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German Pages 296 [298] Year 2015
Christine Regus Interkulturelles Theater zu Beginn des zr. Jahrhunderts
T h e a t er
I
Band 7
Christine Regus (Dr. phil.) studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie. Sie istPressesprecherindes Goethe-Instituts und lebt in Berlin.
(HRISTINE REGUS
Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik- Politik- Postkolonialismus
[ transcript]
D 188
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ fdnb.d-nb.de abrufbar.
©
2009
transcript Verlag, Bielefeld
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INHALT
Einleitung 9
THEORIE INTERKULTURELLEN THEATERS
Ausgangspunkt, Kontext, Begriffsbestimmung 17 Ong Keng Sens Lear: Eine neue Form interkulturellen Theaters
20 Interkulturelles Theater in der Wissenschaft
26 Begriffsbestimmung
33 Zur politischen und historischen Dimension interkulturellen Theaters 45
Kolonialismus als historische Rahmenbedingung
46 Ausbeutung des Fremden: Postkoloniale Kritik 59 Interkulturelles Theater als politisches Theater 89 Ästhetische Aspekte interkulturellen Theaters und ihre methodischen Konsequenzen 94
Anknüpfungspunkte in der Theaterwissenschaft 95 Die spezifische Herausforderung: Das Performative als das Andere
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INTERKULTURELLES THEATER HEUTE: BEISPIELE
ZUR PERFORMATIVITÄT VON IDENTITÄT- Searching for Horne
113 Die Inszenierung Searchingfor Horne von Ralph Lernen 114 Theater in Schwarz/Weiß - Kulturelle Repräsentationspolitik 11 7 Zur performativen Konstitution von Identität
136 Nach der Vermessung der Welt: Zur Performativität von Raum
151 Vom Kontrast zur Grenzüberschreitung
163 GESCHICHTE TANZEN, DAS TRAUMA BEZEUGEN- Erzählen vom Selbst in Beyond the killing fields
166 Die Inszenierung Beyond the killingjield~ von Ong Keng Sen
166 (Wieder-)erfundene Traditionen, kollektives Erinnem,performing arts 172
Beyond the killingfields als Doku-Perforn1ance 194 Vom Zuschauer zum Zeugen
216 ZWISCHEN EIGENEM UND FREMDEN: TRANSLATION, TRANSFORMATION, FREMDVERSTEHEN-EI automovil gris
220 Die Inszenierung EI autom6vil gris von Claudio Valdes Kuri
221 Fremdheit und Übersetzung als Schlüsselprobleme
226 Transformatives Spiel der Sprachen
235 Fremdverstehen in El autom6vil gris
251 Vom Übersetzen zum Denken des Anderen
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Zu einer postkolonialen Ästhetik interkulturellen Theaters
267 LITERATUR
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EINLEITUNG
"Der Sinn ist unsichtbar, doch das Unsichtbare ist nicht das Gegenteil des Sichtbaren: das Sichtbare selbst hat eine Gliedenmg aus Unsichtbarem, und das Un-sichtbare ist das geheime Gegenstück zum Sichtbaren, es erscheint nur in ihm ... " (Merleau-Ponty 2004: 275)
Interkultureller Austausch prägt die Theatergeschichte seit jeher. Die Römer rezipierten in der Antike das griechische Theater, im 8. Jahrhundert entstand der japanische Hoftanz bugaku durch Tänze, die Einwanderer aus Korea mitbrachten, in Mexiko fanden ab dem 16. Jahrhundert Auto Sacramentales statt, die die katholischen Zeremonien der spanischen Kolonialherren mit indianischen Ritualen vermischten, Meliere hat in seinen Komödien die französische Tradition der Farce mit der Commedia dell'arte aus Italien verbtmden - dies sind nur wenige Beispiele von vielen. Gerade das Theater der westlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und Namen wie Artaud, Craig, Reinhardt, Brecht, Grotowski, Schechner, Brook, Barba, Mnouchkine oder Wilson machen deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Theater, das in kulturell anders geprägten Kontexten entstanden ist, immer wieder zur Entwicklung radikal neuer Theaterästhetiken geführt hat. In dieser Erkenntnis ist wohl der Grund dafür zu sehen, dass es vor etwa zwanzig Jahren einen regelrechten Boom von Publikationen gab, die sich dem Thema dezidiert widmeten. Häufig feierten Theaterkritik und Theaterwissenschaft "interkulturelles Theater" als die avancierteste Form aktuellen Theaters: "In Europe, North America, Asia, and Africa, the aesthetically most advanced contempormy theatres are significantly different from traditional theatres of their respective cultures in that they deliberately adopt theallical elements from foreign cultures. In each case, this results in an intercultural ,performance' [.. .]" (FischerLichte/Gissenwehrer/Riley 1990: 5)
so die Einleitung des Sammelbandes The Dramatic Touch of Difference. Theatre, Own and Foreign, der typisch ist für die Welle theaterwissenschaftlicher Beschäftigung mit interkulturellem Austausch Anfang der
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
1990er Jahre. Diese ist allerdings in der Folgezeit weitgehend abgeebbt, schon seit einigen Jahren ist zumindest im deutschsprachigen Raum kaum mehr etwas Relevantes dazu veröffentlicht worden. Das erstaunt angesichts der Tatsache, dass Fragen der Kommunikation mit dem kulturell Andersartigen durch Globalisierung und Migration zu Begüm des 21. Jahrhunderts eher wichtiger und mittlerweile sogar zu einem zentralen gesellschaftlichen und politischen Problem geworden sind. Sie beschäftigen nicht mehr bloß Diplomaten, vermeintliche "Gutmenschen" und Organisationen des Kulturaustauschs. Dass Menschen in interkulturelle Kontaktsituationen kommen, bestimmt den Alltag von uns allen und damit auch die Rahmenbedingungen, in denen aktuelle Kunst, darunter das Theater, entsteht. Man könnte einen Gtund für die mangelnde Beschäftigung mit interkulturellem Theater darin sehen, dass es angesichts der "Normalität" interkultureller Begegnungen und der faktischen Hybridität unserer Kulturen, die zumindest im akademischen Diskurs weitgehend akzeptiert ist, nicht mehr sinnvoll erscheint, interkulturelles Theater als Spezialfall des Theaters zu behandeln - schließlich findet heute jede noch so lokal verortbare Theaterform vor der Folie des kulturell Andersartigen statt. Aber das leuchtet nicht ein: Es ist schließlich eine Alltagserfahrung, dass sich Verunsicherung breit macht und die Gegenwart Fremder im eigenen Umfeld Angst erzeugt - genauso wie die Gewissheit der Interdependenz der wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Geschicke aller Regionen der Erde. Die wachsende Sehnsucht nach kollektiver Identität innerhalb klar abgesteckter territorialer Grenzen tritt in Diskussionen um die europäische Vereinigung oder Zuwanderungsregelungen deutlich vor Augen. Das Sprechen von ethnischen oder nationalen ldentitäten, die oft mit kulturellen ldentitäten gleichgesetzt werden, erfahrt in den deutschsprachigen Feuilletons eine neue Konjunktur. In anderen Teilen der Welt löst es gewalttätige Auseinandersetzungen aus und zeigt so, dass die regressive Hoffuung, das Lokal-Ethnische könne durch Abschottung oder Kulturkampf vor dem bösen hegemonialen Globalen geschützt werden, letztlich zu einer fatalen Entgegensetzung von Eigenem und Fremden führt. Dennoch findet in der kuratarischen Praxis und in der institutionalisierten Kulturpolitik immer wieder eine Rhetorik der Abgrenzung ihren Platz, und auch die mikrosoziologische Analyse und Selbstbeobachtung zeigen, dass das Thema noch lange nicht erledigt ist: Missverständnis, Romantisierung, Begehren, Irritation, Frust und Aggression gehören zur Erfahrung der Interkulturalität und erfordern verstärkte Reflexion. Es gibt nach wie vor Theater, das man "interkulturell" nennen kann, wenn man darunter zunächst einmal ganz pragmatisch Theaterformen fasst, die aus der Zusammenführung von Elementen unterschiedlicher kultureller Provenienz entstehen. Es haben sich in den vergangeneu zwanzig Jahren allerdings signifikant neue Formen entwickelt: Während 10
Einleitung
es bis in die 1980er üblich war, relativ unbeschwert auf fremde Ästhetiken zurückzugreifen, ist ein solches Vorgehen in den avancierteren Produktionen unüblich geworden. Bei diesen handelt es sich in der Regel um stark selbstreflexive und theoretisch informierte Inszenierungen, die grob zusammengefasst - verdeutlichen, dass interkulturelles Theater immer auch politisches Theater ist; Stichworte: Exotismus, Eurozentrismus, Kolonialismus, Rassismus, ökonomische Abhängigkeiten. Sie zeigen, dass auch frühere Formen interkulturellen Theaters - etwa im Kontext einer Suche nach dem Dionysischen, "Ursprünglichen" im Theater, wie sie sich Teile der Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts zum Programm gemacht hatten, oder auch die postmodernen kulturellen Collagen eines Robert Wilson oder einer Ariane Mnouchkine - nicht unpolitisch waren, sondern implizit ein häufig problematisches Konzept von kulturellen Identitäten, vom "Eigenen" und "Fremden" auf die Bühne brachten. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieneueren Formen interkulturellen Theaters, für das beispielsweise Namen wie Claudio Valdes Kuri, Ralph Lemon oder Ong Keng Sen stehen, dem Publikum eindeutige politische Botschaften und Handlungsaufforderungen vermitteln: Die Zuschauer werden weniger mit vorgetragenen Thesen oder Parolen zur Reflexion angeregt, als durch genuin theaterästhetische Verfahrensweisen, die sie mit den eigenen identitätspolitischen, kulturellen und sozialen Hintergrundannahmen konfrontieren. Die politische Pointe dieser Inszenierungen liegt in den Mehrfachkodierungen und Verwirrungen, der letztlich unauflösbaren Rätselhaftigkeit, dem ständigen Hin- und Hergeworfensein zwischen Entschlüsseln-Können und völligem Fremdheitsgefühl der Rezipienten. Indem sie eine traditionelle Repräsentationsästhetik ablehnen und so erfahrbar machen, dass das vollkommene Verstehen und der objektive Zugriff auf das Fremde und die Kunst unmöglich sind, schaffen sie die Basis für eine dialogische Annäherung - ein unendlicher Prozess, der jedoch als einzige Möglichkeit der interkulturellen Kommunikation jenseits von Enteignung und Aneignung erscheint. Eine solche Ästhetik interkulturellen Theaters bezeichne ich als postkoloniaL Dieser Ästhetik ist dieses Buch gewidmet. Es gliedert sich in zwei Teile: Der erste erläutert die theoretischen Grundlagen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit interkulturellem Theater, der zweite besteht aus exemplarischen Analysen dreier Theateraufführungen. An den Anfang gehört dabei eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff "interkulturelles Theater". Bereits der erste Bestandteil, das Adjektiv "interkulturell", ist vor dem Hintergrund neuerer Kulturtheorien problematisch. Diese - ob semiotisch oder poststrukturalistisch orientiert - vertreten in der Regel ein antiessentialistisches Kulturverständnis: Was also kann "interkulturell" bedeuten, wenn Kulturen sich nicht mehr ohne weiteres bestimmen und abgrenzen lassen? Aufgrund der Erkenntnis, dass es gerrau so, wie die Hybridität und Relativität der Kulturen zu akzeptieren
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
sind - , erfahrbare Unterschiede zwischen den Menschen und unterschiedliche Abstufungen von Fremdheitserfahrung gibt, wovon wir eine Form alltäglich als "kulturelle" Fremdheit empfinden, versuche ich einen brauchbaren Begriff des Interkulturellen zu entwickeln, um dann zu fragen, was dies in Bezug auf die Kunstform Theater heißen könnte. Wenig sinnvoll erscheint es, den Begriff, wie in weiten Teilen der früheren theaterwissenschaftlichen Literatur üblich, als eindeutigen Genrebegriff zu verwenden. Ich werde dafür plädieren, "interkulturelles Theater" heuristisch als Theater zu verstehen, das sich durch eine bewusste Vermischung von Elementen verschiedener kultureller Herkunft charakterisieren lässt und diverse Ästhetiken entwickeln kann. Dass Theater, das durch interkulturellen Austausch entsteht, sehr unterschiedliche Ausformungen annehmen kann, soll eine Skizze seiner Geschichte illustrieren. Denn durch die historische Dimension interkulturellen Theaters ergibt sich seine politische Dimension: Handel und Reisen, aber auch Wanderungsbewegungen und Kriege haben immer wieder Menschen aus aller Welt zusammenkommen lassen. Der neuzeitliche europäische Kolonialismus hat jedoch für einen besonders intensiven Kulturkontakt gesorgt und diesen gleichsam in ein höchst spannungsreiches politisches Konfliktfeld gerückt, das bis heute wirksam ist und dem interkulturellen Theater seine Brisanz verleiht. Interkulturelles Theater ist nicht per se "gut" und dient nicht unbedingt der "Völkerverständigung", wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder proklamiert wurde: So hat es seine Funktionen in der (neo-)kolonialistischen Kulturpolitik erfüllt und tut dies bis heute. Vor diesem Hintergrund werde ich anband der Argumente eines der bedeutendsten Kritiker interkulturellen Theaters, des indischen Theaterpraktikers und -theoretikers Rustom Bharucha, die wichtigsten Themenfelder der postkolonialen Kritik identifizieren und ausführen: Dazu gehört die Diskussion um kulturelle Dekontextualisierung und Universalismus, die ganz zentral die Frage künstlerischer Freiheit und persönlichen Ausdrucks berührt. Ein weiteres Problem ist die Warenförmigkeit interkulturellen Theaters. So steht es immer in einem ökonomischen Zusammenhang; der Kampf um die "Währungen" Geld und Aufmerksamkeit spielt eine wichtige Rolle. Dieser lässt sich auf dem globalen Theatermarkt, das heißt, den internationalen Theaterfestivals verorten. Dass es sowohl auf mikrosoziologischer wie institutioneller Ebene zu Machtasymmetrien bei der Beurteilung künstlerischer Fragen, aber auch bei der Selektion, Präsentation und Kontextualisierung von Aufführungen kommt, liegt auf der Hand. Angesichts der plausiblen Argumente der postkolonialen Theorie ist dies nicht unproblematisch: So kann interkulturelles Theater durch die Anpassung an das, was das "westliche" Publikum an Fremdheit goutiert, die Tradition eines eurozentrischen Exotismus und Grientalismus fortführen. Dabei interessiert häufig nur das vermeintlich "Authentische" oder "Ursprüngliche", wobei meist die Folklo-
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re als solches gilt, während Modernität nach wie vor von vielen als illegitim für außereuropäische Künstler gewertet wird. Ohnehin ist die Annahme grundsätzlich fragwürdig, dass sich das "Eigene" und das "Fremde" klar voneinander unterscheiden lassen: Wohin oder wem ein Zeichen oder ein einzelnes kulturelles Element gehört, ist in Zeiten der Globalisierung immer schwieriger zu beantworten. Dies schlägt sich in einer aktuellen Kontroverse um die kulturellen Folgen der Globalisierung und kulturelle Hybridisierung nieder, die ich kurz umreißen und an die ich eine Reflexion über interkulturelles als grundsätzlich politisches Theater anschließen werde. Dabei vertrete ich die These, dass auch das ästhetizistisch-naive Vorgehen interkulturell arbeitender Theatermacher gegen Ende des 20. Jahrhundert politische lmplikationen hatte und dass in avancierteren Formen eben dieser Sachverhalt mitreflektiert wird. Das letzte Kapitel des Theorieteils widmet sich den methodischen Konsequenzen, die aus den postkolonial inspirierten Überlegungen für eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater resultieren. Die Sichtung der bislang vorliegenden Forschung zeigt, dass bei der Analyse interkultureller Theateraufführungen, wie in der Disziplin üblich, insbesondere auf die Semiotik zurückgegriffen wird, was auch sinnvoll erscheint. Allerdings bevorzugt diese Methode die referentiellen Aspekte einer Theateraufflihrung, die eher performativen Qualitäten können kaum erfasst werden. Dies erscheint mittlerweile - nicht zuletzt angesichts von Entwicklungen wie dem postdramatischen Theater im Sinne Hans-Thies Lehmanus (vgl. Lehmann 2001) -nicht mehr ausreichend und somit ergänzungsbedürftig. Erika Fischer-Lichte hat daher das Desiderat einer Ästhetik des Performativen formuliert und mit deren theoretischer Entwicklung begonnen (vgl. Fischer-Lichte 2004). Vor dem postkolonialen Hintergrund erscheint dies für das interkulturelle Theater besonders notwendig: So werde ich ausführen, dass das Performative als das "Andere" verstanden werden kann und dass das bereits aus epistemologischen Überlegungen heraus problematische Subjekt-Objekt-Verhältnis, das in der Semiotik zentral postuliert wird, im Hinblick auf das interkulturelle Theater hoch problematische, zugespitzt könnte man sagen, eurozentrische Züge hat. Die Phänomenologie hat dazu beigetragen, dass sich seit einiger Zeit eine Rehabilitierung von Sinnlichkeit, Präsenzerfahrung und Ereignishaftigkeit im Kontext ästhetischer Fragestellungen durchsetzt. Mit Merleau-Ponty beispielsweise lässt sich ein Gegenbild zum traditionellen Modell von Objektivität denken, nach dem die Wahrnehmung allem Denken vorausgeht. Die Phänomenologie lehnt die Vorstellung vom entkörperten Blick ab; sie betont, dass Beschreibung immer aus einem bestimmten Blickwinkel heraus geschieht. Meine Vorgehensweise bei der nachfolgenden Beschäftigung mit drei exemplarischen Aufführungen versucht daher, Semiotik und Phänomenologie zu integrieren.
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Im zweiten Teil des Buches diskutiere ich anhand dreier Aufführungen Schlüsselthemen in der Auseinandersetzung mit Interkulturalität auf dem Theater: Performativität von Identität und Raum (Ralph Lemon, Searchingfor Horne); Geschichte und kollektives Gedächtnis (Ong Keng Sen, Beyond the killingfields); Übersetzen und Fremdverstehen (Claudio Valdes Kuri, EI autorn6vil gris). Ich werde herausarbeiten, was der Afroamerikaner Ralph Lemon flir einen Begriff von "Schwarzsein" in Searching for Horne inszeniert, einem Stück, in dem es darum geht, was eigentlich "schwarze" Musik oder "schwarzer" Tanz sein könnten, und um die afroamerikanische Geschichte, um Sklaverei und Segregation. Lemon dekliniert die Frage nach Identitätskonstruktionen auf verschiedenen Ebenen durch: Indem er etwa seine Darsteller auf spezifische Weise Rollenwechsel vornehmen lässt, oder synchron gegenläufige identitätspolitisch aufgeladene, dehomogenisierende Elemente kombiniert (z.B. buckdancing mit klassischem deutschen Liedgesang), inszeniert er ein radikal performatives Konzept von Identität. In diesem Zusammenhang werde ich die Performativität "rassischer", geschlechtlicher und kultureller Identitäten diskutieren. Dabei wird es nicht nur um die identitätspolitische Belegung von Räumen, Orten und Begriffen wie "Heimat" und die fatalen Folgen rassistischer Diskriminienmg gehen, sondern auch um das Spiel von Mimesis, Alterität und subversiver Mimikry. Ong Keng Sens Beyond the killingfields ist formal stark durch den klassischen kambodschanischen Hoftanz geprägt und steht in einer Reihe von Projekten, in denen der singapurianische Regisseur sich intensiv, nahezu theaterhistorisch, mit traditionellen asiatischen Theaterformen befasst. Gleichzeitig bezeichnet er das Stück als "Doku-Performance", und bereits der Titel verweist darauf, dass es auch um die traumatische jüngere Geschichte Kambodschas geht. Indem Ong Keng Sen diese beiden Themenfelder sensibel und vielschichtig miteinander verschränkt, wird das Stück zu einer Reflexion auf Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns und Gedenkens, auf Möglichkeiten des Erzählens vom Trauma zwischen Faktizität und Fiktion, auf Möglichkeiten der Dokumentation des Grauens in der Ambivalenz zwischen Sensationslust und ethischem Anspruch. Es reflektiert in seinem historischen Ansatz auf den Konstruktcharakter kollektiver Identitäten, sowie im Tanz auf den Körper als Ort von Wissen und Gedächtnis, was, wie ich ausfuhren werde, eine handfeste kulturpolitische Dimension hat. El autorn6vil gris von Claudio Valdes Kuri ist eine äußerst unterhaltsame, witzige, kurzweilige Inszenierung, deren Grundidee darin besteht, einen alten mexikanischen Stummfilmklassiker von einer japanischen Benshi, d.h. einer professionellen Stummfilmeinsprecherin, begleiten zu lassen. Phänomene der Multilingualität werden inszeniert, Prozesse des Übersetzens und Kontextualisierens in ihrem transformativen Charakter evident. Man kann anhand dieser Aufführung gut die Bedeutung der Sprache für das interkulturelle Theater diskutieren, gerade, weil sie Spra-
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Einleitung
ehe auch in ihrer performativ-körperlich-sinnlichen Ausformung als menschliches Sprechen erfahrbar werden lässt. Und so wird anhand dieser Inszenierung zu reflektieren sein, was Sprache, Sprechen und Leiblichkeit für eine Rolle im interkulturellen Austausch spielen und was angemessene Begriffe von Translation und Fremdverstehen sein könnten. Dabei werde ich auch auf die Parallelen eingehen, die strukturell der Auseinandersetzung mit dem Fremden wie dem Ästhetischen eignen: Beide entziehen sich per definitionem dem vollständigen Verstehen, während sie gleichzeitig zur Annäherung herausfordern. Beide verlangen das Aushalten des Ambivalenten. Bevor ich beginne: Ohne die freundliche Hilfe der Kolleginnen und Kollegen im Haus der Kulturen der Welt und im Goethe-Institut wäre diese Arbeit ebenso wenig entstanden wie ohne die vertiefenden Gespräche mit Ong Keng Sen, Claudio Valdes Kuri und Ralph Lemon und einer Reihe weiterer Künstlerinnen und Künstler, bei denen ich mich sehr herzlich bedanke. Mein ganz besonderer Dank gilt Erika Fischer-Lichte, die den Anstoß zu diesem Buch gab und durch alle Schreibphasen hindurch eine wichtige Ratgeberirr war, sowie meinem Mann w1d meinen Eltern für ihre Geduld und liebevolle Unterstützung.
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THEORIEINTERKULTURELLEN THEATERS Ausgangspunkt, Kontext, Begriffsbestimmung Lear steht mit dem Rücken zum Publikum. Sehr langsam hebt er seine Arme. Die Bewegung beschleunigt sich, mit viel Schwung wickelt er die bodenlangen Ärmel des prächtigen Mantels um die Unterarme, dann geht er zügig zu seinem Thron, wo er sich blitzschnell frontal zum Publikum dreht. Plötzlich hält er inne. Er setzt sich, die Arme nach vorn gestreckt, und verharrt über einen langen Zeitraum in scheinbarer Ruhe. Es ist ein Moment höchster Intensität, gleichzeitig scheint Lear weit weg und sehr nah, präsent sitzt er da, das Bild beginnt zu flimmern, man könnte eine Stecknadel fallen hören im Berliner Schillertheater. Der Moment dauet1 lang, die Zeit beginnt sich zu dehnen, da kommen die ersten Gedanken: Was soll ich antworten, wenn mich jemand fragt, wie ich's fand? Was soll das Bühnengeschehen eigentlich bedeuten? Ist Lear wütend? Hat es mit seinen Töchtern zu tun, die ihm gleich vor einer langen Reise ihre Liebe schwören sollen, fragt sich die Zuschauerin, die das ShakespeareStück kennt, hat er eine Vorahnung, dass die jüngste, Cordelia, es nicht tun wird? Warum erst diese langsamen und dann diese schnellen Bewegungen? Der informierte Zuschauer hätte vielleicht das für das No-Theater charakteristische rhythmische Gestaltungsprinzip jo-ha-kyu erkannt: Langsamer Bewegungsaufbau, Steigerung der Geschwindigkeit, abruptes Einfrieren im Moment der größten Spannung (vgl. Hashi 1995: 58f.). Shakespeares tragischer König wird in Ong Keng Sens Aufführung Lear im Berliner Schiller-Theater von Naohiko Umewaka aus Japan verkörpert.1 Umewaka stammt aus einer berühmten No-Familie und spielte bereits mit neun Jahren shite-Rollen, die Hauptrollen im No-Theater. Er gibt in der Aufführung nicht viel Hörbares von sich, wenn, dann ist es ein knarrender Sprechgesang, der tief aus der Kehle zu kommen scheint. Im No-Theater sind realistische Darstellungsformen bis zum Äußersten zurückgenommen und an ihre Stelle hochstilisierte Bewegungen gesetzt. Dennoch ist Umewaka, sobald er auftritt, gleich ganz "da", regelrecht energetisch spürbar. Geht er über die Bühne, wirkt es, als gleite oder
Ong Keng Sens Lear hatte im September 1997 in Tokio Premiere und tourte anschließend unter anderem durch Asien, Australien und Europa. In Berlin wurde es vom 23.-26. Juni 1999 im Rahmen des Festivals Theater der Welt im Schiller-Theater gezeigt.
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
schwebe er; seine mit weißen Socken bekleideten Füße hält er stets parallel zum Boden, die Knie leicht gebeugt. Für No-Schauspieler ist der Bauch das Zentrum des Körpers, durch das horizontale Gleiten und häufige Stillhalten, die radikale Reduktion des körperlichen Ausdrucks und die absolute Disziplinierung verkörpern sie verinnerlichte Energie (vgl. Hashi 1995: 30ff.). Lear bildet damit einen starken Kontrast zur "Närrin", die wild in der Aufführung herumspringt und durch eine ausladende Gestik und expressive Mimik ihre Kraft nach Außen zu entladen scheint. 2 Im bunten Jogginganzug wirkt sie lässig, es sieht so aus, als sei sie geradewegs aus dem Berliner oder Tokioter Alltag auf die Bühne gehüpft. Sie kommt auch einem deutschen Publikum gewissermaßen vertraut vor, es macht nichts, dass Hairi Katagiri, die in Japan laut Programmheft für ihren "individuellen Schauspielstil bekannt" und auch in Film und Fernsehen aktiv ist, Japanisch spricht; sie wirkt wie eine Jugendliche aus irgendeiner Metropole der Welt, wenn sie hektisch Wortfetzen von sich gibt oder rappt. Im Gegensatz zu Lear, an dem vieles rätselhaft bleibt, hat die Berliner Zuschauerin das Gefühl, zu "verstehen", wenn die Närrin sich die Videokamera vor das Auge hält und um Lear herumschleicht: das lässt sich recht eindeutig so lesen, dass sie ihn wie eine Touristin filmt, da er ihr exotisch vorkommt. Ein anderes Mal kommt sie von rechts auf die Bühne, vorsichtig, der eine Arm ist nach vom ausgestreckt. Wie sie geht, erinnert an den No-Gang: leicht in den Knien gebeugt, gleitend. Sie bewegt sich rampenparallel bis zur Bühnenmitte, dreht sich dort langsam nach vorn, in unveränderter Haltung. Verharrt. Dann fangt sie an zu lachen, entspannt ihren Körper. Wir im Zuschauersaal lachen auch. Die Närrin hat wirklich gut den No-Schauspieler nachgeahmt, sie ist uns nah, weil auch ihr das No-Theater fern ist, weil sie Lear respektlos imitiert und dabei pointiert auf seine für uns befremdlichen und unverständlichen Bewegungsmuster hinweist. Wenn Jiang Qihu auftritt, dominiert er die gesamte Bühne. Der Peking-Opern-Star spielt in Ong Keng Sens Lear die Rolle der "älteren Tochter", in der Goneril und Regan, die beiden bösen Töchter von Shakespeares König Lear zusammengefasst sind. 3 Jiang Qihu beherrscht 2
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Der Narr spielt eine zentrale Rolle in dem Shakespearschen Drama. Die Figur in Ong Kengs Sens Inszeniemng wird von mir als ,,Närrin" bezeichnet, da die Darstelle1in deutlich als Frau zu erkennen ist. "Peking-Oper" als Begriffist irreführend, da er nahelegt, es handle sich um ein der europäischen Oper vergleichbares Phänomen. Die über 300 lokal sehr verschiedenen Ausprägungen des xiqu, des chinesischen Musiktheaters, sind der europäischen Oper insofern nicht unähnlich, als sie Musik, Tanz, Schauspiel und Gesang kombinieren. Ästhetik und künstlerische Anforderungen unterscheiden sich bei genauer Betrachtung jedoch erheblich. Daher verwende ich lediglich um der besseren Lesbarkeit willen den bei uns allgemein üblichen Terminus "Peking-Oper".
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Ausgangspunkt, Kontext, Begriffsbestimmung
den Gesang mit der in der Peking-Oper für die dan-Rollen (Frauenrollen) typischen Falsettstimme, er singt mit vielen Trillern und Verzierungen und in sehr geringen Tonabständen, was sich für ein an westliche Harmonien gewöhntes Ohr ungewohnt und "schräg" anhört.4 Wie harmonisch erscheinen dagegen die Bewegungen: Sie sind fließend und rund, die "ältere Tochter" hat einen geschmeidigen, leicht auf- und abwippenden Gang, bei dem die Füße immer eng beisammen bleiben. Ihre Gestik zeichnet sich durch permanente, sehr elegant wirkende Handbewegungen aus. Charakteristisch sind das regelmäßige kurze Einfrieren in bestimmten Posen und das Spiel mit den weiten Ärmeln ihres prächtigen, weit ausgestellten roten Mantels. Sie trägt einen auffälligen Kopfputz, der mit einer Vielzahl gold-glitzernder Metallstäbchen verziert ist. Das Gesicht ist weiß geschminkt, die Augenpartie mit violettem Lidschatten, die Wangen rosa, und die Lippen dunkelrot hervorgehoben. Kenner können Übereinstimmungen mit dem theatralen Kode der Peking-Oper feststellen: Das Prinzip der Rundheit und perfekten Balance dominiert das kirresisehe System - es entspricht zum einen dem Grundkonzept der traditionellen chinesischen Philosophie, das sich in dem taoistischen YingYang-Symbol verdichtet (vgl. Haisou 1982: 44). Zum anderen liegt ihm auch das Prinzip des Qi (Atem, Geist, Präsenz) zugrunde: Das QiZentrum wird im Bauch verortet und chinesische Darsteller achten darauf, dass es dem Körper nicht entweicht, was durch die runden Bewegungen erreicht werden soll. Die Peking-Oper ist stark kodifiziert und das Bewegungsrepertoire für die einzelnen Rollentypen streng festgelegt. Beispielsweise die Gänge, für die es ein ausdifferenziertes System von Regeln gibt, die die Abstände zwischen den Füßen, Schrittgrößen, Fußhaltungen usw. bestimmen (vgl. Zung 1964: 117ff.). Von besonders großer Bedeutung sind in der Peking-Oper die Arm-, Hand- und Fingerbewegungen, mit denen häufig auch das Spiel mit den langen shuixui ("Wasserärmel") verbunden ist. So existieren allein 107 unterschiedliche Handbewegungen, die klare Bedeutungen haben. Ein Flattern der Hände zeigt etwa extreme Nervosität an oder Ärmelschlagen Ekel (vgl. Halson 1982: 44). Das sind Gesten, die wir auch bei der älteren Tochter in der Lear-Aufführung häufig beobachten können. Welche Bedeutung ihnen die einzelnen Zuschauer im Berliner Schillertheater beilegen, ist allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach sehr unterschiedlich: Wer die Kodes der chinesischen Oper kennt, kann sie eindeutig lesen; jemand mit weniger Vorwissen assoziiert vielleicht Aufgeregtheit, die einen sind möglicherweise von der Kunstfertigkeit der Bewegungen fasziniert, die anderen gelangweilt oder ungeduldig, weil sie "nichts verstehen".
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Konzept und Technik des Singens im xiqu unterscheiden sich fundamental von westlichen Gepflogenheiten. Je nach Gemütslage, Charakter und Status der Figur sind Stil und Melodie gerrau festgelegt (vgl. Riley 1997: 245).
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Ong Keng Sens Lear: Eine neue Form interkulturellen Theaters Versteht man unter "interkulturell" zunächst einmal das Zusammentreffen von Menschen, Zeichen oder anderen Elementen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, lässt sich Lear von Ong Keng Sen als "interkulturelles Theater" bezeichnen: Das deutsche Publikum des Festivals Theater der Welt 1999 wurde im Lear mit einer AuffUhrung konfrontiert, die in einem ihm relativ fremden Kulturkreis erarbeitet worden war. Die Inszenierung entstand außerdem aus der Zusammenarbeit des Regisseurs, der aus Singapur stammt, mit etwa dreißig Künstlern aus China, Indonesien, Japan, Malaysia, Singapur und Thailand. Die Beteiligten griffen bei der Rollengestaltung je auf ihre spezifischen Theatertraditionen und Muttersprachen zurück. So spricht die "ältere Tochter" Mandarin und orientiert sich mit ihren stilisierten, fließenden und runden Bewegungen an dem kinesischen System der Peking-Oper. König Lear richtet sich nach den Regeln des No-Theaters: Auch, indem er ein etwas altmodisches Japanisch und die spezielle Vokaltechnik des No-Gesangs benutzt. 5 Die ,Jüngere Tochter", vergleichbar mit Cordelia aus Shakespeares Drama, redet Thai und hält sich in ihren Tänzen an den traditionellen thailändischen khon- und lakhon-Tanz. Die moderne japanische Alltagssprache, der gesamte Habitus der Närrin dagegen entsprechen am ehesten heutigen Konventionen. Der Gefolgsmann Lears und seine Krieger wiederum sprechen Bahasa Indonesia und verwenden Elemente des indonesischen Kriegstanzes pencak silat. Ong Keng Sen hat in der Inszenierung damit vorwiegend mit Meistern asiatischer Theaterformen zusammengearbeitet, die stark kodifiziert sind, d.h. über ein festes Zeichenrepertoire und klar festgelegte syntaktische, semantische und pragmatische Regeln verfügen, die bis heute verbindlich sind. Inwieweit die einzelnen Elemente, die im Lear zum Einsatz kamen, "korrekt" aus ihrem Ursprungskontext übernommen wurden, ja ob sie überhaupt in dieser Fotm in einer bestimmten Theatertradition verankert sind, ließ sich für die westlichen Zuschauer, und wohl auch für einen Großteil des asiatischen Publikums, allerdings kaum sagen. Eingeweihte konnten hingegen beobachten, dass die Kodes meist nicht "rein" angewendet wurden: Beispielsweise trug Lear wie der shite im No-Theater Masken und ein an den japanischen Jagdmantel kariginu erinnerndes Gewand. In Details - Farbgebung, Verzierungen, Materialien- wich seine äußere Erscheinung jedoch von den Vorgaben des No5
Der No-Gesang zeichnet sich dadurch aus, dass die Stimme im Rachen erzeugt wird. Die dadurch entstehende Lautqualität wirkt tief und dunkel, das Vibrato in der Stimme ist unregelmäßig und hat starke Höhenschwankungen. Die Musik des No-Theaters ist monophon und verzichtet auf die in der westlichen Musik üblichen Harmonien und Rhythmen, was auch bei Lears Gesängen der Fall ist (vgl. Barth 1972: 115 u. Bethe/Brazell1986: 42).
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Ausgangspunkt, Kontext, Begriffsbestimmung
Theaters ab und ähnlich war es auch bei den anderen Darstellern: Die Zeichen, die von den einzelnen Personen hervorgebracht wurden - ihr Äußeres, ihre Sprache, ihre Bewegungen - waren stets eine Kombination von Elementen unterschiedlicher kultureller Provenienz. Auch der gesprochene Text, der Raum, die Requisiten und nicht zuletzt die Musik, die die schauspielerische Aktion begleitet hat, sorgten durchgängig für eine solche Vermischung: So wurde die ältere Tochter von der japanischen Laute biwa begleitet und Lear von der chinesischen yueqin, von Synthesizer- oder indonesischer Gamelan-Musik. Durch die Inszenierung zog sich das Prinzip der Polyphonie: Viele Stimmen spielten- gegeneinander und zusammen. Sich eigentlich fremde Elemente traten gleichberechtigt auf, ergänzten und widersprachen einander. Und so ist Ong Keng Sens gesamte Inszenierung genauso wenig wie einzelne Sequenzen oder Figuren eindeutig einem bestimmten kulturellen Kontext oder theatralen Kode zuzuordnen. Lear ist auf allen Zeichenebenen ein hybrides Gefüge, wobei ich mit Bronfen et al. als hybride verstehe, "was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der Collage, des samplings, des Basteins zustandegekommen ist." (Bronfen et al. 1997: 14) Mit seiner Inszenierung stieß Ong Keng Sen europäische Zuschauer und Rezensenten vor den Kopf, die andere Erwartungen an eine "authentisch asiatische" Theateraufführung mitbrachten, wie Ong berichtet: "One of the comments I have got on LEAR from the Europeans who have seen it is: 0 my God, this is not what we imagined is Asia! What they find particularly interesting is that LEAR in the second half shifts into a much more kind of, as they say, ,Feels like Hollywood' or ,Feels like elements of modern Musicals... ' And I say, oh that's our experience. The modern Musical is also part of our 1andscape." (Ong in Fiebach 1999: 131 )6 So negiert Ong Keng Sen in seinem Lear die Möglichkeit kultureller "Reinheit". Er regt dazu an, darüber nachzudenken, wie kulturelle Identitäten entstehen, und sich der Einsicht zu nähern, dass das Beharren auf fixen Grenzen mehr und mehr fragwürdig wird, wenn es das nicht schon immer war. Den Zuschauern, oft genug sehnsüchtig nach dem "Nichtwestlich-Ursprünglichen" wird die Hoffnung genommen, in Asien noch so etwas wie "authentische" Traditionen finden zu können. Kulturelle 6
Nach Ongs eigenem Empfinden sind die Inszenierung und er selbst natürlich "authentisch": "I know I am Chinese and I know that I am authentic but it is very interesting because people are out there, some Festival directors for example, they would rather prefer to get a program from China than to get a program of a Singaporean Chinese, because for them it is not authentic. So in that sense, I think that my work questions the notion of the authentic." (Ong ebd.: 130)
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Mischformen sind typisch für unsere Zeit der Globalisienmg und werden von Ong als solche inszeniert. Seine Methode kann dabei als "kulturelle Collage" bezeichnet werden - 1999 keine neue Erscheinung auf dem W elttheater: Regisseure wie Ariane Mnouchkine, Robert Wilson, Peter Brook oder Tadashi Suzuki haben schon in den 1970er Jahren Projekte auf die Bülme insbesondere westlicher Metropolen gebracht, die nicht nur allgemein interkulturelles Theater, sondern "kulturelle Collagen" im Sinne Fischer-Lichtes waren: "Aus den verschiedenen kulturellen Systemen mindestens zweier deutlich voneinander distinkter Kulturen werden Elemente herausgebrochen und in der Inszenierung zueinander in Beziehung gesetzt." (Fischer-Lichte 1999: 179f.)
Dabei verknüpften beispielsweise Brook und Suzuki mit ihren interkulturellen Collagen explizit den Anspruch, eine theatrale Universalsprache zu entwickeln. Peter Brook wählte sprachliche und kinesische Elemente aus, von denen er meinte, dass sie über historische und kulturelle Differenzen hinweg universell kommuniziert und somit auch in anderen als ihren Ursprungskontexten gedeutet und verstanden werden könnten. Ähnlich hatte Tadashi Suzuki es sich zum Ziel gesetzt, Körper und Sprache als Universalien hinter ihren kulturellen Ausprägungen zu finden (vgl. Suzuki 1991: 241). Dass auch Ong Keng Sen bei der Lear-Inszenierung aufder Suche nach einer theatralen Universalsprache war, ist hingegen kaum anzunehmen. Denn sicherlich wird niemand behaupten, die verwendeten theatralen Elemente seien universell verständlich. Ob Mandarin oder die Gestik des No-Theaters - ohne den entsprechenden Kode mit seinen Regeln gelernt zu haben, wird ein Rezipient höchstens durch Zufall dem Zeichen die fixierte Bedeutung zusprechen. In gewisser Weise scheint es daher, als würde Ong Keng Sens Theater eher den Collagen Robert Wilsons ähneln, die in keiner Weise auf "Verstehen" zielten: Elemente unterschiedlichster Kulturen standen in dessen Inszenienmgen nebeneinander und waren - für Wilsons "Theater der Präsentation" charakteristisch -vom Zuschauer beliebig mit Bedeutungen verknüpf- oder als desemantisiertes Fragment rezipierbar (vgl. Fischer-Lichte 1999: 148ff.). Die fremden Theatertraditionen dienten Wilson als Reservoir, seine ganz eigene Theaterästhetik weiterzuentwickeln, die weniger mit Entschlüsselbarkeit als mit der Betonung performativer Aspekte des Theaters zu tun hatte. Bei Ong Keng Sens Lear liegt jedoch noch ein anderer Sachverhalt vor. Es findet keine durchgehende Dekonstruktion von Zeichen statt, vielmehr vollziehen sich unterschiedliche Fonneu der Zeichenverwendung und Bedeutungskonstituierung, die bei jedem Zuschauer individuell anders verlaufen. 7 Das deutsche Publikum hat mit Sicherheit viele der 7
In der Aufführung Lear lassen sich drei Grundmöglichkeiten der Rezeption der einzelnen Zeichen identifizieren: (1) Die Möglichkeit, dass ein 22
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Zeichen auf der Bühne anders wahrgenommen als es etwa ein Zuschauer getan hätte, dem wenigstens eine auf der Bühne gesprochene Sprache z.B. Mandarin, Japanisch oder Thai - vertraut gewesen wäre oder der aufgrund seiner Kenntnis des entsprechenden Kodes die einzelnen Zeichen des No- oder des Peking-Oper-Schauspielers eindeutig hätte "lesen" können. So konnte es den einzelnen Lauten, Wörtern, Sätzen kaum bestimmte Bedeutungen beilegen und der Klang, die Qualität der Töne, die Farben der Laute, die die Schauspieler von sich gaben, dürften in der Rezeption dominant gewesen sein. Es konnte, das wurde schnell klar, bei diesem Theatererlebnis nicht darum gehen, die Bedeutungen zu erschließen, die Ong Keng Sen oder die Kenner der jeweiligen stark kodifizierten asiatischen Theaterform den einzelnen Elementen der Aufführung zugesprochen hätten. Insgesamt blieben die Elemente, Zeichen und Zeichenkomplexe stets multivalent, standen dabei aber trotzdem nicht völlig autonom nebeneinander: Es war eine lineare, handlungslogische Verkettung erkennbar und es wurde ganz klar eine Geschichte erzählt- die von Lear und seinen Element als Zeichen eines konkreten Kodes erkannt wird und der Kode dem Zuschauer vertraut ist. Dann kann es mit der adäquaten Bedeutung belegt werden. So flattert die ältere Tochter Lears z.B. häufig mit den Fingern. Ein Zuschauer, der die Regeln der Peking-Oper beherrscht, kann dies eindeutig als Zeichen fiir Nervosität lesen. (2) Ein Element kann aber auch als Zeichen identifiziert werden, dem Zuschauer die Bedeutung im Herkunftskontext jedoch unbekannt sein. Er kann dann durch exteme Umkodiemng Bedeutungen zuweisen - etwa indem er sich auf sein Wissen über die andere Kultur stützt. Es gibt zudem die Möglichkeit der internen Umkodierung, bei der die Zeichen aufgmnd von Infom1ationen gelesen werden, die innerhalb derselben Auffiihrung gegeben werden (vgl. hierzu Gissenwehrer I 990: I 54). Die flattemden Hände können z.B. durch die Beobachtung gedeutet werden, dass die ältere Tochter immer dann mit den Händen flattert, wenn sie Pläne schmiedet oder sich in Konflikten befindet. Es ist noch eine Variante denkbar: Der Zuschauer erkennt das Zeichen als solches und weiß auch, dass es präzise kodifiziert ist. Dadurch, dass ihm aber der Kode nicht vertraut ist, legt er dem Zeichen keine weitere Bedeutung bei. Das Element ist quasi desemantisiert und fungiert als "leeres" Zeichen im Sinne Fischer-Lichtes (vgl. Fischer-Lichte 1999: 96). Im Falle der flatternden Finger würde der Zuschauer diese im Wissen darum, dass sie in der Peking-Oper eine fixierte Bedeutung haben, nicht weiter interpretieren, sondern die Bewegung einfach in ihrem Vollzug betrachten. (3) Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass der Zuschauer die einzelnen Elemente nicht als Zeichen für etwas- z.B. für Handlungen oder Gefiihle - , sondem als abstrakte, irrsignifikante Formen und Objekte wahrnimmt. In diesem Fall werden sie als Zeichen destruiert und mit zufälligen Assoziationen verknüpft. Die referentielle Funktion des Theaters h·itt zugunsren seiner performativen vollständig zurück. Das heißt jedoch nicht, dass es sich hier nicht um "Bedeutung" handelt: "Bewusste Wahrnehmung erzeugt immer Bedeutung, und ,sinnliche Eindrücke' lassen sich daher angemessener als jene Art von Bedeutungen beschreiben, die mir als spezifische sinnliche Eind1ücke bewusst werden. Daraus folgt allerdings nicht, dass sie sich umstandslos sprachlich ausdrücken lassen." (Fischer-Lichte 2004: 146f.)
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Töchtern - , so unterschiedlich sie in den Details für die einzelnen Rezipienten auch sein mochte. Die heterotopische Lear-Bühne mit ihrem an einen hanamichi oder hashigakari erinnernden, scheinbar ins Nichts führenden Steg, mit ihrem diffusen Licht und ausgerechnet mit einer Närrin als einziger Figur, die einem einigermaßen vertraut vorkam, bot so Raum für verschiedene Referenzsysteme, die nicht auf ein einziges homogenes System reduzierbar waren. 8 Sie war ein Ort des spielerischen Experimentierens mit verschiedenen Identitäten, machte ein ständiges, durch Mobilität, Vielfältigkeit und permanentes Grenzüberschreiten gekennzeichnetes "Dazwischen-Sein" erfahrbar. Hier wird der liminale Charakter der kulturellen Collage Ong Keng Sens deutlich, ganz im Sinne Victor Turners, der meint, dass "[ ... ] die analytische Zerlegung der Kultur in Faktoren und die freie oder ,spielerische' Neukombination dieser Faktoren zu jedem nur möglichen Muster, wie verrückt dies auch sein mag, das Wesen der Liminalität, die Liminalität par exellence" ausmachen (Turner 1989: 42). Der Begriff "Liminalität" stammt übrigens aus der Ritualtheorie Arnold van Genneps, der in seinem wegweisenden Werk Les rites des passage (1908) Riten beschrieben hat, die den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einer kosmischen bzw. sozialen Welt in eine andere begleiten. Die Grenzüberschreitung ist konstitutiv f1ir Übergangsriten, in denen der "Grenzgänger" seine alte Identität zugunsten einer neuen aufgibt und die aus drei Phasen bestehen: der Trennungsphase, der liminalen Schwellen- und Umwandlungsphase und der Angliederungsphase. Häufig ist die mittlere Phase stark ausgebildet und weist eine gewisse Autonomie auf (vgl. van Gennep 1999: 183f.). Turner hat den Begriff der Liminalität auf nicht-religiöse Handlungen ausgeweitet und 8
Der hanamichi, der fur die Kabuki-Bühne charakteristisch ist, und der hashigakari des Nö-Theaters erfüllen wesentliche Funktionen fur Übergänge und Transformationen in ihrenjeweiligen Theatertraditionen (vgl. Hashi 1995: 38). Der Lear-Raum wirkte dunkel, wie ein Ort des Schwellenzustands, als ein liminaler Raum zwischen verschiedenen Identitätsbestimmungen, was sich sowohl auf die Transformationen Lears in dem Stück wie auch auf den interkulturellen Charakter der Inszenierung beziehen ließ. Daher habe ich an anderer Stelle die Lear-Bühne als Heterotopie im Sinne Foucaults bezeichnet, der diese als "realisie1te Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentieii, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können" beschreibt (Foucault 1998: 39). Es ist in diesem Kontext auch bezeichnend, dass Ong Keng Sen die Figur des Nan·en von Shakespeare übernommen und ihr eine Hauptrolle zugewiesen hat: Zumindest im vormodernen Europa steht die Narrenfigur in enger Verbindung zum Ausnahmezustand der Liminalität. In diesem Sinne beschreibt HelmarSchramm die Vertreibung des Narren von der europäischen Bühne. Er argumentiert, dass das Privileg der Grenzüberschreitung den Narren zu unkontrollierbar machte, was der Transformation des Theaters zum rhetorischen Medium, zur "Sittenschule" im 18. Jahrhundert entgegen stand (vgl. Schramm 1990: 220ff.).
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versteht darunter eine Befreiung von normativen Zwängen, die es ermöglicht, neue Identitäten, Modelle, Paradigmen etc. entstehen zu lassen. Sie ist damit auch immer ein Ort potentieller kultureller Kreativität (vgl. Turner 1989: 73). Insgesamt lässt sich im Vergleich zu anderen kulturellen Collagen, wie sie etwa Brook, Suzuki oder Wilson inszeniert haben, feststellen, dass Ong weder versucht, eine theatrale Universalsprache zu entwickeln, noch eine radikale Desemantisierung vornimmt, bei der überhaupt keine intersubjektiv teilbaren Bedeutungen mehr entstehen können. Ong lässt viele Perspektiven zu, es gibt nicht die eine "richtige" Lesart. Universell für jeden Betrachter ist lediglich die Erfahrung, dass inuner wieder fremde und auch vertraute Elemente in unterschiedlichen Abstufungen auftauchen -nicht nur fiir einen europäischen Betrachter, sondern auch für Ong Keng Sen selbst oder einen asiatischen Zuschauer. Und so handelt es sich nicht um die bloße Inszenierung des Eigenen oder des Fremden, sondern vielmehr um die bewusste und programmatische Inszenierung der Komplexität des Gefüges, welches sich aus den vielfältigen, verschichteten Beziehungen zwischen beidem ergibt. Es geht um die unaufhörliche Bewegung zwischen den beiden Extremen des eindeutigen InterpretierenKönnens und des Verschlüsselt-Bleibens, um ein Spiel also auch mit den Grenzen interkulturellen Verstehens, das der Zuschauer selbst während des Theaterbesuchs vollzieht. Und so provoziert die Inszenierung letztlich die Frage, was für eine Haltung hinter einer Suche nach der Universalsprache steht und welche hinter einer völligen Desemantisierung: Steckt hinter der gut gemeinten Vorstellung, man könne sich mit den "Anderen" auf einer universellen Ebene vollständig verstehen, nicht möglicherweise eine problematische Aneignung des Fremden, die dessen Eigensinn negiert, es gar auslöscht? Ist eine universalistische Herangehensweise also nur die freundliche Seite eines grundlegenden Ethnozentrismus, dessen dunkle, hässliche Seite sich in Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung konkretisiert? Und was bedeutet es, das Gegenteil zu behaupten, dass nämlich Verstehen überhaupt nicht möglich sei; ist der absolute Relativismus tatsächlich das angemessenere Konzept für interkulturellen Austausch? Auf der relativistischen Perspektive basiert die multikulturalistische Vorstellung, nach der Kulturen sauber voneinander abgrenzbar sind, aber dennoch friedlich nebeneinander existieren können. Aber schreibt dieses Konzept nicht in letzter Konsequenz künstlich Grenzen fest, wo fließende Übergänge sind und fixiert den Anderen auf unzulässige Weise? 9 Und verwischt zudem reale Ungleichheiten so9
Multikulturalität ist die Existenz unterschiedlicher kultureller Muster in einer Gesellschaft. "Multikulturalismus" hingegen ist ein politisches Konzept, das die Gleichberechtigung der Kulturen in einer Gesellschaft fordert und dies meist damit begründet, dass kulturelle Vielfalt eine Bereicherung darstellt. Kritiker lehnen sowohl die inhärente Verwertungslogik als auch den Gedanken
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zialer, politischer und wirtschaftlicher Natur? All diese Fragen verweisen auf die Tatsache, dass interkulturelles Theater immer mit dem Problem konfrontiert ist, wie man angemessen mit dem Fremden umgehen kann und darauf, dass dieses Problem nie nur ein ästhetisches ist, sondern stets auch ein ethisches und politisches. Auf diesen Sachverhalt reflektiert auch Ong Keng Sens Inszenierung Lear. Mit seinem interkulturellen Theater knüpft Ong also einerseits an das interkulturelle Theater der 1970 und 80er Jahre an, vor allem an die kulturelle Collage. Gleichzeitig stellt er es mit seinem Anspruch auf Universalität oder seinem relativ unreflektierten Multikulturalismus in Frage und entwickelt es weiter zu etwas völlig Neuem. Zu etwas, das durch seine spezifische Ästhetik allgemeine Probleme interkultureller Kommunikation und des Fremdverstehens in den Blick rückt. Und damit auch den Sachverhalt, dass interkulturelles Theater, ja Kulturaustausch im Allgemeinen, entgegen landläufiger Annahmen komplexe, nicht unproblematische Implikationen hinsichtlich der Begriffe von kultureller Identität hat und nicht unbedingt "gut" ist und der "Völkerverständigung" dient. Ongs Inszenierung führt zudem exemplarisch vor Augen, dass interkulturelles Theater sich verändert hat. Es erstaunt, dass die Theaterwissenschaft trotz Globalisierung und exponentialer Zunahme von Kontakten zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft, trotz damit verbundener neuer gesellschaftlicher und politischer Fragestellungen und neuer künstlerischer Phänomene, in den letzten Jahren kaum noch dezidiert auf die aktuellen Formen interkulturellen Theaters blickt.
Interkulturelles Theater in der Wissenschaft Interkulturalität ist ein vergleichsweise selten behandeltes Thema in der Theaterwissenschaft und in Deutschland wurde in letzter Zeit kaum noch dazu publiziert. Dies mag damit zusammenhängen, dass falschlieherweise angenommen wird, es handele sich bei interkulturellem Theater um eine Randerscheinung oder eine ganz bestimmte, ästhetisch uninteressante Theaterform Zweierlei lässt diese Annahme als Ignoranz erscheinen: Zum einen die Tatsache, dass heute, in Zeiten der Globalisierung, Interkulturalität eher den Normal- als den Ausnahmefall darstellt. Zum anderen scheint hier ein verengtes, eurozentrisches Bild von interkulturellem Theater vorzuliegen, das mit dem Begriff ein nicht mehr ganz aktuelles Theatergenre verknüpft, das große westliche Regisseure wie Ariane Mnouchkine, Peter Brook oder Robert Wilson seit den 1970em entwickelt haben. Mit deren Popularität in den 1980 und 90em ist auch die
ab, Kulturen ließen sich klar voneinander abgrenzen, was ihrer Hybridität widerspricht (vgl. Bhabha 2000: 18f.).
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Welle theaterwissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema zu erklären, die in jener Zeit hochschwappte und heute weitgehend zurückgegangen ist. In Deutschland hat Erika Fischer-Lichte dazu geforscht, international haben die Publikationen u.a. Bonnie Marrancas oder Patrice Pavis' wesentlich zum Diskurs beigetragen. 10 Wissenschaftlicher Kontext 1: Anthropologische Performancetheorie Der akademische und theoretische Kontext, in dem diese Forschung steht, ist stark geprägt durch die anthropologische Performancetheorie. Dass Theatertheoretiker, Theaterschaffende und Anthropologen bzw. Ethnologen wichtige Berührungspunkte und gemeinsame Interessen entdeckten, hängt sicherlich auch mit der Affinität der westlichen Avantgarde bereits um 1900 und dann wieder in den 1960er Jahren zum außereuropäischen Theater und zu Ritualen zusammen. Meist im Bestreben, neue Formen der Zuschauerpartizipation zu entwickeln und das Theater zu "retheatralisieren", beschäftigten sich so unterschiedliche Regisseure wie Edward Gordon Craig, Bertolt Brecht, V sevolod Meyerhold, Alexander Tairov, Antonin Artaud, Max Reinhard, und später Jerzy Grotowski, Eugenio Barba oder Peter Brook mit nicht-westlichen, häufig asiatischen Theaterformen. Auf der anderen Seite existierte in der Ethnologie von je her ein spezifisches Interesse am Performativen; was unter anderem darin begründet liegt, dass viele außereuropäische Kulturen, auf die sich die Ethnologen traditionell konzentrieren - die "Wilden", "Fremden" - oft von oralen Traditionen geprägt waren. Seit den 1960em entwickelten sich im Umfeld der Sozial- und Kulturanthropologie daher nicht durch Zufall die sogenannten performance studies. Milton Singer führte 1958 den Begriff der cultural performances ein, worunter kulturelle Darstellungen zu begreifen sind, die gemeinsame Züge mit dem Theater im engeren Sinne haben, etwa Rituale und Zeremonien. Auch der Ethnologe 10
Zu den ersten wichtigen Publikationen zählten: Fischer-Lichte, E./ Gissenwehrer, M./ Riley, J. (1 990): The Dramatic Touch o.f Difference. Theatre, Own and Foreign. Tübingen; Pavis, P. (1996): The Intercultural Performance Reader. London!New York; Weiler, C. (1994): Kultureller Austausch im Theater: Theatrale Praktiken Robert Wilsons und Eugenio Barbas. Marburg. 1991 erschien, herausgegeben von B. Marranca und G. Dasgupta, die Anthologie Interculturalism and Performance. Sie versammelt Aufsätze der zentralen Praktiker und Theoretiker interkulturellen Theaters ihrer Zeit, darunter Victor Turner, Tadashi Suzuki, Andrzej Wirth, Richard Schechner, Edward Said und Una Chaudhuri. Die Publikation gibt einen guten Überblick über die relevanten Standpunkte Ende der 1980er (vgl. Marranca/ Dasgupta 1991). Hinzu kommen Publikationen, die sich mit einzelnen Regisseuren befassen, deren Inszenierungen als "interkulturelles" Theater bezeichnet werden können, etwa Joachim Piebachs Auseinandersetzung mit Wole Soyinka (vgl. Piebach 1998).
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Victor Turner fand im Bereich der Performance bzw. des Theaters sein Modell zur Beschreibung sozialer Phänomene. So verstand er, ausgehend von Feldforschungen in Sambia, gesellschaftliche Krisen und deren inszenatorische Lösungsversuche als "soziale Dramen" . Lange bevor in den 1990em der sogenannte performative turn die Geisteswissenschaften insgesamt verändern sollte, hat Turner die Performativität von Ritualen, deren Aufführungscharakter und die Gebundenheit an physische Präsenz und konkretes, sinnlich-ästhetisches Erleben ins Zentrum seiner Theorie gerückt. Damit hat er bereits vor der "Krise der Repräsentation" in der Ethnologie, die das ethnographische Dilemma, Kulturen "zu schreiben" (James Clifford) und nicht bloß zu "re-präsentieren", offenlegte und die gesamte Disziplin erschütterte, die strukturalistische Reduktion kultureller Phänomene auf Texte in Frage gestellt (vgl. Turner 1989: 140-1 60). Mit seinen Studien The Ritual Process (1969) und From Ritual to Theatre ( 1982) hat er die Ritualforschung und die performance studies wesentlich vorangebracht und gemeinsam mit dem Theaterwissenschaftler und -praktiker Richard Schechner Projekte an der Schnittstelle zwischen Ethnologie und Theater durchgeführt. In den 1980ern etablierten sich in Folge des interdisziplinären Department ofPerformance Studies an der New York University, das Schechner mitgegründet hat, zunehmend Institute für performance studies, die den Bogen zwischen Sozialwissenschaften, Theaterwissenschaft und cultural studies schlagen (vgl. Phelan 1998 u. Schechner 1998). Die Ankündigung zu einem Schechner-Seminar von 1979 macht die enge Verbindung von Performancethemen und Interkulturalität deutlich. Es hatten sich angekündigt "[ ... ] leading American and world figures in the perforrning arts and the social anthropology, psychology, semiotics, and the performing arts. The course examines theatre and dance in Western and non-Westem cultures, ranging from the avantgarde to traditional, ritual, and popular forrns." (Schechner 1998: 358)
Zwanzig Jahre später hat sich daran nicht viel verändert - abgesehen von der Begrifflichkeit, in der nun auch Idiome postkolonialer Theorie eine wichtige Rolle spielen. So schreibt Schechner: "PS [Performance Studies, Anm. d. Verf.] assumes that we are living in a postcolonial world, where cultures are colliding, interfering with each other, and energetically hybridizing. PS does not value ,purity'. In fact, academic disciplines are most active and important at their ever changing interfaces. [... ] Accepting ,inter' means opposing the establishment of any single system of k:nowledge, values, or subject matter." (Ebd.: 360f.)
Wissenschaftlicher Kontext II: Postcolonial Studies Vor dem Hintergrund, dass der den Diskurs prägende Begriff "interkulturelles Theater" in erster Linie Formen bezeichnet, die westliche- europäische oder euro-amerikanische - Elemente mit außereuropäischen ver-
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binden, ist neben der Performancetheorie die postkoloniale Theorie ein wichtiger Kontext der Beschäftigung mit dem Thema. Auch wenn der Postkolonialismus keine einheitliche Theorie oder Methodologie aufweist, lässt sich unter dem Begriff ein kolonialismuskritisches Paradigma wissenschaftlichen Arbeitens verstehen, sowie ein Forschungsfeld, das sich aus den komplexen Phänomenen zusammensetzt, die der Kolonialismus in Kultur, Gesellschaft und Individuum eingeschrieben hat. Insofern wird der Begriff "Postkolonialismus" auf zweifache Weise benutzt: Deskriptiv und programmatisch. Beschreibend bezieht er sich auf die Zeit nach der Unabhängigkeit der europäischen Kolonien. Problematisch ist diese Anwendung des Begriffs, weil sowohl die Formen des Kolonialismus selbst erheblich differieren -man denke allein an die Unterschiede ehemaliger Eroberungskolonien (z.B. in Afrika, Indien oder der Karibik) zu Siedlungskolonien, in denen die Ureinwohner (z.B. Indianer, Maories, Aborigines) als Minderheiten leben-, als auch die Gesellschaften, die rein formal unabhängig sind: "A country may be both postcolonial (in the sense of being formally independent) and neo-colonial (in the sense of remairring economically and/or culturally dependent) at the same time." (Loomba 1998: 7)
Programmatisch wird der Begriff "postkolonial" im Rahmen eines Diskurses gebraucht, der als kritische Reaktion auf den Kolonialismus die Emanzipation der ehemals Kolonisierten zum Ziel hat. Er ist auf diese Weise flexibler einsetzbar und ich möchte mich der Definition von Moore-Gilbert anschließen, wonach unter "Postkolonialismus" ein "set of reading practices" zu verstehen ist, "[ ... ] preoccupied principally with analysis ofcultural forms which mediate, challenge or reflect upon the relations of domination and subordination - economic, cultural and political - between (and often within) nations, races and cultures, which characteristically have their roots in the history of modem European colonialism and [... ] continue tobe apparent in the present era ofpostcolonialism." (Moore-Gilbert 1997: 12)
Auch der nachwirkende Kolonialismus oder neokoloniale Strukturen, die durch wirtschaftliche und politische Interventionen in verschiedenen Regionen der Welt geschaffen wurden, sind so Gegenstand postkolonialer Reflexion. Ebenso wie globale Migrationsbewegungen, zumal der Diasporas aus der sogenannten Dritten Welt, die als ethnische Minoritäten etwas von dem kolonialen Konfliktpotential in die westlichen Zentren tragen und diese multikulturell verändern. Insbesonders Intellektuelle, die aus der "Dritten Welt" stammen und in europäischen oder usamerikanischen Metropolen wie London oder New York in der Diaspora leben, haben den postkolonialen Diskurs geprägt, etwa Salman Rushdie, Paul Gilroy, Homi K. Bhabha oder Gayatri C. Spivak. Wichtige Inspira-
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tionsquelle für viele dieser Denker waren und sind die Schriften des afrokaribischen Psychiaters Frantz Fanon (1925-1961), der psychopathologische und marxistische Ansätze in seiner Analyse eurozentristischer Rassendiskriminierung als Grundlage des Kolonialsystems verbindet. Die Anfänge der akademischen postcolonial studies werden vielfach auf 1978 datiert, das Erscheinungsjahr von Edward W. Saids richtungweisendem Buch Orientalism, in dem er mithilfe der Diskurskritik darlegt, wie die Repräsentation des "Anderen" der westlichen Identitätskonstruktion sowie der imperialistischen Machtausübung und -konsolidierung dient. Grundsätzlich wurde die postkoloniale Theorie durch die feministische und die poststrukturalistische Kultur- und Wissenschaftskritik geprägt und ist, wie gesagt, äußerst heterogen - der konkrete jeweilige lokale und historische Forschungskontext ist von großer Bedeutung. Postkoloniale Analysen beleuchten Aspekte des Kulturkontakts, die nicht nur in der Ethnologie eine wichtige Rolle spielen, sondern generell im Umgang mit dem Fremden und damit in jeglicher interkultureller Kommunikation: Wie werden Andere oder Fremde repräsentiert und wie werden sie damit interpretiert? Welche Wirkungen entfalten dabei Machtstrukturen und wie rekonstruieren sich diese in den Repräsentationen? Lässt sich das Andere und Fremde überhaupt repräsentieren? Zentral für die postcolonial studies insgesamt sind also die Frage nach und die Kritik an der Repräsentation des Anderen. Vergegenwärtigt man sich, dass "Repräsentation" im Grunde heißt, dass jemand oder etwas für einen Rezipienten jemand anders oder etwas anderes darstellt, und zwar mithilfe bestimmter Zeichen, die im Rahmen eines spezifischen Kodes oder Systems Bedeutung erhalten, wird deutlich, dass hier ein Anknüpfungspunkt an das Nachdenken über Theater besteht. 11 Schließlich kann als Minimaldefinition von Theater die folgende gelten: A (Schauspieler, Darsteller) führt X (Rollenfigur, Sprech- und Körperhandlungen) vor, während S (Zuschauer) zuschaut (vgl. Fischer-Lichte 1995a, Bd. 1: 125). Angesichts von Theaterinszenierungen der Avantgarde um 1900, der Performancekunst seit den 1960em, oder des "postdramatischen Theaters" (Hans-Thies Lehmann) so unterschiedlicher Regisseure wie Frank Castorf, Christoph Marthaler, Einar Schleef, Christoph Schlingensief oder Robert Wilson, beschäftigt sich, und hieran lässt sich anknüpfen, seit einigen Jahren auch die Theaterwissenschaft verstärkt mit der "Krise der Repräsentation" . Denn häufig genug fordern solche Theatererlebnisse die Zuschauer mit der Verweigerung einer naturalistisch-psychologischen Ästhetik, der Ablehnung einer traditionellen mimetischen Schauspielkunst und mit sinnlich-emotionalen Zumutungen, hochgradigen Verschlüsselungen oder selbstreferenziellen Verweisen heraus, und entziehen sich bewusst einer eindeutigen Dekodierung. Im postkolonia-
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Zur Begriffsgeschichte von "repräsentieren" vgl. Horn 2006: 153ff.
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len Diskurs hat die Frage nach der Repräsentation freilich weniger eine ästhetische, philosophische oder zeichentheoretische Zielrichtung, als eine politische: Es geht um Hierarchien und Macht, um Repräsentation als Konstruktion der Anderen als Subalterne. So beantwortet Gayatri C. Spivak die Frage "Can the Subaltem speak?" negativ -und zwar aufgrund der Beobachtung, dass ökonomische, soziale und politische Prozesse Eliten produzieren, die über die Möglichkeit von Repräsentation verfügen und gleichzeitig auch Bereiche schaffen, in denen es keine Möglichkeit des Sprechensund damit auch des Gehörtwerdens gibt (vgl. Spivak 1994). Trotz der unterschiedlichen Stoßrichtung - in der Theaterwissenschaft handelt es sich um das Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation und den Eigensinn des Ästhetischen, in den postcolonial studies um die Befreiung von Unterdrückung- liegt in der kritischen Reflexion der Möglichkeiten von Repräsentation, die beide auf ihre Weise vornehmen, eine wesentliche Gemeinsamkeit, die für die Untersuchung des Interkulturellen auf dem Theater von fundamentaler Bedeutung ist.
Wissenschaftlicher Kontext 111: Die jüngere theaterwissenschaftliche Forschungsliteratur Die postkoloniale Theorie, die in den letzten zwanzig Jahren stetig an Popularität gewonnen hat, fließt auch in die Mehrzahl der neueren theaterwissenschaftlichen Untersuchungen interkulturellen Theaters ein: dezidiert etwa bei Christopher Balme, W.B. Worthen, Julie Holledge und Joanne Tompkins. 12 Einige Theoretiker, insbesondere solche aus der sogenannten Dritten Welt, kritisieren dabei den weitgehend in seiner politischen Dimension unreflektierten Jnterkulturalismus westlicher Theatermacher, zum Beispiel der indische Theaterwissenschaftler und -regisseur Rustom Bharucha. Seit den frühen 1980em setzt er in seinen Aufsätzen und Büchern kulturellen Austausch immer auch in Verbindung zu imperialen bzw. kolonialen Macht- und Ausbeutungsstrukturen (vgl. Bharucha 1993 und ders.: 2000). Die postcolonial studies wurden allerdings, wie bereits angedeutet, vorwiegend von Literaturwissenschaftlerinnen an den English Departments amerikanischer und britischer Universitäten etabliert. Dieser Tatsache ist es wahrscheinlich zuzurechnen, dass die postkolonial orientierte Beschäftigung mit Theater sich in der Regel auf 12
Zu den wichtigsten neueren Publikation zu interkulturellem Theater zählen: Balme, C.B. (1995): Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum. Tübingen und ders. (2001) (Hrsg.): Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart. Tübingen/Basel; Gilbert, H./ Tompkins, J. (1996): Post-Colonial Drama. Theory, Practice, Politics, London/New Y ork; Holledge, J./ Tompkins, J. (2000): Women 's Intercultural Performance. London/New Y ork; Worthen, W.B. (2003): Shakespearan geographies. In: Ders.: Shakespeare and the Force o.fModern Performance. Cambridge: 117-168.
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Dramentexte, weniger auf Aufführungen bezieht. So stellt Christopher Balme noch 1995 fest, dass Begriffe wie "Hybridität" oder "Synkretismus" - wesentliche Begriffe im postkolonialen Diskurs - , in der Theaterwissenschaft auf keine systematisierte Theoriebildung bezogen werden können (vgl. Balme 1995: 32) unddaranhat sich bis heute nicht viel geändert. Balme selbst untersucht in Theater im postkolonialen Zeitalter (1995) mit dem synkretischen Theater in Ländern nach der Befreiung vom Kolonialismus einen bestimmten Teilbereich interkulturellen Theaters.13 Er setzt sich dabei- wie üblich, wenn es um postcolonial theatre geht- mit Theater aus dem anglophonen Raum auseinander, das seit den 1950er Jahren in Gesellschaften nach der Unabhängigkeit von indigenen Künstlern entwickelt wurde und sich durch die Vetmischung westlicher und lokaler Theaterformen auszeichnet. Seine Untersuchung basiert auf Methoden der Theatersemiotik, die auf eine kulturwissenschaftliche Dramenanalyse angewendet werden. Ähnlich wie Balme legen Helen Gilbert und Joanne Tompkins in Postcolonial Drama (1996) ihr Augenmerk auf Theaterstücke. Zwar geht es immer wieder auch um performative Aspekte des Theaters, wenn etwa von Ritualen die Rede ist - jedoch werden diese auch hier kaum anhand von Aufführungen untersucht, sondern stets anhand von Stücktexten. Die Studie Warnen 's Intercultural Performance (2000) von Julie Holledge und Joanne Tompkins zeigt insofern neue Facetten des Themas auf, als ihre Perspektive konsequent feministisch ist: Sie nimmt ausschließlich interkulturelles Theaterschaffen von Frauen in den Blick. Holledge/Tompkins unternehmen den Versuch, Zusammenhänge zwischen Politik und Ästhetik, Geschlecht, Sexualität und dem bekanntermaßen kulturell sehr unterschiedlich geprägten weiblichen Körper zu untersuchen und verweisen so auch auf die identitätspolitischen Implikationendes Themas, die ich bereits angedeutet habe (vgl. Holledge/Tompkins 2000). Trotz dieses Ansatzes fehlt auch in dieser Studie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der spezifischen theatralen Ästhetik - die, wie ich später ausführen werde, immer Repräsentation und Präsenz, Semiotizität und Performativität umfasst. Das Theater wird also von den Wissenschaftlerinnen nur in seiner Textualität betrachtet. Dadurch fällt bislang ein besonders interessanter Aspekt durch das Raster der genannten Untersuchungen: Die Kritik oder gar Krise der Repräsentation hat nicht nur die Ethnologie fundamental verändert und die postcolonial studies hervorgebracht, sondern auch die Kunstwissenschaften und nicht zuletzt die Künste selbst geprägt. Bei Balme und Gilbert/Tompkins ist das "Postkoloniale" am postkolonialen Theater eher auf seinen geografischen Ort, historischen Kontext und dezidiert-emanzipatorischen Impetus zurückzu-
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Sein Augenmerk gilt dabei Nigeria, der Karibik und dem Theater der sogenannten "Vierten Welt" (in Kanada, Australien, Neuseeland).
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führen. 14 Wie dieses Theater in seinen genuin theaterästhetischen Strategien mit der Frage der Repräsentation umgeht, und ob in eben diesen möglicherweise auch programmatisch "postkoloniale" Züge erkennbar sind, bleibt im Dunkeln. Die folgenden Ausführungen stellen daher den Versuch dar, die beiden bisher verhältnismäßig unvermittelten Theoriestränge- Theater- bzw. Performancetheorie und postkolonialen Diskurs - zu verbinden.
Begriffsbestimmung Der Begriff "interkulturelles Theater" ist relativ schwierig zu fassen: Handelt es sich um eine Genrebezeichnung? Was bedeutet "interkulturell"? Was überhaupt soll man sich unter "Kultur" vorstellen? Offene Fragen und diffuse Assoziationen schwingen mit und eine Begriffsklärung ist notwendig, auch wenn sie einen umfassenden theoretischen Rahmen erfordert. Damit der Begriff "interkulturelles Theater" überhaupt Sinn ergibt, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein: Es muss erstens voneinander unterscheidbare Kulturen geben - diese brauchen nicht eindeutig definiert werden, müssen aber in ihrer Differenz wahrnehmbar sein. Zweitens gilt die Prämisse, dass Kultur und Theater in einem Zusammenhang stehen: Kultur ist der Kontext, der spezifische Formen von Theater hervorbringt und prägt. Und drittens sind die Beteiligten am Theater - die Macher und die Zuschauer - immer als Teilhaber einer Kultur oder auch mehrer Kulturen anzusehen. Das heißt, sie produzieren und rezipieren Theater in einer spezifischen, kulturell geprägten Weise. Allerdings ist
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Auch zwei weitere theaterwissenschaftliche Studienneueren Datums zu interkulturellem Theater beziehen das Postkoloniale eher in Form einer soziapolitischen als kunstwissenschaftlich-ästhetischen Perspektive ein. In dem Forschungsprojekt Struktur und Funktion interkultureller Austauschprozesse im zeitgenössischen lateinamerikanischen Volkstheater Perus, Kolumbiens und Mexikos (1 997-2001) von Barbara Panse ging es darum, gesellschaftliche Funktionsmechanismen zu analysieren, die den Austausch zwischen den Kulturen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen erzeugen und die zu hybriden Formen im lateinamerikanischen Volkstheater fuhren (vgl. Panse 2001: 252). Das Kapitel Shakespearean geographies in W.B. Worthens Shakesp eare and the Force of Modern Performance (2003) dagegen ist aktuellen interkulturellen Shakespeare-Produktionen gewidmet. Gleichwohl unter einer spezifischen Fragestellung - nämlich wie das geschriebene Drama und seine Aufführung zusammenhängen - und wie sich dies im Falle von Shakespeares Dramen in interkulturellen Theaterprojekten konkretisiert, gibt Wortheu einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion um interkulturelles Theater und entfaltet interessante Themen, wie etwa Ethnizität und Rollenbesetzung.
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der Einzelterminus ,. Kultur" nicht nur schwer zu bestimmen - er wird in vielen unterschiedlichen semantischen Kontexten angewendet -, sondern ist vergleichbar Begriffen wie "Rasse" oder "Ethnie", auch belastet, was seine unkritische Rezeption problematisch macht. So wird er beispielsweise in Diskussionen um Integration oder den sogenannten "Kampf der Kulturen" ohne konkrete inhaltliche Bestimmung benutzt und häufig auch instrumentalisiert, um sozio-politische Zusammenhänge und strukturelle Ungerechtigkeiten zu kulturalisieren. Der Diskurs um Kultur steht in der Tradition der Kulturanalyse, die bis Johann Gottfried Herder zurückreicht und besonders von der Kulturanthropologie, der Ethnologie und teilweise von der Soziologie betrieben wurde. Die postmodernen und poststrukturalistischen Debatten um Aporien des Erkennens, Denkens und Schreibens haben auch diese Wissenschaften und ihre epistemologischen und methodologischen Grundannahmen fundamental verändert. Schließlich beinhaltete die Kritik an der großen Meta-Erzählung der Aufklärung und am abendländischen Logozentrismusimmer auch schon eine Kritik am Ethnozentrismus (vgl. Derrida 1983: 148ff.).15 Die Erforschung interkultureller Phänomene, also auch interkulturellen Theaters, ist daher mit grundsätzlich ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert wie die Ethnologie: stets ist die Frage nach einem adäquaten Kulturbegriff und einem entsprechenden Umgang mit dem Fremden grundlegend. Im Folgenden soll es darum gehen, zunächst einmal einen geeigneten Begriff von Kultur zu entwickeln, um dann zu spezifizieren, was hier mit "interkulturellem Theater" gemeint sein soll.
Essentialistische und antiessentialistische Konzepte von Kultur "Kultur" lässt sich ganz allgemein als Gefüge aller Aspekte der Lebensweise einer Gruppe von Menschen verstehen, die nicht ihrer biologischen Natur zuzurechnen sind- mit Stuart Hall als Gesamtheit von Praktiken, Sprachen, Repräsentationsformen und Bräuchen einer spezifischen historischen Gesellschaft (vgl. Hall 1987: 57ff.). Es lässt sich davon ausgehen, dass die Angehörigen einer menschlichen Gemeinschaft ein Verständnis dieser Aspekte teilen - auch wenn sie möglicherweise nicht in der Lage sind, diese zu erklären - und eine Auffassung von der jeweiligen Gemeinschaft haben. Der traditionelle Kulturbegriff definiert "Kultur" als unverwechselbare, historisch dauerhafte und integrierte Einheit. Seit Herders Überlegungen am Ende des 18. Jahrhunderts galten Kulturen lange Zeit als in sich 15 Wobei nicht erst der Poststrukturalismus Kritik an der Ethnographie und ihren teilweise essentialistischen Grundannahmen formuliert hat - sie kam schon früher aus den eigenen Reihen: Die Methodologie der Feldforschung wurde etwa von Claude Levi-Strauss in Frage gestellt und die ethnographischen Interpretations- und Repräsentationsmethoden wurden von der semiotischhermeneutischen Anthropologie kritisiert (vgl. Geertz 1983).
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Ausgangspunkt, Kontext, Begriffsbestimmung
und gegeneinander abgeschlossene Ganzheiten, die sich durch soziale Einheitlichkeit, ethnische Fundierung und klare Abgrenzung charakterisieren lassen. Kulturen erscheinen nach diesem Verständnis als organische Entitäten, die unabhängig von ihren Mitgliedern existieren und wirken. Dieser Kulturbegriff ontologisiert allerdings Unterschiede, die von Menschen gemachte Welt wird naturalisiert und der Andere fixiert und vereinheitlicht. In den Kulturwissenschaften wird eine solche essentialisierende Auffassung von Kultur seit den 1950er Jahren deshalb angefochten. Besonders das Denken Michel Foucaults hat das kritische Bewusstsein für den Zusammenhang von Institution, Repräsentation und Macht geschärft und eine fundamentale Kritik an Essentialismen in den Wissenschaften geübt. Die Diskursanalyse hat verdeutlicht, dass die wichtigste Strategie, bestimmte Werte und Grenzen als unverrückbar darzustellen, darin besteht, sie als naturgegeben, unzugänglich und objektiv zu beschreiben und so politischer Veränderbarkeit zu entziehen. Dabei zeigt bereits die intrakulturelle Variation selbst in einfachsten Gemeinschaften, wie problematisch die Vorstellung kultureller Homogenität schon immer war. Angesichts der hochgradigen vertikalen und horizontalen Differenzierung moderner Gesellschaften, in denen sich eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen und -formen beobachten lässt, ist sie deskriptiv falsch und wissenschaftlich unhaltbar geworden. Hinzu kommt, dass Kulturen sich heute, in Zeiten der Globalisierung, in einem bisher nicht gekannten Ausmaß über den Globus bewegen. Selbstverständlich gab es auch früher globale Prozesse - dem, was man aktuell unter Globalisierung versteht, wird jedoch allgemein eine neue Qualität zugesprochen: Die zunehmende Transnationalität von Kapital und Gütern, die internationale Arbeitsteilung, globale Massenmedien und eine weltumspannende Verkehrsinfrastruktur haben dafür gesorgt, dass seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine exponentielle Zunahme der systematischen Kontakte und weltweiter Abhängigkeiten zu beobachten ist. Von besonderer Bedeutung sind die quantitativen und qualitativen Veränderungen der internationalen Wanderungsströme seit den 1960er Jahren, die unsere Epoche zum "Zeitalter der Migration" machen (vgl. Pries 1998: 55ff.). Globalisierung ist ein irreversibler Vorgang, der lokal vielförmige Auswirkungen hervorbringt und höchst verschiedene Diskurse ausgelöst hat. Dabei werden Globalisierung und Transnationalität je nach Perspektive unterschiedlich bewertet. So spielt - im Sinne einer Gegenreaktion - in vielen Regionen der Welt der Nationalismus eine zunehmende Rolle. Die in diesem Zusammenhang häufig von ethnischen Ideologen als Wunschbild beschworene Vorstellung von autonomen Kulturen, die womöglich auch noch mit der geographisch-territorialen und sprachlichen Ausdehnung eines Volkes deckungsgleich sind, ist allerdings fiktiv und muss, wie Welsch sagt, "krampfhaft gegen die Evidenz von Mischungen durchgesetzt werden." (Welsch 1997: 69). Es ist jedoch von einem Konstruktcharakter kollektiver Bedeutungssysteme wie der Kultur auszugehen und die textwissenschaftlich fundier35
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te Kulturwissenschaft hat einen entsprechenden Kulturbegriff etabliert. So definiert der Ethnologe Clifford Geertz den Menschen als "ein Wesen [ ... ],das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist" wobei er Kultur als dieses Gewebe ansieht (Geertz 1983: 9). Kultur lässt sich auf diese Weise als von Menschen erzeugter Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen beschreiben, der sich in Symbolsystemen materialisiert (vgl. Nünning 1998: 301). Auch der Austausch und die "Mischungen" von Kulturen, also interkulturelle Prozesse wie die Integration von Elementen einer Kultur in eine andere (z.B. Artefakte oder Wertesysteme) und Übergangszonen werden erkennbar und durch den semiotischen Ansatz beschreibbar. Die poststrukturalistische und die postkoloniale Theorie haben jedoch auch den semiotischen Kulturbegriff grundsätzlich überarbeitet. So beinhaltet etwa die dekonstruktivistische, machtanalytische Kritik Homi K. Bhabhas ein radikal performatives Konzept von Kultur. Nach Bhabha ist Kultur Ort der Äußerung, Praxis der Weltdeutung, in der kulturelle Bedeutungen in performativen Akten hervorgebracht werden. Bhabha bestreitet, dass ein System von Regeln es ermöglicht, diese Akte identisch zu wiederholen oder sie vollständig zu interpretieren. Er geht vielmehr von der Differenz zwischen Kode und Anwendung aus, die im Sinne Derridas gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit der Äußerung ist: "Daß ein kultureller Text oder ein kulturelles Bedeutungssystem sich nicht selbst genügen können, liegt daran, dass der Akt des kulturellen Ausdrucks - der Akt der Äußerung - von der differance des Schreibens überkreuzt wird." (Bhabha 2000: 54)
Diese Differenz verhindert letztlich die Möglichkeit von deckungsgleicher Repräsentation und die Vorstellung von kulturellem Wissen als integriertem Kode. Bedeutung und kulturelle Symbole haben bei Bhabha dementsprechend keine primordiale Einheit und Fixiertheit: Die gleichen Zeichen können immer neu verwendet, neu übersetzt, neu historisiert und neu gelesen werden (vgl. Bhabha 2000: 57). Kulturelle Zuschreibungen und Deutungen sind mit Bhabha also immer kontextuell zu verstehen dieser Kulturbegriff entspricht der in den cultural und postcolonial studies weit verbreiteten Auffassung, dass Kultur Artikulation ist, Subjekte diskursiv konstruiert werden und kulturelle Identität performativ hervorgebracht wird und auf keine Essenz zurückgeht. Trotz der beschriebenen erheblichen Modifikationen des Verständnisses von Kultur, trotz der Idee der Unabgeschlossenheit und der Perfonnativität kultureller Kategorien sowie dem Problem ihrer machtinduzierten Fixierung gilt weiterhin, dass Menschen aus einem bestimmten kulturel-
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len Kontext in wesentlichen Aspekten gleich und von kulturell anders geprägten Menschen unterschieden sind. Genau darin besteht nach der gängigen Auffassung "kulturelle Identität" (vgl. Wagner 1999: 48f.). Auch neuere Ansätze der interkulturellen Kommunikationsforschung, die in der Nachfolge der phänomenologischen Sozialforschung, der Ethnomethodologie und Erving Gaffmanns Theorien zur sozialen Interaktion anzusiedeln sind, gehen davon aus, dass Kultur und kulturelle Identität kommunikative Konstrukte sind (vgl. Kotthoff 2002: 9ff.). Kultur besteht dabei nicht nur aus einem System von Bedeutungen, Werten und Ideen, sondern enthält auch die sozialen Strukturen, die davon nicht getrennt werden können. Kultur ist weniger als stabiles, integriertes Bedeutungssystem zu verstehen, in dem die Menschen nur Bedeutungsträger sind, sondern als "ein offener und instabiler Prozeß des Aushandeins von Bedeutungen [... ], der kognitiv kompetente Akteure in unterschiedlichen Interessenlagen zueinander in Beziehung setzt und bei einer Kompromißbildung zur sozialen Abschließung und entsprechenden kulturellen Grenzmarken führt." (Wimmer, A. 1996: 413) So wird deutlich, dass Kultur immer zugleich Einheit und Differenz, Homogenität und Heterogenität ist. Als gemeinsame Lebensarten eines Kollektivs, das sich von anderen unterscheidet, bildet Kultur eine Einheit. Als Ort, an dem um Bedeutung gekämpft wird, besteht sie aus Differenzen. Kultur ist daher nie als solche konkret wahrnehmbar, sondern erst die Erfahrung des Fremden lässt die Konturen einer Kultur hervortreten. Damit lässt sich auch die Vielfalt der Bindestrich-Kulturen (Arbeiter-/ Jugend-/ Hoch-) unter einer gemeinsamen Kultur vereinen. Sie erscheint als Zusammen- und Gegenspiel verschiedener Diskurse und Praktiken, wird polyphon, prozessual, heterogen und mehrdeutig. Wenn es um pragmatische, auf die Lösung von Alltagsproblemen gerichtete Fragen geht, bietet sich die Orientierung an Ansätzen der phänomenologischen Sozialforschung an. Sie ermöglicht eine postkolonial informierte Auseinandersetzung mit Interkulturalität ohne radikale Dekonstruktion. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die klassischen Begriffe von Kultur und kultureller Identität in den letzten Jahrzehnten stark erweitert und tendenziell untergraben wurden. Anti-Essentialisten, an deren Position ich mich anschließe, bestreiten die Vorstellung von authentischen, ursprünglichen kulturellen Identitäten und akzeptieren, dass diese nie einheitlich sind, sondern ambivalent, dass sie stets über verschiedenste oft widersprüchliche - Diskurse, Praktiken und Positionen konstruiert werden und damit relationalen und prozessualen Charakter haben. Es wird kaum noch eine eindimensionale kulturelle Identität des Individuums angenommen, das rigide "Entweder-oder" wird ersetzt durch ein relativierendes "Sowohl-als-auch".
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Was heißt "interkulturell"? Zunächst einmal bedeutet der Terminus "interkulturell" soviel wie "zwischen (den) Kulturen". Unter interkultureller Kommunikation versteht man entsprechend die Verständigung von Menschen, die kulturell verschieden geprägt sind, deren Zeichensysteme - Sprache, Gewohnheiten, Verhaltensregeln- also differieren. Der landläufige Gebrauch des Begriffs interkultureller Kommunikation als "Dialog zwischen den Kulturen", bei dem Kulturen als handelnde Subjekte dargestellt werden, ist wenig sinnvoll. Grundsätzlich sollte auf eine solche Formulierung verzichtet werden, da er Missverständnisse provoziert und die Unterschiede zwischen Gesellschaft, Ethnizität, Religion und geografisch-territorialen Zuordnungen verwischt. Es sind nicht die Kulturen, die interagieren, sondern Menschen - ob einzeln oder als soziale Gruppen. Kulturen können nicht handeln oder sich begegnen, sie sind, wie bereits ausgeführt, dynamische Sinnsysteme. Diese Klarstellung erscheint mir besonders wichtig, da es hier um Theater, also Kunst gehen soll. So problematisch es ohnehin ist, Individuen mit Kulturen zu verwechseln, in ihnen vor allem Repräsentanten meist auch noch essentialistisch definierter Kollektive zu sehen, führt dies gerade im Fall von Kunst in die Irre, da diese ja häufig von Menschen hervorgebracht wird, die sehr originelle, eigensinnige, künstlerische Positionen vertreten und sich dagegen verwehren, als Stellvertreter einer Kultur, Nation oder einer sonstigen Gemeinschaft wahrgenommen zu werden. Nach den vorhergehenden Überlegungen - die deutlich gemacht haben dürften, dass kulturelle Identität nur in der Differenz entsteht - findet interkulturelle Kommunikation permanent statt. Ganz streng betrachtet könnte man sogar sagen, dass interkulturelle Kommunikation der kommunikative Normalfall ist, weil kaum davon ausgegangen werden kann, dass zwei Individuen auf gerrau die gleiche Art und Weise an unterschiedlichen Kulturen teilhaben (Schicht, Geschlecht, Alter, Bildung, Sprache usw.) Die Alltagserfahrung zeigt aber, dass wir nicht permanent den Eindruck von Fremdheit haben. Es scheint ein Niveau von Differenz zu geben, das wir als unauffällig empfinden und nicht als "interkulturell" bezeichnen würden. Was als fremdkulturell erlebt wird, variiert je nach den Ordnungsmustern, die das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden bestimmen. Begegnungen, in denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, stufen wir tendenziell als interkulturell ein, treffen Personen mit der gleichen Muttersprache aufeinander, ist dies eher nicht der Fall. Daraus leitet sich die Tatsache ab, dass wir bei "interkulturell" spontan an "international" denken und häufig "interethnisch" meinen, obwohl nationale und
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ethnische Zugehörigkeiten nur je ein Element in der vielschichtigen kulturellen Prägung eines Menschen sind.16 Interkulturelle Kommunikation setzt in gewisser Weise die Erwartung oder Erfahrung von unterschiedlicher Ethnizität und vor allem von Fremdheit voraus. Ob die Kommunikationsteilnehmer in einer bestimmten Situation von einer interkulturellen Begegnung ausgehen oder nicht, hat erhebliche Folgen für die Wahrnehmung und Bewertung von Differenzen. Damit wird die Begriffsklärung insofern kompliziert, als die von einem wissenschaftlich fundierten Kulturbegriff hergeleitete Definition des Begriffs "interkulturell" sich offenbar deutlich von dem alltäglichen Gebrauch unterscheidet. Als pragmatisch-heuristische Möglichkeit schlage ich vor, von interkultureller Kommunikation daun zu sprechen, wenn einer der Kommunikationsteilnehmer den Eindruck oder die Erwartung der kulturellen Fremdheit hat, oder Dritte, die beide kulturelle Systeme kennen, den evidenten Eindruck von Missverständnissen haben, die weder natürlich bedingt sind (schlechte akustische Bedingungen) oder auf einer rein individuellen Ebene liegen, sondern die man auf die Teilhabe an bestimmten kulturellen Systemen zurückführt. Eine allgemeingültige Definition, die sich auf unterschiedlichste Kontexte übertragen lässt, scheint wenig fruchtbar. Um den Begriff "interkulturelles Theater" für die folgenden Ausführungen sinnvoll zu bestimmen, soll zunächst seine Verwendung in der theaterwissenschaftlichen Literatur genauer betrachtet werden.
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Da die Begriffe "kulturell" und "ethnisch" oft vermischt werden, sei zum Begriff des Ethnischen angemerkt, dass auch dieser konh·overs diskutiert wird. Der Begtiff "Ethnie" hat im deutschsprachigen Raum den des Volkes weitgehend abgelöst. Hier soll mit Anthony D. Smith eine ethnische Gmppe als soziale Gmppe verstanden werden, deren Mitglieder das Gefühl eines Ursprungs teilen, eine gemeinsame Geschichte für sich in Anspruch nehmen, mehrere gemeinsame Charakteristika besitzen und das Bewusstsein einer kollektiven Besonderheit und Solidarität haben (vgl. Smith 1981: 66). Die Attribute lassen sich im einzelnen kaum allgemeingültig festlegen, es gibt unter Ethnologen aber einen gewissen Konsens hinsichtlich solcher Merkmale wie des gemeinsamen Namens, der die Selbst- und Fremddefmition ermöglicht, oder stark prägender kultureller Elemente, z.B. Ernährung, Sprache und Religion. Immer noch anerkannt sind die Erkenntnisse Frederik Batihs, der in Ethnic Croups and Boundaries (1969) die Bedeutung der ethnischen Grenze untersucht hat. Nach Barth sind kulturelle Muster Vehikel, um ethnische Grenzen auszudrücken und aufrecht zu erhalten: "When defined as an asctiptive and exlusive group, the nature of continuity of ethnic units is clear, it depends on the maintenance of a boundary." (Barth 1969: 14) Die Zugehörigkeit zu einer Ethnie erfolgt durch Identifikation des Einzelnen mit der Ethnie und/oder durch Labeling von Außen. Wichtig ist, dass ethnische Kategorien stets relational gesehen werden müssen und höchste Vorsicht bei der Verwendung ethnischer Kollektivsingulare wie "der Chinese" oder "die Araberin" angezeigt ist.
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Interkulturelles Theater der Begriff in der Theaterwissenschaft In der theaterwissenschaftlichen Literatur gibt es erstaunlich wenig Versuche, den Begriff "interkulturelles Theater" zu definieren. Dennoch wird er, gerade in der englischen Bezeichnung intercultural performance vielfach eingesetzt wie ein eindeutiger Genrebegriff, etwa im Titel von Pavis' wegweisender Anthologie The Intercultural Performance Reader (1996), der Studie Women "s Intercultural Performance von Holledge/Tompkins (2000) oder der Betitelung von Seminaren an theaterwissenschaftlichen Instituten. Gemeint ist dabei häufig - vor allem in den l980er und 90er Jahren - eine konkrete Theaterform, für die Namen wie Schechner, Mnouchkine, Barba, Brook, Suzuki, Soyinka oder Wilson stehen: Kulturelle Collagen, die auf höchstem künstlerischen Niveau westliche, d.h. euro-amerikanische mit asiatischen, afrikanischen, südamerikanischen oder ozeanischen Elementen verbinden. Die Forschungsperspektive ist dabei wenig ausgewogen, zugespitzt ließe sich sogar eine eurozentristische Tendenz konstatieren. So schreibt Bonnie Marranca in Thinking about interculturalism quasi nur über Künstler, die in Europa oder den USA leben. 17 Marranca hat zudem sehr konkrete Vorstellungen davon, was interkulturelles Theater sein soll: "Interculturalism as a theatrical practice divides itself into two distinct lines [... ] Those artists inclined toward formal experimentation and abstraction as a performative mode will draw closer to Japanese aesthetics. Others, who declare themselves for a politically-engaged, popular theatre, will emphasize Latin American, Indian, Southeast Asian and African affiliations." (Marranca 1991: 14)
Interkulturelles Theater registriert Marranca also nur im Westen, das "andere Theater" existiert lediglich als Material, das man je nach Geschmack und politischer Ausrichtung benutzt. Dabei bedient sie zudem Stereotypen, nach denen Japan insbesondere für Ästheten interessant ist und Lateinamerika, Indien, Afrika, kurz: die "Dritte Welt", für diejenigen, die für eine "linke", emanzipatorisch-politisch engagierte Kunst stehen.1 8 In Patrice Pavis' The Intercultural Performance Reader (1996) ist es ähnlich. So werden folgenden Regisseuren eigene Kapitel gewidmet: Richard Schechner, Peter Brook, Ariane Mnouchkine, Robert Wilson, Eugenio Barba, Jerzy Grotowski - die Kapitel, die sich mit afrikanischem Theater, dem Theater der Maori und dem Theater in China be17
Bonnie MaiTanca beschreibt die Arbeit von Robert Wilson, Peter Brook, Ariane Mnouchkine, Jerzy Grotowski, Eugenio Barba, Richard Schechner, Meredith Monk, Lee Breuer, Peter Sellars, Elizabeth LeCompte, Ping Chong. 18 Mit Stereotypisierung ist hier mit Stuart Hall die Reduktion von Menschen bzw. "Kulturen" auf wenige einfache, offensichtliche Charakteristika gemeint, die als durch die Natur vorgegeben dargestellt, also naturalisiert werden (vgl. Hall 1997: 257).
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schäftigen, stellen keine einzelnen Künstler vor und nehmen noch nicht mal ein Viertel des gesamten Umfangs ein. Erika Fischer-Lichte geht in ihrem grundlegenden Aufsatz Das eigene und das fremde Theater. Interkulturelle Tendenzen auf dem Theater der Gegenwart ( 1988) neben Robert Wilson und Peter Brook immerhin ausführlich auf Tadashi Suzuki und Wole Soyinka ein. Dennoch: Ein derartiges Verständnis des Begriffs "interkulturelles Theater" erscheint zu eng - es lassen sich vielfaltige andere Formen interkulturellen Theaters denken, als die, denen sich die theaterwissenschaftliche Forschung bisher gewidmet hat. Prinzipiell kann Theater auf verschiedenen Ebenen interkulturell sein. So auch außerhalb dessen, was in der Aufführung selbst zu sehen ist. Das Training der Schauspieler kann Techniken aus anderen Kulturen beinhalten, oder ein interkultureller Prozess in Gang gesetzt werden, indem Aufführung und Publikum aus unterschiedlichen Kulturen kommen. Erhellend ist in diesem Kontext Marvin Carlsons Unterscheidung zwischen sieben Typen möglicher Relationen zwischen dem kulturell Vertrauten und dem kulturell Fremden im Theater: ( 1) Die absolut vertraute Theatertradition, die regelmäßig rezipiert wird. (2) Fremde Elemente werden in die eigene Theatertradition aufgenommen; das Publikum ist interessiert, unterhalten oder stimuliert, aber nicht irritiert. (3) Fremde Strukturen werden in Gänze übernommen, aber so transformiert, dass sie vertraut wirken. Ein Kathakali-Macbeth wäre ein Beispiel. (4) Das Fremde und das Vertraute ergeben eine ganz neue Mischung, die dann als Eigenes übernommen und nach und nach vertraut wird. (5) Das Fremde wird weitgehend unverändert assimiliert und auf Dauer vertraut, wie etwa die Commedia dell' Arte in Frankreich. (6) Fremde Elemente bleiben fremd und werden in eigenen Strukturen als Verfremdungseffekt oder exotisierender Reiz eingesetzt (z.B. japanische Tanzszene in einer Madame-Butterfly-Inszenierung). (7) Eine gesamte "fremde" Aufführung wird unverändert einem Publikum gezeigt (vgl. Carlson 1990: 50). Einer der wenigen Theaterwissenschaftler, der sich der Frage, was unter "interkulturellem Theater" zu verstehen ist, systematisch gewidmet hat, ist Patrice Pavis. Er unternimmt den Versuch, interkulturelles Theater durch spezifische Qualitäten zu definieren und hat eine Typologie von Theaterformen erarbeitet, die sich durch kulturellen Austausch ergeben können. Pavis differenziert zwischen interkulturellem, multikulturellem, transkulturellem, internationalem, prä- und postkulturellem Theater. Als interkulturell beschreibt er ein Theater, das hybride Formen schafft, indem es mehr oder weniger bewusst oder freiwillig verschiedene Darstellungstraditionen mischt, die verschiedenen Kulturen zuzuordnen sind (vgl. Pavis 1996: 6ff.). Enge Verwandtschaft sieht Pavis zum multikulturellen Theater, zur kulturellen Collage, zum synkretischen, postkolonia-
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len sowie zum sogenannten Theater der "Vierten Welt". 19 Scharf grenzt Pavis das interkulturelle Theater von internationalen, intrakulturellen, trans-, prä-, post- und metakulturellen Theaterformen ab: Als internationalen Austausch bezeichnet er die Begegnung von Theatermachern aus unterschiedlichen Ländern, zum Beispiel auf Festivals oder in Produktionen, die aus der Sicht von Pavis das Label "international" vor allem deshalb bekommen, um möglichst viel touren zu können. Auch kosmopolitisch zusammengesetzte Theatergruppen wie die Peter Brooks oder Eugenio Barbas müssen in Pavis' Augen nicht zwangsläufig interkulturelle Austauschprozesse durchlaufen. Pavis' Typologie erweist sich vor allem insofern als fruchtbar, als sie unterschiedliche Aspekte und Dimensionen des interkulturellen Kontakts auf dem Theater aufzeigt. Um daraus eine sinnvolle Begriffsbestimmung abzuleiten, ist es nicht notwendig, sich ihm in allen Punkten anzuschließen. So vermischt seine Kategorisierung teilweise verschiedene Ebenen und ist daher nicht ganz stringent, spätestens bei der Unterteilung in prä-, post- und metakulturelles Theater wird er allzu detailliert.20 Seine Definition interkulturellen Theaters ist allerdings brauchbar, auch wenn multikulturelles und synkretisches Theater, die kulturelle Collage und eventuell internationales Theater allein schon aus pragmatischen Gründen in den vorliegenden Ausführungen dazu gezählt werden. Letzteres vor allem in den Fällen, bei denen die unterschiedliche Herkunft der Beteiligten an einer Aufführung auf einer bewussten inhaltlichen Entscheidung beruht. Interkulturelles Theater bedeutet hier also: Ein Theater, in dem Elemente aus beliebigen, unterscheidbaren Kulturen auf irgendeine Weise verbunden werden und dies ein zentrales Merkmal ist. Dabei sind viele Möglichkeiten denkbar: Etwa dass verschiedene Sprachen, Techniken, Stilmittel, Stoffe oder bestimmte Themen miteinander verlmüpft oder die Gruppen personell interkulturell zusammengesetzt werden.
19 Unter multikulturellem Theater versteht er ein Theater, das von den Einflüssen verschiedener ethnischer und sprachlicher Gemeinschaften innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft geprägt und häufig für ein multikulturelles Publikum konzipie11 ist. Während es im interkulturellen Theater auch um einen Austausch, eine intensive Wechselbeziehung zwischen den Beteiligten gehe, würden z.B. in der kulturellen Collage ohne weitere Ansprüche verschiedene Elemente miteinander kombiniert (vgl. Pavis 1996: 9). Den Begriff "synkretisches Theater" benutzt Pavis wie Balme für die Vermischung heterogenen kulturellen Materials in postkolonialen Gesellschaften; eine Unterform davon ist für ihn postkoloniales Theater, das Traditionen, die in der kolonialen Zeit entstanden sind, mit vorkolonialen Elementen mischt. Als Theater der "Vierten Welt" bezeichnet er das Theater indigener Gemeinschaften in vom Siedlerkolonialismus geprägten Regionen (Theater der Maori, Aborigines, Indianer). 20 Zu den Begriffen, auf die hier nicht eingangen werden muss, vgl. ebd.: 7.
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Ausgangspunkt, Kontext, Begriffsbestimmung
Theater zwischen welchen Kulturen? Es stellt sich allerdings die Frage, ob es tatsächlich "beliebige Kulturen" sind, um die es sich im interkulturellen Theater handelt. Analog zur landläufigen Anwendung des Begriffs "interkulturell" wird unter "interkulturellem Theater" nämlich wie gesagt meist eines rubriziert, das Elemente aus Kulturen zusammenbringt, die sich stark und kontrastreich voneinander unterscheiden. Meist werden westliche, d.h. europäische und usamerikanische, moderne Formen mit alten oder "ursprünglich" erscheinenden, auf uns exotisch wirkenden außereuropäischen Elementen verbunden- oft, indem ein westlicher Regisseur sich ein Team von Darstellern aus verschiedenen Teilen der Erde zusammenstellt, die spezifische lokale Traditionen beherrschen: Nö, Kathakali, Yoruba-Tänze, PekingOper. Ariane Mnouchkine bediente sich in ihrer L 'Indiade beispielsweise traditioneller Körper- und Vokaltechniken des indischen Subkontinents, Eugenio Barba führte den Faust mit japanischen und indischen Tänzern auf. Umgekehrte Beispiele sind kaum bekannt - etwa dass ein nigerianischer Theaterregisseur Material über oberbayerische Folklore sammelt, um diese dann in einem eigenen Theaterstück zu verarbeiten. Bei Projekten, in denen Künstler aus westlichen Ländern zusammenarbeiten, ist in der Regel eher von einer "internationalen" Produktion die Rede als von einer interkulturellen. Auch im Falle der Berliner Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz würde man den Begriff nicht verwenden, obwohl vielfach gerühmt dafür, sie habe "wie kein anderes Theater in den Neunzigeljahren so intensiv an der Durchdringung von Populär- und Hochkultur gearbeitet und aus der Differenz der Sozialisationen Ost und West so produktive Funken geschlagen." (Müller, Katrin B.: Aufder Suche nach neuen Suchtmitteln. In: taz, 10.1.2005). Spricht man von "interkulturellem" Theater, geht es also im allgemeinen Sprachgebrauch um ein Theater, bei dem sich Individuen unterschiedlicher ethnischer Identität begegnen oder Elemente sich völlig fremder Theatertraditionen aufeinander stoßen. Hier soll kein neuer Begriff interkulturellen Theaters etabliert werden, mit dem sich auch die Zusammenarbeit eines Berliner Regisseurs mit Münchner Schauspielern als interkulturell bezeichnen ließe - dann wäre schließlich jedes Theater interkulturell. Ich orientiere mich daher an der Konvention, nach der die Bezeichnung "interkulturelles Theater" meist dann ohne weiteren Erklärungsbedarf verstanden wird, wenn es sich um verschiedene ethnische Kulturen handelt und unterschiedliche Einzelsprachen gesprochen werden. 2 1 Dabei darf jedoch nicht vergessen 21 Als Einzelsprache wird eine menschliche Sprache bezeichnet, die ihren Sprechern ein vollständiges Zeichensystem zur Kommunikation zur Verfügung stellt und sie, im Gegensatz zu Fach- oder Gruppensprachen in die Lage versetzt, sich in allen Situationen untereinander zu verständigen. Das Kriterium, Einzelsprachen zu unterscheiden, ist das Nicht-Verstehen: Haben Sprecher je eine andere Muttersprache und beherrschen auch nur diese, handelt es sich um
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
werden, dass, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, "Kulturen" nie "rein" sind, sondern sich immer schon aus vielen Kulturen zusammensetzen und die Grenzen zwischen ihnen kaum festzulegen sind. So problematisch wie der Kulturbegriff ist, ist auch der Begriff des interkulturellen Theaters: Ich benutze ihn mangels besserer Begriffe heuristisch, und es mag am Ende der Überlegungen das Ergebnis stehen, dass er nicht bloß dekonstruiert, sondern ganz ersetzt werden sollte. Interkulturelles Theater im hier formulierten Sinne kann jedenfalls die unterschiedlichsten Formen annehmen, wie auch im nächsten Kapitel deutlich werden wird.
Einzelsprachen, wenn sie sich verbal nicht verständigen können. Es gibt jedoch auch Verstehensgemeinschaften und Mischsprachen: Das Kriterium "Verständnis" kann nur behelfsmäßig fungieren (vgl. Glück 2005: 156 u. 609).
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Zur politischen und historischen Dimension interkulturellen Theaters
Zur politischen und historischen Dimension i nterku ltu rellen Theaters Kultureller Austausch auf dem Theater ist keine neue Erscheinung. Durch Handel und Entdeckungsreisen, aber auch durch Kriege und Verschleppung haben sich von jeher interkulturelle Kontakte ergeben und es finden sich viele Belege dafür, dass das Theater die lange Geschichte von Migration, Kolonisation und Globalisierung teilt - alles Konstanten der Menschheitsgeschichte. Im 20. Jahrhundert hat die Auseinandersetzung mit dem Theater anderer Kulturen jedoch an Quantität und Intensität gewonnen und sich insofern qualitativ geändert, als es von den Theatermachern zunehmend auch theoretisch reflektiert wurde: In Europa interessierten sich seit der Jahrhundertwende viele Regisseure immer stärker für außereuropäische theatrale Formen, vor allem asiatische. 22 Die europäische Rezeption fernöstlichen Theaters hatte ihre Entsprechung in Ostasien; während die westlichen Theatermacher ihr Theater jedoch "retheatralisieren" wollten und sich vom psychologisch-realistischen Guckkastenmodell und dem reinen Sprechtheater abwandten, stieß gerade dieses in Japan und China auf großes Interesse. 23 Auch in anderen Weltregionen - weiten Teilen Afrikas, in der arabischen Welt und in Indien etwa - gewann das Sprechtheater europäischer Provenienz an Bedeutung und vermischte sich mit lokalen Elementen und Sprachen. Dort hatte der kulturelle Austausch auf dem Theater des 20. Jahrhunderts allerdings insofern einen völlig anderen Charakter als in Japan und China, als es sich hier weniger um eine ursprünglich frei gewählte Annäherung handelte, als um eine Folge bzw. Begleiterscheinung des europäischen Kolonialismus.
22 Der Feme Osten hatte seit dem 17. Jahrhundert eine starke Wirkung auf das europäische Theater: Die Jesuiten nutzten Schriften aus Japan als Erbauungsliteratur und machten sie der Gegenreformation in Form von "JaponesenDramen" nutzbar. Die chinesischen Maskeraden auf den höfischen Festen des Barock sind ein weiteres Beispiel (vgl. Fischer-Lichte 1999: 9ff. u. Paul 1985). 23 Japans Öffuung während der Meji-Restauration (1868) fuhrte schnell zu interkulturellen Theaterformen. 1885 wurde Shakespeares Kaufmann von Venedig in einer Kabuki-Auffuhmng gezeigt, 1887 lichtete die Tokioter Universität ein Institut für Germanistik ein. Anfang des 20. Jahrhunderts bevorzugte das shingeki ("Neues Theater") westliche Stücke und war auf den europäischen realistischen Stil festgelegt (vgl. Holledgeffompkins 2000: 18ff.). Auch in China wurde um die Jahrhundertwende im Zuge einer breiten Bewundemng für die europäische Kulturen das Sprechtheater eingeführt. Eine bedeutende Figur dabei war Huang Zuolin (1906-1994), der in England studiert hatte und in China als erster die Stanislavskij-Methode unterrichtete (vgl. Eberstein 1983). Der Schriftsteller Liu Yazi (1878-1958) empfahl schon 1904 in seinem Aufsatz The 20'h Century Grand Stage den interkulturellen Austausch im Dienste der Aufklämng (vgl. Liu 1999: 113).
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Kolonialismus als historische Rahmenbedingung Der neuzeitliche Kolonialismus der europäischen See- und Handelsmächte, der Ende des 15. Jahrhunderts mit der "Entdeckung der Neuen Welt" und der Erschließung des Seewegs nach Ostindien einsetzte, ist schon allein wegen seines gewaltigen Ausmaßes von größter Bedeutung für das interkulturelle Theater: Um 1930 waren etwa 85 Prozent der gesamten Erdoberfläche Kolonien oder Exkolonien der Europäer. Und so knüpfte beispielsweise in Lateinamerika das Missionstheater der Jesuiten im 16. Jahrhundert an autochthone Formen an: Überliefert ist, dass ab 1538 in Mexiko Auto Sacramentales stattfanden, die indianische kultische Zeremonien und rituelle Tänze beinhalteten (vgl. Franzbach 1992: 545ff.). Auch afrikanische Elemente begannen, die Kulturen an den amerikanischen Ostküsten zu prägen: Durch den Sklavenhandel, der sich mit der Nachfrage nach Arbeitskräften für die Plantagen verstärkte, wurden bis ins 19. Jahrhundert schätzungsweise mehr als elf Millionen Menschen aus Afrika über den Atlantik verschleppt. In der Folge entstanden vielfältige kulturelle und religiöse Synkretismen wie Voodoo, Santeria oder Candomble. Während sich die USA und die spanischen und portugiesischen Kolonien Mittel- und Südamerikas gerade ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, war die imperiale Aufteilung der "restlichen" Welt durch die europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert dann in vollem Gange. Um ihre Machtposition zu stärken und um für ihre expandierenden Industrien neue Absatzmärkte und Rohstoffquellen zu erschließen, begann ein Wettlauf um die "noch verfügbaren" Territorien in Afrika, später auch in Asien und Ozeanien. Bis auf Liberia und Äthiopien war der ganze afrikanische Kontinent am Ende des Jahrhunderts unter den Europäern aufgeteilt. Die USA traten nun selbst als Kolonialmacht auf und eroberten die Pazifikgebiete. Großbritannien hatte sich die Vormachtstellung in Indien und Australien erkämpft. Frankreich eroberte Indochina und das Gebiet des heutigen Indonesiens hieß bezeichnenderweise "Niederländisch-Indien". Selbst China wurde zunehmend europäisch dominiert: In Folge des sogenannten Opiumkriegs (1840) verlor China seine Zollautonomie und geriet in schwere Abhängigkeiten. Der Herrschaftsanspruch der Kolonialmächte bezog sich nicht nur auf die Wirtschaft und auf die Politik, sondern in der Regel auch auf die Kultur. Die Unterwerfung der fremden Völker wurde moralisch in der Regel entweder mit missionarischem Gedankengut gerechtfertigt - den "Unterentwickelten" sollten die segensreichen Errungenschaften der europäischen Zivilisation nahe gebracht werden -, oder sozialdarwinistisch: das Recht des Stärkeren wurde angeführt, und die angebliche kulturelle Überlegenheit der weißen Rasse, die man pseudowissenschaftlich untermauerte.
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Bereits dieser kursorische Überblick zeigt, dass interkulturelle Kontakte im Zusammenhang mit politischen und ökonomischen Konfliktfeldern stehen. Für den interkulturellen Austausch auf dem Theater gilt das ebenso. Schon die Frage, was unter "Theater" überhaupt zu verstehen ist, ist in diesem Kontext nicht unproblematisch: Unser herkömmlicher Theaterbegriff ist nicht ohne weiteres auf andere Zusammenhänge übertragbar, er ist vielmehr, so Balme, ein "[ ... ] geschlossenes ideologisch und kulturell belegtes Diskursfeld. Es bezeichnet eine Kunstform, die beinahe ausnahmslos westlich überliefert und daher im postkolonialen Kontext Gegenstand der Reflexion ist. Daraus folgt, dass traditionelle indigene Darstellungsformen [... ] nicht gleichzusetzen sind mit ,Theater' in dem Sinne." (Balme 1995: 9)
So war etwa bei den über tausend Ethnien des subsaharischen Afrika in der vorkolonialen Zeit kaum Theater nach europäischem Verständnis zu finden. Allerdings wäre es verfehlt, daher zu sagen, es habe dort kein Theater gegeben- eine Behauptung, die (neo-)kolonialistische Züge trägt und zu Recht von afrikanischen Theaterwissenschaftlern zurückgewiesen wird. Schließlich gab es Puppen- und Maskenspiele, Tänze und Rezitationen (vgl. Jeyifo 1990). Sie standen jedoch meist in Zusammenhang mit Ritualen und Zeremonien, wie Joachim Fiebach erklärt: "In diesen Kulturen sind Bausteine von Künsten wie das theatrale Sich-SelbstDarstellen sozialer Gruppen und Individuen, das den Menschen als ,Zeichen seiner selbst' erscheinen läßt, und das Vorführen von Rollen sehr verbreitete, fundamentale soziale Verkehrsweisen, ohne daß immer eine entwickelte Theaterkultur im Sinne der Kunst existiert oder eine solche bestimmend für diese allgemeinen kulturell-sozialen Verhaltensweisen sind." (Fiebach 1998: 36)
In der eigenen Kultur wüsste man die Unterscheidung zwischen "Theater", "Zeremonie" oder "Ritual" wohl intuitiv zu treffen. Eine theoretische Unschärfe lässt sich jedoch kaum vermeiden, da die Grenzen fließend sind: Die im 19. Jahrhundert entstandene Praxis, "Theater" als eine von Spezialisten betriebene Kunst zu betrachten, ist auch bei uns ein historischer Sonderfall. Fiebach schildert anschaulich, dass in anderen Gesellschaftsformen als der bürgerlich-kapitalistischen, Theater in der Regel mit anderen Lebensbereichen verbunden ist und war, insbesondere mit religiösen oder agrarischen Ritualen und gemeinschaftlichen Festlichkeiten (vgl. ebd.: 14). Europäisches Theater traf durch den Kolonialismus also auf Gesellschaften mit höchst andersartigen theatralen Formen. Häufig überlagerte das Theater der Europäer bereits Existierendes, wobei es oft, so wie andere westliche Kunstformen und -sprachen, für eine imperialistische Geste der Eroberung stand. Die Kolonialherren interessierten sich wenig für die
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lokal vorhandenen Künste und propagierten ihr literarisches, psychologisch-realistisches Theater mit Guckkastenbühne. In den Siedlungskolonien Nord-, Süd- und Mittelamerikas setzte es sich schon früh als "mitgebrachte" Theaterform durch und marginalisierte autochthone Theaterformen weitgehend. Dabei ist bemerkenswert, dass das Desinteresse der Eroberer an den "anderen" Theaterformen durchaus vergleichbar ist mit der Ignoranz oder Ablehnung, mit der sie in ihrer Heimat "anderen" Theaterformen begegneten, die im Bereich des Volks-, Musik- oder Tanztheaters auch dort zu finden waren. Fiebach erklärt die "teilweise sehr verengende Sicht auf Theater als Literaturvermittler" mit dem Selbstbild des aufgeklärten Subjekts: "Kunst, die ausschließlich Wahrheit, Sinn, Rationalität, Erkenntnisse ve1mitteln soll, muss in der Tendenz ihre sinnlichen Seiten vernachlässigen oder unterdrücken. Ihr Theater muß sich allein oder fast allein auf den Text, auf die in Wortsprache gebannte und durch sie freigelegte Wahrheit, Vernunft, Logik gründen." (Piebach 1998: 17)
Es entstand in den Kolonien aber auch neues, ganz eigenständiges Theater, das sich nicht primär am europäischen Modell orientierte - europhones wie lokalsprachliches?4 Zudem gab es Formen, bei denen indigene Traditionen durch europäische Elemente zwar modifiziert wurden, ihre grundlegende Spezifik jedoch behielten: das Yomba-Theater Apidan etwa, das schon in der vorkolonialen Zeit in Westafrika existierte und sich durch die europäischen Fremdelemente vor allem hinsichtlich der Ausstattung änderte. Auf diese Weise haben sich im Übrigen sehr viele außereuropäische Theaterformen transformiert, mit graduellen Unterschieden. So wird man etwa im Falle der klassischen japanischen Theaterformen wie dem No oder Kabuki, dem indischen Kathakali oder der Peking-Oper nicht von interkulturellem Theater im engeren Sinne sprechen, obwohl sie sich durch den Kontakt mit der westlichen Welt verändert haben. Sie haben insbesondere mittels neuer Theatertechnik - Beleuchtung und Ausstattung - Elemente der europäischen Theaterästhetik
24 Im anglo- und frankophonen Afrika etwa entwickelte sich ein Theater, das Elemente aus Revuen, englischen MusicHalls und Hollywoodfilmen mit lokalen Formen mischte, z.B die Concert Parties, die vor allem in Ghana und Togo in den 1930er Jahren populär waren. Auch das Yoruba Travelling Theatre- in den 1940ern Jahren in Nigeria beliebt - setzte vielfältige Musik- und Tanzformen und das A/arinjo-Wande11heater ein, das bis ins 16. Jahrhunde11 zurückverfolgt werden kann. Zwei wichtige Protagonisten dieser Richtung waren Hubert Ogunde, der 1941 die erste Truppe gründete, und KoJe Ogunmola, der 1948 die zweite große Kompanie ins Leben rief. Fiebach schreibt diesen afrikanischen Theaterformen eine große Offenheit zu: "Sie vereinnahmen, wenn es ihren Interessen nützt, ,bedenkenlos' jede kulturell-technische Neuheit oder auch das ,Andere', das Fremde." (Fiebach 2001: 279)
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übernommen. An dieser Stelle scheint ein Problem auf, das ich erst später behandeln möchte, nämlich die unzulängliche Gleichsetzung von Modernisierung und "Verwestlichung", sowie der Sachverhalt, dass kulturelle Formen sich beständig transformieren. Im Folgenden sollen, um das politische Spannungsfeld zu beleuchten, in dem das interkulturelle Theater bis heute, ins 21. Jahrhundert hinein, steht, Schlaglichter auf seine Entwicklungen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts geworfen werden. Dieses Vorhaben ist nicht unproblematisch, weil hier weder hinsichtlich der spezifischen Theaterformen und ihrer Ästhetiken ausreichend in die Tiefe gegangen werden kann, noch die sehr unterschiedlichen historischen und lokalen Konstellationen umfassend geschildert werden können. Die Umstände, aus denen heraus interkulturelles Theater entstanden ist, differieren allerdings erheblich. Eine adäquate Aufarbeitung müsste die konkreten Rahmenbedingungen, und dabei auch die jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen im Detail beleuchten. Hier soll es jedoch primär um aktuelle Formen interkulturellen Theaters gehen. Diese stehen im Kontext eines Diskurses um interkulturelles Theater, der sich aufbestimmte historische Entwicklungslinien bezieht. Es soll daher ausreichen, die relevanten Bezugspunkte in der jüngeren Theatergeschichte zu skizzieren, was auf Kosten einer repräsentativen Auswahl der vorgestellten Theatermacher und -formen sowie einer tiefergehenden Reflexion gehen muss. Emanzipation zwischen "Rückbesinnung", Engagement und Synkretismus: Interkulturelles Theater in postkolonialen Gesellschaften Natürlich können die Entwicklungen von interkulturellem Theater in Ländern nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten nicht ohne weiteres zusammengefasst werden; es sei allein an die flächenmäßige Ausdehnung und die sozia-politische wie kulturelle Heterogenität des afrikanischen Kontinents erinnert: Zu gewichtige Unterschiede existieren zwischen den franko- und anglophonen Regionen, den portugiesischen Kolonien und dem Apartheid-Südafrika, ganz zu schweigen von den vollkommen anderen Gemengelagen in den Amerikas, Asien und Ozeanien. Dennoch lässt sich festhalten, dass in den kolonisierten Ländern die Konfliktsituation einer tendenziell binären kulturellen Begegnung von indigenen und kolonialen Traditionen sowohl die Themen als auch die Strukturen künstlerischer Produktion prägte und auch die Zeit nach der Unabhängigkeit noch deutlich bestimmte. Dann allerdings mit einer deutlich emanzipativen Stoßrichtung: Es setzte vielerorts eine "Rückbesinnung" auf präkoloniale Traditionen ein, die man versuchte, in ihrer ursprünglichen Form zu rekonstruieren. Zudem entstand politisch engagiertes Theater, bei dem die Ästhetik Bertolt Brechts eine zentrale Rolle
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spielte, sowie programmatisch synkretisches Theater, das selbstbewusst Elemente unterschiedlicher Provenienz kombinierte. So sorgte die politische Entkolonialisierung der subsaharischen Länder auf dem afrikanischen Theater der 1960er für eine kritische Auseinandersetzung mit der Situation Afrikas. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit beschäftigten sich Intellektuelle und Dramatiker zunehmend mit den "eigenen" Theatertraditionen, wobei sie häufig theaterwissenschaftliche mit ethnographischen Überlegungen verbanden und so ein Bewusstsein für das nicht dem westlichen Literaturtheater verpflichtete Theater vielfach erst entwickelten. 25 Die koloniale Theatertradition war dabei nicht nur Feindbild, gegen das die eigenen Überlieferungen verteidigt werden mussten, sondern bot auch Inspiration. Schon in den 1930er Jahren hatte der südafrikanische Dramatiker Herbert Dhlomo (1903-1956) die Vermischung indigener und europäischer Darstellungsformen propagiert: "The development of African drama cannot purely be from African roots. It must be grafted in weslern drama. It must borrow from, be inspired by, shoot from European dramatic art forms [.. .]" (Dhlomo, H. I .E.: Literary Theory and Criticism of H !. E. Dhlomo. Hrsg. von Nick Visser. Tn: English in Africa 4:2, I 977: 7. ZitieJt nach: Balme 1995: 41 )26
Auch andernorts griffen Theatermacher und Dramatiker sehr bewusst auf europäische Elemente zurück, wie John Pepper Clark (* 193 5) und Wole Soyinka (*1934) in Nigeria: Soyinkas Stücke basieren auf der europäischen Form des Dramas, sie sind in englischer Sprache, behandeln aber Themen und Figuren aus der Geschichte und den Mythen der Yoruba
25 Zentrale Protagonisten waren etwa die Dramatiker 0. Rotimi und J.P. Clark sowie der Theaterwissenschaftler J.A. Adedeji. Sie untersuchten afrikanische Darstellungsformen wie Tänze, Riten, Zeremonien im Sinne 1. Frazers, waren also dem westlichen Wissenschaftskonzept verpflichtet. Alle drei stellten Affinitäten zwischen den indigenen afrikanischen Darstellungsformen und denen der frühen griechischen Tragödie fest, vor allem hinsichtlich des mythischen Stoffes und des Ritualcharakters (vgl. Balme 1995: 46ff.). 26 Dhlomo nahm eine bikulturelle Sichtweise ein, da er als Angehöriger der ZuluEthnie die indigene Kultur genauestens kannte, als gebildeter, städtischer Afrikaner jedoch in englischer Sprache schrieb und die westlich geprägten Konzepte von Modernisierung und Antinibalismus verh·at. Dhlomos Theatertheorie kann verstanden werden als eine Reaktion auf die Abwertung afi·ikanischer Darstellungsformen durch die Kolonialherren und auch als Reaktion auf die westliche Ethnologie, die sie rein funktionalistisch gedeutet und ihnen jeglichen ästhetischen oder Unterhaltungswert abgesprochen hatte. Analog zu den sozia-politischen Veränderungen in Südafrika, wo sich die Rassentrennungspolitik immer deutlicher abzeichnete, emanzipierte sich Dhlomo mit den Jahren vom europäischen Denken.
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und weisen Muster der oralen Überlieferung auf. 27 Im Kontext der Black Consciousness-Bewegung entstand in Südafrika in den 1970ern zudem ein Theater, das Techniken der europäischen und us-amerikanischen Avantgarde einsetzte und sich dezidiert auf Antonin Artaud bezog. Mshengu Kavanagh vom Experimental Theatre Workshop erklärte 1971 , dass es seiner Gruppe darum gehe, neue Formen modernen Theaters zu entwickeln, die auch in anderen Ländern und Kontexten innovativ wirken sollten: "It is primarily concemed with South Africa and Africa, but its efforts might have a
meaning wherever theatre is important for a society, and the subject of experimentation and invention." (Kavanagh zitiert nach Piebach 1998: 79)
Generell hat das politische Theater eines Bertolt Brecht oder in der Tradition des Agitprop in Afrika viele lokale Adaptionen erfahren (vgl. Balme 1995: 37). Das gilt auch für die nordafrikanische und arabische Theaterwelt seit Mitte des 20. Jahrhunderts. 28 In Ägypten beispielsweise war irrfolge des Staatsstreichs von 1952 eine gesellschaftliche Umbruchsituation entstanden, die sich vielleicht mit den politisch engagierten eu27 Das verdeutlichen beispielsweise seine Bearbeitung der Bakchen von Euripides, die er in die Yoruba-Mythologie transferiert, oder sein Drama Death and the King's Horseman (1976) (vgl. Fischer-Lichte 1999: 117). In dem einflussreichen Aufsatz The Fourth Stage (1969) stellte Soyinka die traditionellen Yoruba-Darstellungsformen in den Kontext eines europäischen Diskurses, schuf jedoch gleichzeitig eine eigene mythopoetische Ästhetik (vgl. auch Soyinkas Aufsatzsammlung Myth, Literature and the African World (Soyinka 1976). 28 Tm arabischen Raum waren durch den intensiven Kulturkontakt mit Buropa im 19. Jahrhunde1i textbasierte Theate1formen nach europäischem Vorbild entstanden. Französische und italienische Truppen waren seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Ägypten präsent, 1869 wurde in Kairo das Opernhaus mit Verdis Aida eröffuet. Vor allem Syrien und der Libanon gelten als wichtige Länder für die Entwicklung des arabischen Sprechtheaters. So inszenierte der libanesische Dramatiker und Regisseur Maron EI-Naqash (1817-1855) nach einer Italienreise 1848 Molieres Geizigen und in europäisch inspirierter Musicalform eigene Stücke wie Abu el-hassan, der Idiot (1850). Sein Neffe Salem el-Naqash machte das Musical ab den 1870ern auch in Ägypten bekannt, während das lokale Volkstheater an Popularität verlor. Wie Nehad Selahia beschreibt, hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts das europäisch orientierte Theater auf Kosten der traditionellen Formen durchgesetzt; die führenden Gruppen der 1920er Jahre, etwa die Ensembles um Georges Abyad, Youssef Wahbi und Fatma Rushdi, bewegten sich zunehmend in Richtung klassisch europäischer dramatischer Tradition: "Man übernahm gültige Konventionen, insbesondere einen deklamatorischen, sehr melodramatischen und stimmbetonten Schauspielstil, eine Betonung der ,moralischen' und didaktischen Aufgabe des Theaters als Gegensatz zu seiner libertären, anarchischen, kamevalesken Körperlichkeit." (Selahia 2003 : 76)
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ropäischen Theaterformen besonders angemessen verhandeln ließ. Mit dem Anstieg des religiösen Fundamentalismus Ende der 1960er endete diese Phase jedoch, wie die die ägyptische Theaterwissenschaftlerin Nehad Selahia schreibt: "Mit der Niederlage des Sechs-Tage-Kriegs von 1967, dem Scheitern von Nassers ,Nationalem Projekt', den gesellschaftlichen und ökonomischen Erschütterungen in der Nachfolge von Sadats Wirtschaftspolitik der ,Offenen Tür' [...] endete dieses ,Goldene Zeitalter' . Das neue Regime interessierte sich nicht mehr fur das Theater, weder als Propaganda-Organ, noch als fadenscheinigen demokratischen Deckmantel." (Selahia 2003 : 76)
Erst in den 1980ern entstanden neue Formen interkulturellen Theaters, wobei der ägyptische Theatermacher Hassan El-Kreidly zentrale war. Er mischte Populärkultur mit folkloristischen Elementen, war in Europa ausgebildet worden und gab mit der Gründung der Gruppe El-Warsha die Initialzündung für das Entstehen einer freien Theaterszene in Ägypten (vgl. Haring-Smith 2001: 282ff.). Die antikoloniale Befreiungsbewegung und die Unabhängigkeit Indiens hatten auch dort zunächst für systematische Bemühungen um das indische Volkstheater gesorgt und 1953 wurden zwei Theaterinstitutionen mit nationalem Anspruch gegründet: die Sangit Natak Academy (SNA) und die National School of Drama (NSD). 29 Die NSD kann als das erste Nationaltheater Indiens gelten, sie ist gleichzeitig Ausbildungszentrum und theaterwissenschaftliches Institut. Die Auseinandersetzung mit klassischen indischen Theater- und Tanzformen wie Kathakali oder Kutiyattam prägten die Geschichte der NSD und vor allem fur das Hindi-Theater hatte sie eine große Bedeutung. Aber auch fur das interkulturelle Theater: Sie förderte Übertragungen europäischer Dramen, etwa von Brecht, Dürrenmatt, Ibsen, Ionesco, Beckett, Cechov etc., sowohl ins Hindi, als auch in andere indische Sprachen. In den 1960er und 70er Jahren arbeitete der Regisseur Habib Tanvir zwar streng innerhalb der Konventionen des tra29 In Indien hatte es schon früh Theaterformen gegeben, in die europäische Elemente eingeflossen waren: Mit der Niederlassung der East Indian Company im 18. Jahrhunde1i in Bengalen erhielt auch das europäische Theater einen gewissen Stellenwe1i. 1795 wurde in Kalkutta erstmals ein nicht-indisches Stück aufgefuhrt. Der erste Theaterbau nach europäischem Vorbild wurde 1831 errichtet; in ihm fuh1ien indische Schauspieler bevorzugt englische Dramen auf. Tm 19. Jahrhundert entwickelten sich dann in den diversen Regionen des Subkontinents immer mehr europäisch beeinflusste Theaterformen, wie etwa das Parsi-Theater. Die Parsen, in Bombay ansässige Kaufleute, bauten fur dieses eklektische, von Lied- und Tanzeinlagen geprägte Theater eigens Theaterhäuser und brachten es zu großem kommerziellen Erfolg (vgl. Balme 1995: 33 u. Badwe 1992). Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Indien viele europäische Dramen in die lokalen Sprachen übersetzt und aufgefuhrt.
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ditionellen indischen nacha-Theaters, jedoch mit Zielsetzungen, die an Brechts Programmatik anknüpften (vgl. Dalmia-Lüderitz 1990). Ähnlich funktionierte der bengalische Theatermacher Utpal Dutt das jatraTheaterum. In der anglophonen Karibik entwickelte sich in den 1950er und 60er Jahren ebenfalls ein neues interkulturelles Theater. Mit der politischen Unabhängigkeit ging die Forderung nach einem spezifisch karibischen Theater einher, wobei die Kreole-Gesellschaften selbst bereits durch britische, afrikanische, indische, spanische, französische, portugiesische und chinesische Einflüsse geprägt waren. Die Sprachen der Karibik, d.h. die kreolischen Sprachen und patois wurden für die Bühne entdeckt und einige Dramatiker wandten sich vom Englischen ab. In den 1960er Jahren stellte man die realistische Dramaturgie des weil made play in Frage und öffuete sich anderen Darstellungsformen, vor allem auch den volkskulture11en, populären (vgl. Balme 1995: 52). Am erfolgreichsten war das karnevaleske Theater, das die für die karibischen Kulturen typischen, farbenfrohen Maskeraden aufgrifr.J 0 Der wohl bedeutendste karibische Theatertheoretiker und -macher, der 1930 auf St. Lucia geborene Derek Walcott, gründete 1959 den Trinidad Theatre Workshop, mit dem expliziten Ziel, durch Improvisationen zu einer spezifisch karibischen Theatersprache zu finden. Er inszenierte neben eigenen Stücken Dramen von Jean Genet überEdward Albee bis Wole Soyinka. Ein wichtiges Element war auch für Walcott die Karnevalstradition, die er ebenso wie andere volkskultureHe Ausdrucksformen, etwa afrikanisch beeinflusste Tänze, das Calypso-Liedgut oder orale Erzähltraditionen einband. Walcott setzte sich zudem intensiv mit Brecht, japanischem Kabuki- und No-Theater auseinander und sein Theater "beruht auf der Vorste11ung, daß durch die Vermischung scheinbar konträrer Elemente- die Sprachkunst der westlichen Dichtungstradition mit der Volkspoesie des Dorfes, die rigide Körperstilisierung des Kabuki mit der improvisatorischen Tanzrhythmen des shango und bongo, die ko11ektive Kreativität des Karnevals mit der Disziplin des individue11en Theaterkünstlers - ausreichend kreative Energie freigesetzt werden könne, um qualitativ neue Theaterformen hervorzubringen." (Balme 1995: 60f.) Im Unterschied zu den Eroberungskolonien etwa in Afrika, Indien oder der Karibik, leben die Ureinwohner von Siedlungskolonien beispielsweise in den Amerikas oder Ozeanien bis heute als Minoritäten. Das Theater
30 Einer der wichtigsten Vertreter dieser Theaterform, der aus Trinidad stammende Dramatiker und Theaterwissenschaftler Errol Hili, forderte etwa, die Ausdrucksformen der Volkskultur aufzugreifen und in ein modernes westindisches Nationaltheater zu integrieren (vgl. Hilll974: 34).
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verschiedener ethnischer Gruppen dieser sogenannten "Vierten Welt"31 fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend Beachtung, wobei die folkloristische Darstellung indianischer Regentänze oder die Didgeridoo-Musik der Aborigines im Westen spätestens seit den Völkerausstellungen bekannt war. In Mexiko war bereits 1919 das Teatro Folkl6rico zu Ruhm gekommen, das den Künsten der indianischen Bevölkerung gewidmet war, ab 1924 zeigte das Teatro del Murcüilago ausschließlich indianische Tänze, Rituale und Zeremonien. Christopher Balme hat das Theater der Maori, Aborigines und Indianer in Neuseeland, Australien und Kanada untersucht und festgestellt, dass fast überall in den 1970er Jahren freie Theatergruppen gegründet wurden und die ersten wichtigen Dramatiker hervortraten. In der Regel wurde politisches Theater gemacht; Theater war ein Mittel im Kampf um mehr Rechte. Entsprechend handelte es sich formal meist um entweder realistisches bzw. naturalistisches Theater, das die Probleme der Ureinwohner thematisierte oder um Agitprop-Revuen, jeweils nach westlich-europäischem Vorbild. Die Auseinandersetzung mit indigenen Darstellungsformen begann erst Ende der 1970er Jahre (vgl. ebd.: 64). Der bekannteste indianische Regisseur Kanadas, Tomson Highway, begann in den 1980ern ein Theater zu entwickeln, das die indianische Mythologie und die oralen Traditionen mit einer modernen Dramaturgie verbindet, die auch einem nicht-indianischen Publikum zugänglich ist, und sich durch eine starke Ästhetisierung auszeichnet. Auch im Aborigine-Theater existiert diese hybride Verbindung von lokalen Traditionen mit westlichem Theater. Ritualtheater, kulturelle Collage, Universalsprache: lnterkulturalität und die Theateravantgarden in der "westlichen" Welt, in Japan und China Im Westen und den nicht-kolonisierten Ländern stellt sich im 20. Jahrhundert die Entwicklung interkulturellen Theaters insofern anders dar, als insbesondere von den Avantgarden die "fremden" Theaterformen aufgegriffen wurden, um spezifische ästhetische Probleme zu lösen. Politische Beweggründe im engeren Sinne oder die Emanzipation von Kolonialimus und Kulturimperialismus spielten hier keine Rolle. Zu Beginn des Jahrhunderts war in Europa das literarische, psychologisch-realistische Illusionstheater an seine Grenzen gelangt und die Avantgarde der Jahrhundertwende hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Theater zu "retheatralisieren". Dies ging häufig mit der Forderung einher, das Theater solle (wieder) zum Fest oder Ritual werden. Dabei ist Friedrich Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) 31 Die Zusammenfassung der sehr unterschiedlichen Regionen unter dem Begriff "Vierte Welt" scheint gerechtfertigt, da es sich hier um eine Selbstbezeichnung handelt und sowohl die Kolonialgeschichte als auch die gegenwärtige Situation starke Parallelen aufWeist (vgl. Balme 1995: 63).
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als Referenztext anzusehen: Nietzsche fUhrt die darstellende Kunst auf ein Ritual - den Dionysos-Kult der griechischen Antike - zurück und fordert die Wiederbelebung des Dionysischen in der zeitgenössischen Kunst. Als prototypisch kann Antonin Artaud (1896-1948) gelten. Er hatte bei der Suche nach einer spezifisch theatralen Sprache jenseits des Literarischen im "orientalischen" Theater Inspiration gefunden, vor allem in balinesischen Tänzen. So schrieb er 1931: "Die Offenbarung des balinesischen Theaters ist dazu angetan gewesen, uns eine körperliche und keine verbale Vorstellung vom Theater zu verschaffen, bei der das Theater in den Grenzen all dessen enthalten ist, was sich auf einer Bühne unabhängig vom geschriebenen Text abspielen kann, während das Theater, wie wir im Abendland es auffassen, immer mit dem Text im Bunde steht und von ihm begrenzt wird." (Artaud 1996: 73)
Durch Völkerschauen und Weltausstellungen kreuzte sich das Bedürfnis, die Schauspiel- und Theaterkunst zu reformieren, mit der wachsenden Neugierde auf andere Kulturen und der Möglichkeit, deren Theater auch direkt zu erleben. 32 Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, geprägt durch globale Massenmedien und eine weltumspannende Verkehrsinfrastruktur, hat dann eine rasante, exponentielle Zunahme der systematischen interkulturellen Kontakte mit sich gebracht, was auch für das Theater gilt: Austauschprogramme, staatliche und private finanzielle Unterstützung flir interkulturelle Projekte, Theaterfestivals, residencies flir Künstler und internationale Konferenzen wurden in großer Zahl entwickelt und eingerichtet. 33 Und so ist seit den späten 1960er Jahren die produktive 32 Entsprechend bezieht sich Edward Gordon Craig 1908 in seinem Manifest Der Schauspieler und die Über-Marionette auf außereuropäische Kulturen (vgl. Craig 1969: 68). Konstantin Stanislavskij (1863-1927) arbeitete bei der Operette Der Mikado bereits 1885 mitjapanischen Künstlern zusammen, 1910 ließ sich sein Schüler Vsevolod Meyerhold (1874-1940) von japanischen Artisten unterrichten; Alexander Tairov ( 1885-1950) inszenierte 1913 das "chinesische" Stück Die Gelbe Jacke und studierte für die Inszenierung der Sakunatala des indischen Dramatikers Kalidasa intensiv bildende Kunst aus Indien (vgl. Fischer-Lichte 2006: 187). Fischer-Lichte macht deutlich, dass die Auseinandersetzung mit asiatischem Theater Ende der 1920er dann nicht mehr wie um die Jahrhundertwende mit dem Ziel einer "Retheatralisierung" verbunden war, jedoch immer noch dazu diente, um ästhetische Probleme zu lösen. So rezipierte Be11olt Brecht fernöstliches Theater freilich nicht mit dem Impuls, das Theater dem Ritual anzunähern. 1935 sah er in Moskau eine Peking-Oper mit dem berühmten Frauendarsteller Mei Laufang und entwickelte nach diesem Erlebnis das Konzept der "Verfremdung", der bewussten Dekonstruktion von konventionellen Wahrnehmungsmustern mit genuin theatralen Mitteln. 33 Bezeichnend fiir diese Entwicklung ist die Gründung des Internationalen Theaterinstituts (ITI). Es wurde 1948 von der UNESCO in Prag gegründet. Ziel war "Völkerverständigung", die sich, sicherlich vor dem Hintergrund der weltpoli-
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Rezeption von Elementen fremder Theatertraditionen verbreitet wie nie zuvor. Eine Reihe der europäischen und us-amerikanischen Regisseure interkulturellen Theaters können als Protagonisten des "Theaters der Erfahrung" der 1960er und 70er gezählt werden. Dieses steht mit seinem ausgeprägten Interesse an außereuropäischen Körpertechniken deutlich in der Tradition der historischen Avantgarde: So war vielfach der Versuch bestimmend, die Grenze zwischen Zuschauern und Darstellern aufzuheben, und oft wurde die Ritualtheorie als Ausgangspunkt gewählt - vor allem die der Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner. Jerzy Grotowski (* 1933) hat das Projekt Artauds weiterverfolgt, im außereuropäischen Theater nach dem Heiligen und Mythischen zu suchen. Vor der Gründung seines "Theaterlaboratoriums" in Opole/Polen ( 1959) reiste er nach China und Zentralasien und organisierte Ende der 1950er öffentliche Gespräche über Buddhismus, Yoga, Konfuzius und den Taoismus. Er ging 1970 auf eine Exkursion u.a. nach Indien und reiste mit seiner Truppe nach Beirut, Chiraz und Teheran. Seiner Arbeit lag das utopische Konzept zugrunde, die Beteiligten an einer Theateraufführung in einem heiligen Akt, einer rituellen Feier zu transformieren. Entsprechend lehnte Grotowski die Konventionen des an den dramatischen Text gebundenen Theaters ab. Das Schaffen seines Schülers Eugenio Barba (* 1936) baut ebenfalls auf interkultureller Theaterarbeit auf. Barba leitet seit 1966 das Odin Teatret im dänischen Holstebro und ist zudem Gründer der International School ofTheatre Anthropology (ISTA). Er hat sich insbesondere mit der spezifischen Körperlichkeit verschiedener asiatischer Theaterfonnen vor allem des No-Theaters und des Kathakali -befasst, um das Phänomen der Bühnenpräsenz von Schauspielern zu ergründen: "Meine Forschungen begannen auf Grund meines Interesses am orientalischen Theater. Ich konnte nicht begreifen, warum mientalische Schauspieler [... ] diese sehr eindrucksvolle Qualität der Präsenz bewahrten, die unweigerlich unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht." (Barba 1985: 124)
Barba ist für seine Studien durch die Türkei, Iran, Pakistan und Indien gereist (vgl. Barba 1997). Eine weitere interkulturelle Komponente erhielt die Theaterarbeit Barbas durch Reisen seiner Gruppe u.a. nach Süditalien, nach Caracas und in den venezolanischen Amazonas, nach Peru und Mexiko. Auf Grotowski bezog sich auch Richard Schechner (* 1934). Vor allem dem indischen Theater galt sein Interesse und er beobachtete in Kerala über Wochen hinweg Kathakali-Meister und ihre Schüler bei der tischen Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Hauptziel der internationalen Kulturpolitik herausbildete.
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Ausbildung (vgl. Schechner 1990 u. ders. 1997). Er befasste sich im Kontext seines Konzepts des Environmental Theater im New York der 1960er und 70er intensiv mit Ritualen. So setzte er bei Dionysus in 69 etwa ein Geburtsritual der Asmat aus Iran ein, in Molher Courage and Her Children wurden Speisen an das Publikum verteilt, wie es die Regeln einer Zeremonie auf Neu-Guinea vorschreiben. Sein erklärtes Anliegen war dabei, die Trennung zwischen Zuschauern und Darstellern aufzuheben. Der us-amerikanische Regisseur Robert Wilson (*1941) dagegen montierte in seinem Projekt The CJVJL warS ohne derartige Ambitionen Elemente aus den verschiedensten Kulturen und Epochen zusammen, wie bereits eingangs festgestellt. Er experimentierte mit Formen japanischen Theaters wie No, Kabuki und Bumaku und fügte sie in Form einer kulturellen Collage zusammen (vgl. Weiler 1994). Fischer-Lichte weist nach, dass die japanischen Elemente bei Wilson völlig andere Funktionen übernehmen, als in ihren Herkunftszusammenhängen. Sie stehen gleichwertig neben einer Reihe von Zitaten aus anderen kulturellen Kontexten und können vom Publikum beliebig mit Bedeutungen verknüpft oder als desemantisiertes Fragment rezipiert werden (vgl. Fischer-Lichte 1999: 148ff.). Wilson hatte nie das Ziel, interkulturelles Verstehen zu fördern, wie Wirth feststellt: "[ ...] cross-cultural understanding is not a factor he considers. To the contrary, very diversified cultural material is saved from appearing eclectic through the synthesizing powers ofWilson's iconophilia, which is capable oftransforming any mate1ial into an object for aesthetic contemplation." (Wi1th, A. 1991: 288)
Ebenfalls im Sinne einer solchen Weiterentwicklung der eigenen Ästhetik sind auch Ariane Mnouchkines (* 1939) frühe interkulturelle Theaterprojekte entstanden. Mnouchkine gründete 1964 in Paris das Theaterkollektiv Theatre du Solei!, das sich aus rund fünfunddreißig Berufs- und Amateurschauspielern aus aller Welt zusammensetzte. Sie griff beispielsweise bei der Inszenierung der Shakespeareschen Historiendramen Richard 11 (1981) und Heinrich IV (1984) auf das No- und KabukiTheater zurück, um das Zeichemepertoire ihres Theaters zu erweitern, das ansonsten eher einen Stil pflegte, der sich als episches Volkstheater beschreiben lässt. Die ,,japanischen" Elemente dienten unter anderem dazu, die Shakespeareschen Figuren festgelegten Typen zuzuordnen und bestimmte Situationen zu charakterisieren; ihre Bedeutung im Herkunftskontext war dabei weitgehend irrelevant. Sie erfüllten ihre Funktion, wenn das Publikum sie als anders/ japanisch/ asiatisch erkannte (vgl. Fischer-Lichte 1999: 166ff.). Übrigens setzte sich in China in den 1980ern eine vergleichbare Form der kulturellen Collage durch. 1986 fand das erste Shakespeare-
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Festival in Peking statt, bei dem Stücke des Dramatikers in klassischen chinesischen Theaterformen aufgeführt wurden, was großes Aufsehen erregte. Hu Weimin (1932-1989) etwa inszenierte Was Ihr Wollt: "In this performance as Malvolio in Twelfth Night, Shi Jihua incorporated many diverse elements, ancient and modern, Chinese and foreign. His feet movements ranged fi·om ballet to English folk dance, from conventionalized steps for a young civilian male in Sichuan opera to those for a military male in Beijing opera. His hand movements ran the gamut from certain gestures in kunqu to those in Western dance. In his singing, which was weil grounded in the Fan style ofyueju, Shi Jihua ingeniously assimilated some vocal techniques from other regional forms and even Western opera." (Hu 1999: 191)
Fischer-Lichte kommt aufgrund einer Aufführungsanalyse von Brechts Der gute Mensch von Sezuan in einer Sichuan-Opern-Inszenierung (1987) zu dem Schluss, dass nach der Kulturrevolution die produktive Rezeption westlicher Dramen die Funktion hatte, die Grenzen und Möglichkeiten der chinesischen Oper auszuloten und herauszufinden, inwiefern sie in wieder produktiv gemacht werden kom1ten (vgl. FischerLichte 1999: 170). Als Peter Brook (* 1925) 1970 im Pariser Centre International des Recherches Theiitrales eine multiethnische Gruppe gründete, hatte er hingegen den Anspruch, eine theatrale Universalsprache zu entwickeln: "Our work is based on the fact that some of the deepest aspects of human experience can reveal themselves through the sounds and movements of the human body in a way that strikes an identical chord in any observer, whatever bis cultural and racial conditioning." (Peter Brook in Interview mit Peter Brook. In: The Drama Review, Vol.l7, Nr. 3: 50. Zitiert nach: Fischer-Lichte 1999: 182)
In seiner Inszenierung Orghast (197 1) setzte Brook Elemente aus Mythen, Dramen und Erzählungen verschiedenster Herkunft ein, sowie die Sprachen Altgriechisch, Latein und das altostiranische Awesta. Tai Chi, chinesischer Zirkus, persisches Volkstheater und das, was die aus verschiedenen Ländern kommenden Schauspieler an Theatertraditionen mitbrachten, bestimmten die Schauspielkunst auf der Bühne. Das zweite Projekt, das auf die Erforschung theatralischer Universalien abzielte, war eine umstrittene Hundert-Tage-Expedition nach Afrika (1973). Dabei ging es darum, die Schauspieler einem Publikum gegenüber zu stellen, das noch nie europäisches Theater erlebt hatte und auf diese Weise einen allgemein verständlichen theatralen Kode zu finden.34
34 Auch Brook wollte übrigens den Bezug zwischen Ritual und Theater wieder herstellen, der, wie er meinte, in den westlichen Industriegesellschaften verloren gegangen sei (vgl. Grädel1997: 29).
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Ähnlich den Anliegen Brooks sind die Ziele des japanischen Regisseurs Tadashi Suzuki (vgl. Brandon 1990: 91). Ein zentraler Aspekt von Suzukis Arbeit mit der internationalen Theatergruppe SCOT (Suzuki Company at Toga) war die Auseinandersetzung mit westlichen und japanischen Theaterformen, zum Beispiel bei seinen Drei Schwestern (Cechov) von 1985. Er inszenierte europäische Dramen in japanischer Übersetzung, die Kostüme teils an No- und Kabuki-Gepflogenheiten angelehnt, teils an moderne Alltagskleidung, die Bewegungen der Schauspieler aus dem Repertoire des No, des Kabuki und shintoistischer Rituale entwickelt, die Musik aus japanischer Tempelmusik, westlicher Klassik und Rock, sowie ostasiatischen Schlagern zusammengesetzt. Tadashi Suzuki bezweckte mithilfe des interkulturellen Theaters, Körper und Sprache als Universalienjenseits ihrer kulturellen Ausprägungen zu finden: "I wished to integrate these differences into so mething we humans could share as a
common property, beyond all differences in race and nationality." (Suzuki 1991: 241)
Er versuchte, durch Reduktion und Kondensation das je Kulturspezifische von Sprache und Körper auszulöschen und das Archetypische freizulegen. Weil er im No, Kabuki sowie den shintoistischen Ritualen die Ausdruckskraft des menschlichen Körpers am weitesten entwickelt sah, und im abendländischen Drama die sprachliche Ausdrucksfähigkeit des Menschen, zog er aus diesen Formen die Grundelemente für sein Theater. Seiner Ansicht nach ermöglichten diese Kombinationen, Sprache und Körper in ihrer Expressivität zu steigern und eine neue Sprache zu entwickeln, den Mitgliedern aller Kulturen verständlich.35 Die theoretischen Äußerungen Brooks und Suzukis hinsichtlich einer zu findenden Universalsprache sind allerdings sehr fragwürdig, worauf ich an anderer Stelle noch genauer eingehen werde.
Ausbeutung des Fremden: Postkoloniale Kritik Wie der historische Überblick gezeigt hat, ist interkulturelles Theater nie interesselos. Und so hat Erika Fischer-Lichte anhand der Analyse einer Reihe europäischer wie nicht-europäischer interkultureller Inszenierungen eine stabile Gemeinsamkeit herausgearbeitet: Das Fremde wird nie
35 Brook und Suzuki haben den je neu entwickelten Kode dann in verschiedenen Inszenierungen eingesetzt: Brook etwa in The Iks (1972/73), The Conference ofthe Birds (1977), und in der Dramatisierung des altindischen Epos Mahabharata (1985); Suzuki nach den Troerinnen von 1971 in Die Bakchen (1978), Klytämnestra (1983), sowie in King Lear (1984) und Drei Schwestern (1984) (vgl. Fischer-Lichte 1999: 183).
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nur um seiner selbst oder seiner Vermittlung willen eingesetzt, sondern sein Einsatz ist "[ ... ] stets als Prozeß einer kulturellen Transformation zu begreifen, in dem die aus anderen Kulturen übernommenen Bestandteile der eigenen Kultur einverleibt werden, damit sie ihr besonderes Wirkpotential hic et nunc entfalten können. Auch im Gegenwartstheater hat eine Inszenierung, die interkulturelle Tendenzen aufweist, zunächst einmal in der eigenen Kultur eine ganz konkrete, nur auf diese Kultur bezogene Funktion wahrzunehmen[... ]" (Fischer-Lichte 1997: 264)
Diese Funktionen sind sehr unterschiedlich - so können sie etwa primär ästhetischer, oder aber auch vorwiegend sozia-politischer Natur sein. Häufig soll ein bestehender theatraler Kode revitalisiert werden, weil dieser zur Lösung bestimmter ästhetischer Probleme nicht mehr in der Lage ist - Robert Wilson, die chinesische kulturelle Collage, aber auch die synkretischen karibischen Theaterformen sind typisch dafür. Oder es wird die Suche nach einer theatralen Universalsprache mit interkulturellem Theater verknüpft, wie u.a. das Beispiel Peter Brooks gezeigt hat. Hinsichtlich der sozia-politischen Funktionen ist davon auszugehen, dass interkulturelle Theaterinszenierungen recht unterschiedliche Wirkungen entfalten können, die jeweils im Einzelfall untersucht werden müssen. Die Beschäftigung mit europäischem politischem Theater in postkolonialen Kontexten erfüllte etwa emanzipative Funktionen, die sich jeweils lokal spezifisch ausformten und die Suche nach Ritualen auf dem Theater hatte im euro-amerikanischen Kontext eine andere Aufgabe als etwa in Afrika: Im Westen, bei Grotowski beispielsweise, ging es um eine "spirituelle Wiedergeburt". Auf den afrikanischen Bühnen hingegen, exemplarisch bei Wole Soyinka, eher um die Auseinandersetzung mit vorkolonialen Traditionen- also um die Frage nach kultureller Identität, in den gerade unabhängig gewordenen Gesellschaften ein eminent politisches Thema. Neben diesen speziellen Funktionen, die interkulturelles Theater je für die Gesellschaft haben kann, in der es entsteht, werden allerdings auch noch weitergehende Funktionen diskutiert. Vor allem von kulturpolitischer Seite gibt es Vorstellungen, die mit dem Interkulturalismus auf dem Theater Hoffnungen in Richtung "Völkerverständigung" verbinden: Durch das Theater soll ein Bewusstsein für fremde Kulturen geschaffen werden, das Theater soll das Fremde vermitteln, Distanzen reduzieren. Auf dieser Überzeugung beruht ztml Beispiel das Konzept der UNESCO für das Internationale Theaterinstitut (ITI): "Da die Theaterkunst eine universale Äußerung der Menschheit ist, die große Gmppen der Völker verbindet, wurde eine autonome professionelle internationale Organisation gegründet, die den Namen ,Internationales Theate1institut' trägt. Die Aufgabe des Instituts ist es, den intemationalen Austausch von Theorie und Praxis in den darstellenden Künsten [... ] zu fördern, um F1ieden und Freundschaft zwi-
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Zur politischen und historischen Dimension interkulturellen Theaters sehen den Völkern zu festigen, das gegenseitige Vertrauen zu vertiefen und die kreative Zusammenarbeit zwischen allen Theaterleuten zu verstärken." (Charta des ITI (1949), in: Linke 1994: 8)
Auch der Anthropologe Victor Turner wandte sich dem interkulturellen Theater zu, weil er der Ansicht war, hier die geeignete Form für eine verständnisfördernde Vermittlung des "Fremden" zu finden: "Die Zusammenarbeit von Colin TurnbuH (The Mountain People, 1972) und Peter Brook, der Turnbulls Monographie über die Ik in Uganda in eine Reihe dramatischer Episoden umwandelte, machte mir bewußt, dass es möglich ist, geeignete Ethnographien in Theaterstücke umzuschreiben. Dieses Experiment überzeugte mich davon, daß eine Zusammenarbeit zwischen Ethnologen und Theaterleuten nicht nur möglich war, sondern auch ein wichtiges Lehrmittel für beide Partnergruppen in einer Welt werden konnte, in der viele Teilgruppen heute den Wunsch haben, einander kennenzulernen." (Turner 1989: 142f.)
Sozio-politische versus ästhetizistische Perspektive Interessantetweise war genau diese /k-lnszenierung Brooks aus den Jahren 1972/73, auf die Turner sich hier bezieht, ein Schlüsselerlebnis für einen der profihertesten Kritiker interkulturellen Theaters, den indischen Theatermacher und -theoretiker Rustom Bharucha. Er stolperte zunächst über einen Hinweis im Programmheft Dort merkte das Produktionsteam am Rande an, soweit man wisse, existiere die Ethnie der Ik noch. Bharucha fühlte sich durch diesen lapidaren Hinweis provoziert, nachzufragen, was für eine Rolle diesen bei der Inszenierung überhaupt zugestanden wurde: "As far as anyone knows? I mean, here we were, invited to feel compassion and horror in their plight, but, nobody in the production had even bothered to find out whether they still existed." (Bharucha 2000: 2)
Darüber hinaus fand er die Darstellung der Ik auf der Bühne, die sich seiner Meinung nach vor allem durch ein "nonverbales Gebrabbel" auszeichnete, degradierend: "[ ... ] the primitivization of African ,natives' will surely go down in intercultural theatre history as a paradigmatic example of primordializing the Other as an anthropological object." (ebd.)
Bharucha stieß so auf die Frage nach einer Ethik der Repräsentation des Anderen auf dem interkulturellen Theater und auf einen Sachverhalt, der bereits deutlich geworden sein dürfte: Kultureller "Austausch" muss nicht immer wechselseitig und von beiderseitigem Nutzen sein, er kann auch einseitig und schlimmstenfalls eine Ausformung (neo-)kolonialer Aneignung und Machtausübung sein - ungeachtet der möglicherweise 61
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harmlosen oder gut gemeinten Absicht der Produzenten. Diese Erkenntnis hat eine Debatte in Gang gesetzt, die sich im Wesentlichen zwischen zwei Polen bewegt: Auf der einen Seite steht eine ästhetizistische Sicht auf interkulturelles Theater, die vor allem theaterimmanente Probleme durch Interkulturalismus lösen möchte. Idealtypisch wurde sie zeitweise von Richard Schechner vertreten - er propagierte die Praxis eines unbeschwerten Interkulturalismus und schrieb über das us-amerikanische Theater der späten 1960er Jahre: "Ein Theater, das wahrhaftig interkulturell war und seine Techniken und V orbitder aus der euro-amerikanischen Kultur ebenso bezog wie von außerhalb: aus Afrika, Asien, den indianischen Kulturen, von Mikronesien - von überall her. Die vorrangige Frage war nicht, ob dieser Interkulturalismus - diese Neigung zu den Kathakali-Übungen, zur Präzision des Noh-Dramas, der Simultaneität und Intensität des af1ikanischen Tanzes- eine F011setzung des Kolonialismus sei, einfach eine andere Form der Ausbeutung fremder Kulturen. Nein, es war wie ein Fest zu entdecken, wie vielfältig die Weit war, wie viele darstellende Genres es gab und wie wir unsere eigene Erfahrung durch Borgen, Stehlen und Tausch bereichern konnten." (Schechner, Richard: The end(){ humanism. New York, 1982. Zitiert nach: Bharucha 1997: 218)
Dem steht eine politische und kolonialismushistorische Perspektive gegenüber, die den Interkulturalismus auf Machtkonstellationen, ökonomische Ungleichheiten und kulturelle Ausbeutung hin untersucht. Sie geht häufig mit der Reklamation ethischer, politischer und konzeptueller (Eigen-)Werte zeitgenössischer außereuropäischer Kunstproduktion einheran dieser Stelle fließen entsprechend postkoloniale Theorien in die Debatte ein. Häufig wird lnterkulturalismus in diesem Zusammenhang als Kulturimperialismus kritisiert, wie etwa von Daryl Chin: "Tnterculturalism hinges on the questions of autonomy and empowerment. To deploy elements from the symbol system of another culture is a very enterp1ise. Jn its emdest terms, the question is: when does that usage act as cultural imperialism? Forcing elements from disparate cultures Iogether does not seem to be a solution that makes much sense, aesthetically, ethically, or philosophically." (Chin 199 1: 94)
Die scharfe Kritik Rustom Bharuchas, die sich an Brooks The lk~ entzündete und dann in vielen weiteren Schriften ihren Niederschlag fand, markiert in den 1980ern einen Wendepunkt in der Praxis und Rezeption interkulturellen Theaters. Mit Bharuchas Intervention fand insofern ein grundlegender Perspektivenwechsel statt, als interkulturelles Theater nicht mehr allein mit liberaler Weltoffenheit in Zusammenhang gebracht, sondern entschieden zu dem kritischen postkolonialen Diskurs in Bezug gesetzt wurde, der seit 1978 durch Edward Saids Schrift Orientah~m immer mehr Beachtung fand. In seinem berühmten Aufsatz Peter
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Brook's Mahabharata: a view from India wirft Bharucha Brook 1988 vor, dessen neunstündige Aufführung des Epos dekontextualisiere einen der zentralen Texte der Hindu-Mythologie und trivialisiere die indische Kultur und Philosophie. So hatten Brook und sein Dramaturg JeanClaude Carriere verlauten lassen, sie beabsichtigten in ihrer Aufführung nicht, den Symbolismus der hinduistischen Philosophie zu präsentieren. Bharucha meint dagegen, dass das Mahabharata ohne den Kontext der Hindu-Philosophie sinnentleert sei. Zur Illustration beschreibt er, wie bei der Aufführung in New York das Publikum während einer Szene in Gelächter ausbrach, die für die hinduistische Mythologie eine zentrale und eigentlich ernste Begegnung beschreibt: Krishna gibt Arjuna den Ratschlag "Handle, aber denke nicht an die Früchte deiner Handlung." Aus seinem religiös-philosophischen Kontext gerissen, kam dieser Spruch, der für Hinduisten eine wichtige Lebensweisheit darstellt, völlig unvermittelt und war für das Publikum nicht zu verstehen. 36 Bharucha kritisiert zudem, Brook presse das Mahabharata in eurozentrische Strukturen, um es für ein internationales Publikum, also den globalen Theatermarkt konsumierbar zu machen. So hatte Carriere der Aufführung eine lineare Erzählstruktur gegeben: "Nothing could be more foreign to the Mahabharata than linearity. This ,foreignness' is not just a formal blunder, it distorts the very meaning of the nan·ative." (Bharucha 1993: 75)
Auch die Rezeption von Brooks Mahabharata untersucht Bharucha und findet den exotisierenden Blick bestätigt. So hatte etwa Patrice Pavis gelobt: "This universalizing connection and the echoes of humanity as a whole do not exclude an Indian rootedness, an accumulation of details - smells, clothing, music, voices- that suggests contempormy rural India. Hindu philosophy, which inspired the work, is thus fittered through the contemporary Indian public, which has assimilated the text to all the circumstances ofits eve1yday life." (Pavis l992:192f.)
Mit Bharucha lassen sich hier ethnozentristische, homogenisierende Floskeln feststellen und es drängt sich in der Tat die Frage auf, was man sich unter einem "ländlichen Indien" auf dem sehr heterogenen Subkontinent mit immerhin mehr als 1,1 Milliarden Einwohnern vorzustellen hat. Gerade angesichts des fundamentalistischen Hindu-Nationalismus sind solche verallgemeinernden Bemerkungen durchaus problematisch. Zentraler Kritikpunkt Rustom Bharuchas ist, dass interkulturelles Theater häufig mit einer mehr oder weniger subtilen Ausbeutung verbunden sei 36 Er erschien als komischer Einwurf: "What could have been a moment ofrevelation was reduced to a banality." (Bharucha 1993: 71)
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und die Kulturen, bei denen - mit Schechners Worten - "geborgt, gestohlen, getauscht" werde, dadurch nicht unbedingt eine Bereicherung erführen. Der Austauschgedanke und die Freiwilligkeit, die das Wort "interkulturell" enthalte, seien im kolonialen oder neokolonialen Kontext nicht zu realisieren: "Colonialism, one might say, does not operate through principles of ,exchange' . Rather, it appropriates, decontextualizes, and represents the ,other' culture, often with the complicity of its colonized subjects. Jt Iegitimales its authority only by asserting its cultural superiority. [... ] Tn the best of all political worlds, interculturalism could be viewed as a ,two-way-street', based on a mutual reciprocity of needs. But in actuality, where it is the West that extends its domination to cultural matters, this , two-way street' could be more accurately described as a ,dead-end' ." (Bharucha 1993: lf.)
Gleichwohl kann man interkulturellen Theatermachern Wie Richard Schechner, Peter Brook oder Eugenio Barba in dieser Hinsicht keine Ignoranz vorwerfen. Schechner etwa war sich bei seinen Reisen der Wichtigkeit eines beiderseitigen Austauschs sehr bewusst und erzählt von einer Begegnung aufBali, bei der er als Gegenleistung dafür, dass er bei einem Ritual als Zuschauer zugelassen wurde, tanzen musste, oder in Karamui in Papua-Neuguinea aus dem gleichen Grund Lieder vortrug (vgl. Schechner 1990: 86). Und auch Barba versuchte, seine interkulturellen Begegnungen als "Tauschhandel" zu gestalten: "Man stelle sich zwei Stämme vor, jeden auf der einen Seite des Flusses. Jeder dieser Stämme kann für sich selbst leben, über den anderen reden, ihn loben oder verleugnen. Aber jedes Mal, wenn einer von ihnen hinüber ans andere Ufer rudert, tut er es, um etwas auszutauschen. Man rudert nicht hinüber um ethnologische Studien zu betreiben, um die Lebensweise der anderen zu beobachten, vielmehr um zu geben und zu nehmen: eine Handvoll Salz für einen Fetzen Stoff, einen Bogen für ein paar Perlen." (Barba 1985: 177)
Schechner hat diese Art von Austausch retrospektiv allerdings äußerst kritisch bewertet: "[ ... ] man fragt sich, wie gut in New York, Paris oder sogar in Holstebro ein Yanomama-Schamane aufgenommen würde, der sich im Rahmen dieses , Tauschhandels' auf die Suche begeben würde nach dem Stil des Odin- wenn er die Regeln und die Tauschmittel auf seine Art festlegen würde. Das ganze System interkulturellen Austauschs kann der Geschichte nicht entkommen: Es befindet sich in der Nachfolge des Kolonialismus." (Schechner 1990: 88)
Selbst die Protagonisten des westlichen interkulturellen Theaters gerieten also in Zweifel. Es stellt sich die Frage, inwieweit ein gleichberechtigter Austausch zwischen Partnern möglich ist, die im Kontext von Kolonialgeschichte und Machtkonstellationen wie "Zentrum/Peripherie" bzw.
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"Erste/Dritte Welt" agieren und zwischen denen wirtschaftliche oder politische Abhängigkeiten existieren. In Bharuchas Mahabharata-Kritik sind die drei zentralen Themenkomplexe der Debatte um interkulturelles Theater enthalten: Dekontextualisierung und Universalismus, Warenförmigkeit interkulturellen Theaters und globaler Theatermarkt, Exotismus und Orientalismus. Auf diese Punkte werde ich in im Folgenden näher eingehen und durch die in letzter Zeit hinzugetretene Diskussion um kulturelle Hybridität ergänzen. Dekontextualisierung und Universalismus Nicht nur die Durchsetzung der "eigenen" Theaterästhetik und Abwertung der indigenen Formen, auch die auf den ersten Blick harmlose und gut gemeinte, auf Verständigung zielende Suche nach einer theatralen Universalsprache wie Peter Brook und Tadashi Suzuki sie betrieben haben, kann als Ausdruck von Kulturimperialismus verstanden werden. Bereits die Vorstellung von einer zu entwickelnden Universalsprache ist problematisch: So verweisen beide Regisseure auf den menschlichen Körper als gemeinsame Basis für die Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg; in der kinesischen Forschung jedoch herrscht schon lange - spätestens seit Marcel Mauss' Vortrag Les techniques corporelles von 1935- Einigkeit über die kulturelle Prägung von Bewegungen, Gesten und Körpertechniken (vgl. Mauss 1997: 75f.). Mit der Negierung der Unterschiede wird darüber hinaus eine Gleichheit postuliert, die auch aufgrund wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse nicht gegeben ist. Fischer-Lichte bringt es auf den Punkt, wenn sie die Frage aufwirft, ob der Versuch, eine theatrale Universalsprache zu entwickeln, insofern einen zeitgemäßen Kulturimperialismus darstellt, als mit dem Anspruch auf Universalität das Recht anderer Kulturen auf eigene Identität geleugnet wird, ihre Traditionen geplündert und alle Differenzen eingeschmolzen werden (vgl. Fischer-Lichte 1999: 186f.). Fischer-Lichte spricht allerdings bestimmten Formen des interkulturellen Theaters auch die Fähigkeit zu, solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Der Verzicht auf die Durchführung konventioneller Zeichenprozesse bei Robert Wilson beispielsweise führe dazu, dass der Zuschauer die Möglichkeit erhalte, eigene Zeichenprozesse zu vollziehen - unabhängig davon, welcher Kultur er angehöre. Wilsons Theater könne daher als eine Absage an einen Westen verstanden werden, der anderen Kulturen mit den eigenen Produkten die eigenen Bedeutungen aufzwingen wolle (vgl. ebd.: 111). W.B. Wortheu wirft Fischer-Lichte an dieser Stelle Ästhetizismus vor. Sie isoliere theatrale Zeichensysteme von ihren sozialen und historischen Zusammenhängen und verorte interkulturelle Performance als Moment im FOrtschrittsprozess einer utopischen Welttheaterkultur (vgl. W orthen 2003: 131 ). Kulturelle Bedeutungsträger könnten aber nicht frei von gesellschaftlichem Kontext und politischen Umständen sein, in denen das "Eigene" und das "Fremde" Privilegien und Exklusionen markierten.
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Wortheus Kritik an Fischer-Lichte wirft die Frage nach der Zulässigkeit von Dekontextualisierung im Rahmen interkulturellen Theaters auf. Diese kann grundsätzlich auf mehreren Ebenen stattfinden: Zunächst einmal dekontextualisiert interkulturelles Theater das einzelne theatrale Element: es wird aus seinem üblichen kulturellen Umfeld heraus genommen und in einen neuen Kontext eingefugt Die Frage, ob dies legitim ist, wird heftig diskutiert - Bharucha bestreitet es, andere sehen kein Problem darin. Komplex ist die Frage, wo die Grenzen liegen: Welche Zeichen dürfen fremdverwendet werden, welche nicht? Was sind die Unterschiede zwischen einer politischen, einer religiösen und einer kulturellen Dekontextualisierung? Es liegt in der Natur eines Zeichens, dass es für unterschiedliche Rezipienten unterschiedliche Bedeutung tragen kann. Und es liegt zudem, wie wir spätestens seit Derrida wissen, in der Natur eines Zeichens, fortlaufend zitiert, d.h. dekontextualisiert zu werden. Was also ist mit Zeichen, die für die eine soziale Gruppe, etwa eine Religionsgemeinschaft, eine besondere, etwa spirituelle Bedeutung haben und für andere nicht? Wie sieht es mit zusammenhängenden Zeichenketten wie Ritualen aus? Wo bestehen die Unterschiede zwischen einem Hakenkreuz, einem Gekreuzigten und einer Buddhafigur? Diese Frage hängt auch eng mit Tabus zusammen, wie sie zum Beispiel bei der islamistisch motivierten Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh im Jahr 2004 eine Rolle gespielt haben und auch in Deutschland von sozia-politischer Sprengkraft sind, wie der ,jdomeneoFall" an der Deutschen Oper Berlin 2006 gezeigt hat: Die Intendantirr hatte aus Sorge vor Anschlägen die Mozart-Oper in der Inszenierung von Hans Neuenfels vom Spielplan genommen; die abgeschlagenen Häupter von Jesus, Buddha, Mohammed und Poseidon in der letzten Szene hatten bei strengen Muslimen Empörung hervorgerufen. Eine weitere kontextuelle Ebene ist die diskursive Metaebene, die von Theoretikern und Praktikern interkulturellen Theaters der letzten Jahre verstärkt berücksichtigt wird. Gemeint ist der postkoloniale Diskurs um identitäts- und machtpolitische Fragen. Aus der Perspektive vieler Kritiker erscheint es heute als unangemessen, uninformiert oder ignorant, interkulturelles Theater zu machen, ohne diesen Zusammenhang mitzureflektieren und sich dabei etwa auf die Autonomie der Kunst zu berufen. In diesem Vorwurf steckt implizit die Annahme, die Dekontextualisierung des Kunstsystems aus unserem Sozialgefüge sei angesichts realer Ungerechtigkeiten eskapistisch oder zynisch. An dieser Stelle wird letztlich die Frage nach künstlerischer Freiheit und persönlichem Ausdruck berührt, und so geht es auch hier um den Konflikt zwischen den beiden Polen Ästhetizismus und Instrumentalisierung von Kunst. Manche Künstler bestehen auf einem Begriff von künstlerischer Praxis als kritischer Intervention, wollen den Zusammenhang von Kunst, Politik und Theorie beleuchten und vertreten eine politisch engagierte Konzeptkunst. Andererseits gibt es überall in der Welt natürlich genau so jene
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Künstler - auch im Bereich des Theaters - , die sich mit anderen ästhetischen Fragen befassen und vor allem in ihrer spezifischen Individualität wahrgenommen werden wollen. Ein grundsätzliches Problem beim interkulturellen Theater, das mit der Frage der Dekontextualisiemng eng zusammenhängt, betrifft die teilweise sehr unterschiedliche, kulturell geprägte Auffassung von der Funktion des Regisseurs. Die scheinbar harmlose Selbstverständlichkeit, mit der westliche Regisseure wie Brook oder Mnouchkine sich von fremden Theatertraditionen inspirieren ließen und daraus Elemente übernahmen, Schechners euphorisches Feiern des "Borgen, Stehleus und Tauschens" aus asiatischen Kunstformen, mag im Westen unproblematisch scheinen, da bei uns der Ausdruckswille des Künstlers sehr hoch bewertet wird und diesem alles unterworfen werden kann. Der gleiche Sachverhalt kann jedoch woanders als barbarisches Gebaren empfunden werden. Ganz abgesehen davon, dass viele außereuropäische Theaterformen religiös aufgeladen sind, ist meistens- etwa im japanischen NoTheater, dem indischen Kathakali oder der chinesischen Oper - ein strenges und sehr komplexes Regelwerk zentral, das beispielsweise auch bestimmt, wer welche Rollen übernehmen darf und wie die oft jahrzehntelange Ausbildung dafür erfolgen soll. Dieses Problem wurde und wird auch von interkulturellen Theatermachern teilweise deutlich erkannt. So schreibt etwa Eugenio Barba: "Ich habe nie direkt aus meinen Erfahrungen mit dem orientalischen Theater, besonders mit dem indischen Kathakali, geschöpft. [... ] Wie jedes andere Theater kann man auch Kathakali nicht übe1iragen oder kopieren. Der Schauspieler im orientalischen Theater steht in Verbindung mit einer Tradition, die völlig respektieli werden muß. Er fiih1i lediglich eine Rolle aus, deren winzigstes Detail in mehr oder weniger entfernter Vergangenheit von einem Meister wie in einer Partitur erarbeitet wurde." (Barba 1985: 59)
Hier wird die Frage nach dem Stellenwert des (Künstler-)Individuums im theatralen Prozess virulent. Das westliche, moderne Konzept des kreativen, autonomen Künstlers ist übrigens entgegen landläufiger Annahmen auch in Europa nicht unumstritten: Inwieweit ein Regisseur seine subjektive Herangehensweise gegen tradierte Form- und Wertvorstellungen umsetzen darf, wird beispielsweise in Debatten um das Regietheater, das sich seit den 1960ern entwickelt hat und mit einer Auflösung verbindlicher Interpretations- und Darstellungsmuster einher ging, diskutiert: Wie stark sollen dramatisches Werk und Schauspieler dem Regieinteresse untergeordnet werden? Ist nicht mehr der Dramatiker, sondern der Regisseur Schöpfer des Kunstwerks (vgl. Rühle 1982: 101)? Es wird bis heute in regelmäßigen Abständen in den Feuilletons der Vorwurf der Formzerstörung und der Untreue am Werk erhoben, wobei dies im Sprechtheater immer seltener wird. Das Problem, das Kritiker interkulturellen Theaters sehen, wenn einzelne Teile aus zum Teil hoch komplexen Theaterformen 67
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herausgebrochen und von westlichen, möglicherweise noch nicht einmal entsprechend ausgebildeten Schauspielern benutzt werden, lässt sich deshalb vielleicht besser nachvollziehen, wenn man die europäische Theaterform der Oper betrachtet, wo sich bis heute die Regisseure an tradierte Regeln halten müssen. Eingriffe in die musikalische Struktur oder der Einsatz nicht-ausgebildeter Sänger, Musiker oder Dirigenten, die die Aufführungstechnik nicht den Traditionen entsprechend beherrschen, sind nahezu tabuisierte Normen, die im professionellen Opernbereich bislang selbst Regisseure wie Christoph Schlingensief nicht brechen. 37 Die Frage nach den Grenzen künstlerischer Freiheit ist offenbar selbst eine des Kontextes, die nicht abstrakt und absolut geklärt werden kann. Das Besondere im interkulturellen Zusammenhang ist allerdings, dass für den einen der Tabubruch aufgrund von Unkenntnis vielleicht gar nicht ersichtlich ist, während der andere ihn als himmelschreiend empfindet. Tabus gibt es dabei auch im "aufgeklärten" Westen: In Deutschland etwa sind viele Zeichen und Texte, die mit dem Holocaust in Verbindung stehen, entsprechend belegt. Bei kalkulierten wie unwillentlichen Tabubrüchen auf dem interkulturellen Theater kann sich, wie immer im Kulturaustausch, aufgrund der politischen Dimension und des häufig repräsentativen Charakters selbst kleiner Akte und Zeichen, eine explosive Eigendynamik entwickeln. Festzuhalten ist, dass Dekontextualisierung einerseits dem Interkulturellen inhärent ist und die Behauptung, über bestimmte Zeichen könnten nur bestimmte Gruppen verfügen, kaum einleuchtet. Es scheint kein allgemein gültiges Kriterium für die Angemessenheit von Oe- und Neukontextualisierungen zu geben; nur der Einzelfall kann bewertet werden. Zudem ist wichtig, dass es nicht nur Regisseure aus westlichen Ländern sind, die interkulturelles Theater machen und fordern. Neben vielen anderen verteidigt etwa ein Meister der chinesischen Oper, Ding Yangzhong, vehement das Arbeiten mit fremden Elementen, damit das eigene Theater lebendig bleibt. Dabei weist er aber darauf hin, dass dies systematisch und reflektiert getan werden muss, um nicht genau das Gegenteil 37 Als Schlingensief - im Bereich des Sprechtheaters und der Performance fiir seine unkonventionelle Herangehensweise bekannt - zum ersten Mal eine Oper inszenierte (2004 in Bayreuth, Richard Wagners Parsifal) zeigte sich die Kritik vor allem davon angenehm überrascht, dass er - wenn auch in einem weit gefassten Sinn - werktJ·eu inszeniert hatte: ••Indem er der BayreuthVerlockung nachgegeben hat, musste Schlingensief nolens volens die Bedingungen der Gattung Oper (und des gusseisernen Apparats, mit dem sie produziert wird) akzeptieren: dass Text und Zeitstruktur durch die Partitur minutiös festgelegt sind, dass Sänger immer in erster Linie Sänger bleiben, dass die theatralische Guckkastensituation im Festspielhaus seit Wagners Zeiten sakrosankt ist." (Spahn, Claus: Das Bayreuther Hühnermassaker. Christoph Schlingensief inszeniert Richard Wagners "Parsifal" als dunkles Ritual im Großstadtmüll. In: DIE ZEIT 29.7.2004)
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zu erreichen (vgl. Ding 1990:175). Ähnlich sieht es der chinesische Regisseur Hu Weimin, der in den 1980ern für seine ShakespeareInszenierungen berühmt wurde: "When the Chinese traditional theater warmly embraces Shakespeare, it uses its unique artistic vocabulary to express Shakespeare. This means that we do not carelessly lose ourselves when accepting the other [ ... ] The strong consciousness of native culture and that ofthe Western culture mutually absorb, penetrate, and fuse, merging into a new cultural stream. This tendency shows that, while we are agairrst Sinocentric narrow-mindedness, we are also agairrst worship of the West and wholesale Westemization." (Hu 1999: 186)
Globaler Theatermarkt und interkulturelles Theater als Ware Ein zentraler Unterschied zwischen Künstlern aus dem Westen bzw. Norden und aus der sogenannten Dritten Welt liegt in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen. Mit Bharucha ausgedrückt: "The implications ofinterculturalism are very different for people in impove1ished, ,developing' countries like India, and for their counterpmis in technologically advanced, capitalist societies like America, where interculturalism has been more strongly promoted both as a philosophy and a business." (Bharucha 1993: 1)
Bharucha macht deutlich, dass Kulturaustausch weder gleichberechtigt noch grenzenlos ist und weist auf ein Problem hin, das für das interkulturelle Theater von größter Bedeutung ist: Interkultureller Austausch ist aufwändig, teuer und in hohem Maße vom internationalen Theatermarkt abhängig. Sowohl dem Publikum als auch den Theatermachern em1öglicht es dieser Markt, andere Theaterkulturen, -ästhetiken und -techniken kennen zu lernen, sei es durch Gastspiele, internationale Festivals oder Workshops. Bestimmt wird der globale Theatermarkt nach wie vor in erster Linie von westlichen Personen und Institutionen. So sind bereits die erforderlichen Reisen für viele Künstler aus ärmeren Regionen der Welt nicht zu finanzieren, häufig kommen Schwierigkeiten durch restriktive Ein- und Ausreisebestimmungen hinzu. Daher ist auch der Austausch von "Dritte-Welt"-Ländern bzw. den Ländern der südlichen Hemisphäre untereinander relativ selten; wenn er stattfindet, dann oft durch den Westen bzw. Norden vermittelt und finanziert. Die Künstler sind auf finanzstarke Geldgeber angewiesen und entsprechend abhängig. Bharucha konfrontierte in einem offenen Brief Jerzy Grotowski mit dieser Einsicht, nachdem dieser drei bengalische Schauspieler eingeladen hatte, mit ihm in Polen zu arbeiten: "Are you aware that this selection of actors for your para-theatrical work endowed you with considerable power? I wonder ifyou could have imagined the excitement generated in Khardah when you made your final selection. Generously you provided the actors full board and Iodging expenses and even paid for their air tickets
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts from Bombay to Poland [... ] Dear Grotowski, our economic disparilies are ridiculous at times, aren ' t they? And yet, they exist in our world, conditioning the control and sponsorship of intercultural work. It's obvious that the Indian actors were not in a position to negotiate terms with you, since you had provided for the entire trip." (ebd.: 50)
Selbst in von allen Beteiligten als einigermaßen gleichberechtigt empfundenen interkulturellen Theaterprojekten bleiben Gefuhle von Ungleichheit, wie an folgender Äußerung von Djedje Djedje Gervais deutlich wird. Er kommt von der Elfenbeinküste und arbeitet seit einiger Zeit mit dem us-amerikanischen Choreographen und Regisseur Ralph Lemon zusammen, u.a. in dem Projekt Searchingfor Horne: "One day T would like to have funding so that my big brother Ralph can be my dancer and T would be his choreographer. That would shed another light, another colour into this collaboration; another vision would come out of it [...] Twould like to create a show with non-African people, non-African artists. T would like to choreograph for them, see how it works. I don't always want to be under the thumb or under the aegis ofsomeone, and this is one ofmy dreams." (www.artsinternational. org/knowledge_ base/wp3/working_papers_ 3_ method3. htm [5.11.2007])
Auch das Beherrschen der englischen Sprache und der Zugang zum Internet scheinen Voraussetzungen dafür zu sein, unabhängig in internationalen oder -kulturellen Projekten mitzuwirken oder diese gar zu leiten. Dies wurde bei einer Konferenz in den USA deutlich, bei der die chinesische Choreographin Wen Hui, ebenfalls eine von Ralph Lemons Partnerinnen, erklärte, dass sie, wenn sie in ihre Heimat zurückkehre, den Außenkontakt verlöre: "I think when Ireturn harne tomorrow, I feel that I will have nothing to do with international collaboration because right now we have the interne! and I also have e-mail, but the difficult part is I don't understand English. It's very hard. Ifi were to go to the web to Iook up information, it would take me a whole day to find a single bit of information. So, T fear that once T leave here, the journey of international collaboration will end." (ebd.)
Verorten lässt sich der Markt fur interkulturelles Theater vor allem auf internationalen Theaterfestivals, die sich seit den 1950ern als stabiles Phänomen etabliert haben. 38 Sicherlich spielen dabei wirtschaftliche As38
Berühmt sind die traditionsreichen europäischen Festivals wie seit 1947 das Edinburgh International Festival mit dem Fringe Festival, die jährlich mehr als 300 000 Zuschauer anziehen oder Avignon, das mit über 40 gezeigten Produktionen pro Sommer ebenfalls zu den Großen zählt. Hinzu kommen kleinere Festivals in Europa, zu deren profiliertestendas KunstenFestivaldesArts in Brüssel (gegründet 1995) und das Tampere Theatre Festival zählen (vgl. Sauter 2005). Eine Reihe von Festivals hat sich für Theater aus Asien,
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pekte eine Rolle: Werbung und PR lassen sich für solche Festivals bündeln und effizienter organisieren als für einzelne Produktionen. Ein weiterer Vorteil sind die relativ großen Zuschauerzahlen, die die Finanzierung auch teurerer Projekte erleichtern. Die meisten Festivals sind allerdings mischfinanziert und abhängig von der öffentlichen Hand, da selbst ausverkaufte Zuschauersäle die Kosten nicht annähernd decken können? 9 Gemeinsam ist allen internationalen Theaterfestivals, dass sie Inszenierungen aus verschiedenen Ländern an einem Ort zeigen und einem lokalen oder eigens angereisten internationalen Publikum das Theater anderer kultureller Provenienz präsentieren. Häufig werden Aufführungen gezeigt, die auch interkulturell erarbeitet wurden. Einige Festivals haben allerdings auch eine regionale Einschränkung, wie etwa das Marche des arts du spectacle africains" (MASA), das wohl eines der wichtigsten internationalen Theaterfestivals Afrikas ist. Es findet in Abidjan (Elfenbeinküste) statt und zeigt nur afrikanische Theaterprojekte; schließlich wurde es 1993 von der Agence Intergouvernementale de Ia Francaphonie mit dem Ziel gegründet, die darstellenden Künste in Afrika zu fördern.40 In diesem Fall ist es also kulturpolitisches Programm, sich zum Zwecke der Exportförderung auf Produktionen aus einer bestimmten Region zu beschränken.
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(vgl. Sauter 2005). Eine Reihe von Festivals hat sich für Theater aus Asien, Afrika und Lateinamerika geöffnet: Tm deutschsprachigen Raum gilt dies v.a. für die Wiener Festwochen, die Festwochen der Berliner Festspiele, das Festival Theater der Welt, das alle vier Jahre in einer anderen Stadt vom Internationalen Theaterinstitut (TTT) organisiert wird, und etwas kleinere Festivals wie Theatelformen in Hannover, Laokoon auf Kampnagel im Harnburg und IN TRANSIT am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Viele dieser Veranstaltungen haben ihr Vorbild in dem Festival Theatre ofthe Nations, das vom ITI seit 1957 in unregelmäßigen Abständen in verschiedenen Städten ausgerichtet wird - u.a. in CaracasNenezuela (1978), Santiago di Chile/Chile (1993) und in Seoul - Kyonggi/Korea (1997). Längst gibt es nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt große internationale Theaterfestivals, die sich jedoch in ihrer Ausrichtung und ihren Ansprüchen stark voneinander unterscheiden. Das Festival IN TRANSIT ist ein typisches Beispiel: Es hatte von 2003 bis 2005 ein Jahresbudget zwischen 720.000 und 870.000 Euro, wobei 85-95 Prozent aus der institutionellen Fördemng des Hauses der Kulturen der Welt kamen und damit aus dem Topf der BKM (Beauftragten der Bundesregiemng für Kultur und Medien). Die Einnahmen aus Sponsoring lagen zwischen 1,5 und 3 Prozent, die aus sonstigen Drittmitteln (z.B. EU-Gelder) bis zu 5 Prozent und die aus Erlösen durch Eintrittskarten zwischen 5 und 8 Prozent. Es wird zu 80 Prozent von dem Staat Elfenbeinküste und der Agence Intergouvernementale de Ia Francophonie finanziert, die restlichen Gelder kommen von internationalen Organisationen wie beispielsweise der UNESCO (vgl. http://masa.francophonie.org/ english/index.htm; [5.11 .2005]) 71
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zusammen, dass die Marktförmigkeit der Veranstaltungen durch eine Festivalisierung und die Modalitäten der Förderung zumindest teilweise verdeckt wird. Dabei waren bereits die Vorläufer der heutigen internationalen Festivals mit kommerziellen Interessen verknüpft: Sowohl die tourenden Theatertruppen, die seit Jahrhunderten durch Buropa reisten und so kulturellen Austausch beförderten (z.B. die italienischen Commedia dell' Arte-Truppen), als auch die Welt- und Völkerausstellungen des 19. Jahrhunderts, bei denen Menschen aus fernen Teilen der Erde in ihrem alltäglichen Leben oder bei Ritualen gezeigt wurden. Es ging bei letzteren nicht nur darum, Kolonialpolitik zu propagieren. Die Veranstaltungen waren vielmehr auch, wie Walter Benjamin pointiert formuliert "[ ... ] Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware [ ... ]. Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem der Gebrauchswert zmücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen." (Benjamin 1983, Bd. l: 50)
Auch deshalb spielen heute kultureHe Großveranstaltungen wie Festivals für Stadtmarketing und Tourismus eine bedeutende Rolle. Die ökonomische Funktion wird von der ästhetischen zwar oft verschleiert, Insidern ist die Marktförmigkeit der Veranstaltung aber durchaus bewusst: "(... ] the international theatre or performance festivals are just as much trade fairs as cultural events. Mostproducers of projects which deserve the Iabel of transcultural performance regard these festivals as their market of choice, if they haven't tried also to succeed in their native ente1tainment industry [... ]. There is certainly nothing wrong with such acceptance ofthe market [... ]. The marketplace, however, depends on the laws of supply and demand. Jt will judge each product, first of all, by its sales sheets." (Weber 1991: 29)
Auch wenn die meisten interkulturellen Theaterprojekte Non-ProfitUnternehmen sind, sind sie demnach keineswegs völlig unabhängig. Die Marktmechanismen sind zwar weniger augenfällig als etwa bei einer kommerzieH arbeitenden Musical-Bühne, die, um Gewinn zu erwirtschaften, ihr Produkt dem Geschmack und den Erwartungen eines möglichst großen Publikums anpassen muss. Dennoch gibt es Adressaten, an denen man sich orientiert: Zum einen die Zuschauer, die sich aus verschiedenen lokalen Publika zusammensetzen, Ong Keng Sens interkulturelle Produktion Lear zum Beispiel tourte 1999 in Japan, Deutschland und Singapur. Eine wichtige Zielgruppe sind ferner die internationalen Kuratoren, die zu den Festivals einladen. Zu berücksichtigen sind auch die Interessen der Geldgeber, sowohl öffentlicher wie privater. In Deutschland werden viele Projekte mit EU-Geldern, kommunalen Geldern, aus Landeskassen, der Kulturstiftung des Bundes und einer Reihe privater Stiftungen unterstützt. Bei den meisten dieser Fördertöpfe ist die Chance hoch, Gelder zu erlangen, wenn die Vorhaben eine interkulturelle 72
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bzw. internationale Dimension haben. 41 Und so zeigt auch das Durchblättern der Programmhefte internationaler Theaterfestivals, dass mindestens jede zweite Produktion durch öffentlich finanzierte Organisationen wie staatliche Kulturstiftungen, Kulturministerien, Botschaften und Kulturmittler wie etwa Goethe-Institute gefördert wird. Verbreitet sind auch Koproduktionsmodelle, da Mehrfachverwertung ein Einsparpotential bietet und viele freie Theatergruppen, bei denen sich die deutliche Mehrzahl interkultureller Projekte verorten lässt, können nur überleben, weil Festivals ihre Produktionen finanzieren. Ein typisches Beispiel ist das Teatro de Ciertos Habitantes von Claudio Valdes Kuri in Mexiko-Stadt. Das Ensemble ist allein im Sommer 2005 nach Wien, Berlin, Brüssel, Edinburgh, Cadiz, Japan und in die USA gereist. Kurierklärt die geradezu hektisch anmutende Reisetätigkeit "Wir müssen leben, und um zu leben, muss man reisen. [... ]Es ist unmöglich, hier vom Theater zu leben." (Valdes Kuli zitiert nach: Kümmel, Peter: In hundert Rollen um die Welt. Der mexikanische Theaterregisseur Claudio Valdes Kuri erobert die internationalen Festival. In: DIE ZEIT 4.5.2005)42
Die Programmgestaltung erfolgt bei internationalen Theaterfestivals in der Regel in Form eines Mischkalküls, um ein ausgewogenes Angebot zu entwickeln zwischen dem, was spektakulär und für ein breiteres Publikum attraktiv ist, und dem, was man unabhängig davon aus rein ästhetischen oder kulturpolitischen Erwägungen präsentieren möchte. 43 Ich möchte keinesfalls einer undifferenzierten Kulturindustriethese das Wort reden, wonach sich kommerzieller Erfolg und künstlerischer Anspruch bzw. ästhetischer Wert grundsätzlich ausschließen. Die Orientierung an den Aufführungs- und Verkaufsbedingungen gehören von jeher zu den überlebenswichtigen Strategien von Theaterproduzenten und die Betonung des Ästhetischen gegenüber der Marktorientierung ist his41
So gelten fur den 1999 vom Bund und dem Land Berlin eingerichteten Hauptstadtkulturfonds u.a. Projekte als förderwürdig, die "nationale und internationale Ausstrahlung" haben und dem internationalen kulturellen Dialog dienen. Antragsberechtigt sind Personen aus dem In- und Ausland, wobei internationale Kooperationspartnerschaften dezidiert erwünscht sind (vgl. www.berlin. de!hauptstadtkulturfonds/ typo/index.php [5.11.2005]). Die Kulturstiftung des Bundes hat als Schwerpunkt die "Förderung innovativer Programme und Projekte im internationalen Kontext" (www.bundeskulturstiftung.de [11.4.2007]). 42 Sein 2005 herausgebrachtes Stück ,;D6nde estare esta noche? hat sieben Produzenten, drei davon in Europa, unter anderen die Wiener Festwochen und das Berliner Haus der Kulturen der Welt. 43 Daneben spielen natürlich noch andere Faktoren eine Rolle, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann: Darunter auch Zufalle - eine Gruppe, die man gern hätte, ist gerade anderswo unterwegs - aber auch soziale und professionelle Netzwerke, Seilschaften, Verabredungen, die weniger programmatische als vielmehr karrieristische oder politische Interessen verfolgen.
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torisch vergleichsweise jung (vgl. Leschke 2000: 234). Wenn ich dennoch diesen Hintergrund relativ ausführlich beleuchte, so vor allem weil der Warencharakter im Falle interkulturellen Theaters insofern eine besondere Brisanz hat, als interkultureller Austausch häufig unter sehr ungleichen Bedingungen und in einem komplexen politischen Kontext stattfindet, in dem die Repräsentation des Anderen eine zentrale Rolle spielt: Auslassungen, Hervorhebungen, Stereotypisierungen, De- und Rekontextualisierungen, Exotisierungen, Ethnisierungen und Differenzierungen sind Repräsentationsweisen, die die Wahrnehmung der Anderen prägen und auf das Engste mit gesellschaftlichen Dominanzstrukturen zusammenhängen, die handfeste materielle Konsequenzen haben. Das Problem internationaler Theaterfestivals, aber auch vieler anderer Kultureinrichtungen - dass sich das Publikum bei allzu sperrigem, "fremdem" Programm entzieht und seine "Erziehbarkeit" begrenzt ist bekommt hier eine heikle Dimension: Wird nur präsentiert, was goutierbar ist, ist das nicht nur für avantgardistische Künstler eine bedrohliche Einschränkung; es können auch stark verzerrte Bilder anderer Kulturen entstehen. So kann das interkulturelle Theater zu einer Institution werden, die eine hochproblematische Identitätspolitik w1d Dominanzstruktur befördert und konsolidiert. Nicht selten wird nämlich von den kulturell Andersartigen verlangt, dass sie sich bunt verkleiden und maskieren, fremde Genüsse bieten, Folklore präsentieren, also die Phantasien des multikulturalistisch gestimmten Mainstream bedienen. Und so beklagen viele nicht-westliche Künstler, Theatermacher und Performer, dass sie, um Zugang zum globalen Markt zu bekommen, exotistische Erwartungen erfüllen müssen. Ihre kulturelle Andersartigkeit werde zwar gewollt, sie selbst aber gleichzeitig zum Objekt gemacht, stellt die Künstlerin Coco Fusco fest: "Es ist ein bequemes Märchen, dass die Ankunft des Nicht-Westlichen auf der Weltbühne immer neu, bemerkenswe11 und andersm1ig sei. Neu für wen, möchte ich fragen? Bemerkenswe11 in welchem Kontext? Anders als was und wessen Erwartungen? Als kreatives Individuum könnte ich diese Vorgeschichte ignorieren und einfach eine ethnografische Erklärung meiner Erfahrungen als mutmaßliche Fremde auf der Weltbühne, die dank der Globalisierung ,entdeckt' wurde, abliefern. Frisch von den Rändern der Postmoderne, bereit, die Bedürfnisse globaler Konsumenten zu befriedigen, würde ich meine exquisite Besonderheit ausstellen. Gleichzeitig müsste ich das Publikum- durch körperliche Nähe im Theater räumliche Metapher für Intimität - von unserer grundsätzlichen Ähnlichkeit überzeugen; eine kunstvolle Darbietung von Aufrichtigkeit und Liebe zur Stilisierung." (Fusco in: Haus der Kulturen der Weit [Hrsg.] 2004: 94)
Die akzeptierte Andersartigkeit nimmt unterschiedliche Formen an, mal ist sie das "Archaische" des afrikanischen Tanzes, mal die hochartifizielle Ästhetik des japanischen No-Theaters. Auch Widerständigkeil kann
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ein Attraktivitätsfaktor sein, wie Johannes Odenthai vom Haus der Kulturen der Welt am Beispiel China verdeutlicht: "Die Rezeption zeitgenössischer chinesischer Kunst in Buropa wird geprägt durch einen Exotismus im Sinne der Peking-Oper oder durch die Dissidenten. Kunstproduktion im Westen erhält eine Attraktivität durch den politischen Widerstand der Künstler. Öffuen sich die Diktaturen, so verschwindet auch allzu oft das Interesse an den ehemaligen Widerstands-Künstlern [... ] Die Gefahr des internationalen Kunstmarktes, vertreten durch die Biennalen und Festivals, ist eine fortgesetzte Politisierung oder Exotisierung von Kunst, um die Aufmerksamkeit für künstlerische Versuche marktgerecht zu erzeugen." (Odenthal2004: 11)
Und daher sind selbst Institutionen, die im Westen eine Plattform für zeitgenössische und kritische Kunst aus der sogenannten "Dritten Welt" bieten wollen, ob internationale Theaterfestivals oder etwa das Berliner Haus der Kulturen der Welt, nicht unproblematisch. 44 Man könnte zynisch argumentieren, dass sich die Öffentlichkeit mit ihnen kulturpolitische Feigenblätter zulege, um ihr schlechtes Wissen zu beruhigen und die tatsächlichen Machtstrukturen zu verdecken. Relevanz, sowohl künstlerisch als auch politisch, hätten diese Nischen, in denen die Marginalisierten, die Opfer von (Neo-)Kolonialismus und Globalisierung ihre Kulturen pflegen können, höchstens aus Sicht von Esoterikern oder "Gutmenschen". In dieser Polemik steckt ein Körnchen Wahrheit. Es sind tatsächlich häufig abgezirkelte Orte, in denen außereuropäische Künstler und Migrantinnen Kunst zeigen und produzieren, was dazu führt, dass die Problematik von Opfer-, und Minderheitenstatus, Schutzbedürftigkeit, Autonomie und Eigenwert zu einem Thema wird, die auch jede Diskussion um andere Quoten, etwa für Frauen oder Behinderte begleitet. Die Attraktivität der Darbietung wird durch eine solche Rahmung nicht eben gesteigert und tut den Betroffenen nicht unbedingt einen Gefallen: W eieher Künstler will schon primär als Künstler "aus der Dritten Welt" rezipiett werden? Wie "fremde" Kulturen wahrgenommen werden, wird - auch wenn die Institutionen des Kulturaustauschs etwas anderes suggerieren -, vom westlichen Kunstmarkt, der Mehrheitsgesellschaft bzw. von den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft gesetzt. Sie bestimmen die Art und Weise und das Motiv der Sichtbarmachung von 44 Die Aufgabe des vorwiegend aus Bundesmitteln finanzietien Hauses liegt darin, "außereuropäische Kulturen in der bildenden Kunst, Tanz, Theater, Musik, Literatur, Film und Medien zu zeigen und sie in einen öffentlichen Diskurs mit europäischen Kulturen zu stellen. Der Schwerpunkt der Programmarbeit des Hauses der Kulturen der Welt liegt dabei auf den zeitgenössischen Künsten und den aktuellen Entwicklungen in den Kulturen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sowie auf den künstlerischen und kulturellen Folgen der Globalisierung. Dabei stehen Projekte im Vordergrund, in denen Möglichkeiten interkultureller Zusammenarbeit und ihre Präsentation erkundet werden." (www.hkw. de [20.10.2006])
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Kunst und Künstlern, sie definieren den Raum, in dem sich "fremde Kulturen" positionieren dürfen und sollen. Selbst anspruchsvolle, theoretisch fundierte, qualitativ höchstwertige und subversive Kunst kann sich nicht in jedem Kontext entfalten. 45 Aus dieser Perspektive ist die ungleiche Verteilung der institutionalisierten Entscheidungsmacht - auch über die Produktionsmittel und das Marketing- ein erhebliches Problem, weil sie dazu fuhren kann, dass Mechanismen gefördert werden, die Klischees und Exotismen eher verstärken als überwinden und eine Annäherung auf Augenhöhe erschweren. Zumal es, wenn eine Inszenierung nicht den Vorstellungen des Zuschauers entspricht, sehr schnell zu Ausgrenzungsund Abwertungsmechanismen kommen kann, indem das "SchönExotische" plötzlich zum "Gefährlich-Fremden" oder "Naiv-Primitiven" umgedeutet wird. Modernität als Privileg "westlicher" Künstler Bemerkenswert ist, dass - wie der historische Überblick gezeigt hat - in Buropa oder den USA produziertes interkulturelles Theater häufig daraus besteht, modernes westliches Theater mit älteren, "indigenen" Traditionen aus Afrika, Amerika oder Asien zu kombinieren. Es handelt sich bei letzteren meist um Formen mit stark performativem Charakter, die sich durch sinnliche Qualitäten, die Präsenz des Körpers, eine spezifische Materialität auszeichnen. Kunst- und Theaterformen, bei denen die Textualität im Vordergrund steht, sowie zeitgenössische außereuropäische Entwicklungen, sind weniger von Interesse. Bharucha erklärt flir Indien: "Wbat has happened to the Indian theatre since independence [...] seems to be of no interest to interculturalists. Nor are they concerned with the assimilation of colonial models like the proscenium theatre, which have been totally transformed in the company-theatre tradition that tlomished in all parts of India, primarily in the early decades of this century. Our history is apparently of no concern to EuroAmeJican interculturalists." (Bharucha 1993: 4)
45 Ausklammem möchte ich den Sachverhalt, dass es in der Tat viele Theaterauffühn.mgen gibt, ob programmatisch interkulturell oder schlicht aus der ,,D1itten Welt" importiert, die ästhetisch nicht ganz auf der Höhe der Zeit erscheinen. Aus dieser Beobachtung abzuleiten, ganze Gesellschaften brächten nichts hervor, was unseren - meist unreflektierten - Qualitätsansprüchen an "Kunst" entspricht, ist unzulässig: Auch auf die Mehrzahl der westlichen Theatermacher (und sonstigen Künstler) trifft zu, dass sie nicht pe1manent Exzellenz produzieren und auch bei uns sind die herausragenden Namen besondere Ausnahmen. Künstler sind heute hier wie dort eigenständige Künstlerindividuen, die Bezug nehmen können auf soziale, historische, aktuell politische Zusammenhänge, gleichgültig, ob sie politisch engagierte Kunst machen, sich primär für rein innerästhetische oder formale Fragen interessieren, oder sich ganz anderen Themen widmen.
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Geeta Kapur beschreibt eine Parallele auf dem globalen Markt für bildende Kunst. Der dort vorherrschende Begriff von zeitgenössischer bzw. moderner Kunst wird ihrer Meinung nach von westlichen Protagonisten definiert. Nicht-westliche Künstler würden dagegen ftir das Archaische und ausgefeilte handwerkliche Techniken geschätzt und häufig erhielten sie nur mithilfe der Maskerade des Primitiven Zugang zum globalen Markt: "Ritual is one such theatric mode: it allows and encodes the rite of passage or a transgressional entry. As entry into the citadels of white cultures is so difficult such simulations will thrive in the forthcoming art of the third world - sometimes in a complex allegorical unfolding of identities, sometimes as tactics. Simulation is ve1y likely to become a simulacmm, a copy ofthat which is nonexistent - what orientalism, for example, or primitivism are about: copies or models ofthat which does not exist." (Kapur, G. 2000: 328)
Nun könnte man mit Blick auf die Geschichte des interkulturellen Theaters argumentieren, dass dies kein böser Wille sei, sondern schlicht damit zusammenhänge, dass man sich in der anderen Kultur immer das suche, was man selbst nicht habe: Im Westen, des modernen, zivilisierten Alltags müde, verlange man nach dem Körperlichen, nach dem Perforrnativen, und im Rest der Welt nach dem "aufgeklärten" Sprechtheater. Dies ist nicht ganz falsch, entschärft aber das Problern nicht. Auch wenn die Motive zunächst harmlos sind, hat die vereinheitlichende und reduktionistische Repräsentation des jeweils Anderen eine problematische politische Dimension. 46 Vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte erscheint eine solche Form der Naivität als Ignoranz. So wird das vermeintlich Traditionelle als Gegensatz zum Modernen konstruiert und fungiert als Ausschlusskriterium ftir Künstler aus der "Dritten Welt" zum Kunstmarkt - ihnen bleibt nur der Zugang zum Markt des Kunsthandwerks, der Folklore und des Tourismus. Grundsätzlich gilt, dass die Menschen im Süden tmd Osten der westlichen Machtzentren durch Kolonisation, Migration, die globale Medienlandschaft und die internationalisierte Wirtschaft schon lange intensiv in Kontakt mit der westlich geprägten Moderne gekommen sind und sich davon ihr Bild machen konnten. Modernisierungsprozesse in den Ländern selbst sind nicht als Verwestlichung zu verstehen, sondern eher als eigene Versionen der Moderne. 47 Geeta Kapur macht deutlich, dass Mo46 Üb1igens gilt dies in beide Richtungen. Auch wenn ich an dieser Stelle, insbesondere da ich ja eine postkoloniale Perspektive einnehme, den eurozentristischen Blick kritisiere, halte ich essentialisierende und homogenisierende Vorstellungen von Buropa oder "dem Westen", wie er etwa im islamistischen Fundamentalismus zum Ausdruck kommt, für ebenso fatal. 47 Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass auch die sogenannte westliche Modeme alles andere als einheitlich und homogen ist.
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dernisierung ein gesellschaftlicher und ökonomischer Prozess ist, dem auch die sogenannten Entwicklungsländer unterworfen sind, von dem sie aber andererseits durch die "claims of modernism" wieder ausgeschlossen werden (Kapur, G. 2000: 276): Durch eine eurozentristische Vorstellung von linearer Entwicklung und Progressivität erscheinen die nichtwestlichen Länder und ihre Künstler, als hinkten sie permanent hinterher. Der mit diesem Modell verbundenen Vorstellung von Zentrum und Peripherie und der Annahme einer übergreifenden Gültigkeit der westlichen ästhetischen Konzepte setzt Geeta Kapur "multiple modernisms" bzw. "uneven third world modernisms" entgegen (vgl. ebd.). Modernität ist demnach überall, wenngleich in ihren Formen und Ausprägungen unterschiedlich, was der in Mexiko lebende argentinische Kulturtheoretiker Nestor Garcia Canclini älmlich flir Lateinamerika feststellt. Canclini entwickelt einen Begriff von Modernisierung, der diese nicht als von außen kommende Kraft konzipiert sondern als eine in der jeweiligen Gesellschaft verankerte Folge von Erneuerungsversuchen (vgl. Canclini 1995: 41ff.). Die Dichotomie zwischen Tradition und Moderne, auf der viele Mechanismen des globalen Theatermarkts und bestimmte Formen interkulturellen Theaters basieren, ist aus dieser Sicht konstruiert und exotistisch und so gilt es, wie der Anthropologe Arjun Appadurai es fordert, die kulturellen Formen der modernen Welt wahrzunehmen, ohne dabei dem Westen eine "logische oder chronologische Priorität einzuräumen." (Appadurai 1998: 13) Der Westen auf der Suche nach Authentizität: Exotismus und Orientalismus Es geht jedoch nicht bloß um den Ausschluss von nicht-westlichen Künstlern vom globalen Kunst- und Theatermarkt Die postkoloniale Forschung hat vielfach plausibel dargelegt, dass die Erschaffung des kulturell Fremden ein konstituierendes Merkmal der Identitätsproduktion des Westens ist. Die Konstruktion des Anderen als das Exotische, d.h. als das ursprüngliche, abenteuerliche, verführerische Fremde kann zudem als nach außen verlagerte Begehrensstruktur des aufgeklärten westlichen Menschen verstanden werden. Mithilfe der Diskurskritik lässt sich zeigen, dass insbesondere Kategorien wie Geschlecht, Rasse oder Ethnie dem Anderen fixe Identitäten zuschreiben, Unterschiede und soziale Ungleichheiten naturalisieren und essentialisieren. Ziel der postkolonialen Kritik ist es daher, den Akt der Zuschreibung zu identifizieren, jeweils den Konstruktionscharakter herauszustellen - kurz, zu zeigen, dass die Identität des Anderen nicht gegeben, sondern gemacht ist, um auf diese Weise Macht über ihn zu erlangen. Edward Saids folgenreiche Schrift Orientalism (1978) stellt nach wie vor einen fruchtbaren Ansatz dar, Exotismus zu konkretisieren und zu analysieren (vgl. Said 1978). Saids zentrale These besagt, der Orient sei lediglich eine Erfindung der Europäer und der Grientalismus keine
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Wahrheit über eine gegebene Region und Kultur, sondern ein Diskurs. Es handele sich um ein System des Wissens und der Repräsentation, das nicht nur die westliche Identität definiere, sondern auch ein asymmetrisches Machtverhältnis schaffe. Dabei müsse es einerseits das Spektakuläre des Fremden nutzen, es gleichzeitig aber unter Kontrolle halten. Auch der Westen ist aus dieser Sicht ein Konstrukt, das einem undefinierten "Rest der Welt" gegenübersteht und zwar mit einer potenziell hegemonialen Haltung. Es ist Teil des modernen Selbstverständnisses, das sich durch die Gegenüberstellung zum vermeintlich Primitiven generiert. Michel-Rolph Troulliot datiert die Entstehung des "Westens" entsprechend aufBeginn des 16. Jahrhunderts: "Die endgültige Ve1ireibung der Muslime aus Europa, die so genannten Entdeckungsreisen, das erste Auftreten eines merkantilen Kolonialismus und das Heranreifen absolutistischer Staaten bildeten den Hintergrund, vor dem die Herrscher und Händler der westlichen Christenheit zur Eroberung von Buropa und der restlichen Welt ansetzten[ ... ] Die Erfindung von Nord- und Südamerika [... ]und gleichzeitig die Erfindung Europas, die Zweiteilung des Mittelmeerraums durch eine imaginäre Linie, die südlich von Cadiz begann und nördlich von Konstantinopel endete, die Ve1westlichung des Christentums und die Erfindung einer griechischrömischen Vergangenheit fiir Westeuropa waren sämtlich Aspekte jenes Prozesses, durch den Buropa mit dem Westen identifiziert wurde." (Trouillot 2004: 183)
Vor diesem Hintergrund wird auch der Begriff "westliches Theater" problematisch, der sich durch die Diskussion um interkulturelles Theater wie ein roter Faden zieht. James Clifford macht deutlich, dass der englische Begriff "Western" oder "westeru culture" heute nichts regional oder geografisch Fixierbares mehr konnotiert, sondern vielmehr eine bestimmte Machtstruktur bezeichnet: "When we speak today of the West, we are usually referring to a force- technological, economic, political - no Ionger radiating in any simple way from discrete geographical or cultural center. This force, if it may be spoken of in the singular, is disseminated in a diversity of forms from multiple centers - now including Japan, Australia, the Soviet Union, and China - and is articulated in a variety of ,microsociologial' contexts." (Clifford 1996: 272)
So einleuchtend Cliffords Definition ist, wirft sie doch in Hinblick auf das Theater Probleme auf. Es geht hier eben doch nicht nur um Machtstrukturen, was etwa daran zu sehen ist, dass landläufig zum "westlichen" Theater zwar auch das osteuropäische oder russische Theater gezählt wird, aber nicht das Theater aus Tokio. Problematisch ist zudem, dass trotz der begrifflichen Schwierigkeiten im Diskurs um interkulturelles Theater nahezu alle einschlägigen Theoretiker mit der "West-Rest"Dichotomie arbeiten. Besonders heikel ist es, jemanden als "westlichen" oder "nicht-westlichen" Theaterkünstler zu bezeichnen. Definiert man dies nach dem Geburtsland, dem Wohnort, der Herkunft der Eltern, der 79
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Hautfarbe oder der jeweiligen Theaterästhetik? Hier wird die Frage nach der kulturellen Identität des jeweiligen Menschen angerissen - eine, wie bereits diskutiert, sehr problematische Frage - nicht zuletzt, weil durch überregionale und globale Strukturen und Prozesse wie Migration, ethnisch-religiöse Netzwerke oder globale Popular- und Hochkulturen diese Form der Identitätspolitik überholt ist. Dennoch komme auch ich kaum darum hemm, den Begriff "westliches Theater" zu benutzen- obwohl er Vereinfachungen impliziert, die offensichtlich unzutreffend sind. So spiegeln sich, jenseits der bereits genannten problematischen Implikationen, noch nicht einmal die europäischen Theaterformen darin, die außerhalb der realistischen Schauspielkonventionen des 19. und 20. Jahrhunderts anzusiedeln sind: die körperbetonten Volkstheatertraditionen, die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts, der Tanz, die Oper. Klarzustellen ist, dass die Benutzung des Begriffs "westlich" in diesem Buch aus pragmatischen Gründen geschieht, nicht aus der Überzeugung heraus, die West-Rest-Dichotomie sei in jeder Hinsicht zutreffend oder angemessen. Da der Gegensatz nur ein operativer ist, muss im Einzelfall eine weitere Präzisiemng des heuristischen Begriffs "westliches Theaters" erfolgen. Geschieht dies aus Platzgründen nicht, so ist damit die naturalistisch-psychologische Theaterästhetik europäischer Provenienz gemeint, während "Westen" im Sinne Cliffords verwendet wird. Mit Saids Theorie lässt sich die interkulturelle Theatergeschichte des Westens jedenfalls als eine Geschichte des Orientalismus lesen. Bereits für das europäische Theater des 18. Jahrhunderts konstatiert Kati Röttger, dass es ständig zwischen dem Hang zum Spektakulären und der vernunftgeleiteten Wahrnehmung von Erscheinungen vermittelte. Ihrer Ansicht nach hat die Aufklärung das orientalistische Theater hervorgebracht, um der Zivilisierung eine salonfähige Dunkelseite an die Seite zu stellen: "Als diskursivierbarer Schatz der Differenzierungen, als Verklärung und als Dämonisierung, erweist sich der Grientalismus als ideales Feld kontrollierbarer Imagination [... ] Skandalon, Spektakel, Sensualität werden am Grientalismus goutierbar und damit dem Diskurs der Aufklärung einverleihbar - völlig ungeachtet der Wirklichkeit der anderen." (Röttger 2001: 11 2)
Ein solches antirationalistisches und zugleich eurozentristisches Movens lässt sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten. So vertritt Bonnie Marranca die These, dass viele interkultureHe Theaterprojekte eine anti-moderne Suche nach der "authentischen", wirklichen Erfahrung, dem Ritual, dem Mythos außerhalb der westlichen Kultur darstellen (vgl. Marranca 1991 :15). Besonders auf Artaud trifft dies zu, wobei, wie Susan Soutag betont,
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Bereits Artauds Kategorie "orientalisches Theater" ist orientalistisch und fiktiv. Sie ebnet die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Theaterformen wie N6, Kabuki, Wayang Kulit oder Kathakali ein. Darüber hinaus mystifiziert Artaud das Theater, wie Bharucha zutreffend feststellt: "He more frequently used the term to express what the western theatre is not. The ,othemess' he is inextricably associated with ,oriental theatre' was enhanced by his misreading of ,cosmic', ,metaphysical' and ,supematural' elements in the Balinese and Cambodian dances." (Bharucha 1993: 15)
Die Flucht aus dem vernunftbetonten Europa, die heftige Zurückweisung der eigenen Kultur ist wahrscheinlich eher Artauds Antriebsquelle gewesen, als der Wunsch, das Fremde tiefgehend zu verstehen. Auch Richard Schechner begründet noch 1973 seine Forderung nach rituellem Theater mit einer grundsätzlichen Kritik an der eigenen us-amerikanischen und, wie er meint, zu stark individualisierten Gesellschaft (vgl. Schechner 1973: 197). Problematisch an dieser Stelle ist weniger die Ablehnung des Eigenen. Schwierig ist, dass dem Anderen relativ unreflektiert eine bestimmte Identität zugeschrieben wird. Individuen oder Einzelphänomene aus anderen kulturellen Kontexten geraten so leicht zu Repräsentanten für wesentlich komplexere Zusammenhänge: "On the stage, culture as difference quickly becomes a commodity that operates slightly differently from the tomist souvenir, or any tangible consumer item. A culturally identified commodity product in performance sometimes comes to be recognised as metonym for a culture. While a representation can ,stand for' that which it denotes in a metaphoric fashion, it can also ,stand in for' [.. .]" (Holledge/ Tompkins 2000: 157)
Besonders unangenehm für die Künstler selbst ist es häufig, als Stellvertreter einer fremden Kultur wahrgenommen zu werden, was einer differenzierten Betrachtung der individuellen Ästhetik in der Regel im Wege steht. Oft werden exotistische Klischees bestätigt, wie Una Chauduri schreibt: "[ ... ] well-meaning intercultural projects can unwittingly perpetuate a neocolonialism in which the cultural cliches which underwrote imperialism survive more or less intact." (Chaudhuri 1991: 196)
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Dabei steht - wie auch in anderen Kunstformen und den Kulturwissenschaften - nicht selten die Suche nach dem "Authentischen" im Mittelpunkt, worunter etwas "echtes", "originales", "ursprüngliches", "ungekünsteltes", "tmverändertes" verstanden wird. 48 Regina Bendix vertritt die Meinung, dass "Authentizität" eine ganz konkrete Funktion vor allem für den hat, der nach ihr sucht, häufig auch um damit die Faszination an oder Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand zu legitimieren. Sie habe mit einer gewissen antimodernistischen Sehnsucht zu tun: "Coming to terms with the constructed and the contingent, if not deceptive, nature of authenticity is the result of cognitive reflexivity, living in a capitalistically driven, mass-mediated world means to be surrounded by the mimetic products and enactments of aesthetic reflexivity [... ]. The continued craving for experiences of unmediated genuineness seeks to cut through what Rousseau called the ,wound of reflection', a reaction to modernization's demythologization, detraditionalization, and disenchantment." (Bendix 1997: 8)
Was als "nicht authentisch" gilt, scheint der Aufmerksamkeit nicht wert. Die bereits beschriebenen Entwicklungen des Diskurses um Kulturbegriffe und neuere ethnologische und historische Untersuchungen - beispielsweise von Benedict Anderson oder Eric Hobsbawm - haben Kulturwissenschaftler jedoch dazu geführt, seit einigen Jahren die Möglichkeit kultureller Authentizität grundsätzlich in Frage zu stellen und von Konzepten wie imagined communities oder invented traditions auszugehen.49 Zusätzlich machen die Prozesse der Globalisierung die Vorstellung, etwas kö1me "authentisch ursprünglich" sein, bereits in der Alltagsbeobachtung äußerst fragwürdig. Interkulturelles Theater und Globalisierung Die Diskussion um interkulturelles Theater hat in den letzten zwanzig Jahren die Sensibilität für die Zusammenhänge zwischen Theatermarkt, Exotismus, Repräsentation und (Neo-)Kolonialismus geschärft. Die bisher in dieser Arbeit dargestellten Meinungen reichen dabei von der ästhetizistischen Ansicht, das Künstlerindividuum könne frei über Zeichen jedweder Herkunft verfugen, über Universalistische Ansätze bis hin zur Ablehnung interkulturellen Theaters, weil indigene oder "Dritte-Welt"Kulturen vor Ausbeutung oder Verwestlichung "geschützt" werden müssten. Bei aller Gegensätzlichkeit ist den skizzierten Standpunkten von Schechner bis Bharucha die Prämisse gemein, dass sich das "Eige-
48 Zur Geschichte des Begriffs "Authentizität" vgl. Kalisch 2000. 49 Benedict Anderson hat am Beispiel des Konzepts "Nation" gezeigt, dass kollektive Identitäten prinzipiell spezifischen kulturellen Bedingungen entspringen und imagined communities sind, nicht etwa natürliche Gegebenheiten (vgl. Anderson 1991 und Hobsbawm und Ranger 1984: 2).
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ne" und das "Fremde" effektiv voneinander unterscheiden lassen. Dies ist eine Annahme, die nicht mehr nur aus theoretischen Überlegungen heraus obsolet erscheint, sondern heute - zumindest in urbanen Lebenswelten - auch nicht mehr der praktischen Erfahrung entspricht. Und so werden seit einigen Jahren auch die kulturellen Folgen der Globalisierung diskutiert. Vielfach hört man in diesem Zusammenhang die Meinung, die kulturelle Vielfalt müsse vor Homogenisierung und einer hegemonialen Einheitskultur gerettet werden. Barbara Panse beschreibt beispielsweise in ihrer Studie zum südamerikanischen interkulturellen Theater, wie bis mindestens in die 1980er Jahre Vorstellungen einer "authentischen" lateinamerikanischen Volkskultur als zu beschützende Gegenwelt zu einer sich aggressiv ausbreitenden, gleichmacherischen globalen Mainstream-Kultur auch in den Wissenschaften vorherrschten (vgl. Panse 2001: 255). Diana Crane hat eine nützliche Typologie vier theoretischer Modelle kultureller Globalisierung entwickelt: Weit verbreitet ist danach erstens die These vom Kulturimperialismus, die sich in den 1960ern im Kontext der marxistischen Kulturkritik herausgebildet hat (vgl. Crane 2002: 2ff.) Ihr liegt die Dichotomie Zentrum (Westen) - Peripherie ("Dritte Welt") zugrunde. Sie beschreibt ganz im Sinne des Kulturindustrie-Begriffs der Frankfurter Schule Mechanismen, mit denen wenige reiche Länder die Weltwirtschaft und die globale Kultur dominieren. Kulturimperialismus lässt sich so verstehen als zielgerichtete Machtausübung stärkerer Länder über schwächere, als deren Effekt eine Homogenisierung der Kulturen angenommen wird. Dies ist auch die Haltung der Wissenschaftler, die in Lateinamerika die indigenen Kulturen "schützen" wollen, von denen Panse berichtet. Das Kulturimperialismus-Konzept spricht der "Dritten Welt" jedoch nur eine passive, wenig mündige Rolle zu. Die Theorie der kulturellen Vernetzung bietet eine alternative Perspektive, nach der die Austauschprozesse nicht nur durch ein Zentrum-Peripherie-Verhältnis bestimmt werden. Kulturelle Globalisierung wird vielmehr multidirektional verstanden als "aggregation of cultural flows or networks" (ebd.: 3). Als Effekt dieser "flows" wird eher eine kulturelle Hybridisierung als eine Homogenisierung diagnostiziert. Ein drittes theoretisches Modell, die Rezeptionstheorie, beschäftigt sich vorrangig mit der Aufuahme der Zeichenströme unterschiedlicher kultureller Herkunft. Rezeption wird hier wesentlich aktiv und eigenwillig verstanden und vor allem in ihren Differenzen untersucht. Crane zählt ihre eigenen Untersuchungen zu einer vierten Art der Theoriebildung, die vor allem kulturpolitische Strategien wie Widerstand, Konservierung oder "Glocalization" in den Mittelpunkt stellt. Mit Sicherheit ist Globalisierung ein derart vielschichtiges Phänomen, dass die vier von Crane beschriebenen Modelle sich nicht ausschließen, sondern jeweils andere Aspekte des gleichen Sachverhalts
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beleuchten und je nach (Forschungs-)Perspektive mehr oder weniger passend sind. Daher schließt es sich auch nicht aus, zwei paradox erscheinende Folgen kultureller Globalisierung zu konstatieren: Zum einen eine gewisse Homogenisierung durch die Vormachtstellung der westlichnördlichen Welt und durch die Herausbildung einer globalen Kultur, zum anderen ein deutliches Heraustreten der Vielfalt lokaler Kulturen. Die These einer reinen Verwestlichung, einer weltweiten kulturellen Gleichmacherei übersieht nicht nur die Widerständigkeiten nicht-westlicher Kulturen und ihre Einwirkungen auf den Westen, sondern überschätzt auch die Homogenität der westlichen Kulturen. Vor diesem Hintergrund ist auch das in der Theaterwissenschaft immer wieder zitierte Modell von Patrice Pavis zu kritisieren, in dem er interkulturellen Austausch als Sanduhr beschreibt: Oben die "source culture", unten die "target culture", in die Partikel aus der Ursprungskultur rieseln (vgl. Pavis 1992: 185). Bei Pavis gibt es keinen Austausch, sondern nur die Beeinflussung in eine Richtung. Auch setzt sein Modell voraus, dass sich Ursprungsund Zielkultur eindeutig voneinander unterscheiden lassen. Zum Thema der Herausbildung einer globalen Kultur erscheinen Ulrich Becks Überlegungen fruchtbarer. Als "globale Kultur" beschreibt er einen weder lokal noch national verwurzelten und erklärbaren, sondern eigenständigen "Welt-, Wert- und Erfahrungshorizont, der informationstechnologisch verfasst ist und von kulturindustriell zirkulierenden Bildern möglichen Lebens ,bevölkert"' wird (Beck 1998: 56f.). Globalität wird dabei reflektiert; so tritt mit "dem Begriff der globalen Kulturlandschaft die Vorstellung einer Art Allgegenwart der Weltunterschiede und Weltprobleme" als prägendes Element auf (ebd.: 57). Oder, wie Breidenbach und Zukrigl es formulieren: "Das Bewußtsein, einer Welt anzugehören, ist heutzutage als Kollektiverfahrung allen Menschen gemeinsam und stellt das bahnbrechend Neue an der zeitgenössischen Phase der Globalisienmg dar." (Breidenbach/ Zukrigl 2000: 34)
Möglicherweise haben sich gerade im Bereich der Kunst transkulturelle Räume bzw. eine globale Kultur herausgebildet und spezifische Theaterformen hervorgebracht. Die zunehmenden Möglichkeiten des interkulturellen Austauschs und die Migration von Künstlern haben, wie Wortheu sagt, schließlich auch zu einer "Migration von Arbeitsmethoden" geführt: " It is not necessary to travel to Brazil or Po land or Denmark or Japan or Saratoha, New York, tobe trained in Boal's theatre ofthe oppressed, Grotowski's poor theatre, Barba's theatre of roots, or the Suzuki-inflected viewpoints of Anne Bogart, any more than the Method is still indigenous to Moscow and Manhattan. The migration of working methods provides a different register of theatrical globalization, opening the possibility that practices might be deployed with different kinds of work in different local and global registers." (Worthen 2003: 126f.)
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Aus diesem Grund wird auch der Begriff des Interkulturellen zunehmend inadäquat. Die saubere Unterscheidung zwischen dem "Eigenen" und "Fremden" ist nicht mehr, wie ich bereits anhand der Diskussion um den Kulturbegriff versucht habe zu verdeutlichen, bloß aus kulturphilosophisch-theoretischer Sicht fragwürdig, sie lässt sich auch im Alltag nicht mehr ohne weiteres konstruieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es mehr denn je problematisch, wenn auf dem globalen Theatermarkt nichtwestliche Theaterformen nur akzeptiert werden, wenn sie als "ursprünglich" oder "authentisch" gelten. Vor allem ist ein Problem darin zu sehen, dass die Vorstellung von Authentizität immer auch ihr Gegenteil beinhaltet: Identifiziert man das Authentische, Ursprüngliche, Echte und Glaubwürdige, so muss es auch das Falsche, Künstliche und gar Illegitime geben. Bendix spricht davon, dass häufig das Homogene nostalgisiert wird, während "bastard traditions" und Hybridität abgewertet werden auch wenn kulturelle "Reinheit" faktisch nicht zu beobachten ist (vgl. Bendix 1997: 9). Zur Diskussion um Hybridität Ein Merkmal der Globalisierung ist also das weltweite Zirkulieren kultureller Elemente und Zeichen - unsere Alltagswelt wird zunehmend zu einer "multivocal world" (Clifford 1996: 46). Auch in den Individuen kreuzen sich die verschiedensten Kulturen. Um Vermischung, innere Kopräsenz und Polyphonie theoretisch zu fassen, wurden in den Diskurs um kulturelle Identität Begriffe wie "Kreolisierung", "Hybridisierung" oder "Collage" eingeführt (vgl. Grossberg 1996: 9lff.). 50 Besonders "Hybridität" hat sich in den Kulturwissenschaften rasch verbreitet und ist gar zu einem Modebegriff avanciert. Das Konzept von Hybridität ist eine Identitätslogik jenseits von Fundamentalismus und Essentialismus. Dennoch wird es kontrovers diskutiert; zum einen wegen seiner begriffsgeschichtlichen Dimension - es handelt sich um einen zentralen Terminus der rassistischen Ideologie -, zum anderen, weil es postkoloniale Theoretiker herausfordert, die sich einem Differenzdenken verpflichtet fühlen, bei dem es einen Restbestand an Essenz gibt. ln der Antike entstanden und im 19. Jahrhundert in der Evolutionsbiologie, Botanik und Anthropologie - v.a. der kolonialistischen "Rassenkunde" - wiederentdeckt, war der Terminus "hybride" lange Zeit vorwiegend naturwissenschaftlich konnotiert und bedeutet ganz allge-
50 Die eng beieinander liegenden Termini Synkretismus, Eklektizismus, Hybridität und Kreolisierung unterscheiden sich vor allem durch ihre Konnotation: Eklektizismus ist kein wissenschaftlicher Ausdruck und steht pejorativ für das unterschiedslose Kombinieren von Ideen und Kunstrichtungen. Kreolisierung wird in der Literatur- und Kulturwissenschaft weitgehend synonym mit "Hybridität" benutzt und stammt ursprünglich aus der Sprachwissenschaft (vgl. Balme 1995: 17f.).
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mein "gemischt" bzw. "durch Kreuzung oder Mischung entstanden."51 Konsequent zu Ende gedacht postuliert das Konzept von Hybridität, dass es sich bei der Verschmelzung unterschiedlicher Elemente immer um die Verschmelzung von bereits Hybridem handelt, dass es also eine "Urreinheit" niemals gab. Das heißt aber nicht, dass man die einzelnen Elemente nicht trotzdem unterscheiden könnte, wie das Beispiel von Ong Keng Sens Lear eingangs gezeigt hat: Insgesamt handelt es sich um eine hybride Theateraufführung, die jedoch deutlich differente Theaterformen enthält, etwa Elemente aus dem No-Theater. N6-Theater ist aber in sich auch keine "rein japanische" Tradition, sondern ursprünglich durch die produktive Rezeption chinesischer Theaterformen entstanden, die unter dem Oberbegriff san-yüeh zusammengefasst werden (vgl. Schneider 1992: 457ff.). Die Hybridität von Identitäten und Kulturen kann als faktisch gegeben angesehen werden und so fordern viele Wissenschaftler einen entsprechenden Perspektivenwechsel, weg von einer für das westliche Denken typischen binären, reduktionistischen Logik des Entweder-Oder hin zu Konzepten der Grenzauflösung und Uneinheitlichkeit (vgl. Morley/ Robins 1995: 30). Kulturelle Reinheit ist ein für die europäisch geprägte Moderne mit ihrem Streben nach Homogenität und ihrer "anxiety of contamination" charakteristisches Konzept, das in vielen anderen Teilen der Welt weit weniger dominant ist (vgl. Huyssen 1986: VIII). Wole Soyinka 51 Balme hält daher den Hybriditätsbegriff für ungeeignet, um kulturelle Mischphänomene zu beschreiben. Er zieht den Terminus Synkretismus vor, der nicht im Zusammenhang mit Biologie und Rassenkunde steht: "Von allen Konzepten, die kulturelle Vermischung und Amalgamierung beschreiben, weist Synkretismus als einziger eine wissenschaftlich klar umrissene auf das Theater anwendbare Begrifflichkeil auf. Synkretismus bezeichnet idealiter einen Prozeß, der auf gegenseitigem Respekt sowie ausgewogenem Austausch basiert." (Balme 1997: 237). Die positive Wertung, dieBalme mit dem Synkretismusbegriff verbindet, erscheint bei genauerer Betrachtung allerdings wenig fundiert: Gerade im Falle der von Balme beschriebenen Theaterformen - die allesamt in postkolonialen Zusammenhängen entstanden sind - ist es schwierig, sich vorzustellen, wer den indigenen Künstlern einen wie auch immer gearteten Respekt entgegengebracht haben soll. Es handelt sich bei seinen Beispielen weniger um w irklichen Austausch, als um die Annäherung indigener Künstler an das westliche Theater. Begriffe wie "Austausch", "Respekt", ,,Ausgewogenheit" sind angesichts von kolonialer Ausbeutung und Gewalt, die dem synkretischen Theater vorausgingen, zu stark wertend-romantisierend und daher kaum angebracht. Ich werde daher weiterhin den Begriff der Hybridität verwenden, vor allem, weil er in der von mir zitierten Literatur vorrangig benutzt wird. Robert Young beschreibt die Entwicklung des Hybriditätsbegriffs für das 19. Jahrhundert sehr detailliert; eine kritische Begriffsgeschichte, die sich auch mit den letzten Jahren eingehend befasst, hat Kien Nghi Ha vor einiger Zeit herausgebracht (vgl. Young, R. 1995: 6ff. u. Ha 2005).
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beispielsweise sieht in Hybridität und Synkretismus Fundamente der afrikanischen Weltanschauung. Über die mythisch-religiösen Systeme Afrikas schreibt er: "[... ] they are not govemed by rigid mthodoxies such as obtain in Tslamic- and Christian-orientated matrices of symbols; a natural syncretism and the continuing process of this activity is the reality of Afiican metaphysical systems; the protean nature of the symbols of African metaphysics, whether expressed in the idiom of deities, nature events, matter or artifacts, are an obvious boon to the full flow of the imagination." (Soyinka 1976: 121f.)
Basierend auf Bachtins Analyse des "polyphonen" Romans, in dem die Subjekte im Raum verschiedener, oft widerstreitender Diskurse dargestellt werden, und in jeder individuellen Äußerung die Stimmen anderer zu vernehmen sind, verlangt beispielsweise James Clifford neue Darstellungsmodi speziell für die Ethnologie (vgl. Clifford 1996: 46). Es ist bezeichnend, dass Clifford in der Kunst Inspiration sucht, um das Problem wissenschaftlicher Repräsentation zu lösen. Meine These ist, dass die hier beschriebenen Erkenntnisse der Kulturwissenschaften sich auch in der Art und Weise nachvollziehen lassen, wie heute in den avancierteren Formen interkulturellen Theaters auf die - genuin theaterästhetische Frage nach der Möglichkeit von Repräsentation reflektiert wird. Jenseits eines bloß deskriptiven Begriffs von Hybridität, nach dem sie alltäglich und unvermeidlich ist und in erster Linie zur korrekten Beschreibung kultureller Formationen dient, stellt Hybridität für andere Theoretiker eine kreative Kraft dar. ln The Empire Writes Back (1989), einer der wegweisenden Publikationen der frühen postkolonialen Literaturwissenschaft, führen Ashcroft et al. analog zu Entwicklungen in der Kulturanthropologie die Begriffe "Hybridität" und "Synkretismus" ein, um bestimmte Erscheinungsformen der New Literatures bzw. Commonwealth Literature zu erklären. Die Entstehung unabhängiger postkolonialer Literatur ist demnach geprägt durch eine dynamische Hybridität, die in der permanenten Auseinandersetzung mit der Kultur der Kolonialmacht oder dominanten Gesellschaft kreative Energien erzeugt, wobei dem umdeutenden rereading bzw. rewriting eine zentrale Funktion zukommt.52 Ähnlich wie Ashcroft et al. vertritt auch Homi K. Bhabha einen 52 Ashcroft et al. beschreiben die Entwicklung der postkolonialen Literatur in einem dialektischen Dreisch1itt: Zuerst kam die imperiale Phase, in der sich die literarische Elite in den Kolonien mit der Kultur der Kolonialmacht identifizierte und deren Sprache benutzte. Sie distanzierte sich von den indigenen und vorkolonialen Kulturen, insofern war sie affirmativ (Ashcroft et al. 2002: 5f.) Die zweite Phase bezeichnen Ashcroft et al. als literarische Produktion "under imperiallicense". Man identifizierte sich zwar nicht mehr mit der Kolonialmacht, schöpfte aber das eigene subversive Potential noch nicht ganz
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Begriff kultureHer Hybridität, nach dem darunter nicht nur ein dynamisches Mode11 der Unreinheit, sondern auch die Artikulation des Widerstands der Subalternen zu verstehen ist. Er wertet das zwischen den Kulturen Entstandene als subversive Qualität und negiert koloniale und rassistische Denkfiguren wie ursprünglich-rein-authentisch versus vermischt-verunreinigt-dekadent (vgl. Bhabha 1996: 58). Hybridität und Differenz erzeugen Bhabhas Meinung nach Produktivität: "With the notion of cultural difference, I try to place myself in that position of liminality, in that productive space of the construction of culture as difference, in the spirit of alterity or othemess." (Bhabha 1990: 209)
Bhabha benutzt das Bild vom "Dritten Raum", einem Ort der Ambivalenz zwischen Identität und Differenz, in dem kulturelle Identitäten, Repräsentationen und Bedeutungen frei ausgehandelt und so gese11schaftliche Raster feststehender Zuschreibungen und binärer Gegensätze überwunden werden können. Hybridität ist für ihn damit insofern positiv, als sie durch ihren liminalen Charakter zu neuen Formen sowie zu innovativen Orten der Kooperation und des Widerstreits führen kann (vgl. ders. 1997: 124). Kien Nghi Ha hingegen macht in seiner kritischen Begriffsgeschichte deutlich, dass die Bezeichnung Hybridität zunehmend affirmativ verwendet wird und kaum noch in dem emanzipativen Sinn, der Bhabha vorschwebt (vgl. Ha 2005: 39ff.). Und es ist in der Tat auffä11ig, dass Hybridität heute äußerst attraktiv konnotiert ist und auch in der Werbung fast penetrant zum Einsatz kommt. Insbesondere in der Technologie gilt Hybridität als universelles Innovations- und Erfolgsrezept So wird Differenz "[ ... ]als Produktivitätsressource und durchdesigntes Lifestyle- und Konsummodell auf dem Markt der (Un-)Möglichkeiten angeboten. Die gleichermaßen einfache wie überzeugende Botschaft lautet: Anders-Sein lohnt sich, weil es erstens die heutige Signatur für Kreativität darstellt und zweitens das Potential zu sozialen (vertikalen) und kulturellen (horizontalen) Mobilität hat [... ] Ethnische und kulturelle Durchmischungen sollen unerwartete und begehrenswerte Resultate produzieren und Möglichkeiten zur E1weitemng des dominanten Selbst durch Aneignung des marginalisierten Anderen schaffen." (Ha 2005: 59)
Ha verweist auf die Expansions- und Bereicherungslogik des Hybriditätsbegriffs und fühlt sich an den europäischen Kolonialismus erinnert. In Rekurs auf Frederic Jamesons neomarxistische Kulturtheorie, nach der Spätkapitalismus und Postmodeme zusammengehören, versteht er Hybridität sogar als "bisher fortgeschrittenste Ausformulierung der aus. Die Entstehung unabhängiger Literatur wurde nach Ashcroft et al. erst durch die Verweigerung des imperialen Diskurses möglich, einhergehend mit der vollkommenen Aneignung der Sprache und eines indigenen Diskurses.
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postmodernen Kondition" im Kontext transnationaler Markt- und Machtbedingungen, sowie einer global agierenden Verwertungslogik (ebd.: 64). Und so zeigen die kommerziellen Erfolge von Fusion-Küche, Weltmusik und Ethnomode, dass migrantische und außereuropäische Kulturen das bunte Angebotsrepertoire auf dem Konsummarkt erweitern. Auch die Konjunktur von Begriffen wie "interkulturelles Management" oder "ethnisches Marketing" macht deutlich, dass es ein ökonomisches Interesse am kulturell Anderen gibt; was allerdings nicht heißt, dass auch ein Interesse am spezifischen Kontext oder gar an der Diskussion von Macht- und Verteilungsfragen vorhanden ist (vgl. Gillespie 1998: 117ff.). Es gilt die Gefahr im Blick zu haben, dass ethnische Minderheiten zwar ästhetisch aufgewertet, jedoch neokolonialistisch nur als Ressource oder Impulsgeber wahrgenommen werden (vgl. Ha 2005: 8lff.). Als Fazit lässt sich festhalten, dass Hybridität zwei Gesichter hat: ein widerständiges, emanzipatives, subversives, und eines, das im Sinne bestehender Machtverhältnisse Differenz und Diversität nach den Gesetzen des Spätkapitalismus nutzt. Hinter die Erkenntnis, dass Identitäten und Kulturen einen hybriden Charakter haben, kann indes nicht zurückgegangen werden.
Interkulturelles Theater als politisches Theater Wie gesagt lässt sich die Frage nach den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Funktionen interkulturellen Theaters nur für den konkreten Einzelfall beantworten. Dabei spielt eine Rolle, wie Interkulturalität auf die Bühne kommt, welche spezifischen Möglichkeiten und Perspektiven sie entwickelt, was für ein Kulturbegriff zugrunde liegt und wie mit dem Fremden umgegangen wird. Brook und Suzuki zum Beispiel ignorieren vorhandene kulturelle und sozia-politische Differenzen, wenn sie nach einer Universalsprache suchen. Bharucha dagegen ist im Sinne einer antikolonialen Gegenreaktion bestrebt, das "Indische" möglichst von westlichen Einflüssen unberührt zu lassen - und basiert so tendenziell auf einem essentialisierenden Begriff kultureller Identität. Schechner, Wilson und Mnouchkine bedienen sich in ihren frühen Inszenierungen anderer Kulturen unbefangen als "Rohstofflager", was man als ästhetizistische, und zugespitzt als (neo-)koloniale Grundhaltung bezeichnen könnte. Die interkulturelle Theaterarbeit in China wiederum, bei der die Musiktheaterformen in Auseinandersetzung etwa mit Brecht oder Shakespeare erneuert wurden, diente nach der Kulturrevolution einer zeitgemäßen Wiederbelebung der eigenen Überlieferungen. Dabei herrschte zwar die Vorstellung einer nationalen chinesischen Identität vor, das Bild davon war jedoch relativ offen. Auch die programmatisch hybriden Theaterformen, wie sie insbesondere afrikanische und karibische Theatermacher wie Wole Soyinka und Derek Walcott entwickelt
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haben, vermitteln ein flexibles Konzept von kultureller Identität, eines, nachdem diese nicht "rein" sein kann. Letztlich bestimmen der soziale, der politische und der historische Kontext, der faktische Umgang mit den Elementen unterschiedlicher kultureller Herkunft und die Machtverhältnisse der Beteiligten die spezifische Ausformung eines interkulturellen Theaterprojekts, die entsprechend unterschiedlich aussehen kann. Ich habe ausgehend von der LearInszenierung geschrieben, dass die aktuellen Tendenzen interkulturellen Theaters sich von früheren unterscheiden: Was bis in die 1980er Jahre auf den Bühnen der großen internationalen Theaterfestivals noch üblich war - relativ unreflektiert auf fremde, exotische Ästhetiken zurückzugreifen- ist für viele Vertreter der jüngeren Generation problematisch geworden. Das heißt nicht, dass interkulturelles Theater als solches abgelehnt wird, wie beispielsweise von Vertretern des "Kulturimperialismus"-Standpunkts. Es lassen sich aber neue Formen interkulturellen Theaters beobachten, die zu den früheren hinzugetreten sind, und die den Gegenstand dieses Buches bilden. Sie sind, wenn auch nicht unidirektional, und erst recht nicht mechanistisch, so aber doch mit den veränderten Rahmenbedingungen in Zusammenhang zu bringen, die ich in den letzten Kapiteln umrissen habe, und zu denen ich auch die diskursiven Entwicklungen zähle: etwa die Entstehung der postcolonial studies im akademischen Bereich oder die in allen Gesellschaftssegmenten beobachtbare zunehmende Reflexion der Folgen der Globalisierung. Bis in die 1980er war interkultureller Austausch auf dem Theater im Wesentlichen internationaler Austausch, wie May Joseph feststellt, "[ ... ] gekennzeichnet durch die Reisen und den Austausch von Künstlern, Ethnografen, Selbstdarstellern und Kolonialbeamten, deren Bezugspunkte durch die Grenzen des Empires (des französischen, britischen, portugiesischen oder usamerikanischen) markiert waren- oder durch den Nationalstaat (... ]. Arbeitsmaxime war ein Gefühl des Inter-Nationalismus und somit des Inter-Kulturalismus. In diesen Strukturen ging man davon aus, dass man von einer Kultur zu einer anderen reise, in einen Austausch trete, in sie eintauche, ihre Techniken, Erscheinungsformen und ihre Ästhetik sich einverleibe." (Joseph 2004: I 50)
Dadurch, dass sich alte Dichotomien in kultureller Hinsicht heute ebenso wenig aufrecht erhalten lassen wie nationalstaatliche Kategorien und kaum eine Kultur nicht in Globalisierungsprozesse eingebunden ist, ändert sich auch das interkulturelle Theater. Anuradha Kapur beschreibt dies für Indien: "In den letzten Jahren haben sich Tänzer und Theaterregisseure dagegen gewehrt, composite communities - also Gemeinschaften, die eine aus verschiedenen Gruppen zusammengesetzte Einheit bilden - im ,ethnographischen' Raum ,Indien' zu definieren. Ebenso wenig wollen sie sich auf ein bestimmtes Genre festlegen. Sie
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Zur politischen und historischen Dimension interkulturellen Theaters bedienten sich im Gegenteil einer Vielzahl von Performancetechniken, einschließlich Agitprop, Akrobatik, Kabarett, Puppen- und Maskenspiel, Mann-FrauRollenwechseln und Tanz, weichten konsequent die regulären Grenzen des politischen Aktivismus wie des Kunst- und Unterhaltungsbetriebs auf und verwischten so die herkömmlichen Abgrenzungen zwischen ,Tradition' und ,Moderne', nationalen, lokalen oder globalen Zuordnungen, ,westlicher' oder ,östlicher' Ästhetik." (Kapur, A. 2004: 79)
Es sind die offensichtlich fragwürdig gewordenen Grenzen, es sind die Brüche, die Verschichtungen, die Hybridität, die stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Künstlern wie Maya Rao, Claudio Valdes Kuri, Dumb Type, Jin Xing, Constanza Macras, Ahmed El-Attar, Guillermo G6mez-Pefia, Coco Fusco, Akram Khan, Anuradha Kapur, Walid Ra'ad, Ralph Lemon, Hsiu-Wei Lin, Michael Laub, Ong Keng Sen, Ping Chong, Wen Hui und Wu Wenguang, Jesusa Rodriguez und vielen mehr geraten. Diese knüpfen vielfach an die programmatisch hybriden Theaterinszenierungen beispielsweise eines Soyinka oder Walcott an. Viele Exponenten avancierteren interkulturellen Theaters arbeiten auf der Grundlage einer durch Kolonialerfahrung oder Migration geschaffenen Situation der Bioder Multikulturalität. Dabei kommen oft auch pessimistische Einschätzungen auf die Bühne: Coco Fusco zum Beispiel zeigt in ihrer Performance The lncredible Disappearing Woman eine recht düstere Seite von Interkulturalität: "Ich habe mich für die Nekrophilie als Metapher für interkulturelle Beziehungen in der heutigen globalen Ordnung entschieden. Viele utopische Denker sprechen vom Überschreiten geopolitischer Grenzen oder von Grenzkulturen in endlosem Wandel. Trotzdem sind Grenzen allgegenwärtig; wir leben in einer Welt, die von Grenzen gekennzeichnet ist - zwischen sichtbarer Gewalt und unsichtbarer Arbeit, extremem Reichtum und niederschmetternder Armut, Beobachtern und Beobachteten." (Fusco, Coco in: Haus der Kulturen der Welt [Hrsg.]2004: 94f.)
Viele interkulturell arbeitende Künstler der jüngeren Generation haben eine ausgeprägte Sensibilität flir die Tatsache, dass die Ideologie der Pax Americana, der Eurozentrismus und auch der Glaube an die Vorzüge und Alternativlosigkeit des Kapitalismus in den letzten Jahren eher stärker als schwächer geworden sind. Sie machen die Erfahrung, dass bereits überwunden geglaubte Anachronismen wie Nationalismus, Rassismus oder die Ethnisierung des Sozialen weltweit immer noch virulent sind und auch durch Globalisierung und transnationale Bewegungen kaum fragmentiert werden. So thematisieren sie jenseits einer liberalen hedonistischen Offenheit für das Andere die harten Konflikte um den Zugang zu Ressourcen, strukturelle Gewalt und Entscheidungsmacht Und auch den Sachverhalt, dass in den wirtschaftlich starken Ländern zwar das freie Flottieren von Kapital, Waren, Kunst, Ideen, Information begrüßt und gefeiert wird, Menschen jedoch, die aus wirtschaftlichen oder politischen
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Gründen Teil der weltweiten Migrationsbewegungen sind, meist nicht willkommen sind. Gerade vor dem Hintergrund, dass Traditionen, wie Benedict Anderson in The Invention of Tradition herausgearbeitet hat, vielfach erfunden sind und nationalistisch funktionalisiert werden, spielen diese Künstler mit der kritischen Dekonstruktion von Überlieferungen. Die Suche nach einem "reinen" afrikanischen, indischen oder mexikanischen Theater, die zunächst in vielen ehemals kolonisierten Ländern mit der Unabhängigkeit einsetzte und auch bei westlichen Anthropologen oder Theatergäugern bis heute verbreitet ist, erscheint dieser Generation jedenfalls als überholt. War der Exotismus spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Theater ein wichtiges Element zur Konstruktion nationaler kollektiver Identitäten, so sind mit den Globalisierungsprozessen der letzten Jahrzehnte neue Rahmenbedingungen entstanden, die stärker denn je die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden fragwürdig machen. Der Konstruktionscharakter dieser Begriffe tritt immer deutlicher hervor und es scheint keine Alternative mehr zum Interkulturellen zu geben, die Gefahr des Missverständnisses und Exotisierens eingeschlossen, bereits dies ist eine politisch bedeutsame Implikation. Je stärker alle gesellschaftlichen Prozesse inter- oder transkulturellen Charakter gewinnen, desto mehr auch das Theater. Interkulturalismus ist Bestandteil des Bühnengeschehens, allerdings zunehmend selbstreflexiv in mehrfachkodierten Inszenierungen, in denen verschiedene Sprachen und Formen nicht um des sensationellen Aufeinanderpralls willen zusammengeführt werden, sondern um ein dialogisches Geschehen auszulösen und zu erproben. Der grundlegende Unterschied zum westlichen interkulturellen Theater der 1980er ä la Grotowski, Brook oder Mnouchkine besteht darin, dass nicht das "ursprünglich-authentische" Andere im Mittelpunkt steht oder der Kontrast zwischen dem Eigenen und dem Fremden - weswegen damals auch die seriösesten Experimente nicht frei von exotistischen Elementen waren -, sondern die Theatralisierung des Problems kultureller Identität, die Beobachtung faktischer Hybridität und irreduzibler Differenz. Dabei werden eher Fragen gestellt als Antworten gegeben, so wie HalFoster es für einen "widerständigen Postmodernismus" formuliert: "A postmodernism of resistance, then, arises as a counter-practice not only to the official culture of modernism but also to the ,false normativity' of a reactionmy postmodernism. In opposition (but not only in opposition), a resistant postmodernism is concemed with a critical deconstruction of tradition, not an instrumental pastiche ofpop- or pseudohistorical forms, with a critique of origins, not a retum to them. In short, it seeks to question rather then to exploit cultural codes, to explore rather then conceal social and political affiliations." (Foster 1983: xiii)
Es wäre entschieden zu kurz gegriffen, in diesen neuen Formen interkulturellen Theaters nur eine oppositionelle Reaktion gegen den Kolonia-
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lismus oder Neokolonialismus zu sehen, nur ein writing back. Es geht ihnen letztlich nicht um "Kolonisierte/Nichtkolonisierte" oder "Zentrum/Peripherie". Es handelt sich vielmehr, wie die Beispiele von Aufführungen aus den letzten Jahren im zweiten Teil dieses Buches vor Augen führen werden, um eigenständige, meist lokal verankerte Positionen, die durchaus ambivalent und konstitutiv vieldeutig sind. Aktuelle Formen interkulturellen Theaters stellen sich gegen Universalistische Tendenzen früherer (interkultureller) Theaterproduktionen, deren eindimensionales Engagement genauso wie ein formalistisches Wohlgefallen als unzulänglich, wenn nicht gar aus ethischen Gründen als unzulässig erscheint. Zentral ist, dass die hier beschriebenen Produktionen keinesfalls in soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Studien aufgehen, ebenso wenig wie in einer flachen postkolonialen oder Globalisierungskritik. Am zutreffendsten lässt sich ihre politische Dimension, wie eingangs anhand von Ong Keng Sens Lear beschrieben, so fassen, dass sie gerade durch ihre Ästhetizität liminale Räume der Reflexion und der spielerischen Auseinandersetzung eröffnen: Die politische Erfahrung liegt hier in der ästhetischen Erfahrung. Die Untersuchung der künstlerischen Strategien, die dies etmöglichen, bedarf der Untersuchung auch der jeweils benutzten Materialien und hervorgebrachten Formen, nicht nur der "Themen" und der "Plots". Künstlerische Arbeiten haben stets einen eigenen Formalismus, der "verstanden" werden will, der also durch Wahrnehmungsprozesse Bedeutungen hervorbringt, die wiederum politische Inhalte bergen können. Dennoch sollen die Auffiihrungsanalysen im zweiten Teil des Buches um drei Themenfelder herumgruppiert werden: (a) Performativität von Identität; (b) Geschichte, Erinnerung und kulturelles Gedächtnis sowie (c) Übersetzung und Fremdverstehen. Denn diese drei Themen kreisen alle um die Frage, was kulturelle Identität ist und wie interkulturelle Kommunikation funktionieren kann - schließlich ist interkulturelles Theater ein Sonderfall interkultureller Kommunikation: Das erste Thema zielt dabei vor allem auf die Denaturalisierung von Identitäten, besonders auch von Stereotypisierungen nach geschlechtlichen oder "rassischen" Merkmalen. Das zweite auf den Zusammenhang kollektiver Identitäten mit künstlerischen und theatralen Traditionen und dem Erzählen vom Selbst, also "Geschichte". Das dritte Thema beinhaltet zentral die Frage, wie angesichts all dessen interkulturelle Verständigung und Annäherung noch sinnvoll zu denken sind. Ich habe drei Auffiihrungen ausgewählt, deren Analyse unter diesen Aspekten besonders vielversprechend erschien: Searching jor Home von Ralph Lemon (2003), Beyond the killing jields von Ong Keng Sen (2002) und El autom6vil gris von Claudio Valdes Kuri (2002).
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Ästhetische Aspekte interkulturellen Theaters und ihre methodischen Konsequenzen Eine umfassende Bestandaufnahme interkulturellen Theaters und die Entwicklung eines allgemeingültigen Modells seiner Formen ist aus inhaltlichen wie praktischen Gründen nicht zu erfüllen und kann nicht Ziel dieses Buches sein. Es kann nur ein bestimmter Ausschnitt beleuchtet werden, eine Momentaufnahme gemacht und ein Ausgangspunkt für weitere Überlegungen geschaffen werden. Ich habe mich wie gesagt entschieden, mich auf eine bestimmte, von mir als "postkolonial" bezeichnete Ästhetik aktuellen interkulturellen Theaters zu konzentrieren und habe dazu drei mir exemplarisch erscheinende Inszenierungen zur genaueren Betrachtung ausgewählt. Das rückt die Frage nach einer adäquaten Methodik für die Beschäftigung mit der einzelnen Theateraufführung in den Blick. Sie ist auch deshalb von Bedeutung, weil das Zusammendenken der zwei Themenfelder "Theater" und "Interkulturalität" aufgrund der Schlüsselrolle, die in beiden Fällen dem Problem der Repräsentation zukommt, das jeweils andere in dieser Hinsicht aufschlussreich zu erhellen vermag: Das zu entwickelnde Konzept hat zum einen prinzipielle Fragen der Verfasstheit ästhetischer Gegenstände und ästhetischer Erfahrung - und hierbei speziell das Oszillieren zwischen Semiotizität und Performativität von Theateraufführungen - zu berücksichtigen, zum anderen Probleme der Hermeneutik bzw. des Fremdverstehens, die durch die interkulturelle Dimension des Gegenstands nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern letztlich auch politisch und ethisch relevant sind. Die Kunst und das Fremde, die sich beide per definitionem eindeutiger Interpretation entziehen, sind eng miteinander verwoben und die Probleme der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihnen ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Differenz, Fremdheit und ästhetische Erfahrung - alle drei Begriffe verweisen auf Polyvalenz und ein komplexes Verhältnis zwischen dem (wissenschaftlichen, um Verstehen bemühten, zuschauenden, rezipierenden) Subjekt und dem (ästhetischen, fremden, zu verstehenden, performenden/aufgeführten) Objekt. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass in der außereuropäischen Ästhetik häufig Konzepte dominieren, die sich hinsichtlich der Gewichtung von Performativität und Referentialität signifikant von den traditionellen Modellen europäischer Provenienz unterscheiden und auch das Denken in Dichotomien, beispielsweise Subjekt-Objekt oder Geist-Körper, nicht überall so verbreitet ist wie in der griechisch-abendländischen Tradition. Im Folgenden werden zunächst jüngere Beispiele theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater hinsichtlich ihrer Methoden betrachtet und dann Gedanken aus der Hermeneutik, der interkulturellen Philosophie und der Ästhetik einfließen.
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Anknüpfungspunkte in der Theaterwissenschaft Die Suche nach adäquaten Anknüpfungsmöglichkeiten in der Forschungsliteratur ergibt, dass Fragen der Aufführungsanalyse zwar als wichtigstes Methodenproblem die Theaterwissenschaft seit ihren Anfängen durchziehen, wie man sich speziell interkulturellen Aufführungen am sinnvollsten nähert, wird allerdings selten gesondert diskutiert. Christopher Balme und Barbara Panse stellen in der jüngeren Literatur insofern Ausnahmen dar, als sie ihre Methodik bewusst in Bezug auf Interkulturalität entwickeln: Balme kommt in systematischer Auseinandersetzung mit postkolonialem Synkretismus zum Schluss, interkulturelles Theater sei am besten mithilfe der Semiotik zu untersuchen. Panse ergänzt ihre ebenfalls zeichentheoretisch orientierten Aufführungsanalysen lateinamerikanischen Volkstheaters durch ethnologische Feldforschung. In beiden Fällen ist die Vorgehensweise plausibel, es werden jedoch performative Aspekte des Theaters außer Acht gelassen, was, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, sowohl hinsichtlich der theatralen als auch der interkulturellen Dimension problematisch ist. Daher wird die Theorie einer Ästhetik des Performativen, wie Erika Fischer-Lichte sie entwickelt hat, eine wichtige Ergänzung sein. Inspiration aus der Ethnologie Während es in diesem Buch vorrangig um international arbeitende Theatermacher geht, widmet sich Panse in Interkulturelle Austauschprozesse im zeitgenössischen Volkstheater Perus, Kolumbiens und Mexikos dem lokal verankerten Volkstheater Lateinamerikas. Dennoch ist ihre Untersuchung von Interesse, da sie die Schwierigkeiten, mit denen man in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit außereuropäischen Theaterkulturen konfrontiert wird, sorgfältig analysiert und interdisziplinäre Lösungsansätze entwickelt. Ihre Grundlage bilden Feldforschungen in 23 lateinamerikanischen Städten, die sich über eineinhalb Jahre erstreckten und bei denen über hundert Inszenierungen untersucht wurden. Panse und ihr Team gingen entsprechend der "dichten Beschreibung" vor, so wie sie der Ethnologe Clifford Geertz konzeptualisiert hat (vgl. Geertz 1983). Dabei wurde der spezifische personelle, ethnische und soziale Kontext intensiv erforscht, zudem wurden die konkrete Forschungssituation reflektiert und subjektive Erfahrungen und Eindrücke aufgezeichnet (vgl. Panse 2001: 253ff.). Eine solche ethnologische Vorgehensweise ist in der Theaterwissenschaft relativ neu. Sich in Auseinandersetzung mit außereuropäischem Theater der Ethnologie zuzuwenden, liegt allerdings nahe; bildet doch die Frage, wie man sich dem kulturell Fremden nähern kann, das Grundproblem dieser Disziplin. Der wichtigste Anknüpfungspunkt für mich ist die Erkenntnis, dass die Beschäftigung mit interkulturellem Theater nicht losgelöst von den Problemen des Fremdverstehens erfolgen kann. Dies 95
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impliziert auch, dass im Forschungsprozess die Rolle des Theaterwissenschaftlers und Rezipienten, des wahrnehmenden und erkenntnisorientierten Subjekts mitgedacht werden muss. In der Ethnologie setzte sich diese Erkenntnis mit dem Skandal der posthumen Veröffentlichung des Tagebuchs von Bronislaw Malinowski aus seiner Forschungszeit in der Südsee durch (vgl. Malinowski 1989). Malinowski hatte zuvor aufgrund der von ihm praktizierten Methode der teilnehmenden Beobachtung als Autorität gegolten; er hatte den Mythos vom objektiven Feldforscher "als Chamäleon, das sich perfekt auf seine exotische Umgebung einstellt" (Geertz 1983: 289) begründet. In den Tagebüchern war dann aber von subjektiven Belastungen im Forschungsfeld die Rede, von Hilflosigkeitsgefühlen, Depressionen und erotischem Begehren: die Interaktivität und Interventionshaftigkeit des epistemologischen Subjekt-ObjektKontakts wurden deutlich. Malinowski galt vielen Kollegen fortan als Nestbeschmutzer, die ausgelöste Debatte führte aber dazu, das Vorgehen der teilnehmenden Beobachtung nicht als fiktives Erkenntnisideal, sondern - realistischer - als sozialen und psychischen Prozess von und zwischen konkreten Personen verstärkt in den Blick zu nehmen. Panses Forschungsperspektive ist eine eher sozialwissenschaftliche - es geht ihr um konkrete gesellschaftliche Prozesse an bestimmten Orten in Lateinamerika. Mein Fokus liegt weniger auf sozialen Zusammenhängen und kulturvergleichenden Fragestellungen, sondern stärker auf der Kunst, den ästhetischen Strategien, die sich in den Inszenierungen manifestieren. Daher müssen die Aufführungen selbst, das konkrete Theatererlebnis Basis der Überlegungen sein. Ausgangspunkt und so auch zentrales methodisches Problem ist damit die Aufführungsanalyse im engeren Sinn. Semiotische Aufführungsanalyse
Die meisten Aufführungsanalysen interkulturellen Theaters sind semiotisch ausgerichtet. Insbesondere Fischer-Lichte hat eine Theatersemiotik entwickelt, die sowohl die Bedingungen des Verstehens ästhetischer Texte berücksichtigt, als auch konkrete Verfahren vorschlägt (vgl. FischerLichte 2001: 89). 53 Für viele Teilbereiche der Aufführungsanalyse interkulturellen Theaters ist eine solche Herangehensweise in der Tat geeignet. So lässt sich gut zeigen, wie Elemente aus unterschiedlichen Kontexten miteinander kombiniert werden. Integration und Umkodierung, Oekonstruktion und erneute Semantisierung einzelner Zeichen können anschaulich beschrieben werden. Für Balme ist die Semiotik aber vor allem aus einem anderen Grund geeignet: Sie steht seiner Meinung nach für einen "neutralen", rein deskriptiven Kunstbegriff, der keine kulturellen
53 Dies gelingt ihr, indem sie hermeneutische Erkenntnisse mit denen der ästhetischen Zeichentheorie verknüpft, konkret: Gadamers philosophische Hermeneutik mit dem Prager Strukturalismus (vgl. ebd.: 103f.)
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Formen höher bewertet als andere. Balme ist insofern zuzustimmen, als mithilfe der Zeichentheorie viele Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen als Formen der Abwertung von Kulturtexten beschrieben werden können, wobei er herausarbeitet, dass diese Mechanismen in der Kolonialgeschichte eine wesentliche Rolle gespielt haben: Speziell die Hierarchisierung der Textsorten mit einer Privilegierung schriftlicher Texte hat zu einer gravierenden Ungleichheit geflihrt und kann als Teil imperialistischer Machtausübung verstanden werden (vgl. Balme 1995: 13). Mithilfe der Semiotik können dagegen, so Balme, auch theatrale Formen berücksichtigt werden, die im logozentrisch orientierten Westen lange keine adäquate Würdigung erfahren haben: "Tm Rahmen einer möglichst neutralen kulturellen Wertehierarchie werden Lieder, Tänze, Maskenspiele, mündlich h·adierte Geschichten usw. allesamt als Kulturtexte angesehen, die sich in ihren dramaturgischen und aufführungsbezogenen Funktionen untersuchen lassen." (ebd.)
Die spezifische Herausforderung: Das Performative als das Andere So plausibel Balme argumentiert - gerade an dem letzten Zitat wird die Problematik einer bloß zeichentheoretisch orientierten Herangehensweise deutlich. Denn sie kann die sinnlichen Qualitäten einer Aufflihrung und ihre spezifische Wirkung auf die Zuschauer jenseits von Bedeutungskonstitution und Interpretation nicht angemessen einbeziehen - also die performative Dimension der Aufführungen, die wohl gerade bei den Liedern und Tänzen, von denen Balme spricht, eine zentrale Rolle spielt. Die semiotische Aufführungsanalyse nimmt, wenn sie das Performative überhaupt berücksichtigt, dieses nur in seiner Zeichenhaftigkeit, nicht aber in seiner spezifischen Qualität wahr. Das ist nicht nur ein epistemologisches, sondern, in dem Moment, wo es um das kulturell Andersartige, und das bedeutet letztlich: den fremden Menschen geht, zugleich ein ethisches Problem. Zu den Begriffen Pertorrnativität und Performance Der Terminus der Performativität soll hier nicht die gesamte Kontroverse um den Begriff aufreißen. 54 Dieser ist mittlerweile ein geistes- und sozialwissenschaftlicher umbrella term geworden, wobei sich die Konzeptionen in den verschiedenen Disziplinen - Linguistik, Ethnologie, Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Sozialpsychologie, Genderforschung - teilweise stark unterscheiden. Da er jedoch von zentraler Bedeutung sowohl für das Nachdenken über (kulturelle) Identität als auch
54 Vgl. zum Performanzbegriff: Wirth 2002: 9-62.
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für das Nachdenken über Theater ist, scheint es sinnvoll, an dieser Stelle die hier relevanten Dimensionen des Begriffs zu beleuchten. Dabei sind insbesondere sozialwissenschaftliche und theaterwissenschaftliche Konzepte von Belang. In den Kultur- und Sozialwissenschaften wird der Begriff "performativ" bevorzugt dort verwendet, wo er auf den konstitutiven Charakter sozialer Handlungen verweist. Besonders Judith Butler, Pierre Bourdieu und Michel Foucault haben darauf hingewiesen, dass soziale Konstruktionen, Institutionen und praktisches Wissen durch performative Akte erzeugt werden und deren macht- bzw. identitätspolitische Implikationen untersucht. 55 In diesem Kontext bezieht sich der Begriff des Performativen nicht nur auf Sprechakte, wie in der Sprachphilosophie, sondem auch auf andere, etwa nonverbale körperliche Handlungen. Zentral ist dabei die Ablehnung essentialistischer Vorstellungen einer gegebenen, stabilen Identität zugunsten eines performativen Identitäts-Konzepts, worauf ich später, in Auseinandersetzung mit Ralph Lemons Inszenierung Searching for Horne, noch einmal kommen werde. Subjektivität konstituiert sich zum Beispiel nach Judith Butler durch performative Akte, die bestimmte Normen - etwa hinsichtlich "Geschlecht" oder "Rasse" - immer wieder reproduzieren und ist diesen nicht vorgängig. Bei der Untersuchung theatraler Phänomene ist dieser Performativitätsbegriff jedoch nur begrenzt zweckmäßig. 56 55
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Derrida hat insbesondere auf die Macht der Sprache durch die Nonnativität des Zilierens hingewiesen, während Bourdieu den Zusammenhang von Performativität und sozialkonstitutiver Macht in konkreten gesellschaftlichen Felder untersucht. Foucault hat performative Handlungen als objektivierende Unterwerfung des Anderen zur Produktivität der eigenen Subjektivität untersucht, wobei er sich stets von der Sprechakttheorie, die den Begriff des Performativen ja begründet hat, distanzierte. Butler kritisiert mit dem Performanzbegriff in erster Linie essentialistische Konzepte von Geschlecht und Körper. In Das Unbehagen der Geschlechter führt Butler etwa drag, also die transgeschlechtliche Kostümierung, und subversive Resigniftkation zusammen, was zunächst die Gleichsetzung von Perfonnativität mit Verkleidung oder körperlichem Ausdruck nahelegt Sie sind für Butler aber nicht das gleiche: "Die Performativität ist [ ... ] kein einmaliger ,Akt', denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen, und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwmi einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist. Da1über hinaus ist dieser Akt nicht in erster Linie theatralisch; seine augenscheinliche Theah·alik wird in dem Umfang hergestellt, in dem seine Geschichtlichkeit verborgen bleibt und umgekehrt gewinnt seine Theatralik eine gewisse Unvermeidlichkeit angesichts der Unmöglichkeit, seine Geschichtlichkeit vollständig aufzudecken." (Butler 1997: 36) Butler differenziert also zwischen Performativität und Theatralität. Der Schlüssel liegt in Butlers einseitigem Begriff von "Theatralität" bzw. "Theatralik", der nur auf Repräsentation zielt. Theatralität
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Theaterwissenschaft und performance studies befassen sich naheliegenderweise mit theatralen Phänomenen, weniger mit Performativität im Sozialwissenschaftlichen Sinne. Theoretikern wie Peggy Phelan, Richard Schechner, Victor Turner, Marvin Carlson oder Etika Fischer-Lichte geht es um Aufführungen, zu denen auch andere cultural performances als das Theater - Rituale, Zeremonien, Sportereignisse - gezählt werden. Während die Sozialwissenschaftler in ihrer Theorie des Performativen stark dessen normative Aspekte herausarbeiten, betonen sie eher den transgressiven Charakter, der in der Liminalität performativer Phänomene und Genres liegt. Phelan entwickelt in Unmarked: The Politics ofPerformance (1993) ihren Performanz-Begriff aus der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, der Live-Qualität, der Gegenwart lebendiger Körper, weshalb sie die Kunstform der Performance als eine "Kunst des Verschwindens" versteht. Phelan leitet aus diesem ephemeren Charakter eine gewisse Widerständigkeit gegen Identitätspolitik qua visueller Repräsentation und Reproduktionslogik ab (vgl. Phelan 1993: 29ff.). Diese Argumentation ähnelt Konzepten eines Strangs der Performance-Kunst insbesondere seit den 1970er Jahren, die in dem "Nicht-Werk-Charakter" eine Subversion der Mechanismen des Kunstmarktes sahen. 57 Ich knüpfe hingegen, da er mir ftir den theaterwissenschaftlichen Gebrauch am angemessensten erscheint, im Wesentlichen an den Performativitätsbegriff Fischer-Lichtes an. Sie versteht Performativität als " 1. Eine durch den Vollzug spezifischer Prozesse hervorgebrachte und fokussierte Mate1ialität, 2. Eine durch die gleichzeitige körperlicher Anwesenheit von Akteu-
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ist aber nicht der Gegensatz von Performativität, sondern gJUndsätzlich etwas anderes. Wie Fischer-Lichte darlegt, setzt sich Theatralität aus vier Aspekten zusammen: TnszenieJUng (Zeichenverwendung), Korporalität (Mate1ialität), Wahrnehmung (Zuschauer und Rezeption) und "das ambivalente Zusammenspiel dieser Faktoren( ... ), die Performance." (Fischer-Lichte 2001: 285) Traditionell werden unter "Performance" AuffuhJUngen von Künstlern verstanden, die weniger aus einem Theaterkontext kommen, sondern vorwiegend aus dem der bildenden Kunst oder aus der Musik: So gilt John Cages Untitled Event (1952) vielen als Beginn der Performancekunst; Allan Kaprow ging es Ende der 1950er um Interdisziplinarität, als er mit seinen Happenings die medialen Beschränkungen der Malerei zu überwinden versuchte, Yves Kleins Action-Painting-Events und die Body Art stehen ebenfalls in diesem Zusammenhang. Trotz der formalen Ähnlichkeit - physische Ko-Präsenz von Performern und Publikum, Live-Charakter - wurde lange eine Differenz zwischen Theater und Performance behauptet, z.B. von Kaprow, die allerdings auf einem recht engen Theaterbegriff basiert. Nach Marvin Carlson entwickelte sich die "theatrale Performance" in den frühen 1980ern beispielsweise mit Laurie Andersans United States und dann in der nicht-literarischen Theaterarbeit etwa eines Robert Wilson (vgl. Carlson 1996: 114f.). Im Schaffen von Performern wie Spatding Gray oder Karen Finley wurde diese Entwicklung fortgesetzt (vgl. Goldberg 1993).
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts ren und Zuschauern ermöglichte Aushandlung der Beziehungen zwischen beiden Gruppen, 3. von den jeweiligen materiellen (sinnlichen) Qualitäten der verwendeten Elemente und von der Art sowie dem Kontext ihrer Verwendung abhängige und prinzipiell unabschließbare semiotische Prozesse [ ... ]" (Fischer-Lichte 2001: 327)
Damit, und darin liegt der entscheidende Punkt, macht Fischer-Lichte deutlich, dass performative und semiotische Aspekte von Theateraufführungen nur analytisch voneinander zu trennen und theaterwissenschaftlich gleichermaßen von Interesse sind. Festzuhalten ist, dass der Begriff des Performativen sich auf die Bedingungen der Darbietung und Wahrnehmung bezieht, auf, mit Paul Zumthor formuliert, die "kommunikative Handlung als solche" und er "auf einen Zeitpunkt, der als Gegenwart erfahren wird, wie auch auf die konkrete Anwesenheit von Teilnehmern, die unmittelbar in die Handlung einbezogen sind" verweist (Zumthor 1995: 703f.). Der Begriff des Performativen zielt damit nicht auf Repräsentation, nicht auf "Bedeutung" oder "Sinn", sondern auf Präsenz. Sinnkulturen und Präsenzkulturen Die Frage nach "Sinn" und "Präsenz" ist dabei nicht nur eine, die sich in Auseinandersetzung mit ästhetischen Gegenständen stellt: So unterscheidet Hans Ulrich Gurubrecht zwischen "Sinnkulturen" und "Präsenzkulturen", wobei diese unter anderem hinsichtlich des Selbstbezugs ihrer Mitglieder, in ihrem Verhältnis zur Welt, ihrem Begriffvon Wissen und ihren unterschiedlichen Zeichenbegriffen differieren. Nach Gurubrecht lässt sich - grob zusammengefasst - eine Sinnkultur, wie sie beispielsweise die abendländischen aufgeklärten Kulturen tendenziell sind, dadurch charakterisieren, dass der wichtigste Gegenstand des Selbstbezugs der Menschen, die sich in ihrem Verhältnis zur Welt als exzentrisch begreifen, das vernünftige und erkennende Subjekt ist. In einer Präsenzkultur spielt dagegen der Körper die dominante Rolle und die Menschen sehen sich selbst als Bestandteile der Welt, einer Kosmologie oder göttlichen Schöpfung. Wissen ist in einer Sinnkultur nur legitim, wenn ein Subjekt es in einem hermeneutischen Akt produziert hat. In einer Präsenzkultur gilt als höchstes Wissen, was "offenbart" wurde (vgl. Gurnbrecht 2004: 101 ). Dieses Wissen muss nicht notwendig und nicht ausschließlich die Form haben, die in einer sinnfundierten Kultur als die einzige ontologische Form gilt, in der Wissen überhaupt vorkommen kann: Es ist nicht unbedingt begrifflicher Art. In einer Sinnkultur weist ein Zeichen als Verknüpfung eines rein materiellen Signifikanten mit einem rein geistigen Signifikat eine metaphysische Struktur auf; sobald der Sinn erschlossen ist, wird der Signifikant irrelevant. Eine Präsenzkultur kennt die Unterscheidung zwischen dem rein Geistigen und dem rein Materiellen dagegen nicht. Wie Sybille Krämer es formuliert:
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"Das, was wir gewöhnlich als ,Aufklärung' bezeichnen[ ... ) kreist um eben diesen Gravitationspunkt, an die Stelle einer magischen Ineinssetzung von Zeichen und Bezeichnetem eine klare Demarkationslinie zu ziehen. Das ist der Lebensnerv der Tdee der ,Repräsentation': Nicht Epiphanie, also Gegenwärtigkeit, vielmehr Stellvertreterschaft, also Vergegenwä1iigung, ist das, was die Zeichen für uns zu leisten haben." (Krämer 2002: 323)
Krämer nennt das der Semiotik und ihrem Konzept von Repräsentation eigene Weltverhältnis daher "Zwei-Welten-Ontologie" (ebd.: 324). Zum Denken in Dichotomien In der okzidentalen Denktradition hat sich mit der Bevorzugung des Sinns nicht nur ein expansiver Rationalismus, sondern auch ein dichotomisches Denken durchgesetzt, in dem Subjekt und Objekt, Vernunft und Körper, Disziplin und Chaos, Kultur und Natur, Signifikat und Signifikant als miteinander unvereinbare Begriffe gegenübergestellt werden (vgl. Wimmer, F.M. 2004: 54f.). Der Knackpunkt dabei ist, dass dieses Denken in Dualismen die scharfe Abgrenzung vom Anderen impliziert denn diese birgt eine ethisch-politische Dimension: Durch Definition und Ausschluss des Anderen wird ein Selbst entwickelt, das als Norm und Subjekt gilt. Diejenigen, die damit in die Sphäre des Anderen geraten, werden als Gegensätze zur Norm konzipiert, als (wissenschaftliche) Objekte definiert und abgewertet. Deshalb ist der Eurozentrismus, wie ich bereits erläutert habe, auch geistesgeschichtlich nicht von der Aufklärung zu trennen: Gleichzeitig mit der kolonialistischen Ausbeutung und Unterdrückw1g anderer Völker festigte sich das europäische Menschenbild und es wurde ein Überlegenheitsanspruch formuliert, der in der Idee des geschichtlichen Fortschritts und einer als universal begriffenen europäischen Vorstellung vom Menschen als Vernunftsubjekt seine Legitimation fand. So zieht sich auch ein drastischer Rassismus durch das Denken Kants und Hegels. Im abendländisch geprägten Denken, das tendenziell logozentrisch und patriarchalisch ist, sind Binarismus als formale Eindeutigkeit, Bewusstsein, Sprache und Visualität (die meist auch noch mit "männlich" und "zivilisiert" assoziiert werden) positiv konnotiert und identitätsstiftend. Das Diffuse oder Amorphe, Sprachlosigkeit, Unbewusstes und die leibzentrierte Wahrnehmung, die auch olfaktorisch und taktil funktioniert (und als "weiblich" oder "wild" gilt), werden ehernegativ bewertet und dem Anderen zugeschrieben, von dem man sich abzugrenzen sucht. Zugespitzt lässt sich formulieren: Das Performative, so wie wir es hier verstehen, ist das "Andere" und "Fremde".
Es ist daher kein Zufall, dass mit der Ethnologie das Perforn1ative stärker in den Blick gerückt ist und sie entscheidend am performative turn mitbeteiligt war. Das für die europäische Philosophie typische Denken in Dualismen oder Dichotomien ist zudem anderswo weniger verbreitet. Erhellend in dieser Hinsicht sind die "Ortswechsel des Denkens" zwi101
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sehen Europa und China, die der Philosoph und Sinologe Francois Jullien vornimmt, um das europäische Konzept der Vernunft zu öffnen: "[ ... ] das griechische Denken, das auf das Prinzip der Gegensätze baut und allen Wert der Klarheit zumisst [... ], hat uns in einer Hinsicht auf eigentümliche Weise unserer Mittel beraubt: nämlich das Undeutliche des Übergangs zu denken (oder darzustellen)." (Jullien 2003: 111 )58
Es sei hier exemplarisch auf den chinesischen Begriff yi hingewiesen, der für die traditionelle chinesische Ästhetik zentral ist. Er wird zur Charakterisierung von Kunstwerken benutzt und bedeutet so viel wie Idee, Lebenskraft, Intention, Bedeutung, Sinn, Gefühl, gerrauer Blick. Es gibt in den europäischen Sprachen kein Wort, das y i korrekt wiedergeben könnte. Wie Jullien erklärt, liegt das "nicht so sehr in der Breite seines semantischen Bedeutungsspektrums begründet, sondern darin, dass yi Ebenen artikuliert, die wir voneinander getrennt haben: die Ebenen der Bedeutung und der Lebensenergie, des Begehrens und der Idee." (ebd.: 146). Der Begriff impliziert also, dass das Kunstwerk niemals vollständig objektivierbar ist, er fasst das Oszillieren. Dieses Beispiel aus der chinesischen Philosophie soll hier nicht vertieft werden, es soll lediglich illustrieren, dass gerade im interkulturellen Kontext die Begrenztheit unserer Denkmodelle und Begrifflichkeiten kritisch zu reflektieren ist. Was nicht heißt, dass ich gegen Sinn und Verstehen anschreiben möchte, mein eigenes cartesianisches Erbe der abendländischen Kultur negieren will oder das dichotomische Denken auf eine "okzidentalen Ordnungsbesessenheit" (Waldenfels 1998: 24) zurückführe. Wichtig erscheint mir jedoch im Blick zu behalten, dass unsere traditionelle wissenschaftliche Herangehensweise nur heuristische Denkhilfen und operative Begriffe zur Verfügung stellen kann, die dazu dienen, wichtige Aspekte zu fassen, aber nicht abschließend und absolut sein können. Es lässt sich sagen, dass auch in Bezug auf das Theater mit den dichotomisch konzipierten Begriffen, die entweder mehr auf Sinn oder mehr auf Präsenz zielen, d.h. auch: mehr auf Semiotizität oder mehr auf Performativität, eine bestimmte Wertung verknüpft ist. Und so ist es gerade auch ihr performativer Charakter, der die oralen Überlieferungen, die Lieder und Tänze, von denen Christopher Balme in obigem Zitat spricht, aus 58
In Das Wesen des Nackten beschäftigt sich Francais Jullien mit dem Phänomen, dass der nackte menschliche Körper in der europäischen Kunst eine zentrale Stellung hat, während es im chinesischen Kulturraum traditionell keine Akte gibt - trotz der hoch entwickelten Personendarstellung in Malerei und Bildhauerei. Jullien argumentiert, dies habe mit anderen Denkmodellen zu tun: Hier herrsche ein anatomisches Körperkonzept vor, dort ein energetisches, hier das Denken in der Subjekt-Objekt-Ontologie, dort in permanentem Austausch (vgl. Jullien 2003: 85ff.). 102
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einer eurozentrischen Perspektive einen unteren Platz in der Wertehierarchie einnehmen lässt. Es handelt sich aber, dies muss erneut unterstrichen werden, bei der Unterscheidung von Präsenz- und Sinnkulturen um eine Idealtypologie, nicht um eine Realitätsbeschreibtmg; reale Kulturen stehen eher dem einen oder dem anderen Typus nahe, keine geht aber völlig in einem der beiden auf. Und so ist die Dichotomie zwischen Perfonnativität und Semiotizität eine künstliche, konstruierte, die selbst dem abendländischen Denken verhaftet ist. Auch noch nach dem sogenannten performative turn der Geisteswissenschaften in den 1990er Jahren wird der Gegensatz zwischen den als textuell konstruierten abendländischen "Sinn"-Kulturen und den als performativ konstruierten außereuropäischen "Präsenz"-Kulturen mit entsprechenden Theaterformen (psychologisch-realistischem Sprechtheater versus "Körpertheater" mit Tanz, Ritual, Akrobatik, Gesang) häufig wenig differenziert gesehen. Die Frage nach Sinn und Bedeutung von ästhetischen Phänomenen ist keine europäische Eigenheit - man denke an die stark kodifizierten asiatischen Theaterformen des No oder der chinesischen Oper mit ihrem Repertoire an Zeichen, deren Ausformung, potentielle Kombinationen und Bedeutungen genau festgelegt sind. Und auch in Gesellschaften, deren Identität sich weniger in Texten und Monumenten als in verschiedenen Arten von cultural performances manifestiert, - wie zum Beispiel in vielen afrikanischen Ländern, deren Theaterformen traditionell stärker auf performativen Aspekten wie Musik und Tanz basieren- gab und gibt es originäres textbasiertes Theater. Umgekehrt kennen wir europäisches Theater, das mehr performativ ausgerichtet ist als das Sprechtheater, man denke nur an das Volks- und das Musiktheater, den Zirkus, aber auch an die avantgardistischen Strömungen, von denen zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Vorrangstellung des Wortes und damit des Geistes über den Körper in Frage gestellt wurde. 59 Vor diesem Hintergrund müssen Überlegungen zur Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater stattfinden. Die Macht des Blickes
Dazu gehört auch, sich zu vergegenwärtigen, dass die Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater stets die Auseinandersetzung mit dem "Fremden" impliziert. Michel de Certeau bezeichnet Wissenschaften, die 59 Die Fordemng nach einer "Retheatralisierung" des Theaters von Künstlern wie Craig, Appia, Reinhardt, Meyerhold u.a. war, wie Fischer-Lichte schreibt, die Forderung einer totalen "Umstrukturierung der theatralen Materialien, Mittel, Zeichensysteme. Nicht länger mehr sollte die Sprache dominieren, sondern an ihrer Stelle der Körper des Schauspielers im Raum sowie flüchtige asemantische Mittel wie Musik, Licht, Farbe, Geräusche." (Fischer-Lichte 2001: 16) Und auch das zeitgenössische interkulturelle Theater in Europa hat seine Wurzeln im Wunsch, das Theater wieder stärker zu "theatralisieren", ganz abgesehen von der Performancekunst, die sich seit den 1960ern radikal dem Performativen zugewendet hat.
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sich mit dem Andersartigen befassen, als heterologische Wissenschaften und sieht ihre Spezifik darin, dass sie zuerst eine diskursive Herrschaft über ihren Gegenstand herstellen, damit dieser überhaupt intelligibel wird. Heterologien sind nach de Certeau ein für die westliche Modeme typisches Verfahren zur Erkenntniserzeugung. Diese Art Erkenntnis "stellt sich im Verhältnis zum Anderen her; sie bewegt sich (oder ,schreitet') fort, indem sie das verändert, was sie aus ihrem ,Anderen' - dem Wilden, der Vergangenheit, dem Volk, dem Wahnsinnigen, dem Kind, der Dritten Welt- macht." (de Certeau 1991:13). Heterologien haben also unmittelbar mit Macht zu tun: Es ist eine Machtposition, über einen Ort zu verfügen, der als etwas Eigenes bezeichnet werden kann und der als Basis ftir die Organisierung von Beziehungen zu einer Exteriorität dient. Der Beobachter ist geschützt durch seine Logik, seine Terminologie und übt Macht über sein Objekt aus, indem er es benennt. Signifikant ist im Bereich der cultural performances das Phänomen der Hagenbeck'schen Völkerschauen, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein in ganz Europa veranstaltet wurden und als "wissenschaftlich" galten. 60 Der nicht-westliche Mensch wurde dabei, der Möglichkeit des Zurückblickens beraubt, den Blicken der (weißen, männlichen) Zuschauer ausgesetzt. Ein strukturell ähnliches Beispiel sind Peepshows, nur dass das "Andere" dann die Frau ist. Ich habe bereits ausgeführt, dass Edward Said mit seinem Orientalismus-Konzept einleuchtend gezeigt hat, wie ein in erster Linie wissenschaftlicher, durch vorgebliche "Objektivität" sich auszeichnender Diskurs Macht stabilisiert. Dabei ist bezeichnend, dass Said dem Orientalismus als spezifischer Form der Repräsentation einen hohen Grad an Theatralität zuspricht: "The idea of representation is a theatrical one: the Orient is the stage on which the whole East is confined. On this stagewill appear figures whose role it is to represent the !arge whole from which they emanate. The Orient then seems to be, not an unlimited extension beyond the familiar European world, but rather a closed field, a theatrical stage affixed to Europe." (Said 1978: 63)
Theater ist ein Ort der Blicke und nicht lediglich ein ästhetisches Phänomen, sondern in vielerlei Hinsicht immer auch eine spezifische Form sozialer Interaktion: Theater wird meist öffentlich finanziert, in einer 60 Seit dem Ende des 19. Jahrhunde1ts war die exotistische Zurschaustellung von Menschen aus Aflika, Asien und Amerika äußerst populär- von der "Hottentotten-Venus" Saartkje Baartmann über Carl Hagenhecks Völkerausstellungen, die er von 1874 bis 1931 erfolgreich durch Europa touren ließ, bis hin zur Kolonialausstellung von 1931. Die Völkerschauen galten als "lehrreich". Ihre Veranstalter hatten eine Reihe offizieller und inoffizieller Intentionen, wie etwa die Welt- und Menschenkenntnis zu fördern, aber auch, um Kolonialpolitik zu propagieren (vgl. Fischer-Lichte 1995b).
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Gruppe produziert und in einer Gemeinschaft rezipiert. Es existieren reale Beziehungen sowohl zwischen Darstellern/Performern und dem Publikum, als auch den Darstellern und dem Produktionsteam untereinander. 61 Daher verwundert es auch nicht, dass in der ästhetischen Philosophie traditionell umstritten ist, wie das Theater zu bewerten sei: Rousseau fordert in seinem berühmten Brief an d'Alembert, das Theater als Paradigma des asymmetrischen Sehens und Versteckens zu bekämpfen: "[ ... ] stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafiir, daß ein jeder sich im andem erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind." (Rousseau 1988: 462f.)
Es ist zentral, sich in der Beschäftigung mit interkulturellem Theater zu verdeutlichen, dass - gerade auch vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte - ein besonderes Verhältnis zwischen Blickregimen, Theater, Macht, Voyeurismus, Exotismus, Rassismus und Unterdrückung existiert. Wir haben es immer mit einem prekären Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu tun, weil der Blick auf einen Anderen transformierende Kraft hat: "Er vermag, ihn als Ko-Subjekt anzuerkennen oder zum Objekt zu degradieren, ihm Identitäten zuzuschreiben, ihn zu überwachen, zu kontrollieren, zu begehren." (Fischer-Lichte 2004: 100)
Wie Fischer-Lichte betont, ist die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im Theater grundsätzlich reziprok und dynamisch: Es gibt den objektiven Beobachterstandpunkt nicht. Und so kann selbst die "Vierte Wand" des realistisch-psychologischen Theaters nur unzureichend verschleiern, dass die Zuschauer immer selbst auch Teil einer Theateraufführung sind. Der Rezipient ist "Teil und Erzeuger des Prozesses [... ], den er verstehen will" (ebd.: 269). Begreift man mit Fischer-Lichte das besondere Spannungsverhältnis zwischen Performativität und Textualität für Theater als konstitutiv, lassen sich Machtrelationen besser im Blick behalten und mitdenken: Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Eigenes/ Fremdes oder Signifikant/Signifikat verlieren ihre Polarität und beginnen zu oszillieren. Krämer propagiert Performativität deshalb sogar als neues Paradigma jenseits universalpragmatischer, hermeneutischer und kognitivistischer Traditionen und als Befreiung von den Prämissen des "ZweiWelten-Modells" (vgl. Krämer 2002: 324).
61 Theater ist daher traditionell stets auch fiir soziale Repräsentationszwecke eingesetzt worden, sehr augenfällig im Barockzeitalter. Aber auch später wurde Theater immer wieder zur Machtdemonstration oder fiir pädagogische oder agitatorische Ziele instrumentalisiert. Die Nähe zu politischen Inszenierungen ist evident.
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Insgesamt zeichnet sich ab, dass es in der Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater nicht angemessen ist, ohne weiteres auf die bewährten Methoden der Theaterwissenschaft zurückzugreifen. Sie erfordert die Reflexion von Fremdheit und Performativität, da beide für das interkulturelle Theater konstitutive Merkmale sind. Dabei gibt es insofern Parallelen, als beide Phänomene sich relativ hartnäckig einer sachlichen, objektiven Beschreibung entziehen. So definiert sich das Andere, das Fremde ja gerade dadurch, dass es als unvertraut und unverständlich erfahren wird und sich dem distanzverringernden Zugriff des Verstehens verweigert. Das Performative ist schwer in Sprache zu fassen und damit wissenschaftlich ebenfalls nicht einfach zu behandeln. Insbesondere Karl Heinz Bohrer hat auf die enge Verbindung von Perfonnativität und Fremdheit hingewiesen. So vertritt er die These, dass Kunst häufig nicht auf Verständigung sondern auf Befremdung ziele, und zwar weil in jedem kreativen Akt ein Moment der reinen Gegenwärtigkeit, der Plötzlichkeit und damit Fremdheit liege: "Was könnte anheimelnder sein als eine Vorlesung über - sagen wir, die Geschichte der Renaissance, die Formen des Expressionismus, die Mittel des Happenings oder die Furcht vor dem Unbekannten? Der gelehrt oder verstehend über Kunst und Literatur Redende macht nämlich das Unbekannte an der Renaissance, dem Expressionismus, dem Happening, dem Unbekannten zum Bekannten, indem er das ästhetisch Aufregende, ja nicht Erklärbare auf den kulturellen Begriffb1;ngt und in einen so genannten historischen Zusammenhang stellt. Was hingegen kann unheimlicher sein, als wenn dieser einlullende Kontext auf einmal verweigert wird?" (Bohrer 1981: 69)
Dieses Moment liegt laut Bohrer in jeder kreativen Handlung, und allein schon deshalb sollte dem Performativen bei der Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater entsprechend Raum gegeben werden: "Diese Provokation, die in jedem kreativen Akt liegt, kommt also nicht nur aus der provokatorischen Botschaft. Sie liegt schon in der reinen Gegenwärtigkeit, die eine ,Verwirrung des Geftihls' hervorrufen kann, wenn keine bekannte Struktur sofort erkennbar wird." (ebd.: 70)
Es stellt sich damit die Frage, welche Form der Auffiihrungsbeschreibung und -analyse für interkulturelles Theater geeignet erscheint. Meine These ist, dass dieses methodologische Problem nur gelöst werden kann, wenn man sich auch hier von einem dichotomischen Denken (das Eigene - das Fremde und Semiotizität - Performativität) trennt und eine pragmatisch ausgerichtete Vorgehensweise wählt, die anstelle des "Entwederoder" ein "Sowohl-als-auch" setzt.
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Ästhetik des Performativen als notwendige Ergänzung Nicht erst mit Susan Sontags programmatischem Essay Against Interpretation ist die hermeneutische Herangehensweise an Kunstwerke immer wieder kritisiert worden. Unter "Interpretation" versteht Sontag freilich nicht Bedeutungskonstitution im Allgemeinen, sondem eine rein kognitiv ausgerichtete hermeneutische Tradition, die nur auf einen bestinunten "Inhalt" und "Sinn" zielt (vgl. Sontag 1968: 13). Schon früher wurde in der abendländischen Denk- und Literaturtradition ähnliche Kritik laut, so schreibt 1799 sogar der junge Friedrich Schleiermacher, der später zum Begründer der neueren Hermeneutik avancierte: "Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wuth des Verslehens den Sinn gar nicht aufkommen lässt, und wie Alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt deßelben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerückt werde." (Schleiermacher (1799) 1999: 120).
Der semiotic turn hat die Erforschung von Bedeutungen in den Geistesund Kunstwissenschaften seit den 1970ern fest etabliert; ihr eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Performative zur Seite zu stellen, ist seit dem performative turn der 1990er die Herausforderung. Sicherlich will eine künstlerische Arbeit bzw. eine Theateraufführung nach wie vor wie ein Text gelesen, betrachtet oder gehört werden, und es ist Martin Seel grundsätzlich beizupflichten, wenn er den Unterschied zwischen Kunstwerken und anderen Gegenständen ästhetischer Wahmehmung darin sieht, dass sie in "[ ... ] in ihrem performativen Kalkül verstanden sein wollen. Dieses Verstehen muss sich nicht verbal vollziehen, es kann sich auch in leiblicher Bewegung entfalten, etwa beim Tanzen zu einer Musik oder bei mit allen Sinnen tastenden Erkundung einer Rauminstallation; dennoch entfaltet es sich grundsätzlich im Kontext einer interpretativen, imaginativen und manchmal reflexiven Erschließung der künstlerischen Objekte. Jn dieser Angewiesenheil auf implizites oder explizites Verstehen liegt eine weitere wichtige Differenz zu ästhetischen Objekten der Kontemplation und der Korrespondenz. Bei diesen gibt es oft nichts zu verstehen." (Seel 2003: !58)
Der Clou dabei ist, dass die Sinnlichkeit und die Intellektualität von Kunstwerken eine Sache sind, d.h. ein Kunstwerk will nicht nur verstanden, sondern auch in seinem phänomenalen Sein, seiner spezifischen Materialität, seiner sinnlichen Qualität beachtet werden. Daher bezeichnet Gumbrecht ästhetische Erfahrung als Oszillieren zwischen "Präsenzeffekten" und "Sinneffekten" (Gumbrecht 2004: 18). Viele Theatermacher- ganz besonders der Avantgarden im 20. Jahrhundert- betonen die "Präsenzeffekte" und wenden bewusst Strategien an, die eine eindeutige Dekodierung verhindern sollen. Wenn ein Rezipient sich dann nicht auf 107
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andere Sicht- und Erlebensweisen einlassen kann, missglückt die theatrale Kommunikation. Insofern fordern solche Aufführungen unsere gewohnte Rezeptionshaltung heraus. Und auch die Methoden der Theaterwissenschaft: Fischer-Lichte hat deshalb als Ergänztmg und Weiterentwicklung ihrer Theatersemiotik, basierend auf Aufführungen von Theater- und Performancekünstlern seit den 1960er Jahren, eine Ästhetik des Performativen entworfen. Dabei hat sie ihre These untermauert, dass die Semiotizität einer Aufführung nicht im Gegensatz zu ihrer Perfonnativität zu begreifen ist, sondern nur im Kontext einer Ästhetik des Performativen (vgl. Fischer-Lichte 2004: 269). Die Wahrnehmung sinnlicher Qualitäten oder die Affektauslösung können von Prozessen der Bedeutungserzeugung begleitet oder sogar motiviert sein: Theater ist und zeigt gleichermaßen (vgl. Seel2003: 280). Das Vorhaben, in den folgenden Kapiteln drei Theateraufführungen zu einem bestimmten Diskurs in Bezug zu setzen, nämlich dem um interkulturelles Theater, bedeutet also nicht, dass es ausreicht, ihre textuelle Dimension zu betrachten. Denn die Bezugspunkte sind in der Regel nicht gleichermaßen explizit wie in wissenschaftlichen Erörterungen oder Thesenstücken. Trotzdem werden auf der Bühne Fragen interkultureller Kommunikation und kultureller Identität verhandelt; dies lässt sich feststellen, wenn man die Formsemantik in den Blick nimmt, die gestalterischen Verfahren auf ihre Implikationen untersucht und die Inszenierung daraufhin analysiert, wie sie Zeichen verwendet, semiotische und performative Aspekte mischt und die Wahrnehmung steuert. Zum Fassen des Flüchtigen
Das Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten in Situationen ästhetischen Erlebens ist allerdings schwierig zu fassen. Gurubrecht zielt mit dem Begriff der Epiphanie auf das Gefühl des Unvermögens, Präsenzeffekte festzuhalten - und damit auch die Simultaneität, die Spannung, das Oszillieren zwischen Präsenz und Sinn (vgl. Gurubrecht 2004: 13lf.). Die Flüchtigkeit performativer Phänomene wirft methodische Probleme auf, wenn man sich ihnen wissenschaftlich widmen will. Man könnte sich daher damit begnügen, der Perfonnativität eine operativ-kritische Rolle zuzuweisen, wie Sybille Krämer vorschlägt: "Nicht zufallig kommt ,performativ' vor im Zusammenhang binärer Begriffsschemata: konstativ/performativ; Kompetenz/Performanz. Aber kann ,Performativität' ein Alternativkonzept zu , Textualität' oder ,Repräsentationalität' abgeben? Oder ist - im Sinne der destabilisierenden Wirkung des Performativen im Rahmen dichotomischer Begriffsbildungen und theoretischer Klassifikationen - das Denken des Performativen eher dazu gut, die Grenzen begrifflicher Klassifikationen aufzuweisen, ohne selbst dabei ein theoretisierbares Konzept zu sein?" (Krämer 2002: 346)
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Und tatsächlich steht eine fundierte Ästhetik des Performativen noch am Anfang und muss interdisziplinär weiter ausgearbeitet werden (vgl. Fischer-Lichte 2001: 150). Die traditionelle europäische Ästhetik liefert mit ihrem primären Interesse am ästhetischen Urteil bzw. der Konzentration auf das ästhetische Objekt jedenfalls nur wenig Anknüpfungspunkte, wie Gernot Böhme verdeutlicht: "Obgleich Epiphanie, Erscheinung, das Scheinen eine zentrale Rolle in der Ästhetik spielen, wird der, dem etwas erscheint, quasi wie ein außerirdisches Subjekt behandelt und nicht in seiner leiblichen Anwesenheit. [... ] Positiv gewendet hätte eine neue Ästhetik dagegen Wahrnehmung als Weise leiblicher Anwesenheit zu entwickeln und die affektive Betroffenheit durch den Gegenstand der Wahrnehmung zu be1ücksichtigen." (Böhme 2001: 31)
Während in der semiotischen Ästhetik die Bedeutung das zentrale Problem ist, müssen bei der Untersuchung des Performativen sinnliche Qualitäten und ihre spezifische Wirkung auf die Rezipienten im Vordergrund stehen- physiologische wie emotionale Reaktionen etwa. Unter sinnlichen Qualitäten kann man sich zum Beispiel die besondere Gestalt, Präsenz, Energie und Ausstrahlung eines Körpers vorstellen, den Rhythmus und die Qualität von Tönen, Geräuschen, Bewegungen, die Eigenart und die Atmosphäre von Räumen usw. Außerdem ist das Verhältnis zwischen Zuschauer und Performer in den Blick zu nehmen, die Konstitution und Erfahrung von Raum und Zeit und das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem, von Präsenz und Repräsentation bzw. das Entstehen von Bedeutung (vgl. Fischer-Lichte 2001: 149). Fischer-Lichte plädiert für eine phänomenologische Herangehensweise, da diese ihrer Meinung nach dem ganzheitlichen Charakter des Performativen am ehesten entspricht. Hier ist ihr zuzustimmen: Die Phänomenologie hat mit dazu beigetragen, dass sich seit einiger Zeit die Wiederentdeckung des menschlichen Leibes, eine Rehabilitierung von Sinnlichkeit, Präsenzerfahrung und Ereignishaftigkeit im Kontext ästhetischer Fragestellungen durchsetzen. Mit Merleau-Ponty etwa lässt sich ein Gegenbild zu dem traditionellen Modell von Objektivität denken, nach dem die Wahrnehmung allem Denken vorausgeht - Wahrnehmen bedeutet für Merleau-Ponty, sich etwas mithilfe des Leibes zu vergegenwärtigen (vgl. Merleau-Ponty 2003: 27). Die Phänomenologie lehnt die Vorstellung vom entkörperten Blick ab, der in Anspruch nimmt, eine als a priori angenommene Natur lediglich zu beschreiben: der vermeintlich neutrale Blick wird zu einem konkreten Blickwinkel. Und so legt die Phänomenologie ihr Augenmerk vor allem auf ästhetische Erfahrung, weniger auf Interpretation oder ästhetisches Urteil und ist damit der Aisthesis wesensverwandt, dem aristotelischen Konzept von Wahrnehmung als sinnlicher Wahrnehmung. Entscheidend ist, dass dieses Konzept das Denken nicht ausklammert:
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts "Schon von der einfachsten sinnlichen Wahrnehmung gilt, dass reflexive Strukturen in sie eingebaut sind, und zumal bei emphatischen Wahrnehmungen so offenkundig, dass sie von sich aus Reflexionen anstoßen und einer solchen Fortsetzung auch bedürfen. Daher bedeutet das Votum für ein ,ästhetisches Denken' keineswegs ein simples Plädoyer für Empfindung, Gefühl, Affekt und dergleichen -jedenfalls so lange nicht, wie man diese Phänomene noch h·aditionell also im Schema einer Gegenüberstellung zu Reflexion, Gedanke, Begriff denkt." (Welsch I 991: 54f.)
Allerdings, und hier liegt ein gewisses praktisches Problem auch für die vorliegenden Ausführungen, gibt es im Gegensatz zur semiotischen Aufftihrungsanalyse, die seit Jahrzehnten wissenschaftlichen Standards entspricht und stetig weiterentwickelt wurde, noch wenig Erfahrungen mit phänomenologischen Aufftihrungsanalysen. Selbst Fischer-Lichte beschränkt sich darauf, einzelne Bereiche zu bearbeiten: etwa die Atmosphäre des Theaterraums, die spezifische Körperlichkeit der Schauspieler und die Ereignishaftigkeit der Aufführung (vgl. Fischer-Lichte 2001: 257ff.). Auch ich werde versuchen, diese Aspekte in den folgenden Kapiteln angemessen zu berücksichtigen. Dabei scheint mir zentral, dass sich alles, was ich zu der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ausgeführt habe, auch auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theateraufführungen beziehen lässt: Eine Aufführungsanalyse wird niemals im traditionellen Sinn als "objektiv" gelten können. Die Tatsache der Subjekthaftigkeit von Erkenntnis empfindet man zwar leicht als Gefährdung der Validität und Legitimität der Untersuchungsergebnisse, es führt allerdings kein Weg daran vorbei, sie zu akzeptieren. Die epistemologische Situation zeichnet sich durch Standpunktgebundenheit aus, sie ist geprägt durch die Erkenntnismittel, die Eigenschaften des Subjekts und durch Interventionshaftigkeit. Dieses Problem wurde in der Theaterwissenschaft bisher erst unzureichend in einer konkreten Methodik verarbeitet und auch ich kann nur probieren, ihm mehr oder weniger systematisch selbstreflexiv zu begegnen. Das bedeutet den Versuch, mich selbst als wahrnehmendes Subjekt und meine Erkenntnistätigkeit in die Beschreibungen und Reflexionen einzubeziehen, indem ich die leibhaftigpersonal-soziale Interaktion berücksichtige. Im vorliegenden Kontext war als Umstand etwa von großer Bedeutung, dass ich in der Regel mit einer Aufführung konfrontiert wurde, welche aus einem mir relativ fremden Kulturkreis stammte und in der Sprachen zum Einsatz kamen, die mir weitgehend unverständlich waren. Ich ging oft mit der Kenntnis des Stückinhalts oder einer Synopsis ins Theater, hatte vorher Presseankündigungen oder Interviews mit Beteiligten gelesen, verfolgte während der Aufführung englische oder deutsche Übertitel, die auf Portalwände projiziert wurden- alles Faktoren, die Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution bestimmten. Zudem war ich von einem bestimmten Erkenntnisinteresse geleitet: Interkulturelle Prozesse auf dem Theater können, das sollte deutlich geworden sein, unter vielen Gesichtspunkten betrachtet 110
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werden. Ich tat dies aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive heraus. Damit habe ich mich nicht der Möglichkeit entledigt, politische, historische, gesellschaftliche, ideologische, ethische und psychologische Aspekte mit einzubeziehen oder mich unterhalten zu lassen. Mir ging es aber in erster Linie darum, herauszufinden, wie heutzutage interkulturelles Theater gemacht wird, was für Konzepte, ästhetische Prinzipien und Strategien zugrunde liegen. Da die Kritik am interkulturellen Theater der 1980er und 90er Jahre im Wesentlichen eine postkoloniale und damit identitätspolitische ist, habe ich mich entschlossen, diese Themen besonders ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu rücken. Bevor ich mich den drei Inszenierungen zuwende, noch eine letzte Bemerkung: Wolfgang Iser hat anschaulich erläutert, dass beim Schreiben, wetm man es als Transformation einer Referenzwelt versteht, etwas Neues entsteht (vgl. Iser 2002: 243). Dies gilt für die folgenden Aufflihrungsanalysen in besonderem Maße: Die Beschreibung von Theateraufführungen unterscheidet sich aufgnmd der Ereignishaftigkeit des Theaters von der Untersuchung anderer Kunstwerke, die über Artefakte verfügen, dadurch, dass sie sich auf Erinnerung stützen muss. 62 Hinzu kommt die Nicht-Kommunizierbarkeit vieler ästhetischer Phänomene und die Tatsache, dass, mit Adomo ausgedrückt, die beliebige, allgemeine "Kommunizierbarkeit eines jeden Gedankens" eine Fiktion ist (Adorno [1951] 200 I: 142). Gerade performativen Aspekten einer Aufführung, 62 Grundlage der folgenden Aufführungsbeschreibungen waren mehrere Besuche der einzelnen Aufführungen. Bei diesen fe1iigte ich stichwortartige Protokolle an, um bemerkenswerte Beobachtungen, subjektive Erfahmngen und Eindrücke festzuhalten. Mit diesen Notizen versuchte ich in erster Linie, die performativen, die Präsenzeffekte einzufangen, es ging um das leibliche Spüren von Energien und Atmosphären, auch wenn sich diese kaum sprachlich präzise fassen lassen. Erst bei der weiteren Analyse wurde übrigens klar, wie wertvoll diese stark selbstreflexiven Aufzeichnungen waren, die vor allem Irritationen, auftauchende Fragen, Verständnisschwierigkeiten beschrieben: Sie verdeutlichten, wie in den nachfolgenden Auffühmngsanalysen nachzuvollziehen sein wird, dass die Inszenierungen sich teilweise gerade dadurch auszeichneten, dass sie ästhetische Wahrnehmung mit ihren Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen selbst zum Thema machten und so den Zuschauern ermöglichten, sich im Vollzug damit zu befassen. Bei der Verfe1iigung der Analysen am Schreibtisch dienten dann zusätzlich Videoaufnahmen als Hilfsmittel ; durch die Möglichkeit des mehrmaligen Anschauens, des Zurück- und Vorspulens, der Zeitlupenfunktion, wurden Details rekonstruierbar, die in den Notizen oder der Erinnerung nur als Gesamtheit vorkamen. Videos ermöglichen zu sehen, wie etwas gemacht wurde - unmittelbare emotionale, assoziative und körperliche Reaktionen sind dagegen in den Aufführungen selbst besser festzustellen. Die Videobänder konnten deshalb nur als Gedächtnisstütze dienen und den Besuch einer Aufführung und andere Aufzeichnungen nicht ersetzen (vgl. zum Problemkomplex Erinnerung, Aufzeichnung und Notation in der Aufführungsanalyse: Fischer-Lichte 200 I: 238-244). 111
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wie etwa der Körperlichkeit der Schauspieler, kann man sich auch durch noch so sorgfältige Beschreibungen lediglich annähern. 63 Und schließlich veränderten sich meine Wahrnehmung und das Verständnis des Geschehens erheblich, je länger ich mich damit beschäftigte. Mit dem Prozess des Schreibens und des Bezugs zu allgemeinen Theorien verselbständigte sich das wissenschaftliche Produkt, der Text. Das heißt, dass die Auffuhrungsbeschreibungen, die hier in gewisser Weise mimetisch etwas repräsentieren sollen, gleichzeitig auch performativ etwas hervorbringen, das einen anderen Ursprung hat als das, was repräsentiert werden soll. Dies gilt es, in den folgenden Kapiteln, die den Inszenierungen Searching .for Horne von Ralph Lemon, Beyond the killing .field~ von Ong Keng Sen und EI autom6vil g ris von Claudio Valdes Kuri gewidmet sind, im Kopf zu behalten.
63 Eine weitere Herausforderung liegt dmin, dass man sich eigentlich nicht auf die Bühnenvorgänge beschränken kann, sondern auch Publikumsreaktionen einbezogen werden müssen, bei denen es sich aber nicht nur um von außen beobachtbare Reaktionen handelt: Eine Aufführung kann Empfindungen evozieren, die sich körperlich ausdrücken und als physiologische, affektive, energetische und motorische Reaktionen beschreibbar sind. Sie können aber auch Gedanken, Vorstellungen und Gefühle hervorrufen, die sich innerkörperlich abspielen. Daher muss ich mich in den folgenden Kapiteln weitgehend auf meine eigenen sowie auf äußerliche Reaktionen im Publikum beschränken und- soweit vorhanden - auf Aussagen von anderen Zuschauern, wie sie sich etwa auch in Rezensionen manifestieren, stützen.
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INTERKULTURELLES THEATER HEUTE: BEISPIELE ZUR PERFORMATIVITÄT VON IDENTITÄT
Searching for Home Ob angesichts von Minstrelsy-Shows , in denen Weiße sich im letzten Jahrhundert die Gesichter mit Ruß einrieben und "Neger"-Witze rissen, oder von tänzerischen Bastrock-Darbietungen auf dem Karneval der Kulturen in Berlin, die ein vermeintlich naturgegebenes "afrikanisches" Rhythmusgefühl zur Schau stellen - gerade in Bezug auf die Darstellung Schwarzer auf der Bühne springt ein enger Zusammenhang zwischen Unterhaltung, Theater und rassistischer Repräsentation ins Auge. Wie bereits ausgeführt, kann ein grundlegendes Problem von interkulturellem Theater darin bestehen, dass es Exotismen und essentialistische Konzepte kultureller, ethnischer oder nationaler Identität in Szene setzt. Stuart Hall hat nachgewiesen, dass selbst heute noch das Bild dunkelhäutiger Menschen in Alltagskultur und Massenmedien durch drei entscheidende Phasen der Begegnung des Westens mit Schwarzen geprägt ist: Dem Kontakt mit den westafrikanischen Königreichen ab dem 16. Jahrhundert, durch den der Sklavenhandel in Gang kam, die Kolonisierung Afrikas im 19. Jahrhundert und die Migration von Afrikanern aus der "Dritten Welt" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Hall 1997: 239). Am 3. Juni 2003 wurde in Berlin Searching for Horne von Ralph Lemon aufgeführt. Die Aufführung lässt sich als eine kritische Auseinandersetzung mit eben solchen Inszenierungen Schwarzer lesen. Es handelt sich um eine frühe Version des späteren Stücks Corne Horne Charley Patton, das den dritten Teil der Trilogie Geography des afroamerikanischen Tänzers, Choreographen und Regisseurs bildet. 64 Im Folgenden wird die Aufführung zunächst in Bezug auf den Zusammen64 Gezeigt wurde sie im Haus der Kulturen der Welt. Die Premiere des fertigen Stücks Come Horne Charley Patton fand am Krannert Center in Urbana im September 2004 statt. Regie und Choreographie: Ralph Lemon; Sound: Christian Marclay; Bühne: Nari Ward; Licht: Rick Murray; Video: Chelsea Lemon Fetzer, Ralph Lemon, Mike Taylor; Dramaturgie: Katherine Profeta; Darsteller: Djedje Djedje Gervais, Darrell Jones, Ralph Lemon, Gesel Mason, Okwui Okpokwasili und David Thomson.
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hang von kulturellen Kategorisierungen und rassistischer Stereotypisierung betrachtet. So ist das scheinbar harmlose Sprechen von "schwarzer Musik" oder "schwarzem Tanz" im Kontext eines Repräsentationsregimes zu sehen, das durch die Vorstellung einer einheitlichen schwarzen Identität sehr problematische lmplikationen enthält - auch in seinen "positiven" Ausprägungen a la "Schwarze haben den Rhythmus im Blut". In Searchingfor Horne werden, und das ist das Interessante, diese identitätspolitischen Probleme nicht bloß zeichenhaft-repräsentativ verhandelt: Indem die Inszenierung Fragen nach der Ästhetik des Theaters, nach Verkörperung und Mimesis zu ihren wesentlich eigenen Fragen macht, macht sie erfahrbar, dass der Körper immer zugleich Natur und Kultur ist und befragt so die Konstitution von Identität ganz fundamental. Dies wird im zweiten Teil der folgenden Aufführungsanalyse konkretisiert, wobei es auch um Möglichkeiten von Subversion und Widerstand gehen wird. Searching for Horne bringt aber nicht nur ein performatives Konzept von Identität auf die Bühne, sondern auch von Raum. "Geographie" und "Heimat", zwei wichtige Begriffe für Ralph Lemon, wie bereits die Titel der gesamten Trilogie und des hier untersuchten dritten Teils verdeutlichen, erscheinen vor diesem Hintergrund einer tiefergehenden Reflexion würdig. Es handelt sich um Konzepte, die früheren Formen interkulturellen Austauschs und Theaters relativ unhinterfragt zugrunde gelegt wurden. Klare Grenzziehungen und die kartographische Aufteilung der Welt in distinkte Kulturräume sind allerdings eng mit Kolonialismus und Eurozentrismus verbunden. Bei Lemon werden sie, wie zu sehen sein wird, radikal dekonstruiert.
Die Inszenierung Searching for Horne von Ralph Lemon Ralph Lemon (* 1952) wuchs in Minnesota, USA, auf, wo er auch Literatur- und Theaterwissenschaft studierte. Er war Gründungsmitglied der Mixed Blood Theater Company ofMinneapolis und tanzte in der Nancy Hauser Dance Company. Seit 1979lebt er in New York City, wo er unter anderem mit Meredith Monk zusammenarbeitete und 1985 das Tanzensemble Ralph Lemon Company gründete, das er über zehn Jahre leitete. 1995 rief Lemon die Kompanie Cross Performance Irre. ins Leben, die weniger auf Tanz spezialisiert ist, sondern aus Schauspielern, Tänzern, Musikern, Schriftstellern und bildenden Künstlern besteht. In dieser Zeit begann Lemon auch, an der Trilogie Geography zu arbeiten. Jeder der drei Teile war mit ausgedehnten Forschungsreisen und der engen Zusammenarbeit mit (Theater-)Künstlern aus aller Welt verbunden. Ralph Lemon setzte sich dabei explizit mit dem Thema Interkulturalität auseinander:
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Zur Pertorrnativität von Identität- Searching for Home "The work is a personal investigation into how my art concerns as a modern American artist- as a modern African American artist- relate to and/or clash with the forms of other cultures within the world, and specifically cultures that I'm specifically emotionally interested in." (www.misintemational.org/knowledge_ base/ wp3/ working_papers_3_method3. htm [5.11 .2005])
Der erste Teil, der wie die gesamte Trilogie Geography hieß und 1997 Premiere feierte, war eine intensive Beschäftigung mit Afrika, wobei es Lemon nach eigener Aussage darum ging, als Afroamerikaner seine Verbindungslinien zu dem anderen Kontinent zu erforschen - durchaus im Sinne einer Art ethnologischer Untersuchung. So nannte er das Projekt "an anthropological collaboration about being American, African, brown, black, blue black, male and artist." (Lemon 2000: 8) Der Produktion, an der ausschließlich schwarze männliche Tänzer mitwirkten, ging eine von der Yale University finanzierte Reise nach Westafrika voraus. An der Elfenbeinküste und in Guinea kam Lemon in Kontakt mit einigen Tanzensembles, aus denen auch die Mehrzahl der Performer stammt, mit denen er dann später das Stück Geography entwickelte, das westafrikanische Elemente mit euro-amerikanischer Musik, Tänzen und Texten verband. Die zweite Produktion der Trilogie, Tree, wurde im April 2000 zum ersten Mal aufgeführt und führte Lemon nach Asien. Er reiste durch Indien, Indonesien, Japan und China und dokumentierte dies in Skizzen, Tagebuchnotizen und Fotos, die er auch veröffentlicht hat (vgl. Lemon 2004). Aus den Aufzeichnungen geht hervor, wie er seine Wahrnehmung der "Anderen" reflektierte, der Menschen und Orte, die er traf und besuchte. Auch in diesem Fall gab es persönliche Bezüge, insbesondere religiös-spirituelle, da Lemon praktizierender Buddhist ist. Die Darstellerinnen und Darsteller kamen diesmal von der Elfenbeinküste, aus China, Indien, Japan, Taiwan und den USA.65 Für den dritten Teil richtete Lemon den Blick zurück aufNordamerika: Searchingfor Horne bzw. Come Horne Charley Patton lässt sich als Beschäftigung mit den afroamerikanischen Kulturen in den USA verstehen. Zur Vorbereitung reiste Lemon mit seiner Tochter, die die Recherchen auf Video festhielt, zu hinsichtlich der Unterdrückungsgeschichte der Afroamerikaner bedeutsamen Orten in den Südstaaten. 2001 fuhr er beispielsweise die Strecke der legendären Freedom Busrides von 1961 ab, bei denen Schwarze und Weiße gemeinsam mit dem Bus von Washington bis nach Alabama gefahren waren, um gegen die Segregationspolitik in den Südstaaten zu kämpfen. Dort, im Süden der USA, dienten ihm Plätze, auf denen einst Lynchmorde stattgefunden hatten, als Orte für von ihm als "Counter Memorials" bezeichnete Performances.66 Er besuchte alte Bluesmusiker im Missis65 Premiere war April 2000 im Yale Repertory Theatre, dann folgte eine Tour durch die USA. 66 So neben vielen anderen Orten etwa der Platz in Money, Mississippi, auf dem der vierzehnjährige Ernmett Till gehängt wurde, nachdem er angeblich einer
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sippi-Delta und tanzte mit ihnen in ihren Wohnzimmern. Er lernte buckdancing - einen traditionellen afroamerikanischen Stepptanz aus dem Kontext von Minstrelsy und Vaudeville-, suchte afroamerikanische Kulturzentren undjuke Joints, also Blues-Clubs auf. 67 Die Präsentation in Berlin war noch kein fertiges Stück, eher eine vorläufige Collage aus schon ausgearbeiteten Teilen; angekündigt worden war sie in Pressetexten als "workshop presentation" und "dance lecture", in der Fragmente aus Ralph Lemons neuester Produktion gezeigt und zur Diskussion gestellt werden sollten. Durch einführende Worte des Veranstalters erhielt man wesentliche Informationen: Dass es sich um Vorbereitungen für den letzten Teil einer Trilogie handle, dass Recherchereisen im südlichen Teil der USA vorangegangen seien und dass es inhaltlich um die afroamerikanische Geschichte gehe. Das heißt, die Perspektive der Zuschauer war von Beginn der Aufführung an spezifisch gerichtet, sie wussten, die Themen "Schwarzsein" und Rassismus sollten eine Rolle spielen.68 Die Aufführung bestand aus acht Szenen. Eine lineare Erzählstruktur oder Handlung im engeren Sinne war nicht vorhanden. Auch war kein dramatisierender Spannungsbogen erkennbar. Eher handelte es sich um eine lose Abfolge von einzelnen Sequenzen, in denen einer oder mehrere der Darsteller tänzerische oder auch am Sprechtheater orientierte Einzelperformances vorführten, die thematisch einen roten Faden erkennen ließen- eben die Auseinandersetzung mit Blackness. Grundsätzlich wurden in den Einzelszenen verschiedene technische Medien (Dokumentarund Animationsfilmprojektionen auf Leinwand, Videos aufkleinen Fernsehmonitoren), Musiken (Folk, Barockmusik, Blues, Drum'n'Bass usw.) und diverse theatrale Formen (von ivorischem Tanz über buckdancing bis hin zu Elementen aus dem klassischen Ballett; gesprochene Texte in Form von längeren Monologen) auf immer wieder andere Art und Weise miteinander kombiniert. In der Berliner Aufführung traten Okwui Okpokwasili, Djedje Djedje Gervais und David Thomson mit Ralph Lemon auf: Gervais (Elfenbeinküste) ist ein international tätiger und mit vielen Preisen ausgezeichneter Tänzer, Choreograph und Experte zeitgenössischen und traditionellen Tanzes aus Westafrika; er hat auch in den ersten beiden Teilen der Trilogie mitgearbeitet. Ralph Lemon hat ihn bei seiner Reise nach Westafrika 1996 kennengelernt Die Performerin Okwui Okpokwasili (New York) weißen Frau begehrliche Blicke zugeworfen hatte, oder das Lon·aine Motel, in dem Martin Luther King erschossen wurde. 67 "Buck" bezieht sich auf die Bezeichnung afroamerikanischer Männer als bucks (dt.: Bock). 68 Neben dem Besuch der Auffiihrung basieren die folgenden Ausfiihrungen auf einer Videoaufzeichnung, dem Programmheft und persönlichen Gesprächen mit dem Regisseur. 116
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hat u.a. mit Richard Foreman, Richard Maxwell und Transmission Projects gearbeitet. Auch Thomson ist New Yorker. Er ist ausgebildeter Tänzer und hat mit vielen verschiedenen Künstlern und Kompanien zusammen gearbeitet, darnnter Robert Wilson, Laurie Anderson, Michael Laub/Remote Control; lange Jahre war er Mitglied der Trisha Brown Company.
Theater in Schwarz/Weiß Kulturelle Repräsentationspolitik Die Auffiihrung begann damit, dass das Licht ausging und das Publikum ruhig wurde. Im Bühnendunkel zeichnete sich nach und nach die Silhouette eines Manns (David Thomson) ab. Außer ihm auf der Bühne: vorne links drei Monitore, hinten links eine Leinwand, in der Mitte lag eine etwa türgroße, helle Holzplatte. Der Mann - dunkelhäutig, in grauer Anzughose und Orangefarbenern T-Shirt, barfuss - hob die Holzplatte auf und stellte sie frontal zum Publikum vor sich hin, Scheinwerfer strahlten nun die Bühnenmitte hell aus. Ein Folk-Song erklang von Band, auf Englisch wurde etwas von "Hometown" gesungen, begleitet von Gitarre. Da trat ein zweiter Performer (Djedje Djedje Gervais) von rechts auf. Auch er ein Mann dunkler Hautfarbe, vielleicht Anfang 30, mit langen Rastazöpfen, und auch er trug Alltagskleidung: Jeans, T-Shirt, helle LederstiefeL Vor der Holzwand blieb er stehen und begann dann unvermittelt zu tanzen, eine Mischung aus westafrikanischen Tanzelementen, sehr rhythmisch, bein- und bodenbetont, streckenweise mit sehr vielen kleinen schnellen Schritten, und Breakdance. Nach kurzem entwickelte sich der Tanz zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Holzplatte: Der Mann schmiegte sich an sie, rieb sich an ihr, glitt an ihr herunter, sprang an ihr hoch, ließ sich gegen sie fallen, brachte sie zum Kippen. Der andere Performer, der die Wand hielt, hatte eine anstrengende, anspruchsvolle Aufgabe, so musste er doch stets genau an der richtigen Stelle gegenhalten, um einen Unfall zu vermeiden. Der Tänzer unterbrach seine Bewegungen immer wieder, hielt inne, etwa an der Platte lehnend oder zusammengekauert auf dem Boden, so dass kein richtiger Fluss in seinen Tanz kam. Als die Musik zu Ende war, rutschte er zu Boden, verharrte kurz, stand dann aufund ging betont lässig von der Bühne. Nun begann der Darsteller, der die ganze Zeit die Holzwand gehalten hatte, sich zu bewegen. Zunächst ohne Musik, und so war im Vergleich zur vorhergegangenen Sequenz die Stille auffällig. Auch die ruhigen, mit großer Kontrolle ausgeübten, fast gymnastischen Bewegungen des Darstellers bildeten einen starken Kontrast zu dem Tanz des anderen Mannes. Er drehte die Holzplatte sehr langsam um- so dass ihre andere Seite sichtbar wurde: hier war sie mit Blümchentapete beklebt. Nun fiihrte er Bewegungen an der Wand aus, streckte sich, hängte sich an sie- immer 117
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in einer grundsätzlich prekären Situation, da er die Wand aufrecht hielt und gleichzeitig an ihr Halt suchte, was eine perfekte Balance erforderte. Plötzlich setzte laute elektronische Musik ein, mit vielen Störgeräuschen, sie machte einen "krachigen" Eindruck. Am ehesten unter Drum'n'Bass zu rubrizieren, da im Prinzip nur elektronische Bässe und Perkussion zu hören waren. Gleichzeitig wurden auf der Projektionsfläche an der Bühnenrückwand zwei Filme nebeneinander gezeigt: Links war ein schwarzer Schlagzeuger beim Spielen zu sehen, rechts ein alter schwarzer Mann, in einer Bar neben einer Jukebox tanzend. Er bewegte sich sehr hüftbetont und obwohl er gebrechlich wirkte, sind mir sofort die Adjektive "cool" und "sexy" eingefallen. Mit dem Einsetzen von Film und Musik gerieten die Bewegungen des Darstellers auf der Bühne immer heftiger und größer: Er schob nun die Holzplatte quer durch den Raum, verkroch sich unter ihr, legte sie auf sich, hob sie hoch in die Luft- mit den Füßen, dem Rücken, den Händen, stellte sie wieder auf, versteckte sich dahinter, es wirkte fast so, als entwickle die Platte eine eigene Kraft, der der Tänzer schließlich erschöpft unterlag. Mit dem Ende der Musik legte er sie - wieder mit der Holzseite nach oben - auf den Boden. Jetzt trat ein dritter Performer (Ralph Lemon) auf. Elegant gekleidet, in einem glänzenden braunen Hemd, mit schwarzer Hose und feinen Lederschuhen betrat er die Bühne von links und ging zur Holzplatte - der Mann von vorher verließ die Bühne nach rechts. Das Licht änderte sich: Die Bühne schimmerte jetzt dunkelviolett, die Holzplatte wurde gelb angestrahlt, so dass sie zu glänzen oder zu glühen schien. Die Filmprojektion zeigte nur noch den Schlagzeuger in extremer Zeitlupe, jede Spielbewegung, jeder Zug an seiner Zigarette war im Detail zu sehen. Der Performer stellte sich auf das Brett und begann zu tanzen: Mal zitierte er Formen des buckdancing und mit auffallender Flexibilität der Arme und Beine und zuweilen auch den hüpfenden westafrikanischen Tanzstil, den der erste Performer vorgeführt hatte. Insgesamt merkte man jedoch, dass er im (post-)modern dance geschult war. 69 Immer wieder führte er Figuren aus dem Ballet vor und verwies auf die Technik des Antigraven, um dann zu "stolpern", scheinbar das Gleichgewicht zu verlieren und sodann wieder in einen Stepptanz überzugehen. Perfekte Körperkontrolle wechselte sich mit clownesken Phasen ab, in denen die Bewegungen manchmal zu groß und ausladend wirkten, manchmal aus absurd kleinen Schrittehen bestanden. Die Musik dazu bildete einen Kontrast: So handelte es sich um deutschen Liedgesang, darunter etwa das Stück Das Frauenzimmer von Georg Phitipp Telemann von 1728. 70 Ein eigentümli-
69 Vgl. zum amerikanischen modern nnd postmodern dance und den Problemen der gerrauen begrifflichen Abgrenzung Huschka 2002: 226-256. 70 Aus: Der getreue Musikmeister (1728). Nur von Klavier begleitet singt ein Tenor: "Das Frauenzimmer verstimmt sich immer nach Luft und Wind/Drum Schade vor die Männer, die keine rechten Kenner von Stimmen sind/Die meis-
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eher, verfremdender Effekt entstand dadurch, dass die Lieder von jemandem gesungen wurden, dessen Muttersprache ganz offensichtlich nicht Deutsch war und dessen Aussprache einen starken Akzent hatte. Zudem schien die Musik so gar nicht zu dem vorgeführten, grotesk wirkenden Tanz zu passen: Dieser war genau das Gegenteil von Balance und Harmonie, von "Wohltemperiertheit". Auch das zweite Lied entsprach wenig dem, was man auf der Bühne sehen konnte: Johann Sebastian Bachs Du meine Ruh. Der Tanz wurde indessen immer lebendiger, wilder, raumgreifender und sprungreicher. Gegen Ende kam auch noch einmal der Mann ganz vom Anfang dazu, der kurz in seiner ganz eigenen, spezifischen Weise mittanzte. So traten die völlig unterschiedlichen körperlichen Energien und Tanzstile klar vor Augen, bevor sich dann beide Performer zurückzogen. Wem gehört der Blues?
Diese erste Szene ist insofern repräsentativ für die gesamte Aufführung, als Musik und Tanz eine zentrale Rolle in ihr spielen. Auch der Titel der späteren Version des Stücks Come harne Charley Patton verweist auf die Bedeutung von Musik für Ralph Lemons Inszenierung: Charley Patton (1891-1934) war der erste Star im Genre der Bluesmusik. Musik und Tanz trugen nicht nur in besonderer Weise zu der sinnlichen, der atmosphärischen Qualität des Theatererlebnisses bei; sie sind für das Thema, das in Searchingfor Horne verhandelt wird, nämlich die Frage nach afroamerikanischer Identität, auch in ihrer Zeichenhaftigkeit von besonderem Gewicht - selbst wenn es sich hierbei um einen Allgemeinplatz handelt, der häufig stereotypisierend bemüht wird. Deshalb formuliert zum Beispiel der afrokaribische Schriftsteller Edouard Glissant, der mit seinem Konzept der Creolisation als einer der profihertesten Kritiker von identitätspolitischem Essentialismus gelten kann, etwas gereizt: "It is nothing new to declare that for us music, gesture, dance are forms of commu-
nication, just as imp01iant as the gift of speech. This is how we first managed to emerge from the plantation: aesthetic form in our cultures must be shaped from these oral stmctures." (Giissant, Edouard: Carribbean Discourse. Charlottesville 1989: 248. Zitiert nach: Gilroy 2003: 75)
Oralität hatte lange Zeit eine deutlich wichtigere Stellung in den Kunstund Kommunikationsformen afroamerikanischer Kulturen als das geschriebene Wort: Nicht nur weil Schrift in vielen Kulturen Afrikas über Jahrhunderte von untergeordneter Bedeutung war und Geschichten eher mündlich-performativ überliefert wurden, sondern auch, weil für die schwarzen Sklaven vielerorts in Amerika auf Lesen- und Schreibenlernen die Todesstrafe stand (vgl. Davis, D. B. 2006: 203). Daher rührt eine ten Männer sind schlechte Kenner von Melodie/Dmm Schade vor die Frauen, die ihnen sich vertrauen zur Harmonie."
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besondere Verbindung zwischen dem, was man gemeinhin unter "Schwarzsein" versteht, zu den performativen Künsten wie Musik oder Tanz. Was jedoch genau "schwarze Musik" oder "schwarzer Tanz" sein soll, ist eine höchst problematische Frage. Grundsätzlich wurden mit den Sklavenschiffen nicht nur Menschen verschleppt, sondern auch deren Kulturen von Afrika nach Amerika transportiert: darunter Mythen, Musik, Tänze und andere künstlerische oder spirituelle Praktiken. Die Künste, die hier ihren Ursprung haben, werden in der Regel als "schwarz" bezeichnet. Als "schwarze Musik" werden dabei meist afroamerikanische Stile bezeichnet, die auf dem Blues basieren. 71 Dessen signifikante Merkmale sind die musikalischen Parameter Rhythmus und Klangfarbe; dieses Charakteristikum wird von den meisten Musikwissenschaftlern auf Einflüsse aus Afrika zurückgeführt: "[ ... ] rhythm is to Afiican musician what harmony is to the European - the centrat organizing principle of the art. In practically all African music making there is a rhythmic polyphony, with at least two different rhythms proceeding in counterpoint with each other, held together only by the existence of a common beat." (Small 1998: 25)
Seit den frühen 1960ern wurden zudem elektronische Manipulationen von Klangmaterial zu wichtigen Komponenten innerhalb der "schwarzen" Musik eines Sun Ra, Miles Davis, Jimi Hendrix, in den Richtungen Dub, Funk, Rap, Drum'n'Bass. Techniken wie Sampling, Scratching und Dubbing setzten sich immer mehr durch und auch hier wurde vielfach eine Gegensätzlichkeit zu traditionellen abendländischen Musikformen betont: Sampies und Grooves kennen keinen Autor, Breakbeats, (atonale) Basslinien und (dissonante) Geräusche/Sounds ersetzen die Melodien westlicher Hörgewohnheiten. Besonders Paul Gilroy betont vor diesem Hintergrund immer wieder die Fragwürdigkeit einer Konzeption "authentischer" schwarzer Musik, da es seiner Meinung nach eben gerade das Übernehmen, Zitieren und fortwährende Transformieren musikalischer
71 Rhythrn'n"Blues, Rock'n'Roll, Soul usw. Es lassen sich auch weitere Volksmusiken, wie die Worksongs oder religiös-spititueller Gesang (Gospel) und diverse Tänze, die eher aus der europäischen Tradition stammen (Barn-Dances oder Clog Dances ) als ,.schwarz" bezeichnen. Noch in den 1940er und 50er Jahren wurde in den USA populäre Musik nach Rassenzugehörigkeit der Musiker in drei Sparten eingeteilt: "Popular Music" bezeichnete Schlager, ,.Counhy" und "Western" Musik von und fur Weiße und "Rhythm'n'Blues" die der schwarzen Bevölkerung. Ab Mitte der !950er wurden diese Zuordnungen jedoch zunehmend hinfällig: So fanden sich plötzlich schwarze Musiker trotzZugehörigkeitzur Rhythm"n'Blues-Sparte in den weißen Charts wieder. Kurze Zeit später sangen weiße Sänger wie Bill Haley und Elvis Presley "schwarze" Rhythm'n'Blues-Stücke fur ein weißes Publikum (vgl. dazu auch Small [1987]1998: 369ff.). 120
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Formen ist, das sie ausmacht (vgl. Gilroy 2003: 102). Er unterstreicht, dass afroamerikanische Musiken gänzlich modern sind: "They are modern because they have been marked by their hybrid, creole origins in the West, because they have struggled to escape their status as commodities and the position within the cultural industries it specifies, aud because they are produced by artists whose understanding oftheir own positionrelative to the racial group and of the role of art in mediating individual creativity with social dynamics is shaped by a sense of artistic practice as an autonomaus domain [.. .]" (ebd.: 73).
Afroamerikanische Musik ist demnach immer hybrid, auch wenn sie eindeutig definierbare musikalische Formen wie Blues, Jazz, Gospel oder Rap entwickelt hat. Sie ist aus der Vermischung ursprünglich westafrikanischer und europäischer Praktiken entstanden, die freilich selbst Synkretismen sind, die sich im Kontakt zwischen den Kontinenten beständig verändert haben. Dies lässt sich auch auf andere künstlerische Praktiken wie den Tanz übertragen, wobei als typisch "schwarze" Tänze etwa Stepptanz, Charleston, Black Bottom, Jitterbug/Lindy Hop/Boogie Woogie oder HipHop- bzw. Breakdance gelten- während Ballett oder modern und postmodern dance beispielsweise "weiß" konnotiert sind (vgl. Jeschke 2001). Aber auch hier gibt es de facto kaum die Möglichkeit der trennscharfen Abgrenzung, wie Susan Manning am Beispiel des Negro Dance verdeutlicht: "Were Negro dance and modern dance two distinct genres, each with its own set of conventions? Or was Negro dance a subgenre within modem dance, a range of approaches to modern dance realized by Af1ican-American choreographers? Or was Negro dance one genre within a broad continuum of theatrical and nontheatrical genres practiced by African-American dancers? Critics and scholars have Iaken all three positions. Yet all underestimate the interrelatedness of Negro Dance and modern dance [ ... ]" (Manning 2004: xiv)
Dennoch lassen sich - wie im Falle der Musik - bestimmte formale Merkmale bei Tänzen feststellen, die im afroamerikanischen Kontext entstanden: Eine starke Betonung perkussiver Elemente, komplexe Rhythmuswechsel, scheinbare Unabhängigkeit von Tanz und Musik, Rede-und-Antwort-Schemata, Doppelbödigkeit und Ironie (vgl. Defrantz 2004: 69). Musik und Tanz als Zeichen für "Schwarz" und "Weiß" Bereits in der ersten Szene von Searchingfor Horne werden verschiedene Musiken und Tänze aufgeführt oder zitiert, die unterschiedlich nah an dem sind, was man gemeinhin "schwarz" nennt. Dabei passen die Musiken und Tänze, die synchron zum Einsatz kommen, meist weder in ihrer energetischen und ästhetischen Qualität noch in ihrer Eigenschaft als Zeichen für "schwarz" oder "weiß" zusammen: In der ersten Sequenz 121
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langsamer "weißer" Folk und die sehr energiegeladenen, rhythmusbetonten Bewegungen des Tänzers von der Elfenbeinküste, die man eher "schwarz" nennen würde. In der zweiten Sequenz sind schon rein visuell Rhythmen wahrzunehmen, die in Kontrast zueinander stehen: Man sieht den in Zeitlupe abgespielten Rhythmus des Schlagzeugers in dem einen Film und den des alten Tänzers in dem anderen Film. Die Bewegungen des Performers auf der Bühne, seine gymnastisch-sportlich wirkende Auseinandersetzung mit der Holzplatte, haben einen eigenen Rhythmus, der, wenn überhaupt Regelmäßigkeiten feststellbar sind, hoch komplex ist. Diese Performance erinnert an den Minimalismus postmoderner oder zeitgenössischer Tanzkonzepte und könnte als "nicht-tänzerischer" Tanz bezeichnet werden; er erschien mir in Bezug auf Assoziationen zu einer bestimmten Hautfarbe indifferent. 72 Die Musik dazu, Drum'n'Bass, würde man tendenziell unter "schwarzer Musik" rubrizieren. 73 In der zweiten Sequenz scheinen also alle möglichen Rhythmen völlig unvermittelt nebeneinander her zu laufen. Ebenso fallen in der dritten Sequenz die europäische "alte" Musik von Bach und Telemann und die Tanzbewegungen auseinander, die zwischen "weißem" Ballett und "schwarzem" buckdancing changieren und den Körper des Tänzers als zerstückelten Körper jenseits von klassischer Schönheit und Grazie erscheinen lassen. Die Oekonstruktion von Mustern des klassischen Balletts in der dritten Sequenz ist am ehesten als postmodern im Sinne der zunächst "weißen" euroamerikanischen Avantgarde zu bezeichnen. In der ersten Szene werden also von drei Männern mit dunkler Hautfarbe unterschiedliche Körperbilder inszeniert, zu unterschiedlicher Musik und mit sehr unterschiedlichen Tanzstilen, die jeweils identitätspolitisch stark aufgeladen sind. Mit dieser Heterogenität evoziert die Inszenierung die Frage, ob Hautfarbe etwas über andere persönliche Merkmale aussagen kann, etwa kulturelle Prägungen, und beantwortet sie negativ. Dieser Gedanke wird in der zweiten Szene weitergeführt und auf die Frage der Abgrenzbarkeit von Kulturen übertragen: Eine schwarze Performerirr (Okwui Okpokwasili) stand an der Rampe und es erklang Musik von Janis Joplin. Die Frau machte ein paar Tanzbewegungen aus der Hüfte heraus und bewegte den Mund synchron zum Text, sang also Playback zu dem Lied der Bluesrocklegende. Plötzlich brach die Musik ab, und die Darstellerirr fuhr wie eine Fernsehmoderatorirr mit sachlicher Stimme fort: "That was Ralph Lemon doing Janis Joplin doing Nina Sirnone doing Little Girl Blue from a musical called Hot Pad by Rodgers and Hart. And now this is me doing Nina Sirnone doing Jacques Brei." 72 Vgl. zum Begriff "nicht-tänzerischer Tanz" Husemann 2002: 16. 73 Drum 'n 'Bass entstand in den 1990em in der Londoner elektronischen Musikszene, die stark von schwarzen Musikern beeinflusst wurde. 122
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Nina Simones Version des Chansonklassikers Ne me quitte pas wurde eingespielt und wieder sang die Darstellerirr Playback dazu. Nach der ersten Strophe wurde die EinspieJung abrupt abgestellt und die Frau sang allein weiter, ohne Begleitung. Es entstand durch die "Nacktheit" der weichen und sehr angenehmen Stimme eine ganz unmittelbare, berührende Intimität zwischen der Sängerirr und dem Publikum, so empfand zumindest ich es. Und wieder folgte ein Bruch: Sie hörte auf zu singen und sprach erneut mit dem Gestus einer professionellen Moderatorin: "Well ... As I see it.. . Tonight ... A Iot of the things we are examining are: ,What information belongs to whom?"'
Mit diesen Worten ging sie auf die Zuschauertribüne und nahm auf einem dort bereit stehenden Bürostuhl Platz. Sitzend hielt sie nun einen längeren Monolog, in dem sie eine Anekdote aus ihrer Schulzeit erzählte: "At least for me this is not the firsttimeT experience this phenomenon that people start to boJTow. Some call it appropriation. You take something fi·om one culture and you use it where you want to. T grew up in the Bronx. This was in the seventies, the age about cultural relativism. And my art teacher believed it would be inspiring for her fourth grade students in the Bronx to play the djembe while we were drawing. She wanted to be our muse; she wanted to bring out the spirit in us. Well, it was interesting- but loud. In that time I lived with my grandmolher in the Bronx. I said to her: ,You know that there is our art teacher Mrs. Hersh- she plays the djembe in the middle ofthe class.' My grandmother's boyfriend William asked: ,What do you mean child - she is playing the talking drum to you in class?' I would say: ,Weil - she talks, then we draw and then she dJUms. T do not know if this is talking dJUms.' He would say: ,But honey, the only dJUm you need in the Bronx is a gun.' Uncle William had this incredible gun collection. You would find guns in the cabinets, underneath his bed. Anyway. There was this day, Twas in our classroom and the teacher was playing the drum again. Tt was just too much. And T would say ,T wish she would play some Bach.' My grandmolher played the piano in the church. She loved St. Matthew's Passion. And there was a little girl sitting next to me, hernamewas Dawn. And she would ask me ,What do you want to hear, what did you say?' And I said: ,Bach. ' And she said: , Whatever NIGGER. '"
Die Performerirr sprach in dieser Sequenz explizit aus, dass es in dem Stück um die Problematik des Aneignens, Borgens, StehJens zwischen Kulturen geht - eine Frage, die, wie ich ausgeführt habe, in früheren interkulturellen Theateraufführungen meist unreflektiert blieb. Und damit fragte sie nach der Legitimität impliziter Ausgrenzungs- und Eigentumsverhältnisse: Selbst wenn es so etwas geben sollte wie "schwarze" Musik: Bedeutet dies, dass die Hautfarbe entscheidet, wer afrikanische Trommeln und wer Barockmusik spielen darf? Wer gut Blues singen und breakdancen kann? Wer klassisches Ballett tanzen und wer afrikanischen Tanz aufführen soll? Es wurde hier die möglicherweise autobiographi-
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sehe Geschichte eines schwarzen Schulmädchens aus der Bronx erzählt, das nichts mit Afrika zu tun hat, nicht weiß, was eine talking drum 74 ist, am liebsten Bach hört und trotzdem nicht als zugehörig zur weißen Mehrheitsgesellschaft angesehen wird. Die Einteilung von Musik in "schwarz" und "weiß" wurde zu Beginn der zweiten Szene auch dadurch ad absurdum geführt, dass die dunkelhäutige Performerin- Okwui Okpokwasili - behauptete, sie imitiere den schwarzen Mann Ralph Lemon, der die hellhäutige Janis Joplin nachahmt. Janis Joplin, die dezidiert große schwarze Bluessängerinnen wie Bessie Smith oder Nina Sirnone zu ihren Vorbildern erklärte, wurde als eine der besten weißen Bluesrocksängerinnen berühmt. Die Geschichte ihrer Musik ist nicht zu trennen von afroamerikanischer Geschichte und ihre Popularität fallt in die 1960er Jahre, eine Zeit, in der sich ein immer stärkeres Bewusstsein für die Rassendiskriminierung in den USA entwickelte.75 Bei der Geschichte des Liedes Little Girl Blue, das eingespielt wird, handelt es sich - wie bei vielen Klassikern der Popmusik - um die Geschichte eines wiederholten Zitierens, Neueinstudierens, Reinszenierens. Dies wurde von der Performerin auch dezidiert gesagt. In diesem Verweis liegt die Zurückweisung der Position der Autorschaft, wobei dies hier keine rein kunstimmanente Frage ist, sondern eine wesentliche politische Dimension hat: Kann kein "reiner", "authentischer" Ursprung festgelegt werden (außer möglicherweise im urheberrechtliehen Sinne bei den Komponisten), ist Wiederholung nicht Reproduktion oder Kopie, sondern immer Transformation. Dies impliziert, dass kulturelle Praktiken und Güter nicht durch den Gebrauch der "Anderen" "verschmutzt" werden können. Die Einspielung der deutschen Lieder in der Tanzszene zuvor verweist ebenfalls auf diesen Zusammenhang: Kenner unter den Zuschauern konnten als Interpreten der Lieder den afroamerikanischen Tenor Roland Hayes (1887-1976) erkennen. Hayes, Sohn eines ehemaligen Sklaven, war der erste schwarze Sänger, der mit französischen und deutschen Liedern international reüssierte - und zwar in einer Zeit, in der an vielen usamerikanischen Veranstaltungsorten noch eine white artists only-Politik betrieben wurde und das Publikum im Zuschauerraum getrennt saß wenn Schwarze überhaupt an Karten kamen. 1927 gab Hayes ein Konzert in Berlin und wurde dort mit dem Vorurteil konfrontiert, die Stimmen von dunkelhäutigen Menschen seien ungeeignet fiir den klassischen Liedgesang: "But before he arrived in Berlin, a newspaper bad been spread all over the city asking, how can this Black man from the cotton fields of Georgia be expected to 74 Nämlich eine Trommel, die vor allem in Guinea und Mali gespielt wird. 75 Joplin fühlte sich, wie auch andere weiße Musiker in dieser Epoche, besonders zur afroamerikanischen Kultur hingezogen, was ihre eigene Karriere auch nachhaltig geprägt hat (vgl. Echols 2003 : 348). 124
Zur Pertorrnativität von Identität - Searching for Home sing our wonderful Iieder? He will do nothing but desecrate them; he'll make a mockery ofthem, etc. When he appeared on the concert stage, he was greeted with boos and hisses [... ]." (Hayes 1994)
Dann habe er aber Du bist die Ruh derartig gut gesungen, dass er am Ende Standing Ovations erhalten habe. 70Auch im weiteren Verlauf des Stücks spielt die Frage, wem welche Musik "gehört", immer wieder eine Rolle und wird als abwegig entlarvt. Die siebte Szene etwa bestand daraus, dass der Performer David von seiner Kindheit in der Bronx erzählte. Dabei berichtete er unter anderem, sein Lieblingsmusikstück seien die Vier letzten Lieder von Richard Strauss. Viele Leute, die er kenne, hätten Jessye Normans Interpretation besonders gern, er jedoch bevorzuge Lucia Popp. Hier finden sich ebenfalls Verweise auf die Schwarz/ WeißProblematik, so gilt die afroamerikanische Mezzosopranistin Jessye Norman als die "schwarze Callas", Lucia Popp war hellhäutige Deutsche, Richard Strauss' Rolle im Nationalsozialismus wird bis heute kontrovers diskutiert. Zu den ersten beiden Szenen von Searchingfor Horne ist grundsätzlich anzumerken, dass sie eine ganz deutlich zu spürende Atmosphäre der Nähe produzierten und - insbesondere durch die Musik und den Tanz in der Zuschauerin ganz direkt physische Reaktionen ausgelöst haben: Körperliche Entspannung durch die als angenehm empfundene Musik am Anfang, Erregung, Mitwippen bei dem hoch energetischen Tanz von Djedje Djedje Gervais und Anspannung bei den nicht ungefährlichen Übungen David Thomsons mit der großen, unhandlichen Holzplatte in der zweiten Sequenz. In der dritten Sequenz dann Wohlgefallen als Barockmusik erklang, später Schmunzeln beim clownesken buckdancing und Gänsehaut, als die Frau auf der Bühne allein Ne me quitte pas sang. Zusätzlich zu dieser starken sinnlichen Qualität spannte sich jedoch im Verlauf der Auffuhrung zunehmend ein gedanklicher Assoziationsraum auf, der durch die semantischen Implikationen des Bühnengeschehens geprägt war. Nicht zuletzt durch die Einführung des Festivalleiters vor Beginn der Vorstellung nahm ich alles immer stärker durch den thematischen Filter Blackness wahr. Bereits nach Kurzem wurde jedes eingespielte Musikstück zum Zeichen, das für einen komplexen identitätspolitischen Zusammenhang stand und den Beweis antrat, dass Musik stets hybrid ist und nicht nach Hautfarben kategorisiert werden kann. Auch die Tänze ließen sich nach kürzester Zeit vor allem in dieser Weise rezipieren. Durch die inszenatorische Verfahrensweise Lemons, die sich formal 76 "He sang it so beautifully; they stopped hissing and started listening. Now, the greatest sign of approval at that time was the pounding of walking sticks, which all the gentlernen carried, on the floor. So halfway through the song, the pounding of the sticks started. There was so much noise, that by the time he reached the last note, it couldn't even be heard, because the audience was up on their feet already." (Hayes 1994)
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am zutreffendsten als Collagieren beschreiben lässt, entstanden komplizierte intertextuelle Bezüge. Die synchrone Kombination widersprüchlich aufgeladener Zeichen wirkte Synthetisierung und Homogenisierung im Sinne einer linearen Narration und einheitlicher Figuren entgegen und dekonstruierte damit Wirkungsweisen der illusionistischen Inszenierung. Sie führte damit gleichsam vor Augen, dass "reine" schwarze Identitäten als der Effekt von Inszenierungen verstanden werden können, die die faktische Hybridität mithilfe illusionistisch-naturalistischer Techniken überspielen. So wird auch das Weißsein relativ und lässt sich weniger als bestimmter Phänotypus verstehen, sondern als sozia-politisches Privileg, wie Manning in Bezug auf die Rassifizierung von Tanz plausibel sagt: "By ,whiteness' T mean the social and anistic privilege that adheres to dancing bodies that can be read as racially unmarked, the legitimizing norm against which bodies of color take their meanings." (Manning 2004: xv)
Dies ist nicht nur eine eminent politische Aussage, sondern auch eine, die erhebliche Folgen für diejenigen hat, die als "rassisch Markierte" wahrgenommen werden, wie in einer späteren Szene (Nr. 7) evident wurde: Nina Simones Ne me quitte pas wurde noch eimnal gespielt. Rechts hinten auf die Bühne strahlte ein großer Lichtkegel, links auf die Leinwand wurde abermals ein Film projiziert: Diesmal eine Szene, in extremer Zeitlupe abgespielt, in der eine schwarze Frau, umringt von Männern, tanzte. Der Film war stark sexuell aufgeladen. Die Kamera zielte auf die großen Brüste der Frau, die zudem beim Tanzen mit einem Mann Geschlechtsverkehr simulierte, indem sie sich nach vorn beugte und er sich von hinten an sie drängte. Durch die Filmqualität - die Bilder waren verwackelt, körnig - und die Perspektive der Kamera, die immer nur Ausschnitte, nie eine Totale zeigte, sowie die verzerrende Zeitlupe wurde nicht klar, in welchem Kontext diese Aufnahmen gemacht wurden. Es könnte sich gleichermaßen um eine exzessive Party gehandelt haben wie um einen Trancetanz im Rahmen eines Voodoo-Rituals, gleichermaßen um eine Situation, in der eine Frau ihre Sexualität selbstbestimmt und lustvoll auslebt, wie um eine, in der sie sexuelle Gewalt erfährt. Diese Ambivalenz wurde auch durch das Bühnengeschehen nicht aufgelöst, im Gegenteil: Zunächst tanzte Ralph Lemon kurz zu dem Lied. Seine Bewegungen lassen sich wie in der ersten Szene am ehesten als postmodern dance bezeichnen, die durch Zitate unter anderem eine Auseinandersetzung mit dem klassischen Ballett darstellten. Bald bewegte er sich von der Bühne und Djedje Djedje Gervais, der Tänzer von der Elfenbeinküste, trat in die Mitte des Lichts. Er tanzte in seinem ivorischen Stil, hüpfend, lässig, fröhlich und auch er ging nach einer kurzen Weile wieder ab. Nun kam Okwui Okpokwasili, die Frau aus der zweiten Szene. Sie stellte sich mitten in den Lichtkegel, blieb dort lang mit gesenktem Kopf stehen. Dann kniete sie sich hin und verharrte in der Haltung, bis sie zwei
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Hufeisen vor sich auf den Boden legte. Sie setzte sich zurück und sehr langsam, zögerlich streckte sie zuerst das eine, anschließend das andere Bein aus, bis sie schließlich mit jedem Fuß auf je einem Eisen stand. Dann hob sie langsam den Hintern und ging in den Vierfiißlerstand. Als Nina Simones Lied und die Filmeinspielung vorbei waren, landete sie in einer degradierend wirkenden Position, sexuell unterwürfig: Die Arme und gespreizten Beine auf den Hufeisen abgestützt, das Gesicht, den Körper offen dem Publikum zugewandt, eine mit Sicherheit unkomfortable und instabile Haltung, die innerhalb dieses Stücks sofort Assoziationen an die Situation der schwarzen Sklaven weckte: Ihre Behandlung als Eigentum, als rechtlose Arbeitstiere, die jederzeit weiterverkauft, bestraft und oder vergewaltigt werden konnten. Die drei völlig unterschiedlichen Modi der Körperverwendung: Ralph Lemons formal-abstrakter, also gewissermaßen moderner Tanz (während dem ich die Filmbilder als "Party" las), Djedje Dj edje Gervais' Performance, die am ehesten an afrikanische traditionelle Techniken denken ließ (während der mir die Filmszene wie ein ritueller TranceTanz vorkam) und die Erniedrigung Okwui Okpokwasilis (bei der ich angesichts der Filmbilder an Prostitution und Vergewaltigung denken musste) - ließen die Zusammenhänge von Modeme/Aufklärung, Exotismus/Präsenzkultur und der rassistischen Unterdrückung Schwarzer gleichzeitig aufscheinen. Rassismus und die Künste
Nachdem, wie gesagt, Musik und Tanz in Searching j or Horne von mir zu Beginn vor allem in ihren sinnlichen Qualitäten rezipiert wurden und zwar mit einer Haltung, die vielleicht am ehesten als "naiver Wohlgefallen" zu bezeichnen ist, wurde die Aufführung also schnell zu einem Text über Rassismus. Die Aufführung zeigte, dass das scheinbar harmlose Sprechen von "schwarzer Musik" oder "schwarzem Tanz" im Kontext eines Repräsentationsregimes, das durch die Vorstellung einer einheitlichen schwarzen Identität machtpolitische Implikationen enthält, in hohem Maße problematisch ist - sie ließ die Zuschauer also eine quasi postkoloniale Perspektive im Schnelldurchgang entwickeln. Denn es wurde in Searching jor Horne deutlich, dass sich Identitätspolitik auch indirekt durchsetzen lässt: Rassismus muss sich nicht unbedingt unmittelbar auf Menschen beziehen, sondern kann sich auch auf dem Umweg der Rassifizienmg von Kulturgütern und -praktiken at1ikulieren, was die ästhetizistische Grundannahme vieler interkultureller Theatermacher im 20. Jahrhundert, es gehe ja nur um Kunst, in der zudem alles erlaubt sei, als fatale Ignoranz erscheinen lässt. Hierzulande bekannt ist die Diffamierung bestimmter Musikrichtungen durch die Nazis, des Jazz etwa als "Negermusik" oder der Werke jüdischer oder anderer missliebiger Komponisten als "entartete" Musik. Und so stellt auch der Musildaitiker und
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Gründer der Black Rock Coalition Greg Tate enge Verbindungen von Rassismus und aktuellen (pop-)kulturellen Phänomenen her: "Sklaverei, Minstrelsy und schwarze Bourgeoisiebestrebungen sind fur drei der abwertenden Wahmehmungskategorien, unter die Schwarze in diesem Land fallen, verantwortlich: Schwarze als Eigentum, als ethnographische Ware und als Imitationen von reichen Weißen. Aufgrund der geschichtlichen Fakten gibt es nur einen schmalen Grat zwischen einem schwarzen Entertainer, der weißen Leuten gefällt und einem, der die Race auf seiner Jagd nach weißem Beifall ausverkauft." (Tale 1993: 146)
Der in diesem Zitat hervortretende, enge Zusammenhang zwischen Bühnenspektakel und rassistischer Repräsentation - ein Zusammenhang, der ein Grundproblem interkulturellen Theaters ist, der aber lange Zeit wenig reflektiert wurde - hat Lemon im Produktionsprozess des dritten Teils seiner Geography-Trilogie stark beschäftigt. So schreibt seine Dramatmgin Katherine Profeta: "Lemon's ambivalence about the spectacular nature of performance had already been in evidence in Pmts I and 2, but here, in Pmt 3, it was coming to a head - as if, in returning ' home', he was reaching the roots ofhis unease. As if, in conjuring the dignity of Southern ancestors - a host of individuals both real and imagined he was even more loathe to create a spectacle that might compromise that dignity [... ] No one could forget the long and ambivalent history of black performers in front of !arge audiences - read: white audiences - who showed them little respect after the entertainment was over. Add to the fact that several of Lemon' s research took place at the sites of ,spectacle lynching' [ ... ]" (Profeta 2005: 26)
Und so lässt sich Ralph Lemons Inszenierung als institutionskritisch bezeichnen.77 Sie reflektiert, dass die Theaterbühne traditionell ein Ort der problematischen Repräsentation von Menschen dunkler Hautfarbe ist. Lemon zieht aus diesem Sachverhalt nicht den Schluss, dass Schwarze keine Bühne mehr betreten sollten - aber er deckt die identitäts- und 77 In der bildenden Kunst und Kunstkritik gibt es seit Benjamin H.D. Buchlochs Aufsatz Von der A:~thetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik ( 1989) eine Debatte, die sich um den Beg1iff lnstitutional Critique rankt (vgl. Buchloh 1990). Die Kontroverse, die vor allem deshalb interessant ist, weil sie diskutieJt, inwieweit Kunst eine erkenntnistheoretische und kritische Funktion hat und inwieweit eine solche Funktionalisiemng gerade an ihrem (ästhetischen) Eigensinn vorbeizielt, soll hier nicht ve1tieft werden, obgleich sie auch in Bezug auf das Theater erhellend wäre. Hier soll es genügen, sich mit der Definition aus DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst zu begnügen, die "Institutionskritik" als analytische Haltung künstlerischer Arbeiten und Verfahrensweisen beschreibt, gesellschaftliche, diskursive und institutionelle Rahmenbedingungen der Herstellung und des Gebrauchs von Kunst zu untersuchen (vgl. Meinhardt 2002).
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machtpolitischen Wirkungsmechanismen auf: Gerade in Szene 7 (Okwui Okpokwasili mit den Hufeisen) wird deutlich, dass es sich bei der Frage um kulturelles Erbe und die Fragen "wem gehört welcher Tanz?", "welche Musik gehört zu wem"? nicht um harmlose Kategoriefragen oder gar um bloße urheberrechtliche Probleme handelt. In der Kombination mit den sexualisierten Filmbildern wird evident, wie viele Stereotypen auch in den Begriffen von "weißer" und "schwarzer" Kultur bzw. kultureller Praktiken stecken: Auf der einen Seite die mathematisch-harmonische weiße Musik, die reine, ungeschlechtliche europäische Stimme, das romantische, saubere, asexuelle Ballett, das in die Höhe strebt, auf der anderen Seite der afrikanische Tanz, bodenverbunden, hüftbetont und sexy, die raue schwarze Stimme, die rhythmisierte, "stampfende" Musik. Hier Intellekt, Geist, Orientierung nach dem Höheren - dort Körperlichkeit, Geilheit, viehische Erniedrigung. Lemon fuhrt auf diese Weise geläufige rassistische Stereotype vor Augen, wie sie etwa Stuart Hall in The Spectacle of the , Other' analysiert und herausfindet, dass sie in der Regel "schwarze" Kultur und Natur gleichsetzen: "For blacks, ,p1imitivism' (Culture) and ,blackness' (Nature) became interchangeable. This was their ,true nature' and they could not escape it. As has so often happened in the representation of women, their biology was their , destiny' . Not were blacks represented in terms of their essential characteristics. They were reduced to their essence." (Hall 1997: 245)78 Die pseudowissenschaftliche Kategorie "Rasse" ist eines der fundamentalsten Konstrukte des kolonialistischen Denkens und bis heute ist die Einteilung der Menschen in Schwarze, Weiße, Rote und Gelbe weit verbreitet, obwohl das Konzept unter Biologen schon lange keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Vielmehr hat sich in der Wissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Kriterien, anhand derer Rassen definiert werden, beliebig wählbar sind, die genetischen Unterschiede zwischen Menschen innerhalb einer Rasse mindestens genauso groß sind wie zwischen den Rassen, und sich aufgrund besonderer Körpereigenschaften wie der Hautfarbe kein Schluss auf andere Eigenschaften wie Charakter oder Intelligenz ziehen lässt. 79 Die willkürliche Einteilung von Menschen
78 Deshalb spielt auch Sexualität im Rassismus eine große Rolle: Die Vorstellung vom potenten schwarzen Mann fuhrt zu ebenso viel Leid- etwa mussten noch bis weit ins 20. Jahrhunderts hinein afroame1ikanische Männer sterben, wenn sie im Verdacht standen, mit weißen Frauen geflirtet zu haben- wie die systematischen Vergewaltigungen schwarzer Frauen, die aus der Sklavengeschichte überliefert sind (vgl. hierzu Duerr 2005: 305ff.). 79 Bereits in den 1920em wurde das Rassekonzept daher von Humangenetikern angezweifelt und das Statement on the Nature of.,Race and Race-Differences by Physical Anthropologists and Geneticists (1951) der UNESCO legte dar, dass der Begriff keinerlei wissenschaftliche Qualität beanspruchen könne (vgl. 129
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in vermeintlich wesensmäßig unterschiedliche Gruppen ist freilich uralt. Aber erst die Neuzeit hat versucht, rassistische Konzepte wissenschaftlich zu begründen und so hat sich der moderne Rassismus mit dem Denken der Aufklärung im 18. Jahrhundert herausgebildet.80 Er wird von Mark Terkessidis als Verbindung von sozialer Praxis und gleichzeitiger Wissensbildung mit einer konkreten Funktion verstanden: Er überbrückte "[ ... ]ein modernes Drama- jenes zwischen allgemein gültigen Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und der beständigen Produktion von Ungleichheit." (Terkessidis 2004: 92). Ausgehend von der Annahme, dass den menschlichen Rassen unveränderbare Merkmale zugesprochen werden könnten, wie dies etwa Herder, Karrt und Hegel postulierten, sprach der moderne Rassismus bestimmten Menschen ihre Vollwertigkeit ab und hatte für die Betroffenen fatale Konsequenzen. In Amerika, das ja für Searching for Horne relevant ist, kam er als Genozid an den Indianern zum Ausdruck und auch das über Jahrhunderte stabile transatlantische System der Versklavung von Afrikanern ist - abgesehen von der inhärenten ökonomischen Logik - ohne die dehumanisierende Terkessidis 2004: 75). In Deutschland ist man durch die historische Erfahrung dafur sensibilisiert, dass die Wahl der Merkmale zur Rassifizierung willkürlich ist. Es muss sich keineswegs um äußere Merkmale wie die Konzentration von Melanin in der Haut handeln. So musste den Juden etwa mit dem Judenstern ein Unterscheidungsmerkmal angeheftet werden, weil man ihnen die ,jüdische Rasse" sonst nicht ansehen konnte. Tm Englischen wird der Begriff ,.race" noch verwendet und zwar auch von Denkern wie Stumi Hall, die kaum als rassistisch zu bezeichnen sind. Er wird dabei jedoch als soziologische, nicht als biologische Kategorie verwendet und zielt eher auf die ,.Community", die Gruppe, zu der sich ein Subjekt zugehörig fuhlt. Abgesehen davon wird der Begriff auch im englischsprachigen Raum kontrovers diskutiert und im Deutschen ist er, vor allem durch die Konnotation, die er durch das Naziregime erhalten hat, weitgehend indiskutabel. SO Und so zieht sich ein deutlicher Rassismus durch die Werke der großen Denker der Aufklärung. Kant schreibt etwa in Physische Geographie: "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften." (Kant 1968: 316). Auch bei Hege! werden rassistische Zuschreibungen mit dem System der Vernunft gerechtfertigt; er bezeichnet das ganze subsaharische Af1;ka schlichtweg als "Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichten in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist." (Hege! 1963: 214). Und weiter argumentiert er, dass es "die Unbändigkeil ist, welche den Charakter der Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fahig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen. In der ungeheuren Energie der sinnlichen Willkür, die hier herrscht, hat das Sittliche keine bestimmte Macht. Wenn man furchterliche Erscheinungen der menschlichen Natur will kennen lernen, in Afrika kann man sie finden." (ebd.: 234; vgl. außerdem zum Thema des westlichen Afrikabildes Mudimbe 1988: 44-97)
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Wirkung rassistischen Denkens kaum vorstellbar (vgl. Davis, D. B. 2006: 29ff.). Das dabei etablierte System weißer Vorherrschaft, das Weißheit als Norm der Teilhabe an politischen Rechten und sozialen Entfaltungsmöglichkeiten setzte, wurde in den USA auch mit der Sklavenbefreiung nicht restlos beseitigt. Zahlreiche rassistische Praktiken waren bis zur Bürgerrechtsbewegung üblich und erst 1964 wurde die Diskriminierung von Schwarzen rechtlich untersagt. Auch heute noch sind in den Vereinigten Staaten - ebenso wie überall auf der Welt - rassistische Ausschlussformen vorhanden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was für ein Bild von "Schwarzsein" Ralph Lemon in Searching.for Horne inszeniert. "Schwarzsein" bei Ralph Lemon Im Zuge der Dekolonialisierung kamen in zahlreichen afrikanischen Staaten Emanzipationsbewegungen der schwarzen Mehrheitsbevölkerungen auf, die sich gegen das rassistisch geprägte, negative Afrikabild der Kolonialmächte wandten. Dabei entwickelte sich Idee der Negritude - ein von Aime Cesaire geprägter Begriff - zum zentralen Konzept. Der senegalesische Staatschef Leopold Sedar Senghor proklamierte in seiner folgenreichen Schrift Negritude et Humanisme (1936) Naturverbundenheit, Ganzheitlichkeit, Gemeinschaftssinn usw. als a priori gegebene Eigenschaften der "schwarzen Rasse", deren Wurzeln und Heimat er in Afrika verortete. Es ist bezeichnend, dass Senghor im Senegal eine Tanzakademie mitgründete, an der ein moderner afrikanischer Tanz mit panafrikanischer Identität entwickelt werden sollte (vgl. Sieveking 2004: 170). Und so hat auch Biodun Jeyifo bei seiner Analyse der theaterwissenschaftlichen Diskurse im postkolonialen Afrika festgestellt, dass sich bald nach der formalen Unabhängigkeit vielerorts ein afrozentristischer Gegendiskurs entwickelte (vgl. Jeyifo 1990: 242). Die NegritudeBewegung spielte vor allem in den 1940em eine große Rolle; sie engagierte sich gegen Kolonialismus und propagierte eine back-to-the-rootsldeologie, die auch in Teilen der afroamerikanischen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiel und die aus heutiger Sicht genauso essentialistisch und reduktionistisch ist wie weißer Rassismus. 81 Und so hat sich eine Reihe schwarzer Denker und Aktivisten immer wieder gegen das Negritude-Konzept gewandt, unter ihnen Wole Soyinka:
81 Einzelne Strömungen gehen noch weiter und propagieren die Ausgrenzung der weißen Minderheit. Insbesondere in Zimbabwe hat sich unter Robert Mugabe seit den 1980em eine neue Art von Rassismus gebildet, der etwa Homosexualität als "unafrikanisch" bezeichnet. Bis heute sind panafrikanische Vorstellungen weit verbreitet, auch in den USA, erinnert sei an Maleolm X, die Black Panther Party und Nation of Islam. Rapper wandeln noch immer auf den Spuren von Ice-T oder Ice-Cube, die mit misogynen und schwulenfeindlichen Texten in den 1990em populär wurden.
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts "This vision in itself was that of restitntion and re-engineering of a racial psyche, the establishment of a distinct human entity and the glorification of its longsuppressed attributes. [... ] It not only accepted the dialectical structure ofEuropean ideological confrontations but borrowed from the very components of its racist syllogism." (Soyinka 1976: 126f.)
Der erste Teil von Ralph Lemons Trilogie, Geography, der später noch den Untertitel Africa/Race erhielt, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Projekt um eine panafrikanische back-to-the-roots-Bewegung nach Westafrika gehandelt haben könnte. Zumal Lemon Afrika als einen Ort bezeichnet, der ihn" emotional stark herausfordert" (vgl. Bims 2005: 18) und es ihm erklärtermaßen w1ter anderem darum ging, als Afroamerikaner seine Verbindungen zu dem anderen Kontinent zu erforschen ein Thema, das ihn zuvor nie besonders interessiert hatte: "Implicitly and explicitly, this African-American choreographer fi·om a white suburb of Minneapolis was accused of betraying his race [... ] Looking back, Mr. Lemon acknowledges that his work was, as he put it, "Eurocentric. " Fora decade, the Ralph Lemon Company was the prototypical downtown dance troupe: absh·act, formalist and technical. Except for the choreographer, and the occasional dancer, his company, which he disbanded in 1995, was exclusive1y white." (Daly, Ann: Conversations About Race In the Language of Dance. In: The New York Times, 7.12.1997)
Lemon bezeichnet als seinen prägenden künstlerischen Kontext die Tanz- und Kunstavantgarde der 1970er und 80er, wichtige Namen für ihn sind beispielsweise Merce Cunningham, Meredith Monk und Bruce Nauman. Während der Afrika-Reise zur Vorbereitung von Geography lernte er dann an der Elfenbeinküste und in Guinea einige Tanzensembles kennen, aus denen auch die Tänzer stammen, mit denen er später zusammen arbeitete. In einem Interview bezeichnet er die afrikanischen Kollegen als "mirrors of my black self." (Lemon zitiert nach Daly ebd. ). Dieser Ausspruch lässt sich jedoch weniger als bloßes "Wiedererkennen" bzw. Erkennen des Gleichen verstehen, sondern eher im Sinne einer Reflexion in dem Bewusstsein dass das, was er sah, zwar Ähnlichkeiten aufwies, aber etwas grundsätzlich anderes war. Er fand hier den Anstoß, sich zum ersten Mal bewusst künstlerisch mit seinem "Schwarzsein" zu befassen und sagte über das Projekt Geography: "This dance is my ,Revelations."' (ebd.) Lemon bezieht sich hier auf das legendäre gleichnamige Tanzstück von Alvin Ailey, das 1960 in Rarlern Premiere hatte und - als Schwarze noch um die Zulassung zur Ballettausbildung kämpfen mussten - eine der ersten großen auch kommerziell erfolgreichen tänzerischen Auseinandersetzungen mit den Traditionen der schwarzen Bevölkerung der USA darstellt. Elf Episoden verwebten Erinnerungen Aileys (1931-1989) an Tanz, Musik, Feste und Rituale seiner Kindheit in den Südstaaten in einem Stil, der die Trennung zwischen Neoklassik,
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modern dance und dem, was man damals als Negro Dance bezeiclmete, überwand (vgl. Manning 2004: xiii ff.). Das Stück Geography von Lemon verband westafrikanische Elemente mit europäischer Musik, Tanz und Dichtung. Sein spezifischer Reiz bestand laut Rezensentirr Ann Daly darin, dass sehr unterschiedliche tänzerische Formen kontrastreich auf der Bühne interagierten - die energetisch stark aufgeladenen Bewegungsmuster der afrikanischen Tänzer mit dem eher reduzierten Stil der Amerikaner, die sowohl zu Bachs Goldberg- Variationen wie zu westafrikanischer Perkussion als auch zum Lärm von Autoalarmanlagen ausgeführt wurden (vgl. Daly, Ann: Conversations About Race In the Language of Dance. In: The New York Times, 7.12.1997). Das ist ein Hinweis darauf, dass Lemon sich seiner Unterschiede zu den Künstlern aus Afrika bewusst war. Er hat es vermieden, aufgrund der gleichen Hautfarbe gemeinsame Eigenschaften zu konstruieren und zu inszenieren. Es scheint zudem, als sei Lemon schon in dieser Produktion wenigstens ansatzweise auf die zentralen Probleme interkultureller Theaterarbeit gestoßen und habe nicht bloß rassistische, sondern auch kulturelle Stereotypisierung kritisch reflektiert. So hat er sich mit der Frage befasst, wie afrikanischer Tanz jenseits von Klischees und Exotismen präsentiert werden kann, die den Tänzer tendenziell als "primitiv", "ganzheitlich", "naturverbunden" erscheinen lassen (vgl. Sieveking 2004). Um solchen Stereotypisierungen entgegen zu wirken, ließ Lemon zum Beispiel alle Tänzer in Anzügen, nicht mit nackten Oberkörpern oder in afrikanischen Stoffen auftreten: "It was important to me that they were not wearing kente cloth, or fabric with obvious African marks. And then it got scary. The question became ,What's theirs? ' Or ,What am T leaving them?' T thought maybe they'd wear shoes. ,Be careful ', T thought, ,because you can go too far with this. You could completely strip them, so they're your dolls.' Tt's a struggle." (Lemon zitiert nach: Daly, Ann: Conversations About Race In the Language of Dance. In: The New York Times, 7.12.1997)
Geography ist daher sicher nicht im Sinn einer romantisierenden Negritude auf der Suche nach einer von den Europäern wwerdorbenen Natürlichkeit, einfachen Lebensfreude und Heimatverbundenheit der Afrikaner zu verstehen. Die Inszenierung dekonstruiert vielmehr die rassistische Vorstellung, dass alle Menschen mit dunkler Hautfarbe eine homogene Gruppe sind. Dies wird in Searching for Horne weitergeführt, wobei allerdings keineswegs negiert wird, dass es so etwas wie Blackness gibt. Das Projekt hat schließlich den spezifischen Anspruch, sich mit dem Schwarzsein zu befassen und es wirken nur Menschen mit dunkler Hautfarbe mit. Welches Bild von kultureller Differenz und schwarzer Identität wird also dabei gezeiclmet? Meiner Meinung nach entspricht es am ehesten dem Konzept afrodiasporischer Identitäten von Paul Gilroy, dem Black Atlantic. Es nimmt Begriffe wie "schwarz" oder race ernst und respektiert ihre lebensweltliche Relevanz für die Individuen, erkennt und
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akzeptiert jedoch auch deren hybride Natur und ihren Charakter als komplexe soziale Konstruktionen. Black Atlantic statt Negritude Vor etwa hundert Jahren hat W.E.B. Du Bois (1868- 1963) in seinem Buch The Souls of Black Folk (1903), ein Standardwerk zum Thema Blackness, zwei Metaphern gefunden, um die psychosoziale Selbsterfahrung von Afroamerikanern zu beschreiben - den Schleier und das doppelte Bewusstsein. Seine amerikanische Lebenswelt gestehe dem Schwarzen kein wahres Selbstbewusstsein zu, er könne sich selbst nur durch die Augen anderer wahrnehmen, jener, die nur Spott und Mitleid für ihn übrig haben: "One ever feels this twoness, - an American, a Negro; two souls, two thoughts, two reconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being tom asunder." (Du Bois [1903]2005: 7)
Du Bois beschreibt die Geschichte der Afroamerikaner als eme Geschichte des Versuchs, sich des Schleiers zu entledigen, als Sehnsuchtsgeschichte, ein doppeltes Selbst in ein einziges Selbst zu transformieren, ohne dabei eine der kulturellen Identitäten, die afrikanische oder die amerikanische, zu verlieren. Die existentielle Erfahrung der Fremdbestimmung durch den Blick des Anderen und das daraus resultierende doppelte Bewusstsein haben laut Du Bois auch eine spezifisch schwarze Ästhetik geprägt, die insbesondere in der Musik fruchtbar wurde: "In these songs, T have said, the slave spoke to the world. Such message is naturally veiled and half articulate." (ebd.: 246)
Und so ist auch nach Paul Gilroy eine spezifisch schwarze Ästhetik auf das doppelte Bewusstsein zurückzuführen, auf die Situation, ständig nicht ganz drinnen und nicht ganz draußen zu sein (vgl. Gilroy 2003: 73). Wichtig ist bei Du Bois und Gilroy, dass sie damit den Charakter afroamerikanischer bzw. afrodiasporischer Musik nicht auf einen eindeutig bestimmbaren, natürlichen, möglicherweise afrikanischen Kern zurückführen, wie dies auch bei "positiver" rassistischer Diskriminie-rung der Fall ist, etwa der Vorstellung, Schwarze könnten besonders gut tanzen oder trommeln- diese Form des Rassismus ist übrigens auf dem farbenfrohen, unbedarften interkulturellen Theater der 1970er bis 90er weit verbreitet. Gilroy und Du Bois führen die Gemeinsamkeiten in der Ästhetik vielmehr auf eine bestimmte Sozialgeschichte zurück, die sich in die Körper und Ausdrucksweisen als eine Form des Wissens und kultureller Identität eingeschrieben hat: "This subculture often appears tobe the intuitive expression of some racial essence but is in fact an elementary historical acquisition produced from the viscera of an
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Zur Pertorrnativität von Identität - Searching for Home alternative body of cultural and politicai expression that considers the worid critically from the point ofview ofits emancipatory transformation." (ebd.: 39)
Für Gilroy ist der Black Atlantic ein System historischer, kultureller, sprachlicher und politischer Interaktion und Kommunikation, das seinen Ursprung in der Versklavung von Afrikanern hat (vgl. Gilroy 2004: 13). Hier hat die moderne afrikanische Diaspora ihren Ausgang genommen und dann weltweit Kulturen geprägt, die etablierte Kultur- und Kunstbegriffe hinterfragen. 82 Zum einen durch ihre ins Auge springende Hybridität: So hat die Sklaverei unterschiedlichste Menschengruppen und Kulturen in hoch komplexen Konstellationen zusammengeführt- die Verschleppten kamen ja aus allen möglichen Teilen Afrikas -, was für die afrodiasporische Geschichte, die Sprachen, Glaubenssysteme und Künste freilich nicht ohne Folgen blieb. Black Atlantic ist gleichzeitig ein Modell der Verflechtung wie der Bewegung, es ist ein ein Modell kultureller Fluidität und führt, so Gilroy, "[ .. . ] nicht zu dem Land, in dem wir diesen speziellen Boden finden, in dem, wie uns gesagt wird, ,nationale Kulturen' keimen, sondern zum Meer und der Seefahrt auf dem und über den Atlantischen Ozean, wodurch eher fließende als starre ,hybride' Kulturen ins Leben gerufen werden." (ebd.). Zum anderen hat sich das Trauma der Verstreuung und Versklavung in die Kulturen des Black Atlantic eingeschrieben. Laut Gilroy sind die afrodiasporischen Kulturen "mit einem Schatten belastet, der sie hinterfragt: ein verstecktes, dissidentes Bewusstsein einer anders konfigurierten Welt" (ebd.: 22). Gilroy akzeptiert im Gegensatz zu radikalen Konstruktionisten also die Existenz "schwarzer" Identitäten und bezeichnet sie als "[ ... ] a coherent (if not always stable) experiential sense of self. Though it is often feit to be natural or sponta.neous, it remai.ns the outcome of practical activity: language, gesture, bodily significations, desires." (Giiroy 2003: 102)
Hier verweist Gilroy zudem auf die performative und körperliche Dimension von Blackness und damit von Identität überhaupt, die auch in Ralph Lernans Searching for Horne von grundlegender Bedeutung ist, wie das nächste Kapitel zeigen soll.
82 Den Begriff Diaspora (griech. "Zerstreuung"), der ursp1ünglich alle fern von Israel lebenden Juden meinte und dann auf andere religiöse und ethnische Minderheiten ausgedehnt wurde, benutze ich metaphorisch und lehne mich dabei an Stuart Halls Definition an: "Ich verstehe uns nicht als zerstreute Völker, deren Identität nur im Verhältnis zu einem gelobten Heimatland gesichert werden kann, und die unter allen Umständen, und sei es, das sie andere Völker ins Meer treiben, in ihre Heimat zurückkehren müssen. Diese Vorstellung entspricht der imperialistischen und hegemonialen Vorstellung von ,Ethnizität' [... ] Das Verständnis von Diaspora-Erfahrung, um das es mir geht, wird nicht von ,Essenz' oder ,Reinheit' bestimmt, sondern von der Anerkennung notwendiger Heterogenität und Verschiedenheit von einem Konzept von Identität, das mit und von - nicht trotz - DIFFERENZ lebt, das durch ,Hybridbildung' lebendig ist." (Hall2004: 32lf.)
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Zur performativen Konstitution von Identität Die identitätspolitischen Zusammenhänge und Fragen des Umgangs mit dem Fremdkulturellen werden in Searching for Horne - und das ist für die avancierteren F onnen interkulturellen Theaters generell typisch nicht bloß wie auf den vorangegangenen Seiten dargestellt, symbolisch bzw. zeichenhaft-repräsentativ verhandelt. Dies könnte jede traditionelle, naturalistisch-psychologische Inszenierung eines gesellschafts- bzw. kolonialkritischen Dramas ebenfalls leisten. 83 Searching fo r Horne geht deutlich weiter. Der Clou der Inszenierung besteht darin, dass sie die Fragen nach der Ästhetik des Theaters und danach, was "Verkörperung" ist, nach Zeichenhaftigkeit, Repräsentation, Präsenz und Performativität zu ihren wesentlich eigenen Fragen macht und damit über die bloße Kritik an überkommenen Kulturbegriffen oder rassistischen Stereotypisierungen hinausgeht: Sie macht erfahrbar, dass der Körper immer zugleich Natur und Kultur ist. So wirft sie die Frage auf, wie Identität (v.a. solche, die mit bestimmten Körpennerkmalen in Verbindung steht, z.B. "rassische" oder geschlechtliche) sich konstituiert, was im Folgenden anband des Anfangs der zweiten Szene von Searching f or Horne illustriert wird. Die Szene begann damit, dass Okwui Okpokwasili die Bühne betrat: Die Haare streng zurück frisiert, gekleidet mit einer schwarzen Anzugshose und einem rot glänzenden Cowboyhemd. Sie stellte sich mittig an die Rampe und ließ ihren Blick durchs Publikum schweifen, so, als wolle sie sich die Gesichter einprägen. Mit tiefer, ruhiger Stimme sprach sie in ein schnurloses Mikrophon: "Hallo. I' m Ralph Lemon." Nun setzte das Janis-Joplin-Stück ein und die Szene nahm ihren Verlauf, wie ich sie bereits beschrieben habe. Währenddessen, auch, als sie Playback sang, schaute die Performerio weiterhin die einzelnen Zuschauer an, die von der Begrüßung spürbar irritiert waren und teilweise anfingen zn tuscheln. Okpokwasili strahlt, was ihre Physis betrifft, eine gewisse Androgynität aus - sie ist sehr groß und extrem schlank, hat kaum Busen, schmale Hüften, ihre Stimme könnte auch einem Mann gehören. Indem sie eine männliche Identität behauptete, spielte die Perfonnerin mit einem zentralen Unterscheidungskriterium, das gemeinhin bei der Begegnung mit einem anderen Menschen angewendet wird, um sich von ihm ein "Bild zu machen": Neben dem Alter gehören insbesondere das Geschlecht und, je nach Kontext, die Hautfarbe mit zu den wichtigsten Kategorien. Sind solche Unterscheidungen nicht eindeutig zu fällen, fuhrt dies zu Verwirrung.84 So bekam ich mit, dass meine Nachbarn sich fragten, ob das nun 83 Was durch das reiche Repertoire des afroamerikanischen Theaters und Dramas illustriert wird (vgl. Hill/Hatch 2004: 375-429). 84 Hier ist anzumerken, dass es einen Unterschied zwischen "Typisierung" und "Stereotypisierung" gibt: Ohne Typisierungen, Kategorisierungen und das Zuweisen bestimmter Rollen wäre es schwierig, sozial zu interagieren, ja, sich überhaupt in der Welt zurecht zu finden, wie Hall es formuliert: "[ ... ] we co-
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"echt" der Regisseur Ralph Lemon sei. Sie begannen über das Geschlecht der Darstellerirr zu diskutieren: "Das ist doch nicht Ralph Lemon, das ist doch eine Frau." "Bist Du Dir da sicher?" "Stimmt, ist vielleicht doch ein Mann." Nach der kurzen Playback-Einlage erklärte die Performerirr dann, dies sei Ralph Lemon gewesen, der Janis Joplin nachahme, die ein Lied von Nina Sirnone singe. Nun werde sie selbst Nina Sirnone nachahmen, die wiederum ein Lied von Jacques Brei nachsinge. Die Irritation bei meinen Nachbarn (und auch bei mir) legte sich ("Ich habe Dir doch gesagt, dass das nicht Ralph Lemon ist"). Allerdings blieb ein Gefühl von Unklarheit, denn man wusste ja immer noch nicht, wer sie war, wenn sie schon nicht Ralph Lemon war. Bedeutsam dabei ist, dass der Satz "I'm Ralph Lemon" nicht durch einen mimetischen Akt in dem Sinne begleitet wurde, als Okwui Okpokwasili durch eine bestimmte Mimik oder Körperhaltung versucht hätte, so auszusehen wie ein Mann. Die Performerirr tat nichts Besonderes sie stand einfach da, ihr phänomenaler Körper wirkte sehr präsent und verweigerte durch seine Androgynität eine eindeutige Aussage, ebenso wie ihre Kleidung, die keine bestimmte Figur kostümierte: So forderte ihr Körper gleichzeitig zur Lektüre auf und entzog sich der Lesbarkeit. Durch einen Sprechakt wurde eine männliche Identität hervorgebracht und es war durchaus nicht auszuschließen, dass da Ralph Lemon auf der Bühne stand, der sich damit als ein recht feminin wirkender Mann erwiesen hätte. Genauso aber schien es möglich, dass dort ein Schauspieler oder eine Schauspielerirr eine Rolle übernahm, in dem er oder sie erklärte "Ich spiele ab jetzt Ralph Lemon, verkörpere die Figur Ralph Lemon."85 Erst als die Performerirr sagte, das sei Ralph Lemon gewesen, der Janis Joplin imitiert habe, die Nina Sirnone nachgesungen habe, wurde expliziert: Es handelt sich hier um Theater. Da steht jemand auf der Bühne, der wen anders darstellt. Allerdings machte Okpokwasili trotz dieser An-
me to ,know' something about a person by thinking of the roles which she or he performs: is he/she a parent, a child, a worker, a Lover, boss or an old age pensioner? We assign hirn/her to the membership of different groups, according to class, gender, agegroup, nationality, ,race', linguistic group, sexual preference and so on. We order hirn/her on terms of personality type - is he/she a happy, serious, depressed, scatter-brained, over-active kind of person? Our picture of who the person 'is' is bui lt up out of the information we accumulate from positioning hirn/her within these different orders of typification." (Hall 1997: 257) Stereotypisierung dagegen reduziert die Person auf einprägsame Eigenschaften und verstellt, indem es diese vereinfacht, essentialisiert und naturalisiert, den Blick auf individuelle Unterschiede und auf soziale Gemeinsamkeiten. 85 Hier finden sich übrigens Parallelen zu Jeröme Bels Inszenierung The Last Performance, detailliert analysiert von Gabriele BrandsteUer und Sibylle Peters (Brandstetter/Peters 2002: 15ff.). Auch dort ist das Oszillieren zwischen Autor-Subjekt und Rollenfigur zentral.
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sage keine Anstalten, jemanden mithilfe der mimetischen Schauspielkunst nachzuahmen und veränderte ihren Habitus überhaupt nicht. Verkörperung Die Anfangssequenz von Szene 2 in Searching or Horne zeigte durch die Negation der psychologisch-realistischen Schauspielkunst und das daraus resultierende Verwirrspiel zunächst einmal, dass theatrale Darstellung gleichermaßen Verkörperung und Spiel mit Zeichen und Bezeichnungen ist. Das Verhältnis Schauspieler/Figur ist dadurch bestimmt, dass die je hervorgebrachte Figur unauflösbar mit der individuellen Körperlichkeit, dem phänomenalen Leib des Schauspielers verbunden ist und ohne diesen nicht existieren kann (vgl. Fischer-Lichte 2004: 256). An dieser Stelle muss allerdings angemerkt werden, dass es in der Theatergeschichte immer wieder signifikant unterschiedliche Konzepte von "Verkörperung" gegeben hat und sich der Begriff überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte. Er zielte darauf, dass nicht mehr der Schauspieler, sondern nur noch die Figur wahrnehmbar sein sollte. Fischer-Lichte hat plausibel dargelegt, dass diese Vorstellung mit dem Phantasma der vollkommenen Beherrschbarkeit des Körpers zu tun hat (vgl. ebd.: 137). Die vorliegenden Ausführungen basieren freilich eher auf einem Begriff von Verkörperung, der, mit Plessner und FischerLichte gesprochen, eine Doppelung von Leib-Sein und Körper-Haben, d.h. auch: phänomenalem Leib und semiotischem Körper impliziert: "Verkörpern meint hier, am bzw. durch den Körper etwas zur Erscheinung zu bringen, das nur durch den Körper Existenz hat." (ebd.: 142) In Searching f or Horne passierte nicht, was die realistisch-psychologische Schauspielkunst fordert: nämlich, dass der Schauspieler seinen phänomenalen Leib weitgehend in einen rein semiotischen verwandelt. Vielmehr wurde jeglicher Illusionscharakter unterlaufen und die Identitätssuggestion so durchkreuzt. Der Satz "I am Ralph Lemon" war ein Akt der Benennung, der ein Grundgesetz des Theaters ist, ja die "Gründungsgeste des Theaters schlechthin" (Brandstetter/Peters 2002: 14). Darüber hinaus handelte es sich bei dem Sprechakt Okpokwasilis gleichzeitig um eine weitere Konventionen des illusionistischen Theater brechende, weil appellative, konfrontative Ansprache der Zuschauer: Die Sprachfigur "Ich", die Begrüßung, der Blick in die Gesichter derer im Saal, schufen ein direktes Verhältnis zwischen Performerio und Publikum- eine "Vierte Wand" war nicht existent. Die Kommunikationssituation inklusive Identifikation über Zuschreibung bzw. Benennung wurde damit nicht repräsentieti, sondern unmittelbar vollzogen und gleichzeitig gestört. Die Zuschauer, die ja traditionell im Theater einen Beobachterposten in sicherer Distanz haben, wurden Teil der Interaktion, erlebten, sahen nicht bloß anderen dabei zu, wie die eigene Subjekthaftigkeit und die Objekthaftigkeit der Darstellerirr ins Wanken gerieten. Und so entstanden
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heftige Rahmenkollisionen, wie Fischer-Lichte es mit Ervin Goffman sagen würde: "Die Teilnehmer/Zuschauer werden in ihren Erwartungen enttäuscht, wenn sie sich auf einen bestimmten Rahmen beziehen wollen. [... ] Sie finden sich in einem Zustand zwischen allen Regeln wieder, zwischen allen festen Positionen. Diese radikale Form eines ,betwixt and between' (Victor Turner), wie sie ein permanentes Spiel mit Rahmen, Gemes von cultural performances, Erwartungen etc. schafft, kann Spiel- und Freiräume fur Innovationen öffuen; sie kann aber auch in ihrer Entdifferenzierung zu Chaos und Gewalt fuhren." (Fischer-Lichte 200 I: 290)s6 Okpokwasilis Körper, der in Searching for Horne auf der Bühne stand, befand sich also in einem überaus komplexen Kontext, in dem Welten (Realität und fiktive Theaterwelt) und soziale Kategorien (Geschlecht und "Rasse") auf eine verwirrende Art und Weise verschränkt wurden: Dieses Vorgehen untergrub die Konventionen, mit denen wir normalerweise zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden und in sozialer Interaktion Identitäten zuschreiben. Die Zuschauer wurden im Unklaren darüber gelassen, ob der Satz "I am Ralph Lemon" ein theatraler Akt, eine der Wirklichkeit entsprechende Feststellung, oder eine einfache Lüge war. Searching jor Horne stellt so die Frage, ob die Grenze zwischen der Darstellung auf der Bühne und der im alltäglichen Leben eine eindeutige, strikte ist, oder ob es sich hier nicht vielmehr um sehr ähnliche Phänomene handelt. Zuschreibung und Benennung Unter anderem durch die antimimetischen Verfahren, die in dieser Inszenierung zur Anwendung kommen, wird Derridas These gestützt, dass kein struktureller Unterschied zwischen Bühne und Nicht-Bühne hinsichtlich performativer Akte und ihrer Bedeutung für die Identitätskonstitution besteht. Zuschreibungen und Benennungen spielen bekanntlich auch in der sozialen Realität eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von Identitäten: Bourdieu hat darauf aufmerksam gemacht, dass die soziale Welt eine Reihe von Institutionen entwickelt hat, die das "Sich-gleichBleiben eines verantwortlichen das heißt vorhersehbaren [...]intelligiblen Wesens" (Bourdieu 1998: 78) gewährleisten, wobei der Eigenname eine der wichtigsten ist, da er nominale Konstanz und damit Identität im Sinne von Identischsein mit sich selbst sichert. Es ist bedeutsam, dass in der Aufführung aber nicht nur mit dem Eigennamen "Ralph Lemon" gespielt wurde, sondern weitere Benennungen, Identitätszuschreibungen und Distanzierungen durch die lange mimetische Kette Okwui Okpokwasili Ralph Lemon- Janis Joplin- Nina Sirnone entstanden. Denn diese enthielt einen Shift von weiblich zu männlich und umgekehrt, sowie von 86 Vgl. allgemein zur Konstitution von Rahmen und Phänomenen der Transforma-
tionen, Brüche, Manipulationen von Rahmen: GofJ'man 1999. 139
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"Schwarz" zu "Weiß."87 Es ging in dieser Sequenz demnach um eine Ausstellung ethnischer und geschlechtlicher Differenz, um das Ausloten offener Spielräume und die Konstruktion von Figuren und Identitäten im Zusammenspiel aus Darstellung und Wahrnehmung. Dabei wurde die Macht des Wortes und der Zuschreibung durch andere vor Augen geführt, was im späteren Verlauf der Szene auch noch einmal verbal auf den Punkt gebracht wurde, als Okwui Okpokwasili die Fortsetzung der Geschichte aus der Schule vortrug: "And I said ,What did you just call me?' And she said ,NIGGER' . I said: ,Call me that agairr and 1'11 slap you in the face.' And she said: ,NIGGER.' And I said- Slap - ,You are the NIGGER! Call methat again and I slap you in the face.' And she said ,NIGGER. ' And I said - Slap - ,Ca II me that again. And I' II slap you again. ' And this went on and on for a while. And then my mt teacher comes over and says: ,Girls! What is going on here? What are you doing? ' And I said: ,Dawn is calling me a NIGGER.' And my teacher Iooks at Dawn and says: ,Dawn?!' and Dawn says: ,She is calling me a NIGGER'. And my mt teacher Iooks atme and at Dawn. Then she says to me: ,Okwui- Dawn can't be a NIGGER.'"
Die Anekdote Okpokwasilis von dem Streit mit dem weißen Schulmädchen stellt die Frage: Kann jemand, der eine dunkle Hautfarbe hat, behaupten, er sei "weiß" und umgekehrt? Und was hat das für Folgen? Wenn die Lehrerin am Ende der Passage erklärt, die weiße Klassenkameradin könne kein "Nigger" sein, impliziert das, dass Okwui einer sein kann, auch wenn sie das selbst nicht so sieht. Ralph Lemon, in den USA immer als Schwarzer rassifiziert, machte bei seiner Afrikareise hingegen die Erfahrung, plötzlich zum "Weißen" zu werden: "Most Ghanaians refer to me as a white man. I asked one man why and his reply was ,Because you are not from Africa. '" (Lemon 2000: 30)
Das heißt: Ohne die Kategorie des Weißseins gibt es kein Schwarzsein. Und wo das Wort "weiß" "nicht-afrikanisch" bedeutet, ist eben auch Ralph Lemon nicht "schwarz". Im Gegensatz zu Vertretern essentialistischer ldentitätsbegriffe, die davon ausgehen, dass Identität immer einen grundlegenden, intrinsischen Kern hat, lässt sich also mit Hall sagen, dass Identitäten durch Differenz und Negation vom Anderen bestimmt werden: "Every identity has at its ,margin' an excess, something more. The unity, the internal homogeneity, which the term identity treats as foundational is not a natural, but constructed form of closure, every identity naming as its necessary, even if silenced and unspoken other, that which it ,Iacks'." (Hal11996: 5)
87 Signifikant ist dabei auch, dass Joplin eine Ikone des Feminismus ist, berühmt für das Brechen weiblicher Rollenklischees.
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Identität ist damit analog zum anti-essentialistischen Kulturbegriff immer ein temporärer, instabiler Effekt von Beziehungen, die größtenteils kommunikativ ausgehandelt werden. Die Einheiten, die Identitäten proklamieren, werden - und dies wird in der beschriebenen Szene deutlich - in einem machtbestimmten Spiel von In- und Exklusion konstruiert und sind nicht das Ergebnis unvermeidbarer natürlicher Verhältnisse, sondern naturalisierter Schließungsprozesse. Benennungen und Zuschreibungen als "schwarz" oder "weiß", als "weiblich" oder "männlich" sind allerdings trotz aller Relativität konstituierend für Identitäten und höchst folgenreich für die Individuen. Die körperliche Dimension von Identitätskonstruktionen Dass es sich bei Prozessen der Identitätskonstruktion nicht nur um kognitive und sprachliche Vorgänge handelt, sondern um Prozesse, die sich in die Körper einschreiben, sie affizieren und transformieren, ist in einer berühmten Passage in Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken eindrücklich beschrieben. Als junger Mann war er auf der Straße einer weißen Französin und ihrer kleinen Tochter begegnet. Das Kind rief: "Mama, schau doch der Neger da, ich hab Angst!" Fanon erinnert sich: "Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale - und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe [... ].An jenem Tag, da ich desorientiert war, außerstande, mit dem anderen, dem Weißen draußen zu sein, der mich unbarmherzig einsperrte, begab ich mich weit, sehr weit fort von meinem Dasein und konstituierte mich als Objekt. Was war es für mich anderes als eine Loslösung, ein Herausreißen, ein Blutsturz, der auf meinem ganzen Körper schwarzes Blut gerinnen ließ?" (Fanon 1985: 81)
Diese Beschreibung erinnert an ein Geräusch in Searchingfor Horne, das immer zu hören war, wenn das Wort "Nigger" fiel: Jedesmal, wenn die Performerirr in ihrer Anekdote es aussprach, kam ein extrem lautes Geräusch aus den Lautsprechern im ZuschauersaaL Dieses wurde ab jetzt die ganze Aufführung lang jedes Mal eingespielt, wenn jemand den Begriff benutzte. Der dissonante Krach zerriss zwar nicht das Trommelfell wie bei Fanon, aber schmerzte in den Ohren und interessanterweise hörte er sich an wie ein verstimmtes Streichquartett, das schließlich den Prototyp europäischer bürgerlicher Musik des 19. Jahrhunderts darstellt. Dem Publikum wurde eine körperlich unangenehme Erfahrung zugemutet, die parallel auf die körperliche Dimension von (rassistischen) Zuschreibungsprozessen und Identitätskonstitution verwies. Eine Pointe liegt dabei darin, dass die "Schwarzen" auf der Bühne das Geräusch nicht zu hören schienen- sowenig wie das Kind in Fanons Anekdote wohl gespürt hat, was es dem Mann auf der anderen Straßenseite antat: Rassistische Zuschreibungen müssen nicht bewusst erfolgen, was sie allerdings nicht weniger wirksam macht. Es ist sogar eher davon auszugehen, dass 141
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sie meist unabsichtlich geschehen: Ob es nun Okpokwasilis Kunstlehrerin ist, die ihre kleine afroamerikanische Schülerirr mit einem unbedachten Satz zum "Nigger" degradiert oder der Theaterregisseur, der mit exotistischen Bildern im Kopf auf der Suche nach Naturverbundenheit schwarze Tänzer in seine Inszenierung einbaut. Um den Zusammenhang von Körper, Identität und Performativität zu beleuchten, ist die Lektüre von Merleau-Pontys Kapitel Der Leib als geschlechtlich Seiendes und seine Rezeption durch Judith Butler aufschlussreich. So schreibt Merleau-Ponty: "Alles im Menschen ist Notwendigkeit, es ist kein bloßer Zufall, daß dieses vernünftige Wesen z.B. zugleich ein solches ist, das aufrecht geht und dessen Daumen den übrigen Fingern gegenüber liegen: im einen wie im anderen bekundet sich dieselbe Weise des Existierens. Und alles im Menschen ist Kontingenz, insofern nämlich diese menschliche Existenzweise nicht einem jeden Menschenkind zum voraus auf Grund eines Wesens gewährleistet ist, das es bei seiner Geburt schon empfangen hätte, sie vielmehr beständig durch alle Zufalle des objektiven Leibes hindurch sich wiederherstellen muß. Der Mensch ist eine geschichtliche Idee, keine natürliche Spezies." (Merleau-Ponty 1966: 203)
Damit meint Merleau-Ponty, dass der Körper nicht bloß faktische Materialität ist, sondern eine Materialität, die Bedeutung trägt, die wiederum durch konkrete und historisch verortbare Artikulation performativ entsteht. Butler führt diesen Gedanken weiter, wenn sie die These vertritt, dass der Körper in seiner spezifischen Materialität das Ergebnis performativer Akte ist (vgl. Butler 1997: 32lf.). Der Körper als geschlechtlich, ethnisch oder kulturell markierter ist also nicht nur natürlich gegeben, sondern zugleich auch "gemacht". Zuschreibungen wie "Ein Mädchen!" oder "Ein Schwarzer!" schaffen körperliche "Wirklichkeit". In der zweiten Szene von Searching for Horne stand mit Okwui Okpokwasili eine afroamerikanische Frau auf der Bühne, die die realen "rassischen" und geschlechtlichen Markierungen ihres Körpers ausstellte und gleichzeitig überspielte. Die Figur als einheitliche Gestalt wurde fragmentiert, wurde offen flir Zuschreibungen und Selbstbenennung, durch ihren materiellen Körper determiniert und doch zum Spiel mit ihm fähig. Dadurch, dass in Searching for Horne kein Theaterbegriff im traditionellen Sinn des Illusionismus zur Anwendung kam, verwies diese Szene wie gesagt darauf, dass nicht nur auf dem Theater, sondern auch im realen Leben Identitätsbildung, Performativität und Körperlichkeit eng zusammenhängen. Mimesis und Körperprägung
Der Mensch bringt sich durch Bewegungen, Aktivitäten und Handlungen selbst hervor und wird dabei gleichermaßen von seiner Umwelt geformt, wie er sie zu einem Teil seiner selbst macht. Die besondere mimetische Fähigkeit des Menschen ist aus anthropologischer Sicht gebunden an 142
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seine Offenheit, seine Angewiesenheit auf das Lernen, seine minimale Instinktausstattung und den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion (vgl. Wulf 1997: 1016). So fängt das Kind gleich nach seiner Geburt an zu lernen; es eignet sich die Welt an, indem es nachahmt. Durch diese "Aneignungsmimesis" werden kulturelle Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Werte zwischen den Generationen tradiert. Daher spielen die Begriffe Mimesis und Mimikry auch nicht nur eine wichtige Rolle in der Kunstund Theaterwissenschaft, sondern auch in sozialwissenschaftliehen oder psychologischen Identitätstheorien. 88 Mimetische Prozesse sind sinnlichkörperlich und in höchstem Maße performativ. Sie können synchron sein und sich unmittelbar auf Gegenwärtiges beziehen, aber auch Formen von Erinnerung sein. Durch mimetische Prozesse wird auch der einzelne Körper kulturell geprägt. Der Körper ist, mit Bourdieu gesagt, die Materialisierung eines kultur-, geschlechts-, klassen- und ethnospezifischen Habitus: "Der Habitus erfullt eine Funktion, die in einer anderen Philosophie dem transzendentalen Bewusstsein überlassen wird: Er ist ein sozialisierter Körper, ein strukturierter Körper, ein Körper, der sich die immanenten Strukturen einer Welt oder eines bestimmten Sektors dieser Weit, eines Felds, einverleibt hat und die Wahrnehmung dieser Welt und auch das Handeln in dieser Welt strukturie1t." (Bourdieu 1998: 145)
Kodes, die historisch und kulturell variieren, bestimmen also Körpermarkierungen und -zeichen, die den Körper im Sinne einer bestimmten kulturellen Identität lesbar machen. Das erlebte auch Ralph Lemon bei seinen Versuchen, "afrikanisch" tanzen zu lernen: "He tried to inhabit the Africans' way of moving while recognizing that goal as an impossibility: ,You can never really give up your own culture, but you have to surrender to the situation."' (Daly, Ann: Conversations About Race In the Language ofDance. In: The New York Times, 7.12.1997)
88 Mimesis war stets ein zentraler Begriff in der Geschichte der europäischen Ästhetik (vgl. hierzu Gebauer/Wulf 1998). Mimetische Prozesse werden als Mimikry bezeichnet, wenn sie zu Angleichung an Vorgegebenes fuhren. Geht es eher um Ähnlichkeit und Differenz, wird meist von Mimesis geredet, wobei die begriffliche Präzisierung bei vielen Theoretikern zu wünschen übrig lässt. Die verschiedenen Bedeutungsnuancen zeigen sich bereits in der klassischen Philosophie: Platon bewertet Mimesis eher negativ als Nachahmung von Erscheinungen, die nicht in der Lage sind, eine höhere, ideale Welt abzubilden. Aristoteles wertet Mimesis auf, indem er sie als kreativen Prozess konzeptualisiert, der in der Nachahmung etwas Neues, gar Besseres schafft (vgl. Iser 2002: 243ff.).
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Ralph Lemon kommt aus dem modern und postmodern dance, ist stark von Merce Cunningham beeinflusst und entsprechend sind die Passagen, in denen er selbst tanzt, geprägt: "I mean you grew up looking at things in a certain kind of way. There are roles, there is a whole paradigm to that. I am dealing with that too, it is also in my own body. I am trying to transgress it, but I do not know how. I grew up as a modemist
So I go to places like Africa and Asia, to places I do not know, trying to get some new information. But I don't go there to live and become native. I come back and bring all that back to my certain modern point ofview." (Lemon im Interview mit der Autorin, 10. Juni 2003)
Er kann nicht "afrikanisch" tanzen, nur weil er schwarz ist, wie auch Okwui Okpokwasili deshalb nicht gern Djembe hören muss. Obwohl Lemon eine ähnliche Hautfarbe wie Djedje Djedje Gervais von der Elfenbeinküste hat, unterscheiden sich die beiden in ihren Tanzstilen, wie in der Gegenüberstellung in der ersten Szene klar geworden ist, ganz grundlegend. Es wird deutlich, dass Tanz, ebenso wie jede andere Körpertechnik kulturell geprägt ist und kein "reiner" Ausdruck einer natürlich gegebenen Identität, sondern etwas Kultiviertes und Kultivierendes. Dadurch wird nicht nur das Stereotyp des "natürlichen" Afrikaners ad absurdum geführt, sondern das Individuum als solches in seiner sozialen Konstruiertheit deutlich: "Der Körper als soziales Gebilde steue11 die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest." (Douglas 1986: 99)
Es handelt sich also um ein Beziehungsgeflecht aus mimetischen Repetitionen, Zitaten und Abweichungen, das Kategorien wie Geschlecht, "Rasse", kulturelle Identität hervorbringt, wobei Butler betont, dass erst die "stilisierte Wiederholung von Akten," (Butler 2002: 302) feste, materialisierte Kategorien schaffen kann. Unmittelbarkeit und Authentizität werden so zu problematischen Konzepten. Indem Lemon dies vor Augen führt, nimmt er eine grundsätzlich konträre Haltung zu seinen Vorgängern ein, die versuchten, den Negro Dance salonfähig zu machen, indem sie ihn mit "Natürlichkeit" positiv aufluden, wie beispielsweise die legendäre afroamerikanische Choreographirr Katherirre Dunham, wenn sie etwa den Jitterbug beschreibt: "Unsere Industriegesellschaft baut Spannung auf: Sie sperrt die Menschen in Muster ein. Beim Jitterbug löst sich die Spannung in einem wilden, sehr freien und unbeschränkten Tanz." (Dunham in: Brandstetter/Völckers 2000: 177)
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Der Körper als Konstrukt der Ränder Im postkolonialen, feministischen oder queeren Zusammenhang erscheint der Körper als Konstrukt der Ränder: Ausgrenzung macht sich an Hautfarbe, Physiognomie, Geschlechtsorganen fest. Unterdrückung, Disziplinierung, Sexualität, Begehren, Macht, Reproduktion schreiben sich in die Körper ein, was insbesondere Foucault beschrieben hat: "Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen. Diese politische Besetzung des Körpers ist mittels komplexer und wechselseitiger Beziehungen an seine ökonomische Nutzung gebunden; zu einem Gutteil ist der Körper als Produktionskraft von Macht- und ReiTschaftsbeziehungen besetzt[ .. . ]" (Foucault 1994: 37)
An dieser Stelle soll noch einmal auf das Spiel Okpokwasilis mit den Hufeisen in Searchingfor Horne zurückgekommen werden, was am Ende der Aufführung erneut einen prominenten Platz einnahm. In der vorletzten Szene trat Ralph Lemon mit Mikrophon an die Rampe: "What's horseshoe in German?" fragte er das Publikum. Ein Zuschauer rief ihm "Hufeisen!" zu. Dann kam Okwui Okpokwasili ebenfalls nach vom, mit den Hufeisen, und stellte sich schräg hinter Lemon, der nun mit einem breiten Lächeln erklärte, "Horseshoe" sei ein beliebtes Kinderspiel in den USA. Es bestünde daraus, dass man Erwachsenen-Schuhe vor sich her werfe und dann versuche, auf ihnen zu gehen. Lemon imitierte in Tonfall, Gestik und Mimik den Moderator einer Quizshow, durch die aktive Publikumseinbeziehung wurde dieser Eindruck verstärkt. Die Erinnerung an die vorangegangene Szene, in der Okpokwasili gleichzeitig mit dem sexualisierten Film auf den Hufeisen erniedrigende Haltungen eingenommen hatte, ließ das als zynische Verharmlosung erscheinen, als unzulässige Verengung des Assoziationsraums, der zuvor geöffnet worden war. Zumal Ralph Lemon im Anschluss eine kleine abstrakte Bewegungsabfolge durchführte, zu der er parallel erklärte, es handele sich dabei um ein "lynching ritual", und zwar ein ganz besonderes: "This one is from Duluth, Minnesota, a place way in the nmih. This one is from Duluth, Minnesota. There arenot many BLACK people. BLACK people."
Beim ersten, von Ralph Lemon besonders betonten "Black", ließ Okpokwasili die Hufeisen auf den Boden fallen, beim zweiten ging sie auf alle Viere, scharrte mit dem Bein wie ein Pferd. Lemons verbal vorgebrachte Zeichen legten zwar den Schluss nahe, dass es sich hier bloß um ein harmloses Kinderspiel handelte - durch den weiteren Kontext bekam das Spiel mit den Hufeisen jedoch eine ganz andere Konnotation. Es enthielt einerseits einen Verweis auf ein historisches Ereignis: So gab es 1920 einen bekannten Lynchmord in Duluth, bei dem drei schwarze 145
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Männer fälschlicherweise der Vergewaltigung einer hellhäutigen Frau angeschuldigt und dann vom weißen Mob ermordet wurden (vgl. Bims 2005: 21). Abstrakter verwies es auf die körperliche Zurichtung schwarzer Menschen. Dass ein paar Requisiten oder die Bezeichnung ,,Black" ausreichend sind, um aus einem aufrecht stehenden Menschen ein erniedrigtes Geschöpf zu machen, verdeutlichte ein weiteres Mal die Beliebigkeit solcher Dominanzverhältnisse. Willkürlich und kontingent zwar, aber auch so mächtig, den unterdrückten Menschen völlig zu verändern, seinen Körper zu transformieren. Dies wurde zusätzlich gekoppelt mit Ralph Lemons sachlich-prosaischem Vortrag, dass ungefähr funftausend Lynchmorde an Afroamerikanem registriert seien, die Dunkelziffer sei aber wesentlich höher. Die ständige Bedrohung des Körpers, der physischen Existenz schwarzer Menschen selbst in den nördlichen USA, dem traditionell als progressiv geltenden Minnesota, aus dem Lemon stammt, wurde spürbar. Postkoloniale Mimikry und Subversion Nur weil er durch Einschreibungsprozesse geprägt ist, lässt sich der Körper allerdings längst nicht eindeutig lesen. Es handelt sich bei den hier skizzierten Prägungen gleichermaßen um Einschreibung und um Einverleibung. Dadurch, dass Mimesis als Komponente nicht nur das Außen, also die Welt und das Vorgegebene hat, sondern auch das Individuum, hat sie immer auch kreativen Charakter: "Mimesis schließt den nachgeahmten Gegenstand, den Prozeß der Nachahmung und den Nachahmenden zusammen, wobei im nachgeahmten Gegenstand die Stmkturen schon angelegt sind, die die Richtung des mimetischen Prozesses im Nachahmenden steuern." (Wulf I 997: 1015)
Gerade im postkolonialen Kontext - im Spannungsfeld von Unterdrückung, Subversion und Wiederaneignung - stellt sich die Frage, ob hier ein widerständiges Moment liegen könnte. Können Mimesis und Mimikry emanzipative Taktiken oder offensive Strategien der "Schwächeren" bzw. der Minderheiten sein, oder sind diese gezwungen, die Eigenarten der "Stärkeren" bzw. der Mehrheitsgesellschaft zu übernehmen? Butler rekurriert bezeichnenderweise auf ein Theatralitätsmodell von Performanz, wenn sie die Möglichkeit von eigenständiger Handlungsfähigkeit feststellt: "Der Körper wird nicht passiv mit kulturellen Codes beschrieben wie ein lebloser Ernpfauger gänzlich vorgegebener kultureller Beziehungen. Das verkörperte Selbst geht aber auch den kulturellen Konventionen, die im wesentlichen Körpern Bedeutung verleihen, nicht voraus[ ... ] Wie sich ein Text aufverschiedene Weisen inszenieren lässt und wie das Stück sowohl den Text wie dessen Interpretation erfordert, so setzt der geschlechtsspezifische Körper seine Rolle in einem kulturell be-
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Zur Pertorrnativität von Identität - Searching for Home schränkten Körperraum um und inszeniert Interpretationen innerhalb der Grenzen bereits gegebener Anweisungen." (Butler 2002: 313)
Bhabha, der gegen Said argumentiert, dass die Macht nie ausschließlich im Besitz der Kolonisatoren war - sonst hätte schließlich auch der antikoloniale Widerstand wirkungslos bleiben müssen - meint, dass das kolonisierte Subjekt durchaus in der Lage ist, in den Rissen der dominanten Diskurse zu intervenieren und subversiv zu agieren. So beschreibt Bhabha die koloniale Mimikry als einen Prozess, der ein koloniales Subjekt produziert, das wie der Kolonisator ist und gleichzeitig anders: "nicht ganz/nicht weiß." (Bhabha 2000: 136) Es nimmt die äußerlichen Formen an, internalisiert die Werte und Normen der Kolonialherren - es ahmt oft perfekt nach, bleibt jedoch immer mit einem Makel behaftet, der aus dem Unterschied zwischen "Anglisiertsein" und "Englischsein" besteht. So existiert eine fixierte Differenz in diesem System, wobei der Kolonisierte freilich der Minderwertige ist, und daher bezeichnet Bhabha koloniale Mimikry als ironischen Kompromiss, bei dem das strategische Scheitern, das eigene Entgleiten konstitutiv dazugehört (vgl. ebd.: 126). In Searchingfor Horne scheint dies im ständigen Verweis auf die mehr oder weniger subtile Diskriminierung assimilierter Schwarzer auf: Der Schwarze, auch wenn er noch so zivilisiert erschien, durfte etwa lange nicht in die Hochburg der weißen bürgerlichen Kultur, die Oper hineingelassen werden (Roland Hayes/Jessye Norman/ Lucia Popp/ J.S. Bach) oder auch ins Ballett (Alvin Ailey). Koloniale Mimikry kann allerdings auch Zeichenregime unterlaufen, indem sie scheinbar selbstverständliche Wahrnehmungskonventionen bedient, diese aber zugleich zum Thema und damit fragwürdig macht. Der Effekt einer solchen, häufig parodistischen Nachahmung an den Grenzen kultureller, "rassischer", geschlechtlicher und sozialer Unterschiede besteht in der Denaturalisierung der Dominanzstruktur, sie enthüllt - intendiert oder nicht - deren soziale Konstruiertheit und damit die Möglichkeit von Veränderung. Die durch performative Mimesis in den Grenzgebieten hervorgebrachten hybriden Formen weichen so die Grenzlinien im Akt ihrer Überschreitung auf. 89 Nach Bhabha erzeugt Mimikry
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Auf dieser Basis ist auch der Erfolg schwarzer Minstrelsy-Shows bei der schwarzen Bevölkerung im 19. Jahrhundert zu verstehen, der ersten Auftrittsmöglichkeit fiir afroamerikanische Musiker und Schauspieler. MinstrelsyShows bestanden ursprünglich daraus, dass Weiße sich die Gesichter schwärzten und vor weißem Publikum komische Szenen spielten. Der Unterhaltungswert für das weiße Publikum entstand insbesondere durch die derbe Inszenierung rassistischer Stereotypen. Indem die Schwarzen die blackface-Praktiken imitierten und damit sowohl das weiße Publikum (direkt) als auch das schwarze Publikum (indirekt-ironisch) unterhielten, schufen sie sich die Möglichkeit,
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nicht zuletzt deshalb bei den Kolonialherren leicht Paranoia: jede Abweichung erschüttert dessen Autorität, zudem muss er stets zwischen Unterwerfung und hinterhältiger Maskerade unterscheiden, denn Mimikry ist auch Schutz im Sinn von Camouflage. Gerade auf den Sklavenplantagen, auf denen die Arbeit durch systematische Gewaltanwendung und permanente Überwachung erzwungen wurde, war offener Widerstand lebensgefahrlich und daher wurden subversive Strategien entwickelt. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Sign{fYing Monkey, der für den Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates die zentrale afroamerikanische Tricksterfigur darstellt. 90 Beim Sign{fYing handelt es sich um den Einsatz verschiedener rhetorischer Stilmittel wie Ironie, Metaphern, Übertreibungen, durch die sich Dinge indirekt ausdrücken lassen. Es gilt als fester Bestandteil des Black English und ist aus der Praxis schwarzer Sklaven hervorgegangen, Elemente des American English mit anderen, oft gegensätzlichen Bedeutungen zu belegen, um sich verständigen zu können, ohne von Weißen verstanden zu werden. Mimikry im Sinne des Sign{fYing Monkey schützte so die informellen sozialen Netzwerke, die sich in der oralen Tradition artikulierten, aber auch in anderen, oft rituellen Kommunikationsformen, die jenseits des Zugriffsbereichs der Hegemonialmacht Loyalität, Solidarität und Informationsaustausch ermöglichten. Eine besondere Pointe liegt darin, dass der Sign!fYing Monkey selbst die ironische Umwertung der rassistischen Gleichsetzung Schwarzer mit Affen verkörpert. 91 Der Bezug auf die verdeckte Umkodierung war laut Katherirre Profeta, der Dramaturgirr Lemons, auch ein wichtiges Mittel des Regisseurs, in Searching for Horne verantwortungsbewusst mit seinem Thema und dem Recherchematerial umzugehen: "Lemon was trying to engage the history of a people exposed to random acts of racial violence, who managed nevertheless to preserve a measure of dignity. Coded, indirect expression was, and still is, a means to avoid the violence Come eine eigene professionelle Musikkultur zu entwickeln (vgl. Sma111998: 144ff. u. Hatch 2003). 90 Der Signifying Monkey, der Affengott, der über die Bedeutungsprozesse in der Sprache wacht, weiß um die Polyvalenz der Wo11e und überlistet in den überliefeJ1en Fabeln durch Wm1spiele den ihm physisch überlegenen Löwen, der ihn naiv stets beim Wort nimmt (vgl. Gates 1988). 91 Gates weist nach, dass er auch in den anderen Künsten zentrale Bedeutung erlangt hat: So gibt es eine Reihe von Jazzstücken be1ühmter Musiker, die "Signifying Monkey" oder "Sign!fying" heißen (vgl. Gates 1993: 177). Gates hat, davon inspiriert, für die afroamerikanische Literatur eine Theorie des "formalen Revisionismus" entwickelt, der sich durch Übertragung, Pastiche und Parodie charakterisieren lässt: "Im Mittelpunkt steht die Wiederholung von formalen Strukturen in ihrer jeweiligen Differenz. ,Siguifikation' ist ein Theorie der Interpretation von Bedeutungsprozessen, die aus der afroamerikanischen Tradition stammt." (Ebd.)
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Zur Pertorrnativität von Identität- Searching for Home home Charley Patton was trying to address. [... ] Throughout the rehearsal process Lemon and I had many polarized discussions about how ,direct' or accessible, work's subject matter should ultimately be ( ...]." (Profeta 2005: 26)
Und so werden in Searching for Home selten Thesen zum Thema des Stücks, also zu Blackness, direkt ausgesprochen, alle Zeichen erscheinen mehrfach kodiert, doppelbödig, vieldeutig. Den subversiven Unterhaltungswert von Mimikry führt Lemon allerdings auch ganz dezidiert in Szene Nr. 5 vor: Der Performer David erzählt die Geschichte von seinem Kindheitsfreund Carlos, in der dieser puertoricanische, also dunkle, aber nicht "schwarze" Junge, an Halloween einen rassistischen Weißen-Witz aufführt und damit in der schwarzen Nachbarschaft großen Erfolg hat: "I think I dressed up as Batman or some other superhero, and Carlos decided to dress up as a blind beggar. He had a little tin cup, a hat and of course dark sunglasses, but what made him very special was that he had this little sign he put around his neck, and it said: ,Piease help me! I am blind and I think I am maybe black. ' In this time, it was in the sixties, our neighbourhood was predominantly black. So when you find this little Puertorican boy walking up to your door with this sign saying ,I am blind and black' you just laugh! The people hooded and hawded, they got such a kick out of it. And of course at the end of the evening he had most ofthe candy."
Eine weitere Volte der Geschichte ist, dass der Junge selbst halb "schwarz" ist, was man ihm bloß nicht ansieht. So schildert David, wie er die Schwester des kleinen Carlos kennenlernt "Next to the mother was Angela, her daughter, who was about twenty at that time. She was a dark skinned, big boned, big bozen, big butt woman with a devilish smile in her eyes. She just had her way about her. What was interesting about her was that she had a different coloration than the other two. And I found out that this was because they were halfblack and halfPue1iorican."
Die Anekdote beschreibt eine interessante Form der subversiven ReInterpretation, die sich durch mimetische Wiederholung einen weißen "Text" aneignet und sich so über die weiße Überheblichkeit lustig macht. Sie zeigt, dass Widerstand nicht in expliziten politischen Programmen aufgehen muss, sondern sich auch in parodistischen Angriffen auf die hegemonialen rhetorischen Verfahren verwirklichen kann. Ein weiterer Verweis auf das Spiel von Mimesis und Alterität in der Aufführung findet sich in einem Filmfragment in Szene Nr. 3: In dem Video führte ein älterer schwarzer Mann durch sein Haus. Er ging ins Wohnzimmer, zum W ohnzimmertisch. Dort stellte er einen kleinen Musikautomat an, die Miniaturnachbildung einer Bühne, auf der fünf winzige Figuren standen, die alle aussahen wie Kermit, der Frosch aus der Muppet 's Show. Sie hatten Musikinstrumente in der Hand und bewegten sich wie eine Band,
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Musik war zu hören. Der Effekt war witzig und so führte die Szene den Unterhaltungswert von Mimesis vor. Denn, wie Gebauer und Wulf es formulieren: "An Mimesis gibt es ein Vergnügen [ ... ]" (Gebauer/Wulf 1998: 435). Die mimetische Kette war in diesem Fall allerdings recht lang: Die Plastikfigürchen besaßen die Gestalt von Handpuppen, die ihrerseits Frösche nachahmten, die menschenälmlich sind und sie machten Bühnenmusiker nach, und zwar Musiker, die "schwarze" Show-Musik produzieren. Der Film lässt sich - wie die meisten auf den ersten Blick harmlosunterhaltsamen Elemente in Searching for Horne - als Zeichen für rassistische Repräsentation lesen: eine Anspielung auf die westliche Tradition im 19. Jahrhundert, Musik- oder andere Automaten in Form kleiner Figuren kolonialer Untergebener zur Unterhaltung mechanische Tätigkeiten ausführen zu lassen. Deren Funktion hat Allen Feldman analysiert: Der Kolonisierte wurde "entmenschlicht und durch seine moralische und physische Gleichsetzung mit dem Automaten als einem visuellen Schauspiel, einem arbeitsersparenden Gerät und dem Inbegriff der Unterwürfigkeit und Imitation noch nachhaltiger auf den Platz des Untergebenen verwiesen." (Feldman 2000: 248ff.) Das kolonisierte Subjekt kann sich aber, wie deutlich geworden sein sollte, durch Mimikry und hybride, multiple Subjektpositionen dem Zugriff und der Überwachung der Kolonialmacht entziehen. Das überwachende Auge wird in der kolonialen Mimikry mit dem erwidernden Blick der Anderen konfrontiert (vgl. Bhabha 2000: 137ff.). Mimesis und Mimikry erzeugen daher nicht nur schnell Paranoia, wie oben erwähnt, sondern auch leicht Aggression und Gewalt (vgl. Wulf 1997: 1024f.). Diese Ambivalenz beschreibt Butler am Beispiel des Spiels mit Geschlechterrollen: "Der Anblick eines Transvestiten auf der Bühne kann Vergnügen und Applaus hervorrufen, während der Anblick des gleichen Transvestiten auf dem Platz neben uns im Bus zu Furcht, Zorn, ja zu Gewalt führen kann. Die Konventionen, die in diesen beiden Fällen Nähe und Identifikation ve1mitteln, sind deutlich verschiede-
ne." (Butler 2002: 313f.) Interessanterweise rekurriert Butler hier ein weiteres Mal auf das Theater, um auf das subversive Moment von Mimikry hinzuweisen. Das Spiel mit verschiedenen Identitäten bleibt ihrer Ansicht nach auf der Bülme harmlos, weil das Publikum dort den Akt derealisieren und so die ontologischen Annahmen über die Geschlechterzugehörigkeiten intakt halten kann. Im Alltag provoziert der gleiche Akt unter Umständen Gewalt, weil dann die theatralischen Konventionen wegfallen, mit denen sich der rein imaginäre Charakter des Aktes eingrenzen lässt. Die Wirklichkeit selbst wird in Frage gestellt.
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Die Ambivalenzen des Spiels mit Mimesis und Alterität - vom subversiven Witz des SignifYing Monkey, der die afroamerikanische Ästhetik prägt, bis hin zur Erzeugung von Ungeduld und Aggression in der Szene, in der unklar ist, ob Okpokwasili Mann oder Frau ist, Theater spielt oder nicht - werden in Searching for Horne erfahrbar gemacht. Und zwar nicht illustrativ, sondern im wunittelbaren Nachvollzug. An vielen Stellen oszillierte die Rezeption zwischen der Wahrnehmung einer spezifischen geschlechtlichen und ethnischen Identität und dem gleichzeitigen Wissen um dessen Konstruktionscharakter, genauso wie zwischen Fiktionalität und Realität. Dies ganz im Sinne Hans-Thies Lehmanns, wenn er mit Jan Murakovsky sagt, dass Theater eine Praxis, ist, "die mehr als andere die Einsicht erzwingt, dass es keine feste Grenze zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Bereich gibt." (Lehmmm 2001 : 173)
Nach der Vermessung der Welt: Zur Pertorrnativität von Raum Die Fragwürdigkeit strikter Grenzziehungen, der Abtrennung klar definierter (Identitäts-)Räume, wurde in Searching for Horne auch auf einer anderen Ebene immer wieder verhandelt. Gemeint sind hier weniger die physischen Grenzüberschreitungen der Darsteller zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie sie zum Beispiel von Okwui Okpokwasili in Szene 2 vollzogen werden. Denn obwohl es sich hier um eine faktische Grenzüberschreitung handelt, bewirkt sie heutzutage weniger Irritation, Konventionsbruch und Rahmenkollision als die bereits beschriebenen Techniken, die Differenz als konstitutiv für das Theater evident machen, oder aber das Aufdecken des performativen Charakters von Raum selbst. Raum als Produkt und Medium sozialer Interaktion Die Ausstattung des Stücks war, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, sparsam. Als Requisiten im engeren Sinne kann man eigentlich nur die Holzplatte in der ersten Szene und die später mehrfach verwendeten Hufeisen bezeichnen- weitere Ausstattungsstücke waren lediglich Monitore und Stühle. Umso mehr fielen die einzelnen Requisiten ins Gewicht und es war sicherlich kein Zufall, dass das Spiel mit der Holzplatte in der ersten Szene von Searchingfor Horne stark an Bruce Naumans aufVideo festgehaltene Performance Wall!Floor Positions (1965/1968) erinnerte. In dieser Performance stand Nauman zunächst mit dem Rücken zu einer einfachen weißen Wand. Nach etwa einer Minute lehnte er sich an, beugte sich nach einer weiteren Minute vor, beugte sich weiter, setzte sich irgendwann und lag schließlich auf dem Boden. Dann wiederholte er diese Positionen fast identisch, nun aber mit dem Gesicht der Wand zugewandt usw. Insgesamt stellte er 28 Positionen durch, was etwa eine 151
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Stunde dauerte. Die Performance steht in einer Reihe anderer, ebenfalls gut dokumentierter Performances Naumans, die sich als eine Untersuchung räumlicher Ordnungsgefüge mithilfe des eigenen Körpers verstehen lassen. Sie zielten auf den Zusammenhang von Raumkonstitution und Performativität, wie Sabine Flach überzeugend darlegt: "Die Ausführung einfacher, alltäglicher, stereotyper Handlungen ist nicht als solche eine künstlerische Aktion, sondem wird es in der Kombination mit einer räumlichen Erfahrung, die- entsprechend der Handlung- jeweils eine andere ist. Mit der körperlichen Konzentration auf eine minimale Ereignisstruktur als artifizielle Aktion können innerhalb einer performativen künstlerischen Aktion unterschiedliche räumliche Qualitäten entfaltet und damit erfahren werden." (Flach 2003: 121)
So wird der Körper durch den Raum konstituiert und konstituiert zugleich Raum, wobei es auch um die Belegung und Aneignung von Raum geht. Der Verweis aufNauman in Searchingfor Horne, also einen Künstler, der in performativen Experimenten immer wieder Prozesse der Subjektkonstituierung in der Auseinandersetzung mit Raumdimensionen erprobt hat, spannt im Zusammenhang mit den Themen Blackness, kulturelle Identität und Kolonialismus ein weites Assoziationsfeld auf. 92 Ich möchte bevor ich darauf eingehe, anmerken, dass sich meine Assoziation in der ersten Szene zu Bruce Naumans Performances nicht von allein herstellte. Sie entstand vielmehr, als Lemon gegen Ende der Aufführung erwähnte, dass Rassendiskriminienmg in den USA noch alltäglich gewesen sei und man gerade erst die Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet habe, als auf künstlerischer Ebene bereits radikal neue Konzepte ausprobiert wurden, etwa von Bruce Nauman mit seinen Wall/Floor Positions. Mit dem Verweis auf den Zitatcharakter nimmt Lemon nicht bloß dem Vorwurf des Ideendiebstahls den Wind aus den Segeln, sondern lädt zugleich die ursprüngliche künstlerische Arbeit mit einer neuen Bedeutung auf; ganz im Sinne des SignifYing Monkey: Bei Nauman war die Performance abstrakt und nur sehr vermittelt identitätspolitisch aufgeladen. Indem Lemon ihn zitiert und neu kontextualisiert, macht er auf die Gleichzeitigkeit der völlig gegensätzlichen Lebenswelten der Afroamerikaner und der weißen US-Bürger in den 1960er Jahren aufmerksam. Vielen Schwarzen war durch den Entzug von Menschenrechten der Zutritt zur Moderne noch verwehrt, während sich im gleichen Land parallel be-
92 Hier sind vor allem auf die frühen Performances Naumans von Belang, wie Bouncing Two Balls between the Floor and the Ceiling with Changing Rhythms (1968), Walking in an Exaggerated Manneraraund the Perimeter of a Square (1968), Stamping in the Studio (1968) oder eben die Wall/Floor Positions (1968). Nauman selbst hat sich intensiv mit Tanz befasst und stand beispielsweise im Austausch mit Meredith Monk, mit der ja auch Lemon zusammengearbeitet hat (vgl. Nauman 2005: 166f.).
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reits die Postmoderne entwickelte. So verweist er auf die Rassismen und Paradoxien eines Staates, der wie kein anderer für die Aufklärung steht. 93 Darüber hinaus erscheinen bei Lemon- und hier gleicht er Naumanweder Raum noch Identität als stabil und vorgegeben, sondern als dynamisch und perfonnativ hervorgebracht. Der Raum rahmt und formt den Körper, das leibliche Ich. Und so stellt die Aufführung auch die Frage nach dem Ort des Körpers, nach sozio-kulturellen Zwängen und Nonnen, wie auch nach Frei- und Spielräumen. Um noch einmal auf die erste Szene von Searching for Horne zurück zu kommen: Der Bühnenraum wirkte von Sequenz zu Sequenz völlig unterschiedlich, eine je andere räumliche Qualität wurde jeweils spürbar, obwohl sich rein materiell kaum etwas veränderte. Das körperlich-energetische Verhältnis der drei Performer zu der Wand war höchst verschieden. Der eine stemmte sie dem anderen entgegen, dieser probierte tänzerisch locker verschiedenste Dinge an ihr aus und zwar ganz abstrakt. Der zweite Tänzer dagegen schien sich dann in einen anstrengenden Kampf mit der Wand zu verwickeln; sie war am Ende in ihrer Schwerkraft übermächtig, er unterlag. Obwohl ebenfalls völlig abstrakt, entwickelten die Handlungen emotional-psychologische Qualitäten, etwa klaustrophobische. Der dritte Tänzer wiederum legte die Holzplatte flach auf den Boden, für ihn wurde sie zu einer golden angestrahlte Bühne, die ihn emporhob: Das Material blieb stets gleich, aber es wurde deutlich, dass man damit spielen, sich daran reiben, damit kämpfen, es ignorieren und sich von ihm zum Tanzclown oder Star machen lassen kann. Dadurch erschien der Raum im Sinne de Certeaus als die "Gesamtheit der Bewegungen, die sich in ihm entfalten. Der Raum ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen, und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen zu funktionieren." (de Certeau 1988: 218)
Segregation und Kartographie: Rassistische und kolonialistische Raumkonzepte
Die Perfonnativität von Raum, die hier deutlich wird, impliziert, dass Raum sozialen Charakter hat. Gleichzeitig bestimmt die Konstruktion von Raum Bedeutungs- und Repräsentationsysteme, es handelt sich hier um reziproke, sich vielfach überlagernde Prozesse. Edward Soja unterscheidet daher drei Komponenten von Raum: die soziale, die physische und die mentale. Er versteht Räumlichkeit gleichermaßen als ein Produkt 93 Der Civil Rights Act, das wichtigste amerikanische Bundesgesetz zur Gleichstellung ethnischer Minderheiten, wurde erst 1964 verabschiedet. Im selben Jahr erhielt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Ab Mitte der 1960er Jahre kam es dennoch zu zunehmender Gewalt gegen schwarze Bürgerrechtler. Von 1964 bis 1967 erlebten die Städte im Norden der USA alljährlich heftige Rassenunruhen.
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wie als ein Medium sozialer Interaktion (vgl. Soja 1989: 120ff.). Dabei sind die Prozesse der Konstituierung von Raum widersprüchlich und konfliktreich: "Concrete spatiality - actual human geography - is thus a competitive arena for struggles over social production and reproduction, for social practices aimed either at the maintenance and reinforcement of existing spatiality or at significant restructuring and/or radical transformation." (ebd.: 130)
Und so hat sich Rassismus immer auch in räumlichen Dimensionen vollzogen: Konkret beispielsweise in getrennten Räumen für Menschen mit heller und dwuder Hautfarbe (in Verkehrsmitteln, Restaurants, Theatern usw.), aber auch durch die Exklusivität bestimmter Räume (Universitäten, Ballettschulen) und sozialer Praktiken und Diskurse (ein Beispiel wäre der Ausschluss von Schwarzen aus dem Bereich der klassischen europäischen Musik). Schwarze fanden und finden viele Räume schon besetzt oder für sie nicht zugänglich vor, als kontaminiert und begrenzt. Selbst im Städtebau hat sich dies niedergeschlagen, wie Du Bois anschaulich in Souls of Black Folk anhand der Ghettobildung beschreibt (vgl. Du Bois [1903]2005: 162). Nicht nur Rassismus, auch der Kolonialismus ist unter anderem ein besonderer Umgang mit und eine spezifische Konstituierung von Raum gewesen: So wurden die Kolonien als "leerer" Raum konstruiert, den man füllen und besetzen, mithilfe von Landkarten erfassen und unter sich aufteilen konnte. Kolonialismus und die neuzeitliche Wissenschaft lassen sich gleichsam als das Erforschen vermeintlich "unbekannter Räume" verstehen. Sieht man Raum nicht als natürliche und stabile Kategorie an, werden Landkarten gleichzeitig mimetisch und konstruktiv, referentiell und performativ. Der panoptische Blick auf die Karte ist kolonialer Blick, einer der Objektivierung und der Nutzbarmachung: "Der Raum, bzw. das Bild, das die Karte davon zeichnet, wird zum Ausgangspunkt fiir wirtschaftliche Interessen, geographischer Raumbesitz verspricht politischmilitärischen Machtbesitz. Wirtschaftliches Streben und kartographische Genauigkeit bedingen einander, die mathematische Methode bei der Erfassung des Raumes dient als Rückversicherung fiir die Machbarkeit der eigenen Ziele und Ansprüche." (Bitterling 2006: 95)
Daher ist auch der Postkolonialismus ein räumliches Paradigma. Postkolonialismus, verstanden als Widerstand gegen den Kolonialismus, fordert die Neuorganisation von Raum: Er stellt in Frage, dass die europäische Kolonialgeschichte aus einer Geschichte von "Entdeckungen" bestand, bezweifelt die dabei gezogenen Grenzen und den scheinbar "natürlichen" Zusammenhang von Territorium und Bevölkerung ebenso wie die Aufteilung in Zentrum und Peripherie. Er problematisiert das statische Welt154
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bild, das die erkenntnistheoretische Prämisse der erschöpfenden Repräsentation des Staatsraums in politischen Landkarten ist (vgl. ebd.: 102). Die postkoloniale Perspektive deckt den Zusammenhang zwischen der "Erfindung der Nation" (Anderson) in Europa am Ende des 18. Jahrhunderts und eines fragwürdigen Identitätskonzeptes auf: Monokulturelle, homogene Identitäten, die auf ein kartographisch definiertes Territorium und dessen daraufhin gedeuteter Vergangenheit bestimmt werden, erscheinen entsprechend obsolet. In Szene Nr. 6 von Searching for Horne wird dies auch explizit angesprochen: Auf eine rechts im Zuschauerraum an die Wand gehängte Leinwand wurde ein Animationsfilm projiziert. Er zeigte das mit einfachen Strichen skizzierte Gesicht James Baldwins, des berühmten afroamerikanischen Schriftstellers und Kämpfers gegen Rassismus, der in breitem Amerikanisch sagte:94 "The center, or what was presumed to be the center, of the ea11h has shifted. And the definition of men is shifting with it. Now, what is gonna happen, is the definition will be forged by people who are not white, and who are not Amei;can, and who are not English, French, Belgium, - who may be Brazilian, who may be Chinese, all these other people that the West always despised and used. They are not Ionger use, they are now fears. Does that make sense to you?"
Indem er die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung mit einer postkolonialen Bewertung heutiger Globalisierungsprozesse kurzschließt, lässt der kurze Film die Problematik der Naturalisierung von Identitäten und Räumen aufscheinen - die ganz wesentlich auch den Begriff "Heimat" konstituiert. Horne - Heimat - Heim Auf die Frage, was sich mit einem konstruktiven Raumverständnis unter Begriffen wie "Heimat" oder "Zuhause" verstehen lässt, zielt bereits der Titel Searching f or Horne. "Horne" kann sowohl ,,Heimat" als auch "Heim" oder "Zuhause" bedeuten, Bezüge werden im Stück zu beiden Konnotationen hergestellt. Begreift man "Zuhause" als das Eigene, Geschützte, als den Inbegriff von Privatsphäre, muss im hier behandelten Zusammenhang darauf verwiesen werden, dass es gerrau dieses war, was den schwarzen Sklaven vorenthalten wurde. Ihre Situation lässt sich als Zustand höchster erzwungener Mobilität beschreiben - so konnte man jederzeit, unabhängig eventueller familiärer oder sonstiger Bindungen an einen Ort, woandershin weiterverkauft werden (vgl. Davis, D.B. 2006:
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Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwirr (1924-1987), Sohn eines Baptistenpredigers aus Harlem, spielte eine wichtige Rolle in der Bürgerrechtsbewegung. Seine Reden und Schriften bezogen sich häufig auf Rassismus und sexuelle Doppelmoral in den USA.
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83) Die Plantage war zudem ein System der totalen Überwachung, wie es Foucault in "Überwachung und Strafe" beschrieben hat. 95 Das Zuhause wird in Searching for Horne als gefährdeter Ort inszeniert. So etwa in Szene Nr. 3, in einem Videofilm, in dem man einen älteren schwarzen Mann Besucher durch sein Haus führen sieht. Zunächst geht er ins Wohnzimmer- wo er, wie weiter oben beschrieben, den Musikautomaten präsentiert - dann ins Schlafzimmer, mit penibel gemachten Betten und Familienfotos auf der Kommode. Er öffnet die aufgeräumten Schränke, zeigt die ordentliche Küche, die volle Speisekammer. Er hebt den Deckel der Tiefkühltruhe und begutachtet die eingefrorenen Truthähne. Dann zeigt er seine Gewehre, die im ganzen Haus verteilt sind. Eines in der Ecke des Wohnzimmers, eines in einer Kammer, hier eine Pistole, dort ein Gewehr. Er führt stolz und jovial seine Waffen vor, bis der Film abbricht. Der Film blieb in der Aufführung rätselhaft, insbesondere, weil er nicht kommentiert wurde. Die übertriebene Offenheit gegenüber der Kamera bis hin zur Inspektion der Tiefkühltruhe hinterließ ein ebenso merkwürdiges Gefühl wie der Sachverhalt, dass der Mann in jeder Ecke seines Hauses eine Schusswaffe aufbewahrte. Das Zuhause erschien als gefährdeter Raum, der verteidigt werden muss. Auch Okwui Okpokwasili hatte in der Erzählung von ihrem Onkel William in Szene Nr. 2 davon gesprochen, er habe ihr beigebracht, dass man Waffen brauche. Die Koexistenz von rosa Sofakissen mit Instrumenten, deren Hauptfunktion darin besteht, Menschen zu töten, führte sinnfällig vor Augen, dass in bestimmten Konstellationen Leib und Leben ständig bedroht sind oder so wahrgenommen werden können und verwies gleichzeitig darauf, dass Raum und Territorium nichts natürliches sind, sondern gesellschaftliche Konstruktionen. Auch das Zuhause und der Grundbesitz ka1m jederzeit in Frage gestellt werden. Das Prekäre des Heims wurde übrigens auch in der zweiten Sequenz von Szene Nr. I verhandelt: Die Wand mit der Blümchentapete evozierte zwar Assoziationen an ein "gemütliches Zuhause", die Art, wie der Tänzer sich zu der Wand verhielt, war jedoch alles andere als bequem: Er führte, wie bereits beschrieben, verschiedene Bewegungen an der Wand aus, beugte sich, streckte sich, - immer in einer wackeligen, gefährdeten Situation, da er gleichzeitig die Wand aufrecht hielt und an ihr Halt suchte. Die Schwierigkeit, eine stabile, sichere Position zu erlangen und zu erhalten, wurde sinnfällig, am Ende erdrückte die Wand ihn fast ganz.
95 Eine strenge Hierarchisierung von der untersten Gruppe der Feldsklaven bis hin zu den Antreibern, die an der Spitze der Sklavenhierarchie mit einer Peitsche als Disziplinierungsmittel und Machtsymbol ausgestattet, die Arbeitskolonnen organisierten, sicherte die permanente Sichtbarkeit und Kontrolle (vgl. hierzu in Foucault 1994 die Kapitel Die hierarchische Überwachung [221228] und Der Panoptismus [251-294]).
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Wendet man sich dem Begriff "Heimat" zu, stößt man auf ein noch komplexeres Themenfeld. Der Titel der Trilogie - Geography - ist dabei signifikant. Ralph Lemon betreibt mit den drei Stücken eine besondere Art von Erdkunde. Mit den ersten beiden Stücken begab er sich selbst auf Reisen in die Fremde, also weg von seiner Heimat, den USA. Dem Topos der Reise mit seinem gesamten semantischen Umfeld - Fremde, Heimat, Exil, Grenze, Diaspora, Nomadentum, Obdachlosigkeit, Tourismus - sind viele akademische Studien aus unterschiedlichen kunstund kulturwissenschaftlichen Disziplinen gewidmet, die sich hier nicht angemessen vorstellen lassen. Kurz anreißen möchte ich jedoch Caren Kaplans Theorie des Reisens: Sie hat überzeugend dargelegt, dass in der Modeme die Topoi des Exils und des Reisens im Sitme von Tourismus in spezifischer Weise zusammenhängen und sich nicht, wie gemeinhin angenommen, grundsätzlich voneinander unterscheiden (vgl. Kaplan 2000: 27). Sie macht in der modernen Exilliteratur und ihrem intemationalistischem "Weltgeist" gleichzeitig den Bruch mit nationalen oder kulturellen Wurzeln und Nostalgie bzw. Heimweh fest: "Various manifestations of nostalgia participate in Euro-American constructions of exile: nostalgia for the past; for home; for a ,mothertongue'; for the particulars that signify the experience ofthe familiar once it has been lost. Such nostalgia is rooted in the notion that it is ,natural' tobe at ,home"' (ebd.: 33)
Diese Nostalgie ist strukturell derjenigen ähnlich, die im modernen Exotismus zum Ausdruck kommt. Dieser lässt sich beschreiben als ambivalente Sehnsucht nach dem, was man selbst zerstört: "[... ] moderns osscilate between a wholehearted endorsement of change and a deep desire for stability." (ebd.: 35) Die ambivalente Spannung zwischen Fortschritt bzw. Verändenmg und Tradition bzw. Konservierung ist auch eine zwischen Raum und Zeit: So vermutet man das Authentische und Ursprünglich-Reine woanders -in anderen historischen Epochen und in anderen "einfacheren", "primitiven" Gesellschaften. Da die eigene Geschichte verloren ist, muss das moderne Subjekt also reisen, auf "Tour" gehen, um das Ursprüngliche erleben zu können. Hier fallen die Parallelen zu der beschriebenen exotistischen Sehnsucht avantgardistischer westlicher Theatermacher - von Artaud bis Schechner - auf, die mit fremden theatralen Elementen versuchten, ihr Theater zu "retheatralisieren". Auf diese Ambivalenz verweisen auch die Titel von Ralph Lemons Trilogie: Geography- Tree- Searching for Horne.% Allerdings mit einer doppelten Schleife: Auch wenn er im ersten - dem Afrika-Stück vorhatte, nach seinen eigenen Verbindungslinien zu dem afrikanischen Kontinent zu suchen, nannte er erst den dritten Teil Searchingfor Horne. Für einen Afroamerikaner ist es schließlich auch nicht möglich, Afrika im engeren Sinne als Heimat zu besuchen. Was aber ist die Heimat der 96 "Tree" verweist auf Ortsgebundenheit und Verwurzelung.
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Afroamerikaner, denen von den Weißen permanent bedeutet wurde, es handele sich bei amerikanischem Boden um Eigentum der Weißen? Und: Ist Lemon nicht auch bloß ein (post-)modernes Subjekt, das einem exotistischen Impuls folgt, wenn es nach Afrika reist? Mit dem dritten Stück, bei dem sich Lemon der afroamerikanischen Geschichte widmet, sucht er, wie der Titel sagt, nach der Heimat- wo aber findet er sie? Das Stück legt am ehesten die Antwort nahe, dass er sie im Black Atlantic findet. Einem Raum also, der durch die Verschleppung von afrikanischen Sklaven entstand und kein durch konkrete Territorialmarkierungen fassbarer Raum ist, vielmehr ein vernetzter, globaler Raum. Die schwarzen Kulturen artikulieren nach Gilroys Konzept des Black Atlantic spezifische ästhetische Formen und Mnemotechniken, die auf charakteristische Weise Genealogie von Geografie und Lebensraum von Zugehörigkeit trennen: "Stories are told, both with and without music. More important than their content is the fact that during the process of performance the dramatic power of narrative as a form is celebrated. The simple content of the stories is dominated by the ritual act of story-telling itself. This involves a very particular use of langnage and a special cultural dynamics. [ ... ] Both story-telling and music-making contributed to an alternative public sphere, and in this turn provided the context in which the particular styles of autobiographical self-dramatisation and public self-construction have been formed and circulated as an integral component of insubordinate racial countercultures." (Gilroy 2003: 200)
Heimat wird so zu etwas, das performativ hervorgebracht wird. Es sei darauf verwiesen, dass nicht nur die kolonialistische Verschleppung von Menschen, sondern auch die massenhafte Migration - eines der bedeutsamsten Phänomene der globalisierten Spätmoderne - in besonderer Weise die Frage nach der Beschaffenheit von "Heimat" stellt. In der westlichen Welt werden einerseits Identität und Ortsverbundenheit, und andererseits Entwurzeltsein und Wanderungsbewegungen als zusammengehörig gedacht. Migration wird als Deviation gedeutet. Um Identität, Raum und Mobilität angemessener zu fassen, hat Arjun Appadurai dagegen ein Bild von der Welt entworfen, nach dem sie von einem Netz aus entterritorialisierten Ethnoräumen ("ethnoscapes") überzogen ist (vgl. Appadurai 1998: 11). Identitätsstiftende Orte fallen danach immer seltener mit aktuellen Lebensräumen zusammen. Das, was mit dem Begriff "Heimat" verbunden wird, erhält virtuellen Charakter, besteht aus imaginierten Welten, die in einem kreativen Prozess erschaffen werden. Diesen kreativen Prozess des Herverbringens von Räumen - sowohl durch Imagination und Erzählung, als auch durch den bewegten Körper, wie es Bruce Nauman verdeutlicht hat - veranschaulichen in Searching for Horne in spezifischer Weise auch Ralph Lemons Counter Memorials.
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Ralph Lemons Counter Memorials In Szene Nr. 6 wurde die Holzwand mit der Blümchentapete an der rechten Bühnenwand angelehnt, davor ein Standmikrophon eingerichtet. Ralph Lemon stellte sich mit dem Rücken zum Publikum dort auf und erzählte von seinen Counter Memorials. Gleichzeitig trat David Thomson auf und platzierte sich neben Lemon, schräg dem Publikum zugewandt. Während Lemon sprach, ging er rückwärts in Richtung Bühnenmitte. Er begann zu tanzen, indem er langsam und kontrolliert sehr reduzierte, kleine Bewegungseinheiten ausführte: Einen Ausfallschritt nach vorn, dann einen Ausfallschritt zurück, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, zwei Schritte vor, Hinsetzen, Aufstehen, Fallen usw. Lemon erklärte: "In 2001 my daughter as my videographer and I reenacted the Freedom Busride of 1961. We started in DC, Washington and travelled through the Southem United States to Jackson, Mississippi, where the original busriders were carted off to prison in Mississippi. In each site I created ritually structured physical events. Kind oflike counter-memorials. The map was waiting stations. These were solos, inconspicuous, because I didn't want to disrupt the waiting transit ecology of these charged spaces. Two years later I stripped these rituals down to small movement phrases I then taught David - to my left. It broke my heart in an exhilarating way to see that ones own personal hist01ical recovery becomes perhaps a compelling little movement study."
Zunächst einmal deuten Lemons Counter Memorials auf das Fehlen von etwas: Die Absenz adäquater Erinnerungsorte, die dem Gedenken an die schwarze Geschichte in Amerika dienen könnten. Letztere hatte lange Zeit keinen Platz in der offiziellen historischen Wissenschaft (vgl. Fabre/ O'Meally 1994: 3ff. ). 97 Lemon sensibilisiert mit seinen Counter Memorials also für die politische Dimension des Erinnerns und Gedenkens: Auch die Anderen und Subalternen haben eine Geschichte, in diesem Fall die Afroamerikaner mit ihrer lange verdrängten traumatischen Erfahrung von Verschleppung und Versklavung, selbst wenn diese sich nicht in der Geschichtsschreibung, in Artefakten und Monumenten manifestiert. Denkmale, im Sinne bewusst geschaffener Artefakte zur Erinnerung an bestimmte Personen oder Ereignisse, stellen eine besondere Art von Erinnerungsort dar, weil sie eine zentrale Rolle für das kollektive Gedächtnis und die kollektive Identität spielen. In ihrer modernen Ausprägung sind sie Ende des 18. Jahrhunderts entstanden und der Zusammenhang mit dem Nationalgedanken ist evident. Die Kanonisierung des Erinnerungswerten impliziert dabei stets auch Ausschluss und Verdrängung: Der Blüte von Nationaldenkmälern, die insbesondere politische Funktionen erfüllten und zwar im Sinne der dominanten gesellschaftli97 Interessant ist in diesem Zusammenhang der KampfW.E.B. Du Bois' um eine afroamerikanische Historiographie (vgl. Blight 1994).
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chen Gruppen (die damit ihre Werte und Vorstellungen von Nation als für alle verbindlich erklärten), standen immer große Bevölkerungsteile wie eben in den USA die Schwarzen gegenüber, deren Geschichte nicht berücksichtigt wurde. Lemon setzte bei seiner Reise durch die Südstaaten Performances dagegen, die so minimalistisch und flüchtig waren, dass die Passanten sie in der Regel gar nicht bemerkten: "Sometimes he just sat on a bench, or stood alone in a comer; sometimes he slowly rotated across a long, deep Iobby as pedestrians strolled through, barely noticing him. His intent was to mark the space with his body without disturbing what he called ,ecology' ofthe cun·ent-day environment." (Profeta 2005: 24)
Andere Elemente seiner Choreographie entwickelte Lemon aus der persönlichen Begegnung mit schwarzen Bluestänzern und -musikem: "These were his ,living room dances': Lemon would trackdown an old Southem bluesman's closest living relative, engage the relative in conversation about the deceased musician, and then ifthe situationfeit right, offer to dance for him or her. Tfthe answer was yes, he would get his CD player out ofthe car and put on a track by the bluesman in question. The modest living rooms in which Lemon danced were cramped and intimate, the singular audience members few feet away." (ebd.)
Es handelte sich bei Lemons tänzerischen Recherchen und Counter Memorials um minimalistische, abstrakte Bewegungsabfolgen, d.h. er versuchte auch hier nicht mimetisch, durch Nachspielen und Einfühlen, Rassendiskriminierung und den Horror der Sklaverei repräsentativ aufzuführen.98 Lemon trug auch kein Kostüm, benutzte keine Requisiten. Daher sind seine Performances tatsächlich adäquat als Counter Memorials im Sinne James E. Youngs zu beschreiben, der den Begriff geprägt und ursprünglich für solche Holocaust-Denkmäler verwendet hat, die sich dem Betrachter bewusst entziehen, um Erinnerung im Kopf des Betrachters stattfinden zu lassen. 99 Lemons Counter Memorials verweisen nicht nur in ihrem Namen darauf, dass sie ein Gegenkonzept zur offiziellen Gedenkkultur mit ihren großen Monumenten und Inszenierungen darstellen. Sie hinterfragen diese durch ihren flüchtigen, performativen, fast unsichtbaren Charakter ganz grundlegend. Denn sie lassen sich nicht auf die Repräsentationslogik ein, die Lemon auf anderen Ebenen auch sonst 98 Was wohl auch mit Lemons Herkunft aus der New Yorker (post-)modernen Tanzszene zusammenhängt, die ja in weiten Teilen ausdrücklich keinen "Tanz" produzieren wollte. 99 Etwa der Aschrott-Brunnen von Horst Hoheisel in Kassel, eine in die Erde gestülpte Negativform eines Brunnens, der von einem jüdischen Unternehmer der Stadt geschenkt und 1939 von den Nazis abgerissen wurde. Oder die in Harnburg von JochenGerz und Esther Shalev-Gerz errichtete Säule, die langsam abgesenkt wurde und auf der die Passanten ihre Namen als Unterschrift gegen den Faschismus einritzen sollten.
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in seinem Stück kritisch hinterfragt. So schreibt Peggy Phelan, dass Repräsentation fast immer demjenigen entgegen kommt, für den repräsentiert wird, also dem Betrachter, und fast nie der Person, die repräsentiert wird (vgl. Phelan 1993: 25f.): "Tf representational visibility equals power, then almost-naked young women should be mnning Western culture. The ubiquity of their image, however, has hardly brought them political or economic power. Recognizing this, those who advance the cause ofvisibility politics also usually call for a ,change' in representational strategies. But so far these strategies are rather vague. What is required in order to advance a more ethical and psychically rewarding representational field, one that sidesteps the usual traps of visibility: surveillance, fetishism, voyeurism, and sometimes death? How are these traps more or less damning than benign neglect and utter ignorance?" (ebd.: lOf.)
Ralph Lemons Counter Memorials sind möglicherweise ein sehr angemessenes Vorgehen, um kritisch afroamerikanische Geschichte zu thematisieren: Lemon fährt in die Südstaaten und sucht dort bestimmte Orte auf, die als Gedächtnisorte für Rassendiskriminierung bezeichnet werden können, wie etwa Bushaltestellen - an ihnen wurde die Segregation in besonderem Maße augenfällig -, oder Plätze, an denen Schwarze erhängt wurden. Dort vollzieht er Performances, die als Herstellen von Räumen durch den bewegten Körper verstanden werden können, und so machen sie auch deren soziale Konstruiertheit evident. Sie denaturalisieren die einst als natürlich hingestellten Grenzen, die die spezifischen Orte für Schwarze und Weiße abteilten und die schließlich Diskriminierung ausmachen. Gleichzeitig fungiert der Körper selbst, der eben auch ein sozial und räumlich geprägter, hier auch rassifizierter Körper ist, als Counter Memorial, denn er selbst trägt die Geschichte der Afroamerikaner in sich. Die Performances waren unauffällige kleine Bewegungsabläufe, aus denen sich im Laufe der Zeit bestimmte Figuren herauskristallisierten und die Lemon später seinen Tänzern für die Bühne beibrachte. Diese waren insbesondere in der letzten Szene der Aufführung, die ausschließlich aus abstraktem und "nicht-tänzerischem" Tanz bestand- ganz ohne narrative Komponente, auch ohne Musik, Requisiten oder Text-, zu sehen. Indem Lemon aus den sich herausbildenden einzelnen tänzerischen Elementen eine Bühnenchoreographie machte, reflektierte er noch einmal auf anderer Ebene auf die Perfonnativität von Raum und Identität. 100 So ist für 100 Katherirre Profeta, die Dramaturgirr Lemons, berichtet, gerade dieses Auf-dieBühne-Bringen sei Lemon schwer gefallen. Die Übertragung der sehr persönlichen Recherchen und Rituale auf eine Bühnenchoreographie habe die Frage aufgeworfen, welche Bestandteile überhaupt relevant und interessant für ein Publikum sein könnten. Gerade weil sie Repräsentation verweigern, stellt sich die Frage, inwiefern sie ausgerechnet im Theater etwas zu suchen haben, ob 161
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Gabriele Brandstetter Choreographie Gedächtnisarbeit, die etwas von einem Requiem hat: "Be-Schreibung jenes Raums, der die Bewegung des Körpers stets schon aus sich entlassen hat. Choreographie ist, so gesehen, ein Schreiben an der Grenze von Anwesenheit und Nicht-mehr-da-Sein: eine Schrift der Erinnerung an jenen bewegten Körper, der nicht präsent zu halten ist." (Brandstetter 2000: 104)
Kartographie und Choreographie, so Brandstätter, ähneln sich als BeSchreiben des Raums (dies.: Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung. In: Dies./Peters 2002: 247-264). Gerade der Minimalismus, die Alltäglichkeit der Bewegungen (Ralph Lemon sieht man in den Videos, die ihn beim Vollzug seiner Counter Memorials zeigen, vorwiegend "normal" gehen) durch den sie sich auszeichnen, ist dabei von großer Relevanz. Oe Certeau betrachtet die Bewegung des Gehens als Kartographie: "Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten. In diesem System erzeugt die Motorik der Fußgänger eines jener ,realen' Systeme, deren Existenz eigentlich den Stadtkern ausmacht, die aber keinen Materialisierungspunkt haben. Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum [... ] Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens [... ] Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens. Die Spur ersetzt die Praxis. Sie manifestiert die (unersättliche) Eigenmi des geographischen Systems, Handeln in Lesbarkeit zu übertragen." (de Ce1ieau 1988: 188f.)
Nach Brandstetter kann das "Gehen" im postmodern dance, wo ihm als Bewegungskomplex besondere Relevanz eingeräumt wird, als Muster von Choreographie und damit im Certeauschen Sinne als Kartographie bezeichnet werden, als das Beschreiben von Räumen, wobei sie Leseund Schreibbewegung gleichzeitig ist (Brandstetter 2000: 120). So verstanden zeichnet Lemon mit seinen Counter Memorials eine alternative Karte der afroamerikanischen Erinnerung. Er überzieht performativ die Südstaaten mit einem Netz von Gedenken an die Opfer des weißen Rassismus, einem paradoxen Unterfangen, da es immer auch Abwesenheit und Nicht-Repräsentierbarkeit umfasst. Lemon setzt und löscht Erinnerungsspuren gleichzeitig und die Aufführung Searchingfor Horne, die in
und wie sie bühnenfahig gemacht werden können: "How could they [die Recherchergebnisse, Anm. d. Verf.] possibly inspire a work within a more traditional stage setting, when all that they offered was founded on restistance to that setting?" (Profeta 2005: 25) So fiel auch die Entscheidung Lemons, seine Ergebnisse vor Fertigstellung des Stücks zunächst in kleinerem Rahmen Zuschauern zu zeigen und anschließend zu diskutieren. Searchingfo r Horne war eine solche Arbeitspräsentation.
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ihrer theatralen Flüchtigkeit ebenso wie die Toten nur noch geisterhaft als Erinnerung weiterexistiert, machte dies unmittelbar nachvollziehbar.
Vom Kontrast zur Grenzüberschreitung Anhand der Geography-Trilogie und der künstlerischen Entwicklung Lemons lassen sich exemplarisch die konzeptionellen Veränderungen auf dem interkulturellen Theater der letzten zwanzig Jahre nachvollziehen. Bei den ersten beiden Teilen handelte es sich tendenziell um ein Theater der kulturellen Kontraste: Der spezifische Reiz von Geography und Tree resultierte daraus, dass Lemon überlieferte asiatische und afrikanische ästhetische Formen mit seinem modernen westlichen Stil konfrontierte. Dies erfolgte, soweit ich das beurteilen kann, zwar recht reflektiert, jedoch war ein eher multikultureller Grundansatz inhärent, der von einer Abgrenzbarkeit von Kulturen ausging. Mit dem dritten Teil Searching for Horne hat Lemon nunmehr bewusst sein Augenmerk auf Aspekte der Hybridität gelegt: "Hybridity interests me very much. I think that this is the inevitability of our world culture. I think hybridity has always been an inevitability but it is maybe more aggressive right now. It' s philosophy is more apparent. As an artist I am very interested in it. Because I have done a Iot of experiments which have sort of failed because they were more like juxtapositions of cultures." (Ralph Lemon im Interview mit der Autorin 10. Juni 2003)
Lemon war sich bei der Arbeit an der Trilogie der Schwierigkeiten interkultureller Prozesse bewusst und weit davon entfernt, diese naiv zu bewerten: "I think that things like that can be something like neo-colonial exploitation. I think intercultural work is very problematic, but people like Brook or Grotowski never had a choice - and I am comparing myself with them. There is a certain hierarchy in the art process, especially in theatre where there is a director. But there is also an hierarchy if all people are from the same block or neighbourhood. It just gets more exaggerated." (ebd.)
Auf dieses Problembewusstsein ist wohl auch Lemons Vorgehensweise zurück zu führen, stärker prozess- als ergebnisorientiert zu arbeiten, tendenziell Konflikte eher zu suchen als ihnen auszuweichen und sich fremden Situationen auszusetzen, eine Vorgehensweise, die seine Dramaturgirr Katherirre Profeta als "strategy of enforced unease" bezeichnet (Profeta 2005: 23). Ebenfalls deute ich Lemons regelrecht penible Dokumentationsarbeit in diese Richtung. So legt er durch Publikationen, aber auch innerhalb der Aufführung permanent seine Vorgehensweise und den Arbeitsprozess offen. 163
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Searching for Horne lässt sich damit als institutionskritisch in mehrerlei Hinsicht bezeichnen: Das Theater, bzw. die Bühnenwelt, die auch Musik und Tanz umfasst, erscheint als Ort traditionell problematischer Repräsentation Schwarzer. Die Inszenierung zeigt, dass auch heute dieser Rahmung nicht zu entkommen ist. Darüber hinaus rückt das "interkulturelle Theater" im engeren Sinne als zu kritisierende Institution in den Blick, die neokoloniale Tendenzen aufweisen kann und möglicherweise Stereotypisierungen und Rassismen fort- und festschreibt. Die Folgerung daraus sind jedoch nicht Rückzug und Verweigerung. Vielmehr gibt es bei Lemon keine Alternative zur Jnterkulturalität - weder im Theater noch in der Gesellschaft, wobei das, was als fremdkulturell wahrgenommen wird, relativ ist. Ich habe gezeigt, dass in Searching for Horne durch die Ablehnung einer traditionellen Repräsentationsästhetik aufvielen Ebenen Grenzen in Frage gestellt und überschritten werden, was meines Erachtens zulässt, hier von einer "postkolonialen" Ästhetik zu sprechen. Vor allem werden zwei zentrale Kategorien kolonialen Ordnungsdenkens - Rasse und kartographierter Raum - dekonstruiert. Okwui Okpokwasilis Körper erscheint in Szene Nr. 2 als Kontaktzone, zwischen den Geschlechtern und Ethnien, als Ort mimetischer Performanz. Die Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit wird porös. Und, wie zuletzt dargelegt, werden Raum und Territorium als konstruiert in Szene gesetzt, die westliche Modeme mit ihrem nationalstaatliehen Verständnis von Gemeinschaft hinterfragt. Die Geographie Ralph Lemons führt in eine Welt, in der ein vorsichtiges Vorantasten notwendig wird, in der auch die beste Landkarte nichts zählt, weil sie das Wesentliche nicht erfasst: Sie führt in den Black Atlantic. Die strikte Grenzziehung beim Denken in Dichotomien, ebenso wie die strikte Grenzziehung zwischen den Kulturen und Geschlechtern, die Grenzziehung zwischen Ländern und Privatgrundstücken wird dekonstruiert. Der Bühnenraum hingegen erscheint als Grenzgebiet der subversiven Mimikry, der Hybridität, als Raum zwischen den Differenzen, als third space im Sinne Bhabhas, der hofft, dass dieser "[ ... ] einer internationalen Kultur [den Weg] weisen könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht. Dabei sollten wir immer daran denken, daß es das ,inter' - das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt." (Bhabha 2000: 58)
Gleichzeitig macht das Stück aber auch deutlich, dass die faktischen Ausgrenzungs- und Unterdrückungsprozesse von höchster Wirkungsmacht sind, obwohl sie auf sozialen Konstruktionen beruhen. Liminale Räume prägen nicht unbedingt den Alltag rassistisch Unterdrückter. Dass es dabei nicht nur um die real-physische Ausgrenzung gehen muss, sondern dass diese auch über die identitätspolitische Aufladung von kulturel164
Zur Pertorrnativität von Identität - Searching for Home
len Praktiken und Zeichen subtiler funktionieren kann, wurde in der Aufführung evident. So war es mir nach einer gewissen Zeit kaum noch möglich, die einzelnen Tanz- oder Musikpassagen nicht auf ihre möglicherweise rassistischen Implikationen hin zu befragen. Und damit wird klar, dass es nicht bloß "der Rassist ist, der den Minderwertigen hervorbringt" wie Fanon sagt (Fanon 1962: 68), sondern, mit Terkessidis gesprochen, "eine bestimmte institutionelle Praxis, die in ihrem Funktionieren das Andere wie auch das Eigene in einem Verhältnis der Ungleichheit hervorbringt." (Terkessidis 2004: 96) Hervorhebenswert an der Inszenierung Searehing for Horne wie auch an anderen avancierten interkulturellen Theaterinszenierungen, ist, dass sie nicht versucht, eine bestimmte These zu illustrieren oder eine politische Botschaft zu theatralisieren. Die Aufführung öffuet vielmehr einen Erfahrungsraum, in dem durch einen ästhetischen Prozess, im Spiel mit genuin theatralen Mitteln (in diesem Fall in erster Linie durch Rollenwechsel und Tanz) dem Zuschauer Fremdheitserfahrung ermöglicht wird und - zumindest punktuell - Rollenkrisen, also quasi liminale Zustände ausgelöst werden. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Projekt um eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich historische Ereignisse wahrnehmen lassen, wie sich Erinnerung generiert und insbesondere, wie man mit traumatischer Geschichte adäquat umgehen kann. Besonders interessant ist hier das Konzept des Counter Memorials als performatives Gegenteil eines Monuments oder Gedenksteins. Lemon untersucht Erinnerung als Dokument, Monument und Performance, ein aufgrund der Bedeutung von Geschichte und kulturellem Gedächtnis für die Konstituierung kultureller Identitäten auch für viele andere interkulturelle Performances zentrales Thema. Darauf werde ich im nächsten Kapitel, das im Rahmen der Auseinandersetzung mit Ong Keng Sens Inszenierung Beyond the killing jield~ hierauf seinen Fokus legt, gerrauer eingehen.
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GESCHICHTE TANZEN, DAS TRAUMA BEZEUGEN Erzählen vom Selbst in Beyond the killing fields Die Inszenierung Beyond the killingfields (2001) basiert auf den Erinnerungen von Tänzerinnen aus Kambodscha an das Überleben unter dem Pol-Pot-Regime. Im Mittelpunkt steht die im Jahr 1932 geborene Ern Theay, eine Meisterin des klassischen kambodschanischen Hoftanzes. Vom Regisseur Ong Keng Sen als "Doku-Performance" bezeichnet, hat Beyond the killing fields einerseits eine theaterhistorische Dimension, da es sich mit einer Theaterform auseinandersetzt, die fast die Roten Khmer nicht überlebt hätte. Das ist flir das übergeordnete Thema des interkulturellen Austausches auf dem Theater insofern interessant, als, wie eingangs erläutert, außereuropäisches Theater aus einem exotistischen Impuls heraus oft mit den Labels "traditionell", "ursprünglich" oder "authentisch" versehen wird. In Beyond the killing fields wird verhandelt, inwieweit der Khmer-Tanz, also eine westlichen Zuschauern vorwiegend durch Touristenaufführungen bekannte Theatertradition - einprägsam ist die prachtvolle Ausstattung -, mit der spezifischen Geschichte Kambodschas zusammen zu denken ist und was "Tradition", "Ursprünglichkeit" oder "Authentizität" in diesem Kontext sinnvollerweise bedeuten können. Andererseits ergibt sich eine historische Dimension aus der Frage, wie sich die jüngere Geschichte Kambodschas auf der Bühne thematisieren lässt. Wie Ralph Lemons Searching for Horne gezeigt hat, beinhaltet das Thema Interkulturalität immer auch die Frage nach kulturellen ldentitäten. Diese stehen in engem Zusammenhang mit Historiographien, welche ihrerseits als konstruktive Leistungen im Heute begriffen werden können, als Erzählen vom Selbst und damit als kollektive Identitätsentwürfe. Daher werde ich mich bei der Auseinandersetzung mit Beyond the killing fields auch mit den Möglichkeiten von Geschichte und des Umgangs mit Traumata auf dem Theater befassen, was angesichts der vielen menschlichen Katastrophen, die Kolonialismus, Stellvertreterkriege und Genozid nicht nur in Kambodscha verursacht haben, gerade im postkolonialen Zusammenhang bedeutsam erscheint.
Die Inszenierung Beyond the killing fields von Ong Keng Sen Beyond the killing field~ geht aus der jahrelangen, kontinuierlichen Beschäftigung des Regisseurs mit den vielen Formen asiatischen Theaters hervor. 101 Ong Keng Sen wurde 1963 in Singapur geboren, schloss dort 101 Grundlage der folgenden Ausführungen sind neben zwei Vorstellungsbesuchen am 31. Mai und 2. Juni 2002 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin 166
Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
ein Jurastudium ab und studierte später performance studies an der New York University. Ong ist der künstlerische Leiter von TheatreWork~. das 1985 als das erste professionelle englischsprachige Theater Singapurs gegründet wurde und dessen erklärtes Ziel es ist, interdisziplinär und interkulturell zu arbeiten. Inhaltlich drehen sich Ongs Projekte immer wieder um das "Asiatische", d.h. um spezifische, in Asien verortbare Traditionen, Kulturen und ldentitäten vor dem Hintergrund von Globalisierung, Migration und Urbanisierung. Dabei wird in den Stücken die Möglichkeit von kultureller Reinheit und Authentizität ebenso wie die Dichotomie Tradition - Moderne in Frage gestellt. 102 1994 initiierte TheaterWor~ das dezidiert interkulturell ausgerichtete Flying Circus Project - laut Selbstbeschreibw1g "a laboratory project that brings together traditional and contemporary Asian artists from across disciplines to explore the concepts of reinvention, cultural negotiation and the politics of interculturalism." (www.theatre-works.org./intemational/the_ flying_ circus_project [1 0.12.2005]) Die Idee zum Flying Circus Project kam Ong Keng Sen während des Studiums in New York als er entdeckte, dass es in erster Linie amerikanische und europäische Wissenschaftler waren, die das Theater Asiens erforschten und dokumentierten. Die Perspektive derjenigen, um deren kulturelle Praktiken es sich eigentlich handelte, fand er unterrepräsentiert. Ong reiste durch ganz Asien, um Künstler kennenzulernen und zu gemeinsamen Projekten einzuladen. Neben einer Reihe von Workshops, Seminaren und anderen Zusammenkünften wurden vier größere Einzelprojekte realisiert. 1996 kamen im LAB ONE fünfzig Künstler aus verschiedenen Ländern Südostasiens für sechs Wochen in Workshops zusanunen, wobei jeder Teilnehmer mindestens drei Jahre Praxiserfahrung in einer darstellenden Kunst vorweisen musste. Es wurden zum Beispiel
und dabei angefertigten Notizen eine Videoaufzeichnung, das Programmheft, das Textbuch und mehrere Gespräche mit dem Regisseur. 102 So inszenierte Ong etwa das Stück The Yang Family, das von Immigranten in Singapur handelt. In seiner Inszenierung Descendants o.f the Eunuch Admiral (1996) wurde die Situation der kaiserlichen Eunuchen im alten China mit der Situation zeitgenössischer Großstadtbewohner verglichen. 1997 brachte er Destinies o.f Flowers in the Mirrar auf die Bühne; dabei ging es um heilige Frauen, Wunder und Glauben. In den Doku-Performances Workhouse Ajloat und Broken Bird5 wurde das Leben südasiatischer Migranten bzw. japanischer Prostituie1ier in Singapur geschildert, und in Ha((Lives das Leben einer singapurianischen Frau mit ihrem chinesisch-amerikanischen Mann und deren Sohn. Bei Lao Jiu von 1997 handelte es sich um eine multikulturelle Produktion, in der Theaterformen wie Puppenspiel, Kampfkunst und Schattentheater zum Einsatz kamen. 2004/5 inszenierte Ong Chinoiserie in Wien, ein Stück über Exotismus, in dem europäische Schauspielerinnen die Geschichte von vier jungen Frauen aus der japanischen Oberschicht kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs spielten.
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Grundlagen der javanesischen Gamelan-Musik, des klassischen Hoftanzes Thailands und des No-Theaters unterrichtet. 1998 legte die zweite Etappe des Fly ing Circus Project, LAB TWO, den Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit von Künstlern aus unterschiedlichen Teilen Asiens: Südasien (v.a. Indien), Ostasien (v.a. Korea) und Südostasien (v.a. Myanmar/Burma). Im LAB THREE (2000) arbeiteten zwanzig tibetanische Mönche mit Künstlern aus China, Taiwan und Japan zum Thema Spiritualität und politischer Widerstand zusammen. LAB FOUR im Jahr 2003 hatte stark lokalen und soziokulturellen Charakter: Es fand diesmal in Luang Prabang in Laos statt. Zehn Monate lebten und arbeiteten hier Künstler aus ganz Asien, zum Abschluss inszenierte Ong Keng Sen Szenen aus dem Pharak Pharam-Epos mit laotischen Jugendlichen und Senioren. Die Projekte Ong Keng Sens zeigen zum einen, dass die Vorstellung von "orientalischem" oder "asiatischem" Theater als homogener und eindeutig abgrenzbarer Kategorie, etwa im Sinne eines Antonin Artaud, obsolet ist. Zu heterogen sind die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie die Kulturen, ihre theatralen Formen und nicht zuletzt die Produktionsbedingungen für Theater in den verschiedenen Ländern. Zum anderen steht Ong für eine interkulturelle Theaterarbeit, die nicht von Europa oder den USA aus initiiert und organisiert wird, auch wenn der Austausch mit der westlichen Theaterszene und eine internationale Finanzierung von entscheidender Bedeutung für das Gelingen der zum Teil sehr aufWändigen Projekte Ongs sind. Man kann den aus einer in Singapur hoch angesehenen, wohlhabenden Familie stammenden Ong Keng Sen als global agierenden, exzellent vernetzten Kulturmanager bezeichnen, der Förderprogramme sowohl selbst genossen als auch angestoßen hat, in diversen Gremien internationaler Kulturinstitutionen engagiert ist und geschickt wie wenig andere den weltweiten Theatermarkt als Plattform nutzt. 103 Er wurde in den USA ausgebildet, viele seiner Produktionen werden von europäischen und amerikanischen Institutionen und Organisationen finanziell unterstützt und koproduziert; Produzent von Beyond the killing j ields war das International Festival of Arts and Ideas der Yale University, USA. 104
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Ongs eingangs beschriebene Inszenierung Lear etwa hatte 1997 in Tokio Premiere und war anschließend in Asien, Europa und Australien zu sehen darunter auch 1999 beim Festival Theater der Welt in Berlin. Der zweite Teil seiner Shakespeare-Trilogie hieß Desdemona (Premiere beim Adelaide Festival, Austraben 2000). Der dritte Teil Search: Harnlet wurde 2002 im Schloss Kronburg in Helsingör, Dänemark, uraufgeführt. Dort hatte es auch am 27. Juni 2001 Premiere. Das Stück tourte dann nach Stockholm, Oslo, Rotterdam, London, Singapur, Phnom Penh und Berlin. Im April 2003 wurde es unter dem Titel The Myths of Memory am Wiener Schauspielhaus gezeigt, erweitert um die Auseinandersetzung mit der Wie-
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Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
Abgesehen von den beiden Teammitgliedern Yen, einem japanischen Musiker, und Norlina Mohd, einer singapurianischen Filmemacherirr und Schauspielerin, ist Beyond the killingjields in enger Zusammenarbeit mit Künstlern ausschließlich aus Kambodscha entstanden. Die meisten von ihnen haben das Regime der Roten Khmer von 1975 bis 1979 überlebt: Ern Theay, eine im Jahr 1932 geborene Meisterin des klassischen kambodschanischen Hoftanzes; Kim Bun Thom, Tänzerin wie Ern Theay, zur Zeit der Proben 47 Jahre alt; Mann Kosal, Meister des Figuren- bzw. Schattentheaters um die fünfzig; Thong Kim Ann genannt "Preab", ebenfalls Tänzerin und Tanzlehrerin am Konservatorium in Phnom Penh, Ende vierzig und außerdem die Tochter von Ern Theay. Hinzu kommt noch Sotho Kulikar, eine junge Kambodschanerin, die Ern Theay zuweilen begleitet und eine Art Assistenzfunktion fllr diese ausübt. Dass das Ensemble von Frauen dominiert wird, liegt daran, dass bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts der klassische Hoftanz in Kambodscha ausschließlich weiblichen Tänzerinnen vorbehalten war; sie übernahmen auch die männlichen Rollen. Dabei wurde - und wird auch heute noch schon zu Beginn der 12-jährigen Ausbildung im Kindesalter je nach Aussehen die Rolle festgelegt. 105 Ern Theay ist eine der wenigen noch lebenden Hoftänzerinnen der Dämonen-Rollen aus der Ära des Prinzen Sihanouk. Sie begann mit sieben Jahren die Tanz- und Gesangsausbildung am Hof in Phnom Penh, nachdem sie von der Königin dafür vorgeschlagen worden war, da sie die körperlichen Voraussetzungen mitbrachte: die erforderliche Kraft, Dehnbarkeit, Sinn für Rhythmus und Balance, die Physiognomie. Mit 15 Jahren übernahm sie ihre ersten Hauptrollen in Aufführungen am Königspalast, wo sie die folgenden zwanzig Jahre tätig war. Auch die anderen beiden Darstellerinnen in Beyond the killing .fields, Preab und Kim Bun Thom, sind auf Männerrollen spezialisiert. Die Schattentheaterform, die Mann Kosal beherrscht und in dem Stück vorführt, nennt sich sbaek thom. Es handelt sich dabei im Prinzip ebenfalls um eine Art Musik- und Tanztheater, das wichtige zeremonielle Funktionen erfüllt. Sbaek thom heißt übersetzt so viel wie "großes Leder" und bezeichnet eigentlich die Schattenpuppen und -figuren, mit denen gespielt wird. Wie der Titel andeutet, ist Beyond the killing fields auch eine Auseinandersetzung mit dem Pol-Pot-Regime. 106 Am Anfang des Arbeitsprozesses
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ner Spiegelgmnd-Affare und der damals aktuellen Gerichtsverhandlung gegen Slobodan Milosevic. Die kleineren Mädchen mit mndem Gesicht werden für die weiblichen Rollen Neang (Prinzessinnen, Göttinnen) bestimmt, die größeren und die mit eher länglichen Gesichtern für die Männerrollen, die sich aufteilen in die Neay Rang (Prinzen, Götter), den Dämon (Yeak) und den Affen (Sva). Während des Pol-Pot-Regimes wurden viele Kambodschaner zur Arbeit auf Reis- und Baumwollfeldern oder im Straßenbau gezwungen. Viele starben 169
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an dem Stück standen Interviews mit den Beteiligten und intensive Recherchen an kambodschanischen Originalschauplätzen: der Tempelanlage Angkor Vat, wo Ern Theay als junge Tänzerin für die königliche Familie auftrat; dem Palast, wo sie aufwuchs; dem berüchtigten Foltergefängnis Tuol Sleng mit seinem penibel dokumentierten Todesarchiv und dem Arbeitslager in Battambang, in dem Ern Theay vier ihrer acht Kinder verlor. Und so ist die Aufführung mit einer Fülle von dabei entstandenem Material gespickt, wie autobiographischen Erzählungen der Darstellerinnen oder Dokumentarfilmen. Ongs Projekte weisen häufig, das war auch beim bereits erwähnten Flying-Circus-Projekt in Laos der Fall, pädagogische oder therapeutische Komponenten auf. Im Fall von Beyond the killing .fields geht es dabei um den Umgang mit traumatischer Geschichte. Der Regisseur erzählte im persönlichen Gespräch, dass die mitwirkenden Kambodschaner immer wieder in Zweifel gerieten, ob sie weiterhin mitwirken wollten. Die meisten Überlebenden des Pol-PotRegimes reden bis heute nicht über ihre Erlebnisse, es handelt sich um ein mit vielen Tabus belegtes Thema.107 Dennoch äußerte die Hauptdarstellerirr in einem Interview, bei ihr sei durchaus ein positiver Verarbeitungsprozess in Gang gesetzt worden: "So schmerzhaft die Arbeit [... ] fur sie auch war und ist - dass ihre Lebensgeschichte auf diese Weise auf die Bühne kommt, sagt Ern Theay, darüber ist sie sehr glücklich. In Kambodscha, so Ern Theay, habe sie kaum Gelegenheit, von ihrem Leben zu erzählen. Über das Leiden jener Jahre wird dort kaum gesprochen, denn alle haben Ähnliches erlebt, haben Angehörige verloren, meint sie, und wenn sie einander davon erzählten, dann würden alle nur weinen und sich schlecht fuhlen. Sie ist froh, im Rahmen dieser Inszenierung davon sprechen zu können, danach ginge es ihr jedes Mal besser [... ]" (Hennig, Silke: Porträt Em Theay. HörfunkManuskript, gesendet aufWDR 3 u. Radio Bremen, 2002)
Formal lässt sich Beyond the killing jield~ als collageartige Abfolge von hoch artifiziellen klassischen Khmer-Tänzen, Schattenspielen und Szenen beschreiben, in denen das gesprochene Wort dominiert und autobiographische Geschichten aus der Zeit des Pol-Pot-Regimes erzählt werden. Zwischendurch werden Dokumentarvideos eingespielt. Es existiert
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an Hunger, Krankheit, oder aufg~und von Willkürexekutionen. So entstanden in Kambodscha die sogenannten Killing Fields: Die Getöteten wurden direkt neben den Feldern, die sie bearbeitet hatten, verscharrt (vgl. Golzio 2003: 149). Die kambodschanische Gesellsc.h aft ist bis heute in der Frage gespalten, ob und wie den noch lebenden Führern der Roten Khmer der Prozess gemacht werden soll. 2003 wurde aber nach mehrjährigen Verhandlungen zwischen der kambodschanischen Regierung und den Vereinten Nationen ein Abkommen zur Eimichtung eines UN-Tribunals unterzeichnet und 2006 wurde das aus 17 kambodschanischenund zehn internationalen Juristen bestehende Tribunal vereidigt, der eigentliche Prozess 2007 eröffnet.
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Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
keine lineare Erzählstruktur in dem Sinne, dass sich eine Handlung durch die Aufführung zieht, gleichwohl hat sie einen ausgeprägten narrativen Charakter. Es scheint Ong wichtig gewesen zu sein, bestimmte Informationen zu vermitteln; so bekamen die Besucher, obwohl während der Aufführung auf das meiste, was auf Khmer gesagt wurde, sofort eine englische Übersetzung folgte, am Einlass ein Programmheft in die Hand, in dem der gesamte Text aufDeutsch abgedruckt war. Als Grund wird in dem Programm der dokumentarische Anspruch des Stücks angegeben und auf die japanische Tradition verwiesen, im No-Theater dem Publikum den Text auszuhändigen. So könnten die Zuschauer in Beyond the killing.field~ wie dort "[ ... ] den Text während der Auffühmng lesen und selbst entscheiden, wann sie sich auf die Schauspieler konzentrieren und wann sie das Skript verfolgen möchten. Auf diese Art wird dem Publikum die Möglichkeit gegeben, sich auf die Musikalität der fremden Sprache, die Atmosphäre der Aufführung und die Veränderung der Emotionen in den Gesichtern der Schauspieler zu konzentrieren, anstatt Übertitel zu lesen." (Programmheft The Continuum: Beyond the Killing Fields. Berlin/ Haus der Kulturen der Welt, Juni 2002)
Die einzelnen Teile - das Stück lässt sich untergliedern in einen Prolog und 19 Szenen - fielen bei alldem keineswegs auseinander. Die entscheidende Integrationskraft war die Hauptdarstellerirr Ern Theay. Strukturell war alles um sie herum gruppiert: in den Erzählungen, aber auch räumlich. Auf der Bühne hatte sie stets den prominentesten Platz - entweder Bühnenmitte oder Rampe - und sie wurde bereits im Vorspiel, einem einfUhrendem Dokumentarfilm, als zentrale Figur etabliert. Eine durchgängige Grundatmosphäre, die sich als ruhi und etwas düster beschreiben lässt, hatte ebenfalls eine integrative Wirkung. Kostüme und Requisiten wurden prinzipiell sparsam eingesetzt. Die Darstellerinnen trugen einfache Kleidung - unifarbene Blusen, glänzende rote, graue oder gelbe wadenlange weite Hosen, wobei Ern Theay als Ausnahme festlich gekleidet war - mit einer spitzenbesetzten Bluse und einer lila Schärpe. Norlina Mohd erschien in Alltagskleidung: einem roten T-Shirt und einer schwarzen Jeans. Alle waren barfuss, niemand besonders geschminkt oder auffällig frisiert. Als Requisiten kamen Schattenspielfiguren, Stöcke und eine Videokamera auf die Bühne. Diese war abgesehen von den Darstellern fast leer, unterschiedliche Atmosphären wurden weniger durch Kulissen, sondern vor allem über die Beleuchtung geschaffen, wobei vier Grundstinunungen unterschieden werden können: Viele Tanzszenen fanden auf einer hell, homogen weiß ausgeleuchteten Bühne statt - dies hatte etwas von Probenlicht Häufig war die Bühne aber auch eher dunkel, kleine Lichtkreise oder -quadrate strahlten dann spotartig einzelne Darsteller an. Das war in den Szenen der Fall, in denen die Performerinnen aus ihrem Leben erzählten. Hier erzeugte das Licht eine gewisse Intimität und eine Konzentration auf die individuelle Per171
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son. In anderen Szenen wurde das weiße Tuch, das die Bühne über die gesamte Breite nach hinten begrenzte, als Filmleinwand benutzt, oder es fungierte durch den Einsatz von Gegenlicht als Schirm für Schattenspiele. Außerdem gab es in verschiedenen Tanzsequenzen noch die Version, dass nur Gassenlicht die Tänzer geheimnisvoll bestrahlte, weiß oder auch blau, dies wirkte vergleichsweise "theaterartig". Die unterschiedlichen räumlichen Qualitäten: Probenalltag, Intimität, Zweidimensionalität (Leinwand), "Theater", erzeugten für die einzelnen Szenen eine je spezifische Grundstimmung.
(Wieder-)erfundene Traditionen, kollektives Erinnern, performing arts Da der klassische kambodschanische Tanz eines der prägendsten Elemente der Aufführung ist, soll zunächst das Augenmerk auf ihn gelegt werden. Er ist die zentrale künstlerische Tradition Kambodschas. Deshalb soll auch nach seiner Bedeutung für die kulturelle Identität der Kambodschaner gefragt und diskutiert werden, ob angesichts der durch dramatische Brüche gekennzeichneten Geschichte des Landes noch von einer "alten" Tradition gesprochen werden kann. Diese Frage stellt sich auch hinsichtlich des Beschlusses der UNESCO im Jahr 2003, diese Kunstform als "immaterielles Kulturgut" zu schützen - ein kulturpolitisch durchaus kritisch zu reflektierendes Unterfangen. So muss problematisiert werden, inwieweit Theater- oder Tanzfmmen überhaupt "bewahrt" werden können, da performative Künste unauflösbar mit den Menschen leben, die sie ausführen, mit deren Körpergedächtnis verbunden sind und von einer Künstlergeneration an die nächste weitergegeben werden. Um anschließend zu untersuchen, wie der kambodschanische Tanz in Beyond the killingfields inszeniert wird, sollen nun vier Szenen vom Anfang des Stücks gerrauer beschrieben werden. Deskriptive Annäherung an den Tanz in Beyond the killing {ields Szene Nr. 2: Ern Theay tanzt und erzählt aus dem Arbeitslager Die zweite Szene der Aufführung begann mit einem Auftritt von Ern Theay von links. Sie wurde begleitet von einer jungen Frau, Sotho Kulikar. Die beiden gingen in die hell beleuchtete Bühnenmitte und setzten sich - Ern Theay frontal zum Publikum, die junge Frau ihr seitlich zugewandt. Um die beiden herum saßen die drei anderen Darsteller, die in der ersten Szene - verteilt auf der Bühne sitzend - persönliche Erinnerungen an die Zeit der Roten Khmer erzählt hatten. Ern Theay machte eine in Südostasien weit verbreitete Begrüßungsgeste, bei der die Handflächen vor dem Oberkörper mit den Fingerspitzen nach oben aneinandergelegt werden und der Kopf leicht nach vorn geneigt wird. Dann begann sie zu 172
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sprechen, mit leiser, etwas brüchiger Stimme. Was sie sagte, verstand ich nicht - sie sprach Khmer. Mir fielen die vielen Wechsel der Tonhöhe auf. 108 Ich achtete auf Ern Theays relativ regungsloses Gesicht, das ein bisschen zu lächeln schien. Plötzlich hörte sie auf zu sprechen und die Funktion der zweiten Frau, die ihr aufmerksam zugehört hatte, wurde deutlich: Sie war als Dolmetscherin mitgekommen und sprach nun Ern Theays Text auf Englisch. Der Blick ins Programmheft zeigte, dass inhaltlich weitgehend Übereinstimmung zwischen dem von ihr Gesagten und dem Geschriebenen bestand: "Jeden Tag ging ich zum Arbeiten ins Reisfeld und während jeder Pause forderten sie mich auf, ihnen Hoftanz vorzufuhren. Eines Morgens fragten sie mich ,Wieso muß der Königliche Hoftanz mit zwei herumfuchtelnden Händen und einem Bein in der Luft aufgefuhrt werden? Also los Oma, zeig uns einen!'"
Als die Dolmetscherin aufhörte zu reden, stand Ern Theay auf und begann zu tanzen und zu singen. Ihr gesamter Körper war in hoher Spannung, sie führte die Bewegungen langsam und äußerst kontrolliert aus. Strukturiert wurden sie durch das kurze Einrasten in bestimmten Haltungen und Posen, die sich durch ansonsten fließende, runde Bewegungen verbanden. Ern Theays Grundhaltung war durchgängig die gleiche: Aufrechter Rücken, die Knie gebeugt, die Oberschenkel weit nach außen gedreht. Die Füße, wenn sie auf dem Boden standen, lagen flach auf, oft waren die Zehen hochgebogen, es handelte sich - in westliche Kategorien gefasst - um das umgekehrte Prinzip des Spitzentanzes. Die Tänzerin wirkte dadurch einerseits fest mit dem Boden verbunden, als gebe es eine vertikale Bewegung nach unten; andererseits schien Energie horizontal zu fließen, insbesondere in die Arme, mit denen sie komplexe Bewegungsabfolgen ausführte. Dabei wurden die einzelnen KörperteileOber- und Unterarm, Hände und Finger - häufig gegeneinander gedreht und extrem gedehnt. Viele andere Bewegungen waren minimal und nur bei genauem Hinsehen zu beobachten. Ern Theay bewegte sich kaum fort, die Schritte gingen mal vor, mal zurück, aber im Prinzip blieb sie auf einer Stelle. Ihre Mimik war nach wie vor äußerst zurückgenonunen und der Gesang hörte sich für mich rau, fremd, repetitiv an, gleichzeitig stark rhythmisiert, synchron mit den Tanzbewegungen. Ich nahm diese Sequenz vor allem als Demonstration wahr: So sieht also kambodschanischer klassischer Tanz aus. Szene Nr. 4: Schattentheater und Affentanz Nach der dritten Szene, in der Norlina Mohd in einem längeren Monolog Hintergründe des Projekts Beyond the killing .fields erläutert und Fakten zum Pol-Pot-Regime geliefert hatte, erklang ein Gesang, der mir durch 108 Khmer hört sich fur Europäer sehr melodiös an; die Bedeutung eines Wortes hängt mit der Tonhöhe zusammen.
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seine geringen Tonstufen "asiatisch" vorkam. Auf die Rückwand strahlte weißes Gegenlicht. Dann sah man auf dem Tuch den Schatten einer großen Schattenspielfigur, wie sie üblich in Südostasien ist: Zweidimensional zeigen diese Figuren Gestalten, schemenhaft ausgeschnitten oder gestanzt, reich an Ornamenten. Ein Mann hielt sie an zwei Stöcken hoch über seinem Kopf, er trug sie leicht schaukelnd von links nach rechts über die Bühne, immer exakt parallel zum Schirm. Die Konturen zeichneten zwei prächtig geschmückte Männer, die offenbar auf einer Pferdekutsche saßen. Durch die Auf- und Abbewegungen wirkte es, als galoppiere das dargestellte Pferd. 109 Ein radikaler Lichtwechsel folgte, eben noch Schirm fürs Schattentheater, wurde der Vorhang nun zur Filmprojektionsfläche und ein Video zeigte in aller Ausführlichkeit das Erstellen einer Schattenspielfigur: Man sah dörfliches Leben, Rinder, Vorgänge des Schlachtens, Hautabziehens, Gerbens. Männer zeichneten Figuren auf das Leder, schnitten es zu, ritzten Muster hinein. In Zwischentiteln wurde jeweils beschrieben, was die nächste Sequenz zeigte. 110 Während des Films ging der langsame Gesang in eine bewegtere, schnelle elektronische Musik über. Überraschend kam der Schattenspieler wieder auf die Bühne, nun zu erkennen als Mann Kosal, vor der Leinwand diesmal. Gelb angestrahlt tanzte er mit seiner Schattenfigur quer über die Bühne. Dann legte er das Leder in einen Lichtkegel in der Bühnenmitte und begann auf allen Vieren über die Bühne zu fegen und imitierte dabei offensichtlich einen Affen, was die Zuschauer zum Lachen brachte. Am Ende hob er seine Schattenfigur auf; Film und Musik stoppten abrupt und erneut folgte ein radikaler Lichtwechsel: Die Leinwand wurde wieder zum I 09 Bei den Schattenpuppen handelt es sich um geschmeidige Lederstücke, die über I qm groß sein können und mit an den Rändern angebrachten Holzstäben über den Kopf der Spieler gehalten werden. Feste Regeln der Darstellung von Figuren und Szenen ermöglichen Eingeweihten eine rasche EntschlüsseJung: Helle Gesichter und feine Linien gehören zu weiblichen und sehr edlen männlichen Figuren, dunkle Gesichter zn Männem und Dämonen. Männer werden im Profil dargestellt, Frauen frontal. Die Figuren können in einer konkreten Situation - etwa beim Reiten oder im Kampf - dargestellt werden, aber auch einfach für sich stehen. Erzählt werden meist Episoden aus dem Reamker-Epos und für jede Szene steht ein bestimmter Satz sbaek thom zur Verfügung. Ein solcher Satz umfasst etwa !50 Stück, die je aus einer ganzen Kuhhaut in einem komplizierten Verfahren hergestellt werden (vgl. Brunet 1969: 5). Dadurch sind die Produktionskosten hoch und die Zerstömng vieler Figuren während des Pol-Pot-Regi mes bedroht die Theaterform existenziell. Die Armut, die in Kambodscha bis heute herrscht, schränkt die Fortfühmng des sbaek thom in hohem Maße ein (vgl. Phim/Thompson 1999: 15ff.). 110 "Kauf der Kuhhaut/Die Kuhhaut trocknen/Einmal trocken, wird Tannin auf die Haut geschmiert/Puppe auf Papier zeichnen. Benutze die fertige Zeichnung als Schablone, lege sie aufs Leder. Beginne, das Leder mit Werkzeugen zu schneiden./Male die Puppe/Fertige die Puppenstäbe Habe Spaß mit den Jungs."
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Schattentheaterschirm. Bevor er abging, sagte Mann Kosal etwas auf Khmer, im Programmheft war es übersetzt: "Der Mönch sagte zu mir: ,Du, wenn Du ein gutes Leben haben willst, musst Du hart studieren.' Meine Mutter aber sagte: ,Kein Geld, kein Studium. Zuerst müssen Deine Btüder und Schwestem satt werden. Sie müssen arbeiten. Und Du, Du musst in der Pagode bleiben und nicht wiederkommen. Und selbst wenn Du wiederkommst, werde ich dich nicht willkommen heißen."'
Szene Nr. 5: Norlinas Tanzstunde Die nächste Szene, Szene Nr. 5, begann wie jede Szene der Aufführung mit einem Lichtwechsel: Die gesamte Bühne war nun hell ausgeleuchtet, es entstand schlagartig eine alltägliche Probenatmosphäre. Ern Theay betrat mit den beiden anderen Tänzerinnen Preab und Kim Bun Thom die Bühne, ging in die Mitte. Ern Theay rief "Norlina!" und die junge Frau sprang vom Bühnenrand auf und lief in kleinen Schritten eilig auf Ern Theay zu. Die Hände mit den Flächen gegeneinander gepresst vor dem Gesicht, sich mehrfach verbeugend. Dadurch und auch durch den respektvollen Abstand der beiden anderen Frauen wurde Ern Theay deutlich als Autoritätsperson etabliert. Ern Theay gab Norlina einen Klaps auf den Hintern, diese ging auf den Boden, mit aufrechtem Oberkörper saß sie nun auf den Fersen. Die drei anderen Frauen korrigierten Norlinas Haltung mit kleinen Handgriffen, indem sie die Hüften etwas nach hinten schoben, die Schultern hinunterdtiickten, das Kinn nach unten zogen. Dann knieten auch sie sich hin. Alle vier Frauen begannen zu singen und Ern Theay fing an, mit den Armen und Händen Tanzbewegungen auszuführen. Der Gesang war die stetige Wiederholung von der immer gleichen Melodielinie, einer sehr rhythmisierten Folge von Silben. Pro Gesangseinheit gab es je eine Bewegungsabfolge, die am Ende einrastete und die sich im Laufe der Übung in ihrem Komplexitäts- und Schwierigkeitsgrad steigerte: Anfangs fand alles auf den Knien statt, nur Hände und Arme wurden bewegt, dann auch der Oberkörper und der Kopf, schließlich standen die Tänzerinnen auf, und Bein-, bzw. sehr differenzierte Fußbewegungen traten hinzu. Dabei ahmte Norlina Mohd Ern Theay synchron nach, während Preab und Kim Bun Thom fortwährend Norlinas Bewegungen und Haltungen korrigierten. Es wurde dabei klar, wie komplex und schwierig der kambodschanische Tanz ist. Was bei Ern Theay kinderleicht aussah, wirkte bei Norlina Mohd verwackelt, unpräzise, unkoordiniert. Legte Ern Theay scheinbar nur die Hände auf die Knie, korrigierten die Frauen bei Norlina Mohd gleichzeitig die Finger, das Kinn und die Rückenhaltung. Es kam auf winzige Details an: Hob sie den Fuß wenige Zentimeter zu weit hoch, wurde er wieder nach unten gedrückt, neigte Norlina den Kopf in einem falschen Winkel, bekam sie ihn umgehend zurecht gerückt, war der kleine Finger nicht weit genug abgespreizt, halfen Preab oder Kim Bun Thom nach. Viele kleine Bewegungen wurden als konsti175
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tutiver Teil eines Ganzen sichtbar, und fielen mir oftmals erst auf, weil sie bei Norlina Mohd zu grob gerieten. So etwa ein minimales Anheben des gesamten Körpers aus dem Becken heraus, das immer auf den vorletzten Schlag der rhythmischen Figur erfolgte. Dieses schien grundlegend wichtig, gar automatisiert bei den erfahrenen Tänzerinnen zu sein, denn selbst Preab und Kim Bun Thom machten diese Bewegung mit, obwohl sie ja gar nicht "tanzten". Ab und zu eilte auch Ern Theay zu Norlina, korrigierte eine Kleinigkeit, gab ihr einen Klaps. Am Ende löste sich alles in Heiterkeit auf, die Frauen lachten. Norlina Mohd bedankte sich mit der typischen Verbeugung und huschte von der Bühne, Preab geleitete Ern Theay vorn an die Rampe, wo diese sich hinsetzte.
Szene Nr. 6: Tanz des Dämons, Tanz des MannesKim Bun Thom erinnert sich Dann folgte Szene Nr. 5, die die letzte sein soll, die hier ausfuhrlieh beschreiben wird. Die Gmndstmktur: Ern Theay saß an der Rampe und gab Anweisungen an Preab und Kim Bun Thom, bestimmte Bewegungsabläufe vorzuführen, die im klassischen kambodschanischen Tanz den männlichen Rollen (Mann und Dämon) bestimmte Gemütszustände oder Aktivitäten zuweisen. Die beiden Tänzerinnen vollzogen die entsprechende Bewegung je nach Ern Theays Vorgabe, die auf Englisch von der Übersetzerin wiederholt wurde, damit auch das Publikum sie verstand. Es handelte sich um sieben Einheiten, bei denen zunächst Kim Bun Thom die Vorgabe als "Mann" und dann Preab als "Dämon" erfüllte. Die Befehle waren "Gehen", "Sehen", "Liebe", "Freude", "Wut", "Trauer" und "Fliegen". Parallel dazu erzählte Kim Bun Thom auf Khmer ihre Erinnerungen an eine Abtreibung im Arbeitslager. Dazu gab es keine Englischübersetzung, der Text war aber dem Programmheft zu entnehmen. Während der ganzen Szene wurde Schattentheater gespielt: Norlina Mohd befand sich hinter dem großen, die ganze Rückwand bedeckenden weißen Tuch und war in der Silhouette deutlich erkennbar. Die folgende Beschreibung drei einzelner Sequenzen soll die intertextuellen und intermedialen Verschränkungen, die die Szene ausmachen, verdeutlichen: Sequenz 1: EM THEAY (auf Khmer, dann Übersetzerin aufEnglisch): "Male roJe, walk!" Kim Bun Thom geht im typischen Gang - mit gebeugten und nach außen gedrehten Knien - langsam nach vom. Sie macht fließende, ausladende Armbewegungen zu beiden Seiten und spricht auf Khmer. Das Programm liefert die Übersetzung: "Ich war im zweiten Monat schwanger. Sobald mein Mann davon wusste, hielt er mich davon ab, Wasser vom See nach Hause zu schleppen. Stattdessen holte er das Wasser für mich zum Baden." Man sieht auf dem Tuch an der Rückwand den Schatten einer stehenden Frau. EM THEAY (auf Khmer, dann Übersetzerin auf Englisch): "Demon, walk!" Preab geht, ebenfalls die Knie weit nach außen gedreht und im Gelenk gebeugt in großen, raschen Schritten nach vom. Sie nimmt die Beine bei jedem Sch1;tt weit
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hoch. Die Hände bleiben die ganze Zeit in die Hüfte gestemmt. Sie geht einen Kreis und kommt dann wieder in ihren Ruhezustand: leicht gebeugte Knie, aufrechter Oberkörper, die Hände in die Seiten gelegt. Gleichzeitig als Schatten: Die Frau wölbt langsam ihren Bauch nach vom. Sequenz 3: EM THEAY (auf Khmer, dann Übersetzerin auf Englisch): "Male role, Iove!" Kim Bun Thom geht etwas in die Knie, kreuzt die Arme vor der Brust. Wieder auf Khmer, mit sanfter Stimme sp1;cht sie sinngemäß: "An diesem Abend war er sehr nachdenklich. Ich sagte zu ihm ,Hör auf, Dir den Kopf zu zermartern, ich kann ebenso gut selbst zum See gehen und dort baden. "' 111 Die "Schattenfrau" steht weiterhin mit gewölbtem Bauch ruhig da. EM THEAY (auf Khmer, dann Übersetzerin aufEnglisch): "Demon, Iove!" Preab überkreuzt die Arme vor der Brust, allerdings wesentlich heftiger und schneller als Kim Bun Thom zuvor. Außerdem wackelt sie mit den Schultern und Hüften, so dass die Bewegung sexualisiert wirkt. Auf der Rückwand sieht man den Schatten der Frau, wie sie sich langsam nach vornüber beugt, Kopf und Arme nach vorn hängen lässt. Sequenz 6: EM THEAY (auf Khmer, dann Übersetzerio auf Englisch): "Male role, SOJTow!" Kim Bun Thom knickt das Becken ein, die Schultern hängen nach vom. Sie vollzieht langsame Bewegungen mit beiden Armen vor dem Bauch, komplizierte Details mit den Fingern, am Ende landet die linke Hand vor dem gesenkten Gesicht. Sie spricht parallel: "Ich hatte keine Ahnung, wie mein Mann es bewerkstelligt hat. Drei Tage später hatte er irgendeine Medizin. Wir kochten den Trank, ich schluckte ihn herunter und drei, vier Tage später war das Baby abgegangen." Das Schattenspiel zeigt die Frau sich langsam auf1;chtend. EM THEAY (auf Khmer, dann Übersetzerio auf Englisch): "Demon, sorrow!" Preab hält sich den rechten Arm vor den Bauch, den linken Arm vor das Gesicht, macht kleine stampfende Sch1;tte. Der Frauenschatten führt etwas zum Mund. Es sieht aus als tränke sie aus einer kleinen Flasche.
Unterlegt war die gesamte Szene mit Musik: Glockenspiel und Bambusklappern schlugen den Rhythmus für die Bewegungssequenzen, ansonsten waren elektronische Klänge und Knackgeräusche zu hören. Das Licht bestand aus Gassenlicht für die Tänzerinnen, ansonsten war die Bülme dunkel, damit das Schattentheater auf dem Wandschirm funktionierte. Die Aufführung als Lehrstunde: Lakhon lesen lernen Meine Wahrnehmung der einzelnen Tanzsequenzen während der Aufführung unterschied sich von Szene zu Szene erheblich. Sie lässt sich als Entwicklung beschreiben: Zunächst rezipierte ich den Tanz nur in seinen sinnlichen Qualitäten, später kam ich mehr zum "Lesen", "Dekodieren". 111 In der Sequenz zuvor hatte Kim Bun Thom erzählt, dass die Roten Khmer
ihrem Mann verboten hatten, für seine schwangere Frau das schwere Wasser zu tragen.
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Meine Erklärung für diese Wahmehmungsverschiebung liegt darin, dass das Stück insgesamt in einer gewissen Weise den Charakter einer Lehrstunde im klassischen kambodschanischen Hoftanz hatte. Dieser ist in weiten Teilen als Tanztheater mit stark narrativer Komponente zu beschreiben.112 Die Stücke erzählen einfache Geschichten aus dem täglichen Leben und der Natur, vor allem sind sie aber auch umfassende Darstellungen religiöser Mythen wie des Reamker, der Khmer-Version des indischen Ramayana. Die Plots sind dem Khmer-Publikum in der Regel bestens bekannt, genauso wie der Kode, mit dem sich die Tänze eindeutig entschlüsseln lassen. Bedeutung entsteht aus hochkomplexen Zeichenkombinationen, die sich simultan aus Gesten, Bewegungen und Mimik zusammensetzen, hinzu kommen Musik, Gesang, Text, Kostüm, Proxernik. Besonders wichtig sind die Hände, wobei jedes Detail bedeutungsvoll ist; so meinen die Handhaltungen immer etwas anderes, je nachdem wie die Körperhaltung ist. Auch das Bezeichnete kann komplex sein: So gibt es zum Beispiel je eine festgelegte Figur für "Affe weint" und "Göttin nimmt Abschied", oder- wie in der letzten beschriebenen Szene - "Mann liebt" und "Dämon ärgert sich". Die hervorgebrachten Zeichen können symbolisch sein, aber auch naturalistisch bzw. realistisch: So sind manche Zeichen für Angst, Liebe, Wut für einen Betrachter, der nicht den Kode beherrscht, durchaus zu erkennen, andere dagegen nicht - so wäre in Szene Nr. 6 auch für mich ohne Ern Theays Hinweis "Man walk" erkennbar gewesen, dass gezeigt wird, das jemand läuft; ohne "Man Iove", hätte ich das Kreuzen der Arme jedoch spontan eher als Trauer gedeutet. Während des Verlaufs der Aufführung mit ihren neun Tanzszenen wurden die uneingeweihten Zuschauer immer weiter in die Tanzsprache eingeführt. In Szene Nr. 2 wirkte Ern Theays Tanz aufmich hoch energetisch, elegant, diszipliniert und bedeutete für mich lediglich "Ern Theay tanzt". Es gab also eine semantische Dimension für mich, jedoch nicht die, die diese Sequenz für jemanden gehabt hätte, der die einzelnen Zeichen hätte dekodieren können. Die Szene des Tanzes von Mann Kosal war vorwiegend unterhaltsam; hier hatte ich nicht das Gefühl, etwas nicht zu verstehen, obwohl das vielleicht der Fall war. Ich sah hier einen Mann einen Affen imitieren, was komisch wirkte. In "Norlinas Unterrichtsstunde", schärfte sich mein Blick. Nun begann ich die feinen Unterschiede zu erkennen, begriff, dass es sich hier um äußerst komplexe Zeichenkombinationen handeln musste, wenn Preab und Kim Bun Thom ständig an allen Körperteilen Norlinas herumhantierten. Die letzte der beschriebenen Szenen, "Tanz des Dämons, Tanz des Mannes", erklärte dann die Bedeutung ganzer Bewegungsabfolgen. Das Publikum bekam in Szene Nr. 6 Zeichenkomplexe wie Vokabeln einer Fremdsprache beige112 Bezeichnet als lakhon preah reach troap ("Theater des Königshofes") oder lakhon luong ("Königsdrama"), wird der Hauptbestandteil seines Namens lakhon mit "Theater" übersetzt, während Tanz auf Khmer robam heißt.
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bracht - etwa "Dämon freut sich" oder "Mann ist wütend". Ebenfalls Teil der Lektion war die Erkenntnis, dass sich bestimmte Unterschiede je nach Rollentypus als Grunddisposition durch die Darstellung ziehen. Dämon und Mann ähneln sich zwar in ihren Gesten, beim Dämon sind die Bewegungen allerdings zackiger, schneller, wilder, größer und beim Mann fließender, sanfter, kleiner. 11 3 In Szene Nr. 6 bekam ich also ein Verständnis dafür, wie ein Zeichenkomplex ungefahr beschaffen war ein Wissen, das mich im weiteren Verlauf auch nicht mehr verlassen sollte. So suchte ich in den folgenden Tanzszenen nach mir bekannten Zeichen und probierte, diese zu entschlüsseln. Dies gelang mir allerdings in der Regel nicht. Ich konnte kaum Zeichen wiedererkennen, was mich eine weitere Lehre ziehen ließ: Die Theatersprache des kambodschanischen Hoftanzes kann eben nicht in so kurzer Zeit gelernt werden. Nicht nur in den hier beschriebenen Szenen, sondern auch in anderen Teilen von Beyond the killing .fieldY wurden systematisch Kenntnisse über die Theater- und Tanzformen Kambodschas vermittelt. Es wurden Lieder und Tänze verschiedener Genres aufgeführt, vor allem diverse Dämonen- und Kampftänze - schließlich waren alle drei beteiligten Tänzerinnen Meisterinnen der Dämonenrolle. In Szene Nr. 9 wurden sogar Zuschauer auf die Bühne geholt, um einige Grundschritte eines einfachen Kindertanzes zu lernen, was in großem Gelächter und Klatschen endete. Zudem führten erklärende Texte von Norlina Mohd und ausführliche Dokumentarfilme, der über die Anfertigung der Schattenspielfiguren ist nur ein Beispiel unter mehreren, anschaulich in das Umfeld dieser Theaterformen ein. Sehr wichtig war dabei auch der Anfang der Aufführung: So ist der klassische Khmer-Tanz auf das Engste mit der kambodschanischen Monarchie verbunden: Er diente vor allem zur Unterhaltung der königlichen Familie und wurde am Hof gepflegt, wo die Tänzerinnen bis Mitte des 20. Jahrhunderts auch lebten. Gleichwohl ist er zutiefst spirituell und war immer in religiöse Zeremonien eingebunden, wobei in Kambodscha der Glauben seit dem 14. Jahrhundert durch den ThervadaBuddhismus geprägt ist. Die sprachliche Zugänglichkeit von Beyond the killing .fieldY, die durch Übersetzung und Kontextualisierung hergestellt wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem in die Religion weitgehend uneingeweihten deutschen Publikum nicht nur die Bedeutung 113 Tm kambodschanischen Hoftanz ve1weisen Mimik und Gestik insgesamt auf relativ stereotype Idealeigenschaften der Figuren: Schüchternheit, Zartheit und Intelligenz sollen bei Frauen durch Zurücknahme, Rundheit, fließenden Charakter angezeigt werden, Stärke und Mut bei Männern durch kraftvollere, größere und auch teilweise "abgehacktere" Gestaltung. Dabei gibt es allerdings innerhalb der Kategorien sehr feine Differenzierungen. So sind die männlichen Rollen Prinz und Gott im Gegensatz zu den Dämonen zart, weich, eigentlich "feminin" und viele Frauenrollen "mutiger" als ihr männlichen Counterparts (vgl. Phim/Thompson 1999: 49).
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einzelner Zeichen und Zeichenkomplexe, sondern auch die spirituelle, kosmologische Dimension der aufgeführten Tänze verborgen geblieben sein dürfte. Die Aufführung wies aber auf diese Dimension hin: So wurde als Prolog schon während des Einlasses ein Film auf das große Tuch an der Bühnenrückwand projiziert, der die für das gesamte kambodschanische Hoftheater höchst bedeutende sampeah kru-Zeremonie zeigte. Das Ritual erfüllt mehrere Funktionen: So soll es den Aufflihrungsort, der keine Bühne in unserem Sinn ist und vor der Aufführung markiert werden muss, sakralisieren. Außerdem bitten die Tänzerinnen und Tänzer Gottheiten und Geister - insbesondere die verstorbener Tanzmeisterum künstlerischen Beistand. Typischerweise gibt es üppige Opfergaben, Räucherstäbchen, Kerzen. Der Film vermittelte nicht nur Information, sondern erzeugte auch eine festliche Atmosphäre im Saal - vor allem durch seine Klänge und seine Farbigkeit. Die vermittelten Kenntnisse über den kambodschanischen Hoftanz und das Schattentheater in Beyond the killing jields sensibilisierten das Berliner Publikum vor allem dafür, wie viel es nicht wusste. Sie waren die Voraussetzung, das Theater jenseits seiner unmittelbaren Reize als ernstzunehmende komplexe kulturelle Praktik wahrzunehmen. Die Vermittlung dieses Wissens führte zwar nicht zu der Befähigung, die Tänze und Puppenspiele umfassend zu "verstehen", ermöglichte aber überhaupt erst eine ernsthafte Annäherung jenseits des rein kulinarisch-exotistischen Blicks. Hybridität und Kontext: Relativierung der "Ursprünglichkeit" Signifikant ist, dass in Beyond the killing field~ die Ausstattung äußerst sparsam war. Wie beschrieben blieb die Bühne weitgehend leer, sie war mit ihren Gassen, dem Tanzboden und den präzisen Scheinwerfern stets als moderne Theaterbühne präsent. Es wurde weder versucht, den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei dem, was zu sehen war, um einen "ursprünglichen" kambodschanischen Tempeltanz, noch Illusionen zu evozieren, man befinde sich in einem Tempel oder nehme an einem Ritual teil. In "richtigen" Aufführungen gehören beispielsweise bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires verbindlich zu den einzelnen Figuren: Die Prinzessinnen tragen hohe goldene Kronen und Röcke aus edlem Brokat, die Prinzen kleinere Kronen, geschmückte Hemden, enge Hosen und bunte Schärpen, beide Geschlechter viel Schmuck, insbesondere Armreifen. Die Dämonen und Affen haben oft Masken an, langärmlige Oberteile, bei den Dämonen mit vielen Pailletten verziert, und wadenlange Hosen. Auf die prachtvollen Kostüme, die sonst einen großen Teil des Reizes ausmachen, wurde hier verzichtet und es stellte sich der Eindruck ein, irgendetwas "fehle". Die Aufführung verheimlichte dabei nicht, dass eine konkrete Kleidung eigentlich vorgeschrieben ist; so war beispielsweise in Szene Nr. 18 ein Dämonen-Gewand zu bewundern, in dem 180
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Preab einen Stocktanz aufführte. Die Zuschauer waren damit aufgeklärt, dass es sich bei den vorgeführten Tänzen um Auszüge, vielleicht auch eine moderne Form des Lakhon handelte, sie aber keinesfalls etwas sahen, das seit Jahrhunderten gerrau so aufgeführt wird. Auch die synchrone oder aufeinanderfolgende Montage mit dem Vortrag autobiographischer Texte, Filmen oder Schattenspielen dekonstruierte einen "authentischen" Eindruck, im Sinne von "ursprünglich" oder "rein", und während der ganzen Aufführung sorgte nicht zuletzt die Musik für eine Art "De-Authentifizierung" des Dargebotenen: Musik tauchte vor allem in zweierlei Form auf: entweder als traditioneller Khmer-Gesang, den Ern Theay allein oder mit den anderen Frauen zusammen vortrug, oder es erklang, und das war weitaus öfter der Fall, elektronische Musik. Normalerweise wird der klassische kambodschanische Tanz von einem großen Orchester begleitet, dem Pin Peat. 114 In Beyond the killing .fields saß dagegen der japanische Musiker Yen am Bühnenrand und sampelte Fragmente von Pin Peat-Musik, Alltagsgeräusche, seine eigenen Gesänge und elektronische Musik. In dem LiveCharakter der Musik ähnelte die Aufführungssituation strukturell den üblichen Bedingungen - in der Reziprozität zwischen Musikern und Tänzern liegt ein Charakteristikum des kambodschanischen Hoftanzes. In Beyond the killing fields generierten die Tänzerinnen oft den Rhythmus mit den eigenen Füßen oder durch Klatschen, manchmal übernahm Yen diese Funktion, die sonst die Trommeln des Orchesters ausfüllen. Vor allem aber verwies die Musik, die den Zuschauern parallel zu den visuellen Eindrücken ins Ohr drang, darauf, dass es auch der Kontext ist, der ästhetisches Erleben prägt: Sie machte gewahr, dass man eben nicht als Zeuge einer rituell-spirituellen Handlung in einem Tempel war, sondern hier und jetzt im elektronischen Zeitalter, in Berlin, in einem Theater, was durch das nüchterne Bühnenbild und die spezifische Art der Beleuchtung unterstrichen wurde. Sie war auch ein Verweis darauf, dass der westliche Zuschauer, selbst wenn er in Kambodscha säße, etwas "anderes" sähe, als ein initiierter Zuschauer, der eine spirituelle Erfahrung macht. Und darauf, dass der kambodschanische Hoftanz heute immer unweigerlich in einer modernen Welt stattfindet. 115 Der Tanz kann nicht 114
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Es ist in erster Linie ein Perkussionsensemble, dazu kommt das oboenähnliche Blasinstmment Sralai und langsamer, hoher Frauengesang. Insbesondere die Trommel Sampho, der nachgesagt wird, in ihr wohnten mächtige Geister, und diverse Klappern geben den Rhythmus vor, nach dem die Darstellerinnen sich bewegen. Die zahlreichen Xylophone haben eher melodische Funktion. All dies konnte man zumindest ausschnitthaft auch in dem Film über die Sampeah Kru-Zeremonie sehen und hören. In Szene 18 führte ein Video noch einmal vor Augen, dass Kambodscha "modern" ist und die Protagonistinnen des Stücks ganz in der heutigen Welt leben: In einer Sequenz sieht man Kinder, die wild zu Diskomusik auf einem Dorfplatz tanzen. Dann werden Bilder hintereinander geschnitten, die 181
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zu jeder Zeit und überall der gleiche sein, und schon gar nicht der gleiche wie zu seinen Entstehungszeiten. Auf vielschichtige Weise machte die Kombination von Tanz, Gesang, Sprache, Ausstattung und Musik in Beyond the killing.fields also deutlich, dass "Ursprünglichkeit" und "Authentizität" auf dem Theater fragwürdige Konzepte sind; nicht zuletzt, weil Theater nicht ohne die Rezeption des Zuschauers existiert, und es sich deshalb sowohl durch sich ändernde Publika als auch durch sich ändernde zeitlich-räumliche Kontexte transformiert. Ich habe schon erwähnt, dass die Suche nach dem "Authentischen" und "Ursprünglichen" unter anderem als modernistischer Exotismus verstanden werden kann. Die Frage nach den verschiedenen, auch machtpolitischen Funktionen der Konstruktion vermeintlich sehr alter Traditionen, die als konstitutiv fiir kollektive und kulturelle Identitäten gelten können, hat also mit interkulturellem Theater zu tun. Auch weil dieses häufig "moderne" westliche Theaterformen mit "urwüchsigen" außereuropäischen Theaterformen mischt. Aber nicht nur in Europa ist man hinter "unberührten Traditionen" her. Sie spielen auch in postkolonialen Gesellschaften eine zentrale identitätsstiftende Rolle, worauf ich im F algenden eingehen werde. Die Konstitution von sozialem Gedächtnis Entsprechend der beschriebenen anti-essentialistischen Konzeptionen ist kulturelle Identität zwar durch ihren Konstruktcharakter fiktionaler Natur, was jedoch, wie auch die Diskussion um afroamerikanische Kulturen zeigte, ihre praktische oder politische Wirksamkeit keineswegs einschränkt. Sie entsteht durch das Erzählen vom kollektiven Selbst. Der Zusammenhang von Erinnerung und kultureller Identität spielt daher seit den 1960er Jahren im kulturwissenschaftlichen Diskurs eine große Rolle.116 Kulturelles oder kollektives Gedächtnis ist trotz seiner Konjunktur in den Sozial- und Kulturwissenschaften allerdings kein unproblematischer Begriff. So wird häufig vorgebracht, er verwische den Unterschied zwischen Individuum und Gesellschaft: Gedächtnis, so wird argumentiert, sei das "schlechthinnige Innen; was sonst, wenn nicht das Gedächtnis, konstituiert die menschliche Innenwelt." (Assmann, J. 1999: 15). Daher folgert Jan Assmann: "Wer von einem kollektiven Gedächtnis
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das Produktions-Team beim Feiern zeigen: Beim Essen an einer großen, reich beladenen Tafel und beim Tanzen in einem Club. Die Forschung hierzu ist relativ jung, wobei eine soziologische Tradition in der Folge von Maurice Halbwachs mit dem Begriff des "kollektiven" Gedächtnisses vorwiegend auf die Soziogenese und die sozialen Funktionen des Gedächtnisses zielt, während ein kulturwissenschaftlicher Strang, inspiriert vom Mnemosyne-Projekt des Kunsthistorikers Aby Warburg, die Gedächtnisfunktion der Kultur, ihre Institutionen und symbolischen Formen mit dem Konzept des "kulturellen" Gedächtnisses untersucht. 182
Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
spricht, rüttelt an den Fundamenten der abendländischen Individualität [ ... ]" (ebd.). Die Beschäftigung mit dem sozialen Gedächtnis liegt im Grenzbereich zwischen Außen und Innen und hebt die strenge Trennung von Geist und Materie, Individuum und Gesellschaft auf, beleuchtet die Sozialität der menschlichen Psyche. Das bedeutet einerseits, dass es sich auch beim individuellen Erinnern nicht um eine rein private Angelegenheit handelt, sondern dass es an Orientierungsfolien gebunden ist (vgl. Vorländer 1990: 15f.). Zum anderen wird deutlich, dass kollektive Erinnerung ein komplexer politisch-kultureller Diskurs ist, der eine erhebliche Rolle bei der Konstruktion von Identitäten spielt, wie Aleida Assmann sagt: ,"Erinnerte Vergangenheit' ist nicht gleichzusetzen mit der desinteressierten Sachkunde der Vergangenheit, die wir ,Geschichte' nennen. Sie ist stets verquickt mit Tdentitätsentwürfen, Gegenwartsdeutungen, Geltungsansprüchen. So füh11 die Frage nach der Erinnerung ins Mark politischer Motivation und nationaler Identitätsbildung. Wir haben hier das Plasma vor uns, aus dem Identitäten geformt, Geschichte gemacht und Gemeinschaften gebildet werden." (Assmann, A. 1999: 83)
Dabei setzen sich die gemeinsamen Erinnerungen nicht einfach von selbst fort, sind nicht stabil und fixiert, sondern müssen interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen immer neu ausgehandelt, vermittelt und angeeignet werden (vgl. ebd.: 19). Vor allem seit der Untersuchung "erfundener Traditionen" durch Eric Hobsbawm wird in der Wissenschaft vielfach deren Bedeutung für kulturelle und insbesondere nationale Identitäten betont. Hobsbawm bezeichnet diese eingeführten Praktiken, die es zum Ziel haben, bestimmte Werte und Normen durch Wiederholung zu etablieren, als Versuch, die Kontinuität mit einer passenden historischen Vergangenheit herzustellen. Dabei hält er es für wichtig, dass sie als ursprünglich und unveränderlich inszeniert werden (vgl. Hobsbawm!Ranger 1984: 2). In eine ähnliche Richtung argumentiert Dietrich Harth, wenn er Tradition als "neuartiges theatrum memoriae" bezeichnet, welches als Repertoire zur Verfugung steht und über dessen Auswahl sich eine soziale Gruppe verständigen kann, um dem narrativen Kern ihrer politischen und kulturellen Identität das zuzurechnen, was sie für gut hält (vgl. Harth 1997: 742f.). Und daher ist zumindest im postkolonialen Kontext "Tradition" alles andere als ein unbelasteter Begriff, wie Geeta Kapur unterstreicht: "Certainly the term tradition as we use it in the present equation for [... ] the third world is not what is given or received as a desinterested civilizational legacy, if ever there should be such a thing. This tradition is what is invented in the course of a struggle. It marks off the territories/identities of a named people." (Kapur, G. 2000: 267)
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Politik des Erinnerns und Vergessens: Geschichte des Tanzes in Kambodscha
In postkolonialen Gesellschaften spielt die Konstruktion von Identität durch künstlerische Traditionen insofern eine besondere Rolle, als die Phase der Unabhängigkeitsbewegungen und Nationenbildung meist von der Besinnung auf vorkoloniale Praktiken im Dienste der Emanzipation von den Kolonialherren geprägt war, wie bereits anhand der NegritudeBewegung erläutert. Rustom Bharucha zielt in seiner Kritik interkulturellen Theaters deshalb nicht nur aufwestliche Theatermacher, sonderndezidiert auch auf Künstler und Intellektuelle in ehemaligen Kolonien, die nach der Unabhängigkeit Traditionen (re-)konstruiert, als "Wurzeln" propagiert und häufig für Zwecke der Restauration verwendet haben (vgl. Bharucha 1993: 206). Bharucha stellt die Suche nach eigener Ursprünglichkeit und Authentizität in eine Linie mit dem europäischen Orientalismus, der historische Verändenmgen, die Heterogenität der Kulturen, Widersprüche, Details der in weiten Teilen modernen postkolonialen Gesellschaften negiert. Von daher ist auch im Kontext von Beyond the killing.field~ die Frage zu klären, welche Stellung und Funktion die kambadschanisehe Hoftanztradition in einem Land hat, das in besonderer Weise von Fremdherrschaft, Stellvertreterkriegen und Genozid betroffen war und was für ein Bild von dieser Kunstform in der Aufführung inszeniert wird. Die Relevanz der Kunstform Tanz für die Khmer lässt sich an ihrem zentralen Monument, dem Tempel von Angkor (um 1112 n. Chr.) ablesen: Allein hier finden sich rund 1600 Sandstein-Reliefs von Apsara, wie die Hof- und Tempeltänzerinnen ursprünglich genannt wurden. Bis heute wird an den Schulen in Kambodscha der Mythos der Tanzgöttin Mera als Urmutter der Khmer gelehrt und Apsara-Dekorationen sind omnipräsent: "Dance is commonly perceived as innate to the Khmer people, and essential to the perpetuation of Cambodia as a structural and political entity." (Phim/Thompson 1999: 2)
Es ist davon auszugehen, dass die kambodschanischen Tänze Formen und Techniken diverser Provenienz integriert haben - vor allem aus den Nachbarländern Thailand und Vietnam und natürlich aus Indien, dessen Einfluss in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung auf die Kulturen Südostasiens erheblich war (vgl. Brunet 1969: 1). Über die ursprüngliche Gestalt des klassischen Khmer-Tanzes lässt sich wenig sagen, da, abgesehen von den vielen Apsara-Bildern, kaum schriftliche oder bildliehe Beschreibungen existieren - wobei auch dies keine hinreichende Bedingung wäre, um so etwas Flüchtiges wie Bewegung zu rekonstruieren. Die eigentliche Entstehung der Tänze wird in die Zeit des kambodschanischen Großreichs von Angkor, der Blütezeit der Khmer (ca. 9.-15. Jh.)
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datiert. Diese Periode ist bis heute von höchster Bedeutung für das Khmer-Selbstverständnis, wobei dies nicht immer so war: Es ist eher anzunehmen, dass es sich hier um eine invention oftradition aus der Zeit desKönigsAng Duong (1841-60) und des anschließenden französischen Protektorats ( 1863-1941) handelt. Ang Duong steht für die Gründung einer kambodschanischen nationalen Einheit, er legte von Anfang an Wert auf eine Hofkultur, die versuchte, alte Khmer-Traditionen zu rekonstruieren (vgl. Phim/Thompson 1999: 38ff.). Dann waren es insbesondere französische Residenten und Wissenschaftler, die sich im 19. Jahrhundert historisch und archäologisch mit der Vergangenheit Kambodschas befassten. Gerade auch deren Erkenntnisse über Größe und Macht des Angkor-Reiches führten bei den Kambodschanern, die über Jahrhunderte in immer größere Abhängigkeit von den starken Nachbarn Vietnam und Thailand und nun Frankreichs geraten waren, zu einer ethnischen "Khmerisierung". Der Tempel Angkor Vat ist heute noch stilisiert auf der Nationalflagge abgebildet (vgl. ebd.: 41 ). Gerade weil der klassische Tanz so zentral für das kulturelle Gedächtnis der Khmer ist, wandelte er sich stark mit der wechselhaften politischen Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert. 1906 wurde der Hoftanz an1ässlich einer Ausstellung über die französischen Kolonien in Marseille erstmals der europäischen Öffentlichkeit vorgestellt und nun zunehmend in repräsentativen Zusammenhängen eingesetzt. 1919 wurde die erste Kunsthochschule in Phnom Penh mit dem expliziten Ziel eröffnet, die Khmer-Traditionen, vor allem auch den Tanz, zu pflegen. In diesen Jahren begann eine gewisse Kommerzialisierung und zahlreiche Welttourneen der kambodschanischen Tanzensembles folgten. Ab den 1940ern, unter Prinz Sihanouk, erlebte der Hoftanz sowohl radikale Veränderungen als auch eine besondere Blütezeit. Die Regeln für die Tänzerinnen wurden gelockert; sie durften nun auch außerhalb es Palasts leben und heiraten, es trat eine deutliche Professionalisierung ein. Außerdem ließ man jetzt auch Männer in die bis dahin ausschließlich weiblichen Ensembles. Die Stücke wurden gekürzt und für diplomatischen Besuch auf eine erträgliche Dauer gebracht. Obwohl Staatschef Prinz Sihanuk sein Land lange Zeit aus den Konflikten der Großmächte in Südostasien heraushalten konnte, wurde Kambodscha während des Vietnamkrieges in die bewaffneten Auseinandersetzungen verwickelt. General Lon Nol, der -unterstützt von den USA- durch einen Putsch 1970 an die Macht kam, setzte der Regentschaft von Sihanouk ein vorläufiges Ende. Die Hoftänzerinnen und -tänzer, unter ihnen Ern Theay, tanzten nun für die Karnhodschanische Republik. Der Tanz, zuvor als "königlich" bezeichnet, wurde nun - noch immer als wichtiges Nationalsymbol angesehen schlicht "klassisch" genannt. Viele Stücke wurden so überarbeitet, dass Hinweise auf den Hof weitgehend eliminiert waren: Aus "Prinzessinnen" und "Prinzen" wurden nun "Frauen" und "Männer" (vgl. Phim/ Thomp-
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son 1999: 42). 117 Der Willkürherrschaft von Lon Nol, der zudem hinnehmen musste, dass die USA mittlerweile einen Bombenkrieg bisher nicht gekannten Ausmaßes gegen Kambodscha führten, wurde 1975 durch den Einmarsch der Roten Khmer ein brutales Ende bereitet. 118 Pol Pot, der Führer der Roten Khmer, träumte von der Wiederauferstehung des Khmer-Reiches der ersten Jahrtausendwende. Vorsichtige Schätzungen beziffern die Zahl derer, die unter seinem Regime ums Leben kamen, auf eine Million. Darunter waren überproportional viele Künstler und Intellektuelle: 90 Prozent aller Tänzer, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, bildender Künstler, Dramatiker und Dichter wurden ermordet. Sie passten nicht in die Ideologie, nach der ein unabhängiges, sich selbst versorgendes Bauern-Kambodscha entstehen sollte, und fielen dem Genozid zum Opfer: "Häufig genügte es, Brillenträger zu sein, um in den Verdacht zu geraten, lesen und schreiben zu können, was einen automatisch zum Todeskandidaten machte." (Golzio 2003: 148f.)
Pol Pot verbmmte oder vernichtete zudem alles, was mit der Monarchie zu tun hatte, also auch den Hoftanz. Die klassischen Tänzerinnen und Tänzer galten als Stellvertreter des Feudalismus und wurden, kam ihre Vergangenheit ans Licht, in der Regel umgebracht. Viele warf man in das berüchtigte Foltergefängnis Tuol Sleng, in dem allein etwa 20 000 Menschen starben. Diejenigen, die am Leben gelassen wurden, arbeiteten unter unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern. Die Roten Khmer ermordeten auch fast die ganze Familie, sehr viele Freunde und Kollegen Ern Theays. 11 9 Da die klassischen darstellenden Künste von Meistern an Schüler oral-performativ weitergegeben wurden, hätte das
117 Es wird daran deutlich, dass bereits die Bezeichnung "klassischer kambadschanischer Hoftanz" politisch aufgeladen ist und auch ganz anders genannt werden könnte. Ich halte mich hier aus Gründen der besseren Lesbarkeit an die allgemein übliche Bezeichnung in der aktuellen Literatur. 118 So haben der damalige US-Präsident Richard Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger die Bombardiemng dicht besiedelter Gebiete in Kambodscha mit einer Viertelmillion Tonnen Bomben allein im Frühsommer 1973 zu verantworten und die Todesopfer dieses nie offiziell erklä11en Kriegs werden genauso hoch geschätzt wie die des verbreche1;schen Pol-Pot-Regimes (vgl. Golzio 2003: 146f.). 119 So berichtet Norlina Mohd in Szene Nr. I 0 von Ern Theay: "rn einem unserer Interviews mit ihr eröffnete sie uns, daß beinahe dreihundert Künstler, mit denen sie befreundet gewesen war, während des Pol Pot Regimes zu Tode gekommen sind. Da sie Mitglieder des Hofstaates waren, empfand Pol Pot sie als eine Bedrohung und des Todes würdig. Sie selbst überlebte als eine der wenigen glücklichen und ist vielleicht heute die einzige lebende Hüterin klassischer kambodschanischer Tänze und Lieder." 186
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Regime beinahe auch die Theater- und Tanztradition in Kambodscha vollkommen ausgelöscht. 1979, nach der Eroberung und Besetzung Kambodschas durch Vietnam und der Gründung der "Volksrepublik Kambodscha", war es eine der ersten Maßnahmen, den klassischen Tanz zu rekonstruieren. Die wenigen überlebenden alten Meisterinnen wie Ern Theay wurden vom Kulturministerium identifiziert und besonders gefördert: Sie erhielten den Titel Master of Perjorming Arts und unterrichteten an der staatlichen Tanzschule in Phnom Penh. So erzählt auch Ern Theay in Szene Nr. 16: "Eines Tages erwachten wir, um festzustellen, daß alle Pol Pot Offiziere verschwunden waren. In meinem Dorf herrschte ein großes Durcheinander. Wir alle begaben uns auf die Flucht, barfuß/Unterwegs wurden wir Zeugen zahlreicher Gefechte zwischen den Soldaten Pol Pots und vietnamesischen Truppen/Ich erinnere mich an eine ausgebombte Pagode. Alles war vollkommen zerstört, nur der Buddha saß noch da. Wir machten Halt in Battambong, um nach unseren Lieben zu suchen. Und dmi unterrichtete ich an einer soeben eröffneten Tanzschule. Es gab sie erst einen Monat/ Auf dem Rückweg nach Phnom Penh gab ich überall wo wir Station machten, Unterricht in klassischem Tanz und Gesang/Das Kulturministerium fand heraus, daß ich noch am Leben war. Sie kamen und baten mich, wieder zu unterrichten. Es gab insgesamt an die dreihunde1t Eleven. Anfangs wurden w ir mit täglichen Reisrationen bezahlt/Heute bin ich Rentne1in, aber noch immer unte1weise ich die nachfolgenden Generationen in den klassischen Tänzen und Liedern. Ich liebe meine Kunst und würde alles tun, um sie am Leben zu erhalten. Sie ist die Seele unserer Nation." 120
Die Vietnamesen erkannten, ähnlich wie die Kulturpolitiker der Republik vor dem Roten-Khmer-Regime, den Tanz als wichtiges Symbol und Kommunikationsmittel: Er wurde nicht nur rekonstruiert, sondern die Stücke wurden gleich im Sinne der aktuellen Lage umgeschrieben. So tauchte zum Beispiel plötzlich der 7. Januar als Befreiungstag durch die Vietnamesen in vielen, auch den uralten Stücken auf; neue Elemente, etwa kambodschanisch-vietnamesische "Freundschaftstänze" wurden kreiert. Als 1991 König Sihanuk nach Kambodscha zurückkehrte und die Vietnamesen abzogen, wurden hingegen die einstmaligen monarchistischen Verbindungen und Elemente wieder erinnert, was die Bildung einerneuen nationalen Identität unterstützte. Sihanuks Tochter Prinzessin Norodom Buppha Devi, ebenfalls Tänzerin, engagierte sich stark für den Tanz und sorgte als Kulturministerin für die Listung des lakhon bei der UNESCO als Schützenswertes Kulturgut: Der klassische Hoftanz Kambodschas ist 2003 auf die Liste der zu schützenden immateriellen Kultur-
120 Ern Theay sprach wie immer auf Khmer, jeweils nach einem Absatz wurde das Gesagte von Norlina auf Englisch wiederholt. Ich gebe hier deutsche Übersetzung aus dem Textheft wieder.
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gütergesetzt worden. 121 Es darf dabei allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem heutigen Tanz um die "originale" alte oder auch nur "Vor-Pol-Pot"-Tanzsprache handelt: Der geschichtliche Abriss hat gezeigt, dass Tradition permanente Transformation bedeutet und gerade auch politische Interessen immer wieder prägend waren. 122 Die Überlieferung performativer Kulturtechniken Zu dem UNESCO-Programm sei angemerkt, dass sich angesichts des Vorhabens, immaterielle Kulturgüter schützen zu wollen, schwerwiegende Fragen stellen: Wie trägt man dem Umstand Rechnung, dass Theater etwas Flüchtiges ist? Dass Tradition immer auch zugleich Wandel bedeutet? Wie kann in sich verändernden Lebenswelten eine kulturelle Praxis "erhalten" werden? Und selbst wenn das Kulturgut weitgehend in seiner Form bewahrt werden könnte - kann man von "Erhaltung" sprechen, wenn sich der Kontext signifikant ändert? Dies ist bereits bei materiellen Kulturgütern ein Problem- so fragt man sich, ob etwa ein mittelalterliches Kruzifix in einem Museum noch dasselbe ist, wie das, das einst in einer Kirche hing. Noch dramatischer ist dies im Theater, das eine be121 Die UNESCO ist 2003 dazu übergegangen, nicht mehr nur Kulturstätten, Monumente und Artefakte als Weltkulturerbe und damit als schützenswert zu erklären, sondern auch "immaterielles Kulturerbe", d.h. "[ ... ] Praktiken, Darbietungen, Ausdrucksformen, Kenntnisse und Fähigkeiten - sowie die damit verbundenen fnstmmente, Objekte, Artefakte und Kulturräume [... ] Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer Generation an die nächste weitergegeben w ird, wird von Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Interaktion mit der Natur und ihrer Geschichte ständig neu geschaffen und vermittelt ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität. Auf diese Weise trägt es zur Förderung des Respekts vor der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität bei." (UNESCO: Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes. (Offizielle Übersetzung) Paris, 17. Oktober 2003: 3) Die UNESCO fuhrt entprechend eine Liste der "Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit", auf die Sprachen, orale Literaturformen wie Mythen, Epen und Erzählungen, Musik, Tanz, Spiele und andere Künste aufgenommen werden. Bislang sind vom brasilianischen Samba de Roda über die Kunqu-Oper in China, das indische Kuttiyattam, das japanische Kabuki- Theater, bis hin zur Tradition der Meddah, türkischer Epen- und Märchenerzähler sehr unterschiedliche Kulturpraktiken vertreten. 122 "Politische Dimension" heißt nicht zwingend, dass es sich um einen von oben gesteuerten Prozess handelt. Ich teile Jennifer Lindsays Meinung, dass Kulturpolitik immer vom kulturellen Kontext geprägt und selbst Teil der Kultur ist: "[ ... ] we should observe cultural policy as part of cultural expression in Southeast Asia- and that govemment structures, funding, and policies are not only something superimposed upon indigenous, regional, traditional, infranational cultural forms but are themselves also formed by the context within which these fonns exist." (Lindsay 2002: 64)
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sonders soziale Kunst ist - was die Beschreibung eines Theatererlebnisses von Peter Brook illustriert: "Als die Natur und die Motivation des Publikums sich ändetien, verlor das Stück all seine Bedeutung [ ... ] In Indien wird es nachts aufgeführt, mit Musik, Geräuschen, merkwürdigen Pfiffen, und die Kinder des Dorfes halten Fackeln, um die Aufführung zu beleuchten. Die ganze Nacht lang ist das Dorf in einem unglaublichen Zustand der Erregung, die Menschen hüpfen umher[ ... ] Diesmal aber trat die Chauu-Truppe am Riverside-Theater auf, einem guten Theaterraum, aber es war Teatime, und das Publikum bestand aus etwa fünfzig älteren Damen und Herren, Abonnenten anglo-indischer Zeitschriften, die sich für Asien interessietien. Sie schauten sich höflich die Aufführung an, die gerade via Kalkutta in London eingetroffen war. Obgleich [... ]die Schauspieler exakt dasselbe taten wie in ihrem Dorf, war der Geist nicht mehr da, nichts übrig als eine Schau, eine Schau, bei der es nichts zu schauen gab." (Brook I 998: 67f.)
Es geht hier nicht nur um konservierungstechnische Fragen, sondern auch um ein kulturpolitisches Problem. Es lässt sich nämlich argumentieren, dass sich ein Vorhaben wie das der UNESCO von einem überholten Kulturverständnis leiten lasse, das ein fragwürdiges, typisch europäisches Konzept der Musealisierung stütze: Immaterielle Güter schützen zu wollen, impliziere letztlich die Vorstellung von "authentischen" Praktiken, die mit einer problematischen westlich-modernistischen Sehnsucht nach dem Ursprünglichen zusammenhängen könnte. Diese Argumentation wird auch dadurch nicht entschärft, dass die Praktiken von Organisationen aus den jeweiligen Ländern selbst für die UNESCO-Liste vorgeschlagen werden. So habe ich dargelegt, dass es bei der "Pflege" oder "Erfindung" von Traditionen auch um die eigene kulturelle Identität geht. Dabei verlagert sich der exotistische Blick oft von außen nach innen in die "Angebotspolitik" eines Landes: Wenn Kambodscha Investoren und Touristen ins Land holen möchte, was für ein armes südostasiatisches Land von existentieller Bedeutung ist- kann es erfolgversprechender sein, Goldkrönchen und Tempel in den Vordergrund der Selbstdarstellung zu rücken, als Toul Sleng. Es ist daher von hoher Relevanz, dass die UNESCO den Schutz immaterieller Kulturgüter durch die Ernennung einzelner Künstler als "lebendige Kulturschätze" und deren finanzielle Unterstützung ergänzt: ",Living Human Treasures' are persans who possess to a very high degree the knowledge and skills required for performing or creating specific elements of the intangible cultural heritage that the Member States have selected as a testimony to their living cultural traditions and to the creative genius of groups, communities and individuals present in their territory." (UNESCO: Guidelines for the Establishment ofNational ,.Living Human Treasures" Systems. Paris 2004: 3)
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Hintergrund dieses Förderprogramms ist die Erkenntnis, dass man, möchte man performative Praktiken erhalten oder fördern, Menschen einbeziehen muss. Es trägt der Tatsache Rechnung, dass performatives Wissen das Körpergedächtnis von Individuen ist und es nur persönlich weitergegeben werden kann, was für den Fall des kambodschanischen Tanzes in Beyond the killing fields eindrucksvoll vor Augen geführt wird. 123
Tradition, Training und Disziplin Die Tanzkultur Kambodschas wurde zwar auch in die Reliefs der Tempel gemeißelt, in erster Linie aber von der Meister- an die Schülergeneration durch tägliches Körpertraining weitergegeben. Dies ist auch in Europa bei vielen Künsten und Fertigkeiten der Fall, beispielsweise im klassischen Ballett, Sport, Musikunterricht Grundsätzlich geht es dabei um das "Vormachen", das mimetische Nachmachen, Üben und Korrigiertwerden. Komplexe Körpertechniken müssen langfristig erlernt werden, daher ist auch der frühkindliche Beginn des Trainings so wichtig. Im Fall des klassischen kambodschanischen Tanzes wird über zwölf Jahre geübt. Die Körper werden in eine Form gebracht, die eine extreme Überdehnung insbesondere im Bereich der Hände und Füße ermöglicht, da sie im Zentrum der Tanzästhetik steht. Die Eleven lernen über tausend Grundhaltungen und Bewegungsmuster - chha banchos oder kbah baat -, die sie täglich trainieren. Das Tagespensum ist in zwei Teile geteilt: einen ersten, relativ langsamen, in dem festgelegte Posen und Bewegungsabfolgen an einem Platz ausgeführt werden - wie wir sie in Beyond the killing jields in der Szene "Norlinas Tanzunterricht" gesehen haben, und einen zweiten, der auch aus Schrittfolgen besteht. Dieses Durchexerzieren des Grundvokabulars dauert mindestens eine Stunde, es wird jeden Morgen zu Beginn und abends zum Abschluss des Trainings durchgeführt. Dazwischen wird an konkreten Rollen, bestimmten Tänzen und Choreographien gearbeitet.
123 Das UNESCO-Programm wird dem Zusammenhang von perfom1ativen Küns-
ten und dem Körper gerecht, indem es Gelder für diejenigen, die die jeweilige Kunst behem;chen, mit der Listung des Kulturguts verknüpft. Meine vorgebrachte Kritik am Schutz immate1ieller Kulturgüter wird dadurch relativiert, zumal es der von mir an anderer Stelle geforde1ien Aufwertung performativer Kulturen entspricht und es kulturpolitisch die Tatsache berücksichtigt, dass nicht nur Monumente und Artefakte, sondern auch menschliche Körper Ort kulturellen Gedächtnisses sind. Insgesamt bewegt sich das UNESCOProgramm in einem Spannungsfeld zwischen Aufwertung des Performativen und tendenziell exotistisch-musealer Identitätspolitik und ist daher differenziert zu bewerten. Offenbar liegt, wie in vielen Fragen des Kulturaustauschs, eine grundsätzliche Ambivalenz vor, die allenfalls theoretisch aus der Welt zu schaffen ist und mit der man in der Alltagspraxis leben muss.
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Kulturelle körperliche Einschreibungen werden während der Sozialisation insbesondere durch Agenten und Institutionen des "Überwachens und Strafens" (Foucault) vorgenommen, und bestimmte Verhaltensweisen dabei inkorporiert. Das heißt, Bewegungsmuster gehen in "Fleisch und Blut" über. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist auch beim kambodschanischenTanz streng hierarchisch: "The student watches and follows intently. Her (or his) silent, trusting, and active integration of knowledge and skills is one sign of respect for the dance teacher." (Phim/Thompson 1999: 46)
Die Schülerinnen lernen durch Nachahmung und körperliche Manipulation: Die richtige Schulterhaltung wird nicht erklärt, sondern die Lehrerin schiebt ihre Daumen als Gegendruck unter die Schulterblätter, damit sich die Schulter nach hinten zieht. Um die richtige Fußhaltung zu lehren, berührt sie den Fuß mit einem Bambusstock oder der Hand, oft in Form kleiner Schläge, Kniffe, also schmerzhafter Reize. In Bey ond the killing .fields wurden in der Szene "Norlinas Tanzstunde" diese Aspekte der tänzerischen Erziehung und Disziplinierung anschaulich vorgeführt: 124 Norlina Mohd wird von den Meisterinnen festgehalten, erhält den einen und anderen Klaps. Die strenge Hierarchie war durch Ern Theays Aura, die stets als Höchststehende erkennbar war, deutlich spürbar. Auch an anderen Details konnte man erkennen, wie sich das Training tief in die Körper der Tänzerinnen eingeschrieben hat. Etwa daran, dass Preab und Kim Bun Thom, die eigentlich gar nicht mittanzten, sondern "nur" Norlina
124 Nicht nur in "Norlinas Tanzstunde", sondern auch in einer späteren Szene, in Szene Nr. 15, in der ein Video von Preabs Tochter, also Ern Theays Enkelin, beim Tanztraining gezeigt wird. Man sah, wie Preab die Haltung des Mädchens korrigierte. Während des Films unterhielten sich die drei Darstellerinnen leise auf der Bühne, manche Passagen wurden übersetzt und vermittelten viel über das soziale Umfeld der Tänzerinnen und über die harte Ausbildung. So erzählte Preab: "Die meisten der klassischen Tänzer setzen hohe Erwartungen in mich, alle Rollen meiner Mutter, ihre Gefuhle, ihren Gestus zu übernehmen. Als ich aufwuchs, stand ich meinem Vater näher als meiner Mutter. Ich verbrachte die meiste Zeit mit ihm, weil meine Mutter immer trainierte oder auf der Bühne stand." Ern Theay: "Mein Mann war königlicher Soldat. Wir verliebten uns ineinander. Nachdem wir sechs Monate verheiratet waren, wurde ich schwanger. Die Königinmutter sagte: ,Hätte ich geahnt, daß du es so eilig hättest, schwanger zu werden, würde ich dir nicht gestattet haben, zu heiraten."' Preab: "Manchmal gibt es Eifersüchteleien der anderen Tänzerinnen, weil ich Ern Theays Tochter bin. Ich sage mir jedoch, daß ich meine eigenen Ziele habe, Tanzen ist das, was ich liebe. Dieses Ziel werde ich verfolgen, ob ich Ern Theays Tochter bin oder nicht." Ern Theay: "Ich denke noch immer, daß sie einen langen Weg vor sich hat. Wann immer ich sie tanzen sehe, ist es mir, als müßte ich ihr Klapse geben und sie zwicken." 191
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korrigierten, ebenfalls kleine, kaum wahrnehmbare rhythmische Bewegungen mit dem Becken auf den vorletzten Schlag im Takt vollzogen. Performatives Wissen
"Norlinas Tanzstunde" vermittelte nicht nur Kenntnisse über den kambodschanischen Hoftanz und seinen Kontext. Sie verwies auch darauf, dass es ein Wissen gibt, das durch Lernen mit dem Körper erzielt wird und damit auf die Perfonnativität von Kultur selbst. Richard Schechner bezeichnet solches Wissen als "performatives Wissen" und arbeitet heraus, dass es nur von Person zu Person und oral, nicht aber schriftlich weitergegeben werden kann (vgl. Schechner 1990: 32ff.). Das bedeutet umgekehrt, dass bei jedem perforn1ativen Akt Gedächtnis mit im Spiel ist, manifestes Gedächtnis, und zwar nicht nur dessen, was "auswendig gelernt wurde" sondern dessen, was man "Körpergedächtnis" nennen könnte. So erzählt Norlina Mohd auch in Szene 10, während Ern Theay einen Tanz vorführt: "Sie selbst überlebte als eine der wenigen glücklichen und ist vielleicht heute die einzige lebende Hüterin klassischer kambodschanischer Tänze und Lieder. Sie hat Schwierigkeiten, sich an die Texte zu erinnern und Kulikar tut ihr Bestes, ihr zu helfen. Sie erinnert sich nicht an Daten oder an die Abfolge von Ereignissen. Niemals aber vergisst sie ihre Tanzschritte und Melodien."
Wenn Ern Theay tanzt, erinnert sie sich an, durch und mit dem Körper. Der Tanz ist Erinnerung. Die zwei Stränge Tanz und Geschichte müssen in Beyond the killing .fields daher zusammen gedacht werden. Denn der Körper ist nicht, wie bereits im Kapitel zu Searching for Horne ausgeführt, vor oder jenseits kultureller Markierungen zu denken. Körpersprache wird durch Mimesis erlernt, durch die Nachahmung und permanente Wiederholung körpersprachlicher Konventionen. Das heißt, dass immer auch kulturelles Gedächtnis mit auf der Bühne steht, wenn Ern Theay oder Ralph Lemon tanzen. Gerade indem die Roten Khmer, die wie Judith Hamera zutreffend schreibt, eine "tyranny of forgetting" (Hamera 2002: 68) etablierten, Hoftänzer physisch auslöschten oder durch erschöpfende Arbeit und Hunger auf die bloße Existenz reduzierten, erkannten sie diese Bedeutung des Körpers für das kulturelle Gedächtnis, das sie vernichten wollten, an. Beyond the killing jields ist dabei aber nicht nur eine Reflexion auf den Körper als kulturellen Zeichenträger. Der Körper erscheint nicht bloß als Objekt, als Oberfläche w1d Produkt kultureller Einschreibungen, sondern als ein leibliches In-der-Welt-Sein. Er agiert, er ist und er ist produktiv. Die Aufführung macht die Performativität von Kultur deutlich, indem sie vorführt, dass Tanz sich nur tanzend erhalten und erinnern lässt und daher an die Körper der Tänzerinnen gebunden ist. Es wäre nämlich ein falscher Umkehrschluss anzunehmen, dass der Tanz, wenn er von einer Tänzerin der Vor-Pol-Pot-Zeit vorgeführt wird, im "Origi192
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nal" oder seiner ursprünglichen Form zu sehen ist, auch wenn er bereits lange vor dem Terrorregime gelernt wurde. Gerade in Kambodscha haben die Körper der Tänzerinnen und Tänzer traumatische Erfahrungen inkorporiert, Erfahrungen, die sie zudem machen mussten, gerade weil sie Tänzer waren. Sie haben über Jahre ihre Kunst nicht pflegen können, einige mussten in Todesangst ihre Fähig- und Fertigkeiten verbergen. Sie haben Genozid, den Verlust der eigenen Kinder und Vergewaltigung erlebt, Schmerz, Hunger, Angst - alles Bestandteile ihres Körperwissens. Und so sind diese Körper und ihre Tänze eine Art Gegengedächtnis zur offiziellen Geschichtsschreibung, was auch Ralph Lemon anhand einer Begegnung mit einem afroamerikanischen Greis auf seiner Recherchereise in den Südstaaten beobachtet hat: "There is this 95-year-old man that I thought about bringing to this work. I want him on stage because he is one of the old juke joint dancers. He did it one day for me in an old juke joint in Winton, Mississippi. It was so thrilling, because I didn't just see his steps but I saw his whole life. A man who had witnessed lynchings." (Ralph Lemon im Interview mit der Autorin, 10. Juni 2003)
Umso problematischer erscheint es, wenn der kambodschanische Hoftanz zu touristischen Zwecken als "ursprünglich" inszeniert wird oder auf dem interkulturellen Theater bloß in seinem exotischen Reiz wahrgenommen wird. Zumal, wie Hamera am Beispiel einer in die USA emigrierten kambodschanischen Tänzer-Familie beschreibt, der Tanz den Überlebenden teilweise auch hilft, mit den Schuldgefühlen GenozidÜberlebender fertig zu werden: "They kill us even when we live. Even when we live we are dead. Dead bodies, working all quiet. [... ]I dance to keep music in my [ears] and keep talk out. Yes. And so there is some reason for me to be left - to help my husband so Khmer dance don't die too, like everything eise beautiful in our country die." (Eine Überlebende zitiert nach Hamera 2002: 71)
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und der Tatsache, dass bis heute die Suche nach einer originären kambodschanischen Kultur virulent ist, 125 erscheint die Darstellung des kambodschanischen Hoftanzes in Beyond the killing.fields postkolonial aufgeklärt. Dabei sind, wie ich ver125 Es gibt im heutigen Kambodscha durchaus Konflikte zwischen Khmer und Vietnamesen, außerdem ist anti-thailändische Propaganda sehr populär. Unser Klischee, das buddhistische Wertesystem garantiere eine friedliche Konfliktregulierung, wird drastisch widerlegt. Insgesamt hat sich die Situation der Zivil- und Menschenrechte seit 1991 gegenüber früheren Zeiten zwar verbessert. Dennoch ist aber vor allem politisch motivierte Gewalt bis hin zu Mord weit verbreitet, Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen an der Tagesordnung (vgl. den Bericht zur Menschenrechtssituation in Kambodscha im Amnesty International Jahrbuch 2005).
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
sucht habe in diesem Kapitel darzulegen, zwei Inszenierungsstrategien zentral: Einerseits wird durch Dokumentarfilme und demonstrative Einführungen Wissen über den Tanz vermittelt- über seinen religiösen und sozialen Kontext, über seine Eigenschaften als spezifische Form der Kommunikation im Sinne einer Sprache mit festgelegtem Kode. Gleichzeitig wird durch die synchrone Kombination von Zeichen unterschiedlicher kultureller, historischer oder genremäßiger Provenienz aufverschiedenen Ebenen (Bewegung, Musik, Ausstattung) die Frage nach der Möglichkeit eines Ursprünglich-Authentischen gestellt und mit Nein beantwortet. Nicht zuletzt erzeugt die Kombination mit den Erzählungen der Tänzerinnen vom Überleben während des Pol-Pot-Regimes eine Verknüpfung des Tanzes mit den historisch-politischen Umständen, die ihn geprägt haben. Darauf werde ich in den folgenden Kapiteln mein besonderes Augenmerk legen.
Beyond the kiWng fields als Doku-Performance Die Inszenierung hat, wie eingangs bemerkt, in zweierlei Richtung eine historische Dimension: Erstens fragt sie nach der Hoftanztradition in Kambodscha und damit nach dem Begriff der "Tradition" im Allgemeinen und dem speziell kultur- und besonders theaterhistorischen Problem, wie man performative kulturelle Praktiken dokumentieren, "erhalten" und rekonstruieren kann, was im vorangegangenen Kapitel behandelt wurde. Dabei hat sich auch herausgestellt, dass die Inszenierung Institutionskritik übt. Sie legt zwar den Schluss nahe, dass es durchaus sinnvoll ist, wenn Organisationen wie die UNESCO orale Traditionen schützen und so dem eurozentristischen Primat der Schriftlichkeil etwas entgegensetzen, deckt aber auch die innere Widersprüchlichkeit solcher Unternehmen auf. Zweitens stellt Beyond the killing fields die Frage, wie sich Geschichte, in diesem Fall die jüngere, traumatische Geschichte Kambodschas, adäquat auf der Bühne verhandeln lässt - diesem Problem ist das folgende Kapitel gewidmet. Dabei wird es besonders um das Konzept der Oral History gehen, das im Kontext von Repräsentationskritik und Postkolonialismus auch wegen seiner Betonung des Performativen eine Rolle spielt und für Ong Keng Sens Umgang mit der kambodschanischen Geschichte richtungweisend ist. Auch, inwiefern die Inszenierung Beyond the killing fields, die von ihrem Regisseur ja als "Doku-Performance" bezeichnet wird, mit dem politisch-aufklärerischen Programm etwa des deutschen Dokumentartheaters, wie wir es insbesondere aus den 1960em und 70ern kennen und das teilweise einen ähnlichen Anspruch hatte, vergleichbar ist, werde ich in diesem Zusammenhang diskutieren.
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Aus der Zeit der Roten Khmer Grundsätzlich spielte in der gesamten Aufführung neben dem Tanz das gesprochene Wort eine große Rolle, was durch die Verteilung des deutschen Textheftes unterstrichen und befördert wurde. Es kamen dabei unterschiedliche Texttypen zum Einsatz: Am häufigsten handelte es sich um autobiographische Erzählungen der beteiligten Kambodschanerinnen, die diese in der ersten Person vortrugen. Daneben gab es auch schlichte Prosa: projektreflexive Berichte von Norlina Mohd; Sachinformationen, wie zur Erstellung der Lederfiguren für das Schattenspiel oder zum Regime von Pol Pot; biographische Angaben zu den Darstellern, die oft auch als Zwischentitel in den Dokumentarfilmen eingeblendet wurden. Es wurden zudem traditionelle Lied- oder Stücktexte vorgetragen.
Vor allem der erste Texttypus ist hier von Interesse: anekdotische, autobiographische, meist tragische Geschichten aus der Schreckenszeit der Roten Khmer. Bereits die erste Szene nach dem Einftihrungsfilm bestand vorwiegend aus monologischem Erzählen: Drei Lichtspots fielen auf die dunkle Bühne, rechts saß ein Mann auf dem Boden (Mann Kosal), in der Mitte und links je eine Frau (Preab und Kim Bun Thom). So wie sie dasaßen, die Beine bequem angewinkelt, wirkte die Atmosphäre informell, privat und intim. Nacheinander erzählten sie, mit leisen, ruhigen Stimmen, auf Khmer. Was sie sagten, war für den Großteil des deutschen Publikums freilich nicht zu verstehen, es ließ sich aber sinngemäß dem Textheft entnehmen. Mann Kosal berichtete aus dem Arbeitslager. Er erzählte, wie alle zwei Wochen seine Vorarbeiter verschwanden und er Zeuge wurde, wie einer, der ihm nahe stand, abgeholt und getötet wurde. Auch Preab sprach mit sanfter Stimme, manchmal hörte ich sie kaum. Sie verzog keine Miene und betonte das Gesagte nicht auffällig. Nur zweimal hörte es sich so an, als würde sie leise jemanden rufen, und ganz zum Schluss klang ihr Reden wie Wimmern. Ich wusste, was sie sagte, abermals durch den ausgeteilten Text informiert: Sie sprach davon, wie sie mit ihrer Familie Phnom Penh während der Massenevakuation durch die Roten Khmer verlassen musste und unterwegs ihr drittes Kind gebar. 126 Die letzte Passage, in der sie ein Weinen zu unterdrücken schien, war einem Bericht über das Arbeitslager zuzuordnen, in dem ihre kleine Tochter vor ihren Augen starb. 127 Zuletzt erzählte Kim Bun Thom, wie 126 Die Roten Khmer trieben 1975 vor der Einnahme Phnom Penhs die dreiein-
halb Millionen Stadtbewohner aufs Land: So stellten sie keine Gefahr fur das Regime dar und konnten in der Landwi1ischaft eingesetzt werden. 127 Auszug aus dem Textheft: "Eines Tages folgte meine Tochter mir in die Getreidefelder, ohne dass ich es merkte. Plötzlichhörteich ein Geschrei ,He, das Kind da, das Mädchen reißt das Getreide aus!' Ich sah mich um und erkannte meine Tochter. Ich hatte entsetzliche Angst, dass der Aufseher meine Tochter mitnehmen würde. Ich schrie sie an, ,Du musst zurückgehen, hau ab! Geh schon zurück! ' Meine Tochter war noch sehr klein. Sie verstand nicht, warum
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sie ihren Mann kennen lernte: Im zweiten Jahr des Regimes hätten die Soldaten sie, damals noch eine junge ledige Frau, zwingen wollen, einen Veteranen ohne Beine zu heiraten. Als sie weinend in einer Ecke gesessen habe, sei ein Mann vorbeigekommen und habe sie gefragt, warum sie traurig sei. Auf ihre Erklärung hin habe er ihr vorgeschlagen, vorher schnell ihn selbst zu heiraten. Sie habe eingewilligt. 128 Mit diesen individuellen Geschichten werden Schlaglichter auf die kollektive Geschichte geworfen. Sie fungieren, wie Gabriele BrandsteUer es anhand von Performances etwa von Xavier Le Roy beschreibt, als Narrationen, "die als kleine, unvollständige, kontingente Geschichten die Ordnung- das geschlossene Narrativ- eines totalisierenden Systems von Geschichte unterbrechen." (BrandsteUer 1999: 31) Gerade das Anekdotenartige der Geschichten ist, mit Burkhard Schnepel argumentiert, ein Gegengewicht zu modernistischen, essentialistischen Theorien oder auch allzu formalistischen, textfixierten (post-)strukturalistischen Ansätzen. So vermittelten Anekdoten "ein stärkeres Gespür von der agency der Akteure, über die sie berichten, auch der subalternen Akteure; und sie zeugen von Zufall und Macht zugleich." (Schnepel 2003: 153) Anekdoten, die immer von individuellem Erleben erzählen, haben fiktionalen Charakter und eine Art Moral, sie künden gleichzeitig von machtvollen Identitätskonstruktionen und von der Selektivität von Erinnerung, die auch eine politische Dimension hat. Neben der Spezifik der Textsorte "Anekdote" wird aber auch durch die Art des Vortrags und formale Aspekte in Beyond the killing .fields ich mich so aufregte. Ich hob die Getreidehalme auf, die meine Tochter aus der Erde gerissen hatte und schlug damit auf die Beine meiner Tochter ein. Sie rannte los, ich konnte ihr nicht folgen, ich musste weiterarbeiten." Die Tochter bekam am gleichen Abend hohes Fieber und starb kurz darauf. 128 Viele derartige, stark emotional aufgeladene Geschichten folgten im weiteren Verlauf der Auffiihrung: Kim Bun Thom erzählte beispielsweise in Szene 12 verstörende Details ihrer Hochzeitsnacht nach der Zwangsverheiratung und von ihrer späteren unglücklichen Ehe. Preab von den Depressionen ihres Mannes nach dem Tod der Tochter, und wie er daraufhin wegen seiner Arbeitsunfahigkeit ins Gefangnis kam, wo er starb. Sie habe nach dem Ende des Regimes nur geheiratet und weitere Kinder bekommen, um "ihre kleine Tochter wiederzubekommen", den neuen Mann habe sie nicht geliebt. Sie berichtete von Schuldgefühlen: "Ich fühle, daß ich in meinem Leben zwei schreckliche Fehler begangen habe. Der eine war, meine Tochter in den Getreidefeldern so sehr zu ängstigen. Und der zweite Fehler war, daß ich meinen Mann bei mir haben wollte. Ich wollte nicht, daß er fern von mir stirbt und stattdessen habe ich seinen Tod verschuldet." Mann Kosal erzählt ebenfalls von Schuldgefiihlen (z.B. weil einer seiner Mithäftlinge erschlagen wurde, als dieser vor Krankheit nicht mehr arbeiten konnte (Szene 13), aber auch davon, wie er selbst zu Adoption freigegeben wurde, als seine Mutter mit dreizehn Kindem allein war, nachdem sein Vater - ein Professor- deportiert worden war (Szene 14). 196
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eine vermeintlich objektive Historiographie unterlaufen. Häufig trugen die Performerinnen die Texte vor, während sie, wie eben beschrieben, auf der weitgehend dunklen Bühne verteilt in weißen Lichtkegeln dasaßen. Nicht zuletzt durch die Beleuchtung wurde sinnfallig, dass hier individuelle einzelne Spots auf die Geschichte Kambodschas geworfen wurden, nicht unbedingt repräsentativ, aber doch signifikant. Oral History: Die Geschichte der "Anderen" Das Verfahren, wie in Beyond the killing .fields Geschichte vermittelt wird, lässt sich als Oral History bezeichnen: Zeitzeugen erzählen. Das Konzept von Oral History ist in besonderer Weise mit dem Thema Postkolonialismus verknüpfbar: Bekanntlich hat die Postmodeme die Grundlagen des modernen historischen Denkens radikal hinterfragt. Die Vorstellung einer Einheit des zeitlichen Wandels zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und von einer "Entwicklung", eines "Fortschritts", die sich mit der Entstehung des Historismus in der Aufklärung herauskristallisierte und insbesondere durch Hegel formuliert wurde, ist von postmodernen und auch postkolonialen Kritikern als eurozentristisches Denkmodell analysiert worden, bei der eine bestimmte Perspektive generalisiert und absolut gesetzt wird. "Die" Geschichte ist hiernach Fiktion, tatsächlich gibt es eine Vielfalt von Geschichten. Lutz Niethammer weist darauf hin, dass Hegels Geschichtsphilosophie trotz ihrer Derivate im Marxismus und der westlichen Modemisierungstheorie dem größeren Teil der Deutungssysteme dieser Welt ebenso fremd geblieben ist, wie eine universalisierte, von ihren Inhalten abgelöste Erinnerungskultur (vgl. Niethammer 1999: 103). Daher betonen postmoderne Historiker oft weniger die "rationale Argumentation und [... ] Regeln empirischer Forschung, sondern [... ] die Poetik und Rhetorik des Erzählens." (Rüsen 1999: 79) Auch die ästhetische Qualität historischer Erfahrung und Vermittlung spielt demnach eine Rolle und nicht-kognitive Kräfte des Menschen werden als Bestandteile von Erinnerung anerkannt. Es ist kaum verwunderlich, dass die "Krise der Repräsentation" die Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend erfasste, ebenso wie das hier bereits für andere Disziplinen festgestellt wurde. Wie sich unter Ethnologen die Erkenntnis durchsetzte, dass sie durch ihre Schreibpraxis Identitäten und Kulturen in gewisser Weise überhaupt erst produzieren, was Cliffords Diktum des writing culture auf den Punkt bringt (vgl. Clifford/Marcus 1986), teilen seit den 1980em, vor allem inspiriert durch Hayden White, immer mehr Historiker die Auffassung, dass Historiographie - so wie der Name sagt - Geschichte schreibt, also kreativ hervorbringt. Nachdem die moderne Geschichtswissenschaft das menschliche Gedächtnis bis Mitte des 20. Jahrhunderts als Quelle zugunsten von Artefakten, insbesondere schriftlichen Zeugnissen, tendenziell vernachlässigt hat, entstand die Forschungstechnik der Oral History-Menschen erzäh-
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len ihre individuellen Erinnerungen - im Kontext einer Abwendung von Elitenfixierung bzw. traditioneller Herrschaftsgeschichte und einer Hinwendung zur Geschichte der "Anderen": der unteren Klassen, Arbeiter, Frauen, der Opfer diverser Herrschaftssysteme (vgl. Niethammer 1980: 9). Die Objekte der westlich/männlich/weiß/bürgerlich/privilegierten (Geschichts-)Wissenschaft sollten in ihrer Subjekthaftigkeit ernst genommen werden. Oral History kann in der Tat durch ihren performativen Charakter gerade bei der Geschichtsschreibung jener sinnvoll sein, die keine Möglichkeit haben, sich selbst zu repräsentieren. So lassen sich Informationen zusammentragen, die nicht niedergeschrieben worden sind, da dies das Leben der Befragten gefährdet hätte oder weil sie niemanden interessiert haben. Daher scheint die Vorgehensweise auch im Falle Ong Keng Sens naheliegend, wenn er die Geschichten der Überlebenden des Pol-PotRegimes in Kambodscha erfahren möchte. Oral History wirft aber auch Fragen auf: Gegner kritisieren an mündlichen Quellen zu starke Subjektivität und es ist in der Tat naiv anzunehmen, Oral History sei ein Garant dafiir zu erfahren, "wie es wirklich war". Doch das gilt für alle anderen historischen Quellen ebenso. Auch sie müssen der üblichen Quellenkritik nach formalen, sachlichen, sprachlichen, ideologiegeleiteten Gesichtspunkten unterzogen werden (vgl. Vorländer 1990: 15). Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Oral History ist allerdings aufs Engste mit der Frage nach dem Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses verknüpft. Es ist nicht notwendig, hier auf Details der interdisziplinären Gedächtnisforschung einzugehen; es soll der Hinweis genügen, dass, so Siegfried J. Schmidt, weitgehende Einigkeit darüber herrscht, dass Gedächtnisleistungen dynamisch, kreativ und konstruktiv sind und Modelle, die Gedächtnis als reine Repräsentations- oder Aufbewahrungsfunktion konzeptionalisieren, ausgedient haben (vgl. Schmidt 1991 : ll ). Wichtig ist dabei die Unterscheidung von Gedächtnis als neurophysiologischer Funktion und Erinnerung als kompliziertem synthetisierenden Bewusstseinsvorgang. Es ist heute unstrittig, dass das, was erinnert oder als Erinnerung erzählt wird, nicht die vergangeneu Ereignisse eins zu eins repräsentieren kann: Vielmehr ist von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Erlebnis und Erinnerung auszugehen. Erinnerungen können - und dies besonders, wenn es sich um beschämende oder schmerzhafte Erfahrungen handelt, - verdrängen, exkulpieren, selektieren, umschichten, neu organisieren. Dabei werden sie nach bestimmten Erzählstrukturen organisiert, die ein gewisses Maß an Kohärenz sichern (vgl. Assmann, A. 1999: 266ff.). Erinnerung und so auch erzählte Geschichte lassen sich damit als aktuelle (Re-)Konstruktion begreifen, die über gegenwärtige Deutungsmuster ebenso viel aussagt wie über die Vergangenheit. Oral History kann deshalb im postkolonialen Kontext vor allem drei Funktionen erfüllen: Sie weist erstens auf den Konstruktionscharakter von kollektiven und individuellen Identitäten hin. Zweitens sensibilisiert
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sie dafür, dass auch die Anderen und "Subalternen" eine Geschichte haben, selbst wenn diese nicht in der offiziellen Geschichtsschreibung berücksichtigt wird, und dass die Kanonisierung des "Erinnerungswerten" stets auch Ausschluss impliziert- ein Aspekt, den Ralph Lemon mit seinen Counter Memorials aufgreift und der bei Beyond the killing .fields immer wieder Thema wird: Welche Monumente, welche Orte dienen dem Gedenken an Horror und Trauma? Drittens verweist Oral History auf den Zusammenhang von Gedächtnis und Erinnerung mit Perfonnativität und Körperlichkeit. Auch wenn bei uns die Erinnerungskultur in besonderem Maße durch Schrift, Artefakt bzw. Monument geprägt ist, sind andernorts oftmals Erinnerungs- und Gedächtnisformen dominant, die eher oralen und körperlich-performativen Charakter haben. Hier muss auch nochmal erwähnt werden, dass das hierarchische Verhältnis von Schrift und Oralität eng mit dem europäischen Kolonialismus verbunden ist, wie de Certeau verdeutlicht: "Die Macht, die der Expansionismus der Schrift unangefochten lässt, ist dem Prinzip nach kolonial. Sie dehnt sich aus, ohne verändert zu werden. Sie ist tautologisch, immunisiert sowohl gegen die Andersheit, die sie verändern, als auch gegen die, die ihr Widerstand leisten könnte. [... ] Dieser Schrift, die in den Raum eindringt und die Zeit kapitalisiert, ist die Rede entgegen gesetzt, die weder weit reist, noch irgendetwas zurückbehält." (de Ce11eau 1991: 145f.)
Vom Unsagbaren erzählen: Lässt sich Trauma dokumentieren? Es geht in Beyond the killing_fields allerdings nicht um Geschichte generell, sondern vorwiegend um extreme und traumatische Geschichte. Die Möglichkeiten eines angemessenen Umgangs damit werden in der Geschichtswissenschaft besonders im Hinblick auf den Holocaust intensiv diskutiert. Dabei liegen die Knackpunkte in den Fragen, wie eine adäquate Dokumentation aussehen könnte, was für Konsequenzen aus der formalen Beschränktheit jeglicher Repräsentation zu ziehen sind, und wie dem öffentlichen Interesse mit seinem Anspruch auf Unterhaltung und Sensationslust begegnet werden kann. Es lassen sich hier etwas vereinfacht zwei Denkrichtungen unterscheiden: die eine ist mit Michael Rothberg als realistisch, die andere als antirealistisch zu bezeichnen, was sich sowohl auf die epistemologische Frage bezieht, ob der Holocaust angesichts seiner Extremität überhaupt fassbar ist, als auch auf die Frage, ob er sich zu Vermittlungszwecken repräsentieren lässt (vgl. Rothberg 2000: 3f.). Der realistische Ansatz ist der klassisch-geschichtswissenschaftliche. Er geht davon aus, dass eine Darstellung, sei es durch authentische Dokumente oder diverse Formen der Mimesis, prinzipiell möglich ist, wobei moderneren Ansätzen eine grundsätzliche Selbstreflexivität inhärent ist. Dagegen ist zum Beispiel der amerikanische Judaist James E. Young ein typischer Vertreter der antirealistischen These: Seiner Ansicht nach stellt der Holocaust eine derart extreme Realität dar, dass sie in unseren Spra199
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chen nicht darstell- und erinnerbar ist. Daher befänden sich die Überlebenden von Katastrophen, etwa eines Genozids, in einer DilemmaSituation: Nur wenn sie ihre eigene Existenz bestätigten, könnten sie sich als Zeugen der Ereignisse begreifen. Der Überlebende versuche verzweifelt, so Young, das "Ich schreibe, also bin ich" zu erweitern zum "Ich schreibe, also war der Genozid" - wissend, dass eben dieses Zeugnis die Erfahrungen, von denen Zeugnis abgelegt wird, objektiviert, transformiert und verdrängt (vgl. Young, J. E. 1997: 70). Auch wenn es einen Unterschied gibt zwischen reiner Erfindung und den Überlieferungen von (Zeit-)Zeugen, mündlichen Erzählungen wie auch Tagebüchern oder Memoiren, ist die Grenze zwischen Faktischem und Fiktivem doch fließend und so steht Young jeder Form der Dokumentation traumatischer Geschichte kritisch gegenüber: "Beg1iffe wie ,witness', ,testimony' und ,documentary' (dokumentarisch) sagen [... ] aus, daß jemand bestimmte Ereignisse gesehen hat, an ihnen beteiligt war beziehungsweise Bedeutsamkeil an ihnen entdeckt, dann andere von diesen Ereignissen unten·ichtet und im Akt ihrer Übem1ittlung Bedeutung findet. Der Exkurs auf die jmistische und etymologische Geschichte dieser Begriffe schärft unser Bewusstsein dafür, daß Zeugenschaft, wie sie sich in den literarischen Zeugnissen der Überlebenden des Holocaust darstellt, ein vielschichtiges Phänomen ist." (ebd. : 92)
Young spricht von einer "Rhetorik des Tatsächlichen", die er sehr kritisch bewertet und insbesondere auch im dokumentarischen Theater verwirklicht sieht (vgl. ebd.: 108ff.). Dokumentartheater versus Doku-Performance In Buropa liegen die Anfänge eines solchen Theaters in den 1920er Jahren, als Erwin Piscator den Begriff "dokumentarisches Theater" prägte. Als Geburtsstunde dessen, was man sich hierzulande gemeinhin darunter vorstellt, und worauf auch Youngs Kritik zielt - das dokumentarische Theater der 1960er und 70er Jahre - gilt Piscators Inszenierung von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter im Jahr 1963. Es war dezidiert politisch engagiert, in Deutschland eine Reaktion auf das als apolitisch empfundene Theater der Aderrauerzeit und ist für Beyond the killingfields ein interessanter Referenzpunkt, denn auch hier ging es um die Verarbeitung einer traumatischen jüngeren Vergangenheit, die durch Naziregime, Judenverfolgung und Antikommunismus geprägt war. 129 Charakteristisch 129 Der Stellvertreter behandelt die Rolle, die Papst Pius XTT. während des Zweiten Weltkriegs gespielt haben soll, Die Ermittlung von Peter Weiss, ein weiteres zentrales Stück aus der Zeit, ist ein Versuch, die Frankfurter Auseilwitzprozesse von 1963-65 auf Basis der Prozessprotokolle wiederzugeben. Zu neueren Tendenzen eines deutschsprachigen dokumentarischen Theaters etwa von Rimini Protokoll, Hans-Wemer Kroesinger, Roland Brus oder Andres Veiel vgl. Irmer 2006.
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war, dass "echtes" historisches Material recherchiert und dann in eine bühnengerechte Form gebracht wurde. Erklärtes Ziel des dokumentarischen Theaters war es, dem bürgerlichen Publikum durch Konfrontation mit authentischem Material und Fakten die Flucht in eine verharmlosende Vergangenheitsbewältigung unmöglich zu machen. Aufschlussreich ist die Argumentation Piscators, die wiederholt auf den "Beweis" und die "Wissenschaftlichkeit" rekurriert: "Worauf kommt es mir denn bei meiner ganzen Arbeit an? Nicht auf die bloße Propagierung einer Weltanschauung durch Klischeeformen und Plakatthesen, sondern auf die Führung des Beweises, daß diese Weltanschauung und alles, was sich aus ihr ableitet, für unsere Zeit die allgemeingültige ist. Behaupten kann man vieles; nicht einmal durch Wiederholung wird eine Behauptung wahrer oder wirksamer. Der überzeugende Beweis kann sich nur auf eine wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes aufbauen." (Piscator [1929] 1995: 268)
Peter Weiss, der 1968 in seinem Manifest Notizen zum dokumentarischen Theater die wesentlichen Ansätze seines Theaterkonzepts skizzierte, argumentierte ähnlich: "Das dokumentarische Theater ist ein Theater der Berichterstattung. Protokolle, Akten, Briefe, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Abschlußberichte von Bankunternehmen und Industriegesellschaften, Regierungserklärungen, Ansprachen, Interviews, Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, Zeitungs- und Rundfunkrepmiagen, Fotos, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart bilden die Gmndlage der Auffühmng. Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändeii, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder." (Weiss 1995: 293)
Damit sei dokumentarisches Theater Kritik an Verschleierung und geschichtlichem Betrug. Es gehe darum, zu informieren, Fakten zur Begutachtung vorzulegen, so die Bevölkerung aufzuklären und zum politischen Engagement aufzurufen (vgl. ebd.: 297). Youngs Kritik bezieht sich genau auf diese Rhetorik. Er bezeichnet sie als "dokumentarischen Realismus", der wie auch der "sozialistische" oder "bürgerliche" Realismus das Ziel habe, die Konstruiertheit des künstlerischen Werks zu verschleiern und "die Illusion von Tatsachentreue zu nähren und die Zuschauer damit rhetorisch von der Objektivität des jeweiligen Werks zu überzeugen." (Young, J. E. 1997: 112) Dokumentarische Kunstformen tendieren also dazu, um es mit Young zu formulieren, sich als nichtideologisch zu präsentieren, "um auf diese Weise ihre Faktizität zu betonen, das heißt um ideologisch sein zu können, muß die dokumentarische Darstellungsweise mittels der Rhetorik des Faktischen ihre ideologischen Prämissen verschleiern." (ebd.: 115).
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Die Annahme liegt nahe, dass Ong Keng Sens Doku-Performance angesichts des dokumentarischen Materials - Zeugeninterviews, Videos von den Originalschauplätzen - den gleichen programmatischen Anspruch hat wie das Dokumentartheater der 1960er und 70er, zumal Norlina Mohd und diverse Zwischentitel viele Zahlen und Fakten zur Geschichte Kambodschas liefern. Bei genauer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass dies nicht der Fall ist, was im Folgenden durch die Analyse, wie in diesem Stück Geschichte erzählt und des Horrors gedacht wird, belegt werden soll: Dem positivistischen Ansatz der Beweisführung anhand "authentischer" Dokumente wird ein tendenziell konstruktivistischer Ansatz entgegengesetzt, der unter Zuhilfenahme von Oral History und der Reflexion der Medialität des Theaters und auch des Films versucht, einen adäquaten Umgang mit dem historischen Gegenstand zu entwickeln. Man könnte sagen, dass sich dieser kleine Shift zur Repräsentationskritik auch in den unterschiedlichen Bezeichnungen durch die Regisseure Dokumentar-Theater versus Doku-Performance -andeutet. Dabei negiert Ong die Möglichkeit des Dokumentierens und Erzählens vom Genozid keineswegs völlig. Sein Ansatz lässt sich recht treffend mit Rothberg als "traumatischer Realismus" bezeichnen: "By focusing on the intersection ofthe everyday and the extreme in the experience and writing of Holocaust survivors, traumatic realism provides an aesthetic and cognitive solution to the conflicting demands inherent in representing and understanding genocide. Traumatic realism mediates between the realist and antirealist positions in Holocaust sturlies and marks the necessity of considering how the ordinary and exh·aordinary aspects of genocide intersect and coexist" (Rothberg 2000: 9)
Der Einbruch des Realen
Beyond the killingfields erzählte die Mikrogeschichten der Überlebenden des Pol-Pot-Regimes an keiner Stelle mit den Mitteln des realistischpsychologischen Theaters: Etwa die Hälfte der "Erzähl"-Szenen zeichneten sich dadurch aus, dass der mündliche Vortrag in Kombination mit anderen Darstellungsformen stattfand. Beispielsweise war Szene Nr. 5 nicht nur eine Lehrstunde in klassischem Khmer-Tanz - Kim Bun Thom erzählte schließlich ihre Abtreibungs-Geschichte aus dem Arbeitslager. Simultan oder nacheinander wurde getanzt oder gesungen, was sowohl die Erzählung als auch die gesamte Szene rhythmisch strukturierte. Kim Bun Thom sprach ihre Worte zwar wie immer in Mimik und Intonation relativ unbewegt, aber sie erzählte von schmerzhaften Erfahrungen, die ihr Körper, der da jetzt phänomenal auf der Bühne stand, vor Jahren gemacht hatte. Mit diesem spielte sie gleichzeitig - auf die symbolische Weise des Khmer-Tanzes - die Rolle eines Mannes der "liebt", "Kummer hat", "sich ärgert". Es lag nahe, diese Bilder mit dem Mann zu assoziieren, um den es sich im Erzählten handelte - also ihren eigenen Mann. 202
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Illustriert wurde ihre Geschichte - eine Frau wird schwanger und trinkt Medizin um abzutreiben - durch Norlinas Schattenspiel im Hintergrund. Die Szene war damit narratives Theater: mit einem exakt kodifizierten Tanz, der flir Kenner eindeutig zu lesen war und Schattenbildern hinten an der Wand, die als realistisch-mimetisch zu bezeichnen sind- sie wurden vermutlich von den meisten Zuschauern ähnlich gedeutet. Es gab also auf verschiedenen Ebenen diverse Stilisierungen und Distanzierungen und es handelte sich insofern um einen klassischen Verfremdungseffekt im Brechtsehen Sinne, als das Publikum entweder in einer emotional aufgeladenen Situation zu distanzierter Reflexion kam oder umgekehrt, in einer "kühlen" Sequenz plötzlich gerührt und dadurch zum Nachdenken angeregt wurde. Gleichzeitig wurde die Medialität des Theaters reflektiert und evident, wie sehr sich die verschiedenen Erzählf01men durch ihre Materialität unterscheiden: Dass visuelle Reize anders wirken als akustische oder energetische: zweidimensionales Bild (Schattenspiel), Ton/Stimme (gesprochenes Wort) und Tanz/Bewegung/Energie/Raum wurden voneinander isoliert und in ihren spezifischen Qualitäten erfahrbar. Es gab aber auch noch einen zweiten Typus von Erzähl-Szene, der nicht so sehr mit der klassischen Verfremdung, sondern eher mit einem Effekt arbeitete, den ich als "Einbruch des Realen" bezeichnen möchte. Ich habe zur Verdeutlichung, wie die Zuschauer in den kambodschanischen Tanz eingeführt werden, bereits die zweite Szene der Aufführung beschrieben, in der Ern Theay ihren Tanz zum ersten Mal vorführt. Auch für die Frage, wie in Beyond the killing .field~ traumatische Geschichte auf der Bühne erzählt wird, ist diese Szene interessant: Nach ihrem Tanz setzte sich Ern Theay auf den Boden und begann zu reden, immer abwechselnd mit der Übersetzerin. Dem Programmheft war zu entnehmen, wovon sie sprach: Wie sie im Arbeitslager immer für die Aufseher tanzen musste. Vom Sterben ihrer geschwächten Kinder, vom eigenen körperlichen Erschöpfungszustand und Ohnmachtsanfällen. 130 Gegen Ende 130 Die deutsche Übersetzung aus dem Textheft: "Als ich fertig war fragten sie mich, warum es im Königlichen Hoflied heiße, daß Männer angelockt werden sollen und ich antwortete ihnen ,Männer anlocken, bedeutet nicht, euch als Männer anzulocken, sondern es bedeutet, die Welt anzulocken, damit sie unseren Aufführungen zusieht!' Seitdem zwangen sie mich, ihnen jeden Tag andere Tänze vorzuftihren. Eines Tages, während ich gerade tanzte, erschien ein Mann aus dem Krankenhaus. Er war gekommen um mir zu sagen, daß mein Sohn im Kraukenhaus gestorben war. Ich war sehr erschüttert, aber meine Angst war zu groß, als daß ich gewagt hätte, irgendetwas zu sagen oder meine Tränen zu zeigen. Denn meine Tränen hätten die Pol Pot Aufseher dazu bringen können, mich zu töten. Aber ich beschloss, um Erlaubnis zu fragen, seine Leiche zu sehen; sie wurde mir verweigert. Stattdessen befahlen sie mir, mich nicht um meinen Sohn zu kümmern, da es die Aufgabe des Staates sei, dies zu
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ihrer Erzählung häuften sich hektisch wirkende, schnelle Handbewegungen. Im Text war gleichzeitig zu lesen: "Zmiick in der Gemeinschaft der Kinder singe ich das Lied von Buddha. Ich singe es für meine eigenen Kinder, damit sie in den Himmel kommen und ich singe es fiir alle Kinder der Gemeinschaft, auf daß sie nur vom Frieden und nichts vom Verhungern wissen sollen."
Nun begann sie zu singen, ein ruhiges Lied, sie bewegte den rechten Arm weich im Rhythmus. Plötzlich brach ihre Stimme. Zunächst war ich irritiert, dann erkannte ich, dass sie weinte. Auch einigen Zuschauern schossen Tränen in die Augen. Es entstand ein intensiver, etwas unangenehmer Moment: Ern Theay "spielte" das Weinen nicht. Es war nicht angedeutet oder stilisiert, wie es im kambodschanischen Hoftheater üblich ist, wenn dargestellt werden soll, dass eine Bühnenfigur weint. Es war auch nicht wahrscheinlich, dass es sich hier um eine hyperrealistische Performance eines im rnethod-acting geschulten Schauspielers handelte. Ich fand es störend, mir diese persönliche Leidensgeschichte im Theater erzählen zu lassen und spürte ein Peinlichkeitsgefühl, dass sich als Ziehen im Bauch bemerkbar machte: Mich enervierte die Inszenierung von Intimität und Informalität. Gedanken kamen in Gang: Ist das überhaupt wahr, was sie erzählt? Wer sagt, dass sie nicht übertreibt und diese schrecklichen Geschichten wirklich selbst erlebt hat? Spielt das überhaupt eine Rolle? Wo ist der Unterschied zwischen Fiktion und Fakten? Wo fängt hier die Bühnenrolle, eine ausgedachte Figur an, und wo ist die Darstellerirr selbst zu verorten? Und falls die erzählten Geschichten den Ereignissen entsprechen: Was soll das, sich hier als Opfer von Pol Pot zur Schau zu stellen? "Darf' man im Theater "echtes" Leid zeigen? Bin ich Voyeuristin, wenn ich mich dadurch berühren lasse? Und auf der anderen Seite: Es handelt sich nun einmal um eine traurige Geschichte, aus welchen Gründen sollte oder dürfte man da kalt bleiben? Auch in fünf weiteren "Erzähl"-Szenen trugen die Performerinnen ihre Erinnerungen vor, indem sie ruhig da saßen- wie ich weiter vom anhand der ersten Szene bereits geschildert habe. Dabei stellten sie ihre Körper still, führten sie im "normalen", alltäglichen Ruhezustand vor. Das produzierte - ebenso wie Ern Theays Tränenausbruch - das Phänomen, das
tun. Als ich an diesem Abend nach der Arbeit nach Hause ging, machte ich Halt beim Krankenhaus, um nach der Leiche meines Sohnes zu suchen. Im Krankenhaus hieß es jedoch, er sei bereits begraben. Meine tagtägliche Arbeit ging weiter. Nicht lange danach erfuhr ich, daß auch meine Tochter im Krankenhaus gestorben sei. Diesmal beeilte ich mich, bei den Aufsehern um die Erlaubnis zu betteln, meine Tochter zu begraben. Sie wiesen mein inständiges Bitten zurück und drohten mir, mich zu bestrafen, falls ich doch ginge."
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ich "Einbruch des Realen" auf die Bühne nennen möchte. 13 1 In den "privaten" Erzählszenen in Beyond the killing fields wirkte die Körperlichkeit der Darsteller nämlich wesentlich anders als in den tänzerischen Sequenzen, in denen nicht-alltägliche Körpertechniken dominierten: sie wirkte "natürlich", ungekünstelt. Das Augenmerk wurde auf die konkreten Körper jenseits von Bedeutung gelenkt. Damit meine ich nicht das übliche Oszillieren zwischen körperlichem So-Sein des Schauspielers und fiktiver Rolle, mit dem gerade auch der klassische Khmer-Tanz durch die Transgression von Geschlechtergrenzen virtuos spielt. Ich meine hier eher den Einbruch von etwas "Rohem": Die Schauspieler setzten ihre Körper, ähnlich wie Okwui Okpokwasili in der zweiten Szene von Searching for Horne nicht als Zeichen für den Körper einer dramatischen Figur ein, ihre Körper ve1wiesen bloß noch auf sich selbst. Ern Theays Tränen waren kein Zeichen für etwas, sondern Ern Theays Tränen. Dieses Verfahren hatte einen doppelten, scheinbar widersprüchlichen Effekt: Die Möglichkeit von Repräsentativität (auf dem Theater, in der Erzählung, in der historischen Wissenschaft) wurde radikal in Frage gestellt und dennoch entstand der Eindruck von "Authentizität" und ein gewisses Gefühl dafür, was das Schreckensregime für die einzelnen Menschen bedeutet haben könnte. Körper und Trauma Aleida Assmann ist der Ansicht, dass der Körper die Gewalt des Willens über das Gedächtnis begrenzt, und dass es körperlich eingeschriebene Erfahrungen und Wunden gibt, die sich voluntaristischen Manipulationen entziehen. Deshalb lehnt sie auch die These von der totalen Wandlungsund Anpassungsfahigkeit des Gedächtnisses als zu pauschales Gegenmodell zur Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher ab und bezeichnet die Vergangenheit als "realexistierenden materiellen und ideellen Problemüberhang." (Assmann, A. 1999: 249f.) In Bezug auf Holocaust-Überlebende benutzt sie die von Lawrence Langer geprägten Begriffe des "unheroischen Gedächtnisses" und des "beschädigten Selbsts", das das Trauma nicht mehr in rettende Symbole überführen kann: Erfahrungen, die das psychophysische Fassungsvermögen übersteigen, zerschlagen die Möglichkeit einer integralen Selbstkonstitution. Erinnerung, so Aleida Assmann, festigt sich normalerweise im wiederholten Sprechakt oder im Akt hermeneutischer Selbstdeutung. Wennjedoch der Affekt ein gewisses Maß übersteige und in Exzeß umschlage, dann stabilisiere er Erinnerungen nicht, sondern zerstöre sie: 131 Die Formuliemng "Einbmch des Realen" ist von Hans Thies-Lehmann, der damit in dem gleichen Sinne einen wichtigen ästhetischen Effekt auf dem postdramatischen Theater beschrieben hat (vgl. Lehmarm 2001: 178); zuvor hat Hai Foster die Rückkehr des Körpers und die damit verbundene Sichtbarmachung der Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem in der postmodernen Kunst als "Return ofthe Real" bezeichnet (vgl. Foster 1996: 127-171).
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts "Das ist beim Trauma der Fall, das den Körper uumittelbar zur Prägefläche macht und die Erfahrung damit der sprachlichen und deutenden Bearbeitung entzieht. Trauma, das ist die Unmöglichkeit der Narration. Trauma und Symbol stehen sich in gegenseitiger Ausschließlichkeit gegenüber; physische Wucht und konstruktiver Sinn scheinen die Pole zu sein, zwischen denen sich unsere E1innerungen bewegen." (ebd.: 264)
Es gibt eine sinnlich-emotive, möglicherweise feinsinnigere und komplexere Kommunikationsebene jenseits der reinen Sprache, die durch die Körperlichkeit der Sprechenden das Trauma aufscheinen lässt. Assmann zitiert die KZ-Überlebende Ruth Klüver, die sich von ihrem Cousin Erinnerungen erzählen ließ: "Und doch ebnen seine Einzelheiten diese Qual ein, und nur aus dem Tonfall hört man das Anders-, Fremd-, und Bösartige heraus. Denn die Folter verlässt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht." (Klüver, Ruth: weiter leben. Göttingen 1992: 9. Zitiert nach: Assmann, A. 1999: 259)
Die physische Anwesenheit der Opfer des Pol-Pot-Regimes in Beyond the killing fields, ihr Live-Sprechen vermittelte jenseits der Texte etwas über den erlebten Horror. Es ist zwar auch der Texttypus der Anekdote, der mit Schnepel formuliert, ein "ganz besonderes Geflihl der Authentizität" suggeriert (Schnepel 2003: 155f.). Vor allem waren es aber die mehrfachen Tränenausbrüche, das Stocken der Sprache, die Stimme und der gebrechliche Körper Ern Theays, die den Eindruck von Authentizität erzeugten. Man kann das Programmheft als vertrauenswürdige Institution bezeichnen, die konventionellerweise auf die Theatralität der Bühnengeschehnisse hinweist. Schließlich lässt sich dort nachlesen, was "Wirklichkeit" ist - man findet Angaben zu den "wahren" Identitäten der Schauspieler in den Besetzungslisten. Auch Einflihrungen von Dramaturgen etc. können als verlässliche Auskunftsquellen auf der Suche nach der Realität jenseits des Theaters gelten. Und so konnte das Publikum bei Beyond the killing fields durch Programmheft und Vorabinformationen davon ausgehen, dass es "echte" Kambodschaner waren, die dort auf der Bühne standen, und dass sie von eigenen traumatischen Erfahrungen erzählten. Der Effekt wurde durch projektreflexive Texte noch verstärkt, die in der Aufführung Verwendung fanden, wie z.B. den folgenden Monolog Norlinas gegen Ende des Stücks: "Wir begannen dieses Projekt als Heilungsprozess. Doch haben wir manchmal das Gefühl, dass dieser Heilungsprozess vielleicht vorbei ist. Vielleicht wird das Ganze zu einem bloßen Theaterstück. Es ist inszeniert- genau wie das Video, das vor mir läuft. Wenn wir es uns zu bequem machen, passiert etwas und uns w ird das Gegenteil bewiesen. Eine Erinnerung kommt zmück. Zum Beispiel: Neak Kru lacht, als sie ihren Text vergisst, und dann singt sie ein Lied, und im nächsten Moment ändern sich Gesicht und Stimme und sie weint. Wir waren immer überrascht, nie
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Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
richtig vorbereitet, wenn es passierte. Wir erleben das mit jedem der kambodschanischen Künstler- etwas passiert und die Stimmung wechselt abrupt. Vielleicht ist das die Essenz dieser Produktion - die Unvorhersehbarkeit, die sich immer wieder verändernde Natur unserer Beziehungen zu einander, zu unserer Arbeit und zu unseren Erinnerungen."
Bei Beyond the killingfields wird die Glaubwürdigkeit des Erzählten also durch die leibhaftige Präsenz der Zeugen deutlich erhöht. Dies ist allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen ist, wie im Zusammenhang mit Searching for Horne dargelegt, die "Authentizität" des Körpers als Gegenbegriff zu dem der " Inszenierung" kein überzeugendes Konzept. Das zweite Problem ist die unhintergehbare Erkenntnis, dass auch erinnerte Geschichte konstruiert ist. Daher stellt sich die Frage, wie Beyond the killing fields hinsichtlich der Gefahr einer "Rhetorik des Tatsächlichen", die, wie Young plausibel macht, dem traumatisierenden Sachverhalt nicht gerecht wird, zu bewerten ist? Schon Fotos und Filme haben hohe Evidenzkraft, sie wirken überzeugender als etwa schriftliche Zeugnisse - dennoch ist es nichts neues, dass Bilder genauso konstruiert und vermittelt sind wie andere Darstellungen und als Beweise nicht unbedingt taugen. Wie aber ist es mit dem Körper des Zeugen, seiner leibhaften Präsenz? Er erweckt noch stärker den Anschein, reiner Beweis zu sein, suggeriert stärker als jedes Foto Authentizität. Und so ist Carol Martin beizupflichten, wenn sie fordert, beim dokumentarischen Theater besonders kritisch hinzuschauen: "A text can be fictional and yet true. A text can be nonfictional yet untrue. Documentary theah·e is an imperfect answerthat needs our obsessive analytical attention especially since, in ways unlike any other form of theatre, it claims to have borlies of evidence." (Martin 2006: 15)
Zwischen Mitleid und Sensationslust: Ethik der Repräsentation Die Pointe von Beyond the killing .fields ist, dass zwar ein Gefühl von "Authentizität" entsteht, dieses aber höchst ambivalent bleibt und eher irritiert und Fragen aufwirft, anstatt Antworten zu liefern oder "Beweise" für irgendeine These. Die vielen kleinen Erzähl-Sequenzen in dem Stück erinnern an die autobiographischen Performances aus den 1970er und 80er Jahren von Künstlern wie Laurie Anderson, Rache! Rosenthal, Spalding Gray oder Karen Finley, die, so Fischer-Lichte, den Zuschauer anregten, über ein kulturelles Konstrukt nachzudenken, das konstitutiv für unsere Kultur ist: "Während die alte Form der cultural performance "Geschichtenerzählen" in oralen Kulturen die kollektive Identität der Zuschauer bestätigt, destabilisiert die autobiographische Performance ihre Zuschauer, ja entzieht ihrem individuellen und kulturellen Selbstverständnis den Boden." (Fischer-Lichte 2000: 70)
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Das Hervorbrechen des Realen vermittelt nämlich nicht nur den Eindruck von Authentizität, es ist gleichzeitig die radikale Hinterf'ragung der Möglichkeiten von Repräsentation. Es stellt in Beyond the killing .fields für das Publikum eine Zumutung und darüber hinaus eine ethische Herausforderung dar: Insbesondere, wetm die Darstellerinnen begannen zu weinen, allzu "privat" wirkten und sehr persönliche autobiographische Geschichten erzählten (von Liebesbeziehungen, Abtreibungen, dem Sterben der Kinder usw.), war ich peinlich berührt. Ich wurde ärgerlich, da ich mich gezwungen fühlte, auf Intimitäten zu blicken und mich, auf den Zuschauersitz gepresst, schlecht abwenden konnte - ich hätte mich nur durch Verlassen des Saals erfolgreich entziehen können. Theater ist, wie bereits festgestellt, ein Ort der Blicke und daher auch ein umkämpfter, tendenziell problematischer Raum, der etwas mit Machtverhältnissen zu tun hat. Dies war wohl auch der Grund, warum ich mich wie eine Voyeurirr fühlte, als Kim Bun Thom oder Ern Theay in Tränen ausbrachen womit ich, wie eine Kritik im Berliner Tagesspiegel zeigt, nicht allein war: "Trotz der Kommentare der Filmerirr Norlina Mohd hat die Aufführung etwas sehr Intimes. Die kambodschanischenMitwirkenden werden bei ihrer Erinnerungsarbeit immer wieder von ihren Gefühlen überwältigt. Fast mutet es ein wenig schamlos an, diese privaten Emotionen auf der Bühne auszustellen." (Luzina, Sandra: Maskenball. Drag Queens und Catherine David beim Berliner Festival ",n Transit". In: Der Tagesspiegel, 3. Juni 2002)
Ähnlich beschreibt auch die Rezensentirr der Berliner Zeitung die Zuschauersituation: "Während sie spricht, laufen ihr die Tränen das Gesicht hinunter, auch die anderen Darsteller haben immer wieder mit ihrer Fassung zu kämpfen. Der Zuschauer befindet sich dabei in einer schwierigen Lage: Einerseits wohnt er einer Inszenierung bei, in der ästhetische Kriterien eine Rolle spielen, gleichzeitig ist er in einen intimen, privaten Raum geschleudert, der ihm jedes Recht auf ein ästhetisches Urteil entzieht." (Schlagenwerth, Michaela: Reise durch das Grauen. Im Haus der Kulturen der Welt findet zum ersten Mal das Performance-Festival In-Transit statt. Tn: Berliner Zeitung, 5. Juni 2002)
Offensichtlich sind die zitierten Journalistinnen genauso wie der Großteil des restlichen Publikums - mich eingeschlossen - derart auf das westliche Theatermodell der Repräsentation konditioniert, dass sie auf einer Bühne nur Mimesis oder Abstraktion ertragen können, der Einbruch des Realen und des phänomenalen Körpers aber irritiert und Scham erzeugt. Das heißt nicht, dass ihnen Konventionsbrüche auf dem Theater immer unangenehm sind - was andere Kritiken der beiden Rezensentinnen beweisen. Das Entscheidende scheint die Verbindung mit Deviation, Schmerz oder Lust zu sein, und so lässt sich das unangenehme Gefühl 208
Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
auf eine gewisse ethische Irritation zurückzuführen. Theater ist eben keine alltägliche Situation, in der sich mir ein anderes Subjekt anvertraut und ich mich in einer reziproken sozialen Interaktion dazu verhalten muss - Theater gilt bei uns als Kunst, die eine ästhetisch-distanzierte Rezeption nahelegt Und dass man sich im Theater befand, wurde einem während Beyond the killing.fields durchgängig ins Bewusstsein gerufen: Trotz der informell wirkenden Inszenierung der Erzähl-Szenen war immer klar, dass es sich keineswegs um eine private Konstellation handelte. Im Gegenteil: Die Darsteller trugen, geblendet vom weißen Licht, einer großen, anonymen, fremden Gruppe etwas vor. Da stets das Licht im Zuschauersaal angeschaltet blieb, war dieser Sachverhalt schwer auszublenden. Mir etwa war durchgängig präsent, dass es sich um eine öffentliche Situation handelte und so machte ich die Erfahrung, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte und gleichzeitig eine Art von Sensationslust entwickelte, einen voyeuristischen Reiz spürte, der aus der Vorstellung resultierte, dass die Darsteller auf Bühne das alles "echt" erlebt hatten. Dieses Empfinden teilten viele mit mir; nach der Vorstellung im Foyer rankten sich einige Gespräche um die Frage, ob "das alles wahr war". Dabei war ein Unterton zu vernehmen, der eine Enttäuschung erwarten ließ, sollte sich herausstellen, dass da etwas "ausgedacht" gewesen sein sollte. Die Mischung aus Schuldgefühl und Lust, die wohl auch Zuschauer von Peep-, Völker- und Freakshows erleben - denn auch dort entsteht die Attraktivität aus dem vermeintlich realen Charakter - trat während Beyond the killing jields immer wieder auf. Besonders der Schlussapplaus, der verhalten ausfiel, löste erneut ambivalente Gefühle aus: So war einerseits die künstlerische Leistung des Ensembles zu würdigen - schließlich bestand die Aufführung über weite Strecken ja aus der Demonstration tänzerischer Virtuosität - andererseits empfand ich es als taktlos, dem Vortrag traumatischer Erlebnisse zu applaudieren. Diese Zwiespältigkeit wurde den Zuschauern zugemutet und blieb unaufgelöst. Gleichzeitig wurde evident, dass das Theater aus einer Reihe von Konventionen besteht, deren Bruch Verwirrung, Unwohlsein, Aggression erzeugen kann. Das zentrale Konzept des traditionellen westlichen Theaters, Mimesis im Sinne von Repräsentation, wurde in Beyond the killing .fields gebrochen. Dass es historisch und kulturspezifisch bedingt ist und auch mit einer ethischen Dimension der Subjekt-Objekt-Beziehung zu tun hat, beschreibt Francois Jullien anschaulich in Das Wesen des Nackten. Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass das Nackte in der europäischen Kunst eine zentrale Stellung hat, während es in der chinesischen Tradition keine Akte gibt. Dies hat mit grundsätzlich anderen Körperkonzepten zu tun: So geht es dem chinesischen Maler weniger um Anatomie als um die Austauschprozesse zwischen Körperinnerem und äußerem (vgl. Jullien 2003: 85ff.). Nach Jullien ist die europäische Aktmalerei hingegen mit einer Suche nach dem An-Sich und dem Wesen
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verbunden. Das Nackte verkörpere die Idee der Repräsentation, die in der chinesischen Kunst lange weitgehend unbekannt war: "Die Chinesen kennen weder den Gestus des Bruchs gegenüber der ,Welt', den die Mimesis - im wörtlichen Sinne als Nachahmung und Repräsentation - stillschweigend vollzieht, noch die Verdoppelung der Welt, die sie hervorruft, um jenen Bruch, gleich einer immerzu offenen Wunde der Natur, wieder zu verdecken, und deren ,metaphorisches' Verfahren der Übertragung, wie Ricoeur gezeigt hat, das Objekt erst ins Leben ruft [... ] Die Chinesen haben diesen Faden schlicht nicht aufgenommen. Erinnern wir uns im Übrigen daran, dass sie auch das Theater nicht gekannt haben - die chinesische Oper ist jüngeren Datums - und demnach auch nicht die Idee der Bühne, auf der alle Blicke zusammenlaufen und die Handlung mit ihren Personen zur Schau gestellt wird." (Ebd.: 119) 132
Interessant ist vor allem Julliens Verweis darauf, dass dem MimesisKonzept eine Ethik des Umgangs mit dem Anderen inhärent ist. Indem der europäische Aktmaler das Nackte in Pose setzt und die unbeweglich gemachte Form festhält, mache er aus einem Subjekt ein reines Objekt: "Denn ihm ist von vomherein jedes Recht zu sehen genommen, es ist - passiv nur da, um angesehen zu werden. [... ] Der in seinem Fleisch und seinem Leben pulsierende Körper, der uns so nah ist- so dass sein Leben auch in uns hervorquillt -, wird nichtsdestoweniger auf Distanz gehalten, von uns abgeschnitten, auf die Seite der Dinge zurückgeworfen und existiert nur, um uns zu erlauben, durch ihn zu einer Idealität zu gelangen." (Ebd.: 14 5)
Genau dieser Transformationsprozess eines Subjekts in ein Objekt ist konstitutiv auch für eine bestimmte Theaterästhetik, an die wir offensichtlich gewöhnt sind. Und diese wird in Ong Keng Sens Inszenierung immer wieder aufgebrochen, was auch die moralische Entlastung, mit der sich der einseitige, kalte Blick rechtfertigen lässt, zumindest vorübergehend aufhebt und ungewünscht sozial involviert. Indem Ong dies in seiner Ambivalenz stehen lässt, weist er auf ein Problem hin, das das Inter132 Dieses Zitat bedarf des Kommentars, dass Jullien hier recht enge Begriffe von Mimesis und Theater benutzt. Es sind nämlich für den chinesischen Kulturraum durchaus Vorformen des Theaters in Form von Liedern, Tänzen, religiösen Ritualen seit 400 v. Chr. und akrobatische, varietem1igen Darbietungen ab dem 7. Jahrhundert überliefe11. Es stimmt aber, dass Theater in China jahrhundertelang "in erster Linie als Zurschaustellung sensationeller Effekte und Fertigkeiten und nicht als Darstellung der Weit auf der Bühne" galt (Eberstein 1992: 225). Dies manifestiert sich auch darin, dass im Unterschied zur griechischen Poetik, die das narrative epische Gedicht und das mimetische Drama als höchste literarische Genres begriff, den Chinesen die Lyrik als eigentliche literarische Form galt (ebd.: 228). Der Mimesis-Begriff Julliens ist insofern sehr begrenzt, als er sich nur auf Kunst und Ästhetik bezieht, seine anthropologischen und sozialwissenschaftliehen Facetten ausblendet.
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kulturelle in seinem Kern betrifft: Wie ist das Subjekt-Objekt-Verhältnis beschaffen? Wie stellt man sich der Ambivalenz zwischen dem begehrlichen, sensationslüsternen, exotisierenden Blick und einem ethischen Verhalten? Da die Geschichte interkulturellen Kontakts immer auch die Geschichte des Kolonialismus, der brutalen Unterwerfung und Gewalt ist, hat die Frage nach einer angemessenen Form des Erzählens vom Trauma eine ganz besondere Relevanz. Zur Medialität und Subjektgebundenheit des Dokumentarischen Noch auf einer anderen Ebene wird in Beyond the killing .fields reflektiert, dass es sich bei historischer Aufarbeitung und Vermittlung stets um ambivalente, vielschichtige und komplexe Annäherungsprozesse handelt. Der Einsatz von Medien und die intermedialen Strukturen unterscheiden sich grundlegend vom dokumentarischen Theater mit seinem Anspruch auf Objektivität. Die für dieses Theater konstitutiven Konzepte von Beweiskraft, Zeugnis, Dokument, wissenschaftlichem Prozess - allesamt sehr "westliche" Konzepte - werden problematisiert. In Beyond the killing.fields wird permanent, ebenso wie bei Ralph Lemon, der Rechercheprozess selbst dokumentiert und auf die mediale Konstitution von Wahrnehmung verwiesen. Das gezeigte Filmmaterial besteht ebenso häufig aus Aufnahmen von Zeremonien und Tänzen wie aus Bildern, die das Produktionsteam bei seinen Ermittlungen zeigen. Diese Videofilme fungieren nicht als Dokumente, die etwas "beweisen" sollen, sondern als Dokumentation der ethnographischen bzw. theaterwissenschaftlichen und -historischen Vorgehensweise, die dem gesamten Stück zugrunde liegen. Dabei unterstreichen sie stets den tendenziell subjektgebundenen und selektiven Charakter der Rechercheergebnisse. Zudem sind immerhin vier Hauptszenen der Methoden-Reflexion gewidmet, wobei Norlina Mohd eine zentrale Funktion zukommt: Sie verkörperte die Frau aus der modernen Metropole (Singapur), trug westliche Alltagskleidung und sprach immer sachlich tmd schnell. Sie war diejenige, die die Erzählungen der Kambodschaner in die Weltsprache Englisch übersetzte und sie hatte auch die Dokumentarfilme in Kambodscha gedreht. Norlina Mohd nahm auf der Bühne die Figur der Forscherirr und Vermittlerirr ein, ihre Funktion in der Auffühnmg zielte direkt auf das Verhältnis zum Publikum, auf Vermittlung und Transparenz. In Szene Nr. 3 beispielsweise führte sie sich selbst ein. Sie erzählte von der Arbeit am Projekt: Wie sie, der Regisseur Ong Keng Sen und der Musiker Yen 2001 das erste Malnach Kambodscha gereist seien. Mit der entspannten, freundlichen Kultur, den schönen Landschaften und den aufregenden Städten sei Kambodscha ein typisches Backpackerparadies. Man könne sich kaum vorstellen, dass es ein Land sei, in dem vor gar nicht so langer Zeit Millionen Menschen durch Genozid gestorben seien. Sie wundere sich, dass es abgesehen vom Genozid-Museum und dem Kif211
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ling-Fields-Monument, nur wenig öffentliche Zeichen für die traumatische Vergangenheit gebe. In Battambong seien die Gruben, die einst für Hinrichtungen benutzt wurden, heute Lotusteiche. Durch diese Einführung wurde sofort klar: Das Stück war nicht von einer allwissenden, "objektiven" Instanz erarbeitet worden. Vielmehr stellte Norlina Mohd sich - und das Projektteam - als zu Beginn genauso fremd und unwissend dar, wie das Publikum sich wohl weitgehend fühlte. Und so berichtete Norlina Mohd auch im weiteren Verlauf ganz im Stil der selbstreflexiven Feldforschung immer wieder von persönlichen Erlebnissen. Auch eine weitere Passage legt alles andere als "Objektivität" nahe: Etwa zur Hälfte der Aufführung wurde ein Film unter dem Titel "Toul Sleng" eingespielt. Er zeigte zunächst zerknitterte Schwarz/Weiß-Fotos von südostasiatisch aussehenden Menschen- Kindern, Frauen, Männern, Greisen - manche unversehrt, andere mit aufgerissenen Augen, mit geschwollenen, entstellten Gesichtern, einige mit Nummern um den Hals. In diesem Kontext assoziierte man schnell, dass es sich um Fotos von Opfern der Roten Khmer handelte. Erst nach einiger Zeit ging die Kamera in die Totale und es wurde offensichtlich, dass die Bilder in einem Museum aufgenommen worden waren. Der Blick ins Programmheft bestätigte, dass sie aus dem Genozidmuseum im Toul-Sleng-Gefangenenlager stammten. Zusätzlich bekam man die Information, dass Em Theays Freund Neak Kru Khon dort ermordet worden war. Die Gruppe sei ins Archiv gegangen um nach Einträgen zu ihm zu suchen. Plötzlich brach der Film ab, vorn auf der Bühne trat Preab, die Tochter Ern Theays, in einen Lichtkegel. Sie erzählte mit ruhiger Mimik und Stimme, das Programmheftübersetzte den Text: "Während der Evakuierung gab es jeden Tag Bekanntmachungen der Roten Khmer. Diese Ankündigungen forderten uns auf, uns in Register einzutragen, falls wir in der Vergangenheit Hoftänzer gewesen waren. Meine Mutter hörte die Bekanntmachungen aber sie ließ sich nicht registrieren. Mein Vater war damals bereits gestorben. Meine Mutter musste sich um so viele Kinder kümmern, einschließlich mir, die ich hochschwanger war. Also entschloss sie sich, während des Krieges ihr Dasein als Tänzerin zu vergessen und mit ihrer Familie die Stadt zu verlassen. Meine Mutter hatte einen Lieblingsmusikschüler, dem sie sehr nahe stand. Neak Kru Khon hatte sich registrieren lassen. Er starb in Toul SI eng."
Das Video ging nun weiter, mit dem Zwischentitel The Search for Neak Kru Khan. Man sah, wie Ern Theay Fotos betrachtete, Alben wälzte. Das gesamte Team, darunter auch der Regisseur des Stücks, Ong Keng Sen, war in dem Museum und diskutierte, wie die Akte am besten zu finden sei. Dann wurde der Film erneut gestoppt, die Musik brach ab und ein englischer Text wurde eingeblendet: "While searching for Khon's records, Kulikar, our translator, finds her uncle's file. The last time she visited Toul SI eng was in 1984. Then her mother was looking for
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Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields her brother, Ang Choung Bee, whose file is in Kulikar's hands. She could still smell the blood, the sweat, and human hair was still on the chains. She never wanted togoback to Toul Sleng again. Why did you come with us to Toul Sleng, Kulikar? Neak Kru Khon's records are still missing."
Der Regisseur, die DarstelletitUlen, die Zeitzeugen erschienen in dem Film als Suchende, die mühsam Fragmente sammeln, bemüht, diese zusammen zu fügen, Spuren zu verfolgen. Ratlosigkeit und Verwirrung waren greifbar. Die Störungen und Überraschungen eines Forschungsprozesses wurden gezeigt. Es handelte sich auch um eine Reflexion auf die Aussagefähigkeit von Beweisstücken, wie zum Beispiel den Fotos und Akten in Toul Sleng, und um eine Reflexion der medialen Konstitution von Wahrnehmung. So wurde die Frage nach Em Theays Freund gestellt, dessen Foto, der Beweis seiner Existenz, seines Leidens und Sterbens in Toul Sleng, nicht mehr aufzufinden war. Er existierte nur noch in der Erinnerung Em Theays, die diese Erinnerung an ihre Tochter weitergegeben hatte, welche nun leibhaftig vor uns stand und von ihm erzählte. Hier entstand eine mehrfache Überlagerung verschiedener Seinsebenen: Der Film dokumentierte, dass keine Dokumente - Fotos und Akten - mehr von dem Freund existierten. Dieser war jedoch in Em Theays Erinnerung lebendig, zumindest erzählte das ihre Tochter, die körperlich anwesend war, wetUlgleich auf einer Theaterbühne und nicht als Zeugin vor Gericht, was Zweifel zuließ, ob es sich um Fakt oder Fiktion handelte. Dies wurde zusätzlich gekreuzt mit der Geschichte des Auffindens der Akte einer Person, die man gar nicht finden wollte und die ganz offensichtlich psychische und physische Reaktionen bei der Nichte auslöste, wie einem Zwischentitel zu entnehmen war. Durch die Überlagerung dieser verschiedenen Ebenen, die alle auf unterschiedliche Weise Erinnerung, Vergessen, Dokument zum Inhalt haben, wird die Beweiskraft auch der Dokumentarfilme selbst in Frage gestellt. In weiteren Szenen geschah dies immer wieder neu und anders. In der allerletzten Szene war schließlich ein Umgang mit der Videokamera zu erkennen, der vorher in der Aufführung so noch nicht vorgekommen war: Zuvor war die Kamera immer unsichtbar gewesen, d.h. nur die Filme wurden gezeigt. Nun, in den letzten Minuten des Stücks wurde sie als mitspielendes Objekt selbst ins Zentrum gerückt: Verschiedene Lichtspots fielen auf die Bühne, alle Darsteller außer Ern Theay saßen in einer strengen geometrischen Formation: Ganz vorn links Norlina Mohd mit der Videokamera, in der Mitte Mann Kosal, vorne rechts Preab, hinten links Kim Bun Thom. Norlina Mohd richtete die Kamera zunächst auf Mann Kosal, das Bild wurde gleichzeitig live auf die Leinwand projiziert. Es war ungewohnt, das Gesicht des MatUles so groß zu sehen. Mal blickte er gerade in die Kamera, dann ging die Augenbewegung in eine andere Richtung, so, als weiche sein Blick aus. Er sprach einen Text auf Khmer, der nicht übersetzt wurde, aber nachzulesen war:
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts "Wenn ich durch Toul Sleng laufe, weiß ich, daß etwas nicht in Ordnung war, daß es noch immer nicht in Ordnung ist und daß es auch in Zukunft nicht in Ordnung sein wird. Ich habe einige der führenden Roten Khmer im Fernsehen gesehen. Die jetzige Regierung hat sie erneut in Regierungsämter berufen. Alle haben gelächelt, haben gelacht, waren guten Mutes."
Dann richtete Norlina die Kamera auf Preab und auch sie trug einen persönlichen Text vor, so wie sie es in dem Stück schon viele Male getan hatte. Ihr Gesicht wirkte durch die Großaufnahme aber ebenfalls fremd und unvertraut. Schließlich trat Ern Theay mit einer Schattenspielfigur auf. Norlina verfolgte auch das mit der Kamera, nach wie vor wurden die Aufnahmen live auf die Bühnenrückwand projiziert. Ern Theay tanzte mit der Puppe, diesmal war es eine mit beweglichen Gliedern, die einen festlich geschmückten Mann auf einem Elefant darstellte. 133 Ern Theay bewegte sich, wie es das klassische Schattenspiel erfordert: Immer parallel zum Wandschirm tanzte sie von rechts nach links über die Bühne. Ein wesentlicher Bestandteil des Schattentheaters jedoch fehlte; die Lichtverhältnisse waren nicht so, dass ein Schatten auf das Tuch geworfen wurde. Dort waren stattdessen die Live-Aufnahmen der Kamera zu sehen: die Puppe in Großaufnahme. Die Bilder muteten sehr technisch an, man sah, wie sich die Gelenke bewegten und wie die Puppe im Detail gearbeitet war; all jenes war deutlich zu sehen, was das Schattenspiel traditionell versucht zu verstecken. Dazwischen kam immer wieder Ern Theays Gesicht ins Bild, zum ersten Mal wurden die tiefen Falten sichtbar, der eingefallene Mund. Ganz zum Schluss wählte Norlina einen Kamerawinkel, in dem gleichzeitig Ern Theay wie die hinter ihr projizierte Aufnahme von ihr zu sehen war, die sich somit ins Unendliche potenzierte und eine Closed Circuit Situation produzierte. Dann gingen Film, Musik und Licht aus und das Stück war zu Ende. Ich habe die letzte Szene in dieser Ausführlichkeit geschildert, da an ihr noch einmal die Verfahren deutlich werden, mit denen Ong Keng Sen in seinem Stück die mediale Konstitution von Wirklichkeit reflektiert und Realität bzw. Authentizität als Kategorien in all ihrer Ambivalenz beleuchtet. Es soll hier genügen, darauf hinzuweisen, dass Video auf dem Theater längst eine weit verbreitete Technik ist, die auf höchst differenzierte und unterschiedliche Weise eingesetzt wird und mittlerweile ein ganz eigenes ästhetisches Repertoire entwickelt hat. Im hier vorliegenden Fall werden zwei auch in der Kunst der Videoinstallation beliebte Techniken eingesetzt, die gleichzeitige Echtzeit-Projektion und Closed Circuit. Gerade indem am Ende die Dokumentation und die Realität, Erzählzeit und erzählte Zeit im Film zusammenfallen, werden noch einmal de-
133 Hier handelte es sich um eine Puppe aus dem Schattentheater Ayang, das mit seinen ledernen Gliederpuppen an das malaiische und javanische Wayang erinnert (vgl. Brunet 1969: 4).
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Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
deren Differenzen evident: Der Film "ist" nicht die Realität. Gleichzeitig wird seine "Objektivität" dekonstruiert: Zum einen wirken die Gesichter in der Großaufnahme verfremdet; man erlebt, dass die Kamera die Dinge aus einer ganz bestimmten Perspektive betrachtet und die Aufmerksamkeit nachhaltig auf Dinge lenken kann, die man selbst nicht als relevant betrachtet hätte: Für mich waren es etwa die Poren von Preabs Gesichtshaut oder die Erkenntnis, dass Ern Theay ein mangelhaftes Gebiss hat. Indem die Kamera am Ende selbst als "Akteur" in Erscheinung tritt, wird die Produktion der Bilder sichtbar und zum Gegenstand der Betrachtung: Das einäugige Kamera-Bild wird zu einem Blickwinkel unter vielen, die Kamera kann die Zuschauerblicke nicht mehr ohne weiteres in ihren eigenen zentralperspektivischen Blick zwingen. 134 Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, inwiefern die Doku-Performance Ong Keng Sens dem dokumentarischen Theater der 1960er Jahre vergleichbar sei: Die beiden Formen unterscheiden sich fundamental voneinander. In Beyond the killingjields wird nicht versucht, etwas zu "beweisen". Durch die verschiedenen Formen der Körperverwendung, durch die vielfältigen inszenatorischen Strategien, Verfremdungseffekte herzustellen, dadurch, dass nur Mikrogeschichten - Anekdoten und Fragmente - erzählt werden und zwar unter Einsatz unterschiedlicher Medien, lässt sich kein einheitliches und widerspruchsfreies Bild der kambodschanischen Geschichte herstellen. Die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt wird in Frage gestellt. Es werden keine Antworten gegeben, das Stück ist weniger analytisch als phänomenologisch, kausale Erklärungen oder umfassende Theorien werden nicht angeboten. Das heißt jedoch nicht, dass jeder Anspruch auf Objektivität oder Klarheit aufgegeben und die Möglichkeit, über den Genozid zu sprechen, negiert wird. Die Aufführung kommt so dem "traumatischen Realismus" im Sinne Rothbergs sehr nahe: "Traumatic realists [...] do not only interrogate the Iimits ofrepresentation but contribute to a revitalization of the documentary function [... ] traumatic realism attempts to produce the traumatic event as an object of knowledge and to program
134 Es wird aber auch die Ästhetik des Schattenheaters retlektie1i: Das weiße
Tuch, auf die bislang die Schatten fielen, wird zur Projektionsfläche des Films. Es stellt sich die Frage, ob der Film "realer" ist als das Schattenspiel. Das Schattentheater in seiner (scheinbaren) Zweidimensionalität und das Spiel mit dem Licht erscheinen fast als Vorläufer des Films, werden aber auch in ihrer spezifischen Ambiguität zwischen Schein und Realität vorgefuhrt. Dabei wird ein zentrales Moment der Khmer-Theaterästhetik vor Augen gefuhrt: Diese ist nie realistisch-psychologisch ausgerichtet, verdeckt die Differenz nicht durch perfekte Mimesis, sondern indem sie kodifizierte oder zweidimensionale Bilder hervorbringt.
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts and transform its readers so that they are forced to acknowledge their relationship to posttraumatic culture." (Rothberg 2000: 109)
Ich ging nicht mit dem Gefühl aus der Aufführung, zu wissen, wie die Jahre unter Pol Pot gewesen sind, oder was in Em Theay vorgeht. Es hatten sich aber Details eingebrannt, ins Gehör und in die Netzhaut, die dort als "Stachel des Fremden" (Waldenfels) steckten und die Reflexion über Wahrnehmung und Theater anregten, genauso wie sie die weitergehende Beschäftigung mit dem Genozid in Kambodscha nahe legten. Beyond the killing .fields machte deutlich, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer selbstreflexiven Annäherung an Objektivität und exzessiver Objektivierung.
Vom Zuschauer zum Zeugen Bei Beyond the killing .fields handelt es sich um eine Inszenierung, die ebenso wie Searching for Horne durch spezifische inszenatorische Verfahren die politisch-repräsentative Funktion ihrer performativen Elemente reflektiert. Dies hat Auswirkungen sowohl auf die Rezeption des kambodschanischen Hoftanzes als auch auf die Art und Weise, wie Geschichte verhandelt wird. Hat man diese Aufführung gesehen, ist es kaum noch möglich, den Tanz naiv zu betrachten. Zwar kann man sich daran erfreuen, sich von der Anmut der Tänzerinnen unterhalten, anregen, faszinieren lassen. Gleichzeitig aber kann man sich nicht mehr des Wissens entledigen, dass sich Kolonialismus und das Terrorregime der Roten Khmer in die Körper der Menschen eingeschrieben haben und der Tanz politisch aufgeladen ist. Die Inszenierung verdeutlicht die Beziehung zwischen Macht und individuellem Körper und zeigt, dass der Hoftanz ein in sich hoch komplexes Gebilde aus Differenzen und Konstruktionen ist, keineswegs "urwüchsig" oder "rein", und dass es entsprechend kaum sinnvoll erscheint, in Kollektivsingularen von "den" Kambodschanern, Asiaten oder gar Orientalen und ihrer Kultur zu sprechen. Es fehlten zwar die Goldkrönchen und prunkvollen Kostüme, die zu einer Khmer-Theateraufführung eigentlich gehören, jedoch handelte es sich gerade deshalb um eine tiefgehende Reflexion über die Möglichkeiten der Konservierung theatraler Formen. Beyond the killing fields ist nicht bloß "postkolonial" in dem Sinne, als es sich mit "vorkolonialen", "eigenen" Theaterformen befasst, sondern vor allem, weil es protektionistische und abschottende Ansätze, die Kambodschaner vor den Folgen kultureller Globalisierung schützen zu wollen, ad absurdum führt: Es zeigt die grundsätzliche Hybridität und Modernität der Tänze. Die Inszenierung Beyond the killing .fields ist daher zum einen ein kritischer Kommentar zum interkulturellen Theater der bunten Kontraste, wie es in den 1970 und 80er Jahren üblich war, weil sie den unbedarften, ästheti216
Geschichte tanzen, das Trauma bezeugen - Beyond the killing fields
zistischen Konsum unmöglich macht und jeder Verklänmg den Boden entzieht. Sie hat zudem eine darüber hinaus gehende institutionskritische Dimension, weil sie die Widersprüchlichkeiten sowohl der Institutionen der konservativen Kulturpolitik (UNESCO) als auch des internationalen Kulturaustauschs (z.B. Theaterfestivals) aufdeckt - ohne deren Unterstützung sie gleichwohl nicht entstanden wäre. Darüber hinaus ist sie "postkolonial", weil sie jene, denen als koloniale Subjekte bzw. als Opfer historischer Schreckensregime die Möglichkeit der Selbstpräsentation genommen wurde, in die Öffentlichkeit rückt: ihnen eine Bühne schafft, um von sich zu erzählen, die Gewalt, die ihnen angetan wurde, nicht dem kollektiven Vergessen anheim fallen zu lassen und die Zuschauer ethisch herauszufordern. Dies geschieht nicht, indem - wie im Dokumentartheater der 1960er Jahre- ideologisch bzw. konventionell-positivistisch große Theorien, Texte und Artefakte als Belege flir eine spezifische Lesart von in der Vergangenheit liegenden Ereignissen vorgelegt werden. Vielmehr werden hegemoniale Repräsentationsstrukturen unterminiert, weil die Fähigkeit von "Beweisen", das Erlebte zu repräsentieren, in Frage gestellt und die Erkenntnis befördert wird, dass Erinnern immer eine konstruktive Leistung darstellt und Geschichte erzählen stets zwischen Faktizität und Fiktion oszilliert, was das Vermitteln solcher Extremerfahrungen zu einem problematischen Anliegen macht. Das bedeutet nicht, dass behauptet wird, man könne Repräsentation "abschaffen". Aber in Beyond the killing fields wird evident, dass auch außerhalb des Theaters kollektive und individuelle Identität durch performative Akte entsteht - Sprechakte, wie beim autobiographischen oder historischen Erzählen vom Selbst, oder auch körperliche Akte, wie beim Tanz. Durch das Zusammenspiel verschiedener Medien - Schattentheater, Videofilm, Tanztheater - wird das Stück zu einer intermedialen Reflexion auf die Frage, wie Medialität und Repräsentation zusammenhängen und was "Erzählen", "Faktizität" und "Fiktion" in diesem Zusammenhang bedeuten könnten. Die Elemente der Inszenierung werden dabei gegen einen Realitätseindruck komponiert: eher diskontinuierlich, rhythmisch, musikalisch als narrativ. Dem Verlust der Beglaubigungsinstanzen wird die physische Präsenz entgegengesetzt: Der Körper der Tänzerinnen erscheint in Beyond the killing fields als Spurenensemble, Geschichte, Erinnerung. Auch indem die Inszenierung mit der Methode der Oral History der, mit de Certeau verstanden, tendenziell kolonialistischen Bevorzugung der Schrift, die Rede entgegensetzt, ist sie tendenziell postkolonial: "[ ... ] die Rede [verlässt] nie den Ort ihrer Produktion. Anders ausgedrückt, der Signifikant kann nicht vom individuellen oder kollektiven Körper gelöst werden. Er kann daher nicht exportiert werden. Hier ist die Rede der Körper, der bedeutet." (de Certeau 1991: 146)
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Dabei gaukelt die Inszenierung nicht im Sinne einer platten Zivilisationskritik vor, der Körper sei das wahrhaftige Gegenstück zur künstlichmodernen, technisch-medial vermittelten Welt. Vielmehr wird, ähnlich wie in Lemons Searching for Horne, das Problem des Erzählens von Trauma und Leid verhandelt, indem die theatrale Grundsituation zwischen Präsenz und Repräsentativität reflektiert wird. Dem Publikum wird dabei ein ständiges Umspringen zwischen verschiedenen Wahrnehmungsmodi zugemutet: Fischer-Lichte bezeichnet die Wahrnehmungsordnung, in der der Körper in seinem phänomenalen Sein wahrgenommen wird, als Ordnung der Präsenz und diejenige, in der Bedeutungen hervorgebracht werden, um die Figur zu konstituieren, als Ordnung der Repräsentation, und beschreibt den Moment des Umspringens als liminalen Zustand: "Wenn innerhalb einer Aufführung die Wahrnehmung immer wieder umspringt und der Zuschauer entsprechend häufig zwischen zwei Wahrnehmungsordnungen versetzt wird, so wird zunehmend der Unterschied zwischen den beiden Wahrnehmungsordnungen unwichtiger und die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden fokussiert statt dessen die Übergänge, die Störung der Stabilität, den Zustand der Instabilität sowie die Herstellung einer neuen Stabilität. Je öfter das Umspringen sich ereignet, desto häufiger wird der Wahrnehmende zum Wanderer zwischen zwei Welten, zwischen zwei Ordnungen der Wahmehmung. Dabei wird er sich zunehmend bewusst, dass er nicht Herr des Übergangs ist." (Fischer-Lichte 2004: 258)
Dieses Umspringen macht dem Zuschauer nicht nur seine von der westlich-aufklärerischen Vorstellung des unabhängigen Subjekts geprägte Wahrnehmung bewusst und ist letztlich eine Kritik an eurozentristischen erkenntnistheoretischen und ästhetischen Konzepten. Die Zuschauer von Beyond the killing fields mussten ihren sicheren Beobachterposten aufgeben und wurden stattdessen zu Zeugen mit einer ethischen Verantwortung, so wie Diana Taylor die Situation des witnessing beschreibt: "[ ... ] it is not only the responsibility of receiving, decoding and acting on a scenmio [... ] Witnesses, of course, make witnesses of others, ensuring that the memory of injustice and atrocity is engraved upon, rather than erased from, collective memory. And, no doubt, the process of receiving, processing, and communicating horror is often a painful one." (Taylor 1998: 183)
Schmerzhaft vor allem auch, weil das hierarchische Blickregime aufgelöst wird: Das vermeintliche Objekt schaut zurück und destabilisiert das Selbstverständnis des Subjekts. Bei dem, was Taylor als witnessing versteht, gibt es keine komfortable Distanz; sie entwickelt den Begriff aus der griechischen Tragödie, in der der Zeuge dem Ideal des objektiven Beobachters keineswegs entspricht: Er ist Teil des Geschehens. Taylors
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Begriff des witnessing zielt also auf Performativität und Reziprozität. Der Blick ist Intervention, es gibt kein radikal getrenntes Innen und Außen, keine klare Grenzlinie zwischen Subjekt und Objekt, der Zeuge befindet sich der erweiterten Grenzzone des Betrachteten. Anstelle von Macht und Autorität des ungesehenen Betrachters, der von oben nach unten blickt, wird seine Position destabilisiert. Indem in Beyond the killing fields genuin theaterästhetische Fragen reflektiert werden, wird allerdings nicht nur ein eurozentristisches Weltbild dekonstruiert, sondern zugleich mit Möglichkeiten der interkulturellen Verständigung experimentiert. Es ging in dem Stück in weiten Teilen auch um die Vermittlung von Wissen, wobei die Frage eine Rolle spielt, wie Dialog und Übersetzung funktionieren können. Dieses Thema spielt in der nächsten Aufführungsanalyse eine zentrale Rolle.
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ZWISCHEN EIGENEM UND FREMDEN: TRANSLATION, TRANSFORMATION, FREMDVERSTEHEN - EI autom6vil gris Die beiden bisher behandelten Inszenierungen haben mich vor allem zum Nachdenken über die Performativität von ldentitäten - individuellen wie kollektiven - angeregt. Anhand von Searching.for Horne und Beyond the killing fields ließ sich zeigen, wie aktuelles interkulturelles Theater exotistische Stereotypen und eurozentrische Konzepte von Raum im Sinne kolonialistischer Geographie (Ralph Lemon) sowie von Geschichte im Sinne einseitiger, hegemonialer Historiographie (Ong Ken Sen) dekonstruiert und damit in seiner Ästhetik als postkolonial bezeichnet werden kann. Wenig diskutiert habe ich bisher jedoch, inwiefern Kommunikations-, Annäherungs- und Verstehensprozesse jenseits eingefahrener, identitätspolitisch problematischer Repräsentationsmuster erprobt und inszeniert werden. Es handelt sich hierbei um ein Schlüsselproblem nicht nur des interkulturellen Theaters, sondern des internationalen Kulturaustausches generell. Dabei spielen die sprachliche Dimension der Begegnungen und adäquate Übersetzungsformen eine zentrale Rolle. El autom6vil gris (Das graue Automobil), eine Inszenierung des mexikanischen Regisseurs Claudio Valdes Kuri aus dem Jahr 2002, reflektiert diese Thematik in besonderer Weise. Im Folgenden werden zunächst die Aufführung zusammenfassend beschrieben und einige Gedanken zum Thema der Übersetzung als einem Grundproblem des interkulturellen Theaters formuliert. Dabei muss auch die Frage nach einem geeigneten Konzept von Übersetzung gestellt werden, da diese - anders als landläufig oft angenommen - weniger als Transfer denn als Transformation zu verstehen ist. Wie sich zeigen wird, zielt die Frage letztlich auf das Problem von Fremdverstehen überhaupt: Möchte man etwas übersetzen, muss man es zunächst verstehen. Das hat nicht nur erkenntnistheoretische und sprachlich-kulturelle Komponenten, sondern - Stichworte: Universalismus, Relativismus, Ethnozentrismus auch eine postkolonial-politische. Es geht nämlich stets um einen angemessenen Begriff von Verstehen zwischen Aneignung und Enteignung; um die kognitive Herausforderung, das Fremde zu verstehen, und die gleichzeitig ethische Herausforderung, das Fremde zu respektieren. Diese widersprüchliche Anforderung verschärft sich bei der Auseinandersetzung mit Kunst. Denn auch sie lässt sich - nimmt man ihre Autonomie ernst - genau wie das "Fremde" nicht im engeren Sinne "verstehen", sondern zeichnet sich durch Vieldeutigkeit aus - so dass auch das Spannungsverhältnis zwischen Übersetzung bzw. Kontextualisierung und dem ästhetischen Eigensinn von Theater im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist.
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Die Inszenierung EI automovil gris von Claudio Valdes Kuri Claudio Valdes Kuri ist ebenso wie Ralph Lemon und Ong Keng Sen ein weltweit arbeitender Regisseur. Seine Inszenierungen werden auf Theaterfestivals rund um den Globus gezeigt und international produziert. Das Stück El autom6vil gris, um das es hier geht, wurde beispielsweise von der mexikanischen Compafiia Nacional de Teatro und dem Berliner Haus der Kulturen der Welt koproduziert und u.a. von einer Reihe us-ametikanischer Stiftungen finanziell unterstützt. Die Premiere fand 2002 in der Cineteca National in Mexiko-Stadt statt, dann gastierte es längere Zeit im Theater El Gale6n und ging anschließend auf Welttoumee: Von den beiden Amerikas über Europa bis hin nach Japan. Die einzelnen Stationen waren in der Regel Festivals, etwa das IberoAmerican Festival de Teatro in Cadiz, das Teatro a Mil International Festival in Santiago de Chile, ein Theaterfestival in North Carolina, USA, die International Hispanic Theatre Festivals in Miami und Chicago oder das Latino Arts Festival in Los Angeles. Valdes Kuri hat an der mexikanischen Filmhochschule Centro de Capacitaci6n studiert, wobei er sich auf Dokumentarfilm spezialisierte. Ab 1976 wandte er sich dem Schauspielerberufund der Musik zu und ist in den letzten 25 Jahren mit verschiedenen Projekten durch Mexiko, Europa, Nordafrika, Nahost, Südamerika, die USA und die Karibik gereist. Er gehörte der Kompanie von Susana Wein an, 1996-99 war er Mitglied beim Carpa Theater in Wien und er ist Gründungsmitglied des Ensembles für Alte Musik Ars Nova. 1997 gründete er in Mexiko-Stadt das freie Ensemble Teatro de Ciertos Habitantes, wobei das Grundkonzept der multidisziplinäre Performer ist: Alle Mitglieder verstehen sich zugleich als Schauspieler, Musiker, Sänger, Tänzer, Artisten. Nach eigener Aussage kann die Truppe nur durch ihre Auslandstourneen und internationale Finanzierungen existieren: "J am living from the theatre, but it is difficult. We invite people for each project. The projects are planned in longterms. For example the last play we rehearsed for nine months, the first play one year. Jt is about six hours of rehearsals daily. The actors are not paid for that. After this we start our theatre season in Mexico and tour in Mexico and then abroad. So all the projects take three or four years and all the actors who are invited become part of the company for this time. But it is not sure ifthey would be involved in the next project. So it is not like in Germany with its big theatres and companies. Our actors just receive money during the performing period, not while we rehearse. In the theatre seasons and during the tours abroad we have to save money for the time when we are creating the pieces." (Valdes Kuri im Interview mit der Autorin Juni 2005)
Das bedeutet, dass Valdes Kuri und seine Truppe schon aus ökonomischen Gründen auf die "Exportierbarkeit" seiner Produktionen angewie221
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sen sind: Damit sich das Engagement lohnt, müssen sie sich für eine gewisse Zeit auf dem internationalen Theatermarkt halten und in möglichst vielen Ländern Interesse finden. Es mag hiermit zusammenhängen, dass sich Valdes Kuri mit künstlerischen Formen und Erzähltechniken aus diversesten kulturellen und historischen Kontexten beschäftigt. 135 Dazu kommt, dass es Valdes Kuri nach eigener Aussage nicht zuletzt darum geht, auch einen Beitrag zu gesellschaftlichen Fragen zu leisten und eigene Positionen zu artikulieren - in EI autom6vil gris beispielsweise gegen die Todesstrafe. 136 Er legt Wert darauf, dass seine Aufführungen dem Publikum verständlich sind: " I feel that theatre is a way of communication. And I want to be as close as possi-
ble to the person that I am talking to. That's why I am so involved with translation. It"s just that: Tobe as near as possible." (Val des Kuri im Interview mit der Autorirr Juni 2005)
Valdes Kuri möchte also etwas mitteilen, gleichzeitig muss er mit Fremdheit umgehen, weil er international arbeitet. Von daher sind für ihn Fragen der Übersetzung und des Fremdverstehens von zentraler Bedeutung. Es ist zudem anzunelunen, dass der Regisseur sein spezifisches kulturelles Umfeld reflektiert: Die wechselhafte mexikanische Geschichte seit der Unterwerfung der Azteken durch die spanischen Konquistadoren mit 300 Jahren Kolonialherrschaft, Christianisierung und Hispanisierung, die bis heute andauernde rassistische Unterdrückung der ursprünglichen Bewohner Amerikas, die Kämpfe um nationale Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert, die immensen ökonomischen und politischen Probleme, die Konflikte mit und Abhängigkeiten von den westlichen Mächten, insbesondere den benachbarten USA-all diese Faktoren fuhren dazu, dass Fragen nach kulturellen Identitäten und interkulturellem Austausch lateinamerikanische bzw. mexikanische Geistes- und Kunstwis-
135 So war zum Beispiel seine Inszenierung von Jean Anouilhs Becket o el Honor de Dios (Museo del Carmen Mexiko-Stadt, 1998) im Mittelalter angesiedelt. Sie war stark durch Chorgesang geprägt, dem eine ähnliche Funktion zukam wie in der klassischen g1;echischen Tragödie, nämlich in die Handlung einzugreifen. Die nächste Tnszeniemng, De Monstruos y Prodigios - La historia de los castrati (200 I), setzte sich mit Leben und Kunst von Kastraten im Barockzeitalter auseinander. 136 Valdes KUli dazu: "So wie ich die Dinge sehe, ist ein Verbrecher nicht weniger wert und er ist keine schlechtere Person als jeder andere. Natürlich handelt es sich um eine Person, die der Gesellschaft Schaden zugefügt hat, aber die Frage nach der Todesstrafe stellt sich natürlich auch in dem Zusammenhang, was wir als Gesellschaft mit dieser Person angerichtet haben, dass sie dazu geführt wurde, ein Verbrechen zu begehen." (http://www.proceso.com. mx/proceso/articulo_revista. Zitiert nach: www. Culturebase.net [2.11.2005])
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senschafder ebenso wie Künstler besonders beschäftigen. 137 So beschreibt Günter Maihold Mexiko als besonderen Erfahrungsraum für kulturelle Prozesse in einer globalisierten Welt: "Das Land Mexiko stellt einen [... ] Grenzraum dar, befindet es sich doch an der einzigen Stelle auf der Welt, an dem der entwicklungspolitische Norden und Süden an einer gemeinsamen Grenze aufeinander treffen. Vielfaltige Austauschprozesse durch Arbeitsmigration und wirtschaftliche Kooperation[ ...] haben an dieser Grenze einen kulturellen ,Übergangsraum' entstehen lassen, der fur die Sozial- sowie Sprach- und Literaturwissenschaften Verhältnisse geschaffen hat, die einer naturwissenschaftlichen Laborsituation nahe kommen. Neben dieser spezifischen Qualität der Nordgrenze Mexikos lässt sich[ ... ] die Fraktionierung und das Wiederaufleben ethnischer Identitäten an der indianisch geprägten Südgrenze des Landes beschreiben." (Maihold 2002: 8)
Auch in der Produktion EI automovil gris setzt sich Valdes Kuri mit künstlerischen Praktiken aus sehr unterschiedlichen kulturellen und historischen Zusammenhängen auseinander. Bei einem Aufenthalt in Japan hatte er die aus der japanischen Stummfilmära stammende Kunst der Benshi kennengelernt - professionellen Filmkommentatoren, die das auf die Leinwand projizierte Geschehen live durch synchrones Einsprechen begleiten. Benshi verleihen den Filmfiguren ihre Stimme, die in Höhe, Qualität, Akzent etc. auf den jeweiligen Charakter, die Situation und die Emotionen ausgerichtet wird. Mit dem Tonfilm ist diese Tradition zwar fast ausgestorben, dennoch wird sie heute noch vereinzelt praktiziert und gelehrt. 138 In El autom6vil gris verknüpft Valdes Kuri die Vorführung des gleichnamigen mexikanischen Stummfilmklassikers von Enrique Rosas aus dem Jahre 1919, der die Geschichte der ersten organisierten Verbrecherbande Mexikos erzählt, mit der Benshi-Kunst: Die Performer sprechen in der Inszenierung die Figuren des Films abwechselnd auf Spanisch, Japanisch, Deutsch und Englisch ein und experimentieren mit Lauten und Geräuschen. Die Besetzung der Produktion hat sich je nach Aufführungsort zwar immer wieder geändert, es gibt aber ein Kernteam, mit dem auch ich das Stück gesehen habe. 139 Es wird von dem Komponisten und Klavierspieler 137 Herlinghaus und Walter geben in Lateinamerikanische Peripherie- diesseits und jenseits der Moderne einen guten Überblick über diesen Diskurs (vgl. Herlinghaus!Walter 1997: 242-300). 138 Es liegt insofern eine interessante Parallele zwischen Kmi, Lemon und Ong vor, als alle drei sich mit vom Aussterben bedrohten, nur oral tradierbaren Künsten auseinandersetzen: Ralph Lemon mit den alten Blues-Tänzen, Ong Keng Sen mit dem kambodschanischen Hoftanz. Mehr zur Geschichte und Kunst der Benshi vgl. Dym 2003. 139 Ich habe zwei unterschiedliche Vorstellungsserien besucht, beide im Haus der Kulturen der Welt: Zum ersten Mal am 5. und 6. Oktober 2002 im Rahmen
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Ernesto G6mez Santana, der aus Mexiko kommt, und der japanischmexikanischen Schauspielerin Irene Akiko Iida gebildet. Ernesto G6mez Santana, der die gesamte Aufführung als Pianist begleitet, hat an der staatlichen Musikhochschule in Mexiko-Stadt studiert und tritt sowohl international als Solist auf, als auch immer wieder als Begleiter von Sängern und in Theaterproduktionen. Er hat mit Claudio Valdes Kuri schon in früheren Inszenierungen zusammengearbeitet. Irene Akiko Iida wurde als Tochter japanischer Eltern in Mexiko-Stadt geboren, ging nach der Schulzeit nach Japan, um an der Musikschule Takarazuka in Osaka zu studieren- als erste lateinamerikanische Studentin überhaupt. Nach dem Abschluss 1981 war sie unter dem Künstlernamen Irene Sachikaze in der Takarazuka Musical Revue Company engagiert, einer legendären Institution, die 1914 geg1ündet wurde. Außerdem studierte sie ab 1987 an der Hanayagi Schule traditionellen japanischen Tanz. 1997 gab sie ihr Theaterdehnt in Mexiko als Regisseurin und Produzentin des Musicals Juan, el Mom6taro, ein Stück zum Gedenkjahr 100 Jahre Migration Japan-Mexiko. Dazu kam noch eine weitere Schauspielerin, die neben Irene Akiko Iida die Rolle einer Einsprecherin übernahm. Es handelte sich zunächst um die Mexikanerin Sofia Gonzalez de Le6n, die als Schauspielerin, Sängerin und Schriftstellerin arbeitet. Im Jahr 2005 übernahm Fabrina Melon ihre Rolle. Die französische Schauspielerin wurde auf der karibischen Insel Guadeloupe geboren. Nach ihrer Tanzausbildung in Paris war sie Mitglied in der Art of Jazz Company. Sie ist seit Ende der 1990er Jahre in Mexiko und hat dort in einer Vielzahl von Theaterproduktionen mitgewirkt und in Bolivien im Teatro de los Andes eine weitere Ausbildung erhalten. Ihre erste Hauptrolle spielte die schwarze Performerirr in Jean Genets Die Neger unter der Regie von Jose Luis Cruz im Orientaci6n Theater in Mexiko-Stadt. 2005 kam zudem noch der deutschsprachige iranische Schauspieler Kaveh Parmas als dritter Benshi hinzu. 140 Im Wesentlichen handelte es sich bei El autom6vil gris um die LiveEinsprechung eines Stummfilms für ein aktuell anwesendes Publikum. Der Film war eine 70-minütige Version des ursprünglich sechsstündigen, halbdokumentarischen Films EI autom6vil gris (1 919) von Enrique Rosas. Das Material, das Valdes Kuri benutzte, war also stark gekürzt, ganze Figuren und Plots waren aus dem Original herausgeschnitten. Der Film wird allgemein als Beginn der Kinogeschichte Mexikos angesehen - er war seinerzeit ein überragender Publikumserfolg und erzählt von historischen Ereignissen, die sich im Jahre 1915 um eine Bande von Kriminellen abspielten, die unter dem Namen El autom6vil gris während des Festivals Mexartes-Berlin.de, dann am 4. und 5. Juni 2005 im Rahmen von IN TRANSIT Für die nachfolgende Analyse standen auch Videoaufzeichnungen der Auffuhrungen aus beiden Jahren zur Verfugung. 140 Außerdem waren an der Produktion beteiligt: Claudio Angel Ancona: Licht; MariaRosa Mancini: Kostüme.
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der chaotischen Zeiten der mexikanischen Revolution ganz Mexiko-Stadt terrorisierte. 141 Der Trick der Bande bestand darin, in echten Militäruniformen und mit gefälschten Durchsuchungsbefehlen in die Häuser wohlhabender Bürger einzudringen, wo sie ihre Opfer quälten und ausraubten. Ihr Fluchtauto war stets ein grauer Fiat. Der Film zeigt die gesamte Laufbalm der Ganoven: Die ersten Überfälle, vergebliche und erfolgreiche Aufklärungsversuche der Polizei, kleine und große Coups, Liebesgeschichten der Bandenmitglieder, zwischenzeitliche Inhaftierungen und Flucht; er endet mit der Überführung und Bestrafung durch Erschießen. Die Theaterbühne war während der Aufführung mehr oder weniger dunkel. Die Bühnenrückwand bestand aus einer großen Leinwand, auf die der Film projiziert wurde. Links war im Halbdunkel ein Klavier zu erkennen und, beleuchtet durch eine kleine Leselampe, der Pianist: Ein schmaler großer Mann im Frack, mit weiß geschminktem Gesicht, dunkel betonten Augen, die Haare dandyhaft mit Pomade zurückgekämmt. Rechts auf der Bühne befanden sich zwei Notenständer, an denen in einem hellen Lichtkegel entweder eine oder zwei Frauen standen: Die japanische Schauspielerin, im vornehm geblümten Kimono, die Haare kunstvoll aufgetürmt, an den Füßen die typisch japanischen weißen Socken und Plateausandalen und die lateinamerikanisch aussehende Schauspielerirr im roten, etwas bäuerlich wirkenden Kleid, das schwarze Haar streng zu einem Knoten gebunden. Die Atmosphäre im Theatersaal hatte durch die Dunkelheit etwas Kinohaftes. Dabei wirkte, möglicherweise durch die Dominanz der Farben Schwarz und Weiß, auch das Bühnengeschehen ein wenig wie ein Schwarz-Weiß-Film. Die Aufführung lässt sich in zwei Akte gliedern, unterteilt durch ein Zwischenspiel mit Tanz und Gesang in der Mitte - so wie das Anfang des 20. Jahrhunderts in mexikanischen Kinos üblich war: Die langen Unterbrechungen bei den Filmrollenwechseln, die dem Umstand geschuldet waren, dass es meist nur einen Filmprojektor gab, überbrückte man mit kleinen Tanz- und Sketcheinlagen. In EI autom6vil gris traten die japanische und die mexikanische Schauspielerirr zum Intermezzo aus ihrem Lichtspot an der Seite in die Bühnenmitte, der Pianist begann auf Deutsch ein fröhliches Lied zu singen, das in Duktus und Melodie an die Schlager der 1920er erinnerte und von dem ich aufgrund des starken spanischen Akzents nur Fetzen verstand: " ... das gesamte Publikum verlässt den KinosaaL was für ein Film, was für ein Film, was für ein sensationeller Film." Die beiden Frauen tanzten dazu eine Art clownesken Revuetanz, mit klassischen Showelementen wie etwa dem BeirreHochwerfen aus dem Cancan oder Steppeinlagen, kombiniert mit kleinen
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1910-21 herrschte in Mexiko ein Bürgerkrieg, bei dem die revolutionären Kräfte, die sich aus Bauern, Arbeitern und progressiven Bürgerlichen zusammensetzten, letztlich siegten und der Ende der 1920er Jahre in die "institutionelle Revolution" mündete.
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Slapsticks. Wie Claudio Valdes Kuri erläutert, ist es kein Zufall, dass die Tanzszene an Revuen der 1920er erinnert: "The dances are inspired by the films of Maria Coneza. And also inspired by the experience when you see old films - you do not see them in the right speed, so it is very funny." (Valdes Kuri im Interview mit der Autorin Juni 2005)
Auch in anderen Details lehnte sich das Stück an Gepflogenheiten der Stummfilmzeit an. Die Musik der gesamten Aufführung, die ausschließlich live von dem Pianisten produziert wurde, war an alten Vorlagen orientiert. So hatte Ernesto Gomez Santana die gespielten Stücke zwar selbst komponiert, allerdings in intensiver Beschäftigung mit Notenmaterial aus der Zeit vor 1919 und dem Umfeld des japanischen wie des mexikanischen Stummfilms. Es entstanden intermediale und intertextuelle Beziehungen zwischen Film, Schauspielern, Musik, Wort: Visuelle, akustische, atmosphärische Eindrücke, Perfonnativität und Zeichenhaftigkeit traten in ein wechselhaftes Verhältnis zueinander- mal erklärten, mal ergänzten, mal widersprachen sie einander. Stilistisch handelte es sich bei der Aufführung insgesamt um eine hybride Mischung, die durch den technischen Perfektionismus und die Verwendung heutiger Sprache einerseits ganz nah und vertraut, aktuell und zeitgenössisch wirkte, andererseits aber auch eine nostalgische Atmosphäre verbreitete, etwa durch das verschnörkelte Klavier und den eleganten Pianisten, insbesondere aber durch bewusste Anlehnung an die Praktiken aus der Zeit des Stummfilmkinos. Dadurch wirkte sie weit "entfernt", fremd und hatte etwas nahezu Geisterhaftes.
Fremdheit und Übersetzung als Schlüsselprobleme Von interkultureller Kommunikation ist, wie eingangs erläutert dann zu sprechen, wenn einer der Kommunikationsteilnehmer den Eindruck oder die Erwartung von Fremdheit hat - oder Dritte, die beide kulturelle Systeme kennen, den evidenten Eindruck von Missverständnissen haben, die weder natürlich bedingt sind, noch auf einer rein individuellen Ebene liegen, sondern die man auf die Teilhabe an unterschiedlichen kulturellen Systemen zurückführt. Es ist evident, dass Fremdheit und Übersetzung Schlüsselprobleme interkulturellen Austauschs und damit auch interkulturellen Theaters sind. Es stellt sich aber die Frage, was sinnvollerweise unter "Fremdheit" wie auch unter "Übersetzung" zu verstehen sein soll. Fremdheit als relative Kategorie Während der Aufführung El autom6vil gris wurden diverse Aspekte und Qualitäten von Fremdheit spürbar. Diese ergaben sich aus verschiedenen zeitlichen und räumlichen Distanzen und Differenzen, in allen möglichen
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Mischungen und Abstufungen: Die Inszenierung ist durch die Grundkonstellation geprägt, dass ein mexikanischer Stummfilm mithilfe einer ursprünglich japanischen Erzähltradition und unterschiedlichen Einzelbzw. Landessprachen dem Publikum nahe gebracht wird. Es handelt sich dabei um einen Film, der selbst in Mexiko "fremd" ist, da er einer längst vergangeneu Zeit entstammt, die wenig mit dem heutigen Leben in der Hauptstadt zu tun hat. 142 Ein 90-jähriger aus Mexiko-Stadt wird möglicherweise das Gefühl haben, dass die Bilder ihm "vertraut" vorkommen, aber durch die japanische Benshi-Tradition befremdet sein. Seine junge Nachbarin würde sich vielleicht wundern, dass dieser Film in "ihrer" Stadt spielen soll und die Passagen als zugänglich empfinden, in denen die mexikanische Performerin Jugendjargon verwendet. Ein Japaner wird dagegen eventuell irritiert sein, weil die Bilder im ersten Teil des Films, den die japanische Benshi einspricht, so gar nicht zu ihren Worten passen - zumal sie, wie Valdes Kuri erklärt, ein antiquiertes Japanisch benutzt: "She is talkinginan old way Japanese. Many words are unusual and it is funny for Japanese people to hear it. Some words are really old, but they sound familiar and in the context everybody understands." (Valdes Kuri im Interview mit der Autorin, Juni 2005)
Gleichzeitig wird er vielleicht die etwas nostalgisch-staubige Atmosphäre mögen und versuchen, sich die Zeiten vorzustellen, als die Benshi noch ihrem Beruf nachgingen und es von so etwas wie Multiplex-Kinos noch keine Vorstellung gab. Für eine deutsche Zuschauerirr wie mich, die wenig Spanisch und kein Japanisch spricht, weder Mexiko-Stadt noch die Benshi-Tradition kennt, ist die Situation wiederum völlig anders. Damit verdeutlicht die Inszenienmg zunächst einmal, dass Fremdheit nichts Absolutes ist. Es ist nicht notwendig, an dieser Stelle im Detail auf die unterschiedlichen Begriffe zur Bezeichnung von Fremdheit einzugehen: am gebräuchlichsten sind "Alterität" und "Fremdheit", sie sind nicht synonym, überlappen sich jedoch stark. Das "Andere" bzw. "Alterität" ist umfassender gemeint als das "Fremde" und der zentrale Begriffunterschiedlicher Formen der Differenztheorie. 143 Die Bedeutung des "Fremden" lässt sich prinzipiell nicht eindeutig festlegen, denn es bezeichnet das, was - möglicherweise nur momentan oder in Hinblick auf eine be142 Vgl. zu der Entwicklung von Mexiko-Stadt von der nationalen Hauptstadt zur weltstädtischen Megalopole Canclini 2001. 143 Der "Andere" ist in der Erkenntnistheorie seit Hege! von besonderer Bedeutung: Das Subjekt begreift sich nur durch ein Gegenüber, Bedeutung entsteht durch Differenz, Identität und Alterität sind nicht voneinander trennbar. Für das Denken von Michel Foucault, Jean-Francois Lyotard, Jacques Derrida, Emmanuel Levinas oder Julia Kristeva ist das Denken der Differenz zentraler Ausgangspunkt, wobei es darum geht, das Andere und Verschiedene nicht zurückzufuhren auf das Eigene und Gleichartige.
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stimmte Eigenschaft - nicht zugänglich, nicht vertraut oder identifizierbar ist. "Fremd" soll hier mit Bernhard Waldenfels das signifizieren, "[ ... ] was jenseits der Grenzen dessen liegt, was man mit Husserl Eigenheilssphäre nennen könnte. Eigenheit ist hierbei im weiteren Sinne zu verstehen als Zugehörigkeit, Vertrautheit, Verfügbarkeit, sei es die Eigenheit des Leibes, der Kleider, des Bettes, der Wohnung, der Freunde, der Kinder, des Heimatlandes, des Berufes oder wessen auch immer." (Waldenfels 1998: 59) 144
Das Fremdartige betrifft also Erfahrungsstrukturen und -ordnungen. Wie es erlebt und bewertet wird, ist höchst variabel und nicht durch seine konkrete Gestalt verursacht. Die Beziehungen zum Fremden lassen sich beschreiben als "komplexes Geflecht differenter Relationen" (Wimmer, M. 1997: 1068), das insbesondere drei Dimensionen hat: die des Werturteils (etwa gut/ böse, ebenbürtig/ untergeordnet, attraktiv/ abstoßend), die des Handeins (Annäherung/ Distanzierung, Identifikation/ Assimilation, Selbstunterordnung/ Unterwerfung des Anderen usw.) und die epistemologische Dimension (Verstehen/ Nichtverstehen, Wissen/ Unwissen). Absolute Eigenheiten und Fremdheiten sind Konstruktionen, eine allgemeine Wesensbeschreibung des Fremden unmöglich. Und so stellen sich für jeden Zuschauer von EI autom6vil gris während der Aufführung unterschiedliche Fremdheitserfahrungen ein; jeder muss seinen spezifischen Zugang finden, wie Valdes Kuri treffend selbst beschreibt: "Es handelt sich um eine Reise ins Ungewisse, die uns auf der Suche nach den alten an neue Orte fuh1i. Ein Übergang in ein längst vergessenes Mexiko-Stadt aus dem Jahre 1915, in der die Straßen schon dieselben Namen tragen wie heute, die aber 25 Millionen Einwohner weniger hat. Eine Übung, in der der Filter der Zeit eine wichtige Rolle spielt: Was uns damals zum Weinen brachte, bringt uns heute zum Lachen, was uns damals Lachen ließ, können wir heute möglicherweise gar nicht mehr erkennen. Die Annäherung ist also äußerst komplex und schwierig: Mit ungewöhnlichen Erzählstrukturen interpretieren, ohne aber Verrat zu begehen am steten Bemühen, Geist und Essenz der Vergangenheit erneut aufleben zu lassen." (http:!/cinetecanacional.net/cgi-bin/trace-sc.cgi?q=men_ benshi. Zitiert nach: www. Culturebase.net [2.11.2005])
144 Waldenfels unterscheidet weiterhin drei Niveaus, auf denen das Fremdartige erfahren werden kann: auf gleicher Stufe, etwa in ähnlich weit entwickelten Lebensstufen oder Kulturen; auf einer früheren Stufe (Kindheit vs. Erwachsenendasein, "Primitive" vs. Zivilisation) oder in Anomalien, Heterologien und Pathologien, z.B. in Traum, Ekstase und Krankheit. Daraus ergeben sich für die westliche Kulturgeschichte drei paradigmatische Figuren des Fremdartigen: Das Kind, der Wilde und der Irre bzw. der Narr, dazu kommen in gewisser Weise noch Tier und Automat (vgl. ebd.).
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Translation als Problem interkulturellen Theaters Auch am letzten Zitat wird deutlich, wie sehr es Valdes Kuri um Vermittlung geht: Er möchte einem heutigen Publikum etwas räumlich und zeitlich Entferntes nahe bringen. Er versucht also, den Zuschauern einen annähernden, verstehenden Zugang zum Fremden zu ermöglichen. Dabei ist er sich der Schwierigkeit, wenn nicht gar der Unmöglichkeit seines Vorhabens bewusst. Dem ist es wohl auch geschuldet, dass Valdes Kuri EI autom6vil gris, das wie bereits erwähnt, durch die USA ebenso tourte wie durch Lateinamerika, Europa und Japan, sprachlich stets dem jeweiligen Kontext anpasste: "We made a Iot oftours around the world with this production. So we realized that to approach the audience in its own language changes the things completely. When we performed the play in Spain before nothing happened. We were too far away from them. And then we went to Chile, we changed a just some words and it changed completely. Because they talk another Spanish. Since this moment we started to make a Iot of different versions. Differentversions in Spanish- for Chile, Colombia, Costa Rica. Also we did this English translation, a German translation, a French, Portuguese and Japanese translation. In Japan our play is 60% in Japanese, the version here or in Mexico has only I 0% Japanese. The different versions do not follow the same model. We change it for every counh-y." (Valdes Kuri im Interview mit der Autorin, Juni 2005)
Dabei band er als Performer neben der japanischen Benshi auch Darsteller ein, die die dominante Sprache am jeweiligen Auftrittsort beherrschten; in den USA zog er 2003 etwa einen Rapper als "Einsprecher" hinzu, 2005 in Deutschland den deutschsprachigen Schauspieler Kaveh Parmas. Insofern hat Valdes Kuri nicht bloß auf die üblichen Übersetzungformen, wie etwa Untertitel gesetzt, sondern verschiedene Möglichkeiten von Translation als konstitutiven Bestandteil in die Aufführung integriert. Indem er spielerisch mit diversen Sprachen, Kommunikationsformen und Übersetzungsatten experimentiert, inszeniert er, wie zu sehen sein wird, auch ein bestimmtes Konzept von Übersetzung. Translation - ich gebrauche den im Folgenden zu spezifizierenden Begriff synonym mit "Übersetzung" - ist dabei nicht nur für Valdes Kuri, sondern für den interkulturellen Austausch auf dem Theater generell ein zentrales Problem. Bei Theater handelt es sich, semiotisch formuliert, um einen der Sprache vergleichbaren Kode. Dabei ist theatrale Kommunikation face-to-face Kommunikation. Sie kann, so Fischer-Lichte, "nur dann ,glücken', wenn ein flir Produzenten und Rezipienten zumindest in Grundzügen gemeinsamer Kode vorhanden ist." (Fischer-Lichte 2001: 176) Das ist meist dann der Fall, wenn sie aus demselben Kollektiv stammen, "es wird dagegen zu einem entscheidenden Problem bei der Rezeption von Werken aus der Vergangenheit: das gemeinsame universe of discourse, das der zeitgenössische Rezipient zumindest teilweise mit
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dem Produzenten gemein hat, ist nicht mehr gegeben, die Regeln zu seiner Rekonstruktion sind im Werk nicht auffindbar" (ebd.: 109). Dieses Problem gilt natürlich nicht nur für Werke aus der Vergangenheit, sondern auch flir Werke aus anderen kulturellen Kontexten und ist im Theater im Vergleich zu anderen Künsten besonders gravierend: Der Zuschauer kann sich aufgrund des zeitlich fixierten Charakters des Mediums normalerweise nicht mit zusätzlichen Informationen versorgen, die ihm die Rekonstruktion des zugrunde liegenden Kodes und damit das Verständnis der Bühnenvorgänge erleichtern würden (vgl. ebd.: 176). Theatrale Kommunikation findet während der Aufführung statt, Theater ist ein Ereignis, kein Artefakt. Hiermit lässt sich auch erklären, warum das interkulturelle Theater spürbar von besonders vielen Irritationen und Enttäuschungen begleitet ist. Ist ein Auseinanderfallen des universe of discourse der Theatermacher und der Rezipienten anzunehmen, müssen in der Praxis, wenn eine Aufführung "verstanden" und nicht nur in ihrer Sinnlichkeit wahrgenommen werden soll, Übersetzung und Kontextualisierung simultan oder im unmittelbaren Umfeld stattfinden, was Regisseure und Dramaturgen mit durchaus nennenswerten praktisch-organisatorischen Herausforderungen konfrontiert. Hinzu kommt, dass in vielen Theaterformen das gesprochene Wort eine wichtige Rolle spielt, was sie deutlich von der bildenden Kunst oder der Musik unterscheidet. Auch wenn Sprache hier im Singular und engeren Sinn als Einzelsprache verstanden- nur ein Merkmal von Kultur ist, so ist sie doch ein sehr konkretes und prägendes Unterscheidungsmerkmal und gleichzeitig eines der wichtigsten Kornmunikationssysteme zur menschlichen Verständigung. Deshalb sind viele Probleme der Übersetzung auf dem Theater mit der Frage verbunden, wie man das gesprochene Wort der Schauspieler auf der Bühne in die Sprache übersetzt, die das Publikum beherrscht. Oft versucht man sie durch Unter- oder Übertitel, manchmal auch durch synchrones Dolmetschen über Kopfhörer oder Text- und Programmhefte zu lösen. Dies funktioniert nicht immer so gut wie in Beyond the killingjield~, wo Textheft und Sukzessivdolmetschen kombiniert wurden - häufig werden Übersetzungsangebote als störend empfunden, weil sie die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Bühnengeschehen ablenken. Und so ist in der Tat zu konstatieren, dass die performativen Qualitäten- die ja ebenso zu einer Theateraufführung gehören wie der semantische Gehalt bzw. sich von diesem de facto gar nicht trennen lassen - stark in den Hintergrund der Wahrnehmung rücken können, wenn durch dominante Übersetzungen die Konzentration allzu stark auf die referentielle Ebene gerichtet wird. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Arts International, eine US-amerikanische Organisation, die sich speziell mit Fragen des künstlerischen Kulturaustauschs befasst und entsprechende Projekte för-
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dert, "Übersetzung und Kontextualisierung" auf dem Theater zu einem ihrer Schlüsselthemen gemacht hat: "As they work to build audiences for contemporary international theater, US presenters often find that linguistic and cultural barriers keep the public away. Presenters can, however, use two important techniques to help to bridge these differences. First, they can ensure that translations of foreign-language work are sensitively created and seamlessly communicated. Second, they can create materials and programs that offer audiences a social, cultural and even personal context surrounding the m1ist and work being presented. In the field of intemational presenting, these two processes are commonly referred to as ,Contextualization and Translation.'" (http://www.m1s-history.mx/auto/AG_ E_Presentation.html [2.11.2005])
ArtsInternational hat im Rahmen seines Förderschwerpunkts "Translation und Contextualization" auch Valdes Kuris EI autom6vil gris finanziell unterstützt. Dies war mit dem konkreten Auftrag verbunden, zu erforschen, wie Kontextualisierung und Übersetzung bei internationalen bzw. interkulturellen Theaterproduktionen funktionieren kann. Dabei sollten diese Fragen von Anfang an in das Inszenierungskonzept einfließen: "Contextualization and translation are frequently considered ,add-ons', layers appended to a completed work by individuals outside of the initial creative process. In the case of EI Autom6vil Gris, Arts International turned this assumption around by introducing these concepts early in the process of re-developing an international production for American audiences." (ebd.)
Es reicht allerdings nicht aus, wie man aus diesem Zitat ableiten könnte, nur eine Lösung für das Problem der optimalen Integration von Übersetzung in eine Theateraufführung zu suchen. Es stellt sich die - übrigens nicht nur in Hinblick auf außereuropäisches oder interkulturelles Theater, sondern bei jeder Präsentation von Kunst - grundlegende Frage, inwieweit Erklärungen und Übersetzungen möglich sind, ohne die Autonomie des Ästhetischen zu verletzen und seine spezifische Wirkung zu verfälschen.145 Lässt man sich überhaupt darauf ein, dass künstlerische Arbeiten "lesbar" sein sollen, muss dennoch akzeptiert werden, dass sich ästhetische Texte durch eine im Vergleich zu nicht-ästhetischen Texten erhöhte Vieldeutigkeit auszeichnen. 146 145 Mit diesem kuratarischen Grundproblem sind alle Institutionen, auch Museen konfrontiert, die Kunst aus anderen Epochen, anderen kulturellen Kontexten oder schwer zugängliche zeitgenössische Kunst präsentieren. 146 Ästhetische Texte werden, so Fischer-Lichte, überhaupt erst zn ästhetischen Texten, weil "bei der Konstitution ihrer Bedeutung nicht auf eine eigenständige semantische Dimension als stabilisierenden Faktor rekurriert werden kann, sondern [... ] aus der Beziehung zwischen pragmatischer und syntaktischer Dimension die semantische überhaupt erst erstellt werden muß." (Fischer-Lichte 2001 : 93) Deshalb bezeichnet Jan Mukai'ovsky ein Kunstwerk
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Gegen die puristische Ansicht, die hierin begründete, gewisse Autonomie des Ästhetischen würde alle Übersetzungs-, Erklärungs-, oder Kontextualisierungsversuche verbieten, sprechen meines Erachtens dennoch mindestens zwei Argumente: Zum einen ist, wenn man ästhetische Wahrnehmung als reziprokes Verhältnis begreift, das "reine" Kunsterlebnis ohnehin eine Fiktion. Jeder Rezipient nimmt anders wahr, auch wenn es Wahrnehmungsstrukturen gibt, die intersubjektiv Gültigkeit haben. Dabei spielt der Kontext eine entscheidende Rolle, im Theater beispielsweise, mit welchen Erwartungen der Zuschauer eine Aufführung betrachtet. Diese werden beim Besuch eines internationalen Performance-Festivals andere sein als wenn er ein klassisches Drama in einem deutschen Stadttheater ansehen möchte oder wetm das Völkerkundemuseum traditionelles indonesisches Theater angekündigt hat. Da die Kommunikation eines theatralen Ereignisses im Vorfeld die Bedeutungskonstitution steuert, sind auch Öffentlichkeitsarbeit, Werbung, begleitende Materialien, Programmhefte, aber auch Einführungs- und Begleitveranstaltungen von großer Relevanz. Der zweite Einwand, der sich gegen eine fundamentalistische Ablehnung von Übersetzung und Kontextualisierung vorbringen lässt, ist, dass es sich bei Theater per definitionem um eine soziale Interaktion handelt, die zudem in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet ist: "Was sich in einer Auffuhmng zwischen Akteuren und Zuschauern oder auch zwischen den Zuschauern ereignet, vollzieht sich immer als spezifischer sozialer Prozeß, konstituie11 eine spezifische soziale Wirklichkeit. Und derartige Prozesse mutieren zu politischen, wenn bei der Aushandlung von Beziehungen, bei der Festlegung von Positionen Macht ins Spiel kommt." (Fischer-Lichte 2004: 297)
Wenn man dieser Sichtweise Fischer-Lichtes folgt, wird das Konzept der absoluten Autonomie des Ästhetischen fragwürdig. Auch in den vorliegenden Ausführungen wurde bereits auf verschiedenen Ebenen gezeigt, dass gerade dem interkulturellen Theater jenseits des künstlerischen Kerns immer auch eine politische Dimension inhärent ist. Die untersuchten Aufführungen lassen sich mit einer schlichten Entgegensetzung des
auch als "autonomes Zeichen ohne eindeutige Beziehung zur Wirklichkeit." (Mukarovsky 1977: 35) Die Autonomie des ästhetischen Zeichens liegt also dm;n begründet, dass ihm eine eigenständige semantische Dimension fehlt, auf die seine einzelnen Aussagen bezogen und in ihrem Wahrheitsgehalt überp1üft werden könnten (vgl. ebd.). Es handelt sich streng genommen um eine Paradoxie, da, folgt man der Feiresehen Definition, nach der ein Zeichen ja gerade zum Zeichen wird, weil es für etwas anderes steht, ein Anwesendes ist, das auf etwas Abwesendes verweist. Die Vieldeutigkeit ästhetischer Zeichen wird zusätzlich dadurch erhöht, dass die möglichen emotionalen Qualitäten der im Kunstwerk verwendeten Zeichen je nach Rezipient höchst unterschiedlich sein können.
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Ästhetischen und des Nicht-Ästhetischen nicht angemessen beschreiben, da hier das Ästhetische zugleich sozial, politisch und ethisch konzipiert ist. Schon die bisherigen Überlegungen zeigen, dass Übersetzungen auf dem Theater in mehrerer Hinsicht problematisch sind. Was ich noch nicht ausgeführt habe, ist der entscheidende Sachverhalt, dass Übersetzen nicht nur in Bezug auf Theater, sondern auch in einem weiteren Sinne ein paradoxes Unterfangen ist, da es immer und unvermeidlich auch die Transformation des Fremden beinhaltet. Übersetzung als Transformation Die Wissenschaft vom Übersetzen ist ein komplexes Themenfeld und aufgrund ihres interdisziplinären Charakters gibt es viele theoretische Ansätze und keine einheitliche Begrifflichkeit. Den meisten Theorien ist gemeinsam, dass sie Übersetzen als Transfer aus einem Ausgangskode, bzw. einer Ausgangstextgestalt oder einer Ausgangskultur in einen anderen Zielbereich verstehen (vgl. Stolze 2003: 28). Ihnen geht es darum, Regeln zu entwickeln, die die subjektive Beliebigkeit minimieren und "Treue", "Loyalität" sowie "Angemessenheit" der Übersetzung garantieren sollen. Dabei ergeben sichjedoch Probleme: Wie ist mit der Tatsache umzugehen, dass es sich bei dem Transfer stets auch um eine Verwandlung des zu Übersetzenden handelt? Und wie damit, dass man, um etwas adäquat zu transferieren - auch im Sinne des Transformierens - den Ausgangstext zunächst einmal "verstehen" muss? Auf dieses Problem, das sich sowohl im Hinblick auf das "Fremde" als auch im übertragenen Sinne auf das "Ästhetische" stellt, zielt die Theorie des Fremdverstehens. Deren Grundspannung ergibt sich aus dem Dilemma, dass das Fremde sich gerade durch Unverständlichkeit auszeichnet - ebenso wie das Ästhetische durch Uneindeutigkeit. Auch das vorliegende Buch stützt sich vielfach auf Übersetzungen; bereits das macht deutlich, dass es eine alltagspraktische Dimension des Themas gibt: Selbst wenn man theoretisch zu dem Schluss kommt, dass Übersetzungen letztlich nie eine 1:1-Übertragung sein können, wäre es weltfremd, deswegen auf Übersetzungen zu verzichten. Übersetzen ist eine konfliktreiche, ambivalente und in sich widersprüchliche Aufgabe, die jedoch im Alltag ständig gemeistert werden muss. Sie lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten wissenschaftlich untersuchen: Manche Übersetzungstheorien konzentrieren sich auf die Lösung ganz konkreter praktischer und professioneller Probleme von Übersetzern, andere sind stärker handlungsorientiert und soziologisch ausgerichtet, einige fokussieren den Sonderfall der literarischen Übersetzung, wieder andere schauen eher sprachphilosophisch auf das Thema. Letztere betonen meist die Schwierigkeiten und Paradoxien des Übersetzens. So etwa die Denker der deutschen Romantik wie Wilhelm von Humboldt oder Friedrich
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Schleiermacher, welche die Eigentümlichkeit von Sprache besonders hervorhoben und die Übersetzbarkeit etwa künstlerischer Texte nur eingeschränkt für möglich hielten (vgl. Stolze 1997: 27ff.). Auch Walter Benjamin war der Ansicht, dass Übersetzungen höchstens Annäherungen sein können: "Damit ist allerdings zugestanden, daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben." (Benjamin 1977: 55) 147
Insbesondere die Krise der Repräsentation hat die Übersetzungswissenschaft stark erschüttert; Denker des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion wie Derrida griffen die These der Unübersetzbarkeit auf und vertraten sie sehr entschieden. Dennoch gibt es heute eine Reihe von Theorien, die sich weniger auf den nicht übersetzbaren "Rest" konzentrieren, sondern versuchen, anwendbare Übersetzungsmodelle zu entwerfen.148 Darunter sind einige, die in Handlungstheorien einbettet sind: So hat etwa die Sprechakttheorie den Verweis auf den Handlungscharakter von Übersetzungen eingebracht - Translation ist danach nicht nur ein
147 Gerade im Hinblick auf künstlerische Texte vertrat Benjamin allerdings die
Meinung, es komme beim Übersetzen darauf an, den Ausdruck des Originals, also das "Wie" nachzubilden: "in ,Brot' und ,pain' ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der A11 des Meinens nämlich liegt es, dass beide W011e den Deutschen und dem Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, dass sie ftir beide nicht veJ1auschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben: am Gemeinten aber, dass sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten." (ebd.: 55) Der Übersetzer muss deshalb die Art des Meinens in seiner Sprache um die der Fremdsprache ergänzen und die Bedeutung seiner Sprache um die der fremden erweitern. Benjamin sieht also letztlich doch eine Möglichkeit angemessener Übersetzung. Auch die Semiotik geht von Übersetzbarkeil aus: Die Beschreibung der Sprache als Zeichensystem zum Zweck der Kommunikation ermöglicht es, diese wissenschaftlich zu analysieren. Übersetzung heißt hier Koordination ausgangssprachlicher und zielsprachlicher Zeichen zu demselben Gemeinten und ist prinzipiell möglich. Diesen Theorien liegt die Universalistische Forderung nach inhaltlicher Tnvm;anz zugmnde; genau hier liegt auch die Schwachstelle dieser Modelle. 148 Dabei versuchen normativ ausgerichtete Theorien zu definieren, wie die Ergebnisse einer Übersetzung aussehen sollen, während andere eher deskriptiv das Spektmm der Möglichkeiten beschreiben. Ein Beispiel für einen praxisbezogenen Ansatz ist die mikrostilistisch orientierte sprachpaarbezogene Übersetzungswissenschaft, die konkrete Regeln für das Übersetzen von einer Sprache in die andere entwirft und allgemeine Fragen nicht diskutiert (vgl. Stolze 1997: 74fT.).
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sprachlicher Vorgang, sondern kommunikatives Handeln mit einer klaren Funktion. Bei Translationsprozessen geht es aus dieser Sicht nicht nur um Sprache, sondern auch um soziale Interaktion und kulturelle Differenz. Und so ist Übersetzung, insbesondere vor dem Hintergrund postkolonialer Zusammenhänge, mitnichten ein harmloses Unterfangen. Darauf weist auch Doris Bachrnrum-Medick hin: "Spätestens angesichts der gravierenden Ungleichheit der Sprachen und Kulturen sowie der Artikulation neuer Weltliteraturen jenseits der westlichen Zentren verliert die Frage der [.. .] Übersetzung ihre philologische Unschuld [...] Auch Textübersetzung ist als eine Form der Repräsentation fremder Kulturen und kultureller Unterschiede aufzufassen." (Bachmann-Medick 1997: I)
Übersetzungsprozessen ist also immer auch eine machtpolitische Komponente inhärent. Sie sind daher im Kontext spezifischer Konstellationen - etwa Kolonialismus und Postkolonialismus - und unter Bezugnahme auf grundlegende Leitkategorien - etwa Universalismus und Kulturrelativismus- zu reflektieren (vgl. Fuchs 1997: 316) und auch die Dominanzverhältnisse in der Verteilung interpretatorischer Macht sind hier zu berücksichtigen. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Translationswissenschaft seit den 1990er Jahren immer mehr den kulturellen und ideologischen Bedingungen und Implikationendes Übersetzens zugewandt hat. Traditionelle Transfer-Modelle werden meist abgelehnt, so etwa von Radegundis Stolze: "Übersetzen kann man nur, was man verstanden hat und so, wie man es verstanden hat. Da die zu übersetzende Textwahrheit ein kognitives Phänomen ist, eine Bewusstseinspräsenz, kann es in der Translation keinen ,Transfer' geben. Es ist vielmehr die Mitteilung, wie sie sich erschlossen hat, die in der anderen Sprache für andere Empfänger neu formuliert wird." (Stolze 2003: 300)
Und so vertritt auch Stolze die Meinung, dass Translationsprozesse prinzipiell unabschließbar sind. Die - stets vorläufigen - Übersetzungslösungen werden in einem nicht bis ins Letzte steuerbaren Vorgang geschaffen und können mehr oder weniger glücken.
Transformatives Spiel der Sprachen Valdes Kuri integriert Übersetzungsprozesse als konstitutiven Bestandteil in die Aufführung El autom6vil gris. Dabei hat er nicht einfach den Text in die jeweilige Sprache des Publikums übersetzen lassen, sondern in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen belassen und in vielerlei Hinsicht experimentiert: Es werden Möglichkeiten der Kommunikation zwischen dem Bühnen- und Filmgeschehen und den Zuschauern durch-
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gespielt, indem synchron, aber auch nacheinander Visuelles und Akustisches, verschiedene Sprachtypen und Landessprachen, Stimmeinsatz, Musik, Körperbewegungen (Tanz, Gestik, Mimik) und Untertitel mit dem Film- d.h. dem "bewegten" fotografierten Bild - kombiniert werden, was im Folgenden gerrauer analysiert werden soll. 149 Sprachverwendung und Erzähltechnik Die Aufführung EI autom6vil gris kann man nicht bloß in zwei Akte einteilen, die durch ein Zwischenspiel unterbrochen werden. Es lässt sich eine weitere dramaturgische Struktur anhand der Art des Einsprechens der Performerinnen feststellen. Dabei sind fiinf Phasen in der Aufführung unterscheidbar, die hinsichtlich von Sprachverwendung und Erzähltechnik jeweils signifikant differieren, was spürbare Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Bühnengeschehens hatte. Die fremde Einzelsprache: Japanisch ohne Untertitel Der Film beginnt mit einem Vorspann, der die Beteiligten aufzählt und auf Spanisch erläutert, dass das gesamte Material an Originalschauplätzen gedreht wurde. Dieser Text wurde bei den Vorstellungen in Berlin mithilfe deutscher Untertitel übersetzt. Der Pianist spielte eine spannungsreiche Filmmusik dazu. Die japanische Schauspielerin, rechts auf der Bühne, sagte gleichzeitig etwas auf Japanisch und es lag nahe, dass sie den Inhalt des spanischen Texts auf Japanisch vortrug. Dann ging der Film als solcher los: Man sah auf der Leinwand eine Gruppe von Männem diskutierend und rauchend an einem Tisch sitzen. Die Benshi redete dazu- nach wie vor auf Japanisch, einer Sprache, die von der Mehrheit des deutschen Publikums nicht beherrscht wurde. Dennoch war klar, dass die Performerirr den verschiedenen Männem in dem Film ihre Stimme lieh: So redete sie nicht mehr mit ihrer natürlichen, oder besser: natürlich und alltäglich wirkenden Stimme, die während des Vorspanns zu hören gewesen war. 150 Sie sprach deutlich tiefer als zuvor und variierte dabei die Tonhöhen und -qualitäten: Mal sprach sie extrem tief, bassartig, getragen, dann etwas höher mit nasalem Charakter, dann krächzte sie eher, eine Figur sprach sie mit dünner Fistelstimme. Die Stimmen muteten auch, wenn man die Augen schloss und die Männer in dem Film dazu nicht sah - "männlich" an, obwohl sie gleichzeitig übertrieben, karikiert wirkten. Zuschauer ohne Kenntnis der japanischen Sprache konnten den Wortlaut nicht verstehen - auch gab es keine Untertitel oder sonstige Hinweise auf die Bedeutung des Gesagten - die semantische Dimension der einzelnen Äußerungen blieb also unerschlossen. Es ließ sich häufig nicht unterscheiden, ob die Laute- alles war dabei: Hell-, Zitter-, Ver-
149 Die folgende Beschreibung basiert auf den Aufführungen im Jahr 2002. 150 Welche natürlich auch eine "Bühnenstimme" war, sonst hätte man sie in den hinteren Reihen des Theatersaals gar nicht hören können.
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schluss-, Reibe-, Zischlaute usw. - zu Wörtern gehörten oder ob sie eher als Stöhnen, Lachen, Schnaufen einzuordnen waren. Obwohl in den Details unverständlich, war die Szene insgesamt dennoch bedeutsam und entschlüsselbar: Männer reden aufgeregt durcheinander. Nach der Anfangsszene der Männerinder Kneipe wurde der Stimmeinsatz der Benshi zunehmend facettenreich. So sang sie mit glockenheller Stimme, als eine junge Frau in dem Film einen Boulevard entlang spazierte, hechelte in einer Verfolgungsszene. Die Benshi schaute übrigens während sie sprach auf den Film, sie gestikulierte kaum und blickte auch selten auf das Notenpult, das vor ihr stand. Sie zog die Zuschauerblicke immer wieder auf sich: Ihr stark geschminktes, sehr hübsch wirkendes Gesicht war äußerst konzentriert und durch eine heftige Mimik geprägt - mal hatte sie aufgerissene, dann zusammengekniffene Augen, mal kam ein breites Lachen, dann schmallippiges Flüstern. Etwa die ersten zwanzig Minuten der Vorstellung gingen in dieser Weise weiter: Die Benshi sprach Japanisch und deutsche Untertitel wurden nur selten eingeblendet. Wenn, dann geschah dies, wenn entweder im Film eine spanische Untertitelung vorgenommen wurde, wie beim Vorspann. Oder wenn, was ebenfalls selten passierte, die Benshi beim Sprechen selbst für einen Satz vom Japanischen ins Spanische wechselte. Dies fand in Schlüsselszenen des Films statt und schien als Hilfestellung für das Publikum gemeint zu sein, dem Handlungsverlauf besser folgen zu können. Bei mir als Zuschauerin, die zwar durch die visuellen Informationen dem Gang der Dinge im Groben folgen konnte, die einzelnen Worte jedoch nicht verstand, setzte nach und nach ein Effekt ein, der sich vielleicht am besten als Entspannung beschreiben lässt: Zu Anfang war ich angespannt gewesen, nervös, etwas nicht mitzubekommen, nicht zu verstehen, die Leistung nicht zu erbringen, gleichzeitig Bilder und Untertitel, Musik und Gesprochenes zu lesen, zu hören, zu dekodieren und synthetisieren. Nach einer gewissen Gewöhnung an die Situation lauschte ich dann eher ungerichtet dem Sprechen der Benshi, es wirkte auf mich wie Gesang, bei dem man die Kunstfertigkeit bewundert, die Virtuosität, die stimmakrobatische Leistung. Dabei stellten sich häufig auch komische Effekte ein, die bei vielen Zuschauern spontanes Lachen auslösten. Diese entstanden nicht durch Wortsinn oder weil im Film etwas Witziges zu sehen war, sondern durch Kontraste und das außerordentliche mimetische Können der Benshi. 151 Die bekannte Fremdsprache 1: Verfremdetes Spanisch mit Untertitelung
Der zweite Abschnitt lässt sich dadurch charakterisieren, dass die Benshi mehr und mehr dazu überging, auf Spanisch zu sprechen. Im gleichen Ausmaß nahm die Untertitelung auf Deutsch zu, die jedoch Grammatik151 Jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass so viele Menschen im Publikum Japanisch beherrschten, wie gelacht haben.
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fehler enthielt. Zum Beispiel war der Untertitel einer Sequenz, in der die Geliebte eines Ganoven entdeckt, dass er ein Verbrecher ist "Ich nie werden sein deine Frau". In einer anderen Szene spricht ein junges Bandenmitglied beim Oberhaupt vor, um bei einem wichtigen Coup dabei sein zu dürfen. Dies war untertitelt mit "Mich gefallen die richtig großen Dinger". In beiden Fällen wurden Lacher im Zuschauersaal provoziert. Für eine europäische Zuschauerin war trotz des starken Akzents der Japanerin nun immerhin unterscheidbar, wann es sich um die Artikulation von Worten handelte und wann um Laute. Gesprochenes Japanisch, gesprochenes Spanisch und schriftliches Deutsch wurden zunehmend vermischt, und somit dem Berliner Publikum Verständliches und Unverständliches, Orales und Schriftliches, Hörbares und Sichtbares. Bestimmte Details traten dadurch stärker hervor, andere eher zurück: Ich wurde zum einen intensiver in die einzelnen Situationen im Film "hineingezogen", "verstand" auf eine gewisse Weise auch die Geschichte bzw. ihren Verlauf besser. Andererseits trat das Hören spürbar in den Hintergrund: Natürlich drangen Laute ins Ohr, jedoch war die Fixierung auf das Entziffern der Untertitel dominant. 152 Den Abschluss dieses Teils bildete die temperamentvoll von der Benshi vorgetragene Ballade vom autom6vil gris. Anschließend gab es viel Applaus und die Benshi ging ab. Die bekannte Fremdsprache II: Muttersprachliches Spanisch mit Untertitelung Der dritte Abschnitt zeichnete sich dadurch aus, dass überhaupt kein Japanisch mehr vorkam. Bereits während des Gesangs war im Halbschatten eine zweite Frau hinter die japanische Schauspielerirr getreten. Sie kam nun ins Licht und sprach auf Spanisch alle Dialoge ein - vom Stil her vergleichbar der Japanerin: Sehr variationsreich, überzeichnet, schnell. Was sie von sich gab, hörte sich deutlich "spanischer" an, ohne fremden Akzent. Mittlerweile gab es keinerlei Fehler in der Untertitelung mehr. Jede Sequenz war ab jetzt komplett in deutscher Sprache untertitelt und meine Wahrnehmung des Dargebotenen funktionierte abermals anders: Ich konnte durchgängig erkennen, was Worte waren und was nur Laute, ich gewöhnte mich an das Spanische, vergleichbar der Erfahrung, die man macht, wenn während des Aufenthalts in einem fremden Land die dortige Landessprache nach und nach vertraut klingt. Ich vermag nicht zu sagen, ob die Performance der japanischen oder mexikanischen Schauspielerirr das Publikum stärker ins Filmgeschehen hineinzog, jedoch war jeweils der Fokus ein anderer: Während die Benshi sprach, waren mir Laute und Stimmqualitäten präsenter, ich nahm sie, wie gesagt, eher wie Musik wahr, bei der Mexikanerin achtete ich mehr auf den semantischen Gehalt und darauf, inhaltliche Übereinstimmungen zwischen Untertiteln und Gesagtem herzustellen. 152 Vgl. zum Thema Aufmerksamkeit, Unter- und Übertitelung Carlson 2006: 180-214.
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Die zweite Hälfte dieses dritten Abschnitts wurde dadurch markiert, dass die Japanerin wieder zur Mexikanerin hinzutrat, und die beiden abwechselnd die verschiedenen Filmfiguren einsprachen, durchgängig auf Spanisch gesprochen und Deutsch untertitelt, was für mich allerdings keine nennenswerte Veränderung hinsichtlich der Sprachverwendung oder Erzählteclmik herstellte. Verwirrung: Informationsüberschuss und Multilingualität Nach dem Zwischenspiel, das ich eingangs bereits skizziert habe, sprachen zunächst mehrere Minuten lang der Pianist und die beiden Frauen im Dunkeln weiter. 153 Der Klavierspieler sprach Deutsch, trotz starkem Akzent gut verständlich - und die Performerinnen machten Geräusche dazu, kicherten, sangen leise vor hin. Textlich handelte es sich um eine Zusammenfassung der weiteren Geschicke der Bande und eine Schilderung der historischen Verwicklungen. Das Spezifische an dieser Sequenz war, dass sie nach dem Intermezzo, das sehr stark die performativen Aspekte der Aufführung betont und daftir sensibilisiert hatte, dass Kommunikation auch visuell und "ohne Worte" funktionieren kann, nun die Konzentration zunächst vollkommen auf das Hören und das gesprochene Wort gelenkt wurde. Das Eigentümliche dabei war eine geisterhafte Atmosphäre, die dadurch entstand, dass durch die Stimmen die Körper der Performerinnen präsent waren, auch direkt in ihrer Energie spürbar, man diese jedoch mit den Augen nicht wahrnehmen konnte. Dann lief der Film wieder an, und es ging im zweiten Akt erst einmal so weiter, wie es vor dem Zwischenspiel aufgehört hatte. Allerdings empfand ich das Zuhören als zunehmend anstrengend und irritierend, was damit zu tun hatte, dass die beiden Frauen sich immer häufiger nicht abwechselten, sondern gleichzeitig sprachen und außerdem immer mehr Sprachen mischten. So entstand ein Überschuss von Information, es wurde sehr schwer zu differenzieren, wer was wie sprach. Sprechen ohne Worte: Laut, Tiersprache, Musik Die beiden Frauen zogen wieder die Aufmerksamkeit auf sich, als die japanische Schauspielerirr - im Film floh die Ganovenbande gerade aus Mexiko-Stadt aufs Land - verblüffend naturgetreu das Geräusch einer fahrenden Eisenbahn und eines Dorfes (Hühnergegacker, Hundegebell, später auch ein Hahnenkampf) imitierte. Zum "normalen" Einsprechen, wie es vor der Pause gemacht wurde, trat von nun an bis zum Ende der Aufführung ein wesentlich freierer, experimenteller Umgang mit Sprache und Artikulation. So bekamen auch Gesang und Lautmalerei eine größe153 Der Tanz während des Intermezzos war immer zum Publikum hin gerichtet, beide Darstellerinnen kokettierten mit den Zuschauern, zwinkerten zu, wackelten mit den Hintern, warfen Handküsse in den Saal. Sie versuchten, sich jeweils in den Vordergrund zu spielen, wodurch eine Situationskomik entstand, etwa wenn sie sich gegenseitig mit den Hüften wegschubsten ..
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re Rolle zugewiesen. Durch das Experimentieren mit der Stimme veränderte sich der Charakter des Einsprechens von der zu dekodierenden, semiotischen Textweitergabe zwecks Information tendenziell hin zum Performativen. In einer Szene gegen Ende des Films sucht beispielsweise die Polizei in einem Hotel nach den Gangstern. Das Spannungsmoment resultiert daraus, dass der Hotelier mit der Bande unter einer Decke steckt und versucht, durch eine umständliche Konversation an der Rezeption Zeit zu schinden, damit die Ganoven aus den Zimmerfenstern fliehen können. Die japanische Benshi sprach den Hotelbesitzer auf Englisch, Untertitel wurden nicht eingeblendet. Schon bald begann der Pianist, die Benshi beim Sprechen mit einem Boogie zu begleiten. Ihr Sprechen transformierte sich nach und nach in eine vokale Jazzimprovisation: "Whatever you want, whatever you need, one - two, one - two - three" Die Benshi spielte frei mit den Wörtern und der Stimme, Sprache und Sprachverwendung entwickelten eine Eigendynamik - der Inhalt des Gesagten zählte schließlich gar nicht mehr, nur noch die musikalische Qualität. Dies wirkte äußerst unterhaltsam auf das Publikum, das lachte und mitwippte, was sich noch steigerte, als ein Lichtspot auf die Performetin gerichtet wurde und sie einen Stepptanz vorführte. An einer anderen Stelle zeigt der Film den Besuch eines der Bandenmitglieder bei seiner Verlobten Carmen. Die Performerinnen sprachen die junge Frau zu Beginn dieser Liebesszene gleichzeitig ein, beide mit hoher Stimme, sehr schnell. Der Tonfall wandelte sich vom Koketten zum Vogelgezwitscher. Dadurch entstand auch hier der eigentümliche Effekt, dass zum einen die Worte in der Wahrnehmung in den Hintergrund traten und zum anderen die Geräusche nicht mehr illustrativ wirkten ("flirtende Frau"), sondern abstrakt wurden. Etwas später, im Film stürmen Polizisten Carmens Haus, imitierten die Performerinnen dann hingegen sehr naturalistisch Tierlaute. Waren auf den Filmbildern die Polizisten zu sehen, hörte sich das, was sie stimmlich an Schallwellen hervorbrachten, wie eine Hundemeute an, sie knurrten, bellten scharf, hechelten. Carmen wurde von der Benshi als Katze gestaltet, sie miaute, fauchte. Die Tier-Imitation war perfekt, hörte sich absolut "echt" an. Gegen Ende der Aufführung flochten die Performerinnen zunehmend auch wieder Wörter auf Japanisch und plötzlich auch auf Deutsch ein, wobei dies meistens keinen Sinn ergab und wegen des starken japanischen und spanischen Einschlags häufig schwer verständlich war. Hier trat erneut der Verwirrungseffekt durch Multilingualität ein - zumal wieder auf Untertitel verzichtet wurde. In der vorletzten Szene tauchte im Kontrast dazu kein einziges gesprochenes Wort auf. Der Film zeigte die Bandenmitglieder in ihrer Gefangniszelle, beim Warten auf die Vollstreckung des Todesurteils. Nur Geheul war zu hören, Schluchzen, Stöhnen, Knurren, das Knallen des Klavierdeckels, das an Gewehrschüsse denken ließ. Diese Sequenz erzeugte eine beklommene Atmosphäre, und im Zu-
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schauersaal, in dem vorher eine ausgelassene Stimmung geherrscht hatte, wurde es sehr ruhig. So war auch kein Geräusch zu hören, als die letzte Filmszene - dokumentarisches Material - vollkommen ohne Ton die Erschießung der Männer an einer Mauer zeigte. Aufgelöst wurde die Stille durch die Klavierbegleitung zum Abspann, der als Moral an das Ende der Aufflihrung die ironisch wirkende Lektion "Nur Arbeit adelt das Leben" setzte. Als "Fin/Ende" zu lesen war, brach sofort begeisterter Applaus los. Übersetzungsprozesse in EI autom6vil gris Während der Aufflihrung wurde viel gelacht, es verbreitete sich gute Laune und die Atmosphäre im Zuschauersaal war, auch beim Applaus und Hinausgehen ausgelassen und lustig, obwohl der Film es nicht war schließlich endet er mit der Hinrichtung der Ganoven. Auch die Rezensionen waren durchweg begeistert und betonten oft einen positiven Überraschungseffekt: "A charming and surprising film-theater show. The result is enchanting and surprising at the same time. What Claudio Valdes Km; has done with this film is not just a historical screening for specialists, it's a modern, able pe1formance suitable for the general public, in which we find humor, drama and song. Tt is a memorable experience in which tradition and modernity are bi;lliantly combined." (Perez, Luis Bernardo: EI automovil gris. In: Ovaciones, Mexiko-Stadt, 23.7.2002)
Die gute Resonanz ist sicher darauf zurückzuflihren, dass sich der unterhaltsame Effekt von mimetischer Virtuosität, wie sie die Performerinnen besaßen, eindrucksvoll entfaltete. Die Inszenierung stellte darüber hinaus aber auch eine anspruchsvolle Auseinandersetzung damit dar, ob und wie Übersetzung und Fremdverstehen möglich sind. Dass dies hier nicht in seiner problematischen, möglicherweise tragischen Dimension verhandelt wurde, sondern die Aufflihrung eher ein heiteres Durchspielen verschiedener Möglichkeiten des Übersetzens war und häufig genug ein fröhliches gemeinsames Scheitern darstellte, mag ebenfalls zum Erfolg beigetragen haben. In EI automovil gris fanden, wie die Beschreibung der einzelnen Sequenzen zeigt, auf mehreren Ebenen Übersetzungsprozesse - im Sinne von Transformation - statt. Dabei kamen diverse Kommunikationssysteme zum Einsatz: Landessprachen wie Japanisch, Spanisch, Deutsch, Englisch, aber auch Tierlaute, menschliche Laute, Gesang, Musik - im Zwischenspiel außerdem Gebärdensprache, Pantomime, kodifizierter Tanz bis hin zum Film, der aus rein visuellen Zeichen besteht. Dabei wurde nicht bloß zwischen all diesen Kommunikationssystemen hin- und herübersetzt, sondern eine Reflexion über Übersetzung in Gang gesetzt, wovon auch die Kritiken zeugen: ",EI autom6vil gris' [... ] funktioniert, auch ohne dass man die Sprache verstehtweil die Darsteller sie zum Teil selbst nicht verstehen [...]. Ein stotternder Gangster,
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Dass Übersetzung und Verstehen selbst zum Thema wurden, liegt vor allem daran, dass die Aufführung grundsätzlich für Probleme der Translation sensibilisierte, indem sie den Zuschauern zumutete, permanent Übersetzungs- und Verstehensprozesse zu erproben, in kontinuierlich wechselnden Konstellationen und unter immer neuen Bedingungen. Dabei machte sie zunächst einmal die einzelnen Sprachen in ihren spezifischen Qualitäten wahrnehmbar, ihrer jeweils eigenen Lautlichkeit. Auch zeigte sie, dass es eine Reihe vollkommen unterschiedlicher menschlicher Kommunikationssysteme gibt, akustische und visuelle, z.B. das gesprochene und das geschriebene Wort, aber auch- tendenziell universell verständliche- Laute wie Lachen, Schluchzen oder Schreien. 154 El autom6vil gris machte sinnlich erfahrbar, dass Sprache nicht reine Repräsentation von gedanklichen Inhalten ist, sondern immer auch Medium. Es wurde dadurch klar, dass die Übersetzung vom Japanischen ins Deutsche niemals ein bloßer Transfer sein kann, sondern etwas grundsätzlich anderes hervorbringt, also dass "Übersetzung" stets Transformation ist. Die komplexe Verquickung von Sprache, Denken, Wissens- und Erfahrungsstrukturen, mit der sich Teile der Kognitionswissenschaft befassen und auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte, verstärkt die Differenzen in interkulturellen Kontaktsituationen noch zusätzlich - auch das erlebte das Publikum in dieser Aufführung. El autom6vil gris gibt so den Translationstheorien Recht, die die "Unübersetzbarkeit" betonen und zeigt, dass eine Übersetzung höchstens im Hinblick auf bestimmte Aspekte "richtig" oder "falsch" bzw. "adäquat" sein kann. So entstand die Heiterkeit des Publiklm1s oft dann, wenn ein Filmbild (ein visuelles Zeichen) besonders treffend in eine vokale Artikulation (ein akustisches Zeichen) "übersetzt" wurde; etwa die Ko-
154 Auch Musik wurde als Kommunikationssystem vorgeführt: Der Pianist be-
gleitete den Film fast ununterbrochen. Es ließen sich wiederkehrende melodische Gestalten erkennen. Einprägsame Figuren wie Triller oder Arpeggien luden sich im Kontext visueller Eind1ücke mit Bedeutung auf und entwickelten ein Eigenleben, transpo11ierten selbst Geschichten, bewegten sich durch das Stück wie Mitspieler. Die Musik setzte sich so, das wurde nach einer Weile deutlich, aus einzelnen (Leit-)Motiven zusammen, die sich bestimmten Szenen, Figuren oder Stimmungen zuordnen ließen: Das Motiv der Ganoven, der Angst, der fröhlichen Verlobten. Immer wieder wurde die Musik auch lautmalerisch eingesetzt und hörte sich an den entsprechenden Stellen im Film an wie Telefonklingeln, Hupen, Poltern.
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ketterie der verliebten jungen Frau in "Vogelgezwitscher": Ein zentraler Aspekt des sich visuell vermittelnden Zeichenkomplexes wurde herausgegriffen und zugespitzt und umgekehrt hätte die "Übersetzung" nicht funktioniert. An anderen Stellen der Aufführung wurden dagegen, so wie man es aus dem Alltag kennt, möglichst pragmatisch Informationen, die der Film auf Spanisch lieferte auf Deutsch wiedergegeben - die Rückübersetzung hätte wohl ein dem Ausgangstext sehr ähnliches Ergebnis erbracht (z.B. im Vorspann oder in den Zwischentiteln). Die Inszenierung sensibilisierte so für die Unterschiedlichkeit von Übersetzungsprozessen und machte deutlich, dass es völlig verschiedene Konzepte davon geben kann: Etwa das der Übersetzung als "Benennungswechsel", also als Suche nach begrifflichen Äquivalenten, die die Bedeutung weitgehend unberührt lassen soll oder das entgegengesetzte Konzept, nach dem Übersetzung gezielt intervenieren und etwas Neues schaffen soll (vgl. Fuchs 1997: 320). Dadurch, dass "echte" Menschen leibhaftig, dreidimensional vor der Leinwand auf der Bühne standen und sich bewegten, wurden der Körper im Stummfilm und der Körper im Raum, und so auch die unterschiedlichen Medien der Inszenierung in ihrer Differenz evident. Den Zuschauern verlangte diese Konstellation ab, immer wieder zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsformen hin- und her zu springen: Man konnte sich weder ganz in den Film fallen lassen, noch bloß auf die Performer konzentrieren. Hinzu trat die Evidenz der Materialität des Films als Abfolge von einzelnen Schwarz/Weiß-Fotos, da durch die geringere Bildanzahl pro Sekunde als 24 Bilder, auf die die Filmtechnik seit Zeiten des Tonfilms eingestellt ist, der flir heutige Stummfilmvorführpraxis typische "Zappel"-Effekt entsteht. Auch sonst wurde durch Kontraste oder Isolierungen die Konzentration auf die spezifische Qualität einzelner Bestandteile der Inszenierung gelenkt, beispielsweise durch das Sprechen im absolut Dunkeln nach dem Zwischenspiel, die reine Bildersprache ohne jeglichen Ton in der allerletzten Szene, oder durch den mehr oder wenigen starken Einsatz von Untertiteln. Vor allem wenn sehr viele Untertitel schnell nacheinander eingeblendet wurden, war meine Aufmerksamkeit vollkommen von ihnen absorbiert, so dass ich kaum etwas anderes mehr bewusst hörte oder sah, eine Beobachtung die Valdes Kuri laut eigener Aussage auch bei anderen Zuschauern gemacht hat. Und so ist es nur konsequent, dass er bei späteren Auftritten in den USA den experimentellen Umgang mit Schrifttypen bei den Untertiteln erprobt hat: "For the United States we also made a version in which the font of the subtitles is changing with the character. Each character has his own font, depending on the personality of the character. In a certain moment these subtitles start to have an own life, moving on the screen, coming out of the mouth auf the actors on the screen." (Valdes Kmi im Interview mit der Autmin, Juni 2005)
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So wurde betont, dass Unter- oder Übertitel eine eigene ästhetische Wirkung entfalten können, wie auch Marvin Carlson meint, der jedoch vor allem den Verfremdungseffekt dabei herausarbeitet, wenn er sagt, dass sie eine kontinuierliche Erinnerung des Publikums sind an die"[ ... ] constructedness of the event they are watching, and their alternative ,reading' of the lines provides what also might be seen as a continual Brechtian reinforeerneut of the possibility of an alternative line of thought and expression." (Carlson 2006: 200). Das Publikum in El autom6vil gris konnte die Unterschiede der Wahrnehmung zwischen "Lesen", "Hören" oder "Sehen" erfahren, was nicht heißt, dass es diese unbedingt auch begrifflich oder analytisch fassen musste- eben so wie Paul Zumthor schreibt: "Die Gesamtheit der vom Werk in Gang gebrachten sinnlichen Wahrnehmungen zerfallt in zwei Typen, je nachdem, ob sie vom Gehör oder vom Auge beherrscht wird. Das Auge erzeugt im übrigen unterschiedliche kognitive Vorgänge, je nachdem ob es eine wirkliche, mehr oder weniger komplexe Situation insgesamt erfaßt oder ob es sich auf eine schriftlich kodie1ie Botschaft konzentriert." (Zumthor
1995: 705) Den Zuschauern wurde also die Medialität der einzelnen Bestandteile ins Bewusstsein gerufen und damit die These widerlegt, Übersetzung könne ein einfacher Transfer sein. Die Aufführung problematisierte aber Übersetzen und Fremdverstehen auch noch in anderen Dimensionen. Durch die körperliche Präsenz der "Sprecher", die nicht nur Texte einsprachen, sondern darüber hinaus auf der Bühne die Rolle von Sprechern aus der Stummfilmzeit bzw. Benshi spielten, rückte sie die "Übersetzer" selbst ins Bild. So schärfte sie auch den Blick für die handlungstheoretische und soziale Dimension von Übersetzungsprozessen. Und damit für deren politische Dimension - insbesondere ftir die Aspekte der Ungleichheit der Sprachen und von interpretatorischer Macht, die im postkolonialen Zusammenhang äußerst relevant sind. Sprache und Identitätspolitik Mit Sprachen -hier im weiteren Sinne gefasst als Kode bzw. Kommunikationssystem - sind üblicherweise Werturteile verknüpft. Damit meine ich nicht nur, dass ich beispielsweise in El autom6vil gris das Japanische als vergleichsweise wenig "attraktiv" , die Stilmerkmale der 20er Jahre als relativ "schön" und die damalige Filmästhetik als derjenigen unserer Zeit nicht ebenbürtig empfand. Das Stück verwies vielmehr darauf, dass es eine Hierarchie unter den Sprachen gibt und sprachliche Unterschiede immer auch soziale Unterschiede markieren. Bereits im Alltag ist erfahrbar: Sprache ist nicht nur ein Mittel der Verständigung, sondern auch eines der Distinktion. Da Sprache und (kulturelle) Identität eng zusammenhängen, hat die Frage, welche Sprache von wem wie gesprochen
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oder gelernt werden sollte, immer auch politische, ökonomische und ideologische Implikationen. Dieser Aspekt wurde in EI autorn6vil gris etwa durch den starken Akzent verdeutlicht, mit dem die Benshi Spanisch sprach und dadurch, dass die Untertitel, als sie vom Japanischen ins Spanische wechselte, bewusst aus einem grammatisch inkorrekten Deutsch bestanden. Dies hatte durchaus einen komischen Effekt, vor allem wenn eine antiquierte Sprache benutzt wurde. So sagte die Benshi beispielsweise über einen der Ganoven nach einem Rendezvous: "Zufrieden über seinen Triumph durch Beharrlichkeit und Liebeswürde, Chao, eingebildete Frauenheld und Eroberer, ist gekleidet wie ein Geck". Es ist daran zu erinnern, dass Irene Akiko Iida als Tochter japanischer Eltern in Mexiko-Stadt geboren wurde und nach der Schulzeit für zwanzig Jahre nach Japan ging. Erst in den 1990ern kam sie zurück und sprach zunächst nur mit einem starken japanischen Einschlag Spanisch: "When we started the project, she was tallcing with this Japanese accent. She had to leam Spanish and also how to talk in the Mexican way." (Valdes Kuri im Interview mit der Autorin, Juni 2005)
Aber dennoch: Wie könnte man behaupten, dass Mexikanisch nicht Irenes Sprache ist, wenn sie doch sogar in Mexiko geboren und aufgezogen wurde? Auf Deutschland übertragen: Ist der Slang in Deutschland lebender Türken, die sogenannte "Kanaksprak", Deutsch? Es liegt hier also ein identitätspolitisches Problem vor, das eng auch mit Fragen von Nationalkultur, Migration und Integration verbunden ist - ähnlich wie ich es für die Abgrenzbarkeit von Kulturen beschrieben habe. Sprachen - hier im engeren Sinne verstanden als Einzel- oder Landessprachen- sind in sich facettenreich, es gibt Variationen, Dialekte, sie sind performativ und ändern sich beständig. Die Behauptung von Homogenität und Reinheit impliziert auch in diesem Fall Einschluss und Exklusion gleichermaßen und dient der Konstruktion kollektiver Identitäten. Dies zeigt gerade die Geschichte (post-)kolonialer Gesellschaften mit ihren erbitterten Kämpfen um National- und Amtssprachen. Es war immer ein zentrales Ziel der Kolonialmächte, die eigene Sprache in den eroberten Gebieten durchzusetzen - ein besonders effizientes Mittel, um Kontrolle zu erlangen, das, betrachtet man etwa die dominanten Sprachen in Amerika (Spanisch, Portugiesisch, Englisch), bis heute nachwirkt: "One of the main features of imperial oppression is control over language. The impe1ial education system installs a ,standard' version ofthe metropolitan langnage as the norm, and marginalizes all ,variants' as impurities [... ]. Langnage becomes the medium through which a hierarchical structure ofpower is perpetuated, and the medium through which conceptions of ,truth', ,order', and reality become established." (Ashcroft et al. 2002: 7)
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Auch Theater hat dazu beigetragen, Sprachpolitiken durchzusetzen: "Moreover the theatre has often, consciously or less consciously, been seen and employed as an instrument of cultural and linguistic solidification. As a public art devoted to cultural self-reflexivity, theatre has not only reflected but often helperl to reinforce and to crystallize nmms ofsocial action." (Carlson 2006: 3)
Mexiko, ein Land, das durch den spanischen Kolonialismus grundsätzlich transformiert wurde, woran in EI autom6vil gris nicht bloß die Kolonialarchitektur des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt erinnert, die in dem Film ständig zu sehen ist, sondern wozu auch die spanische Sprache gehört, ist ein anschauliches Beispiel für die komplexen und verschachtelten Zusammenhänge zwischen Kultur- und Sprachpolitiken und kollektiven ldentitäten. Es ist sicherlich nicht zuletzt der (post)kolonialen Situation zuzurechnen, dass sich lateinamerikanische Länder besonders schwer mit der Konzeption selbstbestimmter kultureller Identitäten taten. Gerade auch in der Zeit, aus der der Film El autom6vil gris stammt, waren solche Fragen in Mexiko virulent: Ein ausgeprägter Nationalismus und Antiamerikanismus bestimmte die Zeit nach der Revolution von 1910 und die Kulturpolitik des damaligen Bildungsministers Jose Vasconcelos: "Gegen die Bedrohung durch die USA, gegen regionale und ethnische Zersplitterung des Landes, aber auch in der Furcht vor den Folgen der Migration zwischen beiden Ländern setzte er auf die Entwicklung einer gemeinschaftsstiftenden volkstümlichen Nationalkultur. Dafur g1ündete Vasconcelos ein Ministe1ium fur öffentliche Bildung und Erziehung, fuhrte Alphabetisierungskampagnen durch und versammelte Künstler und Literaten, die sowohl in den prähispanischen Traditionen Mexikos wie in der Volkskunst den Ausdruck der mexicanidad suchten." (Baxmann 2002: 32)
Künstler sollten "mexikanische" Formen und Themen bearbeiten, im Kontext einer patriotischen Festkultur bildeten sich Nationaltänze wie der Jarabe heraus. Ein besonderes Feindbild waren die Pachucos, die als Kinder mexikanischer Arbeitsmigranten in den USA aufgewachsen waren und sich keiner Kultur allein zugehörig fühlten. Sie entwickelten eine Subkultur und eine eigene Sprache, die Englisch und Spanisch mischte: Sie galten als "Verräter und Entwurzelte, die sich zu fein waren für ,EI Barrio'" und tanzten den aus dem Jazzumfeld stammenden Jitterbug, der auf afroamerikanische Einflüsse verwies (vgl. ebd.: 34). Die Sequenz der Aufführung, in der die Benshi vokale und tänzerische Jazzimprovisationen vorführte, ist vor diesem Hintergrund bedeutsam: Die japanische Filmsprecherin transformierte sich zu einer wilden Tänzerin, die auf afroamerikanische Traditionen zurückgriff. Kulturtechniken afrikanischer Provenienz werden häufig als Gegensatz zu asiatischen dargestellt - ihre Ästhetik und Körperverwendung gelten stereotyp-rassistisch als "heiß", 246
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"natürlich", "tranceartig", die asiatischen hingegen als "kühl", "raffiniert", "kontrolliert". Durch den Überraschungseffekt dieser Sequenz wurde evident, wie stark unsere Bilder des asiatischen Körpers durch Körpertechniken geprägt sind, wie ich sie eingangs anhand des Lear für das No-Theater beschrieben habe: Äußerste Zurücknahme, Halten der Energie in der Körperrnitte. Hier tanzte dagegen eine Frau mit einem sich in alle Himmelsrichtungen krümmenden, verausgabenden Körper und erstaunte das Publikum damit. Es wurde jedoch nicht nur das Stereotyp von der zurückhaltenden Asiatirr dekonstruiert. Es wurde auch auf Hierarchien und Werturteile, auf die häufig rassistisch gefarbte Ungleichheit von Sprachen und Kulturtechniken verwiesen. Valdes Kuri inszeniert konsequent mehrsprachig und arbeitet auch die spezifischen Qualitäten von Mischformen heraus. Er stellt eine japanisch aussehende Mexikanerin auf die Bühne, die afroamerikanische Traditionen aufgreift. Mit dem Film EI autom6vil gris führt er ein Mexiko vor Augen, das dem heutigen Land fremder nicht sein könnte. Indem er so die Hybridität von Kulturen und Sprachen akzentuiert, inszeniert er auch ein üblichen Mustern zuwiderlaufendes Modell der eigenen mexikanischen Identität, als deren Repräsentant er - gewollt oder ungewollt auf seinen Tourneen im Ausland und auf internationalen Theaterfestivals wahrgenommen wird. Valdes Kuris Gegenmodell stimmt weitgehend mit den Vorstellungen des in Mexiko lebenden argentinischen Philosophen und Anthropologen Nestor Garcia Canclini überein: "[...] that for being the land of pastiche and bricolage, where many periods and aesthetics are cited, we have had the pride of being postmodern for centuries, and in a unique way. Neither the ,paradigm' of imitation, nor that of originality, nor the ,the01y' that attJibutes eve1ything to dependency, nor the one that lazily wants to explain us by the ,marvelously real' or a Latin American SU!Tealism, are able to account for our hybrid cultures." (Candini 1995: 6)
Jenseits der identitätspolitischen Semantik, die in der Verwendung von Sprachen liegt, und die strukturell den in Ralph Lernans Searching for Horne behandelten Problemen ähnelt, wurde in EI autom6vil gris zudem der zweite zentrale politische Aspekt von Übersetzung - die Bedeutung interpretatorischer Macht - evident. Denn einerseits musste man sich als Zuschauer darauf verlassen, dass die Übersetzungen und Erklärungen adäquat und nicht verfalschend waren, andererseits konnte man sich aber dadurch, dass in der Aufführung verschiedene Ebenen und Formen von Fälschungen und Betrügereien eine wichtige Rolle spielten, dessen nie gänzlich sicher sein. Die Macht des Übersetzers Das Themenfeld Theatralität und Authentizität, Lüge und Wahrheit verhandelt Valdes Kuri, der schließlich vom Dokumentarfilm kommt, zum einen durch spezifische Inszenierungsstrategien, die die Medialität der 247
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eingesetzten Kunstformen hervorheben - also von Live-Performance/ Theater, dem "lebendig" wirkenden Artefakt Film, von Musik. Dadurch, dass die Materialität des Films als Montage hintereinander geschnittener Fotos vor Augen tritt, dadurch, dass mit dem Auseinanderfallen von Einsprechen und Filmfigur ein synthetisierender Effekt ausbleibt und dadurch, dass die Anwesenheit leibhaftiger Menschen vor der Kinoleinwand verhindert, dass der Zuschauer "in den Film hineingezogen" wird, wird nicht weniger als der Status von Wirklichkeit fragwürdig. Oder, um es mit Fischer-Lichte auszudrücken: "Es geht um die Frage ihres Konstruiertseins oder ihrer empirischen Vorgängigkeit, um die Frage ihrer Ästhetisierung und damit um die Frage nach der Gültigkeit der für unsere Kultur traditionellen und typischen Entgegensetzung der positiv besetzten Begriffe Sein, Wahrheit, Authentizität mit den negativ besetzten Schein, Simulation, Simulakrum. [... ] Inszenierung [lässt] sich durchaus als Schein, eine Simulation, ein Simulakrum begreifen. Es handelt sich dabei jedoch um einen Schein, eine Simulation, ein Simulakrum, die allein fahig sind, Sein, Wahrheit, Authentizität zur Erscheinung zu bringen." (Fischer-Lichte 2006: 23)
Zum anderen scheint das Thema auch auf Ebene des erzählten Plots auf, in dem es um die Verstellungskünste der Ganoven geht- ihr Erfolg liegt in der perfekten Mimesis. Außerdem lag eine besondere Attraktion des Films, mit der man seinerzeit entsprechend warb und die auch im Vorspann Erwähnung findet darin, dass in den Häusern gefilmt wurde, in denen die Überfalle tatsächlich stattgefunden haben sollen. Einige der Opfer verkörperten sich angeblich selbst, ebenso der Polizeiinspektor Juan Manuel Cabrera, der die Bande in der Realität überführt hatte und am Filmdrehbuch beteiligt war. Die letzte Filmszene zeigt die Hinrichtung der Verbrecher. Sie ist Dokumentarmaterial: Enrique Rosas hatte die Exekution 1915 gefilmt, das dabei entstandene Filmmaterial war Ausgangspunkt für ihn, die Geschichte der Bande filmisch zu verarbeiten. Deren Trick bestand wie gesagt darin, sich mit echten Militäruniformen zu verkleiden. Die Tatsache, dass eine bewaffnete Verbrecherbande über einen längeren Zeitraum mit offiziellen Uniformen und Dokumenten ihr Unwesen treiben konnte, sorgte in der mexikanischen Öffentlichkeit für Gerüchte, sie habe enge Verbindungen zu mächtigen Offizieren. Das Chaos der mexikanischen Revolution - in den ersten fünf Revolutionsjahren wechselte die Regierung fünfmal - schien die Aufdeckung auch nicht gerade günstig beeinflusst zu haben; die Bande beging unter dem zapatistischen Regime ebenso viele Verbrechen wie unter Venustiano Carranza. Allerdings zeigt der Film eine weniger komplizierte Version der Geschichte: Hier finden alle Verbrechen während der Zapata-Ära statt. Enrique Rosas Koproduzenten waren Mimi Derba, eine berühmte Sängerirr jener Zeit und ihr Freund General Pablo Gonzales, der, und hier liegt der Clou, einer der höchsten Militärs unter Carranza war.
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Ihm wurde nachgesagt, mit der Bande unter einer Decke zu stecken. 155 Insofern ist der Film EI autom6vil gris ein komplexes Gewebe aus Fiktion, Dokumentarmaterial, Inszenierung, Propaganda und handfesten politischen Intrigen: Das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, interpretatorischer Macht und Fälschung spielt in jeder Hinsicht eine zentrale Rolle. Die Ambiguität zwischen Dichtung und Dokument betraf auch die Texte, die in der Aufführung EI autom6vil gris parallel zur Filmvorführung eingesprochen wurden: Das Originalskript von Enrique Rosas war nur eine Textquelle unter anderen. Es gab auch Texte, die sich auf Recherchen von Valdes Kuri in Archiven und auf Gespräche mit Zeitzeugen stützten. Außerdem flossen sprachliche Improvisationen aus der Anfangsphase der Proben ein, als die Performerinnen Rosas' Skript noch nicht kannten: "For the first ten minutes Irene made her text on her own. I do not know what she is saying until now. I asked her to find voices or accents which could fit to the character." (Valdes Kmi im Interview mit der Autorin, Juni 2005)
Man konnte sich als Zuschauer also keineswegs darauf verlassen, dass es sich bei den Texten, die vorgetragen wurden, um die ursprünglich vorgesehenen handelte. Dies wurde am deutlichsten in den Szenen vor Augen geführt, in denen die Unwahrscheinlichkeit der Authentizität auf der Hand lag. Beispielsweise in einer Sequenz gegen Ende, die ein Verhör auf der Polizeistation zeigt: Der Text wurde abwechselnd von den beiden Frauen auf Spanisch eingesprochen, die Untertitel übersetzten ins Deutsche und zeigten, dass es sich schwerlich um den Originaltext handeln konnte. Es wurde nämlich das Verb "Küssen" durchdekliniert, was in Kombination mit dem filmischen Geschehen ausgesprochen witzig wirkte: "Küssen wir, Chef?" - "Küss mich viel"- "Ich habe ihn geküsst." - "Küsse Sie!""Ich küsse, Du küsst, er küsst, wir küssen ... "
Worum es in dem Verhör ging, das man visuell als solches deutlich erkannte, blieb im Dunklen. Das war trotz der Komik insofern störend, als es sich offensichtlich um eine Schlüsselszene handelte, deren Dialog man gern verstanden hätte um dem weiteren Geschehen folgen zu können. Die interpretatorische Macht der Einsprecher, der man sich in El auto155 Valdes Kuri über Gonzales: "Er zahlte dafür, dass der Film gedreht wird, weil es Gerüchte gab, dass er das eigentliche Gehirn der Bande war. Wahrscheinlich wurde er von einer unglaublich wichtigen Person protegiert, denn er war dabei, Präsident von Mexiko zu werden- ist es dann allerdings nicht geworden. Wir wissen nicht, ob er der Kopfwar oder nicht. Der Film filtert die Ereignisse ja mehrfach." (vgl. Claudio Valdes Kuri im Interview mit Carola Dürr. In: Pressemappe Mexartes-Berlin.de 2002, Mai 2002).
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m6vil gris nicht nur an dieser Stelle, sondern immer wieder während der Aufführung recht ausgeliefert fühlte, hatte übrigens in Japan zwischen 1915-25 auch zu heftiger Kritik an den Benshi geführt: "The Pure Film Movement's attack was brutal, as when some pronounced, ,Both benshi and rabid dogs should be exterminated.' [... ] From top city benshi to country benshi, it was the nature of the profession to wield interpretative power over films." (Dym 2003: 144ff.)
Insgesamt wurde in El autom6vil gris - versteht man den Film als filmischen Text und die eingesprochenen Passagen als verbalsprachlich vorgebrachten Text- eine in sich widersprüchliche intertextuelle Beziehung aufgebaut, was der Konvention audiovisueller Medien zuwiderläuft, akustische und visuelle Elemente übereinstimmend zu inszenieren, damit sie sich gegenseitig in ihrem "Wahrheitscharakter" bestärken. Die Tatsache, dass im Film gezeigte, politisch inopportune historische Fakten narrativ "zurechtgerückt" und gleichzeitig ein illusionistischer Dokumentarcharakter erzeugt wurde, regte zur Reflexion an, wie eine Kritik in der Berliner Zeitung zeigt: "Aber so ulkig es klingt, wenn eine piepsende Geisha auf der Bühne die Stimme eines griesgrämigen Polizisten auf der Leinwand imitiert, dieser komödiantische Zerrspiegel hat es in sich. Durch ihn sieht man den pathetischen Propagandafilm von einst nicht nur als Comic sondern simultan als Aufklärungsinstrument und historisches Dokument. Wer in ähnlicher Weise auf die eigene Geschichte zu sehen versteht, kommt vielleicht auch seiner Identität näher." (Meierhenrich, Doris: Kultureller Entschlüsse/service. Fremdes Theater aus Mexiko und Indonesien beim .. InTransit "-Festival. In: Berliner Zeitung 11./12.6.2005)
Es wird in El autom6vil gris deutlich: Je nachdem, wie einzelne Zeichen, Bilder, Artefakte inszeniert, kombiniert und präsentiert werden, kann ein völlig anderer Sinn entstehen. Und so erscheinen auch Politik und Geschichtsschreibung als gesellschaftliche Bereiche, die theatralen Charakter haben und bei denen die Frage nach der Repräsentation und nach Machtverhältnissen kritisch gestellt werden muss. Zum Thema "interpretatorische Macht" ist außerdem anzumerken, dass nicht immer deijenige tatsächlich Macht haben muss, der sich mächtig fühlt. Es kann rasch passieren, dass man seine eigenen Kenntnisse und interpretatorischen Fähigkeiten überschätzt. Dies wurde mir auch in El autom6vil gris klar: Im Zusammenspiel der Untertitel mit dem gesprochenen Spanisch, das ich als Fremdsprache einigermaßen "verstehe", musste ich mehrfach erleben, dass ich zu schnell mit einer Deutung parat stand, die auf Ähnlichkeit, aber keineswegs auf- noch nicht einmal tendenzieller - Übereinstimmung beruhte. Erkennt man im Fremden das Vertraute, heißt es noch lange nicht, dass es sich tatsächlich um das Ver250
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traute handelt; es kann auch homologe Zeichen geben, ähnliche Bedeutungsfelder, die aufgrund einer scheinbaren Nähe zum Vertrauten Stichwort false friends - einen besonders dichten Schleier über die Differenz legen. In diesem Zusammenhang sei auch an den subversiven Sprachgebrauch erinnert, den ich weiter oben anhand des afroamerikanischen Signifying beschrieben habe, bei dem Schwarze Worte des American English mit anderen, eigenen Bedeutungen belegen. Denn diese Sprache nutzt den Effekt aus, dass der andere nicht versteht, dass er nicht versteht: Sie diente den Sklaven dazu, auch dann miteinander zu kommunizieren, wenn Weiße dabei waren, ohne diesen Möglichkeit zu geben, ihre Worte zu dekodieren. Hier zeigt sich, dass das Problem der Übersetzungstätigkeit schon in der Muttersprache beginnt: "Das Problem der Interpretation gilt für die Muttersprache ebenso wie für die Fremdsprachen. Für Sprecher derselben Sprache stellt es sich in Form der Frage: Wie lässt sich feststellen, dass die Sprache dieselbe ist?" (Davidson, Donald [1990]: Wahrheit und Interpretation. Frankfurt a.M.: 183. Zitie1i nach Hammerschmidt 1997: 202)
Wer sich mit Übersetzung befasst, muss sich daher der Frage stellen, ob Eigenes und Fremdes sich tatsächlich trennscharf unterscheiden lassen, oder ob das Bemühen, eine strikte Grenze zu ziehen, das Verstehen und damit auch eine adäquate Übersetzung nicht gerade verhindert.
Fremdverstehen in EI automovil gris Die Frage, was Übersetzen heißen kann und inwieweit es sich als sinnvolles, mögliches Unterfangen werten lässt, hat ihren Fluchtpunkt in dem zugrunde gelegten Begriff von Fremdverstehen - egal, ob das "Fremde" in der Sprache oder in anderen denkbaren Aspekten der Verschiedenheit (das zeitlich Fremde, das Fremdkulturelle, das andere Geschlecht usw.) besteht. Denn eines ist offensichtlich: Möchte ich das Fremde übersetzen, muss ich es, ganz unabhängig davon, wie ich den Translationsprozess als solchen gestalten möchte, erst einmal verstehen. Hans-Georg Gadamer hat in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) die Hermeneutik als universelle Theorie des Verstehens philosophisch entwickelt. Der Versuch, etwas zu verstehen, ist bei ihm, vereinfacht ausgedrückt, der Versuch, eine andere Subjektivität in den Horizont der eigenen Subjektivität zu übersetzen. 156 Verstehen lässt sich als "Verschmelzung" der beiden Horizonte begreifen. Dabei hat Gadamer verdeutlicht, dass Interpretation und Verstehen immer auf die eigene Welterfahrung bezogen sind. Gadamer spricht dem Menschen also eine objektive Erkenntnis a 156 Was das Paradoxon beinhaltet, das den hermeneutischen Zirkel begründet: Verstehen ist Übersetzen und Übersetzen setzt Verstehen voraus.
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priori ab, wobei er versucht, die Aporien des Historismus mit der These aufzulösen, der Traditionszusammenhang garantiere das Verstehen, das weniger als "eine Handlung der Subjektivität zu denken [ist], sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" (Gadamer 1965: 27). Die Verschmelzung der Horizonte sei nicht als das Verschmelzen zweier klar abzugrenzender Einheiten zu begreifen, weil die Horizonte selbst in einen permanenten Prozess eingebunden seien. Daher bestehe auch keine Polarität zwischen fremd und vertraut und das "Zwischen", das zwischen Fremdheit und Vertrautheit oszilliere, sei der "wahre Ort der Hermeneutik" (ebd.: 289). Universalismus - Relativismus - Ethnozentrismus
Gadamers Argumentation leuchtet weitgehend ein, das Heikle an ihr sticht jedoch hervor, wenn es nicht mehr um das historisch Fremde geht, dem die Gadamersche Hermeneutik im Großen und Ganzen gewidmet ist, sondern um etwas, das einem fremden Kulturkreis entstammt. Dann werden viele Gedanken Gadamers offenkundig problematisch. So etwa: "Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist." (Ebd.: 11)
Denn hier verbirgt sich die Gefahr einer Verkennung der irreduziblen Andersheit und damit einer Neutralisierung des spezifischen Eigensinns des Fremden im Kontext einer Machtbeziehung, in der das Eigene das Fremde unterwirft, ausgrenzt oder auslöscht. Dies entspricht der These Waldenfels', alles Fremde provoziere typischerweise Ego- und Logozentrismus, durch deren Zusammenwirken letztlich Ethnozentrismen wie der Eurozentrismus entstünden (vgl. Waldenfels 1998: 60ff.). Im Egozentrismus wird alles auf das Ich bezogen, das Fremde wird zur bloßen Variation des Eigenen, wobei dieses dem Fremden überlegen scheint. Der Logozentrismus ordnet alles einer großen Gesamtordnung unter, die durch die Vernunft bestimmt wird; das Fremde wird in einen totalen Denkraum integriert und so in letzter Konsequenz aufgelöst. Die klassischen Bewältigungsstrategien der Fremdheitserfahrung sind nach Waldenfels damit Aneignung und Enteignung. Im Vorgang der eurozentrischen Aneignung kommt universalistische Arroganz zum Ausdruck: Abweichungen von westlichen Rationalitätsmaßstäben werden als Zeichen unterentwickelter Intelligenz oder als Symptome eines gefährlichen Irrationalismus gewertet. Bei der Enteignung wird dagegen das Eigene zugunsten des Fremden aufgegeben: "Das Kind wird zum rettenden Kind, der Wilde zum guten Wilden, Krankheit zur heiligen Krankheit." (Waldenfels 1998: 63)
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Damit ist die Egozentrik jedoch nur vordergründig beseitigt, sie weicht der Exotik. Das Fremde wird zwar sehnsüchtig, aber nur im Kontrast und damit im Bezug zum Eigenen gesehen und bewertet. Die Faszination für das Exotische kannjederzeit in Verachtung umschlagen, weil das Andere lediglich als Projektionsfläche dient und sich leichter aus der Feme und in der Imagination verherrlichen lässt: "Ihm tatsächlich zu begegnen hat jedoch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dazu geführt, daß die Normen der eigenen Kultur verabsolutiert und in den Dienst einer Abwehr der eigenen Gefühlsregungen gestellt wurden." (Kohl 1987: 90)
Auch Derrida sieht eine klare Verbindung des Logozentrismus der abendländischen Philosophie mit dem Ethnozentrismus, der seiner Ansicht nach für die Zeit Rousseaus bis ins späte 20. Jahrhundert typisch ist (vgl. Derrida 1983: 173ff.). Scharf kritisiert er den Rousseauisten LeviStrauss: Bei ihm liege der Ethnozentrismus ausgerechnet in einer Kritik am Ethnozentrismus versteckt. Die Abwertung von tribal oder agrarisch lebenden Ethnien weiche zwar einer Bewunderung, zugleich würden die Anderen jedoch wegen ihrer Unkenntnis der Schrift auf einer niedrigeren Stufe stehend eingeordnet (vgl. ebd.: 178ff.). In einer erhellenden Lektüre arbeitet Hermann Hofer einen durchgängigen Exotismus in den Rousseauschen Schriften heraus und erklärt diesen zum zentralen ideologischen Baustein des Kolonialismus: So habe der "gute und schöne Wilde [ ... ] Schlafmittelfunktion: Er soll den aufrührerischen und ausgemergelten Sklaven vergessen lassen." (Hofer 1987: 148f.) Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Gadamersche Begriff vom Fremdverstehen keineswegs harmlos oder unpolitisch ist: Mit ihm ist die Vereinnahmung fremder Traditions- und Denkzusammenhänge verbunden. Gadamer schafft es nicht, die horizontverschmelzende Einheit des Gestern und Heute über die Grenzen einer tradierten Weltanschauung hinaus auf das kulturell Fremde auszudehnen, zumal hier die Kluft durch die Fundierung des Verstehens in der Sprach- und Lebenswelt noch größer wird (vgl. Hanunerschmidt 1997: 121). Hinzu kommt, dass Gadamer einen konkreten Traditionszusanunenhang universalisiert, und zwar unter Berufung auf den Historiker Leopold von Ranke den abendländischen: "Ranke erkennt es als den vornehmsten Unterschied des orientalischen und okzidentalen Systems, dass im Abendland die geschichtliche Kontinuität die Daseinsfoml der Kultur bildet. Insofern ist es nicht beliebig, dass die Einheit der Weltgeschichte auf der Einheit der abendländischen Kulturwelt beruht, zu der die abendländische Wissenschaft im Ganzen und die Geschichte der Wissenschaft im Besonderen gehören. Und es ist auch nicht beliebig, daß diese abendländische Kultur durch das Ch1istentum geprägt ist, das in der Einmaligkeit des Erlösungsgeschehens seinen absoluten Zeitpunkt hat." (Gadamer 1965: 196)
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Allerdings ist einzuräumen, dass auch der Relativismus keine angemessene Antwort auf eine solche Universalistische Position darstellt - nicht zuletzt aus ethischen Gründen, da er zu einer Verfestigung der Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden führen und in eine problematische kulturelle Segregation münden kann. Spätestens in Zeiten der Globalisierung ist deutlich geworden, dass die gleichzeitige Existenz von Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung an einem Ort es erfordert, Ambivalenzen auszuhalten und gleichzeitig Regeln für das Zusammenleben und zur gegenseitigen Verständigung auszuhandeln. Dass gerade auch letzteres notwendig ist, wurde in EI autom6vil gris vor allem in der Phase vorgeführt, in der eine Überfülle von Sprachen und Zeichen gleichzeitig zum Einsatz kam, so dass ich schließlich mangels brauchbarer Orientierungsmuster überhaupt nicht mehr hinhören konnte, überfordert und irritiert war und schließlich die Ohren "abschaltete". Es geht also darum, einen Begriff kulturellen Fremdverstehens zu entwickeln, der zwei sich scheinbar widersprechenden Ansprüchen gerecht zu werden vermag: dem kognitiven Anspruch, das Fremde zu verstehen, und dem ethischen Anspruch, das Fremde zu respektieren. "Zwischenleiblichkeit" als Möglichkeit der Annäherung EI autom6vil gris zeigt nicht, wie man meinen könnte, nur die Unmöglichkeit des Verstehens auf. Die Aufführung zielt nicht auf die demonstrativ-endgültige Destruktion, sondern sie spielt kreativ in den Nischen des Scheiterns platter Übersetzungs- und Kommunikationsbegriffe neue und andere Möglichkeiten der Verständigung durch. Dabei wird der Zuschauer mit seinen kognitiven, sinnlichen und emotiven Fähigkeiten zum Verbündeten. Bereits die Alltagserfahrung zeigt, dass der Versuch des Fremdverstehens nicht unbedingt immer als aggressiver Übergriff zu werten ist. Das hängt einerseits damit zusammen, dass Verstehen Abstufungen kennt; so war die gesamte Rezeptionserfahrung, wie ich sie für EI autom6vil gris beschrieben habe, eine wechselnde Abfolge von dem Eindruck zu verstehen, und dem, nicht zu verstehen. Den Zuschauern der Aufführung wurde bewusst, dass es unterschiedliche Grade von Verständlichkeit und Unverständlichkeit gibt, nicht bloß "Eigenes und Fremdes": Die Konfrontation mit der spanischen Sprache ("bekannte Fremdsprache") und mit der japanischen Sprache ("unbekannte Fremdsprache") löste je völlig andere Wahrnehmungsprozesse aus -wobei nicht der Ausgangskode sondern auch der Zielkode eine Rolle spielte (etwa in deutsche Untertitel oder Lautsprache). Die Aufführung sensibilisierte so auch flir die Vielzahl unterschiedlicher Übersetzungskonstellationen und deren spezifischen Bedeutung für den Umgang mit dem Fremden. Zum anderen, das macht Annette Hammerschmidt deutlich, handelt es sich beim Verstehen nicht um ein ausschließlich kognitives Problem,
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sondern um eines, das mit sozialen Beziehungen, sinnlichen Erfahrungen und Emotionen zu tun hat; so eröffnen etwa beim Sprechen Stimme, Intonation, Modulation und Rhythmus einen Zugang zur Befindlichkeit des Verstehens (vgl. Hammerschmidt 1997: 222). Verstehen ist als ein Prozess zu begreifen, der "feinsinniger als Rationalität im herkömmlichen Sinne, dem Reich des Intuitiven nah" ist (vgl. ebd.: 242f.). MerleauPonty schreibt in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung der Leiblichkeit die Fähigkeit zu, einen "intentionalen Bogen" zu spannen, "der die Einheit der Sinne, die Einheit der Intelligenz und die Einheit von Sinnlichkeit und Motorik ausmacht" (Merleau-Ponty 1966: 164f.). Wir verstehen folglich, mit Merleau-Ponty gesprochen, mit unserer Leiblichkeit. Dass Valdes Kuri die Benshi-Kunst in EI autom6vil gris integriert, ist daher signifikant: Sie lässt sich als eine spezifische Form der Übersetzung verstehen, die auf Oralität und daher besonders auf Leiblichkeit basiert. Zur Kunst der Benshi
Die ersten, meist westlichen Stummfilme kamen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nach Japan. Dem Publikum waren sowohl das Medium als auch die Inhalte damals ganz neu und fremd (vgl. Dym 2003: 8f.). Es war aber durch Nö und Kabuki diverse Formen des storytelling gewohnt; beide Theaterformen enthalten narrative Elemente, die parallel "erzählen", was gerade auf der Bühne dargestellt wird. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Kunst der Benshi - die dem Publikum teils auch vor Vorstellungsbeginn Einführungen gaben und anfangs sogar noch die Projektionstechnik erklärten. Die Benshi kontextualisierten die Filme also kulturell, sie kommentierten und erklärten aus japanischer Sicht Szenen, die dem Publikum fremd waren. Rissen Filme, überbrückten sie die Lücken. In den 1920ern ging man in Japan mehr und mehr dazu über, Zwischentitel zu benutzen, die Benshi blieben trotzdem. Ihre Rolle wandelte sich vom Informativen zum Unterhaltsamen hin. Sie erfreuten sich größter Popularität; ihre Namen waren es, aufgrund derer man bis in die späten 1930er in Japan in die Kinosäle strömte, nicht die der Filmschauspieler (vgl. ebd.: 2ff.). Dies ist insofern interessantes Phänomen, als es auf die Bedeutsamkeit der körperlichen Präsenz der Benshi verweist. Dass man lange auf die Benshi nicht verzichten wollte, hängt möglicherweise damit zusammen, dass durch die persönliche Anwesenheit ein tendenziell reflexives Verhältnis zwischen dem ästhetischen Gegenstand und den Zuschauern entsteht, das Verständigungsprozesse erleichtern kann. Es ist generell, so Fiebach, ein Merkmal oraler Traditionen, dass sie in hohem Maße flexibel sind und von Vortragenden und Publikum ständig modifiziert und angepasst werden:
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Aus diesem Sachverhalt leitet Fiebach auch die relativ offene und pragmatische Haltung vorwiegend oral geprägter Gesellschaften im sozialen Umgang ab. Es wird daher im Folgenden zu fragen sein, ob Bharuchas Hoffuung berechtigt ist, im Theater, das sich schließlich durch leibliche Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern sowie Oralität auszeichnet, könnten interkulturelle Verständigungsprozesse besonders gut gelingen: "Intercultural spectatorship prepares one to see what cannot be understood through words. Through the smallest of details, one can ,Iisten' to how other parts of the body can ,speak' . This peculiarly synaesthetic approach to performances in other cultures is actually a means of compensating for the inadequacies of one's comprehension." (Bharucha 2000: 15)
Was die Kunst der Benshi betrifft, so ist sie, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, insbesondere eine Sprech- und Stimmkunst Benshi sahen ihre Aufgabe stets darin, den Figuren in den Filmen mit ihrer Stimme Charakter und emotionale Tiefe zu verleihen: "If a benshi could modulate his voice to coincide with the emotional ups and downs ofthe movie, he could keep the audience in the edge oftheir seats. Thus, for many spectators, the emotional expression of the benshi's voice was more important to the words he spoke." (Dym 2003 : 185f.)
Sprechen, Sinnlichkeit und Stimme Das gesprochene Wort unterscheidet sich vom geschriebenen Wort durch seine körperliche Dimension, denn es ist die Hervorbringung von Schallwellen bzw. Lautketten mittels des menschlichen Körpers: "Wenn der geschriebene Text Stimme wird, wandelt er sich grundlegend, solange Hören und sprachlich-körperliche Gegenwart andauern. Jenseits der Gegenstände und der Bedeutungen, auf die sie sich bezieht, verweist die Rede auf das Unbenennbare. Die Rede ist nicht einfach die Vollstreckerirr des Sprachsystems. Sie bestätigt nicht nur nicht vollständig dessen Vorgaben, sondern handelt ihm oft, in ihrer ganzen Körperlichkeit, zu unserer Überraschung und unserem Vergnügen zuwider." (Zumthor 1995: 708f.) 157
Dies offenbarte sich auch in Valdes Kuris Inszenierung, denn die Körperlichkeit der Schauspielerinnen wurde vor allem durch ihre Stimmen 157 Vgl. hierzu auch Roland Barthes' Essay die Rauheit der Stimme (Barthes 1998).
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spürbar: Die beiden Frauen entzogen sich immer wieder dem Begehren der Zuschauerin, sie, und vor allem ihre Gesichter zu sehen, indem sie im Dunklen oder Halbdunklen verschwanden oder dem Zuschauersaal den Rücken znkehrten. Man nahm ihre Körper dadurch weniger visuell als akustisch wahr. Interessanterweise reduzierte das nicht ihre Präsenz, sondern verstärkte sie eher, wobei Präsenz hier nicht als bloße leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Darstellern gemeint ist, sondern mit Hans-Thies Lebmann als spezifisch theatrale Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Abwesenheit, die immer auch eine Verlusterfahrung ist, denn "Entzug erst mobilisiert die emotionale Intensität von Präsenz" (Lehmann 1999: 13). Gerade vor dem Hintergrund postkolonialer Kritik ist der Präsenzbegriff Lehmmms und auch der Fischer-Lichtes von Bedeutung: So entwickeln beide entgegen der im interkulturellen Theater zuweilen essentialistisch gefärbten Betonung des Real-Physischen einen Begriff von Präsenz, der sich dem dichotomischen Geist-Körper-Konzept verweigert. Lebmann argumentiert überzeugend, dass die weithin als Spezifikum des Theaters konzipierte "lebendige" Gegenwart primär ein mentales Phänomen ist, weniger ein real-körperliches. Daher kmm im Theater die Erfahrung präsentischer Intensität ebenso ausbleiben, wie sie sich bei der Romanlektüre oder im Kino einstellen kann. Allerdings ist, so Lehmann, wenn intensivierte Gegenwartserfahrung im Theater entsteht, diese immer verknüpft mit einer tatsächlichen physischen Ko-Präsenz. Diese besondere theatrale Präsenzerfahrung zeichnet sich durch eine Verlustoder Abwesenheitserfahrung aus, weil Theater stets auf etwas anderes verweist: Die Gegenwart des Theaters lässt sich verstehen als "präsente Spur einer anderen Zeit" (ebd.: 14). Prinzipiell ist Fischer-Lichte darin zuzustimmen, dass Präsenz durch spezifische Prozesse der Verkörperung erzeugt wird, "mit denen der Darsteller seinen phänomenalen Leib als einen raumbeherrschenden und die Aufmerksamkeit des Zuschauers hervorbringt." (Fischer-Lichte 2004: 165). Genauso wie in Musikaufführungen oft unterschätzt wird, dass bei einem Konzert nicht nur akustisch, sondern auch visuell, atmosphärisch, olfaktorisch usw. wahrgenommen wird, wird im Theater umgekehrt die akustische Ebene oft als Beiwerk behandelt. Hier nun war der Körper der Darstellerinnen vor allem durch die Stimme präsent. Vielfach schloss ich durch das bloße Hören der Laute, die sie hervorbrachten, auf andere körperliche Prozesse - was die realen physischen Körper noch präsenter machte: "Die enge Beziehung zwischen Körper und Stimme zeigt sich vor allem im Schrei, im Seufzen, Stöhnen, Schluchzen und im Lachen. Sie werden unübersehbar in einem Prozeß hervorgebracht, der den ganzen Körper affiziert: Er krümmt sich, verzerrt sich in Kontorsionen oder spannt sich aufs Äußerste an." (Ebd.: 219)
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Daraus zu schließen, Stimme sei per se "natürlich", reine Körperlichkeit, würde jedoch in die Irre führen. Auch Stimmverwendung ist kulturell geprägt. Das zeigt bereits der Blick in die europäische Theatergeschichte: Im 17. Jahrhundert propagierte die Deklamationslehre, die Stimme so einzusetzen, dass sie das Gesagte in seiner Wirkung verstärken sollte die Sprache gab vor, wie die Stimme einzusetzen war. Mit dem Naturalismus kam die Neuerung, dass die Intonation nicht mehr mit dem Gesagten übereinstimmen musste: "Während die Sprache lügen kann, wird der Körper als wahrhaftig, als authentisch begriffen." (Ebd.: 221)
Und auch die Kunst der Benshi war immer wieder unterschiedlichen Moden und Konzepten unterworfen: Während der Meiji- und der TaishoÄra, also bis in die Mitte der 1920er Jahre, sprachen die Benshi mit einer spezifisch verfremdeten, kratzig klingenden Stimme (dorakoe), später sollte sie eher natürlich klingen. Dass also Sprechen und Stimmeinsatz etwas mit Inszenierung zu tun haben, wurde auch in EI automovil gris immer wieder vor Augen geführt. Beispielsweise in der schon skizzierten Szene gegen Ende der Aufführung, in der die Polizei ein Haus stürmt, um eines der abgetauchten Bandenmitglieder bei seiner Verlobten Carmen zu verhaften: Die beiden Performerinnen imitierten begleitend Tierlaute - waren auf den Filmbildern die Polizisten zu sehen, bellten und knurrten sie wie eine Hundemeute, während Carmen von der Benshi als Katze gestaltet wurde. Kurze Zeit später kommt in dem Film der Ganove heim und verwickelt sich in einen dramatischen Streit mit der Polizei. Die Sprecherinnen teilten sich nun auf die verschiedenen Charaktere auf und sprachen in einem Gestus, der an die Oper erinnerte: Deklamatorisch, pathetisch, gewichtig - bis hin zu opernhaften Gesangsphrasen, die eingeflochten wurden. Diese "künstliche" Verwendung der Stimme erzeugte einen Subtext: Alle übertreiben, spielen einander etwas vor. In der Sequenz mit den Tierlauten wurde dagegen der Eindruck evoziert, es würde die "Wirklichkeit" gezeigt: Ich deutete die Filmsequenz so, dass hier nur oberflächlich Polizisten zivilisiert eine Hausdurchsuchung durchführten, "in echt" jedoch eine instinktgeleitete Horde von Männern eine Frau bedrohte. Die Oper - ich bediene ich mich hier eines vereinfachenden Bilds, das mehr mit dem zu tun hat, was wir allgemein mit "opernhaft" meinen, weniger mit den tatsächlich äußerst vielschichtigen Formen des Musiktheaters - steht gemeinhin wie kaum ein anderes Genre für Theatralität im Sinne von "Künstlichkeit" bzw. "Unnatürlichkeit". Dies resultiert paradoxerweise daraus, dass die konkrete Physis der Sänger in einer Opernaufführung derart präsent ist, dass eine realistisch-psychologische Ästhetik unmög-
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lieh wird. Die Differenz zu dem, was repräsentiert werden soll, entsteht in der Oper nicht nur durch die musikalische Ebene, die einen Naturalismus im engeren Sinne verhindert, sondern auch durch den Gesang: Dadurch, dass der Sänger unter dem Einsatz seines ganzen Körpers die Stimme in einer nicht alltäglichen Art und Weise verwendet, entledigt er sich der Möglichkeit, sich mimetisch an den Alltag anzupassen. 158 Der Effekt der letzten Sequenz - nämlich, dass ich die Tierlaute für "wahrer" hielt, als das menschliche Sprechen - hängt hingegen wohl damit zusammen, dass Tieren im Gegensatz zu Menschen die Fähigkeit, bewusst zu imitieren, abgesprochen wird und man daher sagt, dass sie sich nicht verstellen können. 159 Die spezifische Art der Stimmverwendung in EI autom6vil gris war daher auch eine ästhetische Reflexion auf das Phänomen Theatralität und gerade die häufig ironische Kunst der Benshi macht deutlich, dass die menschliche Stimme nicht unbedingt "natürlich" oder "authentisch" sein muss, sondern sogar karikieren kann. Indem die Benshi männliche wie weibliche, junge wie alte Menschen nachahmen und überzeichnen, lenken sie die Aufmerksamkeit auf (Stereo-)Typisierungen. Die Parodie - und das Gelächter, das sie hervorruft schafft eine Distanz zwischen den Darstellerinnen, den Filmfiguren und den Filmschauspielern. Ein Effekt dieser stimmlichen Mimikry besteht damit auch darin, dass sie sichtbar macht, dass Identitäten Performanzen, gleichzeitig individuell, sozial geprägt und veränderbar sind - selbst auf der Ebene der Stimme. In diesem Zusammenhang ist auch nicht zu unterschätzen, dass Claudio Valdes Kuri sich in vielen seiner Projekte mit Stimmverwendung und Gesang, darunter auch mit dem Kastratengesang befasst hat - in dem ja durch die medizinische Manipulation der Stimme eine spezifische Geschlechtlichkeit verliehen wird. 160
158 So bestimmt der Gesang die Mundöffuung. Das prägt die Mimik. Die Notwendigkeit des "Stützens" der Stimme in der Körpermitte lässt Opernsänger zudem oft steif aussehen. Durch die Anforderung des Haushaltens mit Luft und eine entsprechende Brustkorballhebung wirken sie zuweilen "aufgeblasen". Die Hinwendung des gesamten Körpers in Richtung Publikum ist raumakustischen Zwängen geschuldet, ebenso wie der Notwendigkeit, den Dirigenten sehen zu können - was unrealistisch wirkt, wenn etwa in einem Liebesduett Tenor und Sopranistin aneinander vorbei stalTen. 159 In den ersten Lebensjahren des Menschen wird der Kehlkopf abgesenkt, was diese Fähigkeit ermöglicht. In der Tierwelt kommt dies nur selten vor, die bekannteste Ausnahme ist in dieser Hinsicht natürlich der Papagei. 160 Etwa in dem Stück De Monstruos y Prodigios - La historia de los castrati (2001 ): Unter Papst Paul IV (1555-1559) durften Frauen nicht in katholischen Kirchen singen; durch Kastration erhielten sich die jungen männlichen Chorsänger ihre kindlichen Stimmen. Auch in ;.D6nde estare esta noche? - beschäftigte sich Valdes Kuri mit Geschlechteridentitäten, indem er Johanna von Orleans als Hauptfigur wählte.
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In El autom6vil gris wurde also die Grundspannung zwischen Stimme und Sprache evident. Mit Doris Kolesch formuliert: In der Stimme der Performerinnen schien das radikal Andere des Iogos auf: "Diese Stimme, die [... ] hin zur Musik tendiert, die die Sprache und den Sinn durchquert und hinter sich läßt, wird in der abendländischen Geschichte gerade nicht als Hütetin der Selbst-Präsenz eingeschätzt, sondern als eine Bedrohung. Diese Stimme jenseits des Sinns gilt als frivol, als gefährlich attraktiv und sinnlich, sowie als weiblich und fremd- sie ist die/das schlechthin Andere." (Kolesch 1999: 64i61
Das gesprochene Wort ist also immer vom Fremden durchzogen. Durch die Betonung der spezifischen Qualität von Stimme, aber auch durch Inszenierungsstrategien wie die Kontrastierung von tierischen Lautsprachen und hochkomplexem menschlichen Sprechen wurde in der Aufführung evident, dass Polyvalenz auf mehreren Ebenen zur Natur menschlicher Artikulation gehört, was letztlich eine grundsätzliche Infragestellung der Möglichkeit von Verstehen ist- und damit die Frage nach interkultureller Kommunikation und das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden in ein neues Licht rückt. Möglicherweise lässt sich ein Verstehensbegriff, der auf Eindeutigkeit und Abschließbarkeit zielt, dem es um perfekte Übereinstimmung zwischen Gemeintem, Gesagten und Verstandenen geht, nicht halten. Agieren auf der Grenze Waldenfels begreift ganz grundsätzlich jede menschliche Erfahrung als eine Auseinandersetzung mit Anderem und Anderen im Rahmen einer Zwischensphäre. Erfahrungsprozesse sind in diesem Sinne ein Zusammenwirken mit dem Fremden, bringen es gar hervor: "Erfahrungsordnungen, in denen Erfahrungen strukturieti, typisieti, normalisieti, kurz: gefiltert und zurechtgemacht werden, bewirken einen Ausschluß von Fremdartigem, der unmittelbar in der Organisation der Erfahrung beschlossen ist. Daraus folgt [... ] dass Erfahrung einen Prozeß bedeutet, in dem Eigenes und Fremdes, Eigenartiges und Fremdartiges durch Differenzierung entstehen. Diese Differenzierung nimmt verschiedene Formen und verschiedene Grade an. Eigenes und Fremdes entstehen zugleich und verändern sich zugleich." (Waldenfels 1998: 65)
Die konsequente Dekonstruktion des Denksystems, in dem Eigenes und Fremdes sich gegenseitig ausschließen, hat Derrida zum Konzept der dif}erance geführt, die jedem Sinn und Sein vorgängig ist und als Spur einer unverfügbaren Andersheit auch im Eigenen existiert. Das heißt: Das Subjekt selbst ist bereits durchdrungen vom Anderen. Deshalb gibt 161 Und so argumentiert Kolesch gegen Derrida, dass die Geschichte von Phonozentrismus und Logozentrismus nicht deckungsgleich verläuft.
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es auch keinen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Selbst- und Fremdverstehen (vgl. Hammerschmidt 1997: 217). Angesichts der irreduziblen permanenten Präsenz der Differenz ist Gadamers Definition von Verstehen - nämlich dass man das Fremde überwindet und es "vollkommen zu dem seinigen macht" (Gadamer 1965: lOf.)- zu kurz gegriffen. Im Sinne dieses epistemologischen Paradoxons der interkulturellen Kontaktsituation argumentiert Homi K. Bhabha auch, dass die kolonialen Diskurse und ihre kulturelle Praxis bereits vorweggenommen hätten, was später vom Poststrukturalismus entdeckt und verhandelt wurde: Aporien, Ambivalenzen, die Fragmentierung des Subjekts. Das Identitätskonzept der europäischen Aufklärung, das Einheit, Homogenität und Totalität entwirft, war nämlich in den Kolonien immer schon höchst problematisch (vgl. Bhabha 2000: 95). 162 Und genau diese Erfahrung machten auch die Zuschauer der interkulturellen Theaterinszenierung EI autom6vil gris, deren Ästhetik sich durchaus als programmatisch postkolonial bezeichnen lässt. Denn die Aufführung zwang einen, den eigenen, vermeintlich objektiven Standpunkt zu problematisieren: Ich habe versucht zu beschreiben, wie man als Zuschauer ständig die Strategie wechseln musste, dem Bühnengeschehen zu folgen und es "zu verstehen." So veränderte der Erkenntnisgegenstand die Betrachter und machte ihnen das auch eindrücklich bewusst. Dies besonders in den Szenen der Aufführung, die nicht so sehr auf die kognitive Annäherung zielten. Sie ließen die Erfahrung zu, dass, mit MerleauPonty gesprochen, Wahrnehmung grundsätzlich als Austauschverhältnis zu begreifen ist. Mit dem Blick tasten wir ein Objekt ab und verschränken dabei visuelle, haptische, sinnliche und abstrakte Dimensionen: "Laut, Licht, GeiliCh d1ingen im Akt der Wahrnehmung in den Körper des Wahrnehmenden ein, wirken auf ihn ein, transformieren ihn." (Fischer-Lichte 2004: 271)
Wie die Beschreibung der verschiedenen Formen des Einsprechens in El autom6vil gris gezeigt haben dürfte, gab es zwar Szenen, die sich auf die Narration konzentrierten, mit dem historischen Geschehen bekannt machten und in denen die Performance der Sprecher auf naturalistische Perfektion der Stimmgebung, des exakten Tons und der Lippensynchronisation zielte. Dies war vor allem in den mittleren Teilen der Aufführung der Fall. Die Darsteller standen dann im Dunkel, verschwanden hinter den Filmfiguren, die sie mit ihren Stimmen belebten. Der Anfang des Stücks und der zweite Akt experimentierten dagegen stärker mit stimmlicher Interferenz von Sprache, Gesang, Klängen und Geräuschen. Hier 162 Darin liegt bestimmt auch ein Grund dafür, dass die ersten Formen programmatisch hybriden, d.h. auch programmatisch postkolonialen Theaters sich in ehemaligen Kolonien entwickelt hat- wie ich anhand des Theaters eines Soyinka oder Walcott weiter oben versucht habe, anzudeuten.
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ging es um den Rhythmus des Sprechens, um Stimmqualität, den Zusammenklang mehrer Stimmen, Energie - bis hin zur musikalischen Abstraktion. Wenn die Materialität der theatralen Elemente in den Vordergrund tritt und sich die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf sie fokussiert, gerät das Verstehen im engeren Sinne an seine Grenze. Es handelt sich dann allerdings nicht zwangsläufig um eine völlige Desemantisierung. Tritt die performative Seite der einzelnen Bestandteile einer Aufführung hervor, gibt es beispielsweise die Rezeptionsmöglichkeit, sie als selbstbezüglich wahrzunehmen. Das heißt, dass dann Materialität, Signifikant und Signifikat zusammenfallen. Das Phänomen der Selbstreferentialität macht eine Unterscheidung hinfällig, auf der viele ästhetische Theorien basieren: Die zwischen der sinnlichen Wahrnehmung eines Objektes, die als ein eher körperlicher Vorgang begriffen wird, und der Zuweisung einer Bedeutung, die dem Bereich der Kognition zugesprochen wird (vgl. ebd.: 246). Und so kann man an MerleauPonty anknüpfen, der die klassische Unterscheidung zwischen Form und Materie und die Konzeption des wahrnehmenden Subjekts als "interpretierendes", "ordnendes" Bewusstsein grundsätzlich in Frage stellt: "Die Mate1ie geht mit ihrer Form ,schwanger', was im Gmnde so viel bedeutet wie, dass jede Wahrnehmung innerhalb eines bestimmten Horizonts und schließlich in der ,Welt' stattfindet, von denen uns sowohl der eine als auch die andere eher praktisch gegenwärtig sind, als sie ausdrücklich von uns gesetzt werden und dass die gewissermaßen organische Verbindung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und der Welt prinzipiell den Widerspmch zwischen der Immanenz und der Transzendenz umgreift." (Merleau-Ponty 2003: 26f.)
Damit lässt sich die scharfe Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Beobachter und Beobachtetem, nicht aufrechterhalten, die traditionell von Hermeneutik und Semiotik behauptet wird. Bewusstsein ist nicht die Summe von psychologischen Tatsachen oder eine reine "Repräsentationsfunktion", also reines Bedeutungsvermögen, sondern "ein aktives Entwerfen, das um sich her die Gegenstände gleich Spuren seiner Akte sein lässt, gleichwohl aber auf eben diese Gegenstände sich stützt um zu anderen Akten der Spontaneität überzugehen." (Merleau-Ponty 1966: 165). Hier liegt die entscheidende Parallele zum Subjekt-ObjektVerhältnis in der Frage des Fremdverstehens. Dadurch, dass das Subjekt sich abgrenzt, bleibt es wie gesagt auch immer berührt vom Ab- bzw. Ausgegrenzten. Rein theoretisch befindet sich das Gewicht des Subjekts in einem Balanceverhältnis zum Gegengewicht eines Objekts. Dies gilt jedoch nur so lange, wie das Subjekt abstrakt ist. Wird es zu einem konkreten Individuum, das in einer Umwelt mit Mit- und Gegensubjekten lebt und handelt, wird es im Sinne der "Zwischenleiblichkeit" (MerleauPonty) unweigerlich transformiert. Diese Beziehung zwischen dem Subjekt und dem "Anderen" bezeichnet Waldenfels im Gegensatz zu Kon-
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zepten der strikten Trennung oder Vermischung von Eigenem/Fremden oder Subjekt/Objekt als Verflechtung, "[ ... ] eine Form der Abhebung im gleichen Feld, eine gleichzeitige Deckung und Nichtdeckung wie bei den verschlungenen Bändern der Geflechte, die man an manchen Säulenkapitellen romanischer Kirchen finden kann. Wer das Geflecht entflechten wollte würde das Muster zerstören." (Waldenfels 1998: 65)
Dies lässt sich besonders im Dialog erfahren: Je produktiver er ist, je mehr Verständigungsmöglichkeiten und Maßstäbe er nicht nur anwendet sondern neu schafft, desto weniger kann man klar zwischen Sprecher und Hörer unterscheiden. In einem Dialog, der tatsächlich kein Monolog mit verteilten Rollen ist, ergibt ein Wort das andere: "Ich finde mich im Anderen und das Andere in mir im Zuge eines Wechselspiels." (ebd.: 67). Ähnlich verhielt es sich mit dem Zuschauen bei EI autom6vil gris: Es wurde deutlich, dass es auch beim theatralen Kommunikationsprozess keineswegs bloß um die Zeichenproduktion geht, sondern genauso um die Rezeption: Ich habe versucht zu beschreiben, dass sich meine Wahrnehmung je nach der Form der Übersetzung bzw. des Einsprechens signifikant verändert hat und ich mich permanent anpassen musste. Es wurden unterschiedliche Prozesse der Bedeutungskonstitution in Gang gesetzt, die Wahrnehmung eher sinnlicher Qualitäten wechselte mit Versuchen, den exakten Wortsinn zu entschlüsseln. Wenn es so ist, dass das Eigene und Fremde sich nicht trennen lassen, wird ein "Agieren auf der Grenze" zur einzig möglichen Form des Fremdverstehens. Der Blick richtet sich auf das "Zwischen". Es zeigt sich also - und das führt EI autom6vil gris sinnfällig vor Augen - dass es sowohl in einer Ästhetik des Performativen als auch in der Phänomenologie des Fremden um Zwischenräume geht, um Grenzräume, um Liminalität, um Energiefelder zwischen den Körpern, um das, was Homi K. Bhabha als third space bezeichnet. Es gilt, keine fixierten, statischen, absoluten Gegensätze zwischen Eigenem und Fremden, zwischen Subjekt und Objekt zu konstruieren, sondern das Prozesshafte und auch das Pragmatische zu betonen. Deshalb plädiert Waldenfels dafür, von Fragen nach dem total Fremden abzusehen und den Fragen von Andersseinkönnen dort nachzugehen, wo sie sich stellen (ebd.: 26) Um die "Zwischenleiblichkeit" zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu erkennen, sollten auch sinnlich-körperliche und emotive Prozesse in den Blick genommen werden.
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Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Vom Übersetzen zum Denken des Anderen Übersetzungen begleiten interkulturelles Theater von Beginn an. Dabei wurde und wird bis heute häufig der Konstruktionscharakter, der einer jeden Übersetzung eigen ist, verschleiert. Indem die Inszenierung EI autom6vil gris unterschiedliche Formen der Translation durchspielt, verdeutlicht sie, dass Übersetzung immer Transformation und nicht nur einfacher Transfer ist. Indem sie sich sowohl einer illusionistischen Theaterals auch einer entsprechenden Filmästhetik verweigert, deckt sie darüber hinaus den Sachverhalt auf, dass es auch illusionistische Übersetzungen gibt: "Der illusionistische Übersetzer verbirgt sich hinter dem Original, das er gleichsam ohne Mittler dem Leser mit dem Ziel vorlegt, bei ihm eine übersetzerische Illusion zu wecken, die Illusion nämlich, daß er die Vorlage lese. In allen Fällen handelt es sich um eine Illusion, die sich auf ein Einvernehmen mit dem Leser oder mit dem Zuschauer stützt." (Levy' 1969: 24)
EI autom6vil gris entzieht sich einer solchen Herangehensweise, es macht vielmehr die Vielfalt und Gebrochenheit kultureller Diskurse deutlich. So wird die eindeutige Lesbarkeit, Übersetzbarkeit und damit einseitige Repräsentation des Fremden radikal in Frage gestellt. Dies ist umso bedeutsamer, als die fundamentale Asymmetrie und Ungleichheit zwischen den Sprachen dazu führt, dass man sich fragen muss, wer die Repräsentationsautorität besitzt und wie diese legitimiert wird. Denn lange Zeit haben westliche Ethnologen und Wissenschaftler fremde Kulturen "übersetzt", ohne dass ihre Legitimität angezweifelt worden wäre, eine schmerzliche Erfahrung, die auch die mexikanische Bevölkerung machen musste. So beschreibt der in den USA lebende mexikanische Performance-Künstler Guillermo G6mez-Pefia die Kulturpolitik seit Ende der 1970er Jahre: "Die mexikanische Identität war damals ein starres Konstrukt. Sie war sehr eng mit dem Staatsgebiet und der Staatssprache verflochten. Ein Mexikaner war jemand, der in Mexiko lebte und Spanisch sprach [... ] Obwohl wir verschieden aussahen, verschiedene Hautfarben hatten, und sogar verschiedenen Rassen angehörten, war die ,mestizaje' (die vermischte Rasse) offizielles Diktum und allein gültige Rahmenerzählung. Ob es uns passte oder nicht. Wir wurden alle zu Bastarden des spanischen Eroberers Heman Cmies und seiner indianischen Übersetzerin La Malinehe erklärt. Wir waren das Ergebnis einer kolonialen Vergewaltigung und eines kulturellen Kaiserschnitts. Wir blieben fiir immer dazu verdammt, mit diesem historischen Trauma fertig zu werden. Millionen von Indios - die ursprüngliche protomexikanische Bevölkerung - wurden so dargestellt, als lebten sie in parallelen mystischen Zeiten und Räumen abseits unserer Geschichte und Gesellschaft." (G6mez-Peiia 2002: 53)
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Translation, Transformation, Fremdverstehen- EI autom6vil gris
Auch El automovil gris ist ein hybrides Gebilde und stellt dies deutlich aus: Nicht reiner Film, nicht reines Theater, nicht reine Revue. Es hat populärkulturelle Aspekte - so steht der Film EI automovil gris am Anfang der mexikanischen Geschichte des Massenmediums Kino, die Theateraufführung ist in ihrer diffizilen Ästhetik jedoch eher ein Stück "Hochkultur". Es mischt orale Traditionen- die der Benshi- mit Schrift und Bild, ebenso wie mit folkloristisch "mexikanisch" anmutenden Tänzen im Zwischenspiel. Und so scheinen verschiedene Zeiten gleichzeitig auf: Der Stummfilm, seinerzeit technisch auf der Höhe der Zeit, wirkt veraltet, die Tradition der Benshi entstand in Japan durch den Versuch, mithilfe vormoderner Erzähltechniken die modernen Filme in der sich Umbruch befindenden Gesellschaft zu verankern, die Sprachen, die in der Aufführung benutzt werden, reichen von antiquiert bis absolut zeitgenössisch, die Aufführung selbst findet im Hier und Jetzt, im 21. Jahrhundert mit ultramoderner Technik statt. El automovil gris macht interkulturellen Austausch von einer monophonen zu einer vielstimmigen Angelegenheit und unterläuft (neo-) koloniale und hegemoniale Repräsentationsformen. Dabei ist die Inszenierung institutionskritisch: Sie läuft den üblichen Vorstellungen davon zuwider, was ein mexikanischer Regisseur auf einem internationalen Theaterfestival zu zeigen hat - jedenfalls wohl keinen Stummfilm, der von einer japanischen Benshi eingesprochen wird - und konfrontiert so mit der Fragwürdigkeit von genremäßigen oder ethnischen Grenzziehungen im globalen Theater- und Kunstbetrieb. Auch die Macht von Institutionen wie dem Übersetzer im kulturellen Austausch stellt er in Frage. Damit kann auch die Ästhetik dieser Aufführung als programmatisch "postkolonial" bezeichnet werden. Gleichzeitig wird ständig mit Wahrnehmungsmustern gespielt und die Rolle des Rezipienten in den Blick gerückt. Durch die spezifische Form der theatralen Hervorbringung von Zeichen in El automovil gris kann sich der Zuschauer seiner eigenen konstitutiven Rolle in diesem Kommunikations- bzw. ästhetischen Prozess bewusst werden. Es handelt sich also um einen Versuch, die Konsequenz aus der Erkenntnis zu ziehen, dass Übersetzung- ebenso wie theatrale Kommunikation und jedweder Verstehensprozess- ein intersubjektives und interaktives Verhältnis ist, an dem beide Seiten gleichermaßen beteiligt sind. Und so entwirft die Aufführung auch ein Konzept des Fremdverstehens jenseits von Aneignung und Enteignung, Mechanismen, die Eurozentrismus und Universalismus prägen: Es reicht in der Auseinandersetzung mit dem Fremdkulturellen nicht aus, sich auf die traditionelle Hermeneutik oder eine rein kognitive Auseinandersetzung zu stützen, sondern es gilt, ein Denken des Anderen zu praktizieren. Mit Waldenfels und Bhabha lässt sich sagen, dass Fremdverstehen, soll es die Logik der Aneignung oder Unterwerfung nicht fortschreiben, heißt, Verstehen als niemals frei von Fremdheit zu akzeptieren. Verstehen kann in letzter Konsequenz nur eine Annähe-
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rung sein - wie Waldenfels sagt: "Wir überschreiten den Diskurs, ohne anderswo anzukommen; einer ist dem anderen immer nur aufder Spur." (Waldenfels 1998: 53)
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Zu einer postkolonialen Ästhetik interkulturellen Theaters
Zu einer postkolonialen Ästhetik interkulturellen Theaters Es gibt, wie eingangs festgestellt, auf den ersten Blick zwei Sachverhalte, die es heute fragwürdig erscheinen lassen, von "interkulturellem Theater" zu sprechen: Zum einen ist der Begriff "interkulturell" selbst problematisch, da er letztlich suggeriert, zwischen Kulturen ließen sich eindeutige Grenzen ziehen. Zum anderen kann der Begriff, wenn er überhaupt sinnvoll sein soll, in Zeiten von Globalisierung und allgegenwärtigen hybriden kulturellen Formen eigentlich auf jedes Theater bezogen werden. Es gibt heute keine Kultur und kein Theater mehr, die "unberührt" sind vom "Anderen" - wenn es so etwas überhaupt je gab. Daher habe ich den Begriff zunächst einmal heuristisch benutzt, und es ist an der Zeit, seine Anwendbarkeit erneut zu diskutieren. Die in diesem Buch vorgestellten Inszenierungen zeigen, dass der Begriff des Interkulturellen grundsätzlich nicht obsolet ist. Sie führen vor Augen, dass es distinkte Kulturen gibt, die sich signifikant unterscheiden: Die Existenz als afroamerikanischer Performer in der New Yorker Avantgardeszene ist etwas völlig anderes als die eines Tänzers an der Elfenbeinküste, die einer Hoftänzerin in Kambodscha grundverschieden von der einen jungen Filmemacherirr in Singapur. Globalisierung bedeutet zumindest bislang keine kulturelle Homogenisierung, sondern eher die Zunahme kultureller Differenzerfahmngen. Globalisierung bedeutet auch alles andere als gleiche Chancen für Teilhabe, und das Individuum kann, weil es an einem bestimmten Ort in einem konkreten Körper geboren wird, nicht frei wählen, wer oder was es sein möchte, oder, wie Valdes Kuris Inszenierung zeigt, welche Sprache es spricht. Daher wird es auch künftig eine gesellschaftspolitische Aufgabe bleiben, sich Gedanken um Möglichkeiten der interkulturellen Kommunikation und des Fremdverslehens zu machen, und es wird auch weiterhin Theater geben, in dem Elemente, die aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen, zusammenkommen, ob dies nun bewusst und intendiert ist, oder auch eher implizit und unbewusst. Die Aufführungen Valdes Kuris, Ongs und Lemons kehren kulturelle Differenzen dezidiert hervor und sind dadurch in gewisser Weise "programmatisch" interkulturell. Darin liegt eine Gemeinsamkeit mit dem interkulturellen Theater der westlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Jedoch, und das unterscheidet sie signifikant von ihnen, handelt es sich weder un1 Formen orgiastisch-rituellen interkulturellen Theaters noch um spektakuläre Inszenierungen, die exotistisch die bunten Gegensätze herausstellen und die anderen Kulturen als "Rohstofflager" zur Weiterentwicklung der eigenen Ästhetik sehen, auch nicht um die bemühte Suche nach einer Universalsprache, oder um die Unterordnung unter eine wie auch immer kulturimperialistisch durchgesetzte "andere" Theaterästhetik Vielmehr handelt es sich um eine fundamental andere
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Form interkulturellen Theaters, die sich durch das gleichzeitige Auftreten folgender Merkmale von früheren Formen abhebt: Sie ist antiessentialistisch, postdramatisch und institutionskritisch. Diese Eigenschaften hängen eng miteinander zusammen, sind jedoch keineswegs deckungsgleich, sondern beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen und Dimensionen. In ihrer Gesamtheit bilden sie, was ich als "postkoloniale Ästhetik" interkulturellen Theaters bezeichne. 163 Die Dekonstruktion essentialistischer Kulturbegriffe hat in den untersuchten Inszenierungen nicht die Konsequenz, den Begriff "interkulturell" zu verdrängen und durch einen "wahreren" zu ersetzen. Zudem teilen sie mit anderen "kulturellen Collagen" (z.B. von Peter Brook, Ariane Mnouchkine oder Robert Wilson) das Merkmal, dass Elemente aus distinkten Kulturen verbunden werden und dies bewusst und intendiert geschieht. Das bedeutet dennoch nicht zwangsläufig, dass es sinnvoll ist, weiterhin von "interkulturellem Theater" zu sprechen. Noch ist der Begriff zwar nicht dialektisch überarbeitet, aber immerhin dekonstruiert und nicht länger unreflektiert verwendbar. Vor allem nicht in seiner per se positiv konnotierten Version und in Form einer Bezugnahme auf den üblichen Kulturaustausch zwischen "westlichen" und nicht-westlichen, (ehemals) kolonisierten Gesellschaften. Darüber hinaus suggeriert der Begriff ein eigenes Genre und Homogenität, wo in Wirklichkeit größte Heterogenität herrscht. Deshalb möchte ich noch einmal zusammenfassend auf die spezifische Ästhetik der vorgestellten Aufführungen eingehen und deutlich machen, dass der Begriff des interkulturellen Theaters zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur mit weiteren Differenzierungen und Konkretisierungen angemessen praktikabel ist. Postkoloniale Ästhetik ist antiessentialistisch Lemons, Ongs und Valdes Kuris Inszenierungen vermeiden im Gegensatz zu einem interkulturellen Theater, das auf der Suche nach dem "Reinen", "Ursprünglichen" oder "Rituellen" ist, Folklore und negieren "Authentizität". Sie unterminieren die Vorstellung von integrierten, monolithischen, vielleicht gar territorial gebundenen Kulturen und inszenieren kulturelle Identitäten als grundsätzlich hybrid. Diese Inszenierung von 163 Es wäre interessant, einmal der Frage nachzugehen, wie an so unterschiedlichen Orten wie New York, Phnom Penh und Mexiko-Stadt nahezu gleichzeitig eine solche- in der konkreten Ausf01mung zwar heterogene, in relevanten Gmndzügen jedoch bemerkenswert vergleichbare- Ästhetik entstehen konnte. Naheliegend, wenngleich wissenschaftlich noch nicht überprüft, wäre die Erklämng, dass dies mit der zunehmenden internationalen Vemetzung im künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich zusammenhängt: Wahrscheinlich lassen die globalisierte Theaterszene wie auch die Verbreitung der postcolonial studies im akademischen Bereich die hier besprochenen Regisseure in ähnlichen diskursiven Kontexten agieren.
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Hybridität ist es jedoch nicht allein, was die Aufführungen auszeichnet. Hybridität steht zwar im Gegensatz zum dichotomischen Denken, das impliziert aber nicht, dass sie automatisch Hierarchien und Machtstrukturen unterläuft. Mit Ha ist realistischerweise vielmehr zu konstatieren, dass "die Tendenz, Hybridität als ,catch-all-word', als eine Spielform des postmodernen ,anything goes' zu gebrauchen, dazu [fuhrt], dass sie als eine technologische ,all-in-one-solution' zum Inbegriff unbegrenzter Flexibilität, Innovations- und Wandlungsfähigkeit stilisiert wird." (Ha 2005: 60f.) Daher ist der Grat zwischen einer affirmativen Inszenierung von Hybridität, die im Kontext einer spätkapitalistischen Verwertungslogik äußerst attraktiv erscheinen kann, und einer emanzipativen Inszenierung überaus schmal. Und hier liegt das Gemeinsame der untersuchten Aufführungen: Sie stellen heraus, dass interkulturelles Theater immer politisch ist und nichts Harmloses an sich hat. "Kritik der Repräsentation" heißt bei ihnen nicht Reduzierung auf das Formale und die Oberfläche, es geht ihnen nicht darum, möglichst die hübschesten Elemente aus diversen Theaterkulturen zusammenzufügen, um sie auf dem internationalen Markt feilzubieten. Vielmehr reflektieren sie kritisch die Konstitution kultureller Identitäten. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zu früherem interkulturellen Theater, das- sowohl im Westen wie auch in den ehemaligen Kolonien- häufig auf problematischen Konstruktionen des Anderen basierte. Was zunächst als anti-kolonialistische Aufwertung nicht-westlicher kultureller Formen erscheinen kann- die unreflektierte Hinwendung zur Oralität, Performativität, Sinnlichkeit - wird als exotistisch entlarvt. Obwohl ihnen ein antiessentialistischer Grundzug eigen ist, dekonstruieren diese Aufführungen kulturelle Identität nicht völlig. Im Gegenteil: Sie erkennen wie gesagt an, dass es faktische kulturelle Differenzen zwischen Menschen gibt - seien es sprachliche Unterschiede, verschiedene präferierte Kunstformen oder Besonderheiten im Habitus. Allerdings, und das ist das Entscheidende, fuhren sie vor Augen, dass Kultur "gemacht" und nicht gegeben ist und in engster Verquickung mit anderen sozialen Strukturen - etwa politischen und ökonomischen - steht. Sie zeigen, dass auch Kategorien wie Ethnie oder Nation, "der Westen" oder "der Orient" Inszenierungen sind und von Menschen strategisch eingesetzt werden, um sich abzugrenzen, irgendwo zugehörig zu fühlen und Macht auszuüben. Und so unterscheiden sie sich auch hierin von früheren, unbedarften Formen interkulturellen Theaters: Indem sie die Performativität von Kultur betonen, denaturalisieren sie kulturelle Unterschiede. Wenn sie behaupten, dass interkulturelle Kommunikation sich nicht zwischen fixierten Kulturen abspielt und Grenzen wie auch Gemeinsamkeiten verhandelbar sind, stellen sie zugleich klar, dass dies nicht in
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einem herrschaftsfreien Raum geschieht, sondern innerhalb politischer und ökonomischer Machtbeziehungen, die mitgedacht gehören. 164 Im Einzelnen kann das sehr unterschiedliche Gestalt annehmen: Bei Ralph Lemon wird durch das Verwirrspiel mit identitätspolitisch aufgeladenen Zeichen wie "schwarzer" und "weißer" Musik, durch das Spiel mit Mimesis und Alterität im Sinne eines SignifYing Monkey die Konstruiertheit und Sozialität "rassischer" und geschlechtlicher Identitäten nachvollziehbar gemacht. Durch die Techniken des postmodernen Tanzes wird Raum als natürliche Kategorie dekonstruiert und als Ort der Einschreibungen und eben auch der Segregation und Ausgrenzung inszeniert: Die kolonialistische Kartographie wird in ihrer Willkür evident. In Beyond the killing fields geht es um die Perfonnativität von Geschichte, was insofern ein zentraler Aspekt interkulturellen Austauschs ist, als das Erzählen vom Selbst gemeinhin als konstitutiv für individuelle wie kollektive Identitäten gilt. Einerseits wird durch die sorgfaltige Beschäftigung mit traditionellem kambodschanischen Hoftanz gezeigt, dass Tradition immer auch Veränderung ist und so die touristische Sehnsucht nach dem Unverfälschten, "Authentischen", die viele frühere Formen interkulturellen Theaters prägte (prototypisch bei Artaud), als Exotismus entschleiert. Andererseits wird untersucht, wie - gerade im Kontext des Umgangs mit kollektiven Traumata - Erinnern, Gedenken und Dokumentieren möglich sein kann. Dabei setzt Ong auch Oralität und Schriftlichkeit in ein differenziertes Spannungsverhältnis und dekonstruiert die - ebenfalls hegemoniale Strukturen stabilisierende, tendenziell kolonialistische - Historiographie. Valdes Kuri schließlich widmet sich in EI autom6vil gris der Frage nach dem Fremdverstehen und damit einer der Grundbedingungen des Kulturaustauschs, indem er mit Sprachen und Übersetzungsprozessen spielt, die er als Transformationsprozesse erfahrbar macht. Dabei irritiert er die Zuschauer durch immer neue Konstellationen und zeigt ihnen, dass sie keineswegs auf einem sicheren, distanzierten Beobachterposten objektiv das Bühnengeschehen betrachten, analysieren und sich "aneignen" können. Vielmehr müssen sie Ambivalen164 Auch die Beispiele aus diesem Buch sind natürlich nicht frei von soziopolitischen und ökonomischen Machtasymmetrien. Aus Lemons Kompanie hat Djede Djede Gervais dezidiert gesagt, er träume davon, selbst westliche Tänzer zu choreographieren; er sehnt sich also offen nach einer Umkehrung der Dominanzverhältnisse. Es steht außer Frage, dass die Produktion Beyond the killingfield5 eine Gratwanderung zwischen Ausbeutung und Voyeurismus und einer respektvollen Annäherung an die kambodschanische Geschichte ist. Auch wenn Ong selbst aus Südostasien kommt, trennen ihn als wohlhabenden Singapurianer doch Welten von der Lebensrealität der Kambodschaner. Bei Valdes Kuri liegt die Abhängigkeit eher darin, dass die gesamte Truppe existentiell darauf angewiesen ist, überall auf der Welt zu Festivals eingeladen zu werden, d.h. in unterschiedlichsten Regionen der Welt zu gefallen.
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zen zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen aushalten und erkennen, dass die klare Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt eine Illusion ist. Auf diese Weise dekonstruiert Valdes Kuri das logo- und eurozentristische Selbstbild des aufgeklärten, rationalen Subjekts, das Denken in strikten Dichotomien, das im kolonialen Zusammenhang mit seinen exzessiven Objektivierungeil so fatale Konsequenzen für die Betroffenen hatte. Postkoloniale Ästhetik interkulturellen Theaters ist postdramatisch Ich habe eingangs gesagt, dass der Postkolonialismus kein einheitliches Paradigma ist, sondern ein vielstimmiger kolonialismuskritischer Ansatz. Wenn ich hier konstatiere, dass die vorgestellten Aufführungen eine postkoloniale Ästhetik aufweisen, ist dies ebenso facettenreich und uneinheitlich gemeint. Bei den drei beschriebenen Aufftihrungen handelte es sich um völlig unterschiedliche Ereignisse und Theatererlebnisse. Dennoch verbindet sie zumindest aus Sicht der Theaterwissenschaftlerin etwas Bedeutsames: Sie formulieren ihr politisches Programm nicht in Thesenstücken, oder indem sie postkolonial orientierte Dramatik mit den Mitteln des realistisch-psychologischen Theaters aufführen. Das Politische besteht bei ihnen nicht darin, dass Parolen propagiert und mehr oder minder konsistente kulturtheoretische Gebilde erläutert werden, sondern darin, dass das Publikum durch spezifische Inszenierungsstrategien mit seinen eigenen objektivierenden, identitätspolitisch problematischen Wahrnehmungsmustern konfrontiert wird. Indem die Aufführungen mit ästhetischer Wahrnehmung experimentieren, wird ihr Thema, das stets auch das der Kritik der Repräsentation ist, unmittelbar im Vollzug umgesetzt und damit erfahrbar-nicht nur zeichenhaft verhandelt und verstehbar. Die vorgestellten Aufführungen entfalten ihre postkoloniale Ästhetik, indem sie die theatrale Grundsituation selbst reflektieren. Gerade angesichts dieser hochgradigen Selbstreflexivität wäre es übertrieben zu behaupten, auf dem interkulturellen Theater hätten sich in den letzten Jahren völlig neuartige Formen entwickelt. Vielmehr kommen Inszenierungsstrategien zur Anwendung, die das zeitgenössische Theater in seinen postmodernen und postdramatischen Ausformungen generell prägen: So werden durch Techniken der Collage und des Samplings synthetisierende Effekte vermieden; unterschiedliche performative Kulturtechniken (Schauspiel, Musik, Tanz, Film, elektronische Musik usw.), Medien (Film, Video) und Sprachen treten in komplexe Beziehungen zueinander, wobei sie nicht homogenisiert werden, sondern deutlich nebeneinander stehen. Die Ästhetik der neuerenFormen interkulturellen Theaters impliziert so eine Reflexion auf Materialität und Medialität, sie sind nicht bloß inter- und transkulturell, sondern auch inter- und transmedial, wobei sie sich einem hierarchischen Denken verweigern, das den Text favorisiert.
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Auch die drei hier vorgestellten Auffiihrungen wenden sich deutlich vom literarischen Theater ab und sind in besonderer Weise Auseinandersetzungen mit oralen Traditionen: den Künsten der afroamerikanischen Kulturen, den Tänzen Kambodschas, Oral History, der Benshi-Kunst. Diese werden auf die eine oder andere Weise mit Schriftlichkeit und Artefakten verschränkt- dem Schreiben von Raum (Kartographie), dem Schreiben von Geschichte (Historiographie) sowie der schriftlichen Sprache (Untertitel) und dem fotografischen Bild (Film) - und unterlaufen deren Anspruch, die Wirklichkeit zu repräsentieren. Überhaupt artikulieren sie den großen Metaerzählungen gegenüber eine grundsätzliche Skepsis - sie haben "den Charakter des Fragments und des Partialen." (Lehmann 2001: 92f.) Wie der Zuschauer zusammenhängende Bedeutung herstellt, bleibt ilun überlassen. Die Emergenz der Artikulationen ist dabei häufig dissonant, ambivalent, verwirrend. Diese Theaterästhetik stellt auch insofern einen Angriff auf das europäisch-westliche Theater im Sinne des psychologischen Realismus dar, als sie in weiten Teilen keine konsistenten Figuren auf der Bühne erscheinen lässt und so letztlich den Gegensatz von Theater und Realität in Frage stellt: Die Performer auf der Bühne verweigern sich der mimetischen Schauspielkunst, dem traditionell-westlichen Konzept der "Verkörperung" im Sinne der Verwandlung des leiblichen Körpers in einen rein semiotischen. Und so legen sie nahe, dass auch die Theaterwissenschaft andere Begriffe von "Verkörperung" braucht. Adäquat erscheint etwa der Verkörperungs-Begriff, den Fischer-Lichte angelehnt an Thomas Cs6rdas' Konzept vom Embodiment entwickelt hat und der die Unterordnung des Körpers unter das Textparadigma ablehnt: "Er eröffnet ein neues methodisches Feld, in dem der phänomenale Körper, das leibliche In-der-Welt-Sein des Menschen als Bedingung der Möglichkeit jeglicher kultureller Produktion figuriert." (Fischer-Lichte 2004:153)
Alle drei hier untersuchten Auffiihrungen lassen den Körper in seiner konkreten Materialität, seiner Energie, seiner Präsenz zu seinem Recht kommen. Ich habe argumentiert, dass der Körper als "Konstrukt der Ränder" zu verstehen ist: An ihm machen sich Zuschreibung, Ausgrenzung und Unterdrückung fest, er ist zentrales Schlachtfeld für Identitätspolitik. Von der Aktmalerei bis zur Rassenkunde - der "aufklärerischen" Beschäftigung mit dem Körper ist die exzessive Objektivierung des Anderen inhärent. Und so hat gerade im westlichen interkulturellen Theater der "Körper" stets eine besondere Rolle gespielt - ob als orgiastischer Körper, der den zivilisationskranken Menschen auf der Suche nach "Ursprünglichkeit" heilen sollte, oder als pures Ornament, reine Virtuosität, faszinierende Akrobatik ohne jeden semantischen Gehalt- diese Haltung könnte man als modernistisch-ästhetizistisch oder postmodernistischkonsumorientiert bezeichnen. Solchen Formen der Körperinszenierung
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verweigerten sich die drei hier untersuchten Aufführungen. Die unvermittelten Tränenausbrüche der Tänzerinnen in Beyond the killing .fields führten schlagartig vor Augen, dass es sich um reale Menschen auf der Bühne handelte - nicht um "leere" Objekte, beliebige Signifikanten, die willkürlich mit Bedeutung aufgeladen werden können. Das Entscheidende ist dabei jedoch, dass auch hier der Körper nicht auf Subjektivität und Expressivität reduziert wird. Trotz aller Konkretheit wird nicht der Körper als solcher verhandelt, sondern der Diskurs über Körper - die soziale Prägung und die Einschreibung durch die Macht werden stets mitreflektiert: Bei Ralph Lemon wird der schwarze Körper als rassisch markierter und soziale Räume selbst hervorbringender und durch sie geprägter vor Augen geführt. In Beyond the killingfields wird deutlich, dass der Körper kein ahistorisches oder vorkulturelles Objekt ist, sondern aufs Engste mit dem kollektiven Gedächtnis verquickt ist. Er erscheint als unauflösbares Geflecht zwischen dem individuellen Leib und den Kodierungen und Figurationen, die bestimmte historische Gegebenheiten in ihn einschreiben. In EI autom6vil gris wird Körperlichkeit eher im Kontrast von Oralität und Schriftlichkeit erfahrbar - wobei auch hier die "Authentizität" des Körpers, beispielsweise der Stimme, in Frage gestellt wird. Gleichwohl, und das ist auch angesichts des Leids, das der kolonisierte Körper erlitten hat, wichtig: Seine Materialität und spezifische Gegebenheiten wie Hautfarbe oder Geschlecht werden nicht ignoriert, sondern es wird gezeigt, dass die Kennzeichnung als Subalterne häufig aus einer körperlichen Markierung besteht, und so werden auch herrschaftsstabilisierende Naturalisierungen dekonstruiert. Gerade indem der Körper in keiner der Aufführungen als natürlich und frei oder gar orgiastisch inszeniert wird, sondern immer konzeptualisiert, wird die distanzierte Reflexion auf den Körper als existenzielle Gegebenheit möglich und der Körper in seinen individuellen wie kollektiven Anteilen wahrnehmbar. Indem die Aufführungen den Moment der Wahrnehmung fokussieren, thematisieren und verschieben sie das Verhältnis zwischen Dargestelltem und Zuschauern, Objekt und Subjekt. Auch damit sind sie eine Herausforderung flir die Theaterwissenschaft Das Problem an der Semiotik, auf der theaterwissenschaftliche Untersuchungen bisher meist basieren, ist die in ihr angelegte Trennung zwischen Subjekt und Objekt: "Der Künstler, Subjekt (I) schafft das Kunstwerk als ein von ihm ablösbares, fixier- und tradierbares Artefakt, dem unabhängig von dem Schöpfer eine eigene Existenz zukommt. Dies stellt die Voraussetzung dafur dar, dass ein beliebiger Rezipient, Subjekt (2), es zum Objekt seiner Wahrnehmung und Interpretation machen kann." (Ebd.: 19)
Ich habe aus theoretischen Vorüberlegungen die Notwendigkeit abgeleitet, nicht nur semiotisch, sondern auch phänomenologisch vorzugehen. 273
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Dennoch bin ich methodisch an Grenzen gestoßen. Viele Aspekte des Theatererlebnisses, der ästhetischen Erfahrung während der Vorstellungen ließen sich nur unscharf in Worte fassen; während des Schreibens an diesem Buch war die Krise der Repräsentation häufig genug alles andere als ein abstraktes Problem flir mich. Denn die untersuchten Inszenierungen sind auch eine Infragestellung des Absolutheitsanspruchs der abendländisch textuellen Tradition, die sich, auch in den Wissenschaften, als dominant etabliert hat. Sie haben mich die Macht der Performativität spüren lassen, und zwar auf ihre eigene Weise: Sie haben meine Sinne verwirrt, mich Energien spüren lassen, in Zwischenräume katapultiert, denen ich mich sprachlich-diskursiv höchstens annähern konnte. Es lässt sich daraus die Forderung ableiten, dass es weiter gilt, an der Weiterentwicklung des phänomenologischen theaterwissenschaftlichen Instrumentariums zu arbeiten. Postkoloniale Ästhetik interkulturellen Theaters ist institutionskritisch Die untersuchten Inszenierungen zielen radikal auf Differenz: Sie problematisieren jede Repräsentationslogik - ästhetisch, wissenschaftlich, politisch- und sind damit tendenziell subversiv. Auch darin sind sie dem programmatischen Postkolonialismus ähnlich. Theater eignet sich aufgrund seiner inhärenten Ambivalenz zwischen Semiotizität und Performativität, zwischen Mimesis und Alterität, wie hier gezeigt wurde, in besonderer Weise, Repräsentationsmodi zu reflektieren. Indem die Aufführungen Wirklichkeitserzeugung im Theater und somit letztlich auch Wirklichkeitskonstitution generell fokussieren, schaffen sie ein neues Modell von Theatralität und Realität. Da diese Dichotomie weitere Gegensatzpaare wie ästhetisch/sozial oder künstlerisch/politisch enthält, stellen sie auch diese Polarisierungen in Frage und treffen so das Kernproblem interkulturellen Theaters: dass sich hier Politik und Ästhetik nicht trennen lassen. Es wird klar, dass Theater auf verschiedenen Ebenen ein Ort machtvoller Blickregime ist und dass interkulturelle Theateraufführungen, internationale Theaterfestivals und sonstige Plattformen und Organisationen des Kulturaustauschs in sich problematische, kritikwürdige Institutionen sind. Ich habe an anderer Stelle gesagt, dass interkulturelles Theater per se politisch ist. Das heißt nicht, dass es zwangsläufig "aufldärerisch" oder "emanzipativ" sein muss. Interkulturelles Theater kann genau so gut in einer Affirmation hegemonialer Repräsentationsformen aufgehen - hier liegt auch der Grund, warum der Begriff "interkulturelles Theater", da er ein einheitliches und traditionell "progressives" Genre suggeriert, ohne zusätzliche Differenzierung kaum zu halten ist. Es wäre gleichwohl unangemessen, den untersuchten Theaterproduktionen die Intention zu unterstellen, sie wollten primär postkoloniale Politik betreiben. Man kann nicht behaupten, dass ihre Regisseure in ir-
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gendeiner Weise eine Wirkungsästhetik propagieren. Und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich glaube, Theatergänger würden durch den Besuch eines Stücks von Ong Keng Sen, Ralph Lemon oder Claudio Valdes Kuri zu "besseren" Menschen, gefeit gegen Xenophobie. Eine solche Funktionalisierung des Theaters wäre auch naiv, wie Fischer-Lichte verdeutlicht: "Ob die Erfahrung der Destabilisierung von Selbst-, Welt- und Fremdwahrnehmung, des Verlusts gültiger Normen und Regeln tatsächlich zu einer Neuorientierung des betreffenden Subjekts, seiner Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung fuhrt und in diesem Sinne zu einer andauemden Transformation, wird sich nur im jeweiligen Einzelfall entscheiden lassen. Es kann ebenso der Fall eintreten, dass der Zuschauer nach Verlassen des Auffuhrungsraums seine vorübergehende Destabilisierung als unsinnig und unbegründet abtut und zu seiner vorhe1igen Werteordnung zurückzukehren sucht[ ... ]" (ebd.: 313)
Dennoch glaube ich, dass bestimmte kulturelle Praktiken tendenziell konservative oder gar reaktionäre Haltungen befördern, bestätigen oder zementieren können und andere es vermögen, wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen, den Blick zu schärfen und für bestimmte Strukturen zu sensibilisieren. Indem die avancierten Formen interkulturellen Theaters die subversiven Funken, die die ästhetische Konstitution des Theaters schlagen kann - Denaturalisierung und Kritik der Repräsentation - produktiv nutzen, werden sie postkolonial im politisch-programmatischen Sinn. Dazu gehört auch, dass sie in starkem Maße ihre eigene Verstricktheit in Diskurse und Institutionen reflektieren - also beispielsweise, dass sie als Theater stets "repräsentativ" sind, dass sie als Akteure auf internationalen Theaterfestivals als "Repräsentanten" wahrgenommen werden, dass sie durch den interkulturellen Charakter ihrer Arbeit auf Themen wie "Kulturaustausch" und "Fremdverstehen" hin gelesen werden. Sie machen unmissverständlich klar, dass es keine Kunst, kein Theater, kein interkulturelles Theater, keine schauspielerische Leistung, keinen natürlichen Körper außerhalb der durch hegemoniale Strukturen geprägten Rahmenbedingungen geben kann. Sie unterwerfen sich diesen aber nicht, sondern spielen subversiv in ihren Nischen. Sie müssen sich nicht abschotten, den aussichtslosen Kampf gegen Fremdeinflüsse kämpfen, oder sich auf dem Exotismusmarkt anbieten, um teilzuhaben. Denn ihre Institutionskritik betrifft nicht nur die Kulturpolitik oder die Warenförmigkeit des Theaters. Sondern ihre Institutionskritik trifft das Theater als solches: Indem sie die epistemologische Situation in den Aufführungen reflektieren, indem sie die Machtasymmetrie zwischen Zuschauern und Schauspielern/Aufführung aufheben- indem sie den Blick entgegnen - widersetzen sie sich hegemonialen Strukturen, selbst wenn sie in diese verwoben sind. Dabei legen sie größten Wert auf Selbstreflexion und politische Verantwortung, so lustig, unterhaltsam und "schön" sie daherkommen. 275
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Indem die Inszenierungen das Subjekt-Objekt-Verhältnis durcheinander bringen, entziehen sie den Zuschauern die komfortable Distanz und fordern sie heraus, machen, sie, besonders drastisch in Beyond the killing .fields, zu "Zeugen": "[ ... ] witnessing presupposes that looking across borders is always an intervention and that the space is always performative. Jt works within an economy of Iooks and in a scenario where positions - subject/object, see-er/seen - are constantly in flux, responding to each other." (Taylor 1998: 183)
Die vorgestellten Inszenierungen sind insofern postkolonial, als sie eurozentristische Dichotomien grundsätzlich in Frage stellen: Semiotizität und Performativität schließen sich hier nicht aus, Sinn und Präsenz gehören zusammen, Textualität und Materialität, Schwarz und Weiß, das Eigene und das Fremde, Subjekt und Objekt. Sie lassen sich auf keine Entweder-Oder-Logik ein und werden damit zum Transitraum, zum Ort der Grenzüberschreitung und Entgrenzung. Man sollte sich allerdings hüten, diesen liminalen Ort allzu euphorisch zu fassen. Er ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für identitätspolitische Transformationsprozesse und man muss präzise zwischen verschiedenen Ebenen unterscheiden, um die alltägliche Praxis nicht zu ästhetisieren. Konkrete Menschen- postkoloniale Subjekte, Migrantinnen und Migranten- erleben die Grenzsituation und das Dazwischen als existentielle sozioökonomische Situation und sind äußerst verletzlich und gefährdet. Trifft sie die "Wut des Verstehens" (Hörisch), ist das für sie alles andere als eine bloß intellektuell interessante Erfahrung. Und genau an dieser Stelle zeigt sich die Pointe der hier verhandelten Inszenierungen: Es ist ihnen wie gesagt gemeinsam, dass sie keine kulturrelativistische Position vermitteln oder auf völlige Desemantisierung zielen, so wie Lebmann es für das Theater Robert Wilsons beschreibt, dessen frühe Rezensenten ihre Theatererfahrung mit dem Gefühl eines Fremden verglichen haben, "der den rätselhaften kultischen Handlungen eines ihm unbekannten Volkes beiwohnt." (Lehmann 2001: 117). Obwohl postdramatisch und postmodern, werden die unterschiedlichen Sprachen und Zeichen, die hier polyphon kombiniert werden, nicht um der absoluten Sinnentleerungwillen zusammengeführt. Vielmehr werden in diesen neuen Theaterformen Kommunikationsformen erfahrbar, die jenseits eines in sich widersprüchlichen, totalitären Begriffs von Verstehen, jenseits von Aneignung und Enteignung also, funktionieren. In diesem Sinne haben die Aufführungen Ziele der interkulturellen Kommunikation wie etwa das Akzeptieren, Respektieren und Aushalten des Fremden aufgenommen und handlungspraktisch umgesetzt, ohne die theaterspezifischen Momente des spielerischen Experiments, der Übertreibung und Verfremdung oder auch der Irritation zu verlieren. Vielmehr stellten
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Zu einer postkolonialen Ästhetik interkulturellen Theaters
sich gerade durch diese Verfahren sowohl kognitive als auch sinnlichemotionale und fremde/befremdende Erfahrungen, d.h. Differenzerfahrungen ein. Differenzerfahrung, die nicht von Angst begleitet ist, kann letztlich zu einer positiven Erfahrung werden. So war es beispielsweise in EI automovil gris durch den Theaterkontext möglich, sich auf ein unterhaltsames Spiel mit Sprache, Verstehen und Missverständnissen einzulassen - was im Alltag wahrscheinlich so nicht möglich gewesen wäre. Die Krise der Repräsentation führt dann nicht zu der - letztlich fatalen und dekadenten - Meinung, dass Verständigung prinzipiell unmöglich sei: Sie zielt nicht auf das Scheitern und die Negation, sondern auf neue Formen des Umgangs, die produktive Irritation, Faszination, Begehren, Aggression, Desorientierung als Teil der Annäherungsprozesse begreifen. In der Ästhetik der avancierteren interkulturellen Theaterinszenierungen geht es darum, Kunst mit einem Publikum dergestalt zusammenzubringen, dass ästhetische Autonomie und kulturelle Differenz nicht nivelliert werden, sondern am Ende als "Stachel des Fremden" (Waidenfels) steckenbleiben. Das vielfältig gebrochene und wechselvolle Verhältnis des Subjekts zum Objekt wird nicht auf eine überkommene Subjekt-Objekt-Dichotomie reduziert, auch wird nicht der stets riskante "Zwischenraum" gefeiert, sondern der Eigensinn und die komplexe Tiefe der Subjekte und Objekte und ihrer Beziehungen anerkannt: Fremdverstehen wird als unabschließbarer und doch notwendiger Prozess evident und Differenz als Grundprinzip aller Wahrnehmung zugelassen.
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ZfK- Zeitschrift für Kulturwissenschaften BirgitAithans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)
Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331
ZFK- Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktionzugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. ln dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimaljährlich in Themen heften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge ( 1/ 2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion ( 1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellungper E-Mail unter: [email protected]
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