Austausch vor. Die brennenden Fragen, welche die Lebenssituation Bobs und Charlottes betreffen, werden ausgesprochen, Fellini hingegen lässt sie für seine Figuren im Ungewissen. Die Rolle der Medien in Coppolas Film verändert sich so mit den Figuren selbst, und zwar in dem Maße, wie deren Entwicklung dies verlangt. Werden eingangs die Medien dahingehend funktionalisiert, das Gefühl des Fremdseins hervorzuheben, so unterstreicht die Einblendung der Szene aus ,La dolce vita‘ die Kritik an eben dieser Welt der Werbung und des Genusses, deren sich Bob und Charlotte just in dem Moment bewusst werden, in dem der Film läuft. Das intramediale Verhältnis der verschiedenen Medien im Film selbst vervielfacht somit die Spannung, welche die Entwicklung und Selbstfindung der Protagonisten begleitet. Indem die Medien auf diese Weise an der Handlung des Films teilhaben, wird die Opposition von Eigenem und Fremden einmal mehr aufgehoben zugunsten einer ins Ästhetische gewendeten ‚Verflechtung‘ im Sinne von Waldenfels. Bedenkt man, dass es sich am Anfang, in dem die Medien die Fremderfahrung stützen um Werbung handelt, am Ende aber um einen 33 Vgl. Maurer R: Das Theater auf dem Theater. Bern 1981. 342

LIEBE ZWISCHEN MEDIEN, TAUSCH UND ALTERITÄT.

Movie, so wäre die intramediale Funktion der miteinander rivalisierenden Medien eine Hymne auf das eigene Genre. Die Medien haben somit teil am chiastischen Tauschverhältnis. ‚Lost in translation‘ thematisiert die mediale Selbstreflexion: Der Film reflektiert auf die verschiedenen Medien und vergleicht sie miteinander, wägt sie gegeneinander ab. So tritt neben die Liebesgeschichte zwischen Bob und Charlotte eine Liebesgeschichte der Regisseurin zum Movie. Es ist dies eine Love Story, auf die man sich gerne einlässt.

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VERZEICHNIS

DER

BEITRÄGERINNEN

UND

BEITRÄGER

Berghahn, Cord-Friedrich, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Carolo-Wilhelmina Technischen Universität Braunschweig. Grabes, Herbert ist Professor für Anglistik und Amerikanistik (em.) an der Justus Liebig-Universität Gießen. Grimm, Sieglinde ist apl. Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Lach, Roman, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Niefanger, Dirk ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Oesterle, Günter ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft (em.) an der Justus Liebig-Universität Gießen. Scherer, Stefan ist Hochschuldozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Karlsruhe. Smitz-Emans, Monika ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) an der Ruhr-Universität Bochum. Schneider, Lothar ist Professor (apl.) für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Justus Liebig-Universität Gießen. Schwarte, Michael ist Dozent an der Landesmusikakademie Nordrheinwestfalen in Heek. Schwering, Gregor, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg 615 »Medienumbrüche« der Universität Siegen. 345

VERZEICHNIS DER BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER

Simonis, Annette ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Justus Liebig-Universität Gießen. Simonis, Linda ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) an der Ruhr-Universität Bochum und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL). Tammen, Silke ist Professorin für Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft an der Justus Liebig-Universität Gießen. Unfer Lukoschik, Rita ist Privatdozentin an der Universität Kassel, lehrt dort Italienische und Vergleichende Literaturwissenschaft und lebt in Berlin. Von 2002 bis 2008 war sie Präsidentin der Società Dante Alighieri, Comitato di Berlino, der Gesellschaft für italienische Sprache und Kultur. Zernack, Julia ist Professorin für Skandinavistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

346

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hg.)

Räume Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2008 Dezember 2008, 160 Seiten, kart., 8,50 , ISBN 978-3-89942-960-2 ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) und Räume (2/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50  je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Juni 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Mai 2009, ca. 204 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5

Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Mai 2009, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-03-19 16-09-53 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02a5205377587512|(S.

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3) ANZ1100.p 205377587520

Kultur- und Medientheorie Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen Juni 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-652-6

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juli 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Mai 2009, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

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3) ANZ1100.p 205377587520

Kultur- und Medientheorie Natalia Borissova, Susi K. Frank, Andreas Kraft (Hg.) Zwischen Apokalypse und Alltag Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts Mai 2009, ca. 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1045-1

Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn« Februar 2009, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1120-5

Lutz Ellrich, Harun Maye, Arno Meteling Die Unsichtbarkeit des Politischen Theorie und Geschichte medialer Latenz Mai 2009, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-969-5

Marijana Erstic, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Körper in Bewegung Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde Mai 2009, ca. 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1099-4

Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur Mai 2009, ca. 400 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-987-9

Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hg.) Kulturtechnik Entwerfen Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science April 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-901-5

Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht April 2009, 326 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0

Florian Hartling Der digitale Autor Autorschaft im Zeitalter des Internets April 2009, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1090-1

Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2

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