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German Pages 322 Year 2021
Marcel Münchow Interaktionswelten
Kunst- und Designwissenschaft | Band 5
Editorial Die Reihe Kunst- und Designwissenschaft präsentiert exzellente transdisziplinäre Forschungen junger und arrivierter ForscherInnen an den Schnittstellen von bildender Kunst, Design, Medien und Alltagsästhetik. Die einzelnen Bände eint das wissenschaftliche Interesse an Gestaltung als ästhetischem Phänomen. Somit leistet die Reihe einen Beitrag zur Etablierung der jungen Disziplin Designwissenschaft, widmet sich aber ebenso kunstwissenschaftlichen Phänomenen. Die Reihe wird herausgegeben von Cordula Meier, Professorin und Leiterin des Instituts für Kunst- und Designwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste, Essen.
Marcel Münchow, geb. 1985, ist Interaktionsgestalter und Designwissenschaftler. Neben seiner gestalterischen Arbeit für diverse namhafte Kunden aus der Industrie promovierte er bei Cordula Meier am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Folkwang Universität der Künste in Essen. Sein Forschungsschwerpunkt ist das gestalterische Spannungsfeld zwischen Innovationen und Konventionen, insbesondere im Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion. Weitere Forschungsfelder sind Designtheorie, Designmethodik und -prozesse.
Marcel Münchow
Interaktionswelten Gestaltungswissenschaftliche Perspektiven auf Innovationen und Konventionen in der Mensch-Maschine-Interaktion
Herausgegeben von Cordula Meier. Die vorliegende Publikation wurde 2020 unter dem Titel »Interaktionsgestaltung zwischen Innovationen und Konventionen. Eine gestaltungstheoretische Analyse der wechselwirksamen Beziehung von Interaktionskonventionen, als Produkt evolutionärer, ungerichteter, sozialer Konstruktions- und Institutionalisierungsprozesse, und der Gestaltung, Verbreitung und Anwendung innovativer interaktiver Systeme und Artefakte« dem Fachbereich 4 der Folkwang Universität der Künste zu Essen als Dissertation zur Erlangung des Grades Dr. phil. vorgelegt. Erstgutachterin: Prof. Dr. Cordula Meier Zweitgutachter: Prof. Dr. Georg Kneer Datum der mündlichen Prüfung: 10.12.2020
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5847-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5847-1 https://doi.org/10.14361/9783839458471 Buchreihen-ISSN: 2703-0091 Buchreihen-eISSN: 2703-0105 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
1 1.1 1.2 1.3 2 2.1
2.2 2.3 2.4 2.5
Einleitung................................................................................ 9 Skizzierung des Spannungsfeldes zwischen Innovationen und Konventionen ............... 10 Einordnung der vorliegenden Arbeit in unterschiedliche designtheoretische Forschungsmodelle ...................................................................... 25 Ansatz und Ziel der Arbeit ............................................................... 30 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen ............................. 33 Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Gestaltungsbegriff durch differenzierte Analyse unterschiedlicher Sinndimensionen .............................................. 33 2.1.1 Gestaltung als Handlung .......................................................... 34 2.1.2 Gestaltung als Ergebnis ........................................................... 38 2.1.3 Gestaltung als Disziplin ........................................................... 38 2.1.4 Gestaltung als Forschungsdisziplin ................................................ 39 Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Gestaltungsbegriff durch Abgrenzung vom Designbegriff ....................................................................... 43 Ableitung des Begriffs der Interaktionsgestaltung basierend auf Moggridge, Löwgren, Cooper, Hassenzahl u.a................................................................... 45 Differenzierte Betrachtung des Begriffsfeldes Design-Thinking als gestalterischer Ursprung von Innovationen ........................................... 52 Einleitende Betrachtung von Begriffen unterschiedlicher Diskurse zur Mensch-MaschineInteraktion mit Konventionsbezug ........................................................ 58 2.5.1 Betrachtungen zur Intuitivität ..................................................... 60 2.5.2 Betrachtungen zur Selbstbeschreibungsfähigkeit ................................... 61 2.5.3 Betrachtungen zur Erwartungskonformität ........................................ 65 2.5.4 Betrachtungen zur Konsistenz .................................................... 68
3
Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess – Analyse der Strukturgleichheit von Mensch-Maschine-Interaktion und Sprache.......... 71
4 4.1
Innovationen............................................................................ 85 Transdisziplinäre Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Innovationsbegriff ....... 88
4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Zur Charakteristik von Innovationen...................................................... 93 Zur Charakteristik des Innovationsprozesses ............................................. 97 Zur Radikalität von Innovationen .........................................................102 Deutung des Innovationsbegriffs aus gestalterischer Perspektive ......................... 114 Zur Materialität von Innovationen ....................................................... 120
5 Interaktionskonventionen...............................................................125 5.1 Transdisziplinäre Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Konventionsbegriff.......125 5.2 Eingrenzung des Konventionsbegriffs im Kontext der Sprachbildung, basierend auf der identifizierten Strukturgleichheit zwischen Mensch-Maschine-Interaktion und Kommunikation ..................................................................... 127 5.3 Die Interaktionswelt als Untermenge der sozialen Lebenswelt nach Jürgen Habermas ..... 129 5.4 Transdisziplinäre Herleitung des Begriffs des Impliziten Wissens als Wissensform der Interaktionswelt ........................................................................ 132 5.5 Zwischenfazit zu Interaktionskonventionen.............................................. 135 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz ........................................... 137 Erprobung und Ausübung – Erfahrung und Bestätigung .................................. 139 Typisierung.............................................................................. 142 Habitualisierung .........................................................................145 Institutionalisierung ..................................................................... 147 Objektivierung .......................................................................... 150 Zwischenfazit zur Bildung von Interaktionskonventionen.................................. 157
7
Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen ............................................... 161 7.1 Theorieüberführung der Pfadabhängigkeit als Wirkungsprinzip von Konventionen auf Innovationen ........................................................................... 165 7.2 Die Interaktionswelt als Quelle und Referenz der Gestaltung .............................. 167 7.3 Leitbilder und Paradigmen – methodische Ansätze zur Einflussnahme auf den Entstehungskontext von Innovationen............................................ 172 7.4 Zwischenfazit zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen.... 176 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext ................. 179 Transdisziplinäre Annäherung an die Diffusion von Innovationen ......................... 180 8.1.1 Zum Diffusionskontext ........................................................... 182 8.1.2 Zur Charakteristik und zu Faktoren der Diffusion ................................. 185 8.2 Fokussierung auf die Diffusion von Innovationen im Kontext der Mensch-MaschineInteraktion ............................................................................. 209 8.2.1 Analyse diffusionsrelevanter Qualitäten und Betrachtung ihrer Gestaltbarkeit ...... 218 8.2.2 Konsistenzen und Metaphern – Ansätze zur Einflussnahme auf die Akzeptanz und Diffusion unkonventioneller Lösungen............................................ 228 8.3 Zwischenfazit zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext .................... 238
8 8.1
9
Folgerungen zu Konventionen im Gestaltungszusammenhang.......................... 243
10 Schlussfolgerung ...................................................................... 247 10.1 Konkretisierung des Spannungsfeldes zwischen Innovationen und Konventionen ......... 250 10.2 Innovationsbegünstigende Faktoren bei der Gestaltung interaktiver Artefakte und Konzepte .......................................................................... 253 10.3 Auswirkungen des Spannungsfeldes auf die Interaktionsgestaltung ...................... 268 10.4 Gestaltung zwischen Verbesserung, Erneuerung, Folgenabschätzung und Kritik........... 279 11
Fazit .................................................................................... 291
Danksagung ................................................................................ 297 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 299 Literaturverzeichnis......................................................................... 301
1
Einleitung
In einer anthropogenen, vom Menschen geformten Welt treffen wir permanent auf natürliche, analoge und digitale Artefakte, mit denen wir uns auseinandersetzen und interagieren. Analoge und digitale Artefakte können als vom Menschen organisierte Gefüge betrachtet werden, deren Funktionen und Handlungsofferten explizit angelegt wurden. Schon der Umgang mit den ersten steinzeitlichen Werkzeugen kann als Interaktion, also wechselseitige Beeinflussung des Verhaltens1 , gedeutet werden. Mit zunehmender Komplexität dieser organisierten Gefüge, bedarf es eigener Schnittstellen für die Interaktion zwischen Mensch und Artefakt. Erst dadurch können wechselseitig Informationen über Absicht des Nutzenden und Zustand des Artefaktes ausgetauscht werden. Soll eine zielgerichtete Interaktion erfolgen, ist es unerlässlich, den Nutzen und die Wirkung eines Artefaktes zu erfahren und zu verstehen. Der Umgang muss erprobt, erlernt und verfeinert werden. Mit der Zunahme gestalteter Artefakte nimmt auch die Formalisierung der Interaktion zu. Die zur Interaktion notwendigen Handlungen führen die Anwender häufig selbstverständlich und ohne große Anstrengung aus. Das setzt aber voraus, dass nahezu alle interaktiven Anwendungen gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, die auf De-Facto-Standards hindeuten. Nutzer wenden diese an, bis etwas Besseres entwickelt wird, oder der technologische Wandel andere Konzepte und Lösungen erfordert2 . Bestehende Systeme und Lösungen können häufig erst durch innovative Ansätze spürbar verbessert werden, neue Technologien häufig erst durch innovative Anzeige- und Bedienkonzepte nutzbar gemacht werden. Interaktionsgestaltung ist die Formung und Strukturierung digitaler Artefakte für die Verwendung durch Menschen.3 Bei dieser speziellen Gestaltungstätigkeit ist es ein Ziel, Funktions- und Bedienlogiken in eine an die Erfahrungen und Erwartungen späterer Nutzer anschlussfähige Form zu bringen. Je konventioneller gestaltete Lösungen
1 2 3
Vgl. Dudenredaktion: Der Duden: Das Fremdwörterbuch: Das Standardwerk zur deutschen Sprache, 9. Aufl., Bd. 5, Mannheim u. a.: Dudenverlag, 2007, S. 466. Vgl. Dan Saffer: Microinteractions: Designing with details, Sebastopol, CA: O'Reilly, 2013, S. 9. Vgl. Jonas Löwgren: Interaction Design, in: The Interaction Design Foundation (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed. Bd. 1, The Interaction Design Foundation, 2015, S. 7–20, S. 9.
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Interaktionswelten
und Interaktionen sind, desto kompatibler sind sie zu bestehenden Wissensstrukturen der Nutzer. Doch wie akzeptieren Nutzer etwas Neues, Unbekanntes, das zwar potentiell besser ist, aber unvertraut? Wie kann mit Hilfe von Gestaltung Neues zur Anwendung gebracht werden? Wie wird Neues in der Gestaltung akzeptiert? Wie entsteht Neues in der und durch die Gestaltung? Ziel der hier dargelegten Betrachtungen ist es, die Beziehung zwischen Interaktionskonventionen und Innovationen im Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion4 aus designwissenschaftlicher Perspektive zu erfassen. Anhand von Strukturgleichheiten sollen Erkenntnisse anderer Wissensgebiete und Diskurse auf den Kontext der Interaktionsgestaltung übertragen und dadurch zu einer Reflexionserweiterung des gestaltungswissenschaftlichen Diskurses beigetragen werden. Hierzu soll versucht werden, die relevanten Diskursströme zu Innovationen und Konventionen aus tangierenden wissenschaftlichen Disziplinen zu einer konsistenten designwissenschaftlichen Perspektive auf die Interferenz von Interaktionskonventionen und Innovationen im Kontext der MMI zusammenzuführen. Das Vorgehen in dieser Arbeit soll einem Prozess zur Wissensgenerierung und -(re)strukturierung durch wissenschaftliche Methodik und Verwendung gestalterischer Betrachtungsperspektiven, Handlungs- und Denkmuster entsprechen. Die hierbei zentralen Fragen sind, wie in diesem Spannungsfeld innovative und zugleich intuitiv nutzbare Bedienkonzepte gestaltet werden können und wie sie sich verbreiten, wie sich Interaktionskonventionen bilden und in welchem Maße sie die Gestaltung innovativer Bedien- und Anzeigekonzepte beeinflussen. Ebenfalls ist relevant, inwiefern MMI als kommunikativer Prozess verstanden werden kann und infolgedessen Aspekte kommunikationstheoretischer Diskurse und Erkenntnisse über die Sprachentwicklung auf diese übertragbar sind.
1.1
Skizzierung des Spannungsfeldes zwischen Innovationen und Konventionen
Ein zentrales Ziel der Gestaltung von interaktiven Anwendungen und Systemen ist die reibungslose, effiziente und effektive Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Hierzu müssen Systeme neue Herausforderungen an den Nutzer stellen, seine Möglichkeiten erweitern und ihm darüber hinaus Attraktivität und Bestätigung bringen5 . Gleichzeitig sollen sie die Arbeit und Arbeitsweise des Nutzers unterstützen und somit helfen, seine Ziele zu erreichen6 . Entscheidend hierfür ist der Grad der Intuitivi4 5
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Im Folgenden wird die Mensch-Maschine-Interaktion mit „MMI“ abgekürzt. Auf die Verwendung des englischen Begriffs Human-Machine-Interaction, „HMI“ wird verzichtet. Vgl. Marc Hassenzahl/Michael Burgmester/Franz Koller: AttrakDiff: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer Qualität, in: Gerd Szwillus/Jürgen Ziegler (Hrsg.): Mensch & Computer 2003, Bd. 57 (Informatik), Teubner, 2003, S. 187–196, url: http : //www.attrakdiff.de/files/mc2003_hassenzahl_review.pdf, S. 188. Vgl. Karen Holtzblatt/Hugh R. Beyer: Contextual Design, in: The Interaction Design Foundation (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed, Bd. 1, The Interaction Design Foundation, 2015, url: http://www.interaction-design.org/encyclopedia/contextual_design.html.
1 Einleitung
tät der Benutzeroberfläche und der Interaktionsmöglichkeiten. Denn jede Interaktion zwischen Mensch und Maschine stellt eine Hürde für den Nutzer dar. Jede Aktion des Anwenders hat eine Reaktion der Maschine zur Folge, deren Auswirkungen nicht immer im Vorhinein abschätzbar sind und häufig auch nicht unmittelbar im Nachhinein erfahrbar sind. Gleichzeitig sind auch die zur Verfügung stehenden Aktionsoptionen nicht immer ersichtlich. Eine Benutzungs-Oberfläche soll daher selbsterklärend sein, ihre Bedienung natürlich von der Hand gehen und dem Nutzer schnell Orientierung geben. Ein Anwender muss die Interaktion mit Artefakten erlernen und dieses Erlernte in jeder konkreten Anwendungssituation hinterfragen und auf neue Gegebenheiten übertragen. Beim Versuch, die Interaktionsqualität zwischen Menschen und Maschinen zu verbessern, bewegt sich die Interaktionsgestaltung, wie es Horst Oberquelle formuliert, ständig „in einem Spannungsfeld zwischen Konsistenz und Innovation“7 . Interfaces können nicht isoliert, ohne Abhängigkeiten und Verwandtschaften gestaltet werden. Sie werden immer in bestehende Strukturen hinein gestaltet8 . Neue potentiell innovative Bedienoberflächen und -mechanismen werden vom Nutzer in Zusammenhang zu bereits existierenden Systemen gesetzt. Dort erfahrene Abläufe und Konzepte werden auf das neue System projiziert. Letztlich führt dies zu der Erwartungshaltung des Nutzers, das für ihn unbekannte Interface funktioniere, wie die ihm Bekannten. Daraus ergibt sich die Frage, wie unter einer solchen Erwartungshaltung innovative Bedienkonzepte, die mit bestehenden Konventionen brechen, intuitiv sein können. In Industrieländern begegnen Menschen unzählige digitale Artefakte, – wie Haushaltsgeräte, Arbeitsstationen, Kartenautomaten, Smartphones, Smart Wearables und Personal Tracker, Produktionsanlagen, landwirtschaftliche Maschinen oder Automobile mit ihren Assistenz- und Unterhaltungssystemen – deren Präsenz häufig selbstverständlich in den Alltag integriert ist und die mehr oder weniger intuitiv anwendbar sind. Dabei schleichen sich scheinbar automatisch Standards ein, die viele interaktive Anwendungen gemeinsam haben. Wir nutzen diese bis etwas Besseres entwickelt wird, oder Technologie etwas Anderes benötigt9 . Diese konventionalisierten Standards erleichtern den Zugang zu bisher unbekannten digitalen Artefakten und ihren Anzeige- und Bedienkonzepten. Die Vorerfahrungen der Menschen führen zu Erwartungen, die im Rahmen der Interaktion bedient werden müssen, um Intuitivität zu erzeugen. Je konventioneller gestaltete Lösungen und Interaktionen sind, desto anschlussfähiger sind sie an bestehende Wissensstrukturen der Nutzer. Intuitive Interaktionsmöglichkeiten und -oberflächen sollen subjektiv auf vertrauten Konzepten basieren. Diese Vertrautheit erreicht man, indem man sich bei der Konzeption und Gestaltung interaktiver Systeme an bestehenden Konventionen orientiert. Hierzu können Konventionen aus dem Tätigkeitsumfeld des Nutzers oder der 7
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Siehe Horst Oberquelle: Benutzergerechte MCI in einer dynamischen Welt - Eine Gestaltungsaufgabe, in: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 157–172, S. 160. Vgl. Howard Rheingold: An interview with Don Norman, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 6–7. Vgl. Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 9.
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Interaktionswelten
Natur dienen, die metaphorisch für das Interaktionskonzept adaptiert werden. Besonders effizient ist jedoch die Verwendung bestehender Interaktionskonventionen, die bei den Nutzern bereits mit einschlägigen Kontexten verknüpft sind. Jakob Nielsen und Hoa Loranger beschreiben 2006 die Verletzung webweiter Konventionen als einen der größten Usability-Verstöße bei der Gestaltung von Websites10 . Aus der Perspektive eines Website-Betreibenden bzw. des Gestalters einer Webpräsenz, verbringen Nutzer demnach die meiste Zeit ihrer Onlineaktivität auf anderen Websites. Die eigene Webpräsenz ist nur ein Ausschnitt eines Gesamtangebotes. Nutzer erwarten, dass sich eine Website und die dort angebotenen Interaktionsmechanismen ebenso verhalten, wie die restlichen besuchten Websites. Die Summe aller Websites, die ein Nutzer im relevanten Ausmaß besucht hat, stellen einen Erfahrungsraum dar, den er bewusst und unbewusst zurate zieht, um unbekannte Interaktionssituation zu analysieren und für sich zu erschließen11 . Die Summe all dieser Erfahrungsräume des Kontextes Internet legen Webkonventionen und im speziellen Interaktionskonventionen für Websites fest. Gleiches gilt für andere interaktive Systeme. Die Menge aller Computerprogramme, die für ein und denselben Kontext verfügbar sind, legen Interaktionskonventionen für selbigen fest.
10 11
Vgl. Jakob Nielsen/Hoa Loranger: Web Usability, [Nachdr. der Ausg. 2006], München: AddisonWesley, 2008, S. 76. Vgl. hierzu das Kapitel 5.4. Vgl. zur Beziehung zwischen Erfahrungen, Erfahrungswissen und der Interaktion mit Systemen auch Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, 1. Aufl., Bd. 2412 (UTB), Stuttgart: UVK Verl.-Ges, 2003, S. 157--160 Alan Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, Fourth edition, Indianapolis: Wiley, 2014, S. 312 Donald A. Norman: The design of everyday things, 1. Aufl., New York: Basic Books, 2002, S. 4ff. Aida Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft: Zur Kultursoziologie des Designs (Sozialtheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2012, S. 49–70, S. 61 Pierre Bourdieu/Günter Seib: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft, 1. Aufl., Bd. 1066 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010 Martin Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, in: Birgit Blättel-Mink/0. Renn (Hrsg.): Zwischen Akteur und System: Die Organisierung von Innovation, Opladen: Westdt. Verl, 1997, S. 177–206, url: http : / / www . sozialstruktur.uni-oldenburg.de/dokumente/wissen.pdf, S. 185 Karl H. Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft: Zur Kultursoziologie des Designs (Sozialtheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2012, S. 29–48, S. 39 Claudia Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, Bd. 16 (Studien zur visuellen Kultur), Bielefeld: transcript, 2011, S. 156--167, 249, 267–269 Michael Polanyi: Implizites Wissen, 1. Aufl., Bd. 543 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985 Donald A. Schön: The reflective practitioner: How professionals think in action, New York: Basic Books, 1983 Mira C. Waibel/Theo Wehner: Über den Dialog zwischen Wissen und Erfahrung in der betrieblichen Lebenswelt: Teil I. Kognitive Umstrukturierung der planerischen Vorgaben zur Bewältigung des Fertigungsalltags, in: Harburger Beiträge zur Psychologie und Soziologie der Arbeit 1994.
1 Einleitung
Im Gegensatz dazu ermöglichen innovative Ansätze die Bedienung neuer Technologien und die spürbare Verbesserung bestehender Systeme und Lösungen. Innovationen stellen jedoch einen Bruch mit etablierten Strukturen dar. Sie sind in markanten Aspekten so neuartig, dass sie sich deutlich von dem bisher Bekannten und Gewohnten abheben. Doch wie akzeptieren Nutzer etwas Neues und potentiell besseres, das vom Vertrauten abweicht und dadurch fremd und undurchsichtig erscheint? Und wie kann Gestaltung diese Akzeptanz fördern? Konventionen können die gestalterische Praxis erleichtern, stellen aber gleichzeitig ein Hemmnis dar innovative Ansätze zu entwickeln und diese zu verfolgen. Unbekannte Konzepte wirken unintuitiv und Gewohnheit und Vertrautheit werden mit der Benutzerfreundlichkeit von Systemen verwechselt. Friedewald spricht in diesem Zusammenhang von Aneignungszumutungen12 . Im Zuge der Interaktionsgestaltung erhöht die strikte Einhaltung von Konventionen theoretisch die Wahrscheinlichkeit einer intuitiven Nutzbarkeit. Sie verringert gleichzeitig jedoch die theoretische Innovativität. Die von Joseph Alois Schumpeter identifizierte, zerstörerische Kraft von Innovationen13 steht im Gegensatz zu den werterhaltenden Tendenzen etablierter Konventionen. Somit ist das Grunddilemma erfasst, dass Konventionalität, Innovativität und Benutzerfreundlichkeit in einem komplexen Bezug zueinander stehen, der sich in Pfadabhängigkeiten und Aneignungszumutungen niederschlägt. Im Folgenden soll der Einfluss von Interaktionskonventionen auf die Gestaltung von interaktiven Systemen anhand verschiedener Beispiel einleitend veranschaulicht werden. Das Wirkungsgefüge aus Aktion und Reaktion bei der Interaktion zwischen Mensch und Maschine muss erlernt werden. Die diesem Gefüge zugrunde liegenden Prinzipien sind häufig für den Anwender abstrakt. Sie können durch die visuelle Gestaltung des User Interfaces14 abgebildet werden. Die Verständlichkeit und Eindeutigkeit dieser Abbildung ist jedoch nicht immer gegeben15 . Die meisten dieser visuellen Abbildungen, die entsprechend der Ausführungen von Donald Norman im weiteren Verlauf der vorliegenden Betrachtungen als Affordanzen bezeichnet werden16 , implizieren, dass eine Handlung mit ihnen möglich ist, und wie diese Handlung ausgeführt werden kann –zum Beispiel durch Klicken, Ziehen, Schieben, Wischen, Drehen. Wie Alan Cooper, Robert Reimann, Dave Cronin und Christopher Noessel hinweisen17 , geben sie aber keinen Hinweis auf die Folgen der Interaktion. Während bei realen Objekten häufig sichtbare mechanische Zusammenhänge erklären können, welche Folge eine Betätigung haben wird, fehlt virtuellen Objekten dieses sichtbare 12
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Vgl. Michael Friedewald: Ubiquitous Computing: Ein neues Konzept der Mensch-ComputerInteraktion und seine Folgen, in: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kulturund Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 259–279, S. 259. Vgl. Joseph Alois Schumpeter/Eberhard K. Seifert: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Aufl., Bd. 172 (UTB für Wissenschaft Uni-Taschenbücher Politische Wissenschaft, Soziologie), Tübingen: Francke, 2005 und Joseph Alois Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin: Duncker & Humblot, 2006. Im Folgenden häufig mit „UI“ abgekürzt. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 313--314. Vgl. hierzu Norman: The design of everyday things, S. 9ff. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 313.
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Interaktionswelten
mechanische Wirkprinzip18 . Die Verbindung zwischen Aktion des Nutzers und Reaktion des Systems entsteht bei virtuellen Objekten durch programmierte Funktionen und nach außen hin nicht wahrnehmbaren Logiken.
Abbildung 1: Apples Anwendung „Kalender“ – veröffentlicht als Teil von OS X 10.8 Mountain Lion am 25. Juli 2012 – in der offiziellen Umsetzung mit skeuomorphen Texturen (unten im Bild) und einer der grafische reduzierteren Visualität (oben im Bild), wie sie früheren Betriebssystemversionen entspricht19 . Virtuelle Wirkungszusammenhänge20 müssen also erlernt werden und virtuelle Objekte müssen ihre Funktion und Bedienmöglichkeiten abbilden und kommunizieren. Die in Abbildung 1 gezeigten UIs von Apples OS X Kalender Anwendung aus dem Jahr 2012 verwenden unterschiedliche Visualitäten, um die hinterlegte Funktionalität abzubilden und gleichzeitig einen Bezug zur umgebenden grafischen Benutzeroberfläche des Betriebssystems oder zu bekannten Strukturen der Umwelt der Anwender herzustellen. Skeuomorphe Texturen (unten im Bild) sollen als visuelle Metaphern den Funktionskontext und die implementierten Wirkprinzipien verdeutlichen. Die Anwendung hebt sich dadurch visuell von anderen Programmen, die innerhalb von OS X ausgeführt werden, ab. Die obere Darstellung der Kalender Anwendung weist dahingegen eine größere visuelle Ähnlichkeit und Konsistenz zu den übrigen Programmen innerhalb des Betriebssystems OS X auf und kann dadurch zwar nicht auf den ersten Blick als Repräsentanz eines physischen Kalenders erkannt werden, dafür aber als bedienbare Oberfläche. Erst mit steigender Nutzungskompetenz und Nutzungserfahrung der Anwender kann die auf diese Weise entstandene hohe visuelle Komplexität einiger virtueller Objekte reduziert werden. Anhand der Geschichte der Visualität von Scrollbars lässt sich eine solche Entwicklung gut nachvollziehen. Die Diskrepanz einer begrenzten
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Vgl. zur Entkopplung von Aktion und Wirkung bei digitalen Systemen Gillian Crampton Smith: Foreword: What Is Interaction Design?, in: Designing interactions, Cambridge und Mass: MIT Press, 2007, S. vii–xix, S. xv. Quelle: António Pratas: Skeuomorphic vs Digital interfaces and what will 2013 bring us, 2013, url: http://designmodo.com/skeuomorphic-vs-digital-interfaces/. Norman nennt dies mapping. Siehe Norman: The design of everyday things, S. 23.
1 Einleitung
Anzeigefläche bei grafischen Nutzeroberflächen hat zum Bedürfnis geführt, den derzeit angezeigten Bildschirmausschnitt verschieben zu können. Die Lösung hierzu war bereits beim Xerox 8010 Information System, das 1981 mit diversen für die damalige Zeit innovativen MMI-Konzepten und -Funktionen ausgestattet war, eine Kombination aus unterschiedlichen Schaltflächen, die entlang der zu verändernden Bildachse angeordnet wurden21 . Heute, mehr als 35 Jahre nach Markteinführung des Xerox 8010 Information System, ist das Prinzip Scrollen etabliert. Alle Nutzer interaktiver Systeme werden häufig damit konfrontiert und sammeln und verfestigen regelmäßig Erfahrung mit diesem Prinzip. Die starke Verbreitung des Konzeptes führt zwar zu Bekanntheit, diese ist jedoch nicht mit Intuitivität gleichzusetzen. Es findet sich kein metaphorisches Äquivalent zur Scrollbar in der Umwelt und Alltagswelt der Menschen. Das heißt, zur Einführung des Scrollens musste die Bedienung der virtuellen Scroll-Elemente und ihre Funktionslogik erlernt werden; und auch heute muss das Konzept von ungeübten Nutzern erstmal erlernt werden, auch wenn es stark verbreitet und somit etabliert ist. Die Bedienelemente der Scrollbars, sowie ihr Wirkungsprinzip, sind nicht selbsterklärend. Wie Cooper u. a. betonen, weisen nur die grafischen Pfeile auf die Wirkungsrichtung des Bedienelementes hin, auch wenn die Scrollbar grundsätzlich über ihre Affordanz vermittelt, dass mit ihr interagiert werden kann.
Abbildung 2: Im historischen Abriss der Visualität von Scrollbars ist eine Tendenz der Reduktion der Elementanzahl, ihrer visuellen Komplexität und ihrer Wahrnehmbarkeit und Kontraste erkennbar22 .
„The Windows 7 scrollbar´s affordance clearly shows that it can be manipulated. But the only things about it that tells us what it does are the arrows (frequently missing in mobile apps), which hint at its directionality. To know that a scrollbar controls our position in a document, we either have to be taught or learn through experimentation.“23 21 22 23
Vgl. Abbildung 2. Die Darstellung wurde erweitert und basiert ursprünglich auf ohne Verfasser: Scrollbarhistorie, hrsg. v. Alan Schaaf/Imgur Inc., 2012, url: http://i.imgur.com/jpdGk.png. Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 313--314.
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Interaktionswelten
Wie Cooper u. a. beschreiben, wird das Prinzip der Scrollbar, wie sie in Abbildung 3 gezeigt wird, durch eine Kombination aus einer Schiene, einem Griff und zusätzlichen Funktionselementen, virtuellen Knöpfen, abgebildet, die sich über die volle Höhe des Bereichs, in dem Inhalt bewegt beziehungsweise gescrollt werden kann, verteilen. Der Griff kann ausschließlich entlang der Schiene verschoben werden, die zweite Bewegungsachse ist gesperrt. Er kann direkt angeklickt werden und folgt, solange die Maustaste gedrückt bleibt, der Bewegung der mausführenden Hand des Nutzers. Die Reaktion des Systems –die Bewegung des angezeigten Inhalts, das Erscheinen neuer Informationen und das Verschwinden anderer Inhalte am Bildschirmrand –auf die Aktion des Nutzers kann in diesem Moment über die visuelle Wahrnehmung unmittelbar erfahren werden. Dabei wird, durch die unverzögerte Reaktion des interaktiven Systems auf die Handbewegungen des Nutzers, ein Abgleich zwischen dem Weg, den der gescrollte Inhalt auf dem Monitor und dem Weg den die Hand zurück legt, möglich. Die Tätigkeit Scrollen prägt sich im motorischen Gedächtnis des Nutzers ein. Eine weitere Möglichkeit zu scrollen, bieten die von Cooper u. a. erwähnten Pfeilsymbole. Ihre Positionierung erklärt gleichzeitig – gemäß dem Gesetz der räumlichen Nähe – dass sie den Griff der Scrollbar verschieben. Dass dies dazu führt, dass der sichtbare Inhalt, z. B. der Text verschoben wird, wird in der Folge oder durch vorhergehende Interaktion mit dem Scrollgriff verständlich. Selbiges gilt für die dritte Art zu scrollen, die direkte Interaktion mit dem Mausrad oder Scrollfeld eines Trackpads24 . Auch bei dieser Interaktionsart wird die Position des Griffs manipuliert und damit der sichtbare Bereich des Inhaltes verschoben. Allerdings muss sich hierzu der Mauszeiger nicht unmittelbar über dem Griff oder den beiden Pfeilsymbolen der Scrollbar befinden. Es reicht, dass der Cursor über dem scrollbaren Inhalt steht.
Abbildung 3: Die Scrollbars in Windows 7, das von 2009 bis ca. 2015 vertrieben und gepflegt wurde, weisen vier Hauptbestandteile auf: eine Schiene, einen Griff und zwei Schaltflächen mit Pfeilen.
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Vgl. Abbildung 4.
1 Einleitung
Widmet man sich der Entwicklung von Scrollbars seit der Einführung des Xerox 8010 Information System im Jahr 1981 bis zum Jahr 2015 intensiver und betrachtet sowohl ihre Bestandteile, als auch ihre Visualität und Wirkungsprinzipien, werden gängige Konventionen erkennbar. Gleichzeitig lässt sich etwa im Jahr 2007 ein Bruch mit diesen Konventionen feststellen25 . Wie Cooper u. a. beschreiben, entfallen die Pfeile der Scrollbar und die damit verbundenen Schaltflächen in mobilen Anwendungen sehr häufig. Wie die Abbildung 2 zeigt, wurde die Scrollbar in den letzten 35 Jahren fortlaufend überarbeitet. Ihre visuelle Komplexität wurde sowohl durch Weglassen einzelner Schaltelemente als auch durch eine reduziertere visuelle Gestaltung, die zu konturlosen und kontrastärmeren Elementen führt, verringert. In einigen Betriebssystemen für mobile Endgeräte wird die Scrollbar sogar komplett ausgeblendet, solange der Nutzer den Bildschirminhalt nicht durch direkte Berührung und anschließendes Entlanggleiten des Fingers auf dem Bildschirm verschiebt. Dadurch geht die permanente visuelle Darstellung, ob der aktuell angezeigte Bildschirminhalt nur einen Ausschnitt darstellt und somit verschoben bzw. gescrollt werden könnte, verloren. Ohne permanent sichtbare Scrollbar müssen andere visuelle Indikatoren darauf hinweisen, dass nicht der gesamte Inhalt im aktuellen Bildausschnitt angezeigt wird. Dies kann beispielsweise dadurch erfolgen, dass Bildschirminhalte an einer Bildschirmkante abgeschnitten beziehungsweise angeschnitten werden. Ohne jegliche visuelle Hinweise muss ein Nutzer in jeder Anzeigesituation testen, ob durch Wischbewegungen in horizontaler oder vertikaler Richtung neue Inhalte erscheinen26 . Dennoch scheint den meisten Nutzern eine nicht permanent sichtbare Scrollbar – zumindest nach einer geringen Eingewöhnungszeit – kaum Probleme auf mobilen Endgeräten zu bereiten.27 Dies könnte daran liegen, dass ein Smartphone mit berührungssensitivem Display bzw. Toucheingabemöglichkeiten einen neuen Funktionszusammenhang bzw. ein neues Interaktionsgefüge und somit einen eigenen Erfahrungsraum und -Kontext für die Anwender darstellt. In diesem neuen Erfahrungsraum könnten sich Anwender schneller daran gewöhnen, dass aufgrund der, im Vergleich zu Personal Computern, kleineren Anzeigefläche sehr häufig gescrollt werden muss, auch wenn Scrollbars nicht permanent auf die Scrollbarkeit hinweisen. Wie kompliziert es jedoch sein kann, Prinzipien dieses jüngeren, seit ca. 2007 existierenden, Interaktionskontextes „mobiles Endgerät mit Touchinterface“ auf ältere Interaktionskontexte, wie den PC – der mit den zentralen noch heute verwendeten Interaktionsparadigmen Mausinteraktion, fensterbasierte grafische Oberfläche, Icons und Menüs, seit ca. 1981 verbreitet ist – zu übertragen, soll anhand der geänderten 25 26
27
Vgl. hierzu auch Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 11. Vgl. zu den Nachteilen von nicht permanenten Scrollbars Jakob Nielsen: Scrolling and Scrollbars, 2005, url: https://www.nngroup.com/articles/scrolling-and-scrollbars/, ders.: Mobile Usability, First Findings, 2009, url: https://www.nngroup.com/articles/mobile-usability-first-findings/ und Andrew Turrell: The Extinction of the Scrollbar: As the prevalence of scrollbars diminishes, designers need to remain conscious of their benefits and drawbacks to keep content navigation usable. 2012, url: https://uxmag.com/articles/the-extinction-of-the-scrollbar. Vgl. ebd. und Weldond: iOS, OS X and The Death of the Scrollbar, 2011, url: https://gigaom.com/ 2011/05/04/ios-os-x-and-the-death-of-the-scrollbar/.
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Interaktionswelten
Abbildung 4: Das Trackpad eines Dell XPS M1530, von 2007, mit aufgedruckten Hilfsflächen, um die Scrollbar zu steuern.
Wirkungsrichtung beim Scrollen im 2013 erschienen Betriebssystem OS X 10.9 Mavericks von Apple veranschaulicht werden. Hierzu soll jedoch vorbereitend genauer die Beziehung zwischen Aktionsrichtung und Wirkungsrichtung betrachtet werden. Norman bezeichnet diese Kopplung aus Interaktionsrichtung und Auswirkungsrichtung als mapping. „Mapping is a technical term meaning the relationship between two things, in this case between the controls and their movements and the results in the world. Consider the mapping relationships involved in steering a car. To turn the car to the right, one turns the steering wheel clockwise (so that its top moves to the right). The user must identify two mappings here: one of the 112 controls affects the steering, and the steering wheel must be turned in one of two directions. Both are somewhat arbitrary. But the wheel and the clockwise direction are natural choices: visible, closely related to the desired outcome, and providing immediate feedback. The mapping is easily learned and always remembered.“28 Ist das Verhältnis zwischen Interaktionsrichtung und Wirkungsrichtung nicht eindeutig, weiß der Nutzer zwar was er tun kann, weiß aber nicht, wie genau das System reagieren wird, oder rechnet mit dem gegenteiligen Verhalten, was verwirrend auf den Anwender wirken kann. Dies kann verstärkt werden, wenn sich Konventionen, eingeübte Muster und wahrnehmbare Affordanzen widersprechen. Dies soll die Fallbetrachtung eines Dreh-Reglers, mit dem eine Geschirrspülmaschine von 2011 bedient wird, verdeutlichen. Die Drehrichtung mit der ein Drehregler Werte erhöht und verringert ist kulturell geprägt, konventionalisiert und wurde im Laufe eines Nutzerlebens durch diverse 28
Siehe Norman: The design of everyday things, S. 23.
1 Einleitung
Abbildung 5: Ein Drehsteller an einer Geschirrspülmaschine mit uneindeutigem Mapping.
Nutzungserfahrungen mit Dreh-Reglern und weiteren Objekten mit Drehgewinde erlernt. Es besteht also ein konventionelles Mapping zwischen Bewegungsrichtung eines Dreh-Reglers und seiner Wirkungsrichtung. Der in Abbildung 5 gezeigte Drehregler ist neben einer Reihe von LEDs angebracht. Aus der räumlichen Nähe des Drehreglers zur LED-Anzeige der Systemzustände kann der Betrachter auf eine Wirkungsrichtung schließen, die dem implementierten Mapping widerspricht. Die leuchtende LED repräsentiert das aktuell ausgewählte Spülmaschinenprogramm. Um das nächste Programm auszuwählen, die aufleuchtende LED also um eine Stelle nach unten zu bewegen, muss der Drehsteller im Uhrzeigersinn gedreht werden. Das heißt, ein gedachter Punkt auf der linken Seite des Drehreglers, müsste, wie in Abbildung 6 gezeigt, nach oben gedreht werden, damit die direkt daneben liegende, leuchtende Hervorhebung nach unten wandert. Die räumliche Nähe der Elemente und ihre genaue Anordnung stehen nicht im Einklang mit dem Mapping zwischen Wirkungsrichtung und Interaktionsrichtung. Wäre die LED-Anzeige rechts des Dreh-DrückStellers angeordnet, wäre das Mapping klarer. Alternativ wäre auch die Umkehrung der Reihenfolge der Funktionen innerhalb der Funktionsanzeige förderlich, sodass ein Dreh nach rechts dazu führt, dass die aktuelle LED erlischt und die darüberliegende LED aufleuchtet. Dadurch bliebe das implementierte Mapping zwischen Position des Dreh-Drück-Stellers und der aktuell ausgewählten Funktion erhalten und die Leserichtung der LED-Anzeige würde der Wirkungsrichtung eines Drehs am Dreh-DrückStellers entsprechen. Während im Falle des Dreh-Drück-Stellers das uneindeutige Mapping eine Folge der Positionierung des Bedienelementes und einer vielleicht nicht absolut einheitlichen kulturellen Prägung ist, war sowohl die Positionierung als auch das Mapping einer Scrollbar für mehr als 30 Jahre über sämtliche Computer, Betriebssysteme und Softwareversionen konstant. Man kann also von einem etablierten Mapping sprechen, von einem Verhalten, das alle Nutzer eines Desktop-Computers kennen und das als Konvention gilt. 2013 wurde mit OS X Mavericks erstmals dieses Mapping zwischen
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Interaktionswelten
Abbildung 6: Der Drehregler muss im Uhrzeigersinn gedreht werden, damit die nächst tiefere LED aufleuchtet.
Scrollbewegung und Scrollrichtung geändert. Dort wird nicht nur die Scrollbar, wie auch im mobilen iOS, ausgeblendet und nur als Folge einer Scrollinteraktion eingeblendet, sondern auch die Scrollrichtung wird an die Scrollrichtung auf Touchgeräten angepasst. Entgegen dem zuvor etablierten Mapping, wurde das Prinzip von iOS, also touchbasierter, direkter Interaktion, in den Interaktionskontext PC, also die Point-andClick Welt, übertragen. Auf mobilen Geräten mit iOS und Touchinteraktion wird scrollbarer Inhalt kontaktanalog zur Bewegung des Fingers des Anwenders verschoben. Während des Scrollens folgt der Inhalt direkt, ohne Übersetzung der motorischen Bewegung des Nutzers. Dieses Verhalten stellt jedoch eine Abweichung von der Scrollbar-Logik auf anderen Gerätetypen, wie dem PC, dar. Wenn man beispielsweise in OS X 10.8 Mountain Lion, dem Betriebssystem für Macs von 2012, zum Scrollen ein Trackpad verwendet29 , wie sie häufig in Notebooks integriert sind, gleicht das Systemverhalten dem Wirkungsprinzip beim Scrollen mit dem Mausrad einer Maus. Das Mausrad beeinflusst dabei direkt den Griff der Scrollbar und verschiebt diesen. Bewegung des Fingers, Drehrichtung des Scrollrads und Bewegungsrichtung des vertikalen Scrollbar-Griffes sind direkt miteinander verbunden. Das heißt, wird das Mausrad nach unten gedreht, wird der Griff der Scrollbar nach unten verschoben, vom unteren Bildschirmrand fährt neuer Inhalt in den sichtbaren Bereich hinein und die zuvor sichtbaren Inhalte werden auf dem Bildschirm nach oben verschoben. Dieses Verhalten beim Scrollen mittels Mausrad wurde bei OS X 10.8 noch ebenfalls für das Scrollen mittels Trackpad verwendet. Wird der Finger auf dem Trackpad nach unten bewegt, erscheint am unteren Bildschirmrand neuer Inhalt und der zuvor sichtbare Inhalt wird nach oben verschoben. Auf Touchgeräten der Firma Apple führte 2012 eine abwärts gerichtete Interaktionsrichtung jedoch zu einer abwärts gerichteten 29
Vgl. Abbildung 4.
1 Einleitung
Wirkungsrichtung. Wird, beim 2013 geänderten Mapping, in OS X 10.9 der Finger – oder im Falle von OS X Mavericks, werden zwei Finger – auf dem Trackpad nach unten bewegt, wird auch der angezeigte Bildschirminhalt nach unten verschoben. Obwohl der Nutzer also nicht direkt mit dem Bildschirm interagiert, wird der Bildschirminhalt so verschoben, als wäre der Finger unmittelbar in Kontakt mit dem angezeigten Inhalt. Somit fand zwischen 2012 und 2013 ein Bruch im etablierten Mapping aus Scrollbewegung und Wirkungsrichtung auf Macsystemen statt. Die zuvor bestehende Kopplung aus Scrollbewegung auf dem Trackpad und analoger Verschiebung des Griffes der Scrollbar wurde aufgelöst und in die von iOS bekannte Kopplung geändert, in der die Scrollbewegung unmittelbar auf den zu scrollenden Inhalt übertragen wird. Die zuvor beschriebene Unmittelbarkeit zwischen Finger und angezeigtem Inhalt, wie sie bei Smartphones mit Touchdisplay existiert, ist mit einem Trackpad aber nicht gegeben. Eingabefläche und Inhaltsanzeige sind räumlich getrennt. Ein Wechsel der Betriebssystemversion von OS X 10.8 auf OS X 10.9 oder der Wechsel von einem PC mit Linux oder Windows auf einen Mac mit OS X 10.9 oder neuer, kann beim Anwender zu Verwirrung führen. Apple bietet zwar prinzipiell in OS X Mavericks an, das Scrollverhalten umzustellen, innerhalb dieser Einstellungen wird dem Nutzer jedoch durch die Benennung des iOS Wirkungsprinzips als „natürlich“ suggeriert, dass dies die selbstverständliche, richtige Einstellung sei. Apple bewertet somit die beiden möglichen Konfigurationen und stellt somit nicht nur Anwender beim Wechsel des Betriebssystems oder der entsprechenden Betriebssystemversionen vor die Herausforderung ihr gewohntes Verhalten überprüfen zu müssen, sondern suggeriert durch die Formulierung der Einstellungen zusätzlich, dass das bisher erlernte Scrollprinzip falsch und unnatürlich sei. Dass Apple, trotz der jahrzehntelangen Mausbedienung in macOS beziehungsweise OS X30 , überhaupt das etablierte Scrollverhalten durch das von iOS ersetzen konnte, liegt vor allem daran, dass es durch technische Weiterentwicklung des Trackpads gelang Mehr-Finger-Eingaben zu registrieren. Nur durch diese technische Weiterentwicklung konnten Wischgesten registriert und von einfachen Fingerbewegung, die primär ausgeführt werden, um den Cursor von einer Position auf der Anzeigefläche zu einer anderen zu verschieben, unterschieden werden. Berührt der Anwender das Trackpad mit einem Finger und verschiebt diesen dann, wird mit einer einstellbaren Übersetzung der Mauszeiger bewegt. Berührt der Anwender das Trackpad mit zwei Fingern, wird je nach fokussierter Anwendung und darin existierender Situation der angezeigte Inhalt gescrollt. Ein solches Trackpad stellte eine in der Form neue Art von Eingabemedium ohne eindeutige Verwandtschaft zu vorigen Eingabegeräten dar. In dem Moment, als Apple Mehrfinger-Interaktion auf seinen Trackpads ermöglicht hat, konnte eine natürliche Scrollrichtung für dieses Medium definiert werden. Es war eine Designentscheidung innerhalb des Apple-Konzerns, diese neu definierbare natürliche Scrollrichtung an die Scrollrichtung bei direkt manipulierbaren (Touch)Interfaces anzulehnen und nicht am Scrollrad der Maus.
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Apples Betriebssystem hieß von 1997 bis 2001 Mac Os, von 2001 bis 2012 Mac OS X, zwischen 2012 und 2016 OS X und ab 2016 heißt es macOS.
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Interaktionswelten
Apple bietet das Trackpad nicht nur als eigenständige Peripherie an, sondern integriert dessen Funktionen auch in die eigene Maus „Magic Mouse“ und ersetzt dadurch, wie in Abbildung 7 gegenübergestellt, das Scrollrad bzw. den Apple typischen Scrollball. Die Magic Mouse als Hybrid aus klassischer Maus und Trackpad erlaubt die Fusion zweier Interaktionsparadigmen und erleichtert Mac-Anwendern die Umstellung auf die natürliche Scrollrichtung. Verwendet ein OS X Nutzer jedoch eine Maus mit Mausrad, passen Affordanzen, Wirkungsprinzip und Nutzungserfahrungen nicht zusammen. Das Scrollrad impliziert ein „unnatürliches“ Scrollverhalten, wenn man im Namensschema Apples bleiben möchte.
Abbildung 7: Apples Mighty Mouse (links; vertrieben von 2005 bis 2009 ohne Kabel und bis 2017 mit Kabel) und Magic Mouse (rechts; vertrieben ab 2009) im Vergleich. Die Mighty Mouse hat einen Scroll-Ball und ermöglicht es so, horizontale und vertikale Scrollbars zu steuern. Die Magic Mouse hat eine berührungssensitive Oberfläche und registriert so Touchgesten. Weshalb Apple diese Benennung wählt, kann aus Normans Erläuterungen zu natural mapping gefolgert werden. „Natural mapping, by which I mean taking advantage of physical analogies and cultural standards, leads to immediate understanding. For example, a designer can use spatial analogy: to move an object up, move the control up. To control an array of lights, arrange the controls in the same pattern as the lights. Some natural mappings are cultural or biological, as in the universal standard that a rising level represents more, a diminishing level, less.“31 Norman hat 2002 ein Experiment durchgeführt, um die Aspekte, die zu einem natural mapping führen, erfassen zu können. In diesem Experiment sollten Probanden aus 13 Legosteinen ein Polizeimotorrad mit Motorradfahrer und Motorradhelm zusammen bauen. Eine Bauanleitung hatten die Probanden nicht zur Hand und dennoch hatten die meisten Teilnehmer des Versuchs keine Probleme die Aufgabe zu bewältigen. Statt 31
Siehe Norman: The design of everyday things, S. 23.
1 Einleitung
eine Anleitung zu befolgen haben die Testprobanden aufgrund der vorliegenden Teile, deren Form- und Farbgebung und ihrer Anzahl darauf geschlossen, was die Teile in Kombination darstellen können und wie diese zusammengebaut werden müssen. Während einige Teile aufgrund ihrer Form nur an ein einziges anderes Teil und nur auf eine einzige Art und Weise passten, konnten andere Objekte nur richtig zusammengebaut werden, weil die Probanden erkannten, dass die Einzelteile in Gesamtheit ein Polizeimotorrad samt Fahrer ergeben und somit eine natürliche, kulturell erlernte, semantische Ordnung erkannten. Wäre die Aufgabe Probanden gestellt worden, die noch nie zuvor ein Motorrad gesehen haben, wären diese zwar wahrscheinlich in der Lage gewesen, die Steine, die aufgrund ihrer korrespondierenden Gestalt nur zu einem weiteren Teil passen, zusammen zu stecken, das Gesamtmodell wäre aber wahrscheinlich nicht absolut richtig zusammen gebaut worden. Kulturelle Zwänge sind lebensweltlich und sozial geprägt32 und setzen das Erkennen einer Situation und eines Kontextes voraus.
Abbildung 8: Die Systemeinstellungen zur Scrollrichtung in OS X 10.10 Yosemite. Hervorhebung durch den Verfasser. Die von Apple als „natürlich“ bezeichnete Scrollrichtung, könnte zwar als physikalische Analogie angesehen werden, gleichzeitig widerspricht sie in manchen Interaktionszusammenhängen kulturellen Standards bzw. gängigen Interaktionskonventionen. Durch die in Abbildung 8 gezeigte Benennung der Einstellungsparameter wird bereits impliziert, was richtig und was falsch ist. Dabei ist jedoch entscheidend, was sich für den Nutzer richtig anfühlt. Das ist vor allem davon abhängig, was konform mit den Vorerfahrungen und den daraus resultierenden Erwartungen der Nutzer ist, also welche semantischen und kulturellen Zwänge vorliegen. Im Falle der Scrollrichtung hängt dies vor allem damit zusammen, wie lange und wie intensiv Nutzer bereits Maus- oder Touch-Interaktion nutzen und ob sie eine kontextuelle Trennung zwischen mittelbarer Maus- und unmittelbarer Touch-Interaktion
32
Vgl. ebd., S. 84--85.
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Interaktionswelten
vornehmen oder ob in ihrem Mentalen Modell33 beide Interaktionsprinzipien einen Gesamtkontext darstellen, da sie primär den angezeigten Bildschirminhalt bewegen wollen, und nicht ein Eingabegerät oder die Scrollbar. Der Bruch mit diesen Gefügen führt zu Verwirrung. Der Bruch mit gängigen Interaktionskonventionen eines Kontextes kann zum flächendeckenden Nutzungshindernis werden. Zuvor erlernte Problemlösungsmechanismen, Handlungsmuster und motorische Abläufe der meisten Anwender werden nun in ihrer Effizienz beschränkt oder gar nutzlos34 . Gleichzeitig sind solche Brüche mit Interaktionskonventionen häufig ein geeigneter Schritt, um kommenden Nutzergenerationen eine optimale User Experience bieten zu können, ohne veraltete Funktionszusammenhänge vermitteln zu müssen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass derzeitige Interaktionsweisen gänzlich intuitiv oder gar perfekt sind35 . Sie setzen immer voraus, dass sich der Nutzer bereits mit einem System vertraut gemacht und eine erste grundsätzliche Lernschwelle überwunden hat. Für eine Person ohne Erfahrungsschatz im Umgang mit interaktiven Systemen, wird die in diesem Kontext, derzeit gängige Interaktionsweise weder intuitiv noch schnell erlernbar sein. Die Fähigkeit, sich schnell in spezielle Interaktionssituationen hinein zu denken und durch Rekombination bisher verinnerlichter Handlungsmuster zu lösen, liegt in diesen Fällen aufgrund fehlendem Vorwissens nur rudimentär vor. Das Erlernen konventioneller Interaktionsprinzipien ist für solche Neuanwender genauso aufwändig, wie das Erlernen unkonventioneller Interaktionsprinzipien. Die Anpassbarkeit an unterschiedliche Interaktionssituationen, -Mechanismen und -Konzepte ist eine spezielle Form der Medienkompetenz, die explizit erworben werden muss. Interaktionsgestalter können als Experten – im Gegensatz zu ahnungslosen Nutzern36 – auf einen umfangreichen Erfahrungsraum bei der Gestaltung und Nutzung von Bedien- und Anzeigekonzepten zurückgreifen. Doch, so wie die mangelnde Erfahrung ein Hindernis bei der Bedienung von interaktiven Systemen sein kann, so kann umfangreiche Erfahrung den Interaktionsgestalter daran hindern, gänzlich neue und gegebenenfalls bessere Interaktionskonzepte zu entwickeln. Die eigene Nutzungs- und Gestaltungserfahrung verleitet ihn dazu, unbewusst immer wieder auf altbekannte Lösungen und Mechanismen zurückzugreifen. In diesen Situationen werden Interaktionskonventionen zu dominierenden Doktrinen, die
33
34
35 36
Zu Mentalen Modellen siehe Norman: The design of everyday things, S. 70. Siehe auch Marco Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, Mainz: Verlag Hermann Schmidt, 2012, S. 36, 76. Weitere Beispiele hierfür sind die Änderung der Funktion „Speichern unter“ in OS X Lion (Vgl. hierzu Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 49--52) oder der entfernte „Start“ Knopf in Windows 8. Beide Änderungen zentraler Bedienparadigmen wurden von vielen Nutzern als Fehler, Hindernis und unnötige Änderung wahrgenommen. Vgl. Jef Raskin: Viewpoint: Intuitive equals familiar, in: Communications of the ACM 37.9 (1994), S. 17–18, url: http://www.asktog.com/papers/raskinintuit.html. Im Sinne eines „Novizen“ (Vgl. Hubert L. Dreyfus/Stuart E. Dreyfus/Tom Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, New York: Free Press, 1986, S. 21--36).
1 Einleitung
einschränken und Neuerungen verhindern. „The comfort of a set of principles may be one thing, but to become dominated by a doctrinaire approach is another.“37 Wenn sich Gestalter nicht von diesen Doktrinen lösen, ist das eine Extrem, das vollkommen Neue, theoretisch ausgeschlossen. Das andere Extrem wäre die detailgetreue Kopie. Ihr Innovationsgrad strebt gegen Null und könnte als gestalterisch anspruchslos eingestuft werden. Die zentrale Frage dieser Arbeit ist es, wie in diesem Spannungsfeld aus Innovationen und Konventionen innovative und zugleich intuitiv-nutzbare Bedienkonzepte gestaltet werden können, wie sich Interaktionskonventionen bilden und in welchem Maße sie die Gestaltung innovativer Bedien- und Anzeigekonzepte beeinflussen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern Innovationen innerhalb des Kontextes der MMI bestehende Konventionen verändern. Das skizzierte Spannungsfeld kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und erklärt werden. Die Soziologie und insbesondere die Techniksoziologie liefern in Form der Technikgenese ebenso Erklärungsansätze zur Entstehung und Verbreitung von Innovationen, wie die evolutionäre Ökonomie. Das Spannungsfeld zwischen Innovationen und Konventionen wird darüber hinaus auch in der Sprach- und Medienforschung thematisiert. Aus Sicht der Gestaltungsforschung soll in den folgenden Darlegungen reflexionserweiternd untersucht werden, inwiefern aus den Überlegungen, wann und wie gängige Konventionen verletzt werden sollen, um Innovationen zu schaffen, und wie neue Konzepte beschaffen sein müssen, um konventionsbildend zu sein, flankierende Regeln für die Gestaltung interaktiver Systeme abgeleitet werden können.
1.2
Einordnung der vorliegenden Arbeit in unterschiedliche designtheoretische Forschungsmodelle
Horst Rittel versteht Gestaltung als planendes Handeln, das „um die Kontrolle seiner Konsequenzen“ bemüht ist38 . In Bezug zu diesem Ansatz, soll diese Arbeit einen reflexiven Beitrag leisten, die Auswirkungen und Erfolgschancen innovativen, gestalterischen Handelns im konventionsgeprägten Kontext der MMI besser zu verstehen. Dadurch soll der rationale Analyseumfang der Interaktionsgestaltung erweitert werden, was zur Einordnung dieser Arbeit als gestaltungswissenschaftliche Arbeit führt39 .
37 38
39
Siehe Bryan Lawson: How designers think: The design process demystified, 4. Aufl., Oxford, Burlington und MA: Elsevier/Architectural, 2006, S. 162. Einen ähnliches Gestaltungsverständnis vertreten auch andere Autoren, wie beispielsweise Gui Bonsiepe. Vgl. Gui Bonsiepe: Design: Von Material zu Digital - und zurück. In: Ders. (Hrsg.): Interface (Kommunikation & neue Medien), Mannheim: Bollmann, 1996, S. 17–27, url: http : / / guibonsiepe.com.ar/guiblog/wp-content/uploads/2010/02/Kap-01-Von-Mat-zu-Digital-2010.pdf, S. 26 Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 45. Vgl. Cordula Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Anabas-Verl, 2003, S. 20--21.
25
26
Interaktionswelten
Design Practice
Design Studies
Design Praxis
Design Forschung
kontextgetrieben, ungewöhnlich, synthetisierend
kumulativ, distanziert und beschreibend
kommerzielle Design-Organisationen
Philosophie und andere Disziplinen
Design Exploration Design Exploration
idealistisch, sozial und subversiv
Designkritik, Kunst, Geisteswissenschaften
Abbildung 9: Model des interaction design research, nach Daniel Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, in: Design Issues 24.3 (2008), S. 4–18, url: https://www.mitpressjournals.org/doi/pdf/10.1162/desi.2008. 24.3.4.
1 Einleitung
Als solche ist sie dem interaction design research zuzuordnen, das laut Daniel Fallmans Definition von 2008 Schnittstellen und Auswirkung zur bzw. auf die Industrie, akademische Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen aufweist. Durch die Exploration und Formung möglicher Zukunftsvarianten leistet das interaction design research einen Beitrag in gesellschaftlichen Diskussionen, indem es Zukunftsversionen und Visionen skizzieren und prägen kann40 . Fallman unterteilt, wie in Abbildung 9 dargestellt, das interaction design research in drei Hauptbereiche: design practice, design exploration und design studies. Wie in Darstellung 10 veranschaulicht, können die gegenständlichen Untersuchungen innerhalb der design studies verortet werden, die Fallman als analytische Arbeit versteht. Ihr Ziel ist es, zu beschreiben und zu verstehen, nicht zu erschaffen und zu gestalten. Damit werden generelle Erkenntnisse über die Funktion von Gestaltungsartefakten, -Methoden und -Prozessen angestrebt. Als Werkzeuge werden Kontextanalysen und Diskurse mit anderen Disziplinen angesehen41 . Im Rahmen der hier dargelegten Untersuchungen werden vor allem Erkenntnisse und Diskurse aus der Soziologie, insbesondere der Systemtheorie und der Techniksoziologie, der Innovationsforschung, der Ökonomie, sowie der allgemeinen Designwissenschaft und im weiteren Sinne der Ergonomie, der Usability sowie der Medien- und Computerwissenschaften betrachtet. John Zimmerman, Jodi Forlizzi und Shelley Evenson identifizieren für Designforschung im MMI-Kontext vor allem drei Tätigkeitsfelder42 : 1. Design-Forschung als Dienstleistung für eine Forschungsgemeinschaft: Hilfe, Probleme zu identifizieren, zu benennen und Ergebnisse zu kommunizieren. 2. Design-Forschung als Kritik: Erstellung von Artefakten zur Diskussion kritischer Problemstellungen. 3. Design-Forschung zur Musteridentifizierung: Erkennen von Strukturgleichheiten und Entwicklung von Design-Patterns.
Die hier vorliegende Arbeit ist im weitesten Sinne dem dritten Punkt zuzuordnen, da sie versucht Strukturgleichheiten aufzudecken, um darauf aufbauend Erkenntnisse anderer Wissensgebiete reflexiv auf die Interaktionsgestaltung zu übertragen. Allerdings soll nicht primär das Ziel verfolgt werden Design-Patterns zu entwickeln. Vielmehr soll die Reflexionserweiterung des gestaltungswissenschaftlichen Diskurses im Fokus stehen. Dabei soll das Ziel verfolgt werden, Interaktionsgestaltung reflexiv zu analysieren und Handlungsoptionen und Handlungsmuster aufzuzeigen. Strukturgleichheit soll dabei als zentrale Grundvoraussetzung zur Adaption wissenschaftlicher Erkenntnisse designfremder Diskurse gelten.
40
41 42
Vgl. Daniel Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, in: Design Issues 24.3 (2008), S. 4–18, url: https://www.mitpressjournals. org/doi/pdf/10.1162/desi.2008.24.3.4, S. 5. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. John Zimmerman/Jodi Forlizzi/Shelley Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI, in: Proceedings of the SIGCHI conference on Human factors in computing systems - CHI '07, ACM Press, 2007, S. 493.
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Interaktionswelten
Design Practice
erklären
verstehen
Design Studies
Design Praxis
Design Forschung
Design Exploration Design Exploration
Abbildung 10: Verortung der gegenständlichen Untersuchung anhand des Models des interaction design research nach Daniel Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, in: Design Issues 24.3 (2008), S. 4–18, url: https://www.mitpressjournals.org/doi/pdf/10.1162/desi.2008.24.3.4.
1 Einleitung
„Der Schlüssel zum Verständnis der gesamten [Wissens-] Transaktion ist die Strukturgleichheit, die es in günstigen Fällen erlaubt, aus Annahmen über den zweiten Bereich Einsichten über das ursprüngliche Feld des Interesses zu gewinnen.“43 In Bezug auf Gui Bonsiepe (2004), kann diese Arbeit insofern als endogene Entwurfsforschung eingestuft werden, als dass sie aus dem Entwurfsbereich selbst initiiert ist, da sie konkrete gestalterische, entwurfsbezogene Problem- und Fragestellungen mit dem Ziel behandelt, die Erkenntnisse in den Entwurfsprozess zurückzuführen. Allerdings steht die Wissensgenerierung im Vordergrund, wodurch kein primäres instrumentelles Interesse verfolgt wird44 . Demnach soll von der zweiten Art der endogenen Gestaltungsforschung nach Bonsiepe ausgegangen werden, die jedoch nicht, im Sinne Alain Findelis (ebenfalls 2004) gestaltungsfremde Verwertungskontexte aufweist, sondern explizit durch die Gestaltungsdisziplin verwendet werden soll45 . Ein potentieller zusätzlicher gestaltungsfremder Verwertungskontext soll an dieser Stelle aber nicht ausgeschlossen werden. Durch die Einordnung dieser Arbeit als endogene Gestaltungsforschung mit gestalterischem Verwertungskontext, als Gestaltungsforschung für die Gestaltung, soll das Ziel abgeleitet werden, dass eine wissenschaftliche, gestalterische Verwertbarkeit erreicht wird. Gleichzeitig kann insofern eine Einordnung als Forschung über Gestaltung im Sinne Findelis und somit als tendenziell exogene Forschung im Sinne Bonsiepe stattfinden, als dass auch – ganz im Sinne der design studies – entwurfsexogene Texte und Forschung46 von designfremden Wissenschaftsdisziplinen Berücksichtigung finden. Wie zuvor dargelegt, soll durch die designtheoretische Interpretation dieser Forschung über Design die von Bonsiepe kritisierte Tendenz zur Irrelevanz dieser Forschungsergebnisse für die Gestaltungsdisziplin beseitigt werden. Somit soll das Vorgehen in dieser Arbeit einem Prozess zur Wissensgenerierung und -(re)strukturierung durch wissenschaftliche Methodik und Verwendung gestalterischer Betrachtungsperspektiven, Handlungs- und Denkmuster entsprechen. Eine Charakteristik die primär als Forschung über Gestaltung im Sinne einer design study einzuordnen ist, die einen starken gestalterischen Praxisbezug beinhaltet und als aus dem Entwurfsbereich selbst initiiert angesehen werden kann.
43
44
45 46
Siehe Max Black: Models and metaphors: Studies in language and philosophy, 7. Aufl., Ithaca: Cornell Univ. Press, 1981, S. 230f. Vgl. darüber hinaus Ingo Schulz-Schaeffer: Innovation durch Konzeptübertragung: Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung. In: Zeitschrift für Soziologie 31.3 (2002), S. 232–251, S. 233f. Vgl. Gui Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, Rio de Janeiro, 2004, url: http : //guibonsiepe.com.ar/guiblog/wp-content/uploads/2009/12/SDN_Vortrag-_final_Bonsiepe.pdf, S. 8. Vgl. hierzu Abschnitt 2.1.4 und Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Designund Wissensdiskursen seit 1960, S. 66. Vgl. Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, S. 8.
29
30
Interaktionswelten
1.3
Ansatz und Ziel der Arbeit
Um die Fragen zu beantworten, „wie stark dürfen innovative Interaktionskonzepte von Interaktionskonventionen abweichen, um dennoch Akzeptanz bei den Nutzern zu schaffen und von Ihnen bedienbar zu sein“ und „inwiefern kann Gestaltung dies beeinflussen“, sollen zunächst die Fragen betrachtet werden „wie entstehen Interaktionskonventionen“ und „wie bilden und verbreiten sich Innovationen im Kontext der MMI“. Da „Designwissenschaft [...] im Grundsatz interdisziplinär angelegt“ ist47 erfolgt die Betrachtung dieser Unterfragen mit Hilfe von Diskursen anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Dadurch soll gleichzeitig eine fundierte Theoriebasis sowie eine Eingrenzung des Untersuchungsthemas entstehen. Es wird somit eine Übertragung auf den Kontext der Interaktionsgestaltung und die Erweiterung des gestaltungswissenschaftlichen Diskurses durch Adaption, Erweiterung und Assimilation von Begriffen, Wissenskonstrukten und Kategorien relevanter Diskurse angestrebt. Wie Cordula Meier und Christoph Dorsz hinweisen,48 scheint das Vorgehen, Begriffe, Theorien, Betrachtungen und Argumentationsketten aus anderen Disziplinen zu übertragen das dienlichste Mittel der Diskurserweiterung, der Herausbildung und Etablierung eigener Termini und Wissensstrukturen und der Etablierung gestaltungstheoretischer Forschungsschwerpunkte und -Ergebnisse als Wissenschaft im gesamtwissenschaftlichen Forschungskonglomerat zu sein. Wie Tomás Maldonado in seiner 2005 erschienen Abhandlung über das Schicksal des Wissens in der digitalen Perspektive und insbesondere über Technik49 hinweist, besteht jedoch die Gefahr, dass Begriffe und Kategorien, beim Versuch sie in andere wissenschaftliche Themengebiete, Kontexte und Sinnzusammenhänge zu übertragen, häufig ihren Sinn verlieren, sofern sie überhaupt zuvor einen Sinn im ursprünglichen Verwendungskontext inne hatten.50 Diese Gefahr soll durch die Identifizierung von Strukturgleichheit – im Sinne Max Blacks51 – zwischen Ursprungskontexten und dem designwissenschaftlichen Diskurs reduziert werden. Strukturgleichheit erhöht die Chance, dass Begriffe anschlussfähig an neue Sinnzusammenhänge sind. Hierzu soll versucht werden, die relevanten Diskursströme zu Innovationen und Konventionen aus tangierenden wissenschaftlichen Disziplinen zu reflektieren und zu einer konsistenten designwissenschaftlichen Perspektive auf die Interferenz von Interaktionskonventionen und Innovationen im Kontext der MMI zusammenzuführen. 47
48 49
50 51
Siehe Cordula Meier/Christoph Dorsz: Abenteuer Universität: Ein Zwischenbericht, in: Präsidentin der Fachhochschule Lübeck (Hrsg.): Öffnungszeiten: Design & Research, Bd. 29 (Öffnungszeiten), 2015, S. 40–48, S. 42. Vgl. ebd., S. 42. Im Original ist diese Abhandlung im Italienischen unter dem Titel „Memoria e conoscenza. Sulle sorti del sapere nella prospettiva digitale.“ erschienen. Das Kapitel 7 „Pensare la tecnica, oggi“ auf das sich hier bezogen wird, wurde im Rahmen eines Sammelbandes, der 2007 erschien, von Gui Bonsiepe ins Deutsche übersetzt. Vgl. Tomás Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften (Schriften zur Gestaltung), Basel, Boston und Berlin: Birkhäuser, 2007. Vgl. ebd., S. 215. Vgl. die Vorgehensweise der Wissensadaption durch Strukturgleichheit nach Max Black, in SchulzSchaeffer: Innovation durch Konzeptübertragung: Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung.
1 Einleitung
Die reflektierte Überführung strukturgleicher Theorien und Deutungsmodelle soll jedoch nicht nur zum Zwecke der Erweiterung wissenschaftlichen Werkzeugs in Form von Termini und Bedeutungsstrukturen, sondern vor allem zum Zweck der Wissensgenerierung erfolgen. Die Betrachtung gestaltungsfremder oder gestaltungsentfernter Diskurse kann daher nur in einem ersten Schritt der Übernahme von Perspektiven, Beobachtungen, Modellen und dem etablierten, umrissenen Vokabular erfolgen. Im Folgeschritt müssen eben diese Aspekte gestaltungsfremder Theoriebereiche in einen gemeinsamen Kontext gesetzt und auf Anschlussfähigkeit geprüft und, sofern nötig, entsprechend konkretisiert werden. Aufbauend darauf muss ein Abgleich mit Erfahrungen der Designpraxis in Betracht gezogen werden, nicht nur mit dem Ziel der Validierung von entwickelten Theorien, sondern mit dem Bestreben, durch theoretische Impulse die Designpraxis an die sich ständig ändernden Fragen und Anforderungen gestalterischer Aufgaben anzupassen. Gleichzeitig ist diese Betrachtung an entscheidenden Punkten durch die gestalterische Praxis und die darin gesammelten Erfahrungen beeinflusst. „‚Forschung durch Design‘ muss uns als höchst willkommen gelten, wenn der Forscher zuvor Bodenberührung mit der Realität hatte (in Paris). Ohne Bodenberührung wäre das Eigene der Forschung nur die Gestaltung des frames, die Gestaltung der Gegebenheitsweise, aber nicht die Übersetzbarkeit (Kommensurabilität, Transformierbarkeit) der Invarianz des Gegebenen in unterschiedlichen Gegebenheitsweisen. Relevant ist nicht die Gegebenheitsweise, relevant ist das darin Gegebene! Relevant ist nicht die von dir adoptierte Gegebenheitsweise, dein Habitus, dein frame. Relevant ist, was du darin zutage gefördert hast in deiner eigenen Forschung.“52 Beim Abgleich zwischen Ergebnissen der designtheoretischen Betrachtungen und der Designpraxis, soll die Eigenständigkeit beider Pole berücksichtigt werden. „Wissenschaft und gestalterische Praxis sind verschieden. Wissenschaft ist ebenso differenziert und hat ihre eigenen Gesetze und ihr eigenes Recht wie die gestalterische Praxis selbst. Ein kleiner Mehrwert, ein Surplus, aber nicht ihr ausschließlicher Zweck, kann zukünftig ein produktives Eingehen in fruchtbare Projektflankierungen und intensive Auseinandersetzungen zwischen Wissenschaft und Anwendung sein.“53 In Kapitel 2 werden zunächst die in den vorausgegangenen, einleitenden Darstellungen verwendeten Begriffe der Interaktionsgestaltung zur Bewertung und Konzipierung interaktiver Systeme, wie Intuitivität, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Erwartungskonformität oder Konsistenz, genauer definiert und voneinander abgegrenzt. In Kapitel 3 erfolgt eine Analyse der Strukturgleichheit zwischen Mensch-Maschine-Interaktion
52
53
Siehe Holger van den Boom: Was heisst Forschung? Ein paar persönliche Bermerkungen zum Thema, in: Präsidentin der Fachhochschule Lübeck (Hrsg.): Öffnungszeiten: Design & Research, Bd. 29 (Öffnungszeiten), 2015, S. 5–11. Siehe Meier/Dorsz: Abenteuer Universität: Ein Zwischenbericht, S. 42--43.
31
32
Interaktionswelten
und Sprache und der Versuch der Deutung von Interaktion als kommunikativer Prozess. Dies stellt die Grundlage der späteren Analysen und Darlegungen in den Kapiteln 4 und 5 dar. Darin sollen Erkenntnisse gestaltungsfremder Diskurse betrachtet und in Kapitel 6 zu einem System der Bildung von Interaktionskonventionen, sowie in Kapitel 7 und 8 der Beschreibung des konventionsbeeinflussten Innovationsprozesses im Kontext der MMI aus gestalterischer Perspektive überführt werden. Diese beiden Erkenntnisräume werden in der Folge in Kapitel 9 als wechselwirksames Gefüge betrachtet. Diese Betrachtung soll in Kapitel 10 Rückschlüsse auf die Gestaltung und Gestaltbarkeit von innovativen Interaktionskonzepten ermöglichen.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
2.1
Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Gestaltungsbegriff durch differenzierte Analyse unterschiedlicher Sinndimensionen
Zunächst soll das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Gestaltung konkretisiert werden, da es einen Bezugspunkt bei der Herleitung weiterer relevanter Begriffe darstellt. Durch den Versuch, im Groben vier Betrachtungsperspektiven innerhalb der Design- und designwissenschaftlichen Literatur zu unterscheiden, soll sich dem Umfang des Gestaltungsbegriffes, der die Beschreibung, Analyse und Bewertung von Gestaltung beziehungsweise Design umfasst, besser angenähert werden. Auch wenn diese Perspektiven nicht scharf voneinander getrennt werden können und an einigen Stellen ineinandergreifen, ermöglicht diese grundsätzliche Unterteilung eine strukturierte Analyse der jeweiligen Perspektive und ihrer zentralen Aussagen. So sollen folgende Bedeutungsräume zur genaueren Begriffsbestimmung dienen: 1. Die Perspektive auf Design/ Gestaltung als eine Handlung – mit Akteuren, Zielen und Prozessen 2. Die Perspektive auf Design/ Gestaltung als Ergebnis – als gestaltetes Artefakt oder Entwurf 3. Die Perspektive auf Design/ Gestaltung als Disziplin – als eigenständige Kategorie, die andere Disziplinen berührt und überschneidet 4. Die Perspektive auf Design/ Gestaltung als Forschungsdisziplin – als eigenständiges Forschungsfeld, Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Durch die Betrachtung dieser Perspektiven soll in den folgenden Kapiteln 2.1.1, 2.1.2, 2.1.3 und 2.1.4 der Gestaltungsbegriff erfasst werden. Nach dem diese (Be-) Deutungsräume betrachtet wurden, sollen im Kapitel 2.2 spezifische Begriffe des deutschen und des anglophonen Sprachraums beziehungsweise Gestaltungsdiskurses gegenüber gestellt werden. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf den Unterschied zwischen Gestaltung und Design eingegangen. Vertiefend hierzu werden auch
34
Interaktionswelten
jüngere Begriffsströmungen wie Design-Thinking betrachtet und versucht, diese einzuordnen. Dies soll insbesondere der Schärfung der zuvor erstellten Definition des Gestaltungsbegriffs dienen. Zur weiteren Eingrenzung des fachlichen Kontextes wird im darauf folgenden Kapitel 2.3 eine Definition des Begriffs der Interaktionsgestaltung erstellt.
2.1.1
Gestaltung als Handlung
Die erste Lesart behandelt Gestaltung aus der wohl nächstliegendsten Position, als Handlung. Ihr lassen sich alle Beobachtungen und Aussagen über den Gestaltungsprozess, die beteiligten Akteure, sowie deren Ziele und Motivationen zuordnen. Sie betrachtet die Gestaltung als Aktion, die über eine Zeit hinweg menschliche und dingliche Objekte verbindet. Diese Verbindung wurde von Bonsiepe 1996 als Interface bezeichnet1 . Demnach ist Gestaltung das Interface, die Schnittstelle, zwischen Körper, Artefakt und Handlungsziel und bildet dadurch eine komplette, eigene Dimension. Wie Tomás Maldonado 2003 im Rahmen eines Festvortrags zum 50. Jahrestag der Gründung der HfG Ulm aufgezeigt hat, sieht auch er die innerste Aufgabe der Gestaltung darin, eine Beziehung zwischen Form, Funktion und Information herzustellen. Er hat sich dabei auf René Thom bezogen, der – so Maldonado – „die enge Beziehung zwischen Formen [. . .] und Informieren deutlich gemacht“ hat2 . Den Gedanken der Schnittstellenfunktion der Gestaltung teilen des Weiteren sowohl Herbert Simon3 als auch Wolfgang Jonas4 . Während Simon 2008 gestaltete Artefakte als Interface und Treffpunkt „zwischen einer inneren und äußeren Umgebung“ verstand5 , begreift Jonas, wie er 2004 darstellt, Gestaltung im Ganzen als Interface „zwischen den Artefakten und ihren Kontexten“, das Kausalitäts-Lücken zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Systemen überbrückt. Allen drei Betrachtungen zum InterfaceCharakter ist gemein, dass sie die Funktion der Gestaltung darin sehen, Zusammenhänge zu erzeugen und aufzuzeigen. Die Bezugspunkte dieses Relationsraumes sind der Mensch und sein Körper, Artefakte – als vom Menschen erzeugte Objekte –, Handlungsziele und ihr Kontext. Bonsiepe schreibt der Gestaltung ein höheres Ziel zu, das über die reine Funktion der Relationsgenerierung hinaus geht. Durch die Gestaltung werden Artefakte „erfunden, entworfen, hergestellt, verteilt, [verkauft] und benutzt, um ‚effektives Handeln‘ zu ermöglichen“6 . Roger Häußling erweitert 2012 die Betrachtung von Gestaltung als Interface, indem er dem Gestalter eine Intention während der Gestaltung zuschreibt. Demnach 1 2 3 4
5 6
Vgl. Bonsiepe: Design: Von Material zu Digital - und zurück. S. 19–20. Siehe Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 369--370. Siehe Herbert A. Simon: The sciences of the artificial, 3. Aufl., Cambridge und Mass: MIT Press, 2008, S. 6. Siehe Wolfgang Jonas: Forschung durch Design, 2004, url: http : / / 8149 . website . snafu . de / wordpress / wp - content / uploads / 2011 / 08 / 2004 _ Basel . pdf, S. 2 & 5. Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 192. Eine Aussage, die eher der zweiten Betrachtungsperspektive der Gestaltung zugeordnet werden könnte. Vgl. Bonsiepe: Design: Von Material zu Digital - und zurück. S. 20 und Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 121.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
formt Gestaltung Schnittstellen mit der Absicht zu beeinflussen. Gutem Design gelinge es, diese „Beeinflussungsabsicht in attraktive Befolgungsofferten“ zu transformieren. So werde laut Häußling Komplexität zugänglich und greifbar7 . Die Erzeugung von Befolgungsofferten – die Donald Norman im MMI-Kontext durch Affordanzen8 abgebildet sieht – zur Greifbarmachung von Komplexität, lässt sich dem Ziel des effektiven Handelns zuschreiben. Damit die Relation zwischen Mensch und Artefakt wirkungsvoll sein kann, muss dem Artefakt eine Befolgungsofferte in Form einer selbstbeschreibenden Funktionserläuterung zugewiesen werden. Nur so kann die Gesamtkomplexität des Relationsraumes handhabbar gemacht werden. Ziel kann aber letztlich nicht nur der effektive Umgang sein. Auch die Effizienz der Handlung muss Ziel der Gestaltung sein. Basierend auf den bisherigen Darstellungen ergibt sich eine erste Definition von Gestaltung, die in der Folge jedoch weiter ausgearbeitet werden soll: Gestaltung stellt eine Beziehung zwischen Menschen, Artefakten und Handlungszielen innerhalb eines spezifischen Kontextes her, um den Menschen einen effektiven Umgang mit den Artefakten zu ermöglichen und die Handlungsziele mit angemessenem Aufwand zu erreichen. Bonsiepe bezeichnet Gestaltung darüber hinaus sogar als innovatives Handeln, „das sich der Belange (concerns) einer Gemeinschaft von Nutzern annimmt“9 . Es erzeugt also Neues unter der Prämisse der Verwendbarkeit. Während die Verwendbarkeit an dieser Stelle weitere Beachtung finden wird, soll die Lesart, dass Gestaltung immer und zwingend Neues generiert und dadurch als innovatives Handeln zu betrachten sei, ausgeklammert werden. Gestaltung anhand des Begriff Innovation zu erfassen oder gar zu definieren, erschwert es, das Innovationsverständnis anderer Wissenschaftsdiskurse in den Gestaltungsdiskurs zu überführen. Nur durch die Entkopplung der gegenseitigen Verweise von Innovation und Gestaltung aufeinander, ist es möglich, den Charakter von Innovationen aus Gestaltungsperspektive und die Besonderheiten bei der Gestaltung von innovativen Artefakten fundiert zu erfassen. Hierzu muss zunächst davon ausgegangen werden, dass Gestaltung auch Nicht-Innovatives schaffen kann. Nachdem die Funktion und das Ziel von Gestaltung in einer ersten Bestandsaufnahme erfasst wurden, soll detaillierter auf die beteiligten Akteure eingegangen werden. Während die bereits genannten Akteure Mensch und Artefakt Gegenstände des zu gestaltenden Systems darstellen, wurde der Ausübende, der Gestalter, bislang ausgeblendet. Laut Otl Aicher (1992) ist ein Gestalter „wie ein maler, der statt zu malen rechnet und mißt, er ist wie ein ingenieur, der statt zu konstruieren proportionen sucht, er ist wie ein kaufmann, der statt am absatz an der perfektion, der 7
8 9
Vgl. Roger Häußling: Design als soziotechnische Relation. Neue Herausforderungen der Gestaltung inter- und transaktiver Technik am Fallbeispiel humanoider Robotik, in: Stephan Moebius/ Sophia Prinz (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft: Zur Kultursoziologie des Designs (Sozialtheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2012, S. 273–298, S. 273. Vgl. Norman: The design of everyday things, S. 9. Siehe Bonsiepe: Design: Von Material zu Digital - und zurück. S. 26.
35
36
Interaktionswelten
nützlichkeit interessiert ist, und er ist wie ein bildhauer, der statt nach formen nach konstruktionen und technischer intelligenz sucht“10 . Beachtlich an dieser Aussage ist die Zuweisung der Ziele und Motivation der einen Disziplin und die Methoden und Prozesse einer anderen. Man kann dies auch als Beschreibung von Gestaltung als von Grund auf interdisziplinäre Tätigkeit werten, bei der ständig Anleihen bei etablierten Tätigkeitsfeldern gesucht werden, ohne diesen blind zu folgen. Dies setzt eine Reflexion voraus, die Aicher an anderer Stelle explizit identifiziert, indem er Gestaltung als Dialog aus Analyse und Entwurf versteht, verbunden durch subjektives Schaffen und Reflexion11 . Donald Schön definiert 1983 den Designer als jemanden, der „Dinge herstellt“, in speziellen Situationen, mit speziellen Materialien arbeitet und eine markante Sprache und markante Medien verwendet12 . Schön und Aicher ist demzufolge gemein, dass sie den Gestalter als Spezialisten verstehen, der eine klare Sprache und Methodik verwendet, die analytisch und aufgeschlossen ist und regelmäßigen Reflexionen unterzogen wird. Wie Cordula Meier 2003 betont, müssen diese analytischen Ergebnisse „auf einen werthaften Gesamtkontext“13 bezogen werden, der alle folgenden Gestaltungsentscheidungen überprüfbar und argumentierbar macht. Dies setzt eine tiefgreifende Verankerung fester Prinzipien, wie der Rekonstruierbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Gestaltungsergebnissen, im Gestaltungsprozess voraus. Dadurch ist Gestaltung eine bewusste, „intentionale, zweckbestimmte und zielgerichtete Tätigkeit“, was mit der Meinung Horst Rittels einhergeht. Er identifiziert (1992) vier zentrale Strategien zur Problemlösung14 . Erstens stehen bekannte Routinen zur Lösung des Problemes zur Verfügung. Dies setzt jedoch voraus, dass das Problem in markanten Punkten erfassbar und bekannt und in der Vergangenheit bereits gelöst wurde. Die Routinen, die zur Problemlösung angewendet werden, können dabei sowohl subjektspezifisch als auch institutionalisiert sein. Wenn keine Routinen zur Lösung angewendet werden können, existierten drei Strategien: 1. Trial and Error 2. Entwicklung, Bewertung, Auswahl und Erprobung von Ideen 3. Entwicklung von Varianz, Simulation der Erprobung mittels Durchdenken mehrerer Folgeschritte, Bewertung, Auswahl, Erprobung anhand fundierter Bewertungskriterien
Laut Rittel geht ein rationaler Mensch eher mit der dritten, als mit der ersten Strategie vor. Diese dritte Problemlösungsstrategie fasst Rittel mit „Erzeugung von Varietäten“ und der anschließenden „Einschränkung von Varietäten“ zusammen. Demnach
10 11 12 13 14
Siehe Otl Aicher: Die Welt als Entwurf, 1992. Aufl., Berlin: Ernst, 1992, S. 69. Vgl. ebd., S. 190–191. Siehe Schön: The reflective practitioner: How professionals think in action, S. 78 f. Vgl. auch Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 168. Siehe Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 33. Vgl. Horst W. J. Rittel: Planen, Entwerfen, Design: Ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik, Bd. 5 (Facility management), Stuttgart: Kohlhammer, 1992, S. 55–56.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
wären gestalterische Problemlösungen stets aufbauend auf systematischen Schritten und „argumentativen Entscheidungen“15 und somit nachvollziehbar. Dieser rekonstruierbare und nachvollziehbare Charakter der Gestaltung bzw. gestalterischen Handlung stellt eine klare Abgrenzung zur Kunst dar und verbietet explizit eine künstlerische Lesart des Gestaltungsbegriffes. Gleichzeitig stellt dies die Grundlage dar, um den Gestaltungsprozess, als diskursiven Prozess zu verstehen. Laut Schön läuft dieser als reflexive Kommunikation des Designers mit der Situation und den Anforderungen an sein zu gestaltendes Artefakt ab, indem er seine (Zwischen-) Schritte immer wieder den Anforderungen und der veränderten Situation gegenüber stellt. „In a good process of design this conversation with the situation is reflective“16 . John Zimmerman, Jodi Forlizzi und Shelley Evenson gehen noch weiter, indem sie im Jahr 2007 den Gestaltungsprozess nicht nur beschreiben, sondern ebenfalls strukturieren wollen. Hierzu schlagen sie ein 4-phasiges Ablaufmodell vor17 . Demnach besteht der Prozess der Gestaltung aus der Sammlung und Analyse von Grundlageninformationen, mit dem Ziel, mehrere unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem zu erhalten. Auf diese Analyse folgt die Generierung mehrerer unterschiedlicher, möglicher Ideen im Rahmen einer kreativen Phase. In iterativen18 , zyklischen Schleifen werden die unterschiedlichen Konzepte mit steigendem Detailgrad verfeinert. Auf die Verfeinerung folgt ein Reflexionsphase, in der die eigene Arbeit und der angewandte Prozess rückblickend analysiert und bewertet wird. Ähnliche Versuche, den Gestaltungsprozess zu gliedern sind unter anderem jeweils bei Archer, Fallon und Sidall zu finden19 . Unabhängig davon, ob man Gestaltung tatsächlich als strikten Ablauf klar benennbarer Phasen verstehen möchte oder nicht, wird der Grundcharakter des gestalterischen Prozesses durch die aufgeführten Aussagen klar erfasst. Dadurch ergibt sich eine Definition des Gestaltungsprozesses: Der Gestaltungsprozess ist ein systematischer, analytischer, diskursiver und reflexiver Prozess, der intentionalen, zweckbestimmten und zielgerichteten Erzeugung kontextangemessener Artefakte, unter Berücksichtigung fluktuierender Anforderungen. Dabei werden interdisziplinäre Methoden mit fundiertem Expertenwissen zu charakteristischen Handlungsabläufen verknüpft. 15 16
17 18 19
Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 141. Siehe Schön: The reflective practitioner: How professionals think in action, S. 78 f. Vgl. auch Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 168, 199 und Bryan Lawson/Kees Dorst: Design expertise, Oxford: Elsevier Architectural Press, 2009, url: http : / / www . idemployee . id . tue . nl / g . w . m . rauterberg / lecturenotes / DG000 % 20IMCB / references/Lawson-Dorst-2009.pdf, S. 34 ff. Vgl. Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI. Vgl. Tim Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, 1. Aufl., New York: Harper Business, 2009, S. 16. Vgl. Gui Bonsiepe: Arabesken der Rationalität: Anmerkungen zur Methodologie des Design, in: Ulm 19/20 (Ulmer Texte), Ulm August 1967, url: http://ulmertexte.kisd.de/147.html. Vgl. zum Gestaltungsprozess auch Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 63–128.
37
38
Interaktionswelten
2.1.2
Gestaltung als Ergebnis
Die zweite Betrachtungsperspektive stellt insbesondere den Designbegriff dem erzeugten Artefakt bzw. Entwurf gleich. Diese Doppeldeutigkeit hat weniger Relevanz für den Gestaltungsbegriff. Dennoch können die folgenden Positionen zum Gestaltungsartefakt in die vorigen Darstellungen integriert werden. Gleichzeitig können aus den vorangegangen Betrachtungen erste Aussagen zu dieser Betrachtungsperspektive extrahiert werden. So muss Design, im Sinne des Ergebnisses der Gestaltung, Befolgungsofferten in Form einer selbstbeschreibenden Funktionserläuterung aufweisen. Des Weiteren sind sie immer einem festen Bewertungskontext zugewiesen und helfen Menschen Handlungsziele zu erreichen. Joachim Fischer versteht im Jahr 2012 Design als Kommunikationssyntax, mit der sodann die Befolgungsofferten auf das Artefakt übertragen werden. Diese Syntax übernimmt die Codierung und Decodierung von Informationen im Raum von Ausdrucks-Verstehensrelationen intersubjektiver Lebenswelten20 . Diese Ausdrucks-Verstehensrelationen befinden sich in den von Simon genannten Kausalitäts-Lücken zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Systemen21 . Erst durch die Verbindung von Kommunikationssyntax und Artefakt entsteht nach Ansicht Aichers „das komplexeste gebilde geistiger tätigkeit“. Weiter führt er in „Die Welt als Entwurf“ von 1992 aus: „ein entwurf ist gleichzeitig analytisch und synthetisch, punktuell und allgemein, konkret und prinzipiell. er hält sich an die sache und an forderungen, er greift auf fakten zurück und reißt perspektiven auf. er berechnet und eröffnet landschaften der möglichkeiten“22 und Orientierung23 . Design, als Ergebnis des Gestaltungsprozesses, ist also Verdichtung und Konkretisierung, die auf Artefakte übertragen werden und durch eine feste Syntax kommuniziert werden können, wodurch im Ergebnis Potentiale und Deutungsräume entstehen und Orientierung gegeben wird.
2.1.3
Gestaltung als Disziplin
Die dritte Betrachtungsperspektive versteht Gestaltung als eigenständige Handlungskategorie und Disziplin, die auf reflektierten Gestaltungshandlungen basiert. Erst die analytische Retrospektive24 und die distanzierte Selbstbetrachtung ermöglichen es, 20
21 22 23 24
Siehe Joachim Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft: Zur Kultursoziologie des Designs (Sozialtheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2012, S. 91–108, S. 92. Vgl. Schön: The reflective practitioner: How professionals think in action, S. 78 f. Vgl. Aicher: Die Welt als Entwurf, S. 195. Vgl. Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 12. Raap weist allerdings auf die Verzerrungen – diesen Begriff verwendet sie wertfrei – retrospektiver Betrachtungen hin. Dies gilt insbesondere für die Betrachtung von Designprozessen, ihren Ergebnissen und den Umständen ihres Entstehens. Vgl. Heike Raap: Simplifizieren, präzisieren, idealisieren? Vom Retrospektiven Betrachten von Desingprozessen, in: Präsidentin der Fachhochschule Lübeck (Hrsg.): Öffnungszeiten: Design & Research, Bd. 29 (Öffnungszeiten), 2015, S. 66–71, S. 66–71.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
Gemeinsamkeiten und Charakteristika innerhalb der Gestaltungshandlung, der angewandten Methoden und Prozesse, sowie der Haltungen der Gestalter zu erkennen und zu einem Gesamtgefüge zu kombinieren. Das so beobachtete System stellt laut Bonsiepe (2004) eine eigenständige Kategorie dar25 , die nicht mit der Kunst zu verwechseln ist. Vielmehr sei sie an der Schnittstelle zwischen Industrie, Markt, Technologie und Kultur zu verorten. Als solches wollte Aicher auch die Gestaltungsdisziplin im Ulmer Modell erfassen, das er als „»auf technik und wissenschaft abgestütztes modell des design«, in dem der Designer nicht mehr »übergeordneter künstler, sondern gleichwertiger partner im entscheidungsprozess der industriellen produktion« sei“26 . Bonsiepe geht 1996 sogar so weit zu sagen, dass „Design [...] eine Grundtätigkeit mit kapillaren Verästelungen in alle menschlichen Tätigkeiten [ist], so daß kein Beruf ein Monopol aufs Design beanspruchen kann.“27 Davon sollen die bisher identifizierten Ansprüche an Gestaltung und vor allem an Gestalter nicht egalisiert werden. Vielmehr soll dadurch die Relevanz und vielschichtige Verbreitung dieser Disziplin verdeutlicht werden. In Bezug zum Verständnis der Gestaltung als einheitliche Disziplin der Gestaltungspraxis, die sich auf Wissenschaft und Technik stützt, soll auch die Designforschung im Folgenden betrachtet werden.
2.1.4
Gestaltung als Forschungsdisziplin
Zimmerman, Forlizzi und Evenson verstehen (2007) unter Design Research das Bestreben neues Wissen zu generieren und weniger neue Produkte28 . Das bedeutet bei der Bewegung von der Gestaltung hin zur Gestaltungsforschung wird das behandelte Objekt vom Artefakt hin zum Wissen verschoben. Basierend auf diesem weiten Verständnis von Gestaltungsforschung entsteht ein Aktionshorizont der vielseitige Forschungscharakteristiken ermöglicht. In der Literatur wird dieser Horizont mit Hilfe verschiedener Parameter weitergehend kategorisiert. Relevante Parameter sind: • • • •
25 26
27 28
Der Betrachtungskontext Die Betrachtungsperspektive Der Verwendungskontext Die Methodik
Siehe Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, S. 7. Siehe Claudia Mareis: Wissenskulturen im Design. Zwischen systematisiertem Entwurf und reflektierter Praxis, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft: Zur Kultursoziologie des Designs (Sozialtheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2012, S. 183–204, S. 112. Siehe Bonsiepe: Design: Von Material zu Digital - und zurück. S. 26. Vgl. Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI.
39
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Interaktionswelten
Bonsiepe unterscheidet 2004 anhand dieser Parameter zwischen exogener und endogener Entwurfsforschung29 . Demnach ist die exogene Entwurfsforschung durch eine gestaltungsfremde Betrachtungsperspektive geprägt, aus der heraus versucht wird, innerhalb des Betrachtungskontextes Gestaltung Wissen zu generieren, dass durch die Gestaltung Verwendung findet. Bonsiepe weist bei dieser Art der Forschung ausdrücklich auf die Gefahr hin, dass durch die gestaltungsfremde Betrachtungsperspektive Wissen in Form pauschalen Urteilens generiert wird, „je weiter sich entwurfsexogene Texte und Forschungen von eigener konkreter Erfahrung mit den Widersprüchen, Paradoxien und Aporien des Entwerfens entfernen“. Findeli bezeichnet diese Forschungscharakteristik als Forschung über Design, die „aus der Sicht von ‚designfremden‘ Wissenschaftsdisziplinen (wie etwa der Kunstgeschichte, Ergonomie, Ästhetik, Semiotik, Psychologie, Soziologie, Betriebswirtschaftslehre oder den Bildungswissenschaften) Fragestellungen des Design untersuchen“30 . Diese Betrachtung aus Sicht designfremder Wissenschaftsdisziplinen soll exogene Gestaltungsforschung an dieser Stelle aber nicht als grundsätzlich designfremd deklarieren, auch wenn Findeli ähnlich wie Bonsiepe den mangelnden Bezug dieser Forschungscharakteristik zur Designpraxis und dadurch die mangelnde Relevanz und Verbindlichkeit für die Gestaltung31 kritisiert. Vielmehr handelt es sich bei der Bedienung unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven um eine Grundcharakteristik der Designtheorie, die als interferierendes Wissensgebiet mit Erkenntnissen verwandter Gebiete angereichert wird. „Eine Designtheorie muss immer als eine Vernetzung von verschiedenen komplexen wissenschaftlichen Systemen gesehen werden. Dazu gehören das heutige aktuelle Feld der Philosophie, der Linguistik, der Hirnforschung, der Kulturtheorien, der Germanistik mit kognitivem Schwerpunkt und letztlich die phänomenologische Alltagskultur, die Soziologie, Kommunikationstheorie, Semiotik, Designgeschichte, Mediengeschichte, Kunstgeschichte, Kunsttheorie, Medientheorie, in seltenen Fällen die Politologie oder Religionswissenschaft“32 . Der grundsätzliche Einfluss verwandter wissenschaftlicher Betrachtungsperspektiven führt nicht automatisch und unausweichlich zu Pauschalisierungen und Irrelevanz für die Designpraxis. Eine Möglichkeit eben dieser Banalisierung entgegenzuwirken besteht darin, Forschungsergebnisse konkreten gestalterischen Fallbeispielen und Praxiserfahrungen gegenüber zu stellen. Dadurch können sie auf Verträglichkeit, Relevanz und Anschlussfähigkeit geprüft werden, insbesondere, wenn sie auf nicht gestalterischen Forschungsmethodiken und Bezugsquellen basieren. Als Gegenpol zur exogenen Entwurfsforschung sieht Bonsiepe die endogene Designforschung, die er als „aus dem Entwurfsbereich selbst initiierte Forschung“ versteht und die somit einen gestalterischen Betrachtungskontext aufweist. Sie gehe „vorzugsweise von konkreter Entwurfserfahrung aus und ist oftmals eingebunden in 29 30 31 32
Vgl. Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, S. 8. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 66. Vgl. ebd., S. 65–67. Siehe Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 24.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
endogene Gestaltungsforschung
Gestaltung/ Design Forschung für Gestaltung
Forschung über Gestaltung
Forschung durch Gestaltung
Forschung ohne Gestaltungsbezug
andere Disziplinen exogene Gestaltungsforschung
Abbildung 11: System der endogenen und exogenen Gestaltungsforschung.
den Entwurfsprozess“. Ihr könne dadurch ein primär instrumentelles Interesse unterstellt werden. Gleichzeitig formuliert Bonsiepe eine potentielle zweite Art der endogenen Forschung, die zwar ebenfalls als Betrachtungsperspektive die Gestaltung aufweist, deren Ergebnisse aber „über die unmittelbare Verwertbarkeit im Entwurfsprozess hinausreicht“33 . Der Verwertungskontext dieser potentiellen zweiten Art der endogenen Gestaltungsforschung könnte demnach sowohl die Gestaltung selbst, als auch gestaltungsfremde Wissens- und Praxisgebiete sein. Findeli unterscheidet diese zwei Arten der endogenen Entwurfsforschung als Forschung für Design, die der ersten Art der endogenen Entwurfsforschung im Sinne Bonsiepes entspricht, und Forschung durch Design, das dem von Bonsiepe identifiziertem Potential entspricht34 , wobei er hierbei explizit eine gestaltungsfremde Verwertung als Ziel formuliert. So wie bei der exogenen Designforschung das Risiko des Verlusts des Gestaltungsbezugs besteht, so kann die Wissenschaftlichkeit der Ergebnisse der Forschung durch Design unter gewissen Voraussetzungen angezweifelt werden. Nämlich dann, wenn die Forschungsmethodik in ihrer Charakteristik die Nachvollziehbarkeit und Rekonstruierbarkeit der Ergebnisse verhindert. Dieses Risiko scheint stärker bei der Verwendung von Designmethoden als bei der Verwendung von Gestaltungsmethoden zu bestehen35 . 33 34 35
Siehe Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, S. 8. Vgl. Abbildung 11 und vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 65–67. Hier sei auf den Unterschied zwischen Design und Gestaltung verwiesen (Kapitel 2.2).
41
42
Interaktionswelten
Letztlich muss sowohl bei exogener als auch bei endogener Gestaltungsforschung die Grundfunktion einer Wissenschaft, die laut Julius von Kirchmann darin besteht, „ihren Gegenstand zu verstehen, seine Gesetze zu finden, zu dem Ende die Begriffe zu schaffen, die Verwandtschaft und den Zusammenhang der einzelnen Bildungen zu erkennen und endlich ihr Wissen in ein einfaches System zusammenzufassen“36 erfüllt sein. Das heißt das Ziel einer Gestaltungswissenschaft bzw. der Gestaltung als wissenschaftliche Forschungsdisziplin muss es sein: Gestaltung zu verstehen, die Regeln der Gestaltung zu finden, entsprechende Begrifflichkeiten zu schaffen, die Verwandtschaft und den Zusammenhang der einzelnen Beobachtungen zu erkennen und das gewonnene Wissen in ein einfaches System zusammenzufassen. Die jeweiligen Risiken des pauschalen Urteilens bei der exogenen Gestaltungsforschung bzw. der nicht nachvollziehbaren Beliebigkeit bei der endogenen Gestaltungsforschung und hier insbesondere bei der Forschung durch Design verstoßen imho gegen die Grundanforderungen jeder Wissenschaft, was – entgegen jedweder Lesart – die Forschung durch Design nicht überlegener macht, als die Forschung über Design. Vielmehr umfasst eine spezielle Ausübung der Gestaltung als Forschungsdisziplin, beispielsweise im Kontext der Interaktionsgestaltung, alle Formen der gestalterischen Forschung. So identifizieren Zimmerman, Forlizzi und Evenson für Designforschung im MMI Kontext vor allem drei Schwerpunkte:37 „Probleme identifizieren, benennen und Ergebnisse kommunizieren“, was die Voraussetzung für den gestalterischen Folgeschritt ist und somit als Forschung für Design verstanden werden kann, „Erstellung von Artefakten zur Diskussion kritischer Problemstellung“, was der Forschung durch Design zuzuschreiben ist, und „Design-Forschung zur Musteridentifizierung“, was eher der Forschung über Design zuzuschreiben ist. Dadurch wird allen hier identifizierten Richtungen der Designforschung und -Wissenschaft im Kontext der MMI eine produktive Rolle eingeräumt. Eine detaillierte Übersicht weiterer Begriffe und Disziplinen mit gestaltungs-wissenschaftlichem Bezug gibt unter anderem Claudia Mareis38 . Im Rahmen der vorliegenden Betrachtung der Gestaltung als Forschungsdisziplin soll auf derlei differenzierte Begriffskonstruktion und Definition von Teil- und Unterdisziplinen aber nicht weiter eingegangen werden.
36
37 38
Vgl. Julius Hermann von Kirchmann: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, url: http://fama2.us.es/fde/ocr/2006/werthlosigkeitDerJurisprudenz.pdf Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, S. 2. Vgl. Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI. Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 75–76.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
2.2
Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Gestaltungsbegriff durch Abgrenzung vom Designbegriff
Obwohl im Deutschen bzw. im deutschen Sprachraum die Begriffe Design und Gestaltung scheinbar äquivalent verwendet werden, sind beide Begrifflichkeiten im Kern unterschiedlich konnotiert. Mit Bezug zur Definition des Gestaltungsbegriffs39 in der einschlägigen Literatur, lässt sich für diesen eine deutlich idealistische und existentialistische Färbung festhalten, die nicht zuletzt auf der Funktions- und Lösungsorientierung des Gestaltungsprozesses, sowie der Beschreibung dieses als systematischen, analytischen, diskursiven und reflexiven Ablauf basiert. Im Gegensatz dazu, wird das eigentlich englische Wort Design, das in seinem Ursprung dem italienischen disegno entstammt40 , häufig zur Beschreibung einer ästhetischen und oft modischen äußeren Erscheinung verwendet41 . Diese Konnotation erhält der Designbegriff vor allem im Kontext der deutschen Sprache, wohingegen er im anglophonen Raum eine wertfreiere Entsprechung für eine Konstruktion, die konstruktive Handlung bzw. das konstruierte Ergebnis aufweist. So umfasst laut Mareis der Designbegriff im anglophonen Sinne vor allem die Bereiche „designing as a process in general“ und „designing as practiced by professional designers“. Sie fasst zusammen: „‚Design‘ bezeichnet einerseits traditionelle professionelle Praktiken aus den Bereichen Architektur, Industrie-, Produkt- oder Grafikdesign sowie (vor allem im anglophonen Raum) aus dem Ingenieurwesen. Andererseits wird ‚Design‘ in einem sehr weiten und allgemeinen Sinne als planende, entwerfende und erfinderische Tätigkeit aufgefasst“42 . Maldonado weist ebenfalls auf die Verschwommenheit und gegenwärtige Unschärfe der Begriffe Design und Gestaltung hin. Auf diesen umfangreichen Bedeutungshorizont des Designbegriffs im anglophonen Raum und vor allem im Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion43 weisen ebenfalls Zimmerman/Forlizzi/Evenson hin, indem sie schreiben: „Within the HCI community, it is quite common for people to use the term design to mean HCI practice and to use the term designer to mean an HCI practitioner. In this case a designer might be an interaction designer, a usability engineer, a software architect, a software developer, etc. However, in the design community, the term designer is generally used to refer to someone who has had training or extensive practical experience in a discipline such as architecture, product design, graphic design, or interaction design“44 . Mareis fasst diese Unterschiede 2011 mit der Darstellung zusammen, dass: „während in der deutschen Bedeutung von ‚Design‘, im Anschluss an eine historische Kunstgewerbetradition, überwiegend formal-ästhetische Aspekte betont
39 40 41 42 43 44
Vgl. Abschnitt 2.1.1. Vgl. Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 20. Auf diesen Aspekt wurde bereits im Abschnitt 2.1.2 hingewiesen. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 87–88. Vgl. auch ebd., S. 25. Im zitierten Text entsprechend mit HCI abgekürzt. Siehe Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI.
43
44
Interaktionswelten
werden, [...] ‚design‘ in seiner englischen Bedeutung auch die technisch-konstruktiven Aspekte von Gestaltung (so ist ein Ingenieur auch ein ‚designer‘) [benennt]. Zudem wird damit in einem sehr allgemeinen (nicht explizit formalästhetischen) Sinne ein zugrunde liegender ‚Plan‘ oder ein ‚planvolles Vorgehen‘ verstanden. So wird etwa in der Wissenschaft von ‚Forschungsdesign‘ gesprochen, um die Planung und Konzeption eines Forschungsprojektes zu bezeichnen“45 . In Anbetracht dieser schleichenden Reduktionen des Designbegriffs auf rein formalästhetische Aspekte im deutschsprachigen Raum, schlägt Maldonado im Jahr 2003 gänzlich neue Begriffe vor. Er bevorzugt die Verwendung des Begriffs Entwerfer anstelle von Designer oder Gestalter. Er führt die Unschärfe vor allem auf den Umstand zurück, dass die Begriffe herangezogen werden, um unterschiedliche schöpferische Tätigkeiten zu beschreiben, die aber wenig miteinander gemeinsam haben, wie Architektur, Journalismus, Ingenieurwesen, Modeschöpfung, Philosophie oder Management46 . Meier kommt (2003) hingegen zu dem Schluss, dass „die Begriffsgeschichte ‘Design’ vorerst einem lapidaren Ende entgegen zu gehen [scheint]“, wohingegen „die Begriffsgeschichte ‘Gestaltung’ [...] mit ihrer alten soliden Grundlagenqualität die Chance [hat], aus der verstaubten Bedeutung herauszukommen und durch die neuen komplexen Herausforderungen des Gestaltungsprozesses von virtueller und kultureller Welt neu begriffen und konzeptualisiert zu werden“47 . Aufgrund dieser Aufweichung des eigentlich deutlichen Begriffes Design in der deutschen Sprache, wird im Folgenden zumeist der Begriff Gestaltung verwendet. Seine Verwendung erfolgt im Folgenden, wie zuvor hergeleitet, synonym für die Gestalt, die Gestaltungsdisziplin und die Gestaltungstätigkeit. Wenn es an der jeweiligen Stelle nicht gesondert angegeben wird, ist der Begriff Design im ursprünglichen anglophonen Sinn zu lesen. In diesem Fall soll der Begriff Designer im Sinne des von Zimmerman/ Forlizzi/Evenson (2007) beschriebenen Verständnisses der design community verstanden werden48 . Gestaltung, als Tätigkeit, wird in der Folge als strukturierter, planender, entwerfender und erfinderischer Vorgang verstanden, der als reflektierter Prozess der Vereinbarung von sich verändernden Anforderungen und Zielen durch die fundierte Anwendung gestalterischer Prinzipien abläuft. Diesem Verständnis nach stellt sie eine orientierungsgebende Schnittstelle zwischen Menschen, Artefakten und Handlungszielen innerhalb eines spezifischen Kontextes her, um den Menschen einen effektiven Umgang mit den Artefakten zu ermöglichen und die Handlungsziele mit angemessenem Aufwand zu erreichen. Hierzu werden Verdichtungen und Konkretisierungen analytisch gewonnener Erkenntnisse auf Artefakte übertragen und durch eine feste Syntax kommuniziert, wodurch im Ergebnis Potentiale und Deutungsräume entstehen. 45 46 47 48
Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 26. Vgl. Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 368. Siehe Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 20. Vgl. Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
Die gestalterischen Prinzipien basieren auf interdisziplinären Methoden und fundiertem Expertenwissen, die zu charakteristischen Handlungsabläufen verknüpft werden, die durch Reflexion, analytische Retrospektive und eine distanzierte Selbstbetrachtung das Gesamtbild einer Gestaltungsdisziplin formen. Diese Handlungsdisziplin ist die Grundlage für eine Forschungsdisziplin, deren Aufgabe es ist neues Wissen zu generieren, indem sie das Ziel verfolgt, Gestaltung zu begreifen, ein damit verbundenes Regelsystem zu identifizieren, zu beschreiben und zu benennen, oder mit Hilfe gestalterische Methoden und Prozesse andere Forschungsdisziplinen wissensbildend zu unterstützen.
2.3
Ableitung des Begriffs der Interaktionsgestaltung basierend auf Moggridge, Löwgren, Cooper, Hassenzahl u.a.
Interaktionsgestaltung ist Gestaltung im speziellen Kontext der Mensch-MaschineInteraktion. Das heißt die Anforderungen an die Gestaltung sind durch potentielle Nutzer, ihre Fähigkeiten und ihr Vorwissen, sowie durch technische Abhängigkeiten und Restriktionen bestimmt. Durch den stark technisch geprägten Kontext, werden die allgemeinen Gestaltungsmethoden um spezielle, aus interferierenden Wissensgebieten, wie der Informatik, den Kognitionswissenschaften, der Ethnologie, Anthropologie, Soziologie und den Medienwissenschaften, beeinflussten Methoden ergänzt. So kann die Interaktionsgestaltung, als spezielle Unterdisziplin der allgemeinen Gestaltung, ebenso als interdisziplinäres Feld verstanden werden49 . Der Begriff Interaction Design50 kann auf Bill Moggridge und Bill Verplank zurück geführt werden51 . Zeitlich kann die Begriffsentstehung und die Entstehung des damit verbundenen Bewusstseins für neue Designrichtungen und Teildisziplinen in den zeitlichen Kontext der Verbreitung und Popularisierung des Internets in den 1990er Jahren verortet werden. „The amazing growth and popularity of the web drover that change, seemingly overnight. Suddenly, the phrase `ease of use' was on everyone´s lips. Traditional 49
50 51
Vgl. Jonas Löwgren: From HCI to Interaction Design, in: Qiyang Chen (Hrsg.): Human computer interaction: Issues and challenges, Hershey und Pa: Idea Group Publ, 2001, S. 29–43, url: http : //www.ixdfactory.net/ixdfactory/Handouts_files/Lo%CC%88wgren_FromHCItoID.pdf, S. 42 ders.: Interaction Design, S. 9 und 15 Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, S. 10 Thomas Erickson: Introduction, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 1–4, S. 3–4 Laurie Vertelney/Michael Arent/Henry Lieberman: Two Disciplines in Search of an Interface: Reflections on a Design Problem, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 45–56 und Scott Kim: Interdisciplinary Cooperation, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 31–44. In der Folge auch mit IxD abgekürzt. Vgl. Zur Historie der Begriffsbildung Interaction Design Bill Moggridge: Designing interactions, Cambridge und Mass: MIT Press, 2007, S. 13–14. Vgl. auch Löwgren: Interaction Design, S. 8.
45
46
Interaktionswelten
design professionals, who had dabbed in digital product design during the short–lived popularity of `multimedia' in the early ´90s, leapt to the web en masse. Seemingly new design titles sprang up like weeds: information designer, information architect, user experience strategist, interaction designer.“ „We´re pleased to say that interaction design has truly come into its own as both a design discipline and a profession.“52 Als erste, einfache Beschreibung schlägt Jonas Löwgren 2015 in der zweiten Edition der Enzyklopädie der Mensch-Maschine-Interaktion eine zielorientierte Definition vor, die zwar einige Freiräume offen hält und damit insgesamt eher unpräzise ist, gleichzeitig aber der Vielseitigkeit dieser speziellen Gestaltungsdisziplin gerecht wird. „Interaction design is about shaping digital things for people's use“53 . Das Ziel dieser speziellen Gestaltungshandlungen ist die reibungslose, effiziente und effektive Interaktion zwischen Mensch und Maschine, im Rahmen des zu gestaltenden Systems. Die dabei entstehenden Eindrücke und Erfahrungen, die der Nutzer gewinnt werden als User Experience54 bezeichnet. Sie stellt einen abstrahierten Bezugspunkt bei der Gestaltung und Bewertung interaktiver Systeme dar und wird häufig zur Definition der Interaktionsgestaltung herangezogen: „While there is no commonly agreed definition of interaction design, its core can be found in an orientation towards shaping digital artifacts — products, services, and spaces — with particular attention paid to the qualities of the user experience“55 . Die Qualitäten der User Experience sind stark vom Nutzungskontext sowie den konkreten Anforderungen an das interaktive System abhängig. Die Bedienbarkeit, also die zuverlässige Verwendung der implementierten Funktionen im richtigen Verhältnis aus Aufwand und Ertrag, die Intuitivität, also die Auffindbarkeit und Prognostizierbarkeit dieser Funktionen bzw. ihrer Auswirkungen und die Übersichtlichkeit der Informationen und Inhalte, sowie der Joy of Use, also die gemeinhin positiven Emotionen, die die Bedienung beim Nutzer weckt, können als allgemein erstrebenswerte, qualitative Faktoren der User Experience betrachtet werden. User Experience geht somit über Faktoren der Usability hinaus. Arnd Engeln versteht 2013 User Experience als umfassenderen Begriff, der den Bedeutungsraum des Usability Begriffs beinhaltet. „Der Usability Ansatz fokussiert die direkte Interaktion mit dem Produkt und bewertet dabei Aspekte der Ergonomie und Erlernbarkeit; Zufriedenheit des Nutzers 52 53 54 55
Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. xxi--xxii. Siehe Löwgren: Interaction Design, S. 9. Im folgenden Text häufig durch „UX“ abgekürzt. Siehe Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, S. 4. Vgl. auch Jonas Löwgren: Just How Far Beyond HCI is Interaction Design?, 2002, url: http://boxesandarrows.com/just-how-far-beyond-hci-is-interaction-design/ ders.: How far beyond human-computer interaction is interaction design?, in: Digital Creativity 13.3 (2002), S. 186–192, url: http : / / www . itu . dk / malmborg / Interaktionsdesign / Kompendie / Lowgren2002.pdf ders.: From HCI to Interaction Design, S. 32.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
ist die anvisierte Zielgröße, die es zu optimieren gilt. Der User Experience Ansatz schließt diese bedeutsamen Aspekte des Usability Fokus mit ein, betrachtet darüber hinaus verstärkt emotionale Aspekte des Nutzererlebens und definiert Begeisterung als Zielgröße. Mit diesem Ziel betrachtet er nicht ausschließlich die direkte Interaktion mit dem Produkt, sondern das Nutzererleben vor, während und nach der Produktnutzung.“56 Wenngleich Thomas Tullis und William Albert nicht zwischen Usability und User Experience unterscheiden, stellen sie dennoch dar, dass prinzipiell unterschieden werden kann. Die darauf folgende Darstellung deckt sich mit der Beschreibung von Arnd Engeln. „Some people distinguish between the terms usability and user experience. Usability is usually considered the ability of the user to use the thing to carry out a task successfully, whereas user experience takes a broader view, looking at the individual's entire interaction with the thing, as well as the thoughts, feelings, and perceptions that result from that interaction.“57 Marc Hassenzahl definiert 2015 User Experience als Erfahrung, die durch Technologie geprägt und geschaffen wird58 . Dabei ist Experience für ihn eher mit Erlebnis als mit Erfahrung gleichzusetzen59 . Bei Nutzererfahrung gehe es nicht um Technologie, Industrie- oder Produktdesign oder um Interfaces. Vielmehr seien bedeutende Erfahrungen, die durch ein Artefakt gewonnen werden, wichtig60 . In Dirk Knemeyers und Eric Svobodas Definition wird das Artefaktschaffende, also das spezifische Design, das die Technologie umgibt, als Quelle der Erfahrung betrachtet. „‚User Experience‘, [...] ‚UX‘, is the quality of experience a person has when interacting with a specific design.“61 Ähnlich wie Engeln weisen auch Tullis/Albert im Jahr 2008 darauf hin, dass nicht nur unmittelbar während der Nutzung eines Artefaktes Erfahrungen entstehen, sondern auch rund um diese Nutzung herum. 56
57
58
59 60 61
Siehe Arnd Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte, in: Thomas Maier (Hrsg.): Human Machine Interaction Design: - gezielt wahrnehmen - sicher erkennen attraktiv gestalten, Bd. 610, Stuttgart 2013, S. 75–84, S. 76–77. Siehe Thomas Tullis/William Albert: Measuring the user experience: Collecting, analyzing, and presenting usability metrics (The Morgan Kaufmann series in interactive technologies), Amsterdam und Boston: Elsevier/Morgan Kaufmann, 2008, S. 4. Vgl. Marc Hassenzahl: User Experience and Experience Design, in: The Interaction Design Foundation (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed, Bd. 1, The Interaction Design Foundation, 2015, url: https://www.interaction-design.org/encyclopedia/user_experience_ and_experience_design.html, S. 63. Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 71. Eine ähnliche Meinung vertritt Dan Saffer. Siehe hierzu Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 26ff. Siehe Dirk Knemeyer/Eric Svoboda: User Experience - UX, in: Mads Soegaard/Riike Friis Dam (Hrsg.): The Glossary of Human computer Interaction, 2015, url: https://www.interaction-design. org/literature/book/the-glossary-of-human-computer-interaction/user-experience-ux.
47
48
Interaktionswelten
„User experience [...] refers to all aspects of someone's interaction with a product, application, or system.“62 Obwohl der Begriff User Experience in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren im Kontext der MMI entstanden ist, erstreckt er sich, wie Knemeyer/Svoboda im Jahr 2015 betonen, gegenwärtig über Mensch-zu-Mensch-Kommunikationen, komplexe Dienstleistungen und analoge Produkte, wie dem Automobil63 . Cooper u. a. führen (2014) den Begriff User Experience Design64 auf. Laut ihnen ist dieser Begriff ein Sammelbegriff für verschiedene Gestaltungs- und Usability-Disziplinen. Der Fokus des UxD liegt laut ihnen auf der Herstellung von Produkten, Diensten und Systemen. Sie weisen jedoch darauf hin, dass sich UxD auf die ganzheitlichen Erfahrungen, die ein Nutzer mit einem Produkt sammelt, konzentriert und nicht speziell auf die Erfahrungen während der Interaktion mit einem interaktiven Produkt bzw. Artefakt. Auch Eric L. Reiss65 und Unger/Chandler betonen, dass sich User Experience Design nicht nur auf die Gestaltung von Artefakten beziehen darf, sondern auf alles, was von Menschen wahrgenommen und interpretiert werden kann, um eine Beziehung zu einer Firma oder Objekt zu schaffen. „User experience design is the creation and synchronization of the elements that affect users´ experience with a particular company, with the intent of influencing their perceptions and behavior. These elements include the things user can touch [. . .], hear [. . .]. and even smell [. . .]. It includes the things that users can interact with in ways beyond the physical, such as digital interfaces [. . .], and, of course, people[. . .].“66 Für Cooper u. a. ist UxD somit zu weit gefasst, um den Kern der Konzeption und Gestaltung interaktiver Artefakte zu erfassen. Sie empfehlen statt dessen den von Moggridge geprägten Begriff interaction design67 . Im Kontext der Interaktionsgestaltung und im Bezug der vorliegenden Betrachtungen, soll User Experience und UX Design speziell auf die Interaktion mit Artefakten bezogen werden. Der Fokus der Betrachtung von UX im Kontext dieser Arbeit liegt somit auf der Entstehung und Bewertung von Eindrücken und Erfahrungen, die vor allem durch neuartige Interaktionswege entstehen und gegebenenfalls im Konflikt mit früheren Erfahrungen und gängigen Erwartungen stehen. Erlebnisse prägen die Meinung, die ein Nutzer von einem Artefakt hat. Die daraus resultierende Erfahrung wird in der Erinnerung durch Reduzierung der wahrgenommen Eindrücke konzentriert68 und stellt eine Referenz für zukünftige Interaktionssituationen und die Einordnung der darin gewonnen Eindrücke dar. Laut Marc 62 63 64 65 66 67 68
Siehe Tullis/Albert: Measuring the user experience: Collecting, analyzing, and presenting usability metrics, S. XV. Vgl. Knemeyer/Svoboda: User Experience - UX. In der Folge mit UxD abgekürzt. Vgl. Hassenzahl: User Experience and Experience Design, S. 86–87. Siehe Russ Unger/Carolyn Chandler: A project guide to UX design: For user experience designers in the field or in the making (Voices that matter), Berkeley, CA: New Riders, 2009, S. 3. Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. xxii. Vgl. Hassenzahl: User Experience and Experience Design, S. 71.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
Hassenzahl entsteht das Erlebnis und die resultierende Erfahrung durch Vorstellung, Handlung, Motivation und Erkenntnis. Die Motivation, aus der heraus eine Handlung initiiert wird, ist in einem Handlungsziel abbildbar und der Erfolg der Handlung somit überprüfbar. In wie weit die vorige Vorstellung vom wahrnehmbaren Ergebnis abweicht und ob das ursprüngliche Ziel trotz eventueller Abweichung zwischen Vorstellung und Ergebnis erreicht wurde, prägen die Qualität der Erfahrung und des Erlebnisses. „Psychologically, an experience emerges from the integration of perception, action, motivation, and cognition into an inseparable, meaningful whole.“69 Für die Gestaltung einer Erfahrung und eines Erlebnisses ist das Ziel des Nutzers entscheidend. Die Motivation, eine Handlung durchzuführen und im speziellen, mit einem Artefakt zu interagieren, bestimmt die Zufriedenheit des Nutzers und wie sich die Interaktion anfühlt. Die eigentliche Interaktion ist dabei jedoch selten das Ziel, sondern stets der Weg beziehungsweise das Mittel ein Ziel zu erreichen. Wenn während der Interaktion Signale wahrgenommen werden, die die eigene Handlung des Nutzers bestätigen und gleichzeitig verdeutlichen, dass das Ziel erreicht wird, ist das Erlebnis gut. Auch die Interaktion mit einem Artefakt, das ansprechend und klar gestaltet wurde und dessen Funktionen selbstbeschreibend und flüssig bedienbar sind, kann zu einem nachhaltig schlechten Erlebnis führen, wenn das Artefakt für einen abweichenden Zweck konzipiert wurde. Wenn das Ergebnis der Interaktion nicht dem Ziel des Nutzers in zufriedenstellender Weise entspricht, kann auch eine eigentlich ansprechende Interaktion den Eindruck, den der Anwender vom Gesamtakt erhält, nicht verbessern. Wenn ein Akteur A mit dem Ziel in ein Geschäft geht, darin Milch zu kaufen, darin einer Flut von visuellen und auditiven Reizen erliegt und ein anregendes Gespräch mit dem Personal führt, aber nach 30 Minuten das Geschäft ohne Milch verlässt, war sein gesamter Besuch nicht erfolgreich. Vielleicht bleibt der Einkaufsversuch als ein besonders angenehmer Misserfolg im Gedächtnis, die Gesamterfahrung wird aber vom Verfehlen des eigentlichen Ziels geprägt. Experience Design sollte daher, laut Hassenzahl, immer mit der Frage des „Why“, also der Frage nach dem Ziel und der Motivation des Nutzers beginnen. „Only then, it determines functionality that is able to provide the experience (the What) and an appropriate way of putting the functionality to action (the How). Experience Design wants the Why, What and How to chime together, but with the Why, the needs and emotions, setting the tone.“70 Donald Norman weist jedoch 2015 in Bezug zu Hassenzahl darauf hin, dass Erfahrungen und Erlebnisse nicht direkt gestaltet werden können, sondern vielmehr durch Gestaltung unterstützt und vorbereitet werden können. Demnach können Affordanzen in der Gestaltung angelegt werden, das eigentliche Erlebnis entstehe aber durch den Anwender71 . 69 70 71
Siehe ebd., S. 72. Siehe ebd., S. 82–84. Vgl. ebd., S. 91.
49
50
Interaktionswelten
Cooper u. a. stellen heraus, dass die Gestaltung interaktiver Produkte ein umfangreiches Tätigkeitsfeld darstellt. Es umfasst die Form, die Funktion, den Inhalt und das Verhalten interaktiver Artefakte und definiert somit alles was ein digitales Produkt ausmacht, was es ist und was es macht. Für Carsten Mohs u. a. (2006) umfasst dies insbesondere die Gestaltung interaktiver Systeme, die Gestaltung physischer Ein- und Ausgabegeräte und generischer und anwendungsspezifischer Elemente der grafischen Oberfläche, die Organisation der Informationen und Funktionen, sowie die sensorische und zeitliche Kodierung des Gesamtsystems72 . Die Gestaltungstätigkeit kann dabei durch Dokumentation und Spezifikation der entworfenen Systematik, durch Reinzeichnung, Erstellung und Definition von grafischen Komponenten und deren Verwendungs- bzw. Konstruktionsregeln, sowie durch prototypische Entwicklung von Proof of Concepts und Mock-ups73 nahtlos in die Entwicklung interaktiver Systeme übergehen. Neben diesen reinen gestalterischen Aspekten der Interaktionsgestaltung zählt Daniel Fallman auch projektbezogene, formelle Aufgaben, wie die Kommunikation mit heterogenen, interdisziplinären Projektgruppen und Stakeholdern und die Reaktion auf sich plötzlich wechselnde Anforderungen und Budgetierungen zur Interaktionsgestaltung74 . Hierdurch wird die Notwendigkeit der steten Reflexion während des Gestaltungsprozesses ebenso betont, wie die Kompetenz der Gestaltung komplexe, interdisziplinäre Anforderungen und Situationen zu erfassen, zu beschreiben und zu kommunizieren, was im speziellen MMI-Kontext und den damit verbundenen interdisziplinären Projekten besondere Relevanz hat. Wie Cooper u. a. aufzeigen, hat sich die Position der Gestaltungshandlungen innerhalb des Gesamtablaufs der Entwicklungstätigkeiten innerhalb eines Softwareentwicklungsprozesses zum Anfang hin verschoben.75 Die erste in der Darstellung 12 gezeigte Reihe stellt den frühen Softwareentwicklungsprozess dar, wie ihn Cooper u. a. beschreiben. Er ist durch reine Entwicklungs- bzw. Programmiertätigkeit geprägt. In der Folge, wurden diese Entwicklungsprozesse verstärkt von Managern und strategisch wirkenden Instanzen eingeleitet. Mit zunehmenden technischen Möglichkeiten wurde die Gestaltung im Entwicklungsprozess integriert. Dies erfolgte jedoch meist erst nach der grundsätzlichen Konzeptions- und Entwicklungsarbeit. Im modernen Softwareentwicklungsprozess findet zwischen den einzelnen Entwicklungsschritten ein höherer Informationsaustausch statt und die Grenzen verschwinden dadurch. Die
72 73
74 74 75
Vgl. Carsten Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, in: Tim Bosenick u. a. (Hrsg.): Usability Professionals 2006, Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag, 2006, S. 130–133, S. 131. An dieser Stelle sei auf den Leitsatz des MIT Media Laboratory „demo or die“ und den Ausspruch „never go to a meeting without a prototype“, der Dennis Boyle zugeschrieben wird, verwiesen. Vgl. Jeff Sutherland: Demo or Die!, 1998, url: http://www.jeffsutherland.org/objwld98/demodie.html beziehungsweise Tom Kelley/Jonathan Littman: The art of innovation: Lessons in creativity from IDEO, America's leading design firm, 1. Aufl., New York: Currency/Doubleday, 2001, S. 106. Vgl. Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, S. 6. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 8. Vgl. ebd., S. 8.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen Developers
Build/Test
Ship
Managers
Developers
Initiate
Build/Test
Ship
Managers
Developers
QA
Designers
Initiate
Build
Test
„Look & Feel“
Managers
Mandate
Designers
Users
Initiate
Design
Specs
Feasibility, Feedback
Developers
Build
Code
Bug Report
QA
Test
Ship
Product
User Input
Ship
Abbildung 12: Die Evolution des Softwareentwicklungsprozesses.
Gestaltung bereitet die eigentliche Entwicklungsphase vor und ebnet bereits in frühen Phasen des Prozesses den Weg. Dieser Wandel des Entwicklungsprozesses passt auch zu den Aussagen von Tim Brown, der feststellt, dass Gestalter immer früher im Entwicklungsprozess involviert werden76 . Allerdings verschiebt er nicht, wie Cooper u. a., die gesamte Gestaltungsphase, sondern trennt sie in umsetzende, handwerkliche Gestaltungsphase, die primär der Entwicklungsphase zuzuordnen wäre, und eine Phase des strategischen design thinking, die stärker der Phase initiate zu zu ordnen wäre. Aus diesen Darstellungen wird deutlich, dass Gestaltung schon bei der strategischen Ausrichtung von Projekten, Prozessen und Produkten Relevanz haben kann; sie sich dabei auf die Erfahrung aus praktischen Entwurfs- und Gestaltungstätigkeiten stützt; und Gestaltung insofern praktische, handwerkliche und strategische, planerische Tätigkeiten und Methoden umfasst. Die stärkere und frühere Involvierung der Interaktionsgestaltung in der Konzeption und Entwicklung interaktiver Systeme und Produkte ermöglicht es, frühzeitig die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit der Integration innovativer Bedienkonzepte zu berücksichtigen und die daraus resultierenden Potentiale und die Risiken gestalterisch zu verarbeiten.
76
Vgl. Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 7.
51
52
Interaktionswelten
2.4
Differenzierte Betrachtung des Begriffsfeldes Design-Thinking als gestalterischer Ursprung von Innovationen
Neben den diffusen Bedeutungen und Konotationen des Designbegriffes im deutschsprachigen Raum, haben sich in den letzten Jahren weitere Begriffskombinationen herausgebildet – wie Design-Thinking, Design-Thinker oder Service-Design-Thinking – die die zuvor angestrebten Charakterisierungen des Prozesses, der Handlungen, der Ergebnisse und der Disziplin aufweichen. Insbesondere ihr starker Bezug zum Themenfeld der Interaktionsgestaltung macht eine Einordnung lohnenswert, da unter den genannten Begriffen in der derzeitigen Literatur Lösungsstrategien und omnipotente Denkmuster proklamiert werden, die Innovationen fördern oder gar garantieren. Vorbereitend für die späteren Betrachtungen zu Innovationen in Kapitel 4 und insbesondere zur Einordnung des Innovationsbegriffes im Gestaltungskontext im Abschnitt 4.5 und zur späteren Einordnung der Betrachtungsergebnisse in einen gestaltungspraktischen Verwertungskontext in den Abschnitten 10.2 und 10.3 soll daher betrachtet werden, welche Bedeutungsdimension die genannten Begriffe aufweisen und in welchem Zusammenhang sie zur Gestaltung interaktiver Systeme und Artefakte und insbesondere innovativer Konzepte und Artefakte stehen. Zum einen ist hierbei interessant, inwiefern die genannten Begriffe normativen Charakter haben und zum anderen, inwiefern sie eine methodisierte und systematisierte Erzeugung innovativer Artefakte und Konzepte im Kontext der Interaktionsgestaltung beschreiben. Sowohl Tim Brown als auch andere Autoren77 verwenden Design-Thinking als Überbegriff für die Denk-, Analyse- und Problemlösungsmuster von Experten aus gestaltungsgeprägten Tätigkeitsfeldern, wie der Produkt- oder Interaktionsgestaltung, oder der Architektur. Die Verwendung des Begriffes Design-Thinking78 scheint jedoch gestaltungstypische Handlungs- und Denkmuster zu mystifizieren und zu idealisieren und stellt gleichzeitig die Eigenständigkeit und Identität einer Gestaltungsdisziplin in Frage. Im Groben scheint Design-Thinking das Bestreben interdisziplinäre Perspektiven bei der Problemlösung zu involvieren und dabei typische Strategien und vor allem Methoden gestalterischer oder viel mehr kreativer Problemlösung – die sich jedoch von Rittels beschriebenen Strategien, Varianzen zu erzeugen und nachvollziehbar zu selektieren, unterscheiden – zu umfassen. Dabei schwankt der Diskurs über
77
78
Vgl. beispielsweise Nigel Cross: Design thinking: Understanding how designers think and work, Oxford, New York: Berg, 2011 Wolfgang Jonas: Schwindelgefühle -- Design Thinking als General Problem Solver? EKLAT Symposium, TU Berlin, 2011, url: http://8149.website.snafu.de/wordpress/wp-content/uploads/2011/07/ 2011_EKLAT.pdf Christoph Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, Orig.Ausg., München: Knaus, 2014 Marc Stickdorn/Jakob Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, Amsterdam und The Netherlands: BIS Publishers, 2011, S. 12ff., 30–33 und 146ff. Katja Thoring/Roland Müller: Understanding the creative mechanisms of design thinking: an evolutionary approach, in: Procedings of the Second Conference on Creativity and Innovation in Design - DESIRE '11, ACM Press, 2011, S. 137–147. Im Folgenden auch mit DT abgekürzt.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
Design-Thinking zwischen der Glorifizierung von gestaltungstypischen Denk- und Handlungsmustern und der Banalisierung gestalterischer Tätigkeit, und den diesen Tätigkeiten zu Grunde liegenden Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Während in der Literatur, die Einen Design-Thinking als gestaltungstypisch und eigenständige Denk- und Handlungsstruktur betrachten, die gewisse kognitive Fähigkeiten voraussetzt, verwenden Andere Design-Thinking als Deckmantel für ein Konglomerat von Kreativitäts-, Analyse-, Qualitätsmanagement- und Projektmanagement-Methoden und -Techniken. Jonas charakterisiert diese beiden Lager als „Forschung über die kognitiven, kommunikativen und sozialen Prozesse des Entwerfens (design thinking, kleingeschrieben)“ und „das neue und massiv propagierte strategisch-methodische Konzept von Innovation und Design (Design Thinking, groß geschrieben)“. Das erste Lager verfolge demnach design thinking mit einem deskriptiven Charakter und das zweite Lager Design Thinking mit einem normativen, programmatischen Charakter79 . Laut Jonas findet kaum ein diskursiver Austausch zwischen diesen beiden Lagern statt80 . Die zweite Lesart der normativen programmatischen Proklamation eines „strategisch-methodischen Konzeptes von Innovation und Design“ impliziert, dass DesignThinking keine Fähigkeit ist, sondern eine Anleitung oder Leitfaden. „Design Thinking ist ein methodischer Ansatz, mit dem kreative Lösungen und Innovationen zielorientiert entwickelt werden können[. . .]. Durch multidisziplinäre Teams, einen iterativen Prozess und die Konzentration auf den Nutzer hilft sie dabei, praktikable Lösungen für alle Lebensbereiche zu entwickeln.“81 „Design Thinking [. . .] bietet das methodologische Handwerkszeug, mit dem kreative Lösungen und Innovationen von jedem Menschen und jeder Organisation systematisch, wiederholbar und zielorientiert entwickelt werden können.“82 So stellen für Brown zwar die Fähigkeiten, die sich Designer angeeignet haben, um technische Möglichkeiten und menschliche Bedürfnisse und Anforderungen abzugleichen, die Basis für Design-Thinking dar, jedoch übergibt Design-Thinking diese Denkund Handlungsmuster Nicht-Designern und ermöglicht ihnen eine breites Problemspektrum zu bearbeiten. „Design thinking takes the next step, which is to put these tools into the hands of people who may have never thought of themselves as designers and apply them to a vastly greater range of problems.“83
79 80 81 82 83
Siehe Jonas: Schwindelgefühle -- Design Thinking als General Problem Solver? EKLAT Symposium, TU Berlin, S. 3–4. Vgl. ebd., S. 3--4. Siehe Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik GmbH: Neu denken, anders arbeiten, 2016, url: https://hpi.de/school-of-design-thinking/design-thinking.html. Siehe ebd. Siehe Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 4.
53
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Interaktionswelten
Jonas plädiert, Design Thinking als „transdisziplinäre Kompetenz“ anzusehen.84 Und Christoph Keese bezeichnet mit Bezug zu David Kelley, dem Gründer der Designfirma IDEO, Design-Thinking als Strategie. Demnach sei Kreativität nichts anderes als „die Fähigkeit, neue Wege zu gehen“, also Probleme auf eine bisher unübliche Weise anzugehen und zu akzeptieren, dass man bei der Lösung des Problems scheitern kann. Zentral sei dabei die Betrachtung von Problemen unterschiedlicher Komplexität mit Hilfe von methodisierten Analyseprozessen und die Erzeugung möglicher Lösungsansätze durch methodisierte Kreativitätstechniken.85 Auch Norman schreibt Design-Thinking nicht nur Designern zu. „Design thinking is a public relations term for good, old–fashioned creative thinking. It is not restricted to designers. Great artists, great engineers, great scientists all break out of the boundaries.“86 Während Norman also die Basis von Design-Thinking im kreativen Denken verankert und es somit nicht aus dem Design entsprungen sieht, führt es Brown explizit auf Design-Fähigkeiten – im anglophonen Sinne – zurück. Was es erschwert, den Begriff Design-Thinking im gestaltungswissenschaftlichen Diskurs zu verorten. Wie Jonas einordnet, beschreibt Design-Thinking typische Designprozesse und hat somit seine Ursprünge im Design. Allerdings habe es „seine engen Ursprünge hinter sich gelassen und [beanspruche] das Potential des ‚General Problem Solver‘.“87 Des Weiteren seien Verfechter des Design-Thinking meist aus gestaltungsfremden Bereichen und überdies „an dem traditionellen Feld mit seinen vielfältigen Wurzeln und seiner kontroversen Theoriegeschichte kaum interessiert“88 . Vielmehr werde Design die Relevanz abgesprochen und „als beklagenswerte Profession der Konsumgüterproduktion, aufgeteilt in hunderte von kleinen Expertenfeldern zurückgelassen.“ Diese Haltung, die Jonas beschreibt, findet sich in Browns Darstellungen wieder. Brown versteht Gestaltung als Kombination dreier Fähigkeiten oder Phasen: inspiration, ideation und implementation. Er führt aus, dass diese Fähigkeiten auf allen unternehmerischen Ebenen verteilt sein müssen, wobei er betont, dass er DesignThinking eine strategische Rolle zuschreibt und es daher „nach ‚oben‘ verlagert“, also im Bereich des strategischen Managements, angesiedelt werden müsse. Im Zuge dessen ordnet er DT als zu wichtig und zu mächtig ein, um es Gestaltern zu überlassen89 . „The natural evolution from design doing to design thinking reflects the growing recognition on the part of today´s business leaders that design has become too important to be left to designers.“90 84 85 86 87 88 89 90
Vgl. Jonas: Schwindelgefühle -- Design Thinking als General Problem Solver? EKLAT Symposium, TU Berlin, S. 7. Vgl. Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, S. 65–68. Siehe Donald A. Norman: Design Thinking: A Useful Myth, 2010, url: http://www.core77.com/ posts/16790/design-thinking-a-useful-myth-16790. Siehe Jonas: Schwindelgefühle -- Design Thinking als General Problem Solver? EKLAT Symposium, TU Berlin, S. 1. Siehe ebd., S. 2--3. Vgl. Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 36–37. Siehe ebd., S. 8.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
Gerade diese letzte Aussage wirft die Frage auf, wie stark Brown DT zwar in den Grundwerten und -Fähigkeiten der Gestaltung verankert sieht, es aber dennoch über die Gestaltung hebt, davon abkoppelt und suggeriert, dass keine spezifischen Fähigkeiten mit gestalterischer Prägung dafür nötig seien. Vor allem die Trennung zwischen Design-Thinking und Design-Doing legt diesen Schluss nahe91 . Praktische Fähigkeit, die wie er selbst schreibt, dazu geführt haben, dass Designer in der Lage sind technische Möglichkeiten und menschliche Bedürfnisse und Anforderungen abzugleichen, und die die Basis von DT darstellen, hält er nicht für notwendig, um ein Design-Thinker zu sein. Er begründet dies damit, dass sich der ökonomische Fokus weg von der Herstellung von materiellen Artefakten, hin zur Erzeugung von Wissen und Diensten verlagert. Dennoch ist DT laut Brown eine praktische Tätigkeit, auch wenn der Name eine Theorie-bezogene Tätigkeit impliziert92 . Vielmehr sei der Design-Thinker laut Brown interdisziplinär veranlagt. Eine gestalterische Prägung sei nicht ausreichend. Brown erläutert, mit Bezug zum „T-shaped“ Modell von McKinsey & Company, was Design-Thinker von üblichen Gestaltern unterscheidet. Demnach beschreibt das T-shaped Modell zwei Achsen auf denen Personen Fertigkeiten aufweisen können. Die eine Achse repräsentiert tiefes (Experten-) Wissen innerhalb eines spezifischen Themenkomplexes. Laut Brown ist eine solche Kompetenz schwer zu akquirieren aber leicht zu erkennen. Er weist jedoch darauf hin, dass eine solche tiefe Expertenfähigkeit innerhalb eines Themenkomplexes nicht ausreiche. So seien viele Designer zwar ausgezeichnete Handwerker, Techniker oder Forscher und Explorateure, seien aber trotzdem an komplexen Problemstellungen der Gegenwart gescheitert. Sie seien zwar wertvoll, wären aber auf die Ausführung der Problemlösung beschränkt. Dagegen würden Design-Thinker T-förmige Fähigkeitsstrukturen aufweisen. Sie seien Experten in einem spezifischen Themenkomplex und darüber hinaus in mindestens einer weiteren Domäne erfahren bzw. ausgebildet. Design-Thinker weisen somit laut Brown interdisziplinäre Fähigkeiten und Erfahrungen auf93 . Design-Thinking sollte zu Creative-Thinking umgewandelt werden, wenn tatsächlich proklamiert wird, dass praktische gestalterische Fähigkeiten unnötig für DesignThinking seien und die Relevanz formaler, qualitativer Gestaltung somit herunter gespielt wird. Ohne die Exklusivität der Fähigkeit von Gestaltern, gestalterisch zu Wirken, postulieren zu wollen, spricht dennoch vieles dafür, die gestaltungstypischen Denk- und Handlungsmuster nicht als Abfolge methodisierter Tätigkeiten zu banalisieren, sondern der gestalterischen Arbeit einen zusätzlichen Erfahrungsraum, der auf speziellen kognitiven Fähigkeiten basiert, zuzuschreiben. „Customers, although they might be able to articulate the problems with an interaction, often cannot visualize the solutions to those problems. Design is a specialized skill, just like software development.“94
91 92 93 94
Vgl. auch ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 27. Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 10.
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Interaktionswelten
Design ist eine spezialisierte Tätigkeit. Vielleicht kann jede Person jedweder Disziplin klar beschriebene Methoden der Gestaltung anwenden, aber die richtigen Schlüsse aus diesen Arbeitsschritten zu ziehen ist nicht einfach methodisierbar. Zur Gestaltung gehört eine Kompetenz, nämlich die Fähigkeit, zu entscheiden, wann eine Methode angewendet wird, wann sie abgewandelt wird und wann ein neues Vorgehen entwickelt werden muss. Wie bei den Betrachtungen zu Gestaltung als Handlung dargestellt, gehört Iteration und Reflexion zu gestalterischen Prozessen und Handlungen dazu. Wie Rittel dargestellt hat, basiert nicht jede Lösung eines Problems auf bereits bekannten Problemlösungsstrategien oder Methoden. Ebenso kann nicht jede Lösung eines Problems methodisiert werden. Dies würde voraussetzen, dass alle Probleme beschreibbar und kategorisierbar wären und es grundsätzliche Ähnlichkeiten zwischen allen Problemen gäbe. Tatsächlich scheint es aber realistischer zu sein, dass komplexe Probleme abstrakt sind und auf eine Summe kleiner Detailprobleme zurück geführt werden können. Einzelne Arbeitsschritte werden häufig bei Problemlösungsprozessen benötigt – wie z. B. das schnelle Erfassen vieler spontaner Ideen durch Brainstorming oder andere Kreativitätstechniken – und können somit mit etablierten Methoden bearbeitet werden. Die Ergebnisse dieser Schritte stellen aber nicht die Lösung der Hauptproblems dar, sondern nur einen Zwischenschritt. Die Systematische und reflektierte Weiterverarbeitung dieser Zwischenergebnisse erfordert Wissen und Fähigkeiten und nicht nur Methoden. Gestaltung ist methodengestützte Arbeit nicht methodenunterjochte Arbeit. Wie Cooper u. a. dargestellt haben, ist Gestaltung eine spezialisierte Tätigkeit95 . Auch Nigel Cross, der eher dem ersten Lager, das design thinking mit einem deskriptiven Charakter verfolgt96 , zuzuordnen ist, leitet im Jahr 2011 her, dass design-thinking eine spezielle Form der Intelligenz voraussetzt, die er Design Intelligence nennt97 . Diese kognitiven Fähigkeiten sind laut Cross durch Experimente erfassbar und unabhängig von formaler Ausbildung und methodischen Fähigkeiten98 . Als Beispiel führt er den Vergleich zweier Architekten an, die beide ebenso über umfangreiches theoretisches Wissen, wie praktische Erfahrung verfügen. Jedoch hatte einer der beiden einen Gehirntumor im rechten präfrontalen Cortex, einer Hirnregion, die laut Cross, für höhere kognitive Funktionen zuständig ist. Beide Architekten bekamen die Aufgabe, einen Laborarbeitsplatz hinsichtlich arbeitsergonomischer Prozesse zu restrukturieren. Während sich der gesunde Proband schrittweise dem Problem näherte und über unterschiedliche Iterationsschleifen eine Lösung fand, gelang es dem tumor-
95 96 97 98
Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 10. Vgl. Jonas: Schwindelgefühle -- Design Thinking als General Problem Solver? EKLAT Symposium, TU Berlin, S. 3–4. Vgl. Cross: Design thinking: Understanding how designers think and work, S. 136--140. Vgl. zum Konzept der multiplen Intelligenzen nach Howard Gardner und seiner Relevanz für die Interaktionsgestaltung: Julia Reinhard Lupton: Multiple intelligences, in: Mads Soegaard/Riike Friis Dam (Hrsg.): The Glossary of Human computer Interaction, 2015, url: https://www.interactiondesign.org/literature/book/the-glossary-of-human-computer-interaction/multiple-intelligences, S. 1 und Mark K. Smith: Howard Gardner and multiple intelligences, 2002, 2008, url: http://www. infed.org/mobi/howard-gardner-multiple-intelligences-and-education.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
erkrankten Probanden nicht, aus einzelnen Zwischenschritten Rückschlüsse für den nächsten Schritt zu ziehen99 . Cross leitet daraus ab, dass Design-Thinking nicht nur eine Frage des Vorgehens und der Methodik ist, sondern spezielle kognitive Fähigkeiten abverlangt100 . Aufgrund der bereits dargestellten unscharfen Verwendung von design-thinking als Überbegriff für Problemlösungs-Methoden und -Strategien unterschiedlichster Disziplinen, Kreativitätstechniken zur Generierung, Analyse und Auswahl von Ideen, und Zusammenfassung von Denkweisen, Arbeitsmustern und Best Practices diverser Gestaltungsdisziplinen, scheint eine Unterscheidung zwischen gestaltungstypischen Methoden und Prozessen und grundsätzlichen interdisziplinären Problemlösungmethoden denkbar. Letzteres könnte Design-Thinking lauten, während Ersteres, entgegen der Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinschreibung, die Jonas zur Unterscheidung anführt, als Design Intelligence bezeichnet werden könnte. Damit wären nicht nur Methoden gemeint, die in der Vergangenheit zur Lösung von Problemen angewendet wurden, sondern darüber hinaus die Fähigkeit, Probleme zu erfassen, geeignete Methoden und Strategien auszuwählen oder zu entwickeln und aus jedem Lösungsschritt Ergebnisse und Rückschlüsse zu ziehen, die sich auf Folgeschritte auswirken und so schrittweise zu einer oder mehreren Problemlösungen führen. Das hier vorgeschlagene Verständnis von Design Intelligence soll sich nicht nur auf kognitive Strukturen und Fähigkeiten beziehen, wie es Cross vorschlägt. Stattdessen sollen Aspekte gestalterischer Arbeit hervorgehoben werden, die bei der zu stark auf Methoden und vor allem auf Kreativität fokussierten Auslegung des Begriffs DesignThinking verloren gehen. Nämlich die Fähigkeiten, aus den Ergebnissen einzelner, teils methodisierter, Arbeitsschritte Rückschlüsse für Folgeschritte zu ziehen, das eigene Vorgehen während und nach der Durchführung zu reflektieren und in der Folge anzupassen und so einen iterativen Entwurfs- und Entwicklungsprozess aufzubauen, der aus sich heraus getrieben wird und nicht durch eine Methodenlehre, Strategie oder Philosophie, die Vorgehen diktiert. Das hier verwendete Verständnis von Design Intelligence könnte somit durchaus Anlehnung am Begriff Business Intelligence nehmen. Darunter wird die IT-gestützte Erfassung, Aggregation, Analyse und Aufbereitung von Daten verstanden. Sie versucht innerhalb zuvor erfasster Daten Zusammenhänge zu identifizieren und diese so aufzubereiten, dass „relevantes handlungsorientiertes Wissen“101 abgeleitet werden 99
Cross beschreibt das Ergebnis anhand von sechs Beobachtungen: 1.) Der erkrankte Proband war nicht in der Lage den Übergang von der Problemstrukturierung hin zu Problemlösung zu finden. – 2.) Aus diesem Grund begann er erst nach zwei Dritteln der vorgegeben Zeit mit ersten Entwürfen. – 3.) Die erste, einleitende Entwurfsphase, war sehr kurz und bestand nur aus drei zusammenhangslosen Entwürfen. – 4.) Diese ersten Entwürfe bauten weder aufeinander auf, noch wiesen sie eine Entwicklung auf oder zeigten einen Erfahrungsgewinn des Architekten durch die vorigen Entwürfe. – 5.) Die ersten Entwurfsschritte führten zu keiner wahrnehmbaren Erkenntnis oder Ergebnisübernahme in die finale Entwurfsphase. – 6.) Der Proband hat es nicht in der vorgegebenen Zeit bis zur Ausdetaillierung eines Entwurfs geschafft. 100 Vgl. Cross: Design thinking: Understanding how designers think and work, S. 136–140. 101 Siehe Richard Lackers/Markus Siepermann: Gabler Wirtschaftslexikon: Stichwort: Business Intelligence, hrsg. v. Springer Gabler Verlag, 2016, url: http : / / wirtschaftslexikon . gabler . de / Archiv / 75968/business-intelligence-v10.html.
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Interaktionswelten
kann. Dem liegt ein Intelligenzverständnis zugrunde, wie es Hans Peter Luhn 1958 formuliert hat: „Intelligence is [. . .] the ability to apprehend the interrelationships of presented facts in such a way as to guide towards a desired goal.“102 Der hier unterbreitete Vorschlag ist es demnach, Design Intelligence als gestaltungsgeprägtes Vorgehen zu verstehen, dass durch iterative Prozesse und anschließende Reflektion Informationen ableitet, um handlungsorientiertes Wissen aufzubauen, Problemlösungen zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen. Design Intelligence kann somit auch von der reinen Entwurfstätigkeit abgegrenzt werden, in der es verstärkt darum geht, Artefakte unter formal gestalterischen Aspekten zu konstruieren, arrangieren, formen und mit Information anzureichern. Dagegen vereint Design Intelligence multiple Entwurfsphasen mit analytischen und reflektiven Phasen, wobei nicht zwingend ein Artefakt im Fokus steht, sondern stärker der Wissenserwerb und Wissenstransfer. Gleichzeitig kann es von Design-Thinking abgegrenzt werden, da letzteres keinen Bezug zu gestaltungsbezogenen Fähigkeiten und Erfahrungen voraussetzt. Während die Aspekte der Design Intelligence für das grundsätzlich Verständnis des Design- und des Gestaltungsbegriffes dieser Arbeit relevant sind, wird Design-Thinking im weiteren Verlauf der Betrachtungen vernachlässigt, wenn gleich eine ausführlichere Einordnung in den gestaltungswissenschaftlichen Diskurs lohnenswert scheint. Wie nachhaltig der Begriff Design-Thinking Verwendung finden wird, bleibt abzuwarten und ist davon abhängig, ob Don Norman Recht behält, der proklamiert, DesignThinking als Mittel zum Zweck zur (Neu-) Ausrichtung der Gestaltung auf Funktion und Struktur anzusehen und sobald dieses Ziel erreicht sei, den Begriff zu vergessen103 , oder Jonas, der in Design-Thinking eine „große Vision“ sieht, die als Leitmotiv für eine „Transformation des Designs“ dienen kann, und somit als Begriff für einen nachhaltigen Wandel stehen wird104 .
2.5
Einleitende Betrachtung von Begriffen unterschiedlicher Diskurse zur Mensch-Maschine-Interaktion mit Konventionsbezug
Die Benutzerfreundlichkeit eines interaktiven Systems trägt entscheidend dazu bei, wie sinnvoll seine Benutzung dem potentiellen Anwender erscheint bzw. welchen subjektiven Nutzen aus der Verwendung gezogen werden kann105 . Sie zu erhöhen ist Ziel und Gegenstand der Interaktionsgestaltung. Nielsen unterscheidet im Jahr 2012 zwischen usability, also der Benutzerfreundlichkeit, und der utility, der Brauchbarkeit. Demnach bezeichnet utility ob das betrachtete Artefakt die Funktionen bereitstellt, die benötigt werden, wohingegen usability 102 Siehe Hans Peter Luhn: A Business Intelligence System, in: IBM Journal of Research and Development 2.4 (1958), S. 314–319, url: http://altaplana.com/ibmrd0204H.pdf, S. 314. 103 Vgl. Norman: Design Thinking: A Useful Myth. 104 Vgl. Jonas: Schwindelgefühle -- Design Thinking als General Problem Solver? EKLAT Symposium, TU Berlin, S. 3. 105 Vgl. Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte, S. 76–77.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
ausdrückt, wie einfach und angenehm diese Funktionen zu nutzen sind106 . Für ihn ist die Summe aus Benutzerfreundlichkeit und Brauchbarkeit die Zweckdienlichkeit oder Nützlichkeit. Horst Zuse definiert im Jahr 2008 Benutzerfreundlichkeit als „die vom Nutzer erlebte Nutzungsqualität bei der Interaktion mit einem System“. Dabei werde „eine besonders einfache, zum Nutzer und seinen Aufgaben passende Bedienung [...] als benutzerfreundlich angesehen.“107 Laut Jakob Nielsen108 ist diese zum Nutzer und seinen Aufgaben passende Bedienung durch fünf qualitative Faktoren geprägt: • • • • •
Learnability – Erlernbarkeit der Bedienung Efficiency – Effizienz der Bedienung Memorability – Erinnerbarkeit Errors – Häufigkeit von Fehleingaben und Fehlertoleranz Satisfaction – subjektive Zufriedenheit des Nutzers
Die ISO 9241-110:2006 definiert hingegen sieben Qualitätskriterien interaktiver Systeme109 : • • • • • • •
Aufgabenangemessenheit Selbstbeschreibungsfähigkeit Lernförderlichkeit Steuerbarkeit Erwartungskonformität Individualisierbarkeit Fehlertoleranz
Die Bedienbarkeit, also die zuverlässige Verwendung der implementierten Funktionen im richtigen Verhältnis aus Aufwand und Ertrag, die Intuitivität, also die Auffindbarkeit und Prognostizierbarkeit dieser Funktionen bzw. ihrer Auswirkungen, und die Übersichtlichkeit der Informationen und Inhalte, sowie der Joy of Use, also die gemeinhin positiven Emotionen, die die Bedienung beim Nutzer weckt, können als erstrebenswerte, qualitative Faktoren einer Mensch-Maschine-Interaktion betrachtet werden. Die intuitive Bedienbarkeit als zentrales Qualitätsmerkmal von interaktiven Systemen wurde zur Herleitung des Spannungsfeldes aus Innovation und Konvention im MMI Kontext verwendet. In der Folge soll genauer durchleuchtet werden, was intuitive
106 Vgl. Jakob Nielsen: Usability 101: Introduction to Usability, 2012, url: http://www.nngroup.com/ articles/usability-101-introduction-to-usability/. 107 Siehe Horst Zuse: Die ergonomische Erfindung der Zuse-Maschinen im internationalen Kontext, in: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 95–120, S. 95. 108 Vgl. Nielsen: Usability 101: Introduction to Usability. 109 Siehe International Organization for Standardization: ISO 9241-110:2006: Ergonomics of humansystem interaction -- Part 110: Dialogue principles.
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Interaktionswelten
User Interfaces sind und inwiefern sich Intuitivität von weiteren relevanten Bewertungsparametern und Faktoren interaktiver Systeme unterscheidet bzw. in welchem Bezug die unterschiedlichen Begrifflichkeiten zueinander stehen. Auf diese Weise soll ein grobes Bezugssystem relevanter Begriffsverständnisse, zur Unterstützung der späteren Darlegungen, entstehen. Der Fokus liegt hierbei auf einschlägigen Begriffen aus Diskursen zur MMI, die im unmittelbarem Zusammenhang zu Interaktionskonventionen betrachtet werden können. Daher werden in der Folge die Begriffe der Intuitivität, der Selbstbeschreibungsfähigkeit, der Erwartungskonformität und der Konsistenz definiert und in Bezug zueinander und zu Konventionen gestellt.
2.5.1
Betrachtungen zur Intuitivität
Intuition ist laut Duden ein „unmittelbares, nicht diskursives, nicht auf Reflexion beruhendes Erkennen, Erfassen eines Sachverhaltes oder eines komplizierten Vorgangs“110 . Wie Hubert Dreyfus, Stuart Dreyfus und Tom Athanasiou 1986 herausstellen, ist diese Intuition kein mysteriöser Akt, sondern ein nachvollziehbarer, erklärbarer Prozess, der auf regelmäßigen Erfahrungen und Routinen beruht. „Intuition of know–how, as we understand it, is neither wild guessing nor supernatural inspiration, but the sort of ability we all use all the time as we go about our everyday tasks, [...]“111 . Jef Raskin bestätigt Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou im Jahr 1994 indem er intuitiv nutzbaren Systemfunktionen bescheinigt, dass diese genauso arbeiten, wie es der Nutzer tut, sodass „normale menschliche Intuition“ ausreicht sie zu verwenden, ohne dass weitere geistige Denkleistung oder spezielles Training vonnöten sei112 . Ludger Schmidt u. a. bestätigen 2013, dass „ein technisches System [...] intuitiv benutzbar [ist], wenn es durch nicht bewusste Anwendung von Vorwissen durch den Benutzer zu effektiver Interaktion führt“113 . Auch Carsten Mohs u. a. begreifen 2006 Interaktion als „unbewussten Vorgang“114 . Der Grad der intuitiven Nutzbarkeit eines interaktiven Systems ist somit eine Zielgröße der Interaktionsgestaltung, die als gestalterische Handlung das Ziel verfolgt115 einen effektiven Umgang mit interaktiven Artefakten zu ermöglichen. Entscheidend für eben diesen Grad der intuitiven Nutzbarkeit ist es, wie stark die im interaktiven System abgebildeten Funktionsstrukturen und Bedienkonzepte den bisherigen Erfahrungen, dem Vorwissen, der Nutzer entsprechen. Dieses Vorwissen „kann angeborenen, sensomotorischen Charakter haben, kulturell beeinflusst und durch Fachkennt-
110 111 112 113
114 115
Siehe Dudenredaktion: Der Duden: Das Fremdwörterbuch: Das Standardwerk zur deutschen Sprache, S. 475. Siehe Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 29. Vgl. Raskin: Viewpoint: Intuitive equals familiar. Siehe Ludger Schmidt u. a.: Interaktionsgestaltung zur Teleoperation eines mobilen Roboters, in: Thomas Maier (Hrsg.): Human Machine Interaction Design: - gezielt wahrnehmen - sicher erkennen - attraktiv gestalten, Bd. 610, Stuttgart 2013, S. 27–36, S. 29. Vgl. auch Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 132. Wie in Kapitel 2.1.1 dargestellt.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
nisse (Expertise z. B. durch Hobby oder Beruf) erworben“116 und somit auf vielfältige Art und Weise gebildet worden sein. Da zum Zeitpunkt der Gestaltung eines interaktiven Systems die genaue Beschaffenheit des subjektiven Vorwissens der relevanten Nutzergruppe diffus ist, muss das interaktive System einige kommunikative Grundvoraussetzungen erfüllen, um eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit zum bestehenden Vorwissen zu gewährleisten. Intuitivität im Kontext interaktiver Systeme kann daher als die Kombination aus Konsistenz, Erwartungskonformität und Selbstbeschreibungsfähigkeit betrachtet werden. Entweder ein System kommuniziert klar, dass es entsprechend der bestehenden Erfahrungen bedient werden kann (Erwartungskonformität), oder es verdeutlicht, welche bisher unbekannten Prinzipien dem Bedienkonzept zugrunde liegen (Selbstbeschreibungsfähigkeit). Durchgehende Strukturen und Bedienkonzepte bestätigen den Nutzer in seinen momentanen Aktionen und verfestigen das Gesamtverständnis des Systems (Konsistenz). Die für die Intuitivität zentralen Begriffe der Selbstbeschreibungsfähigkeit, der Erwartungskonformität und der Konsistenz werden im Folgenden genauer beschrieben.
2.5.2
Betrachtungen zur Selbstbeschreibungsfähigkeit
Britta Hofmann fasst 2008 die Definition der Selbstbeschreibungsfähigkeit in der ISO ISO 9241-110:2006 als Fähigkeit eines Systems, dem Anwender zu jeder Zeit vermitteln zu können, „wo er sich im Dialog befindet, wie er da hingekommen ist und wie er von dort aus wieder weg kommt“, zusammen117 . Neben diesen orientierungsschaffenden Inhalten (Orientierungs-Erkennung) umfasst die Selbstbeschreibungsfähigkeit laut ISO 9241-110:2006 jedoch ebenfalls Informationen zum Zustand des Systems, zur Bedienbarkeit der Oberfläche und zum Funktionsumfang der angezeigten Bildschirminhalte118 . Thomas Maier beschreibt 2013 die Selbstbeschreibungsfähigkeit als Fähigkeit eines interaktiven Systems und seiner Bestandteile, dem Nutzer eindeutig zu kommunizieren, was seine Funktionen sind, mit welchem Ziel es bedient werden kann (ZweckErkennung), und wie es bedient werden soll (Bedienungs-Erkennung). Darüber hinaus kommuniziert es weitere, für die intuitive Bedienung des Systems nachrangige Eigenschaften, wie die preisbezogene Wertigkeit (Preis-Erkennung) oder den historischen Kontext seiner Entstehung (Zeit-Erkennung).119 Während die Zweck- und die Bedienungs-Erkennung – die grundsätzlich ebenfalls in der ISO 9241-110:2006 beschrieben werden – dem Nutzer direkte Informationen über die Beschaffenheit des interaktiven
116 117
118 119
Siehe Schmidt u. a.: Interaktionsgestaltung zur Teleoperation eines mobilen Roboters, S. 29. Siehe Britta Hofmann: Einführung in die ISO 9241-110: Vom Umgang mit Menschen -- Benimmregeln für interaktive Systeme nach ISO 9241-110, 13. Februar 2008, url: http : / / www . fit - fuer usability.de/archiv/einfuehrung-in-die-iso-9241-110/. Vgl. International Organization for Standardization: ISO 9241-110:2006: Ergonomics of human-system interaction -- Part 110: Dialogue principles. Vgl. ebd. Vgl. Thomas Maier (Hrsg.): Human Machine Interaction Design: - gezielt wahrnehmen - sicher erkennen - attraktiv gestalten, Bd. 610, Stuttgart 2013, S. 21.
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Interaktionswelten
Systems liefern, wird es durch die Preis- und Zeit-Erkennung vielmehr in Relation zu weiteren Systemen des Erfahrungsraums des Nutzers gesetzt. Neben den genannten Aspekten der Selbstbeschreibungsfähigkeit einzelner, statischer Zustände des Systems, wird sie im Bedienungsablauf durch Feedback und Feedforward unterstützt. Diese sind kontext- und situationsabhängige Selbsterklärungen, die die Folgen einer soeben getätigten Aktion bzw. den Optionsraum für folgende Aktionen kommunizieren120 . „Feedback – sending back to the user information about what actions has actually been done, what result has been accomplished -- is a wellknown concept in the science of control and information theory. Imagine trying to talk to someone when you cannot even hear your own voice, or trying to draw a picture with a pencil that leaves no mark: there would be no feedback.“121 Wie Dan Saffer im Jahr 2013 betont, ist Feedback für Menschen gedacht und somit an menschliche Sinne gekoppelt und auf die menschliche Wahrnehmung beschränkt122 . „Feedback can take many forms: visual, aural, haptic (vibrations). Sometimes it can be prominent and unmistakable, like the light bulb glowing when you flip the switch. Sometimes it can be subtle and ambient, like the unread badges that appear on email applications and mobile apps. It can be as descriptive as a voice telling you exactly where to turn while doing turn–by–turn directions, or it can be as ambiguous as an LED light blinking in a complicated pattern.[. . .] What is important is to match feedback to the action, to convey information in the most appropriate channel possible.“123 Doch nicht nur die Folgen der Interaktion müssen für den Anwender wahrnehmbar sein, sondern auch die grundsätzlich zur Verfügung stehenden Funktionen. Wie Norman betont, müssen Wirkungsprinzipien wahrnehmbar abgebildet werden124 und durch einen kontextuellen Rahmen interpretierbar sein. „The door story illustrates one of the most important principles of design: visibility. The correct parts must be visible, and they must convey the correct message. With doors that push, the designer must provide signals that naturally indicate where to push.“125 Als Begriff für diese wahrnehmbaren Funktionshinweise und Handlungsofferten existiert in der HCI-Literatur der Begriff Affordance. Victor Kaptelinin führt diesen Begriff ursprünglich auf James Gibson 1977 und 1979 zurück und schreibt Donald Norman zu, diesen Begriff in den späten 1980er Jahren in den Gestaltungskontext übertragen zu 120 Jede Nutzereingabe sollte zu einer wahrnehmbaren Systemreaktion führen. Vgl. u.a. Apple Inc.: iPhone Human Interface Guidelines - User Experience, 2010, url: http://developer.apple.com/ library/ios/documentation/userexperience/conceptual/mobilehig/MobileHIG.pdf, S. 32. 121 Siehe Norman: The design of everyday things, S. 27 und 99ff. 122 Vgl. Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 90, 96. 123 Siehe ebd., S. 17. 124 Vgl. Norman: The design of everyday things, S. 13. 125 Siehe ebd., S. 4.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
haben126 . Kaptelinin fasst Normans Überlegungen, die sich insgesamt über 30 Jahre und über diverse Schriften und Veröffentlichungen ziehen, zusammen und stellt die Abkehr Normans vom Begriff Affordance und hin zum Begriff des Signifiers dar. Demnach hält Norman Affordanzen 2015 zwar nach wie vor beachtenswert für die Gestaltung interaktiver Systeme, jedoch verweise er darauf, dass der Begriff per se häufig verkehrt verwendet werde und Gestalter davon sprächen, eine Affordanz hinzugefügt zu haben, aber eigentlich hätten sie eine Kennzeichnung einer bereits zuvor vorhandenen Affordanz vorgenommen127 . Norman trennt also zwischen Affordanzen, also grundsätzlich vorliegenden, wahrnehmbaren Handlungsmöglichkeiten und expliziten Kennzeichnungen dieser Handlungsmöglichkeiten, die als Handlungsofferten beschrieben werden könnten. Insgesamt stellt Kaptelinin 2015 den kontroversen Diskurs mit und über unterschiedliche Begriffe und Verständnisse zu Feedforward und Affordanzen dar128 . In Bezug zu diesen Begriffsabgrenzungen könnte Feedforward als Überbegriff für wahrnehmbare Handlungsmöglichkeiten verwendet werden; unabhängig davon, ob sie explizit (Signifiers) oder implizit (Affordance) vorliegen. Jo Vermeulen u. a. schlagen im Jahr 2013 davon abweichend vor, mit Affordanzen die wahrnehmbare Information zu benennen, die Nutzern mitteilt, dass eine physische Handlung getätigt werden kann. Wie die Abbildung 13 zeigt, vermittle Feedforward dem Nutzer hingegen, welche Folgen diese Handlung haben wird. Sie schlagen in diesem Zusammenhang vor, Affordance und Signifier synonym zu verwenden und brechen somit mit Normans Ansatz, zwischen vorhandenen und gestalterisch angelegten Beschreibungen zu unterscheiden.
126
127 128
Vgl. Victor Kaptelinin: Affordances and Design, in: The Interaction Design Foundation (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed. Bd. 1, The Interaction Design Foundation, 2015, S. 2551–2626, url: https://www.interaction-design.org/literature/book/the-encyclopedia-ofhuman-computer-interaction-2nd-ed/affordances, S. 2551ff. Vgl. Donald A. Norman: Affordance, conventions, and design, in: interactions 6.3 (1999), S. 38–43. Vgl. Kaptelinin: Affordances and Design, S. 2592–2593 und 2598–2606. Vgl. auch Gerard Torenvilet: We can't afford it! the devaluation of a usability term, in: Interaction - The digital muse: HCI in support of creativity 10.4 (2003), S. 12–17 Joanna McGrenere/Wayne Ho: Affordances: Clarifying and Evolving a Concept, in: Proceedings of the Graphics Interface 2000 Conference, May 15-17, 2000, Montr'eal, Qu'ebec, Canada, 2000, S. 179– 186 Mads Soegaard: Affordances, in: Mads Soegaard/Riike Friis Dam (Hrsg.): The Glossary of Human computer Interaction, 2015, url: https : / / www . interaction - design . org / literature / book / the glossary-of-human-computer-interaction/affordances Tom Djajadiningrat/Kees Overbeeke/Stephan Wensveen: But how, Donald, tell us how? on the creation of meaning in interaction design through feedforward and inherent feedback, in: Bill Verplank (Hrsg.): Proceedings of the 4th conference on Designing interactive systems: processes, practices, methods, and techniques, New York, NY: ACM, 2002, S. 285–291 Jo Vermeulen u. a.: Crossing the bridge over Norman's Gulf of Execution: revealing feedforward's true identity, in: CHI 2013, New York, NY: ACM, 2013 und Albena Yaneva: Grenzüberschreitung. Das Soziale greifbar machen: Auf dem Weg zu einer Akteur-Netzwerk-Theorie des Designs, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft: Zur Kultursoziologie des Designs (Sozialtheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2012, S. 71–90, S. 77.
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Interaktionswelten
Ziele
Absicht zu handeln
Evaluation der Interpretationen
AbfolgeÊ/ÊSequenz von Handlungen
Interpretation der Wahrnehmung
Ausführung der Handlungsabfolge
Wahrnehmung des Zustands des Welt
feedforward (Auswahl einer Aktion)
feedback wahrgenommene Affordanzen (oder „signifiers“)
Die (Um-) Welt Abbildung 13: Affordanzen, Feedforward und Feedback in Norman’s „Stages of Action model“, wie es Vermeulen u. a. deuten129 .
„Both perceived affordances and feedforward tell users something about a particular action through a combination of a physical and functional affordances. Perceived affordances and feedforward essentially provide different information about the action that users have to perform to achieve their goals. While perceived affordances reveal the physical affordance, which tells users that there is an physical action available and how to perform it, feedforward reveals the functional affordance, which tells users what will happen when they perform that action.“130 Saffer beschreibt 2013 den Ablauf von Interaktion131 als Abfolge von Triggern, Regeln, Feedback und Loops beziehungsweise Modi. Saffer betrachtet Interaktion dabei aus einer abstrahierten Perspektive mit Fokus auf Prozessen, die in einer Maschine ablaufen. Kaptelinin und Vermeulen hingegen beschreiben Interaktion aus Nutzersicht und verorten demnach Feedforward und Feedback als Einfluss von außen – also von der Maschine – auf den Nutzer. Saffer weist die Notwendigkeit der Affordanzen, Erreichbarkeit, Nutzbarkeit und Persistenz dem Trigger zu, der sowohl virtueller als auch physischer Gestalt sein kann. „Thus, many microinteractions begin with an understanding of user need: what the user wants to accomplish, when they want to do it, and how often. This determines the affordances, accessibility, and persistence of the trigger.“132
129
Übersetzte Version des durch Vermeulen u. a. angepassten „Stages of Action model“ aus Norman: The design of everyday things, S. 47. Siehe Vermeulen u. a.: Crossing the bridge over Norman's Gulf of Execution: revealing feedforward's true identity. 130 Siehe ebd. 131 Er spricht von granularen Microinteractions. 132 Siehe Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 14.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
Affordanzen und Feedforward unterstützen die Selbstbeschreibungsfähigkeit eines interaktiven Artefaktes und sind der Gegenpol zum Feedback. Affordanzen, Feedforward und Feedback rahmen Nutzereingaben und Nutzeraktionen ein. Selbstbeschreibungsfähigkeit, als Kombination aus Zweckbeschreibung, Funktionsbeschreibung, Bedienungsbeschreibung, Zustandsbeschreibung, Preis- und Zeitbeschreibung – inklusive der unterstützenden Kanäle des Feedbacks und des Feedforwards – wird häufig über visuelle Modalitäten, wie das Layout und die Farb- und Formgebung oder die textuelle und ikonografische Beschreibung transportiert. Sie muss jedoch ganzheitlich, multimodal begriffen werden und kann theoretisch über alle sensorischen Kanäle der menschlichen Wahrnehmung kommuniziert werden; wobei neben der visuellen Wahrnehmung, die auditive und die haptische Wahrnehmung133 die gängigsten, in die MMI involvierten Wahrnehmungskanäle des Menschen sind.
2.5.3
Betrachtungen zur Erwartungskonformität
Ein weiterer Faktor intuitiv nutzbarer interaktiver Systeme ist die Erwartungskonformität. Diese basiert auf den Erfahrungen der Nutzer aus früheren Situationen. Hierbei handelt es sich meistens um implizites Wissen. Laut Hofmann (2008) ist ein interaktives System erwartungskonform, „wenn es die Sprache und die ‚Arbeitsgebräuche‘ der Benutzer im Dialog berücksichtigt. Die Erwartungskonformität kann oft schon durch die Einhaltung von Konventionen und einer konsistenten Systemgestaltung erheblich verbessert werden“134 . Hofmann setzt somit die Begriffe Erwartungskonformität und Konventionskonformität gleich. Wenngleich beide Begriffe auf Erfahrungen und daraus resultierenden Erwartungen basieren und somit in Bezug zueinander stehen, erscheint es lohnenswert beide Begriffe voneinander abzugrenzen statt sie synonym zu verwenden. Während Erfahrungen im Rahmen der Erwartungskonformität nicht sehr verbreitet sein müssen, sondern äußerst subjektspezifisch sein können, werden Konventionen stets von einer breiten Masse innerhalb einer sozialen Gruppe geteilt. Während die Begriffe Erwartungskonformität und Konventionskonformität also unterschiedlich umfassende Geltungsräume aufweisen – die Erwartungskonformität ist subjektspezifisch, die Konventionskonformität intersubjektiv135 – ist beiden Begriffen gemein, dass sie gelten, wenn ein Subjekt einen Bezug zwischen dem Referenzraum der eigenen Erfahrungen beziehungsweise Konventionen und einem zu erschließenden und zu bewertenden Artefakt oder System herstellt. Die Überprüfung der Erwartungskonformität und der Konventionskonformität erfolgt somit auf subjektspe133
134
135
Vgl. zur haptischen Wahrnehmung im Kontext der MMI Jörg Reisinger: Parametrisierung der Haptik von handbetätigten Stellteilen: Vollständiger Abdruck der von der Fakultät für Maschinenwesen der Technischen Universität München zur Erlangung des akademischen Grades eines DoktorIngenieurs genehmigten Dissertation, Diss., München: Technische Universität München, 2009, S. 4--14. Siehe Hofmann: Einführung in die ISO 9241-110: Vom Umgang mit Menschen -- Benimmregeln für interaktive Systeme nach ISO 9241-110. Vgl. International Organization for Standardization: ISO 9241-110:2006: Ergonomics of human-system interaction -- Part 110: Dialogue principles. Siehe Abbildung 14.
65
66
Interaktionswelten
Erfahrungen (subjektspezifisch)
Konventionen (intersubjektiv)
Abbildung 14: Konventionen können als intersubjektive Schnittmenge subjektspezifischer Erfahrungsräume angesehen werden.
zifischer Ebene. Der Ausgang der Bewertung der Erwartungskonformität ist jedoch weiterhin subjektspezifisch, wohingegen der Ausgang der Bewertung der Konventionskonformität über eine größere Gruppe oder Gesellschaft hinweg konform ist.
Bekanntes
Unbekanntes Bezug hergestellt durch bewusstes oder unbewusstes Erkennen von Strukturgleichheit
Abgleich basiert auf Bezug und prüft auf Konformität
Abbildung 15: Der Abgleich zwischen Bekanntem und Unbekanntem erfolgt auf Basis des bewussten oder unbewussten Erkennens bekannter Strukturen.
Konventionen weisen somit einen wesentlich größeren, globaler dimensionierten Geltungsraum auf. Neben dem Geltungsraum weisen sowohl Konventionen als auch Erfahrungen spezifische sowie globalere Referenzräume auf. Bereits Bekanntes ist vom Individuum entweder in der Lebenswelt global, über alle Erfahrungskontexte hinweg hinterlegt und somit potentiell über Metaphern abrufbar – wie funktiona-
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
len, systemischen oder visuellen Metaphern136 –, oder intersystemisch. Das bedeutet, dass Erfahrungen in Bezug zu einem festen Kontext gesetzt werden und der Nutzer, unter gewissen Umständen, diese kontextspezifischen Erfahrungen auf andere Kontexte transponieren kann. Hierzu wird das vorliegende System – unterbewusst – auf Strukturgleichheit mit bestehenden Erfahrungsräumen überprüft, um in der Folge diese Erfahrungen heranzuziehen und das bis dato unbekannte System zu bewerten und zu erschließen137 . Umso stärker das vorliegende interaktive System beziehungsweise dessen Funktionseinheiten und gestalterische Bestandteile diesen Erwartungen entsprechen, desto höher ist die Erwartungskonformität des Systems. Umso mehr Subjekte einer Gruppe über vergleichbare Erfahrungen verfügen und diese in Bezug zum jeweils oder gemeinsam vorliegenden System oder Artefakt setzen, desto konventionalisierter ist der Referenzraum138 .
Erwartungskonform
Konventionskonform
Abbildung 16: Zum Erkennen von Konventionskonformität wird eine intersubjektiver Referenzraum herangezogen, zum Erkennen von Erwartungskonformität ein subjektspezifischer. Zur Überprüfung der Konformität eines vorliegenden Systems oder Artefaktes mit den eigenen Erfahrungen oder Konventionen, muss somit ein Bezug zwischen Unbekanntem und Bekanntem erkannt werden. Den Begriffen Erwartungskonformität und Konventionskonformität ist somit ihre Kontextabhängigkeit gemein. Entscheidend ist, aus welchem Kontext der Nutzer seine Erfahrungen zieht und ob er die Bedienung des gegenständlichen interaktiven Systems in Bezug zu diesem Erfahrungs- bzw. Konventionskontext setzt. Das heißt ein Nutzer kann unterschiedliche Erwartungen an ein interaktives System haben, je nachdem in welchem Nutzungskontext er sich befindet. So kann sich der Erwartungshorizont eines Nutzers einer Website, die er zuhause über seinen PC 136
137 138
Vgl. zur weiteren Charakteristik von Metaphern im MMI-Kontext Thomas Erickson: Working with Interface Metaphors, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 65–74, S. 67, 68 Steven Johnson: Interface Culture: Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern, Stuttgart: Klett-Cotta, 1999, S. 26, 60. Siehe Abbildung 15. Siehe Abbildung 16.
67
68
Interaktionswelten
aufruft, vom Erwartungshorizont des selben Individuums als Nutzer derselben Website, die er aber unterwegs über sein Smartphone aufruft, unterscheiden, weil er im jeweiligen Nutzungszusammenhang verschiedene Erfahrungen gemacht hat. Relevant ist, welche interaktiven Anwendungen der Nutzer in einen kontextuellen Zusammenhang stellt und mit welchen Systemen er die momentane Anwendung vergleicht. Dies prägt seine Erwartungshaltung. Dabei darf nicht davon ausgegangen werden, das ein interaktives System, das in einem speziellen Kontext ideal zu sein scheint, im nächsten Nutzungskontext ebenso adäquat nutzbar ist. Wie Bill Buxton 2010 formuliert, ist die Nutzungsqualität eines Artefaktes kontextabhängig: „Everything is best for something and worst for something else.“139 Gleichzeitig darf der Gestalter nicht davon ausgehen, dass der Nutzer das System demselben Bewertungskontext zuordnet, wie er es zum Zeitpunkt der Gestaltung getan und intendiert hat. Erwartungskonformität ist somit eine kontextabhängige, subjektspezifische Größe und die Voraussetzung für eine Konventionskonformität.
2.5.4
Betrachtungen zur Konsistenz
In Kapitel 1 wurde in Anlehnung zu Oberquelle140 vom „Spannungsfeld zwischen Konsistenz und Innovation“ gesprochen. Laut Cooper u. a. impliziert Konsistenz eine einheitliche Gesamterscheinung, womit sie die Visualität, das grafische und funktionale Verhalten sowie die emotionale Wirkung eines Systems und all seiner Module und Bestandteile meinen141 . Konsistenz wird in der vorliegenden Arbeit als intrasystemische Einheit verstanden. Sie kann nur für einzelne Entitäten innerhalb eines gemeinsamen, fixen Bezugssystems überprüft werden. Zwar unterscheidet Tognazzini 2014 zwischen interner Konsistenz („In-house consistency“) und externer Konsistenz („Platform consistency“)142 und Cooper u. a. weisen 2014 darauf hin, dass Konsistenz sowohl für ein in sich abgeschlossenes Produkt als auch für mehrere Produkte eines Herstellers wahrgenommen werden kann143 , allerdings kann die von diesen Autoren beschriebene externe Konsistenz ebenfalls als interne Konsistenz innerhalb eines größeren Bezugssystems verstanden werden. Aus dieser Perspektive, kann sich der Bezugskontext immer nur auf das aktuelle interaktive System beziehen. Er hat keinerlei Berührungspunkte zu anderen Systemen. Zwar können auch mehrere interaktive Systeme und Anwendungen auf übergreifende Konsistenz geprüft werden, hierzu müssen sie jedoch markante Ähnlichkeiten
139
Siehe Bill Buxton: 31.1: Invited Paper: A Touching Story: A Personal Perspective on the History of Touch Interfaces Past and Future, in: SID Symposium Digest of Technical Papers 41.1 (2010), S. 444, S. 447. 140 Vgl. Oberquelle: Benutzergerechte MCI in einer dynamischen Welt - Eine Gestaltungsaufgabe, S. 160. 141 Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 428ff. 142 Vgl. Bruce Tognazzini: First Principles of Interaction Design (Revised & Expanded), 2004, url: https://asktog.com/atc/principles-of-interaction-design/. 143 Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 428ff.
2 Begriffsklärung für folgende Analysen und Betrachtungen
aufweisen, um eine kritische Menge an Bezugspunkten zu erzeugen. Dadurch entsteht ein größeres Bezugssystem – beispielsweise ein Cross-Channel-System – dass in sich eine Vielzahl vergleichbarer, granularer Systeme vereint. Dadurch bleibt Konsistenz eine intrasystemische Größe, da mehrere Systeme nur durch Schaffung eines übergeordneten Suprasystems verglichen werden können. Die Konsistenz kann somit klar von der Erwartungskonformität, deren Bezugspunkte außerhalb des interaktiven Systems – in der Erfahrungswelt des Nutzers – liegen, abgegrenzt werden. Dabei ist jedoch anzumerken, dass Konsistenz auch zu Erwartungskonformität führen kann. Hierzu muss das Bezugssystem der Erwartungen des Nutzers von einem strukturähnlichen System auf das vorliegende System verlagert bzw. verschoben werden. Dies kann nur erfolgen, wenn die Menge, der im System gewonnen Erfahrungen ausreicht, um die auf anderen Systemen basierenden Erfahrungen und die daraus resultierenden Erwartungen zu verdrängen. Umso höher also die Konsistenz im vorliegenden System ist, desto stärker kann von Strukturen anderer Referenzsysteme abgewichen werden144 . Das ist vor allem dann hilfreich, wenn zum Zeitpunkt der Entwicklung und Gestaltung die Referenzsysteme der heterogenen, diffusen Nutzermenge unbekannt oder nicht klar identifizierbar sind. Vollkommen neue Interaktionskonzepte können also von Strukturen anderer Referenzsysteme abweichen und dennoch konsistent sein. Konsistenz ist durch gestalterische und konzeptionelle Maßnahmen erzeugbar, was für Konventionen nicht gilt. Konventionen sind globaleren Charakters und nur schwer einem in sich geschlossenen System zuzuordnen. Das Problem bei der Gestaltung innovativer Artefakte besteht nur bedingt darin, diese konsistent zu verwandten Artefakten zu halten. Innovative Artefakte, in dem Sinne, dass sie vollkommen neuartig sind, können durchaus systemintern konsistent sein und können verwandte Merkmale zu anderen Artefakten aufweisen. Jedoch brechen sie mit bestehenden Prinzipien und somit mit vorigen Erfahrungen und aktuellen Erwartungen und Konventionen der Anwender, um tatsächlich neu zu sein. Das Problem bei der Gestaltung innovativer Artefakte besteht somit verstärkt darin, diese konventionskonform zu gestalten, sodass es sich bei dem in dieser Arbeit betrachteten Spannungsfeld also nicht um das von Horst Oberquelle beschriebene Feld zwischen Konsistenz und Innovationen, sondern um eines zwischen Konvention und Innovation handelt.
144 Vgl. Bruce Tognazzini: Consistency, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 75–77 und Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 428ff.
69
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess – Analyse der Strukturgleichheit von Mensch-Maschine-Interaktion und Sprache
Für die weiteren Betrachtungen ist vor allem die grundsätzliche Frage relevant, inwiefern die MMI als kommunikativer Prozess verstanden werden kann und infolgedessen Aspekte kommunikationstheoretischer Diskurse und Erkenntnisse über die Sprachentwicklung auf diese übertragbar sind. Mensch-Machine-Interaktion weist eine Spannweite von Experteninteraktion bis hin zur Masseninteraktion auf und hat somit eine ebenso große Spannweite an Konventionsgraden, Reflexions- und Regulationspotentialen1 . Äquivalent dazu umfasst Kommunikation ebenfalls eine Spannweite von der Expertenkommunikation, wie sie in Form wissenschaftlicher Diskurse oder in Subkulturen stattfindet und die eigene angepasste Kommunikationsregeln und Muster verwendet2 , bis hin zur Massenkommunikation. Entsprechend der Ausführungen von Mohs u. a. von 2006, Shannon/Weaver von 1998 und Röhner/Schütz von 2012, kann Interaktion als Prozess des Informationsaustauschs, also der Informationsgenerierung, -Manipulation, -Verarbeitung und Übermittlung, angesehen werden3 . Sie basiert auf dem Erkennen der sich aktuell darstellenden Situation, den möglichen Aktionen mit dem Bezugssystem und der Ab-
1 2 3
Vgl. Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, S. 39–0. Zum Beispiel in Form der Jugendsprache. Vgl. Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 132, Vgl. auch das Sender-EmpfängerModell nach Claude Elwood Shannon und Warren Weaver (Claude Elwood Shannon/Warren Weaver: The mathematical theory of communication, Urbana: Univ. of Illinois Press, 1998 Jessica Röhner/Astrid Schütz: Psychologie der Kommunikation, in: Psychologie der Kommunikation, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2012, S. 15–33, hier S. 17).
72
Interaktionswelten
Handlungsmuster Die Aktion ist eine Folge von bewussten oder unbewussten Entscheidungen des Nutzers, die er basierend auf Feedbacks und Feedforwards des Systems, seiner individuellen Motivation sowie seiner Interaktionswelt und des aktuellen Kontextes trifft. Je unbewusster die Entscheidung, desto eher liegen Routinen und Konventionen vor.
Übermittlung
Verarbeitung
Aktion Feedback Trigger/ Feedforward
Funktion/ Zustandswechsel
Kontext Der Zustand des Systems ist ein Teilaspekt des Benutzungskontextes. Ein Zustandswechsel führt demnach auch immer zu einer Abwandlung des Kontextes.
Abbildung 17: Informationskreislauf während der Interaktion
Reaktion
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess
schätzung etwaiger Folgen4 der eigenen Handlungsoptionen auf menschlicher Seite, sowie der maschinenseitigen Befehlsentgegennahme, -Analyse und -Aufgliederung, sowie der anschließenden Reaktion in Form von Zustandsänderungen und der Darstellung und Vermittlung dieser5 . Interaktion basiert somit auf dem Wechselspiel aus Aktion und Reaktion und wird für den Anwender durch Trigger, Feedforward und Feedback wahrnehmbar6 . Interaktion ist nicht physisch, bedient sich jedoch materieller Hilfssysteme zur Steuerung, Aufnahme, Eingabe und Ausgabe und bedarf somit physischer Träger. kontextabghängig*
Mensch Feedforward: - visuell, - auditiv - haptisch - multisensorisch (multimodal)
Feedback: - visuell, - auditiv - haptisch - multisensorisch (multimodal)
Aktion Verarbeitung User
Input
Output
* Abhängig vom identifizierten Kontext: - Typ / Art des Systems - Zustand des Systems - Zustand der Umgebung - Zustand des Menschen / Nutzers
Verarbeitung Maschine (Interpretation der Inputs)
Abbildung 18: Informationsfluss während der Interaktion Maschinen werden häufig nicht als dem Menschen gleichgestellte Kommunikationspartner angesehen. Sie wären demnach nicht – wie der Mensch – in der Lage initiativ, von sich aus zu kommunizieren. Peter Thiel vertritt im Jahr 2014 die Meinung, dass Computer bereits in ihrer Veranlagung das genaue Gegenteil von Menschen sind. Während Menschen Absichten hätten und diese durch Planung und Entwicklung komplexer Strategien zu erreichen versuchen, fehle die Fähigkeit mit sehr großen Datenmengen umzugehen, diese zu sortieren, in Verbindung miteinander zu setzen und auszuwerten. „Wenn bei einigen Aufgaben selbst ein alter Taschenrechner besser ist als die klügsten Mathematiker und bei anderen ein Supercomputer mit 16000 Prozessoren schlechter als ein Kind, dann legt das eine Vermutung nahe: dass Menschen
4
5 6
Entsprechend des normenregulierten Handelns. Vgl. Jürgen Habermas: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Zweite Auflage, Bd. Band 1 (Theorie des kommunikativen Handelns), Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982, S. 127. Vgl. die Abbildungen 17 und 18. Vgl. die Abbildungen 17 und 18.
73
74
Interaktionswelten
und Computer nicht einfach mehr oder weniger leistungsfähig sind, sondern dass sie sich ganz grundsätzlich unterscheiden.“7 Für diese Haltung spricht, dass Maschinen nicht wie Menschen individuell, frei und kontextangepasst agieren, sondern anhand fest programmierter Regeln reagieren. Selbst scheinbar eigenständige Aktionen sind immer auf sensorisch oder zeitlich gesteuerte Prozesse zurückzuführen und somit letztlich nur Reaktionen. Daraus ergibt sich die Frage, ob zwischen Anwender und Maschine eine Kommunikation entstehen kann, wenn die Maschine derart starr reagieren muss. Der Vorteil dieser Regeln und Algorithmen besteht darin, dass sie zu einer Verlässlichkeit führen. Nutzer können die Funktionsweise interaktiver Systeme durch trial and error untersuchen und erlernen. Gut gestaltete Systeme vereinfachen diesen Prozess durch die Implementierung der Grundsätze intuitiv nutzbarer Systeme8 . Auf diese Weise kann die Beziehung zwischen Mensch und Maschine als reglementierter Prozess des Informationsaustausches begriffen werden, in dem die Aktion des Menschen zu einer verlässlichen Reaktion der Maschine und infolgedessen zu einer Veränderung der Situation führt. Es kann also mindestens von einer stark reglementierten Kommunikation ausgegangen werden, also von Kommunikation die nur unter gewissen Umständen erfolgen kann. Der reglementierte Prozess des Informationsaustauschs ist nie ohne Folgen, auch wenn die Maschine scheinbar keine Reaktion zeigt. Die Eingaben des Nutzers werden, sofern die Beziehung nicht aufgrund technischer Unzulänglichkeiten unterbrochen ist, zwingend verarbeitet. Die Verarbeitung der Eingaben muss jedoch nicht zwingend zu einer wahrnehmbaren Folge beziehungsweise Reaktion der Maschine führen. Insofern kann die ausbleibende Reaktion dem Ignorieren eines Gesprächspartners gleichgestellt werden. Während Interaktion mit dem bisher beschriebenen Ablauf als einseitiger Kommunikationsprozess angesehen werden könnte und im weitesten Sinne in einem SenderEmpfänger-Modell abgebildet werden kann, scheint die beschränkte Kommunikationsfähigkeit technischer Artefakte eine Betrachtung von Interaktion als Dialog auszuschließen. Diese Charakteristik technischer, interaktiver Artefakte führt zu einer eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit, die von festen Regeln geprägt ist und ausschließlich Reaktionen ermöglicht. Aus dieser Betrachtungsperspektive heraus, entspricht die MMI nicht einem kommunikativen Dialog, in dem Mensch und Maschine als einander gleichgestellte Kommunikationspartner angesehen werden können. Demnach gleicht Interaktion zwar in den Grundzügen der Kommunikation, kann ihr jedoch nicht gleichgesetzt werden. Interaktion ist nach diesem Verständnis mit Kommunikation verwandt aber nicht identisch. Wirft man einen systemtheoretischen Blick auf Kommunikation, ergibt sich ein leicht abweichendes Bild der MMI. Aus dieser Perspektive besteht die Frage, wie die Beziehung zwischen Mensch und Maschine einzuordnen ist. Ist sie ein soziales Sys-
7 8
Siehe Peter A. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH, 2014, S. 141--142. Vgl. Abschnitt 2.5.1.
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess
tem? Und was wäre, je nach angewendeter Theorie, die Folge einer solchen Einordnung? Niklas Luhmanns Theoriegebilde über soziale Systeme und Kommunikation ermöglicht eine weniger technische Betrachtung der Beziehung Mensch-Maschine, als es beispielsweise das Sender-Empfänger-Modell nach Shannon und Weaver tut9 . So widerspricht Luhmann 2011 Shannon und Weaver recht deutlich darin, dass Kommunikation die Übertragung von Informationen sei10 . „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts weggibt in dem Sinne, daß er selbst es verliert. Die gesamte Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens, die gesamte Dingmetaphorik ist ungeeignet für ein Verständnis von Kommunikation.“11 Luhmann unterscheidet biologische, psychische und soziale Systeme, wobei der Mensch kein System darstellt12 . Darüber hinaus unterscheidet er bei sozialen Systemen grundsätzlich zwischen Gesellschaft – dem größten sozialen System – Organisationen und Interaktion. Alle drei sind nach seiner Argumentationen soziale Systeme, da sie aus Kommunikation bestehen13 . Zum einen bleibt somit hervorzuheben, dass Kommunikation soziale Systeme erzeugt. Luhmann folgert, dass Kommunikation Sprache voraussetzt, Information immer ein Deutungsspektrum darstellt, ohne Mitteilung weder Information noch Verstehen zustande kommt, Verstehen und Nichtverstehen unterschieden werden muss, aber auch Missverständnisse die Kommunikation am leben halten und voran treiben können14 . Zum anderen muss festgehalten werden, dass Interaktion ein soziales System darstellt und Interaktion aus Kommunikation besteht. Inwiefern Luhmanns Verständnis der Interaktion die MMI umfasst, ist jedoch schwer zu greifen und wird im weiteren Verlauf der Betrachtungen einhergehender behandelt. Wäre die MMI ein soziales System im Sinne Luhmanns, so wäre sie durch Kommunikation geprägt. Wäre sie im Sinne Jürgen Habermas’ zu erfassen, so läge es näher, MMI lebensweltlich einzuordnen. Die Lebenswelt, die nach Habermas (1982) Syste-
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10
11 12 13 14
Vgl. für einen kurzen Abriss der Schwerpunkte Luhmanns Arbeit Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, 3. Aufl., Köln, Weimar und Wien: Böhlau, 2011, S. 32. Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, 6. Aufl., Carl Auer Verlag, 2011, S. 277ff. ders.: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, 15. Aufl., Bd. 666 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, S. 193 Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 56, 78, 88, 108ff., 275ff. Siehe Luhmann: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, S. 193. Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 33. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 281.
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Interaktionswelten
men gegenüberzustellen ist,15 ist der Raum für Kommunikation. Diese beschreibt er als Kommunikatives Handeln, dass verständigungsorientiert ist16 . Es steht im Gegensatz zu strategischem Handeln innerhalb von Systemen, wie der Politik oder der Wirtschaft17 . „Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren. Der zentrale Begriff der Interpretation bezieht sich in erster Linie auf das Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen. In diesem Handlungsmodell erhält die Sprache, wie wir sehen werden, einen prominenten Stellenwert.“18 Die Frage ist, ob Maschinen zu kommunikativem Handeln fähig sind. Werner Rammert versucht diese Frage 1993 aufzulösen, indem er den Begriff des technischen Handelns dem kommunikativen Handeln gegenüberstellt. Laut Rammert unterscheidet sich technisches Handeln von kommunikativem Handeln durch eine strategische und instrumentelle Ausrichtung auf einen Zweck. Die Rhetorik erfüllt aus Sicht Rammerts diese Definition, obwohl sie gemeinhin als Methode der Kommunikation angesehen wird. Sie werde instrumentell und strategisch verwendet, um Ziele zu erreichen, die über einen reinen Informationsaustausch hinaus gehen19 . Der Kommunikationscharakter entsteht durch die Verwendung der Sprache als Code20 . Die Verwendung dieses Codierungssystems führt nach dem Verständnis Rammerts aber nicht automatisch zu kommunikativem Handeln. Sprache wäre somit sowohl für kommunikatives als auch für technisches Handeln geeignet. Damit weist Rammerts Verständnis von technischem Handeln Ähnlichkeit mit Habermas’ strategischem Handeln auf. Basierend auf dieser Betrachtung könnte Interaktion als technisches Handeln21 begriffen werden, da der Nutzer, der Handelnde, seine Aktionen ausübt, um ein konkretes Ziel zu erreichen, nämlich eine Zustandsänderung des technischen Systems, oder gröber gefasst, den Anstoß eines systeminternen Prozesses. Hierbei wird von funktionierender Interaktion ausgegangen, in der der Nutzer in der Lage ist, die Folgen seiner Handlungsoptionen vor der Ausführung abzuschätzen, was darauf basiert,
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17 18 19 20 21
Vgl. Jürgen Habermas: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Zweite Auflage, Bd. Band 2 (Theorie des kommunikativen Handelns), Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982, S. 229 ff. Vgl. ebd., S. 127ff. ders.: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S. 11ff. und Wolfgang Bonß u. a.: Handlungstheorie: Eine Einführung (Sozialtheorie Intro), Bielefeld: transcript, 2013, S. 251ff. Vgl. Habermas: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, S. 229 ff. und Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 21. Siehe Habermas: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S. 128. Vgl. Werner Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, Opladen: Westdt. Verl, 1993, S. 11. Auch Luhmann setzt für Kommunikation Sprache und somit ein Sprachsystem voraus. Vgl. Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 289. Oder strategisches Handeln; vgl. Habermas: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, S. 127 und Bonß u. a.: Handlungstheorie: Eine Einführung, S. 251–252.
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess
dass der weitere, am Handlungsprozess beteiligte Akteur – in diesem Falle das interaktive System – basierend auf festen Regeln agiert. Dies führt zur Fähigkeit des Nutzers, auf das interaktive System einzugehen; laut Habermas eine Voraussetzung für strategisches Handeln22 . Gleichzeitig legt diese Lesart aber auch nahe, zwischen der Interaktion als Handlung und Prozess und dem zugrunde liegenden Sprachsystem, in Form eines Systems von Zeichen und Regeln, zu unterscheiden. Dieses zugrunde liegende Sprachsystem der Interaktion besteht aus Algorithmen und programmierten Regeln, sowie modaler Feedforward- und Feedback-Mechanismen und kann sowohl für kommunikatives als auch für technisches Handeln verwendet werden. Ganz im Sinne Fischers (2012) findet Interaktion, ebenso wie Kommunikation, als intersubjektive Ausdrucks-Verstehensrelation statt23 . Fischer betrachtet die Berührungspunkte intersubjektiver Lebenswelten als Raum für Ausdrucks-Verstehensrelationen und siedelt diese Räume sowohl zwischen den Grenzflächen menschlicher Subjekte als auch zwischen denen technischer Artefakte an.24 Anders gesagt, dort wo das eine Subjekt aufhört und in Kontakt zum nächsten treten möchte, findet ein Kommunikationsprozess statt, der von Ausdruck und Verstehen geprägt ist, ganz im Sinne einer Codierung und Decodierung eines zu kommunizierenden Inhaltes. In eben diesem Sinne ist die Interaktion die Anwendung des beschriebenen Sprachsystems zur Erreichung eines strategischen Zieles. MMI wäre somit kein soziales System. Diese Position, nach Habermas, ermöglicht die Fokussierung auf den Erfahrungsraum der Interaktionswelt, der in folgenden Betrachtungen zu Konventionen und Innovationen von Relevanz sein wird. Im Sinne Habermas’25 könnte die MMI als kommunikatives Handeln26 angesehen werden, wobei durchaus Charakteristiken strategischen, erfolgsorientierten Handelns festgestellt werden könnten. Eine strikte Einordnung der MMI in die Lebenswelt oder Systeme nach Habermas erscheint schwierig und je nach Kontext und Gefüge der MMI unscharf. Im Sinne Luhmanns27 kann MMI in unterschiedlichen sozialen Systemen verortet werden. Gemein wäre, dass diese Systeme durch Kommunikation entstehen. Vor allem wenn man interaktive Artefakte, wie das Smartphone oder den PC, in Bezug zu ihrer Funktion zur Kommunikation, zum interpersonellen Informationsaustausch, betrachtet, also zum Versenden von textuellen, visuellen, verbalen und auditiven Nachrichten an einzelne, diverse oder ungerichtet viele Personen28 , könnte es als Instrument der 22 23 24 25 26 27
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Vgl. Habermas: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, S. 127. Vgl. Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, S. 92. Vgl. ebd., S. 92. Vgl. Habermas: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft ders.: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Siehe ebd., S. 128. Vgl. hierzu Luhmann: Einführung in die Systemtheorie und Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie Niklas Luhmann (Hrsg.): Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 5. Aufl., [Sondered.], Bd. 2 (Soziologische Aufklärung), Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2005, insbesondere S. 593ff. ders.: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, insbesondere S. 30ff., 191ff., 551ff. Bspw. E-Mails, SMS, Tweets, Blog-Einträge oder Wiki-Einträge.
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Interaktionswelten
Systembildung angesehen werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht bereits ein System zwischen Subjekt und Maschine bzw. einem Pool interaktiver Systeme besteht. Von Pool soll insbesondere unter Berücksichtigung verteilter, vernetzter Systeme – im Sinne der Informatik – und der Pluralität interaktiver Artefakte die Rede sein. Hierbei handelt es sich um Artefakte, mit denen ein Nutzer interagiert, und die ohne das Wissen bzw. die Wahrnehmung des Nutzers miteinander kooperieren und Informationen austauschen, um Funktionsbündel zu bilden, Eingaben zu verarbeiten und Befehle auszuführen29 . Ein Pool interaktiver Systeme kann somit als ebenso unscharf identifizierbar, wie ein einzelnes interaktives Artefakt angesehen werden. Die Grenzen interaktiver Entitäten verschwimmen. Interagiert der Nutzer mit der Maus oder über die Maus mit dem PC? Wenn der Nutzer Musik über sein Tablet abspielt und dabei die Musikwiedergabe aber über sein, beispielsweise via Bluetooth, mit dem Tablet gekoppeltes Smartphone beeinflussen kann, interagiert er dann mit dem Tablet, dem Smartphone, dem Tablet mittels Smartphone, oder dem System zur Musikwiedergabe? Aus Sicht des Nutzers ist der gesamte Prozess gekennzeichnet durch seine Motivation und sein Ziel30 Musik zu hören, oder konkreter, den aktuell gespielten Titel zu beeinflussen. Dieses Ziel erreicht er durch Interaktion. Unter diesen Umständen kann Interaktion als strategisches Handeln des Nutzers im Sinne Habermas’ angesehen werden. Der Mensch kann im Sinne Luhmanns aber keinem System zugeordnet werden31 . Vielmehr ist der Mensch ein „Konglomerat autopoietischer, eigendynamischer, nichttrivialer Systeme“32 . Luhmann kategorisiert drei Systemtypen33 : Biologische Systeme, Psychische Systeme und Soziale Systeme. Während Menschen Konglomerate aller drei Systemtypen sind, sind interaktive Artefakte und Systeme vor allem Konglomerate sozialer Systeme, wenngleich sie unter gewissen Annahmen in psychische Systeme einbezogen werden könnten. So liegt der Schluss nahe, dass ebenso wie Menschen, im Sinne Luhmanns, auch Maschinen und insbesondere interaktive Artefakte, keine Systeme sind – in Abgrenzung zum Systembegriff im Sinne der Informatik – sondern Anteil an psychischen oder sozialen Systemen haben. Dieser Anteil ist per Definition Luhmanns durch Kommunikation bestimmt, wodurch Interaktion zwischen Mensch und Maschine als Kommunikation im Sinne Luhmanns angesehen werden könnte. Wie Margot Berghaus 2011 herausstellt, ließ Luhmann selbst die Frage offen, ob „eine von den (mindestens) zwei an Kommunikation beteiligten Instanzen (...) ein Computer sein kann.“34
29 30 31 32 33 34
Man denke nur an ein Smartphone, das über das mobile Funknetz eine Domain auflöst, um einen entsprechenden Server anzusprechen und eine dort hinterlegte Webseite aufzurufen. Vgl. zu Zielen, Aufgaben und Handlungen der Interaktion Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 75–81. Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 32, 33. Siehe Niklas Luhmann/Dieter Lenzen: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 82. Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 61ff. Vgl. hierzu ebd., S. 184 und Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 117f. und 304.
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess
Zweifelsfrei identifiziert Luhmann explizit die Kommunikation mittels Computern35 und beschreibt den Pool interaktiver Artefakte als „weltweit operierende, konnexionische Netzwerke des Sammelns, Auswertens und Wiederzugänglichmachens von Daten.“36 Die Frage ist jedoch, was ein Nutzer bei der Interaktion mit einer Maschine als Folge seiner Aktion wahrnimmt. Nimmt er ein interaktives Artefakt wahr, das Daten sammelt, auswertet und wieder zugänglich macht, oder eine Reaktion in Form von wahrnehmbaren Veränderungen des Zustandes des Artefaktes, wie zum Beispiel der Anzeigesituation. Wenn Interaktion als Kommunikation im Sinne Luhmanns verstanden werden kann, lohnt eine Betrachtung, wie Luhmann Kommunikation begreift. Demnach kommunizieren nicht Menschen, sondern die Kommunikation. Folglich würde dies auch für Maschinen gelten. Nicht Maschinen kommunizieren, sondern die Kommunikation37 . Luhmann widerspricht, wie zuvor bereits dargelegt, Shannon und Weaver darin, dass Kommunikation die Übertragung von Informationen sei38 . Des Weiteren betont er, dass die Systemtheorie und im speziellen seine Kommunikationstheorie – im Gegensatz zu einer Handlungstheorie – vom Beobachter her angesetzt ist39 . Dies legt nahe, dass es von der Nutzersicht zu bewerten ist, ob Interaktion Kommunikation ist. Die entscheidende Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt ist, dass „nicht die Mitteilungsabsicht eines Senders, sondern die Interpretation als Mitteilung durch einen Empfänger [...] darüber [entscheidet], ob Kommunikation vorliegt oder nicht.“40 Somit ist Interaktion aus Nutzersicht als Kommunikation zu bewerten, wenn er die Zustandsveränderung des interaktiven Artefaktes als Mitteilung und Information erkennt. Somit könnte Interaktion als Kommunikation im Sinne Luhmanns angesehen werden. Jedoch verfolgt Kommunikation im Sinne Luhmanns keinen Zweck41 ; wohingegen Interaktion einen Zweck verfolgt und, wie bereits dargestellt, im Sinne Habermas’ als strategisches Handeln, oder im Sinne Rammerts, als technisches Handeln angesehen werden kann. Geht man davon aus, dass, wie erörtert, bei der MMI sprachähnliche Strukturen verwendet werden, die gleichsam technisches wie kommunikatives Handeln ermöglichen und das technisches Handeln im MMI Kontext dem im sprachlichen Kontext entspricht, während kommunikatives Handeln in beiden Kontexten zumindest verwandt zu sein scheint, weisen diese beiden Bereiche eine Strukturähnlichkeit auf. Aufgrund dieser Strukturähnlichkeit, ließen sich adaptive Schlüsse ziehen:
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39 40
41
Vgl. ebd., S. 309. Siehe ebd., S. 304. Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 87. Vgl. hierzu Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 277ff. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 56, 78, 88, 108ff., 275ff. Vgl. Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, S. 281-. Siehe Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 89. Vgl. auch Luhmann: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, S. 208--209 und ders.: Einführung in die Systemtheorie, S. 284. Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 92.
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Interaktionswelten • •
•
Menschen erlernen und erzeugen das Sprachsystem der Interaktion genauso wie andere Sprachsysteme. Menschen greifen bei ihrer Interaktion in unterschiedlichen Kontexten genauso auf veränderte und abweichende Sprachsysteme zurück, wie sie es bei der Kommunikation in unterschiedlichen Kontexten tun. Erkenntnisse der Sprachbildung können auf die Bildung von Interaktionsmustern adaptiert werden.
Die bisherigen Betrachtungen erfolgten aus einer distanzierten, theoretischen Betrachtungsperspektive. Eine nutzerzentriertere Betrachtungsperspektive, die mehr dem Leitbild der Interaktionsgestaltung entspricht42 , kann die bisher identifizierte Strukturähnlichkeit bestärken, indem die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit technischer Artefakte relativiert wird. Denn, obwohl, in Abweichung zur streng betrachteten Kommunikation, bei der Interaktion nicht nur menschliche Individuen beteiligt sind, wird die kommunikative Limitation technischer Artefakte in der Wahrnehmung des Nutzers verringert, was aus Nutzerperspektive zu einem intersubjektiven Informationsaustausch führt. Menschen versuchen in Maschinen eher die Aspekte wahrzunehmen, die Ihnen vertraut und ähnlich sind und tendieren somit dazu, technische Artefakte im Rahmen der Interaktion in einer, wie Luckmann es 1980 formuliert, personifizierenden Apperzeption43 zu vermenschlichen. Computer sind für viele Anwender besonders aufgrund ihres Andersseins ein schwarzer Kasten, der nur durch Abstraktion und Metaphern zu bedienen und im weitesten Sinne zu verstehen ist. Diese Abstraktion speist sich aus den Erfahrungen der Anwender die sie in anderen Problemlösungskontexten gemacht haben und somit vor allem aus sozialer, zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation. Diese Erfahrungsmuster werden auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine übertragen, um die Abstraktion ihrer eigenen Tätigkeit wieder zu verringern44 und sie somit als Ausdrucksphänomen aufzufassen. Eine solche Beseelung technischer Artefakte durch die subjektive Wahrnehmung des menschlichen Nutzers ermöglicht eine dialogische Interaktion. Diese Lesart ändert nichts an der Charakterisierung der Interaktion als technische Handlung, sondern erweitert die Charakterisierung der Interaktion als kommunikative Handlung, indem die Struktur des Informationsaustauschs innerhalb der Interaktion der innerhalb der sprachlichen Kommunikation gleich gestellt wird. Dies wird vor allem deutlich, wenn man das von Rammert/Schulz-Schaeffer erarbeitete Drei-Ebenen-Modell des Handelns aus dem Jahre 2002 anwendet45 . Demnach kann Interaktion auf der ersten Ebene „des Bewirkens von Veränderungen“ angesiedelt 42 43 44 45
Vgl. 2.3. Vgl. bspw. Thomas Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Bd. 1011 (Uni-Taschenbücher), Paderborn: Schöningh, 1980. Vgl. Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, S. 93 & 99. Vgl. Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer: Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt, in: Ders. (Hrsg.): Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt/Main: Campus, 2002, S. 11–64, S. 44ff.
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess
werden. Auf dieser Ebene werde Handeln als „Abfolge von Aktivitäten [verstanden], die eine Veränderung hervorrufen“ und auf der „Unterschiede zwischen den menschlichen und den nicht-menschlichen Akteuren weniger ins Gewicht [fallen]“. Diese Ebene sei durch „Regeln der kausalen Wirkung“ geprägt, auf denen jedes technische Artefakt beruhe. Auf der zweiten Ebene werde Handeln durch die Fähigkeit bestimmt „auch anders handeln zu können“. Die zuvor festen Regeln zwischen Aktion und Wirkung werden hier zugunsten mehrere Handlungs- und Wirkungsoptionen aufgelöst. Diese Fähigkeit sein Handeln zu variieren könne laut Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer auf zwei Arten stattfinden. Zum einen fände die Variation der Handlung als bewusste Reaktion auf sich verändernde umliegende Zustände und Bedingungen statt. Zum anderen fände sie proaktiv und intentional statt.46 Interaktive Systeme erfüllen diese Anforderungen nur unter enormem Entwicklungsaufwand, nämlich dann, wenn alle relevanten Handlungsoptionen und die dazu führenden Zustände durch menschliche Hand zuvor implementiert wurden. Vor allem in Bezug zur proaktiven Variation der Handlung und unter der Berücksichtigung, dass interaktive Systeme immer nur sensorisch oder zeitlich reaktiv, maximal pseudo-zufällig47 , agieren können, wird die eingeschränkte kommunikative Handlungsfähigkeit auf der zweiten Ebene deutlich. Auf der dritten Ebene des Handelns „geht es um die Intentionalität und Reflexivität des Handelns“. Wie Häußling 2012 darlegt, geben Schulz-Schaeffer und Rammert zwar die Seltenheit von Technik auf der 3. Stufe zu, schließen sie aber nicht prinzipiell aus48 . Das führe letztlich zu einer „Nivellierung von Technischem, Menschlichem und Sozialem“, da „menschliches Handeln in technisches auf allen dargelegten Ebenen übersetzt werden kann“. Somit wäre jeder Austausch von Informationen, ob zwischen Menschen oder technischen Artefakten aus dieser Aktionssicht heraus gleich. Die Intentionalität und Reflexivität des Handelns interaktiver Systeme können in Bezug zu Rammert und Schulz-Schaeffer durch die steigende Komplexität mit der die Reaktionen technischer Systeme berechnet werden, erklärt werden. Die zugrunde liegenden Daten werden qualitativ und quantitativ, durch Semantiken und Big Data angereichert, die Algorithmen durch Ansätze der künstlichen Intelligenz immer ausgereifter, sodass das Zustandekommen der Reaktion des technischen Systems für den Nutzer nicht mehr direkt beobachtbar, sondern nur noch interpretierbar ist. Eben dieser Umstand gelte laut Rammert und Schulz-Schaeffer für die Steuerung und Deutung jeden Handelns, also auch menschlichem. „Ist nicht auch die intentionale Deutung des Verhaltens unserer Mitmenschen eine Interpretation des Verhaltens von black boxes auf der Grundlage äußerer Anzeichen, mittels derer wir auf nicht direkt beobachtbare interne Zustände (Bewusstseinszustände) zurückschließen“49 ? Das Verhalten dieser
46 47 48 49
Vgl. ebd., S. 44ff. Jeder maschinell erzeugte Zufall ist letztlich Ergebnis eines komplexen Zufallsalgorithmus, dessen Ergebnisse reproduzierbar und somit nicht absolut zufällig sind. Vgl. Häußling: Design als soziotechnische Relation. Neue Herausforderungen der Gestaltung inter- und transaktiver Technik am Fallbeispiel humanoider Robotik, S. 278. Vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer: Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt, S. 47.
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Interaktionswelten
Black Boxes kann dabei theoretisch, wie Alan Touring 1950 nahe legte, so überzeugend sein, dass ein Betrachter nicht zwischen Mensch und Maschine unterscheiden kann50 . Anders als beim Turing Test, geht es bei der Betrachtung, ob Interaktion Kommunikation entspricht, nicht darum, die Qualität der verstandenen Information zu bewerten und daraus Rückschlüsse auf die Mitteilungsquelle und deren Intelligenz zu schließen. Vielmehr geht es darum, ob formale Aspekte einer Kommunikation durch Interaktion erfüllt werden. Dabei kann sich vor allem auf intentionalisierte Mitteilung von Informationen und die Verarbeitung dieser Mitteilung konzentriert werden. Auch wenn einer Maschine (noch) kein Bewusstsein zugeschrieben werden kann51 , und die Intentionalität der Aktionen und Reaktionen der Maschine durch Programmierung angelegt wurde und somit nur ein Abbild der Intentionen eines oder mehrerer Programmierer darstellt, ist aus konstruktivistischer Sicht52 entscheidend, ob ein menschlicher Nutzer bei seinem maschinellen Gegenüber eine Intention wahrnimmt oder voraussetzt. „Was möchte mir das Smartphone sagen“? „Was will dieser Drucker von mir“? Der Nutzer betrachtet seine Umwelt und setzt sie in Bezug zu sich selbst und einzelnen Entitäten, die er in seiner Umwelt identifiziert, die er also von der Umwelt in Gänze und von anderen Entitäten im speziellen abgrenzend wahrnimmt. Auf diese Weise konstruiert er ein ihm eigenes Bild der Realität. Die Frage ist somit, wie er interaktive Artefakte und eine Interaktion mit ihnen wahrnimmt und einordnet. Interaktion kann somit aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Zum einen der Perspektive, dass Interaktion voll umfänglich technischem Handeln entspricht. Zum anderen, dass Interaktion einseitig initiiertem kommunikativem Handeln entspricht, was eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit technischer Artefakte berücksichtigt. Dazu ergänzend kann eine Perspektive eingenommen werden,
50
51 52
Vgl. A. M. Turing: I.---COMPUTING MACHINERY AND INTELLIGENCE, in: Mind LIX.236 (1950), S. 433–460, url: http://mind.oxfordjournals.org/content/LIX/236/433.full.pdf Graham Oppy/David Dowe: The Turing Test, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2011, url: http://plato.stanford.edu/archives/spr2011/entries/turing-test/ Ayse Pinar Saygin/Ilyas Cicekli/Varol Akman: Turing Test: 50 Years Later, in: Minds and Machines 2000, S. 463–518, url: http://crl.ucsd.edu/~saygin/papers/MMTT.pdf John R. Searle: Minds, brains, and programs, in: Behavioral and Brain Sciences 3.03 (1980), S. 417– 457. Touring Tests müssen dabei nicht zwingend sprachbasiert sein. Sie können auch auf anderen Codierungssystemen basieren und andere menschliche Sinne ansprechen. Wichtig ist, dass sie existierende Erfahrungsräume des Rezipienten adressieren, damit dieser die Eindruck mit seinen Erfahrungen abgleichen kann und zu einem Urteil über die Künstlichkeit der Intelligenz oder des Autors kommt. Vgl. Łukasz Kidziński u. a.: Visual Turing Test, 2016, url: http://turing.deepart. io/. Vgl. Searle: Minds, brains, and programs. Hier wird von operativem Konstruktivismus ausgegangen -- Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie, S. 27 -- „Erkenntnisse sind keine Abbildungen, sondern lediglich Beobachtungen der Realität und damit Konstrukte. Beobachtungen sind Operationen von psychischen und sozialen Systemen […]. Sie beruhen unvermeidlich auf Unterscheidungen, die ein Beobachter trifft, die also in der äußeren Realität so nicht vorhanden sind. […] Wir haben es nie mit den Aussagen abgebildeter Realität, sondern immer und ausschließlich mit von Beobachtern konstruierter Realität zu tun.“
3 Zur Deutbarkeit der Mensch-Maschine-Interaktion als kommunikativer Prozess
die die subjektive Wahrnehmung des Menschen berücksichtigt, der die zunehmende Komplexität interaktiver Systeme durch Abstraktion kompensiert und dazu neigt, technische Artefakte zu vermenschlichen und sie als Ausdrucksphänomen aufzufassen, wodurch in der Folge Interaktionsdialoge möglich sind, die in ihren Grundstrukturen anderen Dialogen entsprechen; was letztlich dazu führt, dass Interaktion als vollständig kommunikativer Akt verstanden werden kann und eine Strukturgleichheit zwischen Interaktion und sprachlicher Kommunikation herstellt. Im Sinne dieser Strukturgleichheit weisen menschliche Interaktions- und Sprachsysteme einen Kommunikations-Technik-Dualismus auf. Aus Gestaltungsperspektive scheint die subjektive Wahrnehmung des Nutzers eine größere Auswirkung auf die Nutzbarkeit und Intuitivität interaktiver Systeme zu haben, als die reine, streng kommunikationstheoretische Modellbeschreibung, wodurch die zuletzt dargestellte Perspektive gewichtiger zu sein scheint und die aufgeführten Überlegungen in der Folge verwendet werden, um Konventionen und deren Bildung zu erfassen und auf den Gegenstand der Interaktionsgestaltung, der MMI, zu übertragen. Interaktion soll im Rahmen dieser Arbeit also sowohl als technische als auch kommunikative Handlung verstanden werden, bei der die Relation zwischen Mensch und Maschine der zwischen zwei, oder mehreren menschlichen Subjekten entspricht, und die auf einem eigenen Sprachsystem basiert, das eine Strukturgleichheit zu anderen Sprachsystemen aufweist. Diese Sprachsysteme müssen nicht nur verbal basiert sein. Sie können auch rein visuell, auditiv oder motorisch sein.
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4 Innovationen
Das betrachtete Spannungsfeld aus Innovation und Konvention entsteht vor allem durch die von Joseph Alois Schumpeter 1911 und 1926 beschriebene schöpferische Zerstörung von Innovationen. Sie steht im Gegensatz zu den werterhaltenden Tendenzen etablierter Konventionen. Diese Eigenschaft von Innovationen wurde ebenso für viele technologische, soziale und marktwirtschaftliche Bereiche untersucht, wie das daraus resultierende, dargestellte Spannungsfeld1 . Im Kontext der MMI scheint bei einer solchen Betrachtung aus interaktionsgestalterischer Perspektive besonders relevant zu sein, wie Innovationen entstehen bzw. gestaltet werden können und wie sie diffundieren, also von den Nutzern aufgefasst, verstanden, angenommen und verbreitet werden2 . Erst im Zuge der Diffusion von Innovationen scheint die zerstörerische Kraft, die zuvor nur ein Potential war, umgesetzt und wirksam zu werden. Daher soll sich diesem Spannungsfeld zunächst vom Innovationspol aus gewidmet werden, bevor die resultierenden Erkenntnisse in der Folge den Betrachtungen des Themenfeldes der Konventionen gegenüber gestellt werden. Obwohl Innovationen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven untersucht werden, scheint in diesem Zusammenhang die Betrachtung einiger Disziplinen lohnender als die anderer3 . Die Soziologie und im Speziellen die Technikso-
1
2 3
Wie zum Beispiel die umfangreichen Betrachtungen zum Spannungsfeld aus Innovation und Konvention aus kultur- und medientheoretischer Perspektive in Dennis Büscher-Ulbrich/Stefanie Kadenbach/Martin Kindermann (Hrsg.): Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2013 zeigen. Vgl. 8.1. Eine umfassendere Betrachtung des Innovationsbegriffes bieten unter anderem: Schumpeter/Seifert: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung Gerhard Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt a.M: Umschau-Verl, 1975 Birger P. Priddat/Peter Seele: Das Neue in Ökonomie und Management: Grundlagen, Methoden, Beispiele, 1. Aufl., Wiesbaden: Gabler Verlag, 2008 Holger Braun-Thürmann: Innovation (Einsichten), Bielefeld: transcript-Verl, 2005
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Interaktionswelten
ziologie4 , weist entscheidende Schnittmengen mit den zentralen Fragestellungen der interaktionsgestalterischen Betrachtung von Innovationen auf und ergänzt diese5 . Sie beschäftigt sich neben Prozessbeobachtungen, laut Werner Rammert, vor allem mit
4
5
Birgit Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, 1. Aufl., Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2006 Everett M. Rogers: Diffusion of innovations, 5. Aufl., New York, NY: Free Press, 2003 Ingo Schulz-Schaeffer: Sozialtheorie der Technik, Bd. 803 (Forschung), Frankfurt/Main: Campus Verl, 2000 ders.: Innovation durch Konzeptübertragung: Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung. Ariane Berthoin Antal u. a.: Innovation und Organisation: Entwicklung eines Forschungsfeldes, Berlin, 2008, url: http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2008/iii08-106.pdf Cristina Besio/Robert J. Schmidt: Innovation als spezifische Form sozialer Evolution: Ein systemtheoretischer Entwurf, Berlin, 3.2012, url: http://www.ts.tu-berlin.de/fileadmin/fg226/TUTS/ TUTS_WP_3_2012l.pdf National Research Council: Innovation in information technology, Washington und D.C: National Academies Press, 2003, url: http://www.nap.edu/catalog/10795.html Clayton M. Christensen: The innovator's dilemma: The revolutionary book that will change the way you do business, 1. Collins Business Essential ed., [25. Nachdr.], New York, NY: Harper Business, 2010 David Edgerton: Innovation, Technology, or History: What is the Historiography of Technology About?, in: Technology and Culture 51.3 (2010), S. 680–697, url: http://etc.technologyandculture. net/2010/08/what-is-the-historiography-of-technology-about/ Klaus Fichter u. a.: Entstehungspfade von Nachhaltigkeitsinnovationen: Fallstudien und Szenarien zu Einflussfaktoren, Schlüsselakteuren und Internetunterstützung (nova-net Werkstattreihe), Stuttgart: Fraunhofer IRB-Verl., 2007, url: http://publica.fraunhofer.de/eprints/urn:nbn:de:0011n-565204.pdf Rainer Frietsch: Qualifikation und Innovation, Diss., Stuttgart und Karlsruhe: KIT, 2011, url: http: //publica.fraunhofer.de/eprints/urn:nbn:de:0011-n-1745457.pdf Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2., rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Aufl., [Nachdr.], Bd. 25 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012 James M. Utterback/William J. Abernathy: A Dynamic Model of Process and Product Innovation, in: OMEGA 3.6 (1975), S. 639–655, url: http://scripts.mit.edu/~varun_ag/readinggroup/images/f/ f6/Utterback_Abernathy_-_A_dynamic_model_of_process_and_product_innovation.pdf Barbara Wejnert: Integrating models of diffusion of innovations: A conceptual framework, in: Annual Review of Sociology 28.1 (2002), S. 297–326, url: http://www.wejnert.com/files/out2.pdf Vgl. beispielsweise: Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick ders.: Technik aus soziologischer Perspektive, Wiesbaden: Westdt. Verl, 2000 ders.: Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen: Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig: Leipziger Univ.-Verl, 2001 Hans Dieter Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, in: Ders. (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 11–92 Johannes Weyer: Techniksoziologie: Genese, Gestaltung und Steuerung sozio-technischer Systeme (Grundlagentexte Soziologie), Weinheim: Juventa-Verlag, 2008. Vgl. Katharina Bredies: Design und Wissenschafts- und Technicksoziologie. Wie beeinflussen Wissenschafts- und Technikstudien das Design, und wie werden sie vom Design beeinflusst?, in: Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas/Holger den van Boom (Hrsg.): Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel Univ. Press, 2010, S. 149–152, S. 151.
4 Innovationen
der Frage, wie innovative Handlungen institutionalisiert werden und „wie Neues aus Bekanntem entstehen und wann es als neu oder als innovativ definiert wird“6 . Daraus ergeben sich einige Kernfragen der Techniksoziologie7 , deren Betrachtung einen Beitrag zur Beantwortung zentraler Fragen interaktionsgestalterischer Innovationsforschung leisten können: • • • • •
Wie Wie Wie Wie Wie
können Innovationen charakterisiert werden? werden Innovationen erzeugt? werden Innovationen erkannt? werden Innovationen verbreitet? können die Folgen von Innovationen abgeschätzt werden?
Daher soll in der Folge versucht werden, den gestaltungswissenschaftlichen Diskurs bei der Betrachtung des Themenspektrums der Innovationen um soziologische Perspektiven zu erweitern, um daraus ableitend eine Arbeitsdefinition für Innovationen im (interaktions-) gestalterischen Kontext aufzustellen. Im Detail soll die soziologische Betrachtung des Innovationsbegriffes helfen, den speziellen Prozess der Konzeption und Gestaltung innovativer Bedienkonzepte zu erkennen, zu beschreiben und zu systematisieren. Dies beinhaltet die Kopplung von Handlungsmustern und Kommunikationsregeln mit technischen Systemen zu umfassenden Interaktionskonzepten und interaktiven Artefakten und deren Diffusion in einem konventionsgeprägten Kontext. Da die Gestaltung von Interaktionskonzepten in der Mensch-Maschine-Interaktion stark nutzerorientiert erfolgt, wird der Phase des Kontaktes zwischen interaktivem Artefakt und den Nutzern im Laufe der Betrachtungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet; auch wenn diesem Kontakt Phasen des Innovationsprozesses vorausgehen, in denen andere Akteure maßgeblich wirken. Die Analyse dieser vorausgehenden Phasen dient letztlich jedoch vor allem dazu, die Einflussfaktoren zu identifizieren, die den Ausgang des Kontaktes der Nutzer mit der Innovation beeinflussen. Von besonderem Interesse ist hierbei: • • •
Wie verhalten sich innovative Handlungsmuster in Kontrast zu bestehenden Interaktionskonventionen? Wie beeinflusst die Konventionstreue den Erfolg der Institutionalisierung einer Innovation im MMI Kontext? Haben Verbesserungsinnovationen bessere Institutionalisierungs-Möglichkeiten als Basisinnovationen?
Für einige dieser Fragen können jedoch erst in Kombination mit den Betrachtungen zum Konventionsbegriff umfangreichere Erklärungsansätze skizziert werden8 .
6 7 8
Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 37. Vgl. ebd., S. 37 ff. Vgl. Kapitel 5.
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Interaktionswelten
Aufgrund der Weite des betrachteten Feldes, sollen einige zentrale Bereiche der Techniksoziologie und weiterer interferierender Wissens- und Forschungsbereiche ausgeklammert werden. So sollen beispielsweise die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen, in denen Innovationen generiert werden, vernachlässigt werden. Obwohl sie Relevanz für soziologische Betrachtungen haben, scheinen sie für die Bewertung, Begründung und Herleitung der Nutzbarkeit von innovativen MMIKonzepten geringe Relevanz zu haben. Wichtiger scheint es im Zusammenhang dieser Arbeit zu sein, die Abhängigkeit zwischen Konvention und Innovation im Prozess der Konzeption und Gestaltung neuer Bedienkonzepte, sowie die Abhängigkeit zwischen Innovation und Konvention im Kontext der Adaption und Anwendung eben dieser Bedienkonzepte zu erfassen; sodass der Schwerpunkt zunächst auf der Charakterisierung von Innovationen – als zerstörerischer Gegenpol zu Konventionen – und innovationsverbreitende Diffusionsprozesse gelegt werden soll. Gleichzeitig werden die späteren Betrachtungen zur wechselseitigen Wirkung zwischen Konventionen und Innovationen an diesen beiden Kontexten ausgerichtet werden9 .
4.1
Transdisziplinäre Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Innovationsbegriff
An dieser Stelle soll versucht werden, den Innovationsbegriff einzugrenzen, indem relevante Erkenntnisse, Beobachtungen und Theorien der Techniksoziologie und verwandter Perspektiven herangezogen werden. Diese Beobachtungen haben nicht den Anspruch, einen vollumfassenden diskursanalytischen Überblick über das derzeitige Verständnis des Innovationsbegriffes unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zu geben. Diesem Ziel wurden bereits andere Schriften gewidmet10 . Vielmehr soll aufbauend auf einer disziplinübergreifenden Beschreibung des Innovationsbegriffes versucht werden, eine speziellere Arbeitsdefinition von Innovationen im Gestaltungskontext abzuleiten. Dabei soll es sich um eine Charakterisierung von Innovationen handeln, nicht um eine strenge Grenze zwischen unterschiedlichen Innovationsformen und -Verständnissen. Dies ist vor allem notwendig, um das Spannungsfeld zwischen Innovationen und Konventionen genauer benennen und darin wirkende Bezüge genauer erfassen zu können. Hierzu ist es unabdingbar, dem alltagssprachlich vage verwendeten Innovationsbegriff eine gestaltungswissenschaftliche Deutung zu verleihen. In der Folge soll, wie es Schumpeter bereits 1928 in Grundzügen getan hat und wie es in der jüngeren Literatur zwischen 2006 und 2011 häufig vertreten wird11 , zwischen Invention und Innovation unterschieden werden. Diesem Verständnis nach, 9 10 11
Vgl. hierzu die Kapitel 7 und 8. So zum Beispiel: Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung. Vgl. Bill Buxton: Surface and Tangible Computing, and the ``Small'' Matter of People and Design, in: IEEE International Solid-State Circuits Conference Digest of Technical Papers 2008, S. 24–29, url: http://billbuxton.com/isscc2008buxton.pdf Weyer: Techniksoziologie: Genese, Gestaltung und Steuerung sozio-technischer Systeme Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 5
4 Innovationen
ist die Invention ein der Innovation vorgelagerter Schritt. Schumpeter unterteilt den Gesamtprozess der Generierung von Innovationen in drei Schritte12 : • • •
Invention: als initialzündender Moment, in dem Neues erdacht und kreiert wird. Innovation: als Realisation der zuvor entstandenen Invention in ein anwendbares, wahrnehmbares und konsumierbares Gut. Diffusion: als Verbreitung und Etablierung der entwickelten Innovation innerhalb eines Kontextes beziehungsweise Marktes.
Während sich in den folgenden Betrachtungen in den Abschnitten 4.2, 4.5 und dem Kapitel 4.6 dem Innovationsbegriff und im Abschnitt 8.1 der Diffusion ausgiebiger gewidmet wird, soll an dieser Stelle nur kurz auf die Invention eingegangen werden. Es scheint für den Schwerpunkt der angestrebten Betrachtungen relevanter zu sein, was Innovationen sind, wie sie sich verbreiten und wie diese Diffusion auf Handlungsroutinen und -Konventionen von Anwendern einwirkt und umgekehrt, Konventionen auf die Diffusion von Innovationen wirken. Zusätzlich wird in der Folge im Kapitel 7 der Einfluss von Konventionen auf die Entstehung von Innovationen betrachtet. Die Invention soll in diesem Zusammenhang als Teilschritt im Innovationsprozess verstanden werden. Wie Bill Buxton 2011 am Beispiel des Entstehungsprozesses der Computermaus verdeutlicht, findet Invention häufig als Prozess statt, in dem einzelne Erkenntnisse in Bezug zu anderen, zuvor und gegebenenfalls in anderen Kontexten erworbenen Erkenntnissen gesetzt werden13 . Folgt man dieser Darstellung, darf die Invention nicht als genialer, schöpferischer Moment, also Kreation, oder dessen Ergebnis angesehen, sondern muss als Erkennen, als Folge eines Prozesses verstanden werden. Wie Ingo Schulz-Schaeffer u. a. 2006 ausführen, scheint die Wissensgenerierung im wissenschaftlichen Kontext ein Prozess der sozialen Konstruktion zu sein14 . Dieser Prozess der Wissensgenerierung, -sammlung, -analyse und -verknüpfung könnte in den Grundzügen mit dem reflexiven und analytischen Gestaltungsprozess verglichen werden. Für die folgenden Betrachtungen soll Invention daher nicht, wie es Schumpeter nahegelegt hat15 und wie es nach wie vor von einigen Autoren und Unternehmern
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15
Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 31 und Edgerton: Innovation, Technology, or History: What is the Historiography of Technology About? Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 31. Vgl. Bill Buxton: Some Milestones on Computer Input Devices: an Informal Timeline, 2011, url: http://www.billbuxton.com/inputTimeline.html. Vgl. hierzu Ingo Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies?, in: Science, Technology & Innovations Studies 2006, S. 2 ff. SchulzSchaeffer u. a. identifizieren in diesem Zusammenhang eine Strukturgleichheit zwischen der Wissenschaft und den kulturellen Praktiken des „Interpretierens und Verstehens“ unseres Alltagslebens und versuchen dadurch die Struktur sozialer Konstruktionsprozesse innerhalb des Alltagslebens auf wissenschaftliche Diskurse zu übertragen. Vgl. auch Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 186 und Weyer: Techniksoziologie: Genese, Gestaltung und Steuerung sozio-technischer Systeme. Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 69–70.
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vertreten wird16 , als genialer Schöpfungsakt einzelner innovativer Akteure angesehen werden, sondern als sozialer Konstruktionsprozess der von intersubjektiven Wissensbildungsprozessen geprägt ist. Eine solche Perspektive, die Invention als Folge von wechselwirkenden Beeinflussungen verschiedener Akteure innerhalb eines Prozesses betrachtet, räumt die grundsätzliche Möglichkeit der Einflussnahme bestehender Konventionen und anderer Entwicklungsströmungen auf die Entstehung von Innovationen ein. Die Erkenntnis der Invention ist der finale Schritt einer Reihe von Explorationen, Experimenten, Beobachtungen und Analysen durch den die gewonnenen Einsichten verknüpft werden und ein Potential identifiziert wird, das in der Folge durch Innovationen genutzt werden soll. Inwiefern der Gestaltungsprozess eine umfassende Strukturgleichheit zum Prozess der Wissensgenerierung im wissenschaftlichen Kontext aufweist und ob dadurch ebenfalls auf eine Strukturgleichheit zu sozialen Konstruktionsprozessen abzuleiten wäre, wie es von Schulz-Schaeffer u. a. für die Wissensgenerierung im wissenschaftlichen Kontext geschehen ist17 , stellt einen potentiell fruchtbaren Untersuchungsgegenstand dar, der jedoch über die vorliegenden Betrachtungen hinausgeht. Die Beantwortung könnte ein tieferes Verständnis der Entscheidungsprozesse innerhalb des Gestaltungsprozesses ermöglichen und verifizieren in welchem Umfang Gestaltungsentscheidungen sozial beeinflusst und gestaltete Artefakte als sozial konstruiert angesehen werden können. Bei beiden Prozessen kann davon ausgegangen werden, dass die involvierten Akteure im Sinne der Pfadabhängigkeit, von eigenen Erfahrungen beeinflusst werden und in Bezug zu bereits existierenden Artefakten, Konzepten und Wissensfragmenten agieren. Im Kontext der MMI scheint diese Pfadabhängigkeit zusätzlich durch etablierte Konventionen gespeist zu werden. Diese ersten Ansätze zu diesem Betrachtungsfeld sollen im Kapitel 7 und dem Abschnitt 8.2.1 weiter vertieft werden. Der Duden in der neunten Auflage von 2007 definiert Innovation als „Einführung von etwas Neuem; Erneuerung, Neuerung“18 . Unklar ist dabei jedoch, was Einführung genau meint, bzw. wann eine solche Einführung erreicht ist. Gleichzeitig fehlen die dargestellten Aspekte der Relativität und Subjektivität von Innovationen in dieser, dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechenden, Definition. Vielversprechender scheint der Definitionsversuch der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 1997 zu sein, der laut Claudia Mareis versucht, „Innovationsprodukte und -prozesse international vergleichbar und messbar zu ma-
16 17 18
Auf diese Perspektiven wird in der Auseinandersetzung mit radikalen und disruptiven Innovationen im Abschnitt 4.4 eingegangen. Vgl. Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies?, S. 2 ff. Siehe Dudenredaktion: Der Duden: Das Fremdwörterbuch: Das Standardwerk zur deutschen Sprache, S. 459.
4 Innovationen
chen“19 . Während er zum einen im zeitlichen Verlauf abgeändert wurde20 , scheint vor allem Holger Braun-Thürmanns Kritik (2005) an dieser Definition die Notwendigkeit eines offeneren und differenzierteren Innovationsverständnisses für diese Arbeit zu verstärken. So stellte er fest, dass „es sich bei der OECD-Definition um ‚ein auf ökonomische Tauschprozesse fokussiertes Verständnis von Innovation‘ handle, ‚Forschungs-, Entdeckungs-, Erfindungs- und Entwicklungsergebnisse‘ würden folglich nur im Zusammenhang ihrer wirtschaftlichen Tauglichkeit erfasst. [...] künstlerische Schöpfung oder politische Errungenschaften, seien ebenso aus der Definition ausgeschlossen wie Befunde der Grundlagenforschung aufgrund ihrer angeblich schwierigen ökonomischen Verwertbarkeit“21 . Differenzierter ist da schon der Eintrag zum Innovationsbegriff im Lexikon der Volkswirtschaft von 2013: „Bezeichnung in den Wirtschaftswissenschaften für die mit technischem, sozialem und wirtschaftlichem Wandel einhergehenden (komplexen) Neuerungen. Bisher liegt kein geschlossener, allg. gültiger Innovationsansatz bzw. keine allg. akzeptierte Begriffsdefinition vor. Gemeinsam sind allen Definitionsversuchen die Merkmale: (1) Neuheit oder (Er-) Neuerung eines Objekts oder einer sozialen Handlungsweise, mind. für das betrachtete System und (2) Veränderung bzw. Wechsel durch die Innovation in und durch die Unternehmung, d.h. Innovation muss entdeckt/ erfunden, eingeführt, genutzt, angewandt und institutionalisiert werden.“22 Somit deckt diese weiter gefasste Beschreibung zwei zentrale Facetten des Innovationsbegriffes ab. Auf der einen Seite die subjektspezifische Neuartigkeit, sowie die Relativität zu einem Bezugssystem und auf der anderen Seite den Innovationsprozess, der im Sinne Schumpeters aus Invention, Innovation und Diffusion besteht23 . Die daraus ableitbare Konsensdefinition entspricht auch der Bestrebung von Cristina Besio und Robert Schmidt, „einen Begriff der Innovation [vorzuschlagen], der weder die Aufnahme der gesellschaftlichen Vielfalt der Phänomene durch definitorische Engführung unterdrückt, noch dem gesellschaftlich inflationären, allgegenwärtigen Gebrauch selbst unterliegt.“24 Basierend auf den zusammengefassten Erkenntnissen konstruktivistischer Beiträge der Techniksoziologie, sozialer Innovationen bzw. der 19 20 21 22
23
24
Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 225. Vgl. hierzu Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 6 und Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 225. Siehe ebd., S. 225. Im Original aus Braun-Thürmann: Innovation, S. 18. Siehe Martin G. Möhrle/Dieter Specht: Gabler Wirtschaftslexikon Online: Stichwort: Innovation, hrsg. v. Springer Gabler Verlag, 2013, url: http : / / wirtschaftslexikon . gabler . de / Archiv / 54588 / innovation-v8.html. Vgl. auch Hariolf Grupp: Messung und Erklärung des technischen Wandels: Grundzüge einer empirischen Innovationsökonomik ; mit 26 Tabellen (Springer-Lehrbuch), Berlin: Springer, 1997, S, 15 und Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 5. Siehe Besio/Schmidt: Innovation als spezifische Form sozialer Evolution: Ein systemtheoretischer Entwurf, S. 2.
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sozialen Konstruktion von Technik, evolutionstheoretischer Modelle der technischen Innovation und Forschungsrichtungen zur Steuerbarkeit und Förderung von Innovationen, die Besio/Schmidt 2012 in ihrer Darstellung berücksichtigen, kommen sie zum Schluss, „dass Innovation ein Prozess ist, der von verschiedenen Beobachtern spezifisch markiert wird, in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten vorzufinden ist, sich evolutiv dem steuernden Eingriff einzelner Akteure entzieht und dennoch von Steuerungsversuchen begleitet ist“.25 Im nächsten Schritt sehen sie die Systemtheorie als Schlüssel um eine „multireferentielle Perspektive der Innovation“ zu ermöglichen, „die von einer ökonomisch-technischen Engführung befreit und so auch für die Vielfalt sozialer Innovationen fruchtbar wird“26 . Im Kontext dieser Arbeit scheint jedoch der allgemeinere und weiter gefasste Innovationsbegriff, der dennoch die Erkenntnisse der Techniksoziologie, mit allen interferierenden Perspektiven, berücksichtigt, eine höhere Anschlussfähigkeit zur Betrachtungsperspektive der Gestaltungswissenschaft aufzuweisen, als die systemtheoretische Lesart Besios und Schmidts – die deshalb an dieser Stelle nicht weiter aufgeführt wird – sodass nur die oben angeführten Zusammenfassungen als Basis einer Arbeitsdefinition dienen sollen, nicht aber die speziellere systemtheoretische Variante. Ergänzend hierzu soll ebenfalls die von Rammert recht differenzierte Definition des Innovationsbegriffes beachtet werden, die in den Betrachtungen von Birgit BlättelMink (2006) zu finden ist. Danach definiert er Innovation im engeren Sinne als: „wirtschaftlich relevante Innovation, also im Sinne Schumpeters jegliches Produkt, Verfahren oder jeglicher Dienst oder Kombination davon, die sich von etablierten und bekannten Produkten, Verfahren und Diensten unterscheiden und im Sinne einer Steigerung der wirtschaftlichen Dynamik eingesetzt werden.“27 Und im weiteren Sinne als: „gesellschaftlich innovatives Handeln, bei dem durch forschendes und erprobendes Handeln, durch Versuch und Irrtum und durch Neukombination ein von bekannten Mustern abweichendes neuartiges Handlungsmuster institutionalisiert wird.“28 Basierend auf diesen drei Erklärungsversuchen des Innovationsbegriffes, sollen die weiteren Überlegungen zunächst auf folgendem Innovationsverständnis beruhen: Innovation entsteht durch einen sich evolutiv dem steuernden Eingriff einzelner Akteure entziehenden Prozess, bei dem durch forschendes und exploratives Handeln innerhalb eines fassbaren Entstehungskontextes, durch Versuch und Irrtum und durch Neukombination ein von bekannten Mustern abweichendes, konsumierbares, und messbar vergleichbares, subjektspezifisches und relativ zum Bewertungskontext neuartiges (ob theoretisches, praktisches, soziales oder technisches) Muster in einem spezifischen Verwendungskontext diffundiert und institutionalisiert wird. 25 26 27 28
Siehe Besio/Schmidt: Innovation als spezifische Form sozialer Evolution: Ein systemtheoretischer Entwurf, S. 5. Siehe ebd., S. 3. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 38. Siehe ebd., S. 38.
4 Innovationen
4.2
Zur Charakteristik von Innovationen
Der der Invention vorgeschaltete Prozess des Erkennens führt demnach zur Identifikation neuer Potentiale. Dabei ist es offen, ob sie durch reines Erkennen oder durch Änderung bisheriger Gegebenheiten und Voraussetzungen29 identifiziert wurden. Mit anderen Worten scheinen Inventionen nicht als neu oder alt charakterisiert werden zu können. Wie lange ein identifiziertes Potential bereits zu existieren scheint und ob es bereits früher hätte identifiziert oder genutzt werden können, kann als irrelevant angesehen werden. Vielmehr ist demnach die Größe der abgeleiteten Potentiale ein qualitatives Merkmal einer Invention. Innovationen können als Nutzung dieser zuvor identifizierten Potentiale verstanden werden. Im Rahmen dieser Arbeit sollen Innovationen als relative, kontextabhängige und perspektivgebundene Einordnung betrachtet werden30 . Dadurch befreit man den Innovationsbegriff von einer absoluten Einordnung in „neu“ und „alt“. Zwar wird eine Innovation nach dieser Lesart weiterhin durch seine Neuheit definiert, jedoch ist diese Neuheit nicht als binäre Wertausprägung– neu oder alt – zu sehen; stattdessen sollen Innovationen hier als Spektrum verstanden werden, bei dem die Größe und Qualität des identifizierten Potentials in Kombination mit einer subjektspezifischen Betrachtungsperspektive den Grad der Innovation bestimmen. Um diesen Punkt genauer zu erfassen, soll zunächst die Frage betrachtet werden, wie Innovationen identifiziert werden können. Die Identifikation einer Innovation fußt dabei auf zwei grundsätzlichen Anforderungen: 1. Die zu überprüfende Innovation muss konsumierbar sein. Das heißt, sie muss eine anwendbare Form aufweisen31 . 2. Die zu überprüfende Innovation muss wahrnehmbar sein. Zur Wahrnehmung einer Innovation muss diese anderen Artefakten, Ideen und Konzepten gegenüber gestellt werden können, um eine Vergleichbarkeit herzustellen32 . Hierzu muss sie einem „ökonomischen, techn(olog)ischen und sozialen Möglichkeitsraum“33 zugewiesen werden können.
„Diese Verbindung aus Beobachtbarkeit und Konsum indes setzt eine Anschlussfähigkeit der Innovation an Bekanntes voraus, d.h. eine Innovation kann nur dann als solche erkannt werden, wenn sie kommensurabel ist.“ Und „die Festlegung der Tiefe
29 30
31 32 33
Zum Beispiel durch die Validierung oder Widerlegung bisheriger Annahmen, oder durch neue statistische Daten. Vergleichbare Ansätze finden sich beispielsweise bei Besio/Schmidt (siehe Besio/Schmidt: Innovation als spezifische Form sozialer Evolution: Ein systemtheoretischer Entwurf, S. 3 und 13.) oder Groys (vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 231). Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 26–27. Vgl. Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, 1. Aufl., Bd. 1883 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, S. 159. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 19, 26.
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und Reichweite der gesellschaftlichen Bedeutung einer Innovation erfolgt dementsprechend erst in bzw. durch ihren Konsum.“34 . Zum einen lässt sich aus Darstellungen von Blättel-Mink aus dem Jahr 2006 ziehen, dass Innovationen erst identifizierbar sind, nachdem sie diffundiert sind, der Schumpetersche Innovationsprozess mit seinen drei Phasen Invention, Innovation und Diffusion also abgeschlossen ist; zum anderen, dass Innovationen immer in einem festen Bezugskontext wirken. Nur durch die Relation zwischen Innovation und bestehenden Entitäten des selben Bezugssystems entstehen Vergleichspunkte35 , die die Konsumierbarkeit, also das reine Potential, und den tatsächlichen Konsum, also die tatsächliche Nutzung, abgleichbar und den Neuheitsgrad einer potentiellen Innovation erfassbar machen. Somit sind Innovationen erst in der Retrospektive bewertbar und erkennbar. Zugleich können aus dieser Lesart drei Kontexte identifiziert werden, zu denen Innovationen in Bezug zu stehen scheinen36 : • • •
Der Entstehungskontext Der Verwendungskontext Der Bewertungskontext
Unter dem Entstehungskontext kann das Bezugssystem verstanden werden, das die Phasen der Invention inklusive der Identifizierung eines Innovationspotentials und die folgende Entwicklung einer potentiellen Innovation prägt. In der Folge des Innovationsprozesses wird durch die Diffusion die potentielle Innovationen einem oder mehreren verschiedenen Verwendungskontexten zugänglich gemacht37 . Das heißt das Bezugssystem in dem die Innovation angestoßen wurde, muss nicht zwingend das System sein, indem das resultierende Artefakt Anwendung findet. Aus Gestaltungsperspektive bedeutet dies, dass der Kontext, in dem ein Artefakt gestaltet wird, nicht dem Kontext, in dem es verwendet wird, entsprechen muss. Dies bekräftigt die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen geplanter/gestalteter und tatsächlicher Wirkung eines Artefaktes38 . An dieser Stelle soll auf den Ansatz von Fischer (2012) und Bredies (2010), Gestaltung sei die Aufladung eines Artefakts mit einem Skript, dass ihm eine Funktionalität
34 35 36
37 38
Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 26. Diese Vergleichspunkte sind entscheidend für die Anwendung von Innovationen. Siehe hierzu z. B. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 159. Vgl. hierzu Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies?, S. 3, 4 Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 192 Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 19, 96. Vgl. beispielsweise Berthoin Antal u. a.: Innovation und Organisation: Entwicklung eines Forschungsfeldes, S. 24–25. Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 116--117 Oberquelle: Benutzergerechte MCI in einer dynamischen Welt - Eine Gestaltungsaufgabe, S. 157.
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für einen bestimmten Kontext zuweist39 verwiesen werden. Der Kontext, der einem Artefakt dabei skriptisch zugewiesen wird, entspricht also nicht zwingend dem Kontext in dem er zugewiesen wurde. Diese beiden Bezugskontexte stellen Räume dar, in denen auf unterschiedliche Weise Innovationen und Konventionen aufeinander treffen. Die folgenden Betrachtungen zum Spannungsfeld aus Innovationen und Konventionen werden in Bezug zu diesen Kontexten einer Innovation gesetzt, um eine umfassende gestaltungswissenschaftliche Diskurserweiterung zu gewährleisten. Der dritte Kontext hebt sich von den zuvor genannten ab, indem er sich nicht auf Innovationen in ihrem Sein bzw. Werden bezieht, sondern einer äußeren Betrachtung dient. In der Retrospektive wird ein Bewertungskontext abgesteckt, in dem der Grad der Innovation bewertet wird. Dieser letzte Kontext kann alle Verwendungskontexte betrachten, muss es aber nicht. In jedem dieser Kontexte wird die Entscheidung über das Innovationspotential, die Nutzbarkeit und Konsumierbarkeit und den Innovationsgrad durch einen beobachtenden und bewertenden Akteur, durch ein Individuum, getroffen, das gleichzeitig die Kontexte definiert. Dieser Umstand macht Innovationen zu relativen und perspektivbezogenen Größen, wie Everett Rogers 1962 und 2003, gestützt von umfassenden Studien, definiert: „An innovation is an idea, practice, or object that is perceived as new by an individual or other unit of adoption. It matters little, so far as human behaviour is concerned, whether or not an idea is ‚objectively‘ new as measured by the lapse of time since its first use or discovery. The perceived newness of the idea for the individual determines his or her reaction to it. If an idea seems new to the individual, it is an innovation.“40 Wie Blättel-Mink 2006 zusammenfasst, sind Innovationen „also nicht nur dann Innovationen, wenn sie das erste Mal in die Welt kommen, sondern Innovationen können [jederzeit] für das jeweilige System (z. B. Unternehmen, Bildungssystem, politisches System, kulturelles System) neu sein. In diesem Sinne imitiert ein System eine Neuerung, die bereits von einem anderen System genutzt wurde.“41 Der perspektivbezogene Charakter einer Innovation grenzt Innovationen zum einen stärker vom Zeitpunkt und Kontext ihrer Invention ab; zum anderen und in der Folge führt er zu einer Entkopplung von Entstehungskontext und -Zeitpunkt, Verwendungskontext und -Zeitpunkt und Bewertungskontext und -Zeitpunkt einer Innovation. Dabei kann ein gestaltetes bzw. zu gestaltendes Artefakt in allen drei Innovationskontexten perspektivgebundene Bewertungsschleifen durchlaufen. Innerhalb dieser Bewertungsschleifen, scheinen Konventionen zu wirken, was an späterer Stelle genauer betrachtet werden soll42 .
39
40 41 42
Vgl. hierzu Bredies: Design und Wissenschafts- und Technicksoziologie. Wie beeinflussen Wissenschafts- und Technikstudien das Design, und wie werden sie vom Design beeinflusst?, S. 150 Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, S. 92. Siehe Rogers: Diffusion of innovations, S. 12. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 30. Vgl. hierzu Kapitel 7.
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Im Kontext der Entstehung einer Innovation, also der Konzeption, technischen Entwicklung und Gestaltung eines Artefaktes43 werden einzelne Entwicklungsrichtungen und -Stände mit Hilfe perspektivgeprägter Kriterien und Anforderungen von einzelnen Akteuren – beispielsweise dem Gestalter – geprüft44 , untereinander verglichen und gegebenenfalls selektiert. Vergleichbares erfolgt im Rahmen der Diffusion einer Innovation45 , also in der Phase des Schumpeterschen Innovationsprozesses, in der die Innovation vom Entstehungskontext in den Verwendungskontext überführt wird. Hierbei scheint gleichzeitig ein Akteurswechsel oder treffender ein Perspektivenwechsel stattzufinden, durch den die Innovation in der Folge Kriterien der Anwendungstauglichkeit erfüllen muss. Das Artefakt muss für den potentiellen Anwender einen subjektiven Nutzen46 stiften. Dieser subjektive Nutzen kann vom im Entstehungskontext ursprünglich intendierten Zweck des Artefaktes abweichen. Ohne diesen Nutzen, bzw. bei zu geringem Nutzen, wird das Artefakt keine Anwendung finden, da es entweder ein bestehendes Artefakt für einen bereits bekannten Anwendungsfall ersetzen oder erstmalig einen bisher unbedienten Anwendungsfall unterstützen müsste. In beiden Fällen stellt die Anwendung und Gewöhnung an das neue Artefakt einen Aufwand dar. Es ist davon auszugehen, dass der potentielle Nutzer, als prüfendes Subjekt im Anwendungskontext, diesen Aufwand nur toleriert, wenn der prognostizierbare, subjektive Nutzen den Aufwand rechtfertigt. Dieser Faktor des subjektiven Nutzen einer Innovation ist neben dem reinen Grad der Neuerung entscheidend für die retrospektive Identifikation einer solchen. Denn ohne subjektiven Nutzen findet das neuartige Artefakt keine Anwendung, wird also nicht konsumiert. Ohne Anwendung kann die Innovation nicht als solche erkannt werden und existiert demnach nicht. An dieser Stelle soll nicht die reine Existenz eines nicht genutzten Artefaktes in Frage gestellt werden, sondern die Existenz dieses Artefaktes als Innovation. Wie Gabriel Tarde es 1890 formulierte: „Da eine Neuerung ohne Nachahmung so gut wie nicht sozial existiert“47 . Innovationen müssen also einen subjektiven Nutzen stiften, um Anwendung zu finden bzw. konsumiert zu werden. Gleichzeitig müssen sie aus relativer und perspektivgebundener Sicht neu sein. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann von einer Innovation gesprochen werden. Dabei soll jedoch die alltagssprachlich positive Konnotation des Innovationsbegriffes in den vorliegenden Betrachtungen ebenso aufgelöst werden, wie die negative Konnotation des Konventionsbegriffs. Der Innovationsbegriff soll in diesem Rahmen deutlich vom positiv konnotierten Begriff Fortschritt 43
44 45 46
47
„Artefakt“ soll in diesem Zusammenhang als symbolische oder materielle verdichtete Entität verstanden werden (vgl. Besio/Schmidt: Innovation als spezifische Form sozialer Evolution: Ein systemtheoretischer Entwurf, S. 8), die der Einfachheit halber repräsentativ für jegliche denkbare Ausprägung einer Innovation – wie Dienstleistungen, Prozesse, Technische Güter, interaktive Systeme, Algorithmen etc. – steht. Vergleiche hierzu den in Abschnitt 2.1.1 beschriebenen Gestaltungsprozess mit iterativen Bewertungsschleifen. Zur ausführlichen Betrachtung der Diffusion von Innovationen siehe Kapitel 8.1. Vgl. Andreas Suchanek/Nick Lin-Hi/Dirk Piekenbrock: Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Nutzen, online im Internet, hrsg. v. Springer Gabler Verlag, 2013, url: http://wirtschaftslexikon.gabler. de/Archiv/2440/nutzen-v10.html. Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 168.
4 Innovationen
losgelöst werden. Nur so kann das wechselseitige System zwischen Innovationen und Konventionen im Kontext der MMI gefasst werden. Diese Neutralisierung beginnt bereits beim ersten Schritt des Innovationsprozesses, der Invention; wonach Inventionen, wie dargestellt, nicht als kreative Geistesblitze verstanden werden dürfen, die etwas vollkommen Neues erschaffen, sondern als relatives Ergebnis eines Prozesses angesehen werden müssen. Dieses Ergebnis wiederum stellt lediglich die Basis für einen Möglichkeitsraum potentieller Innovationen dar und führt nicht zwingend zu einer oder mehreren Innovationen. Wie Bill Buxton 2010 –„everything is best for something and worst for something else“48 –Alan Cooper u. a. 2014 –„There is no such thing as an objectively good user interface. Quality depends on the context: who the user is, what she is doing, and what her motivations are.“49 – und Donald Norman 1983 – „A central theme of our work is that, in design, there are no correct answers, only tradeoffs. Each application of a design principle has its strengths and weaknesses; each principle must be interpreted in a context.“50 – herausstellen, kann ein Artefakt das absolut, also in sämtlichen denkbaren Anwendungskontexten, einen ausreichend hohen Nutzen stiftet, ausgeschlossen werden. Somit ziehen sich die Relativität einer Innovation zum Kontext und zur Bewertungsperspektive durch den gesamten Gestaltungs- und Innovationsprozess hindurch. Die Bestrebung etwas innovatives zu gestalten muss demnach vom Ansinnen, dieses Artefakt in den intendierten Anwendungskontext zu überführen, begleitet werden. Hierzu müssen bereits im Entstehungskontext – dem Kontext der Gestaltungsphase – die Anforderungen des Anwendungskontextes genauestens analysiert und konzeptionell berücksichtigt werden. Gleichzeitig erscheint es sinnvoll, nicht nur eine reine Anwendbarkeit herzustellen, sondern darüber hinaus Anreize für potentielle Nutzer zu schaffen, die Anwendung des Artefaktes aufzunehmen. Um diesen Aspekt genauer zu erfassen und in der Folge in Hinblick auf die gestalterische Praxis zu untersuchen, soll die Verbreitung von Innovationen an späterer Stelle ausführlich betrachtet werden51 .
4.3
Zur Charakteristik des Innovationsprozesses
Nachdem versucht wurde die Charakteristik der Wertungskategorie Innovation grob zu umschreiben, soll darauf aufbauend der Innovationsprozess genauer betrachtet und charakterisiert werden, um Erklärungsperspektiven der Einflussnahme des Entstehungsprozesses auf den Grad einer Innovation und deren Eigenschaften aufzunehmen. Dabei lassen sich in den Diskursen zwei Lesarten des Innovationsprozesses identifizieren: 48 49 50
51
Siehe Buxton: 31.1: Invited Paper: A Touching Story: A Personal Perspective on the History of Touch Interfaces Past and Future, S. 447. Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. xxiv. Siehe Donald A. Norman: Some Observations on Mental Models, in: Dedre Gentner/Albert L. Stevens (Hrsg.): Mental models (Cognitive science), Hillsdale und NJ: Erlbaum, 1983, S. 7–14, S. 3 Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 16. Vgl. Kapitel 8.1.
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Interaktionswelten 1. Der Prozess der Entwicklung einer konkreten Innovation, der aus gestalterischer Perspektive als – im weitesten Sinne – Entwurfsprozess verstanden werden kann. 2. Der Prozess der Entwicklung eines Systems, in dem innovative Entitäten Kräfte einer Fortschreitung sind, die in kontinuierlichen oder sprunghaften, radikalen Schritten wirken.52
Der Kern dieser zweiten, systemischen Betrachtungsrichtung ist die Identifikation technischer Entwicklungspfade. Hierzu werden mehrere Innovations-Entitäten innerhalb eines Systems – zum Beispiel eines konkreten Marktes – betrachtet, um eine fortschreitende Entwicklung im Sinne eines Prozesses der Verbesserung durch kontinuierliche innovative Schritte oder radikale innovative Sprünge zu identifizieren. In diesem Zusammenhang wird der Ungerichtetheit technischer Entwicklung und der daraus folgenden Komplexität des Innovationsprozesses durch Abstraktion und Analogiebildung entgegengetreten, indem zentrale Theorien und Begriffe der Evolutionsforschung – wie Variation oder Selektion – adaptiert werden53 Laut Tomás Maldonado (2005) ist es jedoch zu weit hergeholt Technikentwicklung als Evolution zu beschreiben, denn die biologische Evolution und die Technikentwicklung, weisen seiner Ansicht nach, mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Eine Analogie zur 52
53
Betrachtungen dieses diskursiven Stranges lassen sich unter anderem bei folgenden Autoren finden: Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 13, 44, 78/79, 97–98, 100–103, 113, 119 Johannes Weyer: Konturen einer netzwerktheoretischen Techniksoziologie, in: Johannes Weyer/ Ulrich Kirchner/Lars Riedl (Hrsg.): Technik, die Gesellschaft schafft: Soziale Netzwerke als Ort der Technikgenese, Berlin: Ed. Sigma, 1997, S. 23–52 Wiebe E. Bijker/Thomas P. Hughes/Trevor J. Pinch: The social construction of technological systems: New directions in the sociology and history of technology, 12. pr., Cambridge und Mass: MIT Press, 2005 Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 227 Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 57, 171, 173 Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 13 Andreas Knie: Das Konservative des technischen Fortschritts. Zur Bedeutung von Konstruktionstraditionen, Forschungs- und Konstruktionsstilen in der Technikgenese, Berlin, 1989 Schumpeter/Seifert: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 136–138 und Fichter u. a.: Entstehungspfade von Nachhaltigkeitsinnovationen: Fallstudien und Szenarien zu Einflussfaktoren, Schlüsselakteuren und Internetunterstützung Vgl. z. B. Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 55, 57, 171–176 Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 13 Hans Dieter Hellige: Normativ gesteuerte Technikgenese als Komplexitäts-und Kooperationsproblem, 2001, url: http : / / www . artec . uni - bremen . de / team / hellige / Hellige NormativGesteuerteTechnikgenese.pdf, S. 7 Frieder Nake: Zeigen, Zeichnen und Zeichen. Der verschwundene Lichtgriffel, in: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 121–154, S. 147 Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 100--103 Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 35 Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression, S. 15.
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darwinistischen Evolutionstheorie zu ziehen und die dort gängigen Begriffe und Zusammenhänge metaphorisch zu verwenden, stellt er daher in Frage. Gleichzeitig weist er auf die Ansicht von Stephen J. Gould hin, der die technische Entwicklung eher mit einem Virus vergleichbar sieht, als mit darwinistischen Evolutionsprozessen54 . In den gegenständlichen Betrachtungen scheint der Diskurs über Entwicklungspfade insofern nachrangig zu sein, als dass er primär der Bewertung der Tragweite und den resultierenden Auswirkungen einzelner Innovationen in größeren Zusammenhängen und einem systemischen, historischen Kontext zu dienen scheint55 . In diesem Zusammenhang wird versucht Innovationsprozesse zu segmentieren bzw. in Phasen zu unterteilen. Viel wichtiger scheint im vorliegenden Fall der Entwurfsprozess einer Innovation zu sein, an deren Ende ein Konzept oder Artefakt vorliegt, dessen Abweichung von einer etwaigen Norm Gegenstand subjektiver Bewertung wird und treibende Kraft im Spannungsfeld aus Konvention und Innovation im Interaktionsbereich ist. Die Übertragung der Betrachtungen des Entwicklungsprozesses einer Innovation und der folgenden Diffusion dieser Innovation in den Diskurs der Gestaltungsforschung soll Rückschlüsse auf die Gestaltbarkeit von Innovationen ermöglichen, die betrachteten Aspekte der unterschiedlichen Innovationsdiskurse sollen demnach in Bezug zu diesem Schwerpunkt gesetzt werden. Zentrale Ansichten von Rammert – wie der 1993 formulierte Umstand der bewussten wie unbewussten Bezugnahme unterschiedlicher Akteure des Entstehungsprozesses einer Innovation auf Vorarbeiten Anderer56 – die sich eigentlich auf die systemische Betrachtung des Innovationsprozesses beziehen, lassen sich auf den Entwurfsprozess übertragen. Diese verdeutlichen, dass der Entwurfsprozess durch äußere Einflüsse des Entwurfskontextes und interferierender Kontexte beeinflusst und von wechselnden Akteuren geprägt wird, die sich wechselseitig beeinflussen57 . Dieses beeinflussende Wechselspiel verschiedener Akteure und Kontexte wird durch weitere Theorien gestützt. So betont Tarde 1890, dass Innovation zumeist als Folge „einer beträchtlichen Anzahl von kleinen und großen Ideen“ verstanden werden können58 , die in der Konsequenz „für gewöhnlich fast ausschließlich ruhmund namenlos erscheinen“59 . Auch Aicher verweist 1992 darauf, dass Gestaltungsartefakte häufig Kollektivleistungen sind, bei denen einzelne Akteure auf Visionen, Ideen und Ergebnisse vorheriger Akteure aufbauen60 . Diese Impulse der kleinen und großen Ideen können einander überlagern, interferieren oder sich gegenseitig abschwächen bis einer versiegt61 . Wie Tarde darstellt, scheint es irrelevant zu sein, ob eine Innovation das Ergebnis eines einzigen starken Impulses ist, oder die Folge mehrere Impulse – also ob sie die Folge von Verdrängung oder Überlagerung und 54 55 56 57 58 59 60 61
Vgl. Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 224. Vgl. auch Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 227. Vgl. Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 33--34. Vgl. ebd., S. 154--167. Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 26. ebd. Vgl. Aicher: Die Welt als Entwurf, S. 129. Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 65ff.
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Interferenz ist. Letztlich sei jeder Impuls einem Konkurrenzkampf ausgesetzt und müsse sich unter den dort geltenden Bedingungen behaupten62 . Als Folge dieses Wechselspiels unterschiedlicher Kontexte, Akteure und kleiner wie großer Ideen, das zu einer konkreten Innovation führt, kann der Entwurfs- und Entstehungsprozess einer Innovation als diffuser Prozess verstanden werden, der durch Pfadabhängigkeit und die Lebenswelt der beteiligten Akteure geprägt wird. Wie Mareis 2011 aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive deutet, seien laut Rogers63 „viele der innovativsten Entwürfe des 21. Jahrhunderts [...] nicht durch einen ‚radikalen technologischen Durchbruch‘ möglich geworden, wie es im Eintrag zu ‚Innovation‘ weiter heißt, sondern durch Gestaltung mit bestehenden Technologien und Methoden in neuer Perspektive oder durch ein erneutes Aufgreifen bekannter Technologien und Methoden in veränderten Marktsegmenten.“64 Vergleichbares gilt laut Schulz-Schaeffer (2002) für die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in andere Wissensgebiete und Kontexte65 . Das identifizierte Wechselspiel kann somit auch als Rekombination bestehender Konzepte, Artefakte, Theorien und Visionen angesehen werden und wird nicht zwingend durch einen einheitlichen Kontext gespeist, sondern kann auch durch Übertragung von einem in einen anderen Kontext begünstigt werden. Während der diffuse Entwurfs- und Entstehungsprozess einer Innovation durch Rekombination und Adaption bestehender Entitäten innerhalb nachvollziehbarer Sinnzusammenhänge stattfindet, findet durch die praktische Anwendung einer Innovation eine Dekontextualisierung und Loslösung dieser Sinnzusammenhänge statt. Wie Blättel-Mink beschreibt, führt die Diffusion einer Innovation in Bezug zu Rammerts Positionen aus dem Jahr 1988 zur Entkopplung des Verwendungskontextes eines Artefaktes bzw. einer innovativen Entität von ihrem Entstehungskontext66 . Diese Kontextverschiebung führt zur Abstraktion und dem Verlust von Begründungszusammenhängen. Einzelne Charakteristiken der innovativen Entität sind nun nur noch beobachtbar; ihre Immanenz bzw. logischen, wie kausalen Herleitungen sind nicht mehr nachvollziehbar. Dies führt letztlich erst zur potentiellen Radikalität einer Innovation. Es darf also nicht das Bild eines durchgängigen Innovationsprozesses skizziert werden. Vielmehr muss die Entstehung von Innovationen als Abfolge und Interferenz wechselnder Prozesse und Akteure erfasst werden, bei denen jedoch gestalterische Motive und Methoden erkennbar sind. Giovanni Dosi und Luigi Orsenigo beschreiben 1988 den Innovationsprozess in diesem Zusammenhang als höchst kontextabhängigen Prozess, der explorative, evolutive, lernende und iterative Züge aufweist67 . Blättel-Mink fasst sieben charakteris-
62 63 64 65 66 67
Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 66. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 233. Vgl. Schulz-Schaeffer: Innovation durch Konzeptübertragung: Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung. S. 232. Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 121. Vgl. Giovanni Dosi/Luigi Orsenigo: Coordination and transformation: an overview of structures, behaviours and change in evolutionary environments, in: Giovanni Dosi u. a. (Hrsg.): Technical Ch-
4 Innovationen
tische Faktoren des Innovationsprozesses nach Dosi & Orsenigo zusammen68 , von denen nachfolgend die für die gegenständlichen Betrachtungen relevanten in Bezug zu den bisherigen Ergebnissen gesetzt werden sollen69 . 1. Weisen Dosi und Orsenigo auf die Bedeutung impliziten Wissens bzw. Erfahrungswissens innerhalb des Innovationsprozesses hin70 . 2. Stellen sie die Unwägbarkeit intendierter und nicht-intendierter Folgen von Innovationen und dem daraus resultierenden Wandel heraus71 . 3. Schließen Sie auf die Irreversibilität technologischen Fortschritts.
Obwohl – wie bereits ausgeführt – die Lesart einer fortschreitenden technologischen Entwicklung im Sinne eines zusammenhängenden Gesamtprozesses und einer stetigen bzw. sprunghaften Verbesserung in dieser Arbeit vernachlässigt werden soll, stellt der Punkt der Irreversibilität technologischen Fortschritts nach Dosi und Orsenigo ein deutliches Indiz auf die Tragweite einzelner Innovationen dar und die Einflussnahme einzelner Konzepte und Artefakte auf zukünftige Entwicklungen. Ein Umstand der die Notwendigkeit eines bewussten und reflektierten Gestaltungs- und Entwicklungsprozess betont. Somit kann es nicht die Rolle der Gestaltung sein, Innovationen zu schaffen, da diese meist das Ergebnis einer diffusen Abfolge unterschiedlicher Abläufe unter Einfluss verschiedener Disziplinen sind, sondern unter Berücksichtigung der Irreversibilität einer Innovation die Anwendbarkeit und Tauglichkeit eines innovativen Artefaktes sicher zu stellen und dessen intendierte und nicht-intendierte Folgen durch Augenmaß und Reflexion zu erkennen und diese zu fördern bzw. ihnen entgegenzuwirken. Gleichzeitig kann die Gestaltung dazu dienen, unterschiedliche Wissensinhalte innerhalb des Innovationsprozesses zu vermitteln und dadurch die Rekombination zu unterstützen, und das Verständnis der unterschiedlichen Akteure für die jeweils anderen Funktionslogiken zu fördern. Denn wie Blättel-Mink zusammenfasst, ist eine Erkenntnis der Technikgeneseforschung, dass „technischer Wandel ein sozialer Prozess ist, der dementsprechend nicht planbar also ergebnisoffen ist und an dem sowohl wirtschaftliche als auch technische und wissenschaftliche Akteure beteiligt sind“ und „diese Akteure unterschiedlichen Funktionslogiken folgen und [...] nicht alle Akteursgruppen die gleiche Chance haben, am technischen Wandel
68 69
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ange and Economic Theory, London, New York: Laboratory of Economics and Management (LEM), Sant'Anna School of Advanced Studies, Pisa, Italy, 1988, S. 13–37 und Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 97–98. Vgl. ebd., S. 97--98. Die übrigen Faktoren nach Dosi & Orsenigo beziehen sich verstärkt auf Aspekte des Innovationsprozesses, die aufgrund der Weite des diskursiven Feldes ausgeklammert werden sollen – wie etwa Charakteristiken des Innovationsprozesses in industriellen Organisationsformen, oder in Bezug zu Marktformen. Ein Aspekt, den auch Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou 1986 und Mareis 2011 herausarbeiten. Vgl. Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 40 und Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Designund Wissensdiskursen seit 1960, S. 249, 270. Dieser Ansatz findet sich auch bei Rammert 1993 wieder. Vgl. Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 154–167.
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zu partizipieren“. Wie sie weitergehend beschreibt, ist eine Schlussfolgerung dieser Erkenntnis die Annahme, „dass es im Innovationsprozess einer Vermittlung unterschiedlicher Wissensinhalte bedarf, entweder im Sinne transdisziplinärer Forschung oder auch mit Hilfe von sogenannten Brückeninnovationen (Intermediaries), die Wissen wechselseitig kommunizieren und übersetzen.“72 Gestaltung kann demnach bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Ideenentwicklung und -Rekombination einen bedeutsamen Beitrag leisten, noch bevor konkrete Artefakte erkennbar sind. Gleichzeitig muss es ihre Aufgabe sein, die Qualitäten eines solchen Artefaktes und seiner Folgen zu beeinflussen und soll demnach nicht nur im Entstehungskontext einer innovativen Entität arbeiten, sondern bis in den Verwendungskontext hinein wirken. Zusammenfassend kann man den Innovationsprozess im Sinne des Entstehungsprozess von Innovationen als diffusen Prozess verstehen, der begleitend beschrieben aber nicht im Detail vorhergesagt oder exakt und voll umfänglich beeinflusst werden kann. Er ist höchst kontextabhängig und weist explorative, evolutive und iterative Züge auf. Weiterhin hat er unabschätzbare, irreversible Folgen auf gesellschaftliche und ökonomische Strukturen und alle weiteren Bereiche der sozialen Lebenswelt mit denen er in Berührung kommt. Dadurch ist er insgesamt höchst komplex. Die Gestaltung bietet Methoden und Perspektiven, diese Komplexität handhabbar zu machen, den Entstehungsprozess zu unterstützen und dadurch bis in den Verwendungskontext eines innovativen Artefaktes hineinzuwirken.
4.4
Zur Radikalität von Innovationen
Wie dargestellt, führen die bisherigen Betrachtungen zur Charakterisierung von Innovationen als Artefakte, die für einen bestimmten Kontext aus Sicht eines Individuums neuartig und nutzenstiftend sind. Während sich dem Spektrum des subjektiven Nutzen im Rahmen der Betrachtung zur Diffusion von Innovationen gewidmet werden soll73 , wird im Folgenden die Bandbreite der Neuartigkeit einer Innovationen thematisiert. Diese Betrachtung des Grades der Neuartigkeit kann in erster Linie dazu dienen, die Verwandtschaft zwischen mehreren Innovationen beziehungsweise Artefakten zu erkennen und somit aus systemischer Betrachtungsperspektive einen Entwicklungspfad zu identifizieren. In der folgenden Betrachtung dieses Innovationsgrades soll aber die Frage im Fokus stehen, ob die Radikalität einer Innovation Rückschlüsse auf die Abweichung von bekannten Konventionen erlaubt und somit die Stärke des Spannungsfeldes zwischen Konventionen und Innovationen skizziert. Gerhard Mensch unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen drei Innovationsarten74 :
72 73 74
Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 13. Vgl. Kapitel 8.1. Vgl. Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression, S. 55, 134.
4 Innovationen 1. Basisinnovationen 2. Verbesserungsinnovationen 3. Scheininnovationen
Wie Blättel-Mink betont, hat sich die Unterscheidung zwischen Basis- und Verbesserungsinnovationen in der Literatur etabliert75 ; obwohl gleichsam äquivalente Begriffe verwendet werden. So werden Basisinnovationen auch als radikale Innovationen, vertikaler Fortschritt 76 oder als sprunghafte Entwicklungen bezeichnet. Aufbauend auf dem Begriff der radikalen Innovationen hat Clayton Christensen den Begriff Disruptive Innovationen etabliert, der Innovationen bezeichnet, die besonders umwälzende Auswirkungen auf Märkte und soziale Systeme haben. Alternativ zu Verbesserungsinnovationen sind die Begriffe inkrementelle Innovation, innovative Imitation77 , akkumulierte Innovationen78 , horizontaler Fortschritt 79 oder kontinuierliche Entwicklung geläufig. Im Kern unterscheiden die jeweiligen Begriffscluster jedoch dieselben zwei Ausprägungen von Innovationen. Diese werden durch den von Rogers ab 1962 geprägten Begriff der ReInvention erweitert, der insbesondere betrachtet, wie Innovationen durch Zweckentfremdung und Anpassungen durch die Anwender und Konsumenten entstehen. In der Folge sollen daher insgesamt fünf Begriffe betrachtet werden. 1. 2. 3. 4. 5.
Scheininnovationen Verbesserungsinnovationen Re-Invention Basisinnovationen Disruptive Innovationen Die Reihenfolge der Betrachtung erfolgt in aufsteigendem Grad der Neuartigkeit.
Scheininnovationen -Unter Scheininnovationen versteht Gerhard Mensch 1975 veränderte Artefakte, die die zuvor identifizierten Anforderungen an Innovationen aus subjektiver Sicht nur scheinbar erfüllen80 . Als Beispiel führt Blättel-Mink im Jahr 2006 „bloße Veränderung im Design eines Produktes“ an81 , ohne dabei aber ihr Verständnis von Design näher zu erläutern. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass in diesem Zusammenhang der Designbegriff im Sinne des äußeren Erscheinungsbildes verwendet wird. Gestaltung ist demnach in der Lage, künstlich Innovationen zu generieren. So formuliert es auch George Nelson 1979:
75 76 77 78 79 80 81
Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 30. Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 12–13. Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 80. Vgl. Walter Isaacson: The innovators: [how a group of hackers, geniuses and geeks created the digital revolution], London: Simon & Schuster, 2014, S. 36. Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 12--13. Vgl. Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression, S. 64 ff. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 80.
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„Gestaltung [...] ist ein Versuch, einen Beitrag zu leisten durch Neuerung. Wenn kein Beitrag geleistet wird oder geleistet werden kann, dann ist ‚Styling‘ das einzige zur Verfügung stehende Mittel, die Illusion der Neuerung zu nähren.“82 Die Einordnung einer Innovation als Scheininnovation birgt jedoch zwei Probleme. Zum einen ist die Identifizierung und Einordnung einer Innovation immer subjektiv, also das Ergebnis des Betrachtungsgefüges zwischen einem Artefakt und einem Subjekt. Dagegen können Scheininnovationen immer nur durch einen Dritten identifiziert werden, der das Betrachtungsgefüge von außen beobachtet. Denn das erste Individuum wird kaum den Schein erkennen, ansonsten wäre es dazu verleitet, das Artefakt nicht mehr als Innovation zu deklarieren. Zum anderen – und in Kombination mit dem ersten Aspekt – droht diese Einordnung, alle durch Gestaltung initiierten Innovationen als Scheininnovationen zu banalisieren und sie somit in letzter Konsequenz ad absurdum zu führen. Zwar muss an dieser Stelle nochmals auf den bereits dargelegten Unterschied zwischen Gestaltung und Design – im Sinne des Prozesses der reinen Ästhetisierung der äußeren Gestalt – unterschieden werden, jedoch entfällt bei der Gestaltung von Bedien- und Anzeigekonzepten ebenfalls ein großer Teil der Konzeption und des Entwurfs auf die äußere Form, oder besser gesagt, die Oberfläche. Wie im Kapitel 2 dargestellt, sind Bedien- und Anzeigekonzepte in großem Maß von visuellen Gestaltungsparametern abhängig. Über die Anwendbarkeit eines funktionalen Konzeptes entscheidet nicht zuletzt die visuelle Gestalt des Entwurfs. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass eine verbesserte visuelle Gestaltung die Nutzbarkeit eines Konzeptes enorm erhöhen kann, wodurch aus subjektiver Sicht zumindest eine Verbesserungsinnovation vorliegen würde, nach erörtertem Verständnis es aber eine Scheininnovation wäre. Gleichzeitig wird in diesem Zusammenhang auch deutlich, dass die Unterteilung durch Mensch zwar leicht auf Technologien anwendbar ist, aber nur schwer auf immaterielle Gedankengüter, wie grundsätzliche Konzepte, da diese immer einen materiellen Träger benötigen, um anwendbar, konsumierbar zu sein. Dieser Gedanke soll im Verlauf des Kapitels 4.6 vertieft werden. Verbesserungsinnovationen -Verbesserungsinnovationen sind die Weiterentwicklung einer früheren Basisinnovation, indem sie „den älteren ‚Jahrgängen‘ an Qualität, Verläßlichkeit, Konsumentenfreundlichkeit, Umweltschonung, Rohstoffverbrauch, Lohnkosten usw. überlegen“83 sind, oder wie es Blättel-Mink zusammen fasst, die „Rationalisierung, Renovierung oder Modernisierung bereits existierender Technologien“84 . Robert Friedel weist im Jahr 2007 darauf hin, dass diese Verbesserungen großen und kleinen Umfangs sein
82 83 84
Siehe George Nelson: Problems of design, 4. Aufl., New York: Whitney, 1979. Vgl. Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression, S. 55. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 80.
4 Innovationen
können, und die zu verbessernde Grundlage nicht zwingend neu sein muss, sondern schon lange am Markt existieren kann85 . Walter Isaacson ist 2014 der Ansicht, dass die meisten Innovationen der digitalen Ära kollaborative Innovationen und nicht die Arbeit eines einzelnen genialen Erfinders seien86 . Laut Matthias Penzel (2011) weist die Menge von Patentanträgen, und „Schriftsätzen diverser multinationaler Gerichtsprozesse“ darauf hin, dass die Erfindung des Automobils ebenso kein genialer Einfall eines einzelnen Genies war, sondern die Folge einer wahrnehmbaren Entwicklung und somit „in der Luft lag“87 . Vergleichbares beschreibt Buxton für die Entwicklung der Computer-Maus88 . Dagegen vertritt Tom Katis – ein Innovator und Firmengründer – in einem Interview mit Christoph Keese die Ansicht, dass Innovationen nicht in der Luft liegen. Vielmehr vertritt er die Meinung, dass es auf die erfinderische Leistung von Personen ankäme und dass Innovationen nicht in der Luft liegen können89 . Laut Christoph Keese stützt Katis seine Meinung auf der Beobachtung, dass die Menschheit lange ohne iPhone gelebt habe, und niemandem bewusst gewesen wäre, dass er so etwas wie ein iPhone vermisse, bis es Steve Jobs erfunden habe. Dieser Ansicht kann man entgegensetzen, dass Steve Jobs das iPhone vermutlich nicht in all seinen Details erfunden hat, sondern ihm – wenn dies überhaupt stichhaltig machbar ist – die Vision eines Smartphones zuzuschreiben ist. Die vielfältigen Sensoren, das Touch-Display und die fortgeschrittene Mobilfunktechnik, die die Funktionalität des iPhones erst ermöglichen, sind alle samt Innovationen oder Verbesserungsinnovationen, die wahrscheinlich nicht Steve Jobs zugeschrieben werden können. Katis sieht den Grundstein für Innovationen jedoch im Unternehmertum und kann somit in die Tradition Schumpeters gesetzt werden. Initiierung und Austausch, die Keese als Pfeiler des Innovationsherdes Sillicon Valley kennzeichnet, führt Katis demnach nicht auf. Re-Inventionen -Die von Rogers genannte Facette Re-Invention kann im weitesten Sinne als Verbesserungsinnovation angesehen werden, die jedoch durch vom Anwender erfolgte Anpassung im Verwendungskontext modifiziert wird oder gar erst entsteht. Dabei muss das ursprüngliche Produkt nicht zwangsläufig in seiner Struktur verändert werden. Auch eine Zweckentfremdung oder Bedeutungsaufladung durch Ensemblebildung, Improvisation oder subkulturelle Umdeutungen90 kann bereits zu einem höheren subjektiven Nutzen führen und damit den tatsächlichen Konsum steigern. 85
86 87 88 89 90
Vgl. Robert D. Friedel: A culture of improvement: Technology and the Western millennium, Cambridge Mass: MIT Press, 2007 und Edgerton: Innovation, Technology, or History: What is the Historiography of Technology About? Vgl. Isaacson: The innovators: [how a group of hackers, geniuses and geeks created the digital revolution], S. 1. Vgl. Matthias Penzel: Zeitleiste: von 0 auf 100 in 125 Jahren, in: Peter Weibel (Hrsg.): Car culture, Karlsruhe: ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 2011, S. 211–224, S. 202 ff. Vgl. Buxton: Some Milestones on Computer Input Devices: an Informal Timeline. Vgl. Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, S. 93--94. Vgl. Thilo Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, Bielefeld und Zugl. Essen: transcript, 2014, S. 114ff., 219ff., 247ff. und 264ff.
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Interaktionswelten
Als Beispiel aus der jüngeren MMI Geschichte kann die Kinect91 , ein optisches Eingabegerät zur Erfassung räumlicher Gesten und Aktionen, genannt werden. Zunächst durch die Firma Microsoft als optionales Zubehör für die Spielkonsole XBox 360 am Markt platziert, wurde die Kinect innerhalb kurzer Zeit durch die Anwender selbst für weitere Plattformen und Anwendungskontexte geöffnet. So wurde sie zunächst gehackt, um sie an normalen PCs nutzen zu können, und in der Folge nicht mehr ausschließlich zur Erfassung menschlicher Gesten sondern beispielsweise auch zur 3DAbtastung ganzer Räume oder Objekte zu verwenden. Dadurch wurden in kürzerer Zeit mehr Kinects verkauft und die damit verbundenen technischen Grundlagen für neuartige, bewegungsbasierte Eingabemöglichkeiten und die daraus resultierenden Eingabekonzepte schneller einer breiten Nutzergruppe zugänglich gemacht. Gleiches war kurz zuvor bereits mit der Wii Remote92 passiert, einem zur Markteinführung im Jahr 2006 innovativen Eingabegerät zur Interaktion mit Nintendos Spielkonsole Wii93 , das über eine umfangreiche Sensorik die eigene Lage im dreidimensionalen Raum und die eigene Ruhelage bzw. Beschleunigung ermitteln kann. Durch die anwendergenerierte Kompatibilität zu anderen technischen Systemen – vor allem dem PC – wurden weitere Verwendungskontexte erschlossen und eine Vielzahl unterschiedlicher, teils experimentativer, Interaktionskonzepte realisiert94 . Diese Interaktionskonzepte wurden in der Folge von vielen Anwendungen adaptiert, die auf Geräten und Plattformen ausgeführt werden, die eine funktional vergleichbare Sensorik aufweisen. So wurden beispielsweise die Bedienprinzipien zur Steuerung von Spielen mittels der Wii Remote auf eine Vielzahl von Spielen auf Smartphones und Tablets übertragen95 .
91
92 93
94 95
Siehe Microsoft Corporation: Kinect für Xbox One, 2016, url: http://www.xbox.com/de-DE/xboxone/accessories/kinect-for-xbox-one ders.: Natural User Interfaces: Voice, Touch and Beyond, REDMOND und Washington, 2010, url: https://news.microsoft.com/2010/01/06/natural-user-interfaces-voice-touch-and-beyond/ ders.: Meet Kinect for Windows: Create innovative solutions and Windows Store apps that allow users to interact naturally with computing technology. 2016, url: https : / / developer . microsoft . com/en-us/windows/kinect Leland Holmquest: Multimodale Kommunikation mit Kinect, in: 27.5 (2012), S. 68–71, url: https: //msdn.microsoft.com/de-de/magazine/hh975374.aspx. Siehe Nintendo: Wii RemoteTM Plus Controller: Operations Manual, REDMOND und Washington 2010, url: http://www.nintendo.com/consumer/downloads/Wii_Remote_Plus_En.pdf. Laut Brown ist die Nintendo Wii ein gutes Beispiel für eine ausgewogene Gestaltung im Sinne des design thinking, wie Brown es versteht. Demnach habe Nintendo bei der Entwicklung der Wii entgegen des damaligen Markttrends nicht auf die bestechendste Grafikleistung und Darstellungsqualität Wert gelegt, sondern versucht eine umfassende Spielerfahrung zu erzielen, indem ausgewogene Grafik mit spannenden Spielkonzepten und innovativen Eingabegeräten kombiniert wurden. Vgl. Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 18. Vgl. z. B. Johnny Chung Lee: Hacking the Nintendo Wii Remote, in: IEEE Pervasive Computing 7.3 (2008), S. 39–45 und ders.: Projects: Wii, 2008, url: http://johnnylee.net/projects/wii/. So zum Beispiel bei Doodle Jump (vgl. Lima Sky: Doodle Jump: ACHTUNG: Höchste Ansteckungsgefahr!, iTunes Store, 25.10.2016, url: https://itunes.apple.com/de/app/doodle-jump-achtunghochste/id307727765).
4 Innovationen
Basisinnovationen -Basisinnovationen oder radikale Innovationen stehen „am Ursprung einer neuen Wahrnehmung [...], welche die Umstände unserer Beziehung zur Welt und die Form unserer Kommunikation modifiziert“96 . Sie werden als gänzlich neu wahrgenommen und können je nach Wirkung enorme Folgen für diverse Bereiche und Systeme – im Sinne Niklas Luhmanns – haben. Gerhard Mensch versteht unter einer Basisinnovation die erste Anwendung einer Invention und die darauf folgende Schaffung eines „organisierten Marktes“ für dieses neue Produkt97 . Peter Thiel vertritt 2014 die Meinung, dass radikale Innovationen immer durch neue Firmen entstehen, da diese prozessuale und organisatorische Vorteile gegenüber etablierten Unternehmen haben. Sie seien so groß, wie sie sein müssten, um handlungsfähig zu sein und so klein, wie sie sein müssten, um dynamisch und flexibel zu bleiben. Durch fehlende Historie hätten sie keine historisch bedingten Interessen und könnten somit frei von institutionellen Pfadabhängigkeiten agieren98 . Ähnliche Haltungen nehmen Brown (2009); Christensen (1997 und 2000, hier 2010) oder Keese (2014) ein99 . Laut Brown konzentrieren sich große Unternehmen auf Verbesserungsinnovationen, die sie unmittelbar über den bestehenden Markt refinanzieren können. „Relatively few technical innovations bring an immediate economic benefit that will justify the investmens of time and resources they require. This may explain the steady decline of the large corporate R&D100 labs such as Xerox PARC and Bell Labs that were such powerful incubators in the 1960s and ´70s. Today, corporations instead attempt to narrow their innovation efforts to ideas that have more near–term business potential. They may be making a big mistake. By focusing their attention on near–term viability, they may be trading innovation for increment.“101 Laut Christensen können Märkte nicht immer die Geschwindigkeit technologischen Fortschritts mitgehen. Manchmal entstehen Innovationen, für die es noch keinen Markt gibt. Dieser Markt könne aber nach einer gewissen Zeit entstehen. Große etablierte Firmen tendieren laut Christensen dazu, Forschung und Entwicklung und damit potenziell innovative Ergebnisse so zu steuern, dass Bedürfnisse bzw. Anforderungen ihrer wichtigsten Kernmärkte angesprochen werden. Sie seien darauf fokussiert, zwischen Erfolgssteigerung und beteiligten Aufwänden abzuwiegen. Erfolgsmaximierung sei in diesem Zusammenhang nicht der maximale Erfolg, sondern 96
Siehe Jordi Pericot i Canaleta: Die Rolle des Designers in einer deliberativen Gesellschaft, in: Präsidentin der Fachhochschule Lübeck (Hrsg.): Öffnungszeiten: Design & Research, Bd. 29 (Öffnungszeiten), 2015, S. 12–17, S. 12. 97 Vgl. Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression, S. 134. 98 Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 15--16. 99 Auf die jeweiligen Positionen und Darstellungen wird im Folgenden genauer eingegangen. Vgl hierzu Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation Christensen: The innovator's dilemma: The revolutionary book that will change the way you do business und Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt. 100 Der Autor verwendet hier „RD“ für research and development, also für Forschung und Entwicklung. 101 Siehe Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 20.
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das bestmögliche Verhältnis zwischen Erfolg und Aufwand. Unter Einfluss bestehender Produkte und Kunden, sei daher häufig der nächstliegendste Ansatz, bestehende Wege fortzuschreiten, da die dortigen Bedingungen bereits bekannt seien und Risiken daher am besten abzuschätzen seien. Etablierte Unternehmen wären somit häufig auf der Verbesserung bestehender Technologien, Produkte und Prozesse konzentriert und nicht darauf vollkommen neue Ansätze zu verfolgen. Radikale Basisinnovationen seien dadurch so gut wie nicht möglich bzw. ihr Potential werde nicht erkannt, da der Betrachtungsfokus auf anderen Funktions- und Absatzstrukturen liege102 . „Die logischen, kompetenten Entscheidungen des Managements, die Voraussetzung für den dauerhaften Erfolg einer Firma sind, bilden gleichzeitig den Grund, warum diese Firmen ihre Führungspositionen wieder verlieren.“103 Keese fasst Christensens Aussagen prägnant zusammen: „Je einfallsreicher Unternehmen sind und je innovativer sie auf die Bedürfnisse ihrer gegenwärtigen Kunden eingehen, desto unmittelbarer sind sie vom Niedergang bedroht. Und desto größere Chancen bieten sie angreifenden Revolutionären, die mit billigen Produkten auf neue Käuferschichten zielen.“104 Laut Christensen (2010) bestehen die Stärken etablierter Unternehmen darin, auf Kunden zu hören, aggressiv in Technologien zu investieren die Kundenbedürfnisse befriedigen, und höhere Margen und größere Märkte anzustreben. Diese Stärken führen, wie dargestellt, laut Christensen aber gleichzeitig dazu, dass verstärkt fortschreitende bzw. Verbesserungsinnovationen entstehen105 . Selbst wenn diese Innovationen eine gewisse Radikalität aufweisen würden und mit vielen etablierten Merkmalen voriger Produkte oder Technologien brechen würden, seien sie im Prinzip immer noch fortschreitender Natur. Die Radikalität wäre somit ein Begriff für den Entwicklungsschritt zwischen zwei Phasen eines kontinuierlichen Pfades. Als Beispiel Christensens zieht Keese in diesem Zusammenhang die CD, sowie Musik-Downloads und MusikStreaming an. Die CD sei eine radikale, erhaltende Innovation gewesen. Zwar habe sie die Schallplatte und die Musikkassette verdrängt, doch habe sie grundsätzlich den Markt für physische Tonträger erhalten. Absatzmodelle und Handelsplätze wären unverändert geblieben. Christensen weist mit diesem Beispiel darauf hin, dass auch erhaltende Innovationen radikal sein können. Demnach bezeichnet Radikalität die Eigenschaft einer Innovation, andere Technologien oder Produkte zu verdrängen, wohingegen damit nicht die Eigenschaft von Innovationen bezeichnet würden, ganze Wertschöpfungsgefüge, Marktgegebenheiten und sogar ganze Märkte zu verdrängen, zu verändern und zu erzeugen. So seien Musik-Downloads und Musik-Streaming Modelle eine andere Form von Innovationen, da sie den Musikmarkt und insbesondere 102 Vgl. Christensen: The innovator's dilemma: The revolutionary book that will change the way you do business, S. 258ff. 103 Zitat Christensen, zitiert nach Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, S. 109. 104 Vgl. ebd., S. 107–112. 105 Vgl. Christensen: The innovator's dilemma: The revolutionary book that will change the way you do business, S. 263ff.
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die Art und Weise, wie Musik vertrieben und kommerziell genutzt wird, komplett verändert hätten. Disruptive Innovationen -Für Basisinnovationen, die eine umwälzende Wirkung auf zuvor etablierte Strukturen, wie Märkte, Gesellschaften oder Wertvorstellungen, haben, hat Clayton Christensen ab 1997 den Begriff Disruptive Innovationen etabliert. Christensen betrachtet Innovationen aus einer eher ökonomischen Perspektive. So konzentrieren sich seine Aussagen vor allem auf die Folgen Disruptiver Innovationen für etablierte Unternehmen und deren Marktanteile, weniger auf die Entwicklung von Technologien oder die Auswirkungen von Innovationen auf Kunden, Anwender oder die Gesellschaft. Allerdings legt er die Verwendung des Begriffs auch für technologische Entwicklungen nahe, wobei er diese ebenfalls aus Sicht eines Marktes betrachtet, auch wenn konkrete Marktanteile und Marktführerschaften dabei nachrangiger sind. „A disruptive technology or disruptive innovation is an innovation that helps create a new market and value network, and eventually goes on to disrupt an existing market and value network.“106 Disruptive Innovationen wälzen also bestehende Strukturen, Märkte und Wertschöpfungsgefüge um oder schaffen gänzlich neue Märkte. Deshalb hätten etablierte Unternehmen, so die Meinung von Christensen, Brown und Thiel, wenig Interesse daran, Disruptive Innovationen zu entwickeln bzw. zu forcieren. Christensen betont sogar, dass Disruptive Innovationen nicht zwingend bessere Lösungen aus Kunden- bzw. Anwendersicht darstellten, sie jedoch immer einen neuen Markt erreichten, auf dem diese Nachteile weniger ins Gewicht fallen. Thiel verweist darauf, dass eine völlig neue Erfindung am ehesten dazu in der Lage ist, ein Monopol zu errichten – also keine oder kaum alternative Lösungen zuzulassen – wenn sie dadurch gekennzeichnet wird, dass etwas geschaffen wird „wo zuvor nichts war“107 . „Disruptive innovations, [...] don't attempt to bring better products to established customers in existing markets. Rather, they disrupt and redefine that trajectory by introducing products and services that are not as good as currently available products. But disruptive technologies offer other benefits–typically, they are simpler, more convenient, and less expensive products that appeal to new or less–demanding customers.“108 Die Denk- und Handlungsweisen, die augenscheinlich häufig zur Entstehung Disruptiver Innovationen führen, bezeichnet Keese als Erfinderkultur, deren Fokus darauf
106 Siehe ders.: Disruptive Innovation, in: The Interaction Design Foundation (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed. Bd. 1, The Interaction Design Foundation, 2015, S. 1029–1106, S. 1029. 107 Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 51. 108 Siehe Christensen: Disruptive Innovation, S. 1033–1034.
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liege, radikal zu denken. Aus Sicht Keeses ist das Sillicon Valley meisterlich im „Erkennen von Schwächen in den Geschäftsmodellen etablierter Unternehmen“ und dadurch „Märkte zu attackieren und Marktführer zu verdrängen.“109 Keese führt Elon Musk als Beispiel für diese Erfinderkultur an und um zu erklären und zu betrachten, welche Denkmuster zu Weiterentwicklungen und Verbesserungsinnovationen führen und welche zu Disruptiven Innovationen110 . Demnach vertritt Musk die Meinung, dass analogisches Denken den Menschen befähigt, alltägliche Situationen zu meistern, indem Vorerfahrungen auf aktuelle Situationen und Probleme übertragen werden und somit Strategien zur Problembewältigung entwickelt werden. Etablierte Unternehmen – so Musk – verfügen über einen institutionellen Erfahrungsschatz, der den steuernden und handelnden Akteuren erlaubt, auf analogischem Denken basierende Entscheidungen zu treffen. Durch diese Problemlösungsstrategie seien etablierte Unternehmen jedoch von wirklichen Neuerungen abgekoppelt. Musk nennt die gegenteilige Denkweise „proposed principles“. Darunter versteht er Prinzipien, die aus „freiem logischem Denken abgeleitet wurden und nicht auf Erfahrungen beruhen, sondern auf Vernunft.“ Keese führt weiter aus, dass damit gemeint ist, dass eine Person in der Lage ist, „Sachverhalte zu erfassen, universelle Zusammenhänge zu erkennen und Schlussfolgerungen abzuleiten, nach denen gehandelt wird.“ Die Frage die sich daraus ergibt ist, wie Sachverhalte erfasst, universelle Zusammenhänge erkannt und Schlussfolgerungen und Entscheidungen daraus abgeleitet werden können, wenn dies nicht auf Basis von Erfahrung passieren soll. Als Beispiel für analogisches Denken führt Elon Musk, der unter anderem Gründer des Elektroautomobil-Herstellers Tesla ist, die Ansicht auf, dass Verbrennungsmotoren die Zukunft etablierter Automobilhersteller seien, da deren Kunden schließlich immer Verbrennungsmotoren gekauft haben. Dagegen führe das Prinzip der logischen Vernunft zur Erkenntnis, dass „der Elektromotor den Verbrennungsmotor ablösen muss, weil er Energie effizienter ausnutzt, weniger Wärmeverluste produziert, schneller anspricht, höher beschleunigt, wartungsärmer läuft, mehr Platz im Auto schafft, beim Bremsen elektrische Energie zurückgewinnen kann, teure Getriebe überflüssig macht und die Atmosphäre mit weniger Treibhausgasen belastet.“111 Elon Musk kann sicherlich nicht als Erfinder des Elektromotors oder der Elektromobilität angesehen werden. Automobile mit Elektroantrieben wurden bereits deutlich vor der Gründung der Firma Tesla konstruiert. Was Musk bei seiner Ausführung vernachlässigt, ist, dass Tesla Motors den Vorteil hat, dass es keine bestehende Käuferschaft mit dem Hang zu Tradition und Konservatismus gibt und es keine bestehende Produktpalette gibt zu der neue Entwicklungen einen gewissen Grad an Kompatibilität aufweisen müssen. Die Entscheidung zu 100% auf einen Elektroantrieb zu setzen ist für Tesla Motors daher leichter, als für etablierte Automobil Hersteller, die erhebliche zusätzliche ökonomische und unternehmensorganisatorische Faktoren bei der Umstellung bestehender Produktpaletten, Entwicklungsprozesse und Produktionsstätten berücksichtigen müssen. Alle von Musk aufgeführten Entscheidungen, die stark von
109 Vgl. Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, S. 107–108. 110 Vgl. ebd., S. 99–102. 111 Vgl. ebd., S. 100.
4 Innovationen
den Entscheidungen etablierter Kräfte am Markt abweichen, sind nicht ausschließlich einer bestimmten Art zu denken zuzuschreiben. Vielmehr stellen sie zwar mit Vernunft getroffene Entscheidungen dar, sie wurden aber nicht ausschließlich durch eine andere Art zu denken ermöglicht, sondern durch besondere Rahmenbedingungen, die die übrigen Akteure und Kräfte am Markt nicht vorfinden. Eine von den etablierten Mustern abweichende Denkweise begünstigt neuartige Lösungen und somit potentielle Innovationen, sie kann aber nicht als alleiniger Faktor zur Erzeugung disruptiver Innovationen angesehen werden. Hierzu sind begünstigende Rahmenbedingungen notwendig, die jedoch auch erkannt werden und mit Mut und Konsequenz genutzt werden müssen. Musks eigene Geschichte repräsentiert somit den Mut, eine neue Unternehmung zu gründen und in diesem Zuge hohen Aufwand zu betreiben, um einen (Nischen-) Markt zu erschließen. Hinzu kommt im Sillicon Valley, wie Keese darstellt, eine nahezu einmalige inkubatorische Kombination von Kreativität, Talent und Kapital auf engstem Raum,112 die auch die Erfolge von Elon Musk begünstigen. Das Konzept Disruptiver Innovationen scheint schwer auf Anzeige- und Bedienkonzepte übertragbar zu sein, da diese immer an Technologien und Einsatzgebiete gekoppelt sind. Sie sind oft Teil Disruptiver Innovationen und dadurch an der disruptiven Wirkung beteiligt, aber selten der alleinige disruptive Faktor eines innovativen Artefaktes. Was aus den Darstellungen jedoch abgeleitet werden kann, ist dass es aus ökonomischen und organisatorischen Gründen schwer fällt, sich im Unternehmenskontext von etablierten Wegen zu lösen und somit eine Pfadabhängigkeit zu bisherigen Lösungen und Projekten besteht. Eine weitere Erkenntnis, die im späteren Verlauf nochmals Betrachtung finden soll, ist dass vollkommen neue Ansätze am ehesten konventionsbildend wirken können, also zum dominierenden Ansatz reifen können, wenn sie in einem vollkommen neuen Kontext angesiedelt sind. Solche innovativen Konzepte können dann in der Folge disruptiv wirken und etablierte Konzepte in anderen Kontexten oder gar gesamte Kontexte revidieren bzw. in die Irrelevanz führen. Obwohl die betrachteten Unterscheidungsmöglichkeiten der Radikalität einer Innovation, wie an den jeweiligen Stellen aufgezeigt, aus gestalterischer Sicht teilweise problematisch sind, können sie aus techniksoziologischer und vor allem ökonomischer Sicht sinnvoll angewendet werden. So geht es bei dieser Kategorisierung laut Rammert um „die zentrale Untersuchungsfrage, ob die technische Entwicklung durch einen Nachfragesog – ‚demand pull‘ – oder durch einen Neuerungsschub – ‚technology push‘ – geprägt wird“113 . Er kommt zum Ergebnis, dass „die Forschungsergebnisse [...] in die Richtung [weisen], dass die gängigen, meist defensiven Neuerungen der Nachfrage folgen, während die radikalen Basisinnovationen, wie sie durch unerwartete Erfindungen und wissenschaftliche Durchbrüche entstehen, auf die Gesellschaft einen Angebotsdruck ausüben“. 112
113
Vgl. ebd., S. 39--46. Buxton führt in ähnlicher Weise die restrospektive Bewertung von Innovationen und die Zuschreibung der zugrunde liegenden Inventionen auf Faktoren wie dem Ort, der Bekanntheit des Urhebers, dessen Image und dem Zeitpunkt der Invention und Diffusion zurück. Vgl. Buxton: Some Milestones on Computer Input Devices: an Informal Timeline. Siehe Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 22.
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Interaktionswelten
Für immaterielle Innovationen scheint dies in besonderem Maß zu gelten. So scheint für innovative Konzepte zur MMI in der Regel kein Nachfragesog auf Endnutzerseite zu bestehen. Menschen können bereits mittels unterschiedlicher technischer Artefakte und den zugehörigen Interaktionskonzepten mit Maschinen interagieren. Erst neuartige Maschinen mit unbekannter Funktionsweise würden die Nachfrage nach gänzlich neuen Interaktionsmöglichkeiten schaffen, die aber in der Regel in einem ersten Schritt durch die Adaptierung bekannter Mechanismen neutralisiert zu werden scheint. Es gibt keine Maschine, die eine Interaktion mit dem Menschen benötigt, die ohne Bedienelemente und -Mechanismen auf den Markt kommt, sodass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass die Endnutzer jemals einen Nachfragesog erzeugen. Zumindest scheint ein Nachfragesog der zu Basisinnovationen führt – ganz wie es Rammert deutet – ausgeschlossen. Zwar führen innovative Bedienkonzepte zur Steigerung der subjektiven Nutzungsqualität, werden vom Nutzer aber nicht zwingend als Ursache dieser Verbesserung erkannt. Daher müssen sie aktiv am Markt platziert und ihr Konsum gefördert werden. Häufig werden sie mit weiteren technologischen Innovationen, die einen Nachfragesog erzeugen, gekoppelt und somit indirekt diffundiert114 . Gleichzeitig hilft die Unterscheidung zwischen Basis- und Verbesserungsinnovationen zu verstehen, warum die Erzeugung einiger Innovationen lohnenswerter und achtungsvoller zu sein scheint, als die anderer. Wie Blättel-Mink im Jahr 2006 darstellt, werden Verbesserungsinnovationen gegenüber Basisinnovationen zunehmend negativ konnotiert. „War es noch ein typisches Merkmal der Industriegesellschaft, dass radikale Neuerungen am Anfang eines Wachstumsprozesses stehen und dass diese radikalen Neuerungen durch Verbesserungen modifiziert werden, um den Wachstumsschub zu verlängern, so sind Verbesserungsinnovationen heute verpönt, werden als inkremental, als reaktiv bezeichnet“115 . So behauptet Thiel 2014, der Innovationen als Unternehmer primär aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet, dass die wertvollste Innovation derart beschaffen ist, dass sie in der Lage ist ein Monopol zu errichten. Laut Thiel ist dies der Fall, wenn die Innovation beziehungsweise das Produkt „zehnmal so gut“ sei, als das nächste Konkurrenzprodukt116 . Dazu muss zum einen angemerkt werden, dass „zehnmal so gut“ ebenso wenig messbar und objektiv feststellbar ist, wie die objektive Identifizierung von Konkurrenzprodukten. Ist ein Smartphone ein Konkurrenzprodukt für ein Tablet? Für manche Käufer mag dies zutreffen, für andere nicht. Konkurrenzprodukte sind daher ebenso eine subjektspezifische Beziehung zwischen zwei Artefakten, wie es der qualitative Unterschied zwischen diesen Artefakten ist. Die Differenzierung des Grades bzw. der Radikalität einer Innovation kann, ebenso wie die grundsätzliche Einordnung, ob es sich um eine Innovation handelt oder nicht, immer erst ex post also in der Retrospektive erfolgen117 . Wie Lucius Burckhard im Vorwort zu Thomas Jaspersens Arbeit über Produktwahrnehmung und stilistischen
114 115 116 117
Diesem Gedanken wird sich ausführlicher im Kapitel 4.6 gewidmet. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 12. Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 51. Vgl. hierzu Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 6.
4 Innovationen
Wandel formuliert118 ist die Radikalität, Nachvollziehbarkeit und Konsistenz einer Produktentwicklung davon abhängig, ob man ein einzelnes Produkt oder die Gesamtheit des zur Verfügung stehenden Warenangebotes betrachtet. Darüber hinaus spielt die Betrachtungsperspektive eine entscheidende Rolle. Betrachtet man Innovationen aus der Binnenperspektive, also innerhalb eines eng gefassten Bewertungskontextes, können sie als Basisinnovationen erscheinen, wenn ihre Entwicklung stark durch äußere Erkenntnisse geprägt wurde. Wiederum können andere Innovationen von außen betrachtet als Basisinnovationen wirken, da ihre Entwicklung nur für interne Experten nachvollziehbar ist. Die Kontinuität der Entwicklung basiert in beiden Fällen auf zu spezialisiertem Expertenwissen, das außerhalb des jeweiligen spezifischen Fachbezugs nicht mehr nachvollziehbar zu sein scheint. Schulz-Schaeffer zeigt im Jahr 2002 dieses Phänomen am Beispiel von Multiagentensystemen auf119 . „Im Rahmen der KI-Forschung sind Multiagentensysteme also mehr als eine bloße Weiterentwicklung und Verbesserung vorhandener Technologien. Sie stehen vielmehr für eine diskontinuierliche Entwicklung im Innovationsgeschehen der Informatik. Es lässt sich aber auch noch eine andere Perspektive einnehmen, eine Perspektive, die auf die Gemeinsamkeiten zwischen der Multiagentensystem-Forschung und der Welt des Sozialen als dem gewählten Referenzbereich abstellt. Und aus dieser Perspektive, die sich für das zusammenwirkende Verhalten selbstständig verhaltensfähiger Einheiten interessiert, wird man überwiegend auf Bekanntes stoßen, wenn man Multiagentensysteme betrachtet. Aus diesem Grund kann, wie in dem vorliegenden Beitrag geschehen, eine kontinuitätsbezogene Erklärung in Anschlag gebracht werden, auch wenn sich das Innovationsgeschehen aus der Binnenperspektive – zu Recht – als diskontinuierliche Entwicklung darstellt.“ Insgesamt liegt die Vermutung nahe, dass auf die Mehrzahl der potentiellen Basisinnovationen der erste Punkt zutrifft. Das heißt die meisten Basisinnovationen basieren in Wahrheit auf Einflüssen anderer, für interne Perspektiven nicht ersichtliche Bereiche120 . Die Wahrnehmung des Menschen kann ebenso wenig abgestellt, wie strikt gegen ungewollte äußere Einflüsse – sind sie nun explizit oder implizit – abgeschottet werden. Selbst wenn eine Innovation noch so radikal wirkt, basiert sie im Kern mit höchster Wahrscheinlichkeit auf Eindrücken, die die entwickelnden Akteure aufgenommen, bewertet, strukturiert und rekombiniert haben. Eine Pfadabhängigkeit121 kann auch dann bestehen, wenn den Akteuren der Entstehungspfad ihrer Idee sowie deren Bezüge und Abhängigkeit zu ursprünglichen Erfahrungen nicht bewusst ist. Somit kann keine Invention, keine Innovation und auch nicht ihre Diffusion ohne 118
Vgl. Thomas Jaspersen: Produktwahrnehmung und stilistischer Wandel, Frankfurt/M: CampusVerl, 1985, S. I. 119 Siehe Schulz-Schaeffer: Innovation durch Konzeptübertragung: Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung. S. 249. 120 Laut Blättel-Mink basieren die meisten Basisinnovationen auf Ideentransfer interdisziplinärer Kooperationen. Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 210. 121 Vgl. Kapitel 7.1.
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Interaktionswelten
Bezug zu etwas bestehendem stattfinden. Der Innovationsprozess findet keinesfalls in einem luftleeren wertfreien Raum122 statt. Diese Abhängigkeit besteht auch dann, wenn den Akteuren der Entstehungsprozess ihrer Idee sowie deren Beziehung und Abhängigkeit zu eigenen Erfahrungen und bereits bekannten Entitäten nicht bewusst ist. Daher kann man von Basisinnovationen nur dann sprechen, wenn man den Perspektivenwechsel von vornherein ausklammert, d.h. die Innovation immer aus der inneren Sicht eines Bereichs bewertet. Ansonsten wird man eine solch entfernte Perspektive einnehmen können, dass jede Entwicklung und ihr innovatives Ergebnis in kontinuierlicher Beziehung zu Entwicklungspfaden unterschiedlichster Bemühungen in verschiedenen Bereichen steht. Mit anderen Worten scheint es zunächst lohnenswert, in einem ersten Analyseschritt einzelne Verwendungskontexte in separate Bewertungskontexte zu überführen, bevor eine ganzheitlichere Analyse angestrebt wird. Somit ist die Radikalität einer Innovation immer perspektivgebunden. Im Bezug zu Konventionen bedeutet dies, ob eine Innovation den Konventionen entspricht ist auch von der Lebens- und Interaktionswelt des jeweiligen Betrachters bzw. Nutzers abhängig. In Kapitel 8 dieser Arbeit soll tiefer geklärt werden, inwiefern die Konventionstreue eines innovativen Interaktionskonzeptes dem Grad seiner Radikalität gleich zu setzen ist. Gleichzeitig ist zu klären, inwiefern im Kontext der MMI, die Radikalität einer Innovation bereits zum Zeitpunkt ihrer Konzeption und ihres Entwurfs bestimmt, oder zumindest abgeschätzt werden kann. In diesem Zusammenhang soll zunächst die Grundthese bestehen, dass Basisinnovationen mit bestehenden Konventionen brechen und dadurch viel Potential bergen, das sie aber erst über eine gewisse Zeit, durch inkrementelle Weiterentwicklung, entfalten können123 .
4.5
Deutung des Innovationsbegriffs aus gestalterischer Perspektive
Wie Mareis 2011 darstellt, muss die technologisch-ökonomische Innovationsdefinition für die gestaltungstheoretische Betrachtung erweitert bzw. angepasst werden, da „nicht ‚vermarktbare‘ Produkte und Ideen, darunter Befunde der Grundlagenforschung [...] in solchen Definitionen oft marginalisiert [werden]“124 . Für Gestalter sollte jedoch nicht das ökonomische Gut an erster Stelle stehen, sondern die Nutzbarkeit bzw. der subjektive Nutzen des zu gestaltenden Artefakts. Eine Definition von Innovationen aus Gestaltungsperspektive muss sich also stärker von ökonomischen Betrachtungen distanzieren. Die starke Berücksichtigung nicht-ökonomischer Betrachtungen bei der zuvor aufgestellten Arbeitsdefinition stellt einen ersten Schritt bei diesen Distanzierungsbemühungen dar. In der Folge sollen Betrachtungsperspektiven des Gestaltungsdiskurses den vorigen Darstellungen gegenüber gestellt werden, um zu hinterfragen, 122
In Anlehnung an Bredies: Design und Wissenschafts- und Technicksoziologie. Wie beeinflussen Wissenschafts- und Technikstudien das Design, und wie werden sie vom Design beeinflusst?, S. 151. 123 Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 227/278. 124 Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 279–280.
4 Innovationen
inwiefern diese erste Arbeitsdefinition einer gestaltungsperspektivischen Definition entspricht oder ob sie zu einer solchen weiterentwickelt werden muss. Claudia Mareis fasst die „Bedeutungsverschiebung durch den historischen Wandel diskursiver Leiterzählungen und Denkfiguren“125 des Innovationsmotivs in der Gestaltungswissenschaft als Verschiebung vom „künstlerischen Schöpfungsakt“ hin zur „planvollen Veränderung durch Design“ zusammen126 . Diesen Veränderungs- und Rekombinationsgedanken teilen viele Autoren der Gestaltungstheorie. Bruno Latour schreibt 2008: „The fourth advantage I see in the word ‚design‘ [...], is that it is never a process that begins from scratch: to design is always to redesign. There is always something that exists first as a given, as an issue, as a problem. Design is a task that follows to make that something more lively, more commercial, more usable, more user’s friendly, more acceptable, more sustainable, and so on, depending on the various constraints to which the project has to answer.“127 Mark Prigg fasst 2012 das gestalterische Ziel der Produktentwicklung bei Apple mit den Worten zusammen: „Our goals are very simple – to design and make better products. If we can't make something that is better, we won't do it. [...] That's quite unusual, most of our competitors are interested in doing something different, or want to appear new – I think those are completely the wrong goals. A product has to be genuinely better. This requires real discipline, and that's what drives us – a sincere, genuine appetite to do something that is better.“128 Mareis schreibt in Bezug zum Eintrag zu Innovation im Wörterbuch Design von 2008129 : „Viele der innovativsten Entwürfe des 21. Jahrhunderts seien nicht durch einen ‚radikalen technologischen Durchbruch‘ möglich geworden, [...] sondern durch Gestaltung mit bestehenden Technologien und Methoden in neuer Perspektive oder durch ein erneutes Aufgreifen bekannter Technologien und Methoden in veränderten Marktsegmenten. [...] Innovation im Design wird hier, ungeachtet der technischökonomischen Deutung, zudem nicht als etwas absolut ‚Neues‘ aufgefasst, son-
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129
Siehe ebd., S. 234. Vgl. ebd., S. 234. Siehe Bruno Latour: A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design (with Special Attention to Peter Sloterdijk): Keynote lecture for the Networks of Design* meeting of the Design History Society, Falmouth und Cornwall 2008, url: http : / / www . bruno - latour . fr / sites / default/files/112-DESIGN-CORNWALL-GB.pdf. Siehe Mark Prigg: Sir Jonathan Ive: The iMan cometh: Mark Prigg meets Sir Jonathan Ive, the British man behind the design of Apple's iconic products, hrsg. v. London Evening Standard, www.thisislondon.co.uk, 2012, url: http://www.thisislondon.co.uk/lifestyle/london-life/sir-jonathan-ive-theiman-cometh-7562170.html, S. 1. Siehe Michael Erlhoff/Tim Marshall: Wörterbuch Design: Begriffliche Perspektiven des Design (Board of International Research in Design), Basel: Birkhäuser Verlag AG, 2008, S. 203.
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Interaktionswelten
dern mittels des Aspekts der ‚Veränderung‘ von etwas Bestehendem oder Bekanntem konzeptualisiert.“130 Wenn der Innovationsprozess aus gestalterischer Perspektive also immer eine Gestaltungsaufgabe unter Berücksichtigung aktueller Gegebenheiten ist, bedeutet dies, dass die Radikalität einer Innovation noch nicht im Entwicklungskontext bestehen kann, da sie auf nachvollziehbaren Entwicklungspfaden basiert. Erst wenn die Neuerung den Entwicklungskontext verlässt, können komplexe Pfade nicht mehr nachvollzogen werden und die Innovation wird radikalisiert. Legt man den Verbesserungsgedanken im gestalterischen Innovationsverständnis zugrunde und wendet man die Definition an, wonach Innovationen erst zu solchen werden, wenn sie alle Phasen durchlaufen haben, sprich diffundiert wurden, dann sind Innovationen zwingend besser, da sie nicht nur als neu sondern auch als nutzenswert eingestuft wurden. Die Wertigkeit des Nutzens ist dabei immer abhängig vom subjektspezifischen und relativen Nutzen, also dem Mehrnutzen den die Innovation gegenüber anderen Artefakten bietet. Dies entspricht dem Dogma der Gestaltung, nach dem der Nutzen eines Konzeptes oder Produktes im Vordergrund steht. Das Eine ist immer dann besser, als das Andere, wenn es für den Anwender einen höheren subjektspezifischen Nutzen erfüllt. Demnach führt eine Neuartigkeit nicht automatisch zur Innovation. Nur wenn das Neue auch besser ist, ist es aus gestalterischer Sicht eine Innovation. Würde einem Kunden durch Werbung und soziale Konditionierung beigebracht, dass etwas subjektiv besser ist, nur weil es neu ist, führe dies zwar aus dessen subjektspezifischer Sicht zu einer Innovation, nicht aber aus gestalterischer Perspektive. In diesem Konfliktfall muss also zwischen der Innovationsbetrachtung durch den anwendenden Akteur und der des analysierenden Gestalters unterschieden werden. Gleichzeitig müsste dabei zwischen dem subjektspezifischen Nutzen der durch den reinen Erwerb des Artefaktes und dem Nutzen, der durch die tatsächliche Anwendung entstünde, unterschieden werden. Der Kauf eines Artefaktes kann zwar zu einer Stimulanz führen, in dem Sinne, dass ein Belohnungsgefühl erzeugt wird, dass ein sich bereits im Besitz befindendes Artefakt nicht mehr erzeugen kann und somit als Vorteil des neuen Artefaktes angesehen werden könnte. Diese Stimulanz scheint aber unmittelbar an das Kaufereignis gebunden zu sein und somit nur beschränkt auf die Anwendung des Artefaktes zu wirken. Aus gestalterischer Sicht zeigt sich der wahre Wert dieses Artefaktes aber erst in der Anwendung und dem darin stattfindenden Erfahrungsabgleich131 . Schulz-Schaeffer u. a. beschreiben im Jahr 2006 zwei Perspektiven unter denen Technikentwicklung betrachtet werden kann. Erstens die der sozialen Konstruktion der Technik, die sagt, technische Artefakte würden als funktional angesehen, weil sie erfolgreich sind. Zweitens die der traditionellen Technikbetrachtung, die sagt, technische Artefakte seien erfolgreich, weil sie funktional sind. Beide Perspektiven schließen
130 Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 232/233. 131 An dieser Stelle sei nochmals auf die Kommensurabilität verwiesen.
4 Innovationen
einander nicht aus. Vielmehr sind es laut Schulz-Schaeffer u. a. zwei Prozesse die einander beeinflussen. Demnach sei Funktionalität eine Eigenschaft, die in technischen Artefakten gesehen wird, wenn sie als eine sinnvolle Lösung für ein Problem angesehen werden. Dieses Erkennen eines Artefakts als sinnvolle Lösung – das Erfolgreichwerden des Artefakts – bestimme letztlich erst die Funktionalität eines Artefakts132 . Ob ein Artefakt funktional ist, kann somit nicht objektiv bestimmt werden, sondern wird subjektiv bestimmt. Diese subjektspezifischen Bewertungen können dann jedoch einen Konsens bilden, sobald eine kritische Masse erreicht wurde, die beispielsweise durch erreichen eines hohen Marktanteils entsteht. Dieser Konsens kann wiederum erfolgssteigernd wirken. Eine vergleichbare Wechselwirkung könnte auch negativ orientiert ablaufen, in der Misserfolg und Untauglichkeit einander bedingen. Wie auch bei den Betrachtung aus soziologischer Perspektive, können Innovationen aus gestalterischer Perspektive somit als perspektivgebunden und relativ definiert werden. Es scheint sinnvoll, innerhalb des hieraus abzuleitenden Bewertungskontextes nochmals drei Bezugssysteme zu unterscheiden: •
•
•
Der Verbreitungskontext: insofern, als dass das Subjekt eine Vergleichsbasis benötigt, um die Innovation als solche zu bewerten. Erst die Gegenüberstellung ermöglicht den Vergleich; erst der Vergleich ermöglicht das Erkennen einer Abweichung; erst die Abweichung ermöglicht die Bewertung. Die Lebenswelt: insofern, als dass das Subjekt seine Lebenswelt als individuellen Erfahrungsraum zur Bewertung heranzieht, um zu entscheiden ob etwas neuer oder älter ist. Der Verwendungskontext: insofern, als dass das Subjekt dem Artefakt einen konkreten Zweck zuweisen muss, damit es als nützlicher und besser als das Bestehende bewertet werden kann.
Augenscheinlich besteht die einzige Abweichung zwischen anwendendem Akteur und analysierendem Gestalter in den unterschiedlichen Lebenswelten, sofern man voraussetzt, dass der Gestalter durch analytische, gestalterische und empathische Mittel in der Lage ist, den Verbreitungskontext und den Verwendungskontext nachzuvollziehen. In Wahrheit ist aber vor allem der dem Artefakt zugeschriebene Zweck für den Gestalter schwerer zu ermitteln als zunächst gedacht. Zentral ist dabei, ob eine Re-Invention stattfindet133 oder der Anwender das Artefakt als Substitutionsgut134 in einem vollkommen anderen funktionalen Zusammenhang ansieht oder der Anwender das Artefakt zu dem im Entstehungskontext angedachten Zweck verwenden möchte. Letztlich kann der Zweck durch einen außenstehenden Akteur nur im Dialog135 mit dem anwendenden Akteur ermittelt werden. Die dazu anwendbaren Methoden des 132 133 134 135
Vgl. Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies?, S. 2--3. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 20. Vgl. Dirk Piekenbrock/Daniel Markgraf: Gabler Wirtschaftslexikon: Stichwort: Substitutionsgüter, 2013, url: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/56948/substitutionsgueter-v6.html. Als Dialog soll hier jedwede Form des wechselseitigen Austausch von Informationen verstanden werden.
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User-Centered-Designs bergen jedoch innovationsmindernde Gefahren. Denn Nutzer wissen häufig nicht was sie brauchen, bis man es ihnen gibt. Wenn man sie fragt was sie morgen brauchen, nennen sie, was sie heute bereits kennen. Das führt nur zu Verbesserungsinnovationen aber nicht zu radikaleren oder disruptiven Innovationen. Tim Brown formuliert 2009: „The Tools of conventional market research can be useful in pointing toward incremental improvements, but they will never lead to those rule-breaking, gamechanging, paradigm-shifting breakthroughs that leave us scratching our heads and wondering why nobody ever thought of them before“136 . „Much has been written about ‘human–centered design’ and its importance to innovation. Since there are so few truly compelling stories, however, it´s time to ask why it is so difficult to spot a need and design a response. The basic problem is that people are so ingenious at adapting to inconvenient situations that they are often not even aware that they are doing so [. . .] Henry Ford understood this when he remarked, ‚If I´d asked my customers what they wanted, the´d have said `a faster horse'.‘ This is why traditional techniques such as focus groups and surveys, which in most cases simply ask people what they want, rarely yield important insights“137 . Mareis versucht die aufgezeigte Entwicklung hin zu einem Verbesserungsgedanken im gestalterischen Innovationsverständnis diskursiv zu deuten: „Zum einen kann die Referenz auf den Begriff der ‚Veränderung‘ als Bestandteil einer diskursiven Abgrenzungsstrategie gedeutet werden, mittels der sich Designschaffende und Designtheoretiker vom künstlerischen Topos einer ‚absoluten Neuschöpfung‘ distanzieren wollen. Damit wird zugleich eine disziplinäre Grenze zwischen Kunst und Design demarkiert. Zum anderen kommt dem Aspekt der ‚Veränderung‘ in solchen Theorien eine große Bedeutung zu, in denen die intendierte Planung und Gestaltung gesellschaftlich-politischer Prozesse zum wesentlichen Aufgabenbereich einer künftigen ‚Designkultur‘ gezählt wird.“138 Neben den von Mareis vermuteten Intentionen kann die Fokussierung auf eine Verbesserung in diesem Zusammenhang so gedeutet werden, dass die von Blättel-Mink dargelegte schleichend Einzug haltende, negative Konotation der Verbesserungsinnovationen139 in der Gestaltungstheorie nicht existent ist. Innovation ist mehr als nur Fortschritt. Innovationen folgen keinem linear fortschreitenden Pfad. Innovation im gestalterischen Sinne ist zu aller erst eine subjektive Verbesserung. Im Nachhinein wird aus dem entstehenden Wandel immer, im Sinne der Geschichte der Gewinner, eine fortschreitende, logische Entwicklung gelesen. Fortschritt wird hinein interpretiert. Dieser Fortschritt kann jedoch auch hinein interpretiert werden, wenn 136 137 138 139
Siehe Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 39–40. Siehe ebd., S. 39–40. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 280. Vgl. auch ebd., S. 233. Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 12.
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der Wandel nur zum Selbstzweck, aus ökonomischen Gewinnbringungsmotiven, entstand, ohne den subjektiven Nutzen der tatsächlichen Konsumenten zu erhöhen. Die im Nachhinein erreichte Unterscheidung zwischen einer Basisinnovation und einer Verbesserungsinnovation ist aus gestalterischer Sicht weniger relevant, als aus techniksoziologischer. Innovation im Sinne der Gestaltung meint demnach zuerst besser und dann erst neu140 . Man könnte von der Formel sprechen: neu weil besser, nicht besser weil neu. Oder wie es Dieter Rams formuliert haben soll: „Things which are different in order simply to be different are seldom better, but that which is made to be better is almost always different.“141 Dieser Verbesserungscharakter von Innovationen aus gestalterischer Perspektive deutet auf die zerstörerische Kraft von Innovationen auf Konventionen hin. Das Alte wird nicht zerstört, weil es etwas Neues gibt, sondern weil dieses Neue subjektiv besser ist. Wie Schulz-Schaeffer u. a. aufgezeigt haben, scheint die perspektivgebundene Wahrnehmung von Innovativität und Funktionalität letztlich nicht so klar von einander trennbar und nicht in eine klare zeitliche oder kausale Abfolge bringbar zu sein. Die aufgeführte These soll daher eine Vereinfachung zum Zwecke folgender Betrachtungen darstellen, nicht aber den Anspruch auf absolute Gültigkeit hegen. Obwohl Schumpeter Innovation aus ökonomischer Perspektive betrachtet hat, lässt sich das Prinzip der Zerstörung bestehender Objekte und Strukturen durch Innovation, die erst das Spannungsfeld zwischen Innovation und Konvention erzeugt, demnach auch auf den weiteren, designbezogenen Innovationsbegriff übertragen. Darüber hinaus wirft der letzte Satz Mareis’ aber die Frage auf, inwiefern solch eine gestaltete, intendierte Veränderung tatsächlich möglich ist. Oder mit anderen Worten, inwiefern intendiert innovative Artefakte gestaltet werden können, wenn man davon ausgeht, dass Innovationen alle drei Stufen des Innovationsprozesses durchlaufen haben müssen, das heißt sich auch dem sozialen und evolutionären Prozess der Selektion gestellt haben, um institutionalisiert worden zu sein und dies ergo nicht steuerbar wäre. Die These ist also, dass „neu weil besser und nicht besser weil neu“ ein Paradigma ist, das in der gestalterischen Praxis verwendet werden kann, in dessen Folge aber nicht zwingend Innovationen entstehen. Diesem Ansatz wird sich ausführlicher im Kapitel 8.2.1 gewidmet. Die bisherigen Überlegungen führen zur Erkenntnis, dass die zuvor aufgestellte Arbeitsdefinition des Innovationsbegriffes mit allen behandelten Facetten eine umfangreiche Grundlage für eine Definition aus gestalterischer Perspektive darstellt. Die gestalterischen Betrachtungen haben der bisherigen Arbeitsdefinition nicht widersprochen, sondern sie an einigen Punkten ergänzt und konkretisiert. Zusammenfassend und ergänzend ist Innovation aus Gestaltungsperspektive anwendungsorientiert, perspektivgebunden, relativ und ungerichtet. Letzteres in dem Sinne, dass sie keinen 140 Vgl. hierzu Prigg: Sir Jonathan Ive: The iMan cometh: Mark Prigg meets Sir Jonathan Ive, the British man behind the design of Apple's iconic products, S. 1. 141 Ausspruch von Dieter Rams, zitiert nach Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 52, ursprünglich aus Sophie Lovell/Klaus Kemp: As little design as possible: The work of Dieter Rams, London: Phaidon, 2011.
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Fortschritt bringt, sondern eine qualitative Verbesserung anstrebt. Das kann zwar ebenfalls fortschreitend wirken, schließt aber aus, dass etwas Neues gemacht wird, damit es neu ist. Das Neue muss entstehen, damit es dem Nutzer mehr Nutzen generiert als das Bestehende.
4.6
Zur Materialität von Innovationen – Überlegungen zu den widersprüchlichen Lesarten, dass Innovationen stets materiell sind, obwohl durch Gestaltung immaterielle Ergebnisse entstehen können
Bereits im Zuge der Darstellungen zur Radikalität von Innovationen142 wurde die Notwendigkeit der spezifischeren Betrachtung von Materialität im Zuge einer gestaltungswissenschaftlichen Innovationsperspektive auffällig. Sie ist durch die Gegenüberstellung des ökonomischen und techniksoziologischen Innovationsverständnisses, in deren Zusammenhang Innovationen meist als technisches Artefakt betrachtet werden, und der gestalterischen Praxis, in der Konzeption, Gestaltung und Entwurf augenscheinlich immaterielle innovative Ergebnisse erzeugen können, begründet. Wie Mareis 2011 betont, existieren Gestaltungsdisziplinen, in denen Digitales, und somit auch Immaterielles zum Gegenstand gestalterischer Praxis wird. „Oftmals steht in diesen Konzepten weniger die Gestaltung von konkreten materiellen Objekten im Zentrum, sondern das Design von (zumindest teilweise) als immateriell erachteten Dingen wie Schnittstellen, Systemen, Erfahrungen oder Dienstleistungen.“143 Dabei werden nicht alle erdachten Ideen und Konzepte zwingend zu technischen bzw. physischen Artefakten. Interaktionskonzepte, grafische Bedienschnittstellen und Software jeglicher Art – egal ob es innovative Austauschformate, Datenbankmodelle, Kommunikationsprotokolle oder Berechnungsalgorithmen sind – werden ausschließlich digital realisiert. Zwar bedürfen digitale und immaterielle Konzepte stets einer physischen Kopplung, um erfahrbar und anwendbar zu werden, diese sind aber nicht zwingend in sich innovativ, sondern können in erster Linie als effektiv angesehen werden, da sie primär der Realisierung digitaler/immaterieller Innovationen dienen. So ist beispielsweise meist das eigentliche Konzept hinter einer Mensch-MaschineSchnittstelle entscheidender, als die zugrunde liegende Technologie144 . Auch Rammert weist 1993 auf die enge Verwobenheit zwischen dem immateriellen Konzept und den zugrundeliegenden Technologien hin, wobei er herausstellt, dass nicht erst das fertige technische Produkt bzw. dessen materielles Artefakt zur Innovation führt, sondern
142 Vgl. Kapitel 4.4. 143 Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 126. 144 Vgl. Buxton: 31.1: Invited Paper: A Touching Story: A Personal Perspective on the History of Touch Interfaces Past and Future, S. 447.
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die vorausgehenden konzeptionellen und visionären Schritte bereits die Innovationen einleiten145 . Die bisher aufgezeigten Innovationsdiskurse scheinen jedoch innovative technische Artefakte mit Innovation gleichzusetzen und dadurch eine trennscharfe Definition zu umgehen146 . Wie Blättel-Mink konstatiert, steht diesen Innovationsdiskursen im Alltagssprachlichen jedoch eine Tendenz der Bedeutungserweiterung gegenüber. So stehe der Begriff Innovation aktuell für eine Fülle an Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhängen die über reine technische Innovationen hinausgehen. Sie schreibt diesem erweiterten Innovationsbegriff sogar eine „schlagwortartige Ubiquität“ zu147 . „So können inzwischen Projekte aller Art innovativ sein: Kinderbetreuung, industrielle Gruppenarbeit, Bankkonten, Gesetze.“148 Diese Ubiquität und zugrundeliegende Aufweitung des Bedeutungsraumes des Innovationsbegriffes führt zu einer Unschärfe. Diese erschwert die analytische Betrachtung innovationsbezogener Gestaltungsprozesse. Die dargestellte Gleichsetzung von Innovationen und technischen Artefakten ökonomischer und techniksoziologischer Diskurse widerspricht wiederum den wahrnehmbaren Ergebnissen innovationsbezogener Gestaltungsprozesse und somit der gestalterischen Praxis. Dadurch wird die Überführung entstammender Erkenntnisse in den gestaltungswissenschaftlichen Diskurs, der ebenfalls für Gestaltungsdisziplinen mit immateriellem Fokus gelten soll, erschwert. Daher muss versucht werden, als Grundlage einer gestaltungswissenschaftlichen Lesart den Innovationsbegriff schärfer zu erfassen und dabei die Flüchtigkeit zwischen Materialität und Immaterialität zu berücksichtigen. Hierzu sollen zunächst nochmals die Charakteristiken und Anforderungen einer Innovation zusammengefasst werden, die im Kontext der gestalterischen Praxis zu Unstimmigkeiten in Bezug zur Materialität führen. So müssen Innovationen, wie zuvor herausgestellt, wahrnehmbar sein, um Kommensurabilität zu gewährleisten. Sie müssen erkannt werden können, um sie in einem Bezugskontext zu bringen und mit anderen Erfahrungen und Entitäten vergleichen zu können. Durch diesen Abgleich kann perspektivgebunden eine Nutzbarkeit und Neuheit erkannt werden. Diese Wahrnehmbarkeit scheint jedoch nicht bei allen immateriellen Entitäten gegeben zu sein. Während Dienstleistungen durch ihre Auswirkungen auf materielle, technische oder biologische Strukturen oder im weitesten Sinne auf Umwelt und Gesellschaft wahrnehmbar sind, scheinen Interaktionskonzepte im Zuge ihrer Anwendung wahrgenommen zu werden und nicht durch das Ergebnis der Interaktion. Für diese Wahrnehmbarkeit eines Interaktionskonzeptes, muss dieses mit materiellen Artefakten gekoppelt werden. Rogers schlägt für immaterielle Innovationen den Begriff software innovations vor und hebt die Notwendigkeit der Kopplung dieser immateriellen Innovationen mit 145
Vgl. Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 56. 146 Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 233. 147 Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 24. 148 Siehe ebd., S. 24.
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materiellen Trägern, um diese zu diffundieren, heraus149 . Als Beispiel können TouchGesten dienen, die immaterieller Gestalt sind und die zum Zeitpunkt ihrer technischen Realisierbarkeit dennoch konzipiert und erdacht werden mussten. Sie mussten derart ausgestaltet werden, dass sie in bestimmten Kontexten eine höhere Nutzbarkeit erzeugen als bis dato etablierte Konzepte. Sie weisen also Grundzüge einer Innovation auf. Anwendbar werden sie in unterschiedlichen Software- und Hardwareumgebungen. Auf Smartphones ebenso, wie auf Tablets, Desktop PCs oder Wearable Devices, wie Datenbrillen oder Smartwatches. Erst die Verbindung eines solchen Konzeptes, beispielsweise des Konzeptes des Pinch-Zooms – also einer Spreizbewegung mit zwei Fingern zum Vergrößern oder Verkleinern auf einem Display angezeigter Inhalte –, mit diesen technologischen Trägern erzeugt eine für die Kommensurabilität essentielle Wahrnehmbarkeit und Anwendbarkeit und erst wenn eine solche gegeben ist, kann wie dargestellt von einer Innovation gesprochen werden. Daraus lassen sich zwei Arten immaterieller Entitäten im Innovationskontext ableiten. Zum einen immaterielle Entitäten, die durch ihre Folgen wahrnehmbar sind. Zum anderen immaterielle Entitäten, die durch Kopplung mit materiellen Artefakten wahrnehmbar sind. Bei immateriellen Entitäten erster Art stellt sich die Frage, ob diese aus Betrachtungsperspektive eindeutig identifiziert werden können, oder ob sie nicht viel mehr als Black Box wahrgenommen werden, deren Ergebnis als Folge einer Innovation wahrgenommen wird. Zwei unterschiedliche Black Boxes, die dasselbe Ergebnisse hätten, wären aus Betrachtungsperspektive demnach ein und dieselbe Innovation. Die Vergleichbarkeit zwischen zwei Entitäten dieser Art bestünde nur durch die Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse und Folgen. Bei immateriellen Entitäten der zweiten Art ist zu überlegen, wie diese zu bezeichnen sind. Entweder sie werden als Invention bezeichnet oder gehen im Innovationsbegriff auf. Für die Inklusion im Innovationsbegriff müsste dieser jedoch vollkommen vom technischen und ökonomischen Verständnis technologiebasierter Innovationen, die als Produkt manifestiert werden, gelöst werden. Gegen die Bezeichnung einer solchen immateriellen Entität als Invention spricht jedoch, dass in der konsequenten Betrachtung dieser Theorie der Innovationsprozess angepasst werden müsste. Es scheint schwer abbildbar zu sein, dass Inventionen zu Innovationen führen sollen, gleichzeitig aber auch zu innovationsähnlichen Entitäten reifen können, die ebenfalls diffundiert werden können und im allgemeinen Sprachverständnis innovativ sind, ohne jedoch im diskursiven Verständnis eine Innovation zu sein. Streng betrachtet würden immaterielle Entitäten nach dieser These niemals den Stand einer Invention verlassen. Somit würde es per se keine innovativen Interaktionskonzepte geben. Im Kontext der Interaktionsgestaltung scheint unter Berücksichtigung der bisherigen Betrachtungen und der gestalterischen Praxis die Auflösung immaterieller Entitäten in den Innovationsbegriff zielführend zu sein. Während Rogers innovative immaterielle Entitäten durch die Notwendigkeit der materiellen Kopplung herabstuft150 ,
149 Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 13. 150 Vgl. ebd., S. 13.
4 Innovationen
werten mehrere Autoren diese auf. So relativieren sowohl Wolfgang Haug (2002) als auch Aida Bosch (2012) die Grenze zwischen Materialität und Immaterialität151 . „Jedes Ding hat eine materiell-stoffliche und eine zeichenhaft-symbolische Seite. Die Stofflichkeit der Dinge interagiert mit dem menschlichen Körper und bietet praktische und sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten. Zum anderen aber ist das Ding auch als Symbol von Bedeutung, als Repräsentanz von Zeichen, Ideen und symbolischen Vorstellungen lesbar.“152 Auch Friedel führt im Jahr 2007 immaterielle und materielle Entitäten stärker zusammen, indem er den Technologiebegriff erweitert. Während er vollständig mentale Prozesse, sowie rein biologische Vorgänge ausschließt, schließt er explizit solche Ideen und Konzepte ein, die an materielle Artefakte gekoppelt werden müssen. „Most of the time technologies are clearly represented by artifacts, by material constructions in the form of tools, instruments, machines, structures, and the like, and these representations are the most unambiguous markers of the technological. In an age that finds itself absorbed with the idea and power of ‚information‘, however, it has to be readily acknowledged that there are less material forms of technology, even if, generally speaking, these usually have some indispensable linkage to the artifactual world. For example, a computer program is nonmaterial technology, but is useless without a machine on which to use it.“153 Demnach schließen technologische Innovationen nach Friedel auch konzeptionelle Innovationen ein, die an materielle Artefakte gekoppelt werden – wie beispielsweise Interaktionskonzepte. Auf diese Weise entsteht ein vages Grundverständnis von Technologie als vom Menschen erzeugt und in irgendeiner Weise manifestiert154 . Löst man jedoch den starken Bezug zur Technologie – wie angestrebt – auf, anstatt alles augenscheinlich nicht technologische in den Technologiebegriff zu integrieren und ihn somit auszudehnen, wie es Friedel versucht, entsteht ein Innovationsverständnis, das anschlussfähig an den Gestaltungsdiskurs ist. So definiert Aicher 1992 technische Gegenstände als organisierte Gegenstände. „ein technischer gegenstand ist ein organisierter gegenstand“155 Weiterführend kann so die Erkenntnis formuliert werden, dass Innovationen – gleichgültig ob streng technologisch oder im weitesten Sinn – organisierte Gegenstände sind. In Bezug zu Bosch weisen diese organisierten Gegenstände sowohl stoffliche als auch symbolische Aspekte auf. 151
152 153 154 155
Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Zur Frage der Im/Materialität digitaler Produkte: Ist der Begriff des „Immateriellen“ geeignet, um die neue Produktionsweise zu denken?, in: Das Argument 248 44.5/6 (2002), S. 619–636, url: http://www.linksnet.de/de/artikel/18318 und Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 52. Siehe ebd., S. 52. Siehe Friedel: A culture of improvement: Technology and the Western millennium, S. 1–2. Vgl. ebd., S. 1ff. Siehe Aicher: Die Welt als Entwurf, S. 63.
123
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Interaktionswelten
Auch Tarde schreibt 1890 jeder Innovation – auch eindeutig materiellen Innovationen – eine immaterielle Komponente zu, die erst den wahren Charakter der Innovation definiert. „Das, was erfunden und nachgeahmt wird, und das, was nur nachgeahmt wird, ist immer eine Idee, ein Wille, ein Urteil oder eine Absicht, in denen sich eine gewisse Dosis Überzeugung und Begehren ausdrückt.“156 Folgt man diesen Betrachtungen, so sind alle Innovationen immateriell. Denn auch hinter jedem technischen beziehungsweise materiellen Artefakt steckt eine Idee, ein Konzept, das die Essenz der Innovation bildet, die letztlich Vorbild zur Nachahmung ist. Eine Nachahmung einer Innovation ist nie dasselbe sondern versucht stets nur das Gleiche oder zumindest in Teilen das Gleiche zu sein. Deshalb wird das Kopierte auch selten zur Innovation157 . Eine 100-prozentige Kopie ist nicht neu, in keiner Facette und somit unmöglich eine Innovation. Eine Kopie in Teilen öffnet Raum zur Variation und somit zur Verbesserung. Für die Wahrnehmung einer Innovation bedeutet dies, dass der Betrachter – egal ob als Nutzer im Anwendungskontext oder als Betrachter im Beobachtungskontext – vor allem den Mehrwert und das innovative Muster – den Entwurf – hinter der Innovation sieht, weniger die materiellen Bestandteile des Artefakts, das die Innovation repräsentiert. Er nimmt also die essentielle Charakteristik war, die durch Materialität kommuniziert werden kann, aber nicht durch diese entsteht oder definiert wird. Vielmehr besteht diese Charakteristik bereits in ihrer immateriellen Veranlagung der Organisation nach Aicher. Der Plan dieser Organisation, oder der Entwurf, stellen die Essenz der Innovation dar. Somit sollten nicht die materiellen Bestandteile einer Innovation im Zentrum einer gestaltungswissenschaftlichen Innovationsbetrachtung stehen, sondern im Sinne dieser Darstellungen die immaterielle Essenz einer Innovation. Innovationen können somit Kopplungen und Cluster aus innovativen und nicht innovativen, materiellen und immateriellen Entitäten sein, die in Kombination eine erfahrbare, organisierte Charakteristik aufweisen. Diese Charakteristik stellt das wahrgenommene Artefakt dar, das durch Erfahrungsabgleich als Innovation bewertet werden kann. Ohne die Kombination mit materiellen Entitäten kann keine organisierte Charakteristik identifiziert werden. Innovationen können dann nur als diffuser Vorgang identifiziert werden, an dessen Ende ein neuartiges und im Vergleich zu Bestehendem besseres Ergebnis steht.
156 157
Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 163. Vgl. z. B. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 43.
5 Interaktionskonventionen
5.1
Transdisziplinäre Annäherung an einen betrachtungsadäquaten Konventionsbegriff
Nachdem zuvor der Innovationsdiskurs relevanter differierender Bereiche betrachtet und aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive adaptiert wurde, soll in der Folge Vergleichbares mit dem Konventionsbegriff geschehen, um in einem ersten Schritt die spezifische Form und Charakteristik von Konventionen im MMI-Kontext zu erfassen, deren Entstehung zu analysieren und darauf aufbauend diese Erkenntnisse im Spannungsfeld aus Innovationen und Konventionen auszuwerten. Der Duden, 9. Auflage von 2007, definiert Konventionen als Übereinkunft einer Gruppe, als Vertrag, oder vereinbarte Regeln des sozialen Umgangs1 . Basierend darauf können Konventionen im weitesten Sinne als expliziter oder impliziter Konsens über bestimmte Aspekte der gemeinsamen Lebenswelt einer Menge von Subjekten aufgefasst werden. Diese Ableitung entspricht dem Ansatz von Dennis Büscher-Ulbrich, Stefanie Kadenbach und Martin Kindermann au dem Jahr 2013: „Eine Konvention hingegen [...] ist zunächst eine nicht formal festgeschriebene Regel, die von einer Gruppe von Akteuren aufgrund eines Konsens eingehalten wird. Die Übereinkunft kann stillschweigend zustande gekommen oder auch ausgehandelt worden sein.“2 Dabei spielt aus gestaltungswissenschaftlicher Sicht die Intrasubjektivität im Sinne des Radikalen Konstruktivismus eine wichtige Rolle3 . Was Erwartungen im Sinne der Erwartungskonformität4 auf subjektiver Ebene sind, sind Konventionen auf einer größeren, gesellschaftlicheren Ebene, wobei Gesellschaft hier als diffuses, nicht klar 1 2 3 4
Vgl. Dudenredaktion: Der Duden: Das Fremdwörterbuch: Das Standardwerk zur deutschen Sprache, S. 562. Siehe Büscher-Ulbrich/Kadenbach/Kindermann (Hrsg.): Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld, S. 9. Vgl. zur Intrasubjektivität im Sinne des Radikalen Konstruktivismus Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 26–27. Vgl. Kapitel 2.5.3.
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Interaktionswelten
abgegrenztes interpersonelles Bezugssystem zu verstehen ist. Wie Büscher-Ulbrich/ Kadenbach/Kindermann betonen, wirken Konventionen „sowohl auf subjektiver und intersubjektiver als auch auf struktureller und strukturierender Ebene.“5 Konventionen können somit als gemeinsamer intrasubjektiver Erfahrungsschatz und die daraus resultierenden Erwartungen definiert werden. Auf subjektiver Ebene wird dieser Erfahrungsschatz als Anspruch eines Individuums geprägt. Auf gesellschaftlicher Ebene als Konvention. Konventionen sind demnach die Menge aller relevanten subjektiven Erfahrungen innerhalb eines gemeinsamen Kontextes, die durch projektive Übertragung intrasubjektiv verbreitet werden und so kollektivierte Erwartungen schaffen. Kulturelle Konventionen seien nach Büscher-Ulbrich, Kadenbach und Kindermann im Besonderen „bei Prozessen der Kommunikationsbildung [beteiligt], d.h. der Produktion, Aushandlung und Zuordnung einer Bedeutung zu einem kulturell gehaltenen Gegenstand, der Textualisierung und Diskursivierung von Kultur, sowie der Regelung der Teilnahme im soziokulturellen Feld.“6 Aus der Perspektive der Interaktionsgestaltung und somit im Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion liegt der Schwerpunkt der Betrachtung des Themenfeldes der Konventionen jedoch weniger auf kulturellen Konventionen, die kulturelle Bedeutungsräume schaffen, sondern vielmehr auf Handlungskonventionen, die unmittelbarer dem Verhalten eines Individuums zugrunde liegen, das in Interaktion mit seiner technischen Umwelt tritt. Jürgen Habermas verwendet 1982 in diesem Zusammenhang den Begriff des normenregulierten Handelns. „Der Begriff des normenregulierten Handelns bezieht sich nicht auf das Verhalten eines prinzipiell einsamen Aktors, der in seiner Umwelt andere Aktoren vorfindet, sondern auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Der einzelne Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer gegebenen Situation die Bedingungen vorliegen, auf die die Norm Anwendung findet. Normen drücken ein in einer sozialen Gruppe bestehendes Einverständnis aus. Alle Mitglieder einer Gruppe, für die eine bestimmte Norm gilt, dürfen voneinander erwarten, dass sie in bestimmten Situationen die jeweils gebotenen Handlungen ausführen bzw. unterlassen. Der zentrale Begriff der Normbefolgung bedeutet die Erfüllung einer generalisierten Verhaltenserwartung. Verhaltenserwartung hat nicht den kognitiven Sinn der Erwartung eines prognostizierten Ereignisses, sondern den normativen Sinn, dass die Angehörigen zur Erwartung eines Verhaltens berechtigt sind.“7 Im Kontext der MMI besteht die soziale Gruppe mit gemeinsamen Werten nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus nicht-menschlichen Akteuren, die für das einzelne Subjekt jedoch ebenfalls einen Aktor darstellen, von dem die Befolgung der gängigen Normen erwartet werden kann.8
5 6 7 8
Siehe Büscher-Ulbrich/Kadenbach/Kindermann (Hrsg.): Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld, S. 10. Siehe ebd., S. 10. Siehe Habermas: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, S. 127. Wie die Betrachtungen zum Kommunikationscharakter der MMI in Kapitel 3 gezeigt haben.
5 Interaktionskonventionen
Normen erfassen demnach die etablierten Verhaltensmuster der Mitglieder eines sozialen Systems. Sie können als spezielle Konventionen angesehen werden, die sich strikt auf Handlungen beziehen. „Norms are the established behaviour patterns for the members of a social system. Norms define a range of tolerable behaviour and serve as a guide or standard for the behaviour of members of a social system. The norms of a system tell individuals what behaviour they are expected to perform.“9 Im Sinne Everett Rogers und in Anlehnung an Elias, Durkheim, Parsons und Goffman fassen Büscher-Ulbrich, Kadenbach und Kindermann das soziologische Verständnis von Konventionen als „soziale Codes und Normen bzw. ‚soziale Skripte‘“ zusammen, „die Handlungsmöglichkeiten strukturieren“10 .
5.2
Eingrenzung des Konventionsbegriffs im Kontext der Sprachbildung, basierend auf der identifizierten Strukturgleichheit zwischen Mensch-Maschine-Interaktion und Kommunikation
Auch wenn, wie in Kapitel 3 erläutert, Interaktion keine Kommunikation im reinsten Sinne ist, so weisen die beiden Bereiche eine Strukturähnlichkeit auf, die es erlaubt Analogien zwischen ihnen herzustellen und Theorien, die für die Kommunikation entstanden sind, auf die Interaktion zu übertragen. Daher bietet sich die Klärung des Konventionsbegriffs im Kommunikationskontext anhand der Sprache an, um darauf und auf der Grundlage des Verständnisses von Normen zur Strukturierung von Handlungsmöglichkeiten aufbauend die Charakteristik von Interaktionskonventionen genauer zu betrachten. Frieder Nake hebt 2008 die Bedeutung von Konventionen in der Kommunikation und insbesondere im Zusammenhang der Decodierung von Zeichen hervor: „Das Zeichen fordert mit seinem Auftreten den anwesenden Menschen zu einem Akt der Interpretation geradezu heraus. Das Ergebnis seiner Interpretationsleistung ist eine Bedeutung, die er dem Zeichenereignis zuschreibt. Diese Bedeutung ist völlig individuell und singulär, hier und jetzt in der gegebenen Situation und im Kontext gefunden, entschieden, zugeschrieben. [. . .] In der Interpretationsleistung eines Menschen kommt auf undurchschaubare und gewiss nicht kausale Weise die gesamte Kultur zur Wirkung, der er angehört. Jene Kultur nun, als ein Abstraktum, ordnet der wahrnehmbaren Zeichenkomponente auch schon immer eine Art von Bedeutung zu. Jene Art von Bedeutung nämlich, die in dieser Kultur einem Zeichenereignis zugemessen wird, ist eine übliche, konventionelle, mehr oder minder verbindliche, per Gesetz oder Lexikon festgeschriebene, in der Schule
9 10
Siehe Rogers: Diffusion of innovations, S. 26. Vgl. Büscher-Ulbrich/Kadenbach/Kindermann (Hrsg.): Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld, S. 10.
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Interaktionswelten
eingebläute, die sich darauf auswirkt, wie wir Zeichenereignisse gewöhnlich wahrnehmen.“11 Kevin Mullet und Darrell Sano fassen 1995 das Human-Machine-Interface ebenfalls als Zeichensystem auf, dass dem vermittelnden Informationsaustausch zwischen Anwender und Programm bzw. Programmierer dient.12 Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass die Interpretation eines Zeichens durch den Betrachter, oder im MMI-Kontext durch den Nutzer, immer durch dessen individuelle Erfahrungen und seinen sozialen und kulturellen Hintergrund – seine Lebenswelt – geprägt ist. Sprache, Kommunikation und Mensch-Maschine-Interaktion basieren demnach auf der Abfolge singulärer Ereignisse der Decodierung einzelner Zeichen, wobei die Decodierung auf einem konventionellen Schema beruht, das die Arbitrarität eines Zeichens erfasst13 . Wichtig ist dabei der Kontext in dem das Zeichen vom Akteur interpretiert und decodiert werden soll. Dieser ist letztlich dafür verantwortlich, auf welches konventionelle Schema im Verstehensprozess zurückgegriffen wird. Dieses konventionelle Schema wird laut Alfred Schütz und Thomas Luckmann von zwei grundsätzlichen Vorgängen geprägt. Zum einen von „intersubjektiven Konstitutionen der Zeichen“ und zum anderen von einem bereits als Grundlage bestehenden „gesellschaftlich mehr oder minder verfestigten (‚institutionalisierten‘), geschichtlich vorgegebenen Zeichensystem, einer ‚natürlichen‘ Sprache“14 . Luckmann beschreibt 1980 die Entstehung einer solchen natürlichen Sprache als Prozess der Objektivierung und Sedimentierung: „Der Mensch ist in einer geschichtlich-gesellschaftlichen Lebenswelt geboren, in der die ‚allgemeine Sprache‘ eine ganz konkrete historische Struktur hat. Eine ‚natürliche‘ Sprache ist zwar nicht die ‚mathesis universalis‘ schlechthin, sie ist ein Zeichensystem, das für jedermann geschichtlich vorkonstruiert ist und gesellschaftlich vermittelt wird, aber zugleich ein quasi-idealer Code für Wirklichkeit schlechthin. Das Kind ‚wiederholt‘ die Schritte der Zeichenkonstitution bis hin zum letzten Schritt, der Konstitution des Zeichensystems. Die Vorgänge intersubjektiven Widerspiegelns, in welche Lautmuster als objektivierte Anzeichen subjektiver Vorgänge eingeflochten sind, wiederholen sich beim normalen Kind. Mit einer gewichtigen Ausnahme und einem entscheidenden Unterschied! Die subjektive Aneignung der Sprache vollzieht die historische Herausbildung der Sprachstruktur nicht nach. [...] Die Struktur jeder ‚natürlichen‘ Sprache ist das Ergebnis einer verwickelten geschichtlichen Abfolge sich sedimentierender sozialer Handlungen, in denen Kommunikation stattfand. Die Sprachstruktur und, allgemeiner, die Struk-
11 12 13 14
Siehe Nake: Zeigen, Zeichnen und Zeichen. Der verschwundene Lichtgriffel, S. 126. Vgl. Kevin Mullet/Darrell Sano: Designing visual interfaces: Communication oriented techniques, Englewood Cliffs und NJ: Prentice-Hall, 1995, S. 171. Vgl. zur Arbitrarität sprachlicher Zeichen Radegundis Stolze: Übersetzungstheorien: Eine Einführung, 4. Aufl. (Narr-Studienbücher), Tübingen: Narr, 2005, S. 39–40. Siehe Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 659.
5 Interaktionskonventionen
tur ‚natürlicher‘ Zeichensysteme, wird unmittelbar von der Struktur vergangener kommunikativer Handlungen bestimmt [...].“15 Demnach werden die etablierten Grundzüge einer Sprache gesellschaftlich weitervermittelt oder – wenn man so will – weitervererbt. Die Aneignung der etablierten Strukturen erfolgt dabei nicht mit demselben Ablauf, wie die ursprüngliche gesellschaftliche, intersubjektive Herausbildung eben dieser Strukturen. Luckmann fasst dies an späterer Stelle prägnant zusammen: „Zeichensysteme [...] sind appräsentative Strukturen, die sich intersubjektiv aufbauen, geschichtlich abgelagert sind und gesellschaftlich vermittelt werden.“16 Aufgrund der identifizierten Strukturgleichheit zwischen sprachlicher Kommunikation und Interaktion können die von Luckmann aufgezeigten Aussagen zur Institutionalisierung eines Sprachsystems wahrscheinlich auf die Institutionalisierung eines Interaktionssystems adaptiert werden. Ein entsprechender Versuch erfolgt im Kapitel 6. Dort werden die Darstellungen von Thomas Luckmann, Peter Berger und Alfred Schütz hinsichtlich der Objektivierung und Sedimentierung subjektspezifischer Erfahrungen auf Interaktionshandlungen übertragen, um ein erklärendes System der Bildung von Interaktionskonventionen zu erarbeiten.
5.3
Die Interaktionswelt als Untermenge der sozialen Lebenswelt nach Jürgen Habermas
In der Folge soll die Charakteristik von Interaktionskonventionen mit Hilfe des theoretischen Modells der sozialen Lebenswelt erfasst werden, in der Handlungen subjektive Erfahrungen bilden und Erfahrungen Handlungen ermöglichen. Im Kontext der MMI soll dieses theoretische Modell zur Theorie der Interaktionswelt erweitert werden, in dem implizites Handlungswissen die Grundlage der Interaktion zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren darstellt. Habermas ordnet 1981/1982 „dem Begriff des kommunikativen Handelns als Komplementärbegriff die Kategorie der ‚sozialen Lebenswelt‘ zu, die alle diejenigen Normen und Überzeugungen bezeichnen soll, die sich dank Prozessen der sprachlichen Verständigung bereits in Gestalt eines jeweiligen Horizontes an intersubjektiv geteilten Vorverständnissen angesammelt haben.“17 Das heißt die soziale Lebenswelt stellt das Kontinuum dar, in dem das zuvor beschriebene konventionelle Schema der Sprache angesiedelt ist. Sie ist das Produkt, die Objektivierung, aller Erfahrungen der
15 16 17
Siehe Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, S. 114. Siehe ebd., S. 115. Siehe Axel Honneth: Jürgen Habermas, in: Dirk Käsler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie Bd.2 (Beck'sche Reihe), München: Beck, 2000, S. 230–251, S. 239.
129
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Interaktionswelten
Akteure einer gemeinsamen Lebenswelt18 . Gleichzeitig stellt sie den Fundus und das logische Gefüge dar, aus dem diese Akteure ihre Erwartungen an andere Akteure der gemeinsamen Lebenswelt herausbilden. Schütz und Luckmann weisen 2003 darauf hin, dass dieser gesellschaftliche Wissensvorrat nicht vollumfänglich vom einzelnen Subjekt in Form von Regeln oder Konventionen wahrgenommen wird. Vielmehr erscheinen „wesentliche Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats in der subjektiven Erfahrung gar nicht als solche“, sondern seien „für den einzelnen selbstverständlicher Besitz, ein Bestandteil seiner Subjektivität“19 . Das bedeutet, die individuelle Lebenswelt eines Individuums wird auch durch gesellschaftlichen Wissensvorrat geprägt und geht zu Teilen diffus in diesen über. Das Individuum nimmt Aspekte der sozialen Lebenswelt als Teil seiner individuellen Lebenswelt, als „adjektive gesellschaftliche Gegebenheiten“, als Konventionen oder anderweitige „Aspekte der faktischen Sozialstruktur“ wahr20 . Dieser intersubjektive lebensweltliche Wissensvorrat ist es, der rationale Handlungen ermöglicht. Wie Peter Berger und Thomas Luckmann 1977 hervorheben befähigt er ein Subjekt, die Notwendigkeit und die wahrscheinlichen Folgen seiner Handlung zu erkennen21 . „Jedoch finde ich in meiner Lebenswelt von Anfang an Mitmenschen, die mir nicht nur als Organismen, sondern als mit Bewusstsein ausgestattete Körper, als Menschen ‚wie ich‘ erscheinen. Ihr Verhalten ist nicht ein beliebiges raum-zeitliches Ereignis, sondern Handeln ‚wie meines‘: Das heißt, für sie in subjektive Sinnzusammenhänge eingebettet und subjektiv motiviert, nach ihren Interessenlagen zielstrebig, nach für sie gültigen Durchführbarkeiten gegliedert. In der natürlichen Einstellung ‚wissen‘ wir im Normalfall, was der Andere tut, warum er es tut und wieso er es jetzt und unter diesen Umständen tut.“22 Gleichzeitig formen diese Handlungen die subjektive Lebenswelt, indem die Wahrnehmung der eigenen Handlung und die Reflexion dieser Handlung Erfahrungen bilden, die in Bezug gesetzt werden zur Lebenswelt und diese erweitern. Die subjektive Lebenswelt entsteht durch Sedimentierung subjektiver Erfahrungen und wird intersubjektiv durch soziale Interaktion zu einer sozialen Lebenswelt objektiviert23 . Aus interaktionsgestalterischer, gestaltungswissenschaftlicher Perspektive scheint die dargestellte Lesart der sozialen Lebenswelt zu drohen, die Erfahrungen eines Subjekts mit anderen Subjekten seiner sozialen Umgebung über anderen, nicht sozialen 18
19 20 21 22 23
Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 149, 163 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, 24. Aufl., Bd. 6623 (Fischer), Frankfurt am Main: Fischer-TaschenbuchVerl, 2013, S. 22. Siehe Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 428. Vgl. ebd., S. 428. Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 21–22. Siehe Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 44. Vgl. ebd., S. 149 und Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 22. Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt sind die „Objektivationen subjektiv sinnvoller Vorgänge, aus denen die intersubjektive Welt entsteht“.
5 Interaktionskonventionen
Erfahrungen zu stellen24 . Dabei muss der gesellschaftliche Wissensvorrat als Kontinuum jeglicher Erfahrungen angesehen werden. Denn auch nicht-menschliche Artefakte müssen kein Verhalten in Form eines „beliebigen raum-zeitlichen Ereignisses“ aufweisen, sondern können eines zeigen, das in kontextuelle Zusammenhänge eingebettet und nach „gültigen Durchführbarkeiten gegliedert“ ist25 . Mareis formuliert 2011 in ähnlicher Weise: „Vielmehr gilt es, alle an einer Wissensproduktion beteiligten menschlichen und nicht-menschlichen ‚Akteure‘ gleichermaßen im Auge zu behalten. Erst in ihrer Gesamtheit bilden sie die ‚Konstruktionsmaschinerien des Wissens‘; Gefüge von Konventionen und Instrumenten, die sich als organisiert, dynamisch, aber nur teilweise reflektiert erweisen und die von einzelnen Personen selbst nur begrenzt bestimmt werden können.“26 Soziale Lebenswelt und der gesellschaftliche Wissensvorrat darin umfassen also aus gestalterischer Perspektive auch isolierte Erfahrungen, die in keinem Bezug zur sozialen Umgebung eines Subjektes stehen und auf der Interaktion mit nicht-menschlichen Entitäten basieren, die aber dennoch durch Sedimentierung und Objektivierung in Form intersubjektiver Austauschprozesse kollektiviert werden können und Teil der sozialen Lebenswelt werden. Diese Erfahrungen aus der Interaktion mit nicht-menschlichen Entitäten stellen die Grundlage für Interaktionskonventionen als Sonderfall jedweder Handlungskonventionen und Normen dar. Wie die soziale Lebenswelt stellt sich auch die Interaktionswelt als intersubjektive Welt dar. Zwar erzeugt der Nutzer während der MMI eine innere, nicht zwingend formulierbare, Interpretation seiner eigenen Beziehung mit einem interaktiven Artefakt und der gerade ablaufenden Interaktion mit diesem Artefakt, jedoch muss der Nutzer mit Bezug zu Berger und Luckmann27 aufgrund der Gegenständlichkeit dieses Artefaktes und der Regelmäßigkeit der Handlungen und Reaktionen dieses Artefaktes28 davon ausgehen, dass diese Interpretation seiner Umwelt für andere ebenso wirklich ist, wie für ihn selbst. Gleichzeitig scheint es im Rahmen der hier aufgeführten Betrachtungen lohnenswert zu sein, den Begriff Interaktionswelt und seinen skizzierten Bedeutungsraum nicht vollständig im Begriff der Alltagswelt beziehungsweise der sozialen Lebenswelt aufgehen zu lassen, sondern sie als grob umzeichnete Untermenge zu betrachten, da sie wie dargestellt wird, durch Interaktionsmuster und -Konventionen eigene regelnde Größen aufweist, die sie nicht mit allen intersubjektiven Erlebenswelten innerhalb der 24
25 26 27 28
Vgl. hierzu Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 44: „Jedoch finde ich in meiner Lebenswelt von Anfang an Mitmenschen, die mir nicht nur als Organismen, sondern als mit Bewusstsein ausgestattete Körper, als Menschen ‚wie ich‘ erscheinen.“ In Bezug zu: ebd., S. 44. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 17. Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S.25. Vgl. zur Betrachtung der subjektiven Handlungsfähigkeit eines interaktiven Artefaktes aus Nutzersicht Kapitel 3.
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Interaktionswelten
Alltagswelt teilt und somit als eigenes Bezugssystem verstanden werden kann. Somit soll die Interaktionswelt als Unterbereich der Lebenswelt verstanden werden, der sich ausschließlich aus den Erfahrungen mit einem nicht-menschlichen Akteur beziehungsweise einem Gefüge nicht-menschlicher Akteure speist und geprägt wird von Handlungswissen. Laut Berger und Luckmann (1977) markiert die Sprache „das Koordinatensystem meines Lebens in der Gesellschaft und füllt sie mit sinnhaltigen Objekten“29 . Sie ist somit ordnungsgebendes Element einer intersubjektiven Wirklichkeit. „Ich30 erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phänomene sind vor-arrangiert nach Mustern, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrung von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher die Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint.“31 Betrachtet man die Strukturgleichheit zwischen der Sprache als Kommunikationsmittel der intersubjektiven Welt und Interaktionsmustern als Kommunikationsmittel des Mensch-Maschine-Gefüges, lässt sich die Rolle der Sprache zur Strukturierung der Alltagswelt auf die Rolle von Interaktionsmustern zur Strukturierung des Mensch-Maschine-Gefüges übertragen. Interaktion, als Menge objektivierter Interaktionsmuster und -Konventionen, wäre somit das Gerüst der Interaktionswelt und wäre im Sinne Büscher-Ulbrischs, Kadenbachs und Kindermanns (2013) bei Prozessen der Interaktionsbildung, also der Produktion, Aushandlung und Zuordnung einer Bedeutung zu einem kulturell gehaltenen Handlungsmuster beteiligt32 . Die Prägung der Interaktionswelt erfolgt letztlich jedoch im Rahmen der Alltagswelt und wird somit wiederum auch durch die Sprache geregelt. Interaktion wäre folglich nicht nur mit der Sprache verwandt, sondern würde gleichzeitig durch sie geregelt.
5.4
Transdisziplinäre Herleitung des Begriffs des Impliziten Wissens als Wissensform der Interaktionswelt
Wie dargestellt, kann die Interaktionswelt als Objektivierung intersubjektiver handlungsbezogener Erfahrungen in der Interaktion mit nicht-menschlichen Entitäten verstanden werden. Diese interaktionsbezogenen Erfahrungen erzeugen einen sedimen29 30 31 32
Siehe Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 24–25. Berger und Luckmann verwenden hier die erste Person Singular als Repräsentanz des JedermannBewusstseins in der Alltagswelt. Vgl. ebd., S. 23. Siehe ebd., S. 24–25. Vgl. Büscher-Ulbrich/Kadenbach/Kindermann (Hrsg.): Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld, S. 10.
5 Interaktionskonventionen
tierten, handlungsbezogenen Wissensvorrat, der vom jeweiligen Subjekt nicht immer bewusst abgerufen oder verbalisiert werden kann33 . Vielmehr weist Handlungswissen, das die routinierte Ausführung einer Handlung ermöglicht, einen impliziten Charakter auf34 . Schütz und Luckmann bezeichnen 2003 das zugrundeliegende Wissen, das sich in Tätigkeiten manifestiert, die beiläufig und simultan zu anderen Tätigkeiten ausgeübt werden können, als „Gewohnheitswissen“35 . Dieses Gewohnheitswissen sei jederzeit ohne große kognitive Leistungen anwendbar und für die „Lösung spezifischer Probleme“ oder die „Verwirklichung offener Handlungsentwürfe“ adaptierbar36 . Ein solches Gewohnheitswissen ist laut Martin Heidenreich (1997) „in erheblichem Maße anwendungs-, kontext- und praxisbezogen“, dies „unterscheidet es von wissenschaftlichem, stärker systematisierten und explizierten Wissen“37 . Wie Cooper u. a. 2014 hinweisen, handelt es sich häufig um Wissen, das angeeignet wird, ohne dass ein tieferes Verständnis einher geht. „Most of what we know we learn without understanding: things like faces, social interactions, attitudes, melodies, brand names, the arrangement of rooms and furniture in our house and office. We don´t understand why someone´s face is composed the way it is, but we know that face. We recognize it because we have looked at it and have automatically (and easily) memorized it.“38 Das Konzept des Gewohnheitswissen findet sich in unterschiedlichen Theorien und Disziplinen. Michael Polanyi definiert es 1985 als tacit knowledge was in deutschsprachigen Diskursen in implizites Wissen überführt wurde; Donald Schön unterscheidet 1983 diesbezüglich zwischen knowing-in-action, reflection-in-action und reflection-in-practice; in Pierre Bourdieus Arbeiten werden entsprechende Erkenntnisse und Theorien im Begriff des Habitus vereint; Aida Bosch betrachtet 2012 die speziellere Ausprägung des leiblichen Wissens; Karl Hörning nennt es 2012 soziale Praxis bzw. kulturelle Praxis39 . 33 34 35 36 37 38
39
Vgl. u.a. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 156–166, 249. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 157--160. Vgl. ebd., S. 159. Siehe ebd., S. 159–160. Siehe Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 185. Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 309. Auf dieselbe Weise wurde auch der Umgang mit Türknäufen, Türgriffen, Klingeln und allen anderen teils komplexen Funktionen und Wirkungsprinzipien von Schließmechanismen erlernt. Vgl. ebd., S. 312 und Norman: The design of everyday things, S. 4ff. Vgl. u.a. Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 61 Bourdieu/Seib: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 185 Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, S. 39 Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 165–167, 249, 267–269
133
134
Interaktionswelten
Für die folgenden Darstellungen soll der Begriff des impliziten Wissens Verwendung finden, wobei „implizit“, wie von Claudia Mareis 2011 konkretisiert, als Gegensatz zu „fokal bewußt“ verstanden werden soll und weniger als Gegensatz zu „explizitsprachlich“40 . Der Sonderfall des leiblichen Wissens nach Bosch, das zweifelsohne eine hohe Relevanz für die MMI aufweist, soll hingegen in den folgenden Betrachtungen im Begriff des impliziten Wissens inbegriffen sein41 . Des Weiteren sollen zwei Bezugsräume impliziten Wissens unterschieden werden, der individuelle, subjektive Bezugsraum und der kollektive, intersubjektive Bezugsraum42 . So bezieht sich beispielsweise die soziale bzw. kulturelle Praxis nach Hörning auf kollektiviertes implizites Wissen, als das implizite Wissen, das bereits in die soziale Lebenswelt Einzug gehalten hat43 . Implizites Wissen in der individuellen Interaktionswelt umfasst somit handlungsbezogenes Wissen subjektspezifischer, persönlicher Form. Das „durch Reflexion geprüfte, kollektivierte und konventionierte“44 implizite Wissen der sozialen Interaktionswelt stellt hingegen „durch kollektiv perpetuierte Normen, Werte und Traditionen geprägtes Wissen“ dar45 . Interaktionskonventionen sind also meist implizites Wissen, das über eine kritische Maße hinaus kollektiviert wurde. Hörning fasst den Einfluss praktischen Wissens auf Konventionen wie folgt zusammen: „Oft ist es ja der Fall, dass die sich im Praxisverlauf herausgebildeten impliziten Normen den expliziten Formulierungen von Regeln und Handlungsstandards vorausgehen. Dann ist das, was uns als passend oder unpassend, als gut oder schlecht, als vorteilhaft oder schädlich vorkommt, einem praktischen Wissen geschuldet, das auf kulturellen Vorgaben und Prämissen aufsitzt, die im Fortgang der Praktiken ihre ständige Reibung und Veränderung erfahren.“46 In der Folge soll davon ausgegangen werden, dass implizites Wissen die Basis von Handlungskonventionen ist und demnach, da Interaktion zwar kommunikativen Charakter aber einen Kern aus Handlungen aufweist, Interaktionskonventionen ebenfalls
40 41 42 43 44 45 46
Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 24 Polanyi: Implizites Wissen Schön: The reflective practitioner: How professionals think in action Waibel/Wehner: Über den Dialog zwischen Wissen und Erfahrung in der betrieblichen Lebenswelt: Teil I. Kognitive Umstrukturierung der planerischen Vorgaben zur Bewältigung des Fertigungsalltags. Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 249. Vgl. Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 61. Vgl. u.a. Büscher-Ulbrich/Kadenbach/Kindermann (Hrsg.): Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld, S. 10. Vgl. Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, S. 39. Siehe ebd., S. 39. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 264. Siehe Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, S. 40–41.
5 Interaktionskonventionen
von implizitem Wissen geprägt sind. Implizites Wissen ist nicht nur Ergebnis subjektiver Erfahrungen, sondern auch sozialer Prägung und wirkt dadurch innerhalb der subjektspezifischen Interaktionswelt und der sozialen Interaktionswelt. Interaktionskonventionen sind folglich das implizite Wissen einer Gesellschaft perpetuiert in der sozialen Interaktionswelt.
5.5
Zwischenfazit zu Interaktionskonventionen
Interaktionskonventionen sind generalisierte, kollektive Handlungsmuster einer breiten Masse von Akteuren, die sich vor allem auf die Ausübung von Aktions- und Reaktions- Abfolgen in der Mensch-Maschine-Kommunikation beziehen. Da sie in der Regel auf implizitem Wissen, Best-Practices und Routinen basieren, können sie zwar beschrieben aber nur schwer verschlagwortet werden. Am ehesten scheinen sie metaphorisch erfasst werden zu können47 . Sie bieten Orientierung für die Interaktion zwischen menschlichen Akteuren und technischen Systemen, sowie für die Gestaltung und Bewertung interaktiver Systeme. Sie greifen somit in die Nutzung und die Gestaltung interaktiver Systeme gleichsam ein. Sie fließen als Erfahrungsschatz und Erwartungshaltung aus den kollektivierten Interaktionsparadigmen zurück in die individuellen Interaktionswelten der einzelnen Nutzer und führen zu Pfadabhängigkeit im Prozess der Innovationsgenerierung neuer Interaktionskonzepte, die von Individuen gemacht werden, die gleichzeitig auch Nutzer sind. Innovationen scheinen nur zu Interaktionskonventionen werden zu können, wenn sie ein Handlungsmuster beinhalten. Rein technische Innovationen können demnach nicht zur Konvention werden. Sie müssen eine strikte Handlungsabfolge voraussetzen, die entweder streng funktionalen Abläufen oder praktischem Wissen geschuldet ist. Nur diese Handlungsabfolge kann so stark verinnerlicht werden, dass sie als Routine in die subjektive Interaktionswelt perpetuieren kann und, sofern sie von einer kritischen Masse intuitiv durchgeführt werden kann, in die intersubjektive Interaktionswelt konventionalisiert wird.
47
Mit Bezug zu Peter Mambrey/Michael Paetau/August Tepper: Technikentwicklung durch Leitbilder: Neue Steuerungs- und Bewertungsinstrumente, Frankfurt/Main: Campus-Verl, 1995, S. 37.
135
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
Interaktionskonventionen sind Handlungskonventionen und als solche zu betrachten. Das bedeutet, wenn sprachliche Konventionen durch die Sprachpraxis, also die Anwendung der Sprache, gebildet und gefestigt werden, so werden Interaktionskonventionen durch die Interaktion zwischen Mensch und Maschine gebildet und gefestigt. Demnach weist die Bildung von Interaktionskonventionen eine eigene Charakteristik auf, die die Bildung von Handlungsroutinen beinhaltet. Feste Abfolgen von Handlungen ergeben Handlungsmuster, wobei es für ein und dieselbe Tätigkeit verschiedene Handlungsmuster geben kann. Häufig angewendete Handlungsmuster werden zu Routinen. Weit verbreitete Routinen werden zu Konventionen. Somit lässt sich ein grober Prozess vom implizitem Wissen hin zur sozialen Praxis skizzieren. Dieser Prozess an dessen Ende neue gesellschaftliche Werte geschaffen werden, kann laut Michael Polanyi (1985) nur stillschweigend, implizit vollzogen werden. „Wir können ein neues Wertesystem nicht ausdrücklich wählen, sondern müssen ihm gehorchen, auch wenn wir es zu schaffen oder bewußt zu übernehmen scheinen.“1 Luckmanns Betrachtung von 1980, dass „Bewusstsein und Mitteilung, Mitteilung und Intersubjektivität und Intersubjektivität und Gesellschaft“ sich „wechselseitig – und vielleicht in dieser Stufenfolge“ bedingen2 , stellt eine vielversprechende Grundlage dar, den zuvor grob skizzierten Prozess von Handlungen hin zu Interaktionskonventionen genauer zu segmentieren. Die Darstellungen von Luckmann, Berger und Schütz scheinen besonders anschlussfähig an die bisherigen Betrachtungen und Ergebnisse zu sein, weshalb in Anlehnung an diese drei Autoren eine prozessuale Gliederung erstellt wird, die den folgenden Betrachtungen zur Konventionsbildung zu Grunde liegen soll. Diese Gliederung basiert auf der Stufenfolge Luckmanns, wonach Erfahrungen und Bewusstsein die Basis von Handlungen und Mitteilungen sind, die in Summe die 1 2
Siehe Polanyi: Implizites Wissen, S. 10. Siehe Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, S. 97.
138
Interaktionswelten
Basis von Intersubjektivierungsprozessen darstellen und zu Gesellschaft und Zeichen führen3 . Zudem basiert die Gliederung auf Berger/Luckmann, wonach Wissen innerhalb einer Gesellschaft durch Sedimentierung, Typisierung und Institutionalisierung4 entsteht und auf Schütz/Luckmann, die die gesellschaftliche Bedingtheit subjektiven Wissensvorrats, die Entstehung dieses Vorrats durch Erlebnis, Erfahrung und Handlung und die Entstehung gesellschaftlichen Wissensvorrats durch Objektivierung subjektiver Wissensstrukturen beschreiben5 . Den Betrachtungen soll somit folgende Struktur der Konventionsbildung prüfend zugrunde liegen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Erprobung und Ausübung einer Handlung Erfahrung und Bestätigung der Handlung Typisierung der Handlung Habitualisierung der Handlung Institutionalisierung der Handlung Objektivierung der Handlung
Demnach ist die Erprobung einer Handlung und die Bestätigung einer Handlung der Beginn der Konventionsbildung auf subjektspezifischer Ebene, während korrelativ dazu auf intersubjektiver Ebene die Typisierung erfolgt. Der gesamte Konventionsbildungsprozess ist somit vom Wechselspiel subjektiver und intersubjektiver Phasen geprägt, wobei der Ursprung der Konventionsbildung laut Schütz und Luckmann in subjektiven Erfahrungen liegt. „Den Ursprung des sozialen Wissensvorrats, genauer, der Elemente, die den sozialen Wissensvorrat bilden, kann man nur in subjektiven Erfahrungen und Auslegungen suchen.“6 Während Schütz und Luckmann also zum einen auf subjektive Erfahrungen und Wissenselemente als Basis eines gesellschaftlichen Wissengemenges hinweisen, verweisen sie gleichzeitig wiederum auf die Bedingtheit dieser subjektiven Wissenselemente durch den gesellschaftlichen Wissensvorrat. „Wann immer wir einen noch so minimalen gesellschaftlichen Wissensvorrat ansetzen – und das müssen wir definitionsmäßig bei jeder menschlichen Gesellschaft –, leiten sich die meisten subjektiven Wissenselemente, die in seine Weiterbildung eingehen, von dem jeweils vorgegebenen Stand des Wissensvorrats ab.“7 3 4 5 6 7
Vgl. Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, S. 97. Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 49ff. und 56ff. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 331ff., 355ff. und 447ff. Siehe ebd., S. 356. Siehe ebd., S. 357.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
Diese Darstellung leitet zu einem scheinbaren Dilemma, nämlich dem der Frage, was zuerst existierte, das Subjekt oder die Gesellschaft. Dieses scheinbare Dilemma kann jedoch ad absurdum geführt und durch eine einfache Betrachtung aufgelöst werden. Die Betrachtung führt unweigerlich zur Erkenntnis, dass ein gesellschaftlicher Wissensvorrat keine absolute Menge, sondern ein sich stetig fortschreibendes diffuses Gefüge ist. So wie eine Gesellschaft nicht von einem Moment auf den anderen anfängt bzw. aufhört zu existieren, verhält es sich auch mit dem Wissensvorrat einer Gesellschaft. Die jeweiligen Existenzpfade aller Entitäten einer Gesellschaft haben keinen gemeinsamen, gleichzeitigen Start- und Endpunkt, sodass die Menge der Entitäten zwar in Fluktuation ist, es aber immer einzelne Entitäten gibt, die die Existenz der Gesellschaft aufrecht erhalten, bis neue Entitäten hinzustoßen. Auf diese Weise ist es schwer denkbar, dass der gesellschaftliche Wissensvorrat ausgelöscht wird und ein Subjekt neue Erfahrungen ohne Bezug zu einem eben solchen gewinnen kann. Geht man von einem katastrophalen Ereignis aus, dass alle Subjekte einer Gesellschaft vernichtet und somit auch den gesellschaftlichen Wissensvorrat, können auch keine subjektiven Erfahrungen als Basis subjektiver Wissenselemente gewonnen werden, da kein Subjekt mehr existiert, das diese Eindrücke zu einem Wissenselement weiterverarbeiten könnte. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Schütz und Luckmanns Darstellung über die sich gegenseitig bedingende Existenz subjektiver Wissenselemente und gesellschaftlicher Wissensvorräte eine feste theoretische Basis für folgende Untersuchungen darstellt. Gleichzeitig soll davon ausgegangen werden, dass nach Schütz und Luckmann der gesellschaftliche Wissensvorrat mehr ist, als die reine Addition subjektiver Wissenselemente und gleichzeitig der subjektive Wissensvorrat Elemente aufweisen kann, die nicht im gesellschaftlichen Wissensvorrat enthalten sind, da sie beispielsweise zu neu sind oder zu sehr auf individuellen, nicht übertragbaren subjektspezifischen Merkmalen beruhen8 .
6.1
Erprobung und Ausübung – Erfahrung und Bestätigung
Eine interaktive Handlung ist nach der Definition von Mohs u. a. aus dem Jahr 2006 als „wechselseitiger Energie- und Informationsaustausch zwischen Mensch und Produkt“ zu verstehen. Darauf aufbauend konkretisieren sie Handlungen als „in sich geschlossene Einheiten der Tätigkeit, die aus Teilhandlungen oder Operationen bestehen“. Im Gegensatz zur Handlung erfassen Mohs u. a. Operationen als „unselbstständige Bestandteile“ einer Handlung, deren „Resultate nicht bewusst (als Ziel) antizipiert werden“9 . Im Umkehrschluss sind Handlungen dadurch charakterisiert, dass der Handelnde mit seiner Aktion ein Ziel verfolgt10 . Basierend auf den bisherigen Betrachtungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich ein Akteur bei der Ausübung einer Handlung immer auf eigene, bereits existierende Erfahrungen stützen kann. Vielmehr scheinen, nach Dreyfus/Dreyfus/
8 9 10
Vgl. ebd., S. 357–358, 377. Siehe. Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 132. Vgl. Kapitel 3.
139
140
Interaktionswelten
Athanasiou (1986), zwei grundsätzliche Prinzipien neue Handlungen zu ermöglichen – Versuch und Irrtum und die Kopie. „The know-how of cashiers, drivers, carpenters, teachers, managers, chess masters, and all mature, skillful individuals is not innate [...]. We have to learn. Small children, and sometimes adults, lern through trial and error, often guided by imitation of those more proficient.“11 Die Basis einer Handlung stellt, wie an früherer Stelle beschrieben, ein konkretes Motiv dar, also die Absicht ein bestimmtes Ziel innerhalb bestimmter Gegebenheiten – beispielsweise eines festen Kontextes – zu erreichen. Hat der Akteur dieses Ziel jedoch noch nie zuvor aus eigener Kraft heraus erreicht und hat es darüber hinaus noch nie zuvor versucht, verfügt er über kein Erfahrungswissen auf das er zurückgreifen kann und muss sich schrittweise mittels Versuch und Irrtum an einen Handlungsablauf herantasten, der zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führt. Das Subjekt erprobt so lange verschiedene Handlungen, bis es als subjektive Reaktion auf seine Handlung einen Zustand wahrnimmt, der seinem Ziel in zufriedenstellendem Ausmaß entspricht. Dabei wird das Ergebnis jeder Handlung, also jedes Versuchs, wahrgenommen, überprüft und bewertet. So wird schrittweise ein neuer Erfahrungsraum aufgebaut, der die Basis für den nächsten, aktuell erfolgversprechendsten Versuch darstellt. Somit entsteht Wissen als Vorstufe der Interaktionskonvention durch die Bewertung einer zuvor ausgeübten Handlung. Dabei spricht vieles dafür, dass Wahrnehmen, Erkennen und Bewerten der eigenen oder einer fremden Handlung, egal ob sie zu explizitem oder implizitem Wissen führt, nicht ontisch realitätsabbildend, sondern subjektiv interpretierend und Produkte willkürlicher Selektionen sind. Sie werden durch die Realität, den intersubjektiven Abgleich innerhalb einer gemeinsamen Alltagswelt, schrittweise bewährt oder korrigiert12 . Wie Heidenreich 1997 betont, hat ein Subjekt „keinen Zugang zu einer ‚objektiven‘, von [seinem] Denken unabhängigen Wirklichkeit; das, was [es] als Tatsachen [ansieht], wird immer (vor dem Hintergrund [seiner] bisherigen Erfahrungen und einer prinzipiell selektiven Wahrnehmung) sozial konstruiert. Das einzige Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung ist ihre Bewährung in der Praxis.“13 Eben diese Bewährung in der Praxis kann als Abfolge von Handlung und Reflexion verstanden werden, im Sinne einer abgleichenden Gegenüberstellung der reflektierten Beobachtung und der eigenen Lebenswelt und somit dem sozial konstruierten Vorwissen einer Gesellschaft14 . Erfahrung müssen in einen kontextuellen Zusammenhang zu bestehenden Erfahrungen und Relevanzstrukturen der Lebenswelt, oder eines 11
12 13 14
Siehe Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 19. Vgl. auch Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 155. Vgl. Mambrey/Paetau/Tepper: Technikentwicklung durch Leitbilder: Neue Steuerungs- und Bewertungsinstrumente, S. 28. Siehe Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 186. Vgl. William James/Wilhelm Jerusalem/Klaus Oehler (Hrsg.): Der Pragmatismus: Ein neuer Name für alte Denkmethoden, 2. Aufl., Bd. 297 (Philosophische Bibliothek), Hamburg: Meiner, 1994, S. 162
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
Untersystems, wie der Interaktionswelt, gesetzt werden, um sie zu bewerten, um ihnen einen Sinn zu geben15 . Somit werden im Sinne Heidenreichs „Erfahrungen nicht passiv von einer Person erduldet, sondern [...] werden im permanenten Wechsel von Wahrnehmung und Handeln, von Beobachten und Kommunizieren hergestellt; sie sind ein anderes Wort für den Austausch zwischen einem Menschen und seiner natürlichen und sozialen Umwelt.“16 Je reproduzierbarer die Folgen einer Handlung sind, je starrer also Aktion und Reaktion miteinander verknüpft sind und weitere Einflussgrößen aus Sicht des reflektierenden Beobachters ausgeschlossen werden können, desto besser kann Handlungswissen sozial übergeben werden und umso einfacher und gegebenenfalls schneller können Interaktionskonventionen entstehen. Da Computer anhand fest programmierter Regeln reagieren, führt Versuch und Irrtum bei der Erprobung neuer Interaktionshandlungen zu verlässlichen Ergebnissen. Umso mehr das interaktive System Feedback über den Erfolg bzw. Misserfolg der vom Nutzer durchgeführten Aktion anbietet und durch Feedforward sinnvolle Handlungen implizit oder explizit empfiehlt, umso zufriedenstellender und effizienter ist der Lernprozess durch Versuch und Irrtum. Da die so entstandenen Erfahrungen verschiedener Nutzer mit ein und demselben System dann wenig Spielraum für Variationen haben, werden Konventionsbildungen begünstigt. Die Ergebnisse eines Nutzers sind leicht auf einen anderen Nutzer übertragbar, da sich das System mit hoher Wahrscheinlichkeit bei ein und derselben Handlungsabfolge, die von verschiedenen Akteuren durchgeführt wird, gleichsam verhält. Dieser Umstand verstärkt die Wirkungsfähigkeit des zweiten Schemas neuer Handlungen, der Kopie, die auf Beobachtung basiert. Die Beobachtung anderer Akteure kann den Prozess der Erprobung verschiedener Handlungen und der Bewertung dieser in Bezug zu subjektivem Erfolg und Misserfolg abkürzen. Werden andere Akteure dabei beobachtet, wie sie eine Handlung ausüben, deren augenscheinliche Folge dem eigenen Ziel entspricht, stellt die Kopie dieser Handlung eine effiziente Handlungsoption dar. In einem sozialen System muss somit nicht jeder Akteur eine eigene Problemlösung mittels Versuch und Irrtum suchen, sondern kann durch Beobachtung und Kopie von den Erfahrungen anderer Akteure des Systems profitieren17 . Damit Beobachtung zur Nachahmung führt, muss jedoch verstanden worden sein, dass die beobachtete Handlung zum Erfolg führt, dass sie subjektiv besser ist als andere bekannte Handlungen, wodurch dieser Vorteil erreicht wurde und wie er nachgeahmt werden kann. Erst das ist die Grundlage der Kopie einer Handlung. Dabei ist es laut Gabriel Tarde (1890) weniger relevant zu verstehen, wie das, was nachgeahmt werden soll, funktioniert. Wichtig sei nur, zu
15 16 17
Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 186 Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 57. Vgl. Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, S. 104. Siehe Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 188. Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 249–250.
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142
Interaktionswelten
verstehen was nachgeahmt werden muss. Das was nachgeahmt wird, sei dabei immer eine Idee18 . Des Weiteren basiert Nachahmung laut Tarde immer auf einem hierarchischen Prinzip, in dem durch Beobachtung und Bewertung Handelnde subjektiv verortet werden. Innerhalb eines solchen hierarchischen Systems, erfolge die Nachahmung immer von oben nach unten und über geringe soziologische Abstände hinweg19 . Während Tarde vor allem auf soziale hierarchische Systeme – beispielsweise dem System des sozialen Standes – verweist, könnte im Kontext der MMI ebenfalls das 5-stufige Model des Erwerbs praktischer Fähigkeiten von Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou einem solchen hierarchischen System entsprechen20 . Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou unterscheiden dabei die Stufen novice, advanced beginner, competence, proficiency und expertise. Sie differenzieren sich durch das Ausmaß der Fähigkeit Handlungen bewusst und unbewusst auszuführen, das Wissen über konkrete Praktiken in Bezug zueinander zu setzen, es in andere Kontexte überführen zu können und basierend auf tieferen Zusammenhängen neue Handlungen ableiten zu können und neues praktisches Wissen zu erzeugen. Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Liddle 2007 vor21 . Die Notwendigkeit eines solchen hierarchischen Systems deutet stark auf die Relativität der Nachahmung hin. Falls Nachahmung immer von oben nach unten, über geringe soziale Abstände hinweg, erfolgt, kann ein Vorbild nur relativ zur Rolle des kopierenden Subjektes im Bewertungssystem erkoren werden. Wäre das zugrundeliegende Bewertungssystem das 5-stufige Model des Erwerbs praktischer Fähigkeiten von Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou, würden immer nur Handlungen von Individuen mit einer höheren Expertisestufe als der eigenen kopiert. Dabei wäre die Einordnung innerhalb der Expertisestufen relativ. Aus Sicht des kopierenden Subjektes würde das Vorbild über eine höhere Expertise verfügen. Dies müsste jedoch nicht zwangsläufig der allgemeinen Sicht – also der Sicht einer kritischen Masse innerhalb einer gemeinsamen sozialen Struktur – entsprechen. So wäre es für einen Novizen bereits erfolgversprechend, einen erfahreneren Novizen zu kopieren, auch wenn dies aus Sicht eines Experten weitaus weniger hilfreich wäre. Gleichzeitig könnte aus Sicht eines dritten Akteurs der Kopierte mit dem Kopierenden auf derselben Expertisestufe stehen. Für den Kopierenden wäre dies jedoch belanglos, solange für ihn zwischen ihm und seinem Vorbild perspektivgebundene Rangunterschiede innerhalb des sozialen Gefüges bestünden.
6.2
Typisierung
Die Intersubjektivierung und Institutionalisierung des durch Erprobung, Handlung, Bewertung und Reflexion erworbenen Wissens eines Subjektes soll in der Folge als Ergebnis von Typisierung und Habitualisierung betrachtet werden. Beide Begriffe sollen 18 19 20 21
Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 163. Vgl. ebd., S. 232–241. Vgl. in der Folge Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S.21–36. Vgl. Moggridge: Designing interactions, S. 243–249.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
hier im Verständnis von Berger, Luckmann und Schütz verwendet werden, das Heidenreich wie folgt zusammenfasst. „Nicht Normen, Kontrollen und Sanktionen, sondern die Typisierung, Habitualisierung und Verdinglichung subjektiven, sinnhaften Alltagswissens sind die Grundlage von Institutionalisierungsprozessen. Die Entstehung, Strukturierung und Fortentwicklung alltäglicher Wissensbestände erfolgt komplementär zur Institutionalisierung von Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Beziehungsmustern.“22 Typisierung ist laut Schütz/Luckmann eine Idealisierung und Anonymisierung eigener Erfahrungen23 . Dabei werden Eigenheiten individueller Erfahrungen abstrahiert, sodass eine sich fügende und in sich stimmige Regelhaftigkeit entsteht. Erst diese wiedererkennbaren Regelmäßigkeiten erzeugen verlässliche Wissensstrukturen, die die Alltagswelt analysierbar und prognostizierbar machen. Wolfgang Bonß u. a. sprechen 2013 in diesem Zusammenhang von kontextuellen Ordnungsmustern von Erfahrungen und Handlungen in der Alltagswelt24 . „In Typen sammeln und sedimentieren sich die situativ und biografisch bestimmten Erfahrungen. Der in alltagsweltlichen Interaktionssituationen gewonnene persönliche Erfahrungsschatz verdichtet sich zu Typen, die durch neue Erfahrungen bestätigt, modifiziert und revidiert werden können. Somit resultiert der Typus aus der Verdichtung, Generalisierung und Sedimentierung (Ablagerung) von Erfahrungsmomenten und erlaubt damit die Einordnung neuer -- aber irgendwie ähnlicher -- Objekte, Ereignisse und Prozesse in bereits bekannte und vertraute Erfahrungsmuster.“25 Demnach werden Erfahrungen des Nutzers durch einen Typisierungsprozess vereinfacht und strukturiert. Diesem Verständnis nach, ist die subjektive Typisierung die Erweiterung der Interaktionswelt durch die Abstrahierung von Handlungen zu Handlungsmustern und somit der erste Schritt zur Bildung von Konventionen. Als Folge hiervon, kann interagierendes Handeln als auf typisierten Erfahrungen basiertes Handeln verstanden werden, das durch die intersubjektive Lebenswelt geprägt wird. Die Typisierung von Verhaltensmustern extrahiert Regelmäßigkeiten in der Abfolge einzelner Ereignisse und Gegebenheiten. Diese Regelmäßigkeiten sind intersubjektiv beobachtbar und führen als solche zu Erwartungen26 . Gleichzeitig ist dies der erste Schritt Handlungen in Routinen zu überführen, die immer wieder auf dieselbe Art und Weise und mit geringer kognitiver Belastung ausgeführt werden27 . Berger
22 23 24 25 26 27
Siehe Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 189. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, 95f. Siehe Bonß u. a.: Handlungstheorie: Eine Einführung, S. 172. Siehe ebd., S. 172–173. Vgl. Siegfried J. Schmidt: Sprache oder die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, in: Cordula Meier (Hrsg.): Design Theorie, Frankfurt am Main: Anabas-Verl, 2003, S. 38–51, S. 41. Die Bildung solcher Routinen, die Habitualisierung, wird in Abschnitt 6.3 betrachtet.
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Interaktionswelten
und Luckmann beschreiben die Umwandlung interaktiver Handlung zu Handlungsroutinen basierend auf der Typisierung und die damit verbundene intersubjektive Erwartung mit Hilfe eines Beispiels: „Sobald A und B wie auch immer interagieren, produzieren sie sehr bald Typisierungen. A beobachtet genau, was B wie tut. Er unterstellt B´s Handlungen Beweggründe und typisiert dieses, sobald er sieht, dass die Handlung wiederkehrt, ebenfalls als wiederkehrend. Agiert B weiter, so ist A bald in der Lage, sich zu sagen: ‚Das wär´s also wieder einmal.‘ Gleichzeitig kann A dasselbe von B im Hinblick auf sich, A, annehmen. Von Anbeginn nehmen A und B die Reziprozität ihrer Typisierungen an. Im Verlauf ihres Verkehrs miteinander kommen ihre beiderseitigen Typisierungen in typischen Verhaltensmustern zum Ausdruck.“28 Die Voraussetzung zur Bildung von Interaktionskonventionen bestünde demnach in der zuverlässigen Wiederholung von Aktionen bzw. Reaktionen durch die Maschine. Während der menschliche Nutzer seine Aktionen bzw. Reaktionen variieren kann, um die Beweggründe der Handlungen der Maschine zu verstehen und daraus Handlungsmuster zu erkennen, verhält sich die Maschine, wie es algorithmisch festgehalten und in sie hinein programmiert wurde. Die Maschine muss im Umkehrschluss nicht versuchen, zu verstehen was der Mensch tut. Stattdessen wartet sie solange, bis der Mensch etwas macht, was sie versteht. Bis dahin reagiert sie – sofern implementiert – in Form von Rückfallaktionen, die Standardaktionen als Folge nicht interpretierbarer Eingaben auslösen. Im zuvor von Berger und Luckmann aufgeführt Beispiel entspreche A im Kontext der MMI also einem menschlichen Nutzer, während B einer Maschine entspreche. Eine umgekehrte Belegung von A und B ist aufgrund der limitierten Fähigkeiten einer programmierten Maschine, wenn überhaupt, nur unter Einschränkungen möglich29 . Gleichzeitig wird aus der Anwendung des abstrahierten Beispiels von Berger und Luckmann deutlich, dass der Mensch nur dadurch in der Lage ist, MMI zu typisieren und im Verlauf zu habitualisieren, da er die Maschine als Objekt interpretiert, dessen Handlungen auf nachvollziehbaren Beweggründen basiert. Der Mensch beginnt die Interaktion also mit der Grundannahme, er könne die Handlungen des Gegenübers, der Maschine, prinzipiell prognostizieren, sofern er die zugrundeliegenden Beweggründe durch ausreichende Beobachtung verstanden hat und ein zuverlässiges Muster erkannt hat. Weiter gedacht führt diese Betrachtung auch zurück zu den Grundanforderungen funktionierender MMI, nämlich dazu, dass die Ergebnisse einer Mensch-Maschine-Interaktion verständlich und reproduzierbar sein müssen. Der Nutzer muss erkennen können, was die Folge seiner Eingabe ist und muss eine Wiederholbarkeit und Zuverlässigkeit dieser Folgen erkennen können. Erst dann kann er eine Regelmäßigkeit erkennen, die die Basis der Typisierung von Handlungsmustern darstellt.
28 29
Siehe Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 60. Vgl. hierzu Kapitel 3.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
6.3
Habitualisierung
Auf der subjektiven Typisierung aufbauend, geht die Habitualisierung der Institutionalisierung voraus30 . Nachdem im Zuge der Typisierung grundlegende Muster in sedimentierten Handlungserfahrungen zu ordnenden Wissensstrukturen und Handlungsmustern verdichtet wurden, führt die Wiederholung dieser Handlungsmuster zu einer Verstetigung des Erkennens der Gegebenheiten, der Identifikation der Handlung als Problemlösung und der geistigen und praktischen Durchführung dieser Handlung. Einzelne Durchführungen des Handlungsmusters führen zu einer Handlungspraxis, deren Abrufung und Durchführung mit steigender Routine immer geringeren Aufwand darstellt. „Alles menschliche Tun ist dem Gesetz der Gewöhnung unterworfen. Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann und dabei vom handelnden als Modell aufgefasst wird. Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet, dass die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann.“31 Dabei betonen Berger und Luckmann, dass „Habitualisierte Tätigkeiten [...] natürlich ihren sinnhaften Charakter für jeden von uns [behalten], auch wenn ihr jeweiliger Sinn als Routine zum allgemeinen Wissensvorrat gehört“32 . Wie Bonß u. a. summieren, haben Menschen zwar die Fähigkeit „rationale Entscheidungen zu treffen“, die Verwendung habitualisierter, handlungsvereinfachender Routinen stellt im Alltag jedoch eine Erleichterung dar, indem kognitive Aufwände verringert werden und Reaktionszeiten verkürzt werden können33 . Der rationale Mensch kann sich jedoch erst dann, unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten, für eine Handlungsroutine entscheiden, wenn er sie als Handlungsoption erkennt. Hierzu muss er erkennen, dass der aktuelle Handlungskontext und das persönliche Motiv zum habitualisierten Muster passt. Die Bemusterung, Typisierung und Habitualisierung führt somit zwar zu Handlungsroutinen, die mit geringem kognitiven Aufwand durchgeführt werden können, die Anwendbarkeit der habitualisierten Handlung kann jedoch variieren. Sie ist von der Übertragbarkeit des Handlungswissens abhängig. In Bezug zum Expertise-Modell nach Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou kann im Zusammenhang der MMI ein weiterer Aspekt der Typisierung und Habitualisierung betrachtet werden, der diesen Variationsraum begründet. Die Expertenstufe des Dreyfus-Modells erfasst nicht nur den Grad der Routine mit dem Handlungen abgerufen werden und damit verbunden die Menge der Routinen der Interaktionswelt eines Subjektes, sondern darüber hinaus eine weitere Qualität – die Fähigkeit, routinierte
30 31 32 33
Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 57. Siehe ebd., S. 56, S. 61. Siehe ebd., S. 57. Vgl. Bonß u. a.: Handlungstheorie: Eine Einführung, S. 185–186.
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Interaktionswelten
Handlungen auf andere Kontexte zu übertragen und daraus ableitend neue Problemlösungen und Handlungsmuster zu generieren. Wie eine Studie zur Übertragbarkeit bereits erlernter praktischer Fähigkeiten auf teilweise modifizierte Kontexte nahelegt, stellt sowohl die Abstraktion und Reduktion eigener Handlungen und Erfahrungen auf zugrunde liegende Muster, als auch deren Übertragung auf neue Anwendungszusammenhänge eine kognitive Herausforderung dar. Zur Bewältigung dieser Herausforderung bedarf es Fähigkeiten, die – so legt die Studie nahe – erlernbar und trainierbar sind34 . Laut der Studie von Wei u. a. aus dem Jahre 2013 sehen sich Anwender einer Computermaus der Herausforderung gegenüber gestellt, den Weg den der Mauszeiger auf einem Monitor zurücklegt, auf den physischen Weg, den die Maus bewegt werden muss, umzurechnen. Das menschliche Gehirn reduziere diesen Aufwand, indem es die Bewegungszusammenhänge in den Neuronen abspeichere und somit einen schnellen Zugriff auf diese realisiere. Diese visuomotorische Transformation werde jedoch von wechselnden Bildschirmauflösungen und Bildschirmdiagonalen erschwert, sodass im Fokus der Forschung stand, inwiefern Nutzer die verinnerlichten Bewegungszusammenhänge in verschiedene Nutzungskontexte, wie unterschiedliche Bildschirmauflösungen und Bildschirmdiagonalen, überführen können, welches Vorwissen und welche Fähigkeiten sie dazu aufweisen müssen und wie hoch der Aufwand für diese Rekalibrierung ist. Saße und Wilkens kommen 2013 basierend auf den Ergebnissen der Studie zum Schluss, dass die Fähigkeit bekannte Bewegungszusammenhänge zu verallgemeinern erlernt werden muss35 . Die Übertragbarkeit von routinierten Handlungen auf neue Situationen und Gegebenheiten sind somit eine Kompetenz, die sich der Nutzer durch häufige Verwendung der gleichbleibenden Faktoren in Kombination mit wechselnden Gegebenheiten erarbeiten muss. Laut Studie werden die Verallgemeinerungsfähigkeiten bereits durch zweiwöchige Übungsphasen signifikant verbessert36 . Häufige Nutzung führt somit zu Handlungsroutinen. Ändern sich einzelne Faktoren des Handlungskontextes müssen die Routinen übertragen werden. desto besser die Routinen verstanden und verinnerlicht sind, umso besser wurden sie vom Nutzer verallgemeinert und umso leichter können sie übertragen werden. Die Verallgemeinerung scheint demnach ein wichtiger Schritt bei der Bildung von übergreifenden Handlungsmustern und Interaktionskonventionen zu sein. Das Erkennen von Regelmäßigkeiten über verschiedene Kontexte hinweg ermöglicht die Übertragbarkeit subjektiver Handlungsroutinen der eigenen Interaktionswelt. „Das verhält sich sonst doch auch immer so. Ich erwarte, dass es sich hier auch so verhält.“ Gleichzeitig steigt durch die Übertragbarkeit einer subjektiven Handlungsroutine auf verschiedene Kontexte deren wahrscheinliche intersubjektive Verwertbarkeit. Die Fähigkeit zu verallgemeinern ist basierend auf Wei u. a., Saße/Wilkens und Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou von der Intensität der Nutzung und der daraus erworbe-
34 35 36
Vgl. Kunlin Wei u. a.: Computer Use Changes Generalization of Movement Learning, in: Current Biology 2013. Vgl. Dörte Saße/Andreas Wilkens: Computermaus prägt Lernvorgänge im Gehirn, 2013, url: http: //heise.de/-2070243. Siehe Wei u. a.: Computer Use Changes Generalization of Movement Learning.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
nen Kompetenz abhängig. Das legt den Schluss nahe, dass Experten-Nutzer Interaktionskonventionen stärker prägen, als es Novizen tun. Des Weiteren ist zu überlegen, inwiefern die Gruppe der Experten nochmals in solche mit stets konstant bleibenden Kontexten und solche mit stark wechselnden Handlungskontexten unterschieden werden müssen. Es scheint nahe zu liegen, dass die zweite Gruppe die gewonnenen Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten aufeinander bezieht und dadurch schneller und leichter in der Lage ist, die sedimentierten Erfahrungen zu verallgemeinern und allgemeine Erwartungen und Konventionen daraus abzuleiten. Interaktionsgestalter scheinen, aufgrund der starken Auseinandersetzung mit interaktiven Systemen unterschiedlicher Kontexte, selber zur zweiten Expertengruppe zu gehören und somit besonders darin ausgebildet zu sein, mannigfaltige Erfahrungen aufeinander zu beziehen, zu systematisieren und Konventionen daraus abzuleiten. Unter Berücksichtigung der Pfadabhängigkeit kann in der Folge davon ausgegangen werden, dass dieses umfangreiche Wissen gleichzeitig dazu führt, dass die eigene Entwurfsleistung unterbewusst durch den eigenen, konventionsgeprägten Erfahrungsschatz beeinflusst wird. Insgesamt liegt der Schluss nahe, das der Grad der eigenen Interaktionsexpertise, die in Bezug zum Handlungskontext und der Menge auftretender Handlungskontexte steht, ein wichtiger Bezugsraum der Interaktionswelt darstellt.
6.4
Institutionalisierung
Basierend auf den dargestellten Betrachtungen zur Typisierung und Habitualisierung, kann Institutionalisierung und somit die Bildung von Konventionen als wechselseitige, intersubjektive Typisierung habitualisierter Handlungen verstanden werden. „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure. Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut.“37 Bonß u. a. kommen zu dem Schluss, dass „Habitualisierung und Typisierung von Handlungen [...] die ersten Schritte im Prozess der Herausbildung einer geordneten Wirklichkeit als kontinuierliche menschliche Produktion [sind].“38 Erst die wechselseitige Typisierung erzeuge eine Verlässlichkeit im intersubjektiven Austausch. In Bezug zur MMI stellt die wechselseitige Typisierung habitualisierter Interaktionserfahrungen, also die Institutionalisierung subjektiver Interaktionswelten, die Basis für intuitiv anwendbare Bedien- und Anzeigekonzepte dar. Berger und Luckmann weisen jedoch darauf hin, dass eine solche wechselseitige Typisierung nur dann erfolgen 37 38
Siehe Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 58. Siehe Bonß u. a.: Handlungstheorie: Eine Einführung, S. 185–186.
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kann, wenn es über eine längere Zeit hinweg gesellschaftliche Wissensgefüge gibt, in die die zu typisierenden habitualisierten Tätigkeiten integriert werden können39 . Daraus folgt, dass Habitualisierungen nur dann institutionalisiert werden können, wenn sie an bereits existierende soziale Wissensstrukturen anschlussfähig sind. Das bedeutet, es müssen zuvor bereits Handlungsmuster institutionalisiert worden sein, die in irgendeiner entfernten Art in Bezug zu den neu habitualisierten Handlungen stehen, sodass eine Anschlussfähigkeit sichergestellt ist40 . Dies passt zu einem Vergleich der Interaktion mit Pidgins, den Thomas Erickson 1999 hergestellt hat41 , wonach bei der Bildung einer Behelfssprache zunächst einfache Grundlagen institutionalisiert werden müssen, die so niederkomplex sind, dass sie an rudimentärste Konventionen anschlussfähig sind. Erst in der Folge können komplexere Konstrukte und Strukturen, wie aufwändigere grammatikalische Regeln, Fälle, Zeiten, institutionalisiert werden. Hierzu müssen wahrscheinlich die umgebenden kontextuellen Gegebenheiten weitestgehend konstant bleiben. Die relevanten sozialen Wissensstrukturen werden dabei eingegrenzt, indem sich laut Joachim Fischer (2012) soziale Gruppen formen, innerhalb derer die jeweiligen Wissenskonstrukte Gültigkeit haben. „Menschliche Lebewesen stammen evolutionär -- ontologisch gesehen -- aus vor ihnen entfalteten Ausdrucksverhältnissen im Kosmos, die in ihnen gebrochen sich fortsetzen -- im Design der Dinge, in der Repräsentation, der Rolle, dem Kleid, der Maske; und in diesen menschlichen Lebewesen ist zugleich epistemologisch eine universelle Ausdrucksprojektion aktiviert, die über die Intersubjektivität unter ihresgleichen hinausschießt. Menschliche Gesellschaften kennen also nicht von vornherein klar umrissene Ausdrucks-Verstehens-Verhältnisse, sondern konstituieren sich je erst durch die Festlegung sozialer Grenzen: Was oder wer dazugehört, was oder wer draußen bleibt.“42 Fischer weist mit dieser Aussage nicht nur darauf hin, dass soziale Wissenskonstrukte eine Historizität aufweisen, sondern auch, dass sie ihre Gültigkeit nicht nur an Gruppen binden, sondern gleichzeitig diese Gruppen definieren. Diese Ansicht steht im Einklang mit diversen Betrachtungen Albena Yanevas, Everett Rogers und Gabriel Tardes, in denen sie auf verschiedene Weise verdeutlichen, dass Beobachtung und Nachahmung zur Bildung sozialer Gruppen führen43 . Durch die Wahrnehmung gemeinsamer Ansichten, Handlungsmuster, Werte und weiterer sozialer Wissensentitäten und durch kollektiv verfügbare und abrufbare Ausdrucks-Verstehens-Verhältnisse 39 40 41
42 43
Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 61. Vgl. hierzu auch Rogers: Diffusion of innovations, S. 241ff. Vgl. Thomas Erickson: Interface and Evolution of Pidgins: Creative Design for the Analytically Inclined, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: Addison-Wesley, 1999, S. 11–16. Siehe Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, S. 102. Vgl. Yaneva: Grenzüberschreitung. Das Soziale greifbar machen: Auf dem Weg zu einer AkteurNetzwerk-Theorie des Designs, S. 84 Rogers: Diffusion of innovations, S. 5 und Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 159, 240–241, 255.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
entstehen gesellschaftliche und soziale Gruppen. Sie verfestigen die Imitationsprozesse und beschleunigen die Diffusion von Handlungsmustern und Innovationen. Diese Gruppen stecken den Rahmen sozialer Wissensstrukturen ab, die einen referentiellen Korridor darstellen, der die Anschlussfähigkeit neuer Institutionen bestimmt. Wechselseitig typisierte Habitualisierungen werden nur dann institutionalisiert, wenn sie anschlussfähig an die existierende Wissensstruktur einer solchen sozialen Gruppierung sind. Durch den Anschluss von Institutionen an den sozialen Wissensvorrat einer Gruppierung entsteht eine gemeinsame Geschichte der Wissensentstehung. Durch die intersubjektive Beeinflussung und die Zugrundelegung der Lebenswelt sind Institutionen gleichzeitig durch die eigene Historie – im Sinne der Pfadabhängigkeit – geleitet. „Institutionen setzen weiter Historizität und Kontrolle voraus. Wechselseitige Typisierungen von Handlungen kommen im Laufe einer gemeinsamen Geschichte zustande. Sie können nicht plötzlich entstehen. Institutionen haben immer eine Geschichte, deren Geschöpfe sie sind. Es ist unmöglich, eine Institution ohne den historischen Prozess, die sie hervorgebracht hat, zu begreifen.“44 Die Voraussetzung der Institutionalisierung von Handlungsroutinen ist demnach ein soziales Gefüge mit einer gemeinsamen Wissensstruktur, einer sozialen Lebenswelt. Nachgelagert an die wechselseitige Typisierung habitualisierter Handlungsmuster müssen diese jedoch – wie Hubert Knoblauch 2005 Thomas Luckmanns Positionen zusammenfasst – innerhalb des sozialen Gefüges tradiert und legitimiert werden. „Zu sozialen Institutionen werden gemeinsame Typisierungen und Habitualisierungen letztendlich jedoch erst durch Tradierung und Legitimation [...]. Tradierung ist ein wesentliches Moment in der Verfestigung und Auf-Dauer-Stellung von Deutungs- und Handlungsmustern. Denn erst deren Weitergabe an Dritte -- ihre soziale ‚Vererbung‘ -- löst sie von spezifischen Akteuren ebenso ab, wie von historisch einzigartigen Umständen und überträgt sie -- worauf sich ihre Objektivität schließlich begründet -- auf typische Situationen, in denen typische Handlungserwartungen in sozialen Rollen gebündelt werden. Darüber hinaus muss sozialen Institutionen durch Legitimationen ein höherer Sinn verliehen werden, der ihre ‚rationale‘, pragmatische Relevanz erklärt oder ihre umfassende symbolische Bedeutung hervorhebt und der damit ein intersubjektiv geteiltes ‚Wissen-Um‘ vermittelt.“45 Im Einklang mit dieser Darstellung betrachten Berger und Luckmann 1977 die gesellschaftliche Wissensbildung als „Wechselbeziehung zwischen institutionellen Prozessen und legitimierenden symbolischen Sinnwelten“46 . Laut Hubert Knoblauch finden 44
45 46
Siehe Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 58. Vgl. auch Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, S. 102ff. für Luckmanns Darstellung der Typisierung und Synthese von Erlebnissen innerhalb der Lebenswelt. Siehe Hubert Knoblauch: Thomas Luckmann, in: Dirk Käsler (Hrsg.): Aktuelle Theorien der Soziologie, Bd. 1648 (Beck'sche Reihe), München: Beck, 2005, S. 127–146, S. 132. Siehe Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 198.
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diese institutionellen Prozesse nur in solchen Kontexten statt, in denen verschiedene Akteure eines gemeinsamen sozialen Wissensgefüges regelmäßig vergleichbaren Problemen ausgesetzt sind. „Soziale Institutionen sind die klassische Antwort auf die Frage, wie subjektiver Sinn und individuelles Handeln zu Strukturen gerinnen. Soziale Institutionen bilden sich dort aus, wo verschiedene Akteure regelmäßig einem sich wiederholenden sozialen Problem begegnen und dieses routinemäßig lösen müssen; wo es also typischer Lösungen für ebenso typische gesellschaftliche Handlungsprobleme bedarf. In jedem Falle trifft dies für die Art und Weise zu, in der Menschen zusammen leben, arbeiten und kommunizieren, ebenso aber für Fragen der Ausbreitung, der Stabilisierung und der Begrenzung politischer Macht, und selbstverständlich auch für Erfahrungen mit dem Außeralltäglichen. Die regelmäßige Wiederholung von Deutungsmustern und die ebenso regelmäßige Koordination davon abgeleiteter und sich darauf beziehender Handlungen treibt den Institutionalisierungsprozess voran, entlastet die Akteure von der Aufgabe, stets neue Lösungen und ‚Antworten‘ zu entwickeln und macht sie füreinander in ihrer Wahrnehmung, in ihrem Fühlen, Denken und Handeln zugänglich und damit einschätzbar.“47 Analog zu diesem Verständnis der sozialen Institutionalisierung im Kontext der Lebenswelt, kann die Institutionalisierung von habitualisierten Interaktionsmustern im Kontext der Interaktionswelt betrachtet werden. Demnach entstehen Interaktionskonventionen dort, wo verschiedene Akteure regelmäßig in Interaktion zu einer Maschine treten, um sich wiederholenden Problemen und Aufgaben zu stellen, die sie routinemäßig lösen. Analog zu Knoblauch entstehen Interaktionskonventionen dort, wo es typischer Lösungen für ebenso typische Handlungsprobleme im Kontext der MMI bedarf.
6.5
Objektivierung
Berger, Luckmann und Schütz erfassen die von Knoblauch beschriebene intersubjektive Dekontextualisierung von Institutionen und soziale Vererbung als Objektivierung. Laut Schütz und Luckmann (2003) kennzeichnet dieser Begriff vor allem den Prozess der Wissensübernahme durch Beobachtung und Übertragung und nicht durch eigene Exploration und Erfahrung48 . Wie Berger und Luckmann 1977 formulieren, führt dieser Prozess dazu, dass die nächste Generation von Akteuren der Gesellschaft die bestehenden institutionalisierten Wissenselemente als „äußeres, zwingendes Faktum“ ansehen49 . In diesem Zusammenhang sprechen Schütz und Luckmann von „sozialer Ableitung“. Dies würde bedeuten, dass gängige Interaktionsprinzipien, die die Grund-
47 48 49
Siehe Knoblauch: Thomas Luckmann, S. 131–132. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 360–361. Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 62.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
lage von interaktiven Systemen sind, mit denen digital Natives50 in ihrer Prägephase in Kontakt kommen, von diesen als unumstößlich angesehen werden. Dies würde Beispielsweise den Umstand erklären, weshalb die Ablösung des etablierten QWERTYTastaturlayouts, beziehungsweise des QWERTZ-Tastaturlayouts im deutschsprachigen Raum, durch theoretisch ergonomischere Tastenanordnungen bisher nicht gelang und immer unwahrscheinlicher wird51 . Diese Grundzüge der Objektivierung lassen Rückschlüsse auf die Beschaffenheit eines leicht zu objektivierenden Wissenselementes zu. So liegt es nahe, dass ein Wissenselement eines Subjektes A von einem Subjekt B dann leicht zu adaptieren ist, wenn es gut zu beobachten ist oder A es gut verbalisieren und kommunizieren kann. Nehmen wir als Beispiel eines solchen Wissenselementes eine Handlung – und im Kontext der MMI scheinen Handlungen repräsentative Ausprägungen eines Wissenselementes zu sein – dann liegt es im Bezug zu den bisherigen Darlegungen und angeführten Diskursergebnissen nahe, dass B die Handlung verstehen muss, um sie als Wissenselement abzuspeichern. Es muss nicht verstehen, wie A die Handlung erlernt hat, aber B muss verstehen, zu welchem Zweck die Handlung ausgeübt wird und wie genau sie ausgeübt wird52 . B muss also eine interpretative Lücke zwischen reiner Beobachtung und der verstehenden Vertiefung schließen. Umso besser das subjektive Wissenselement vollständig vermittelt werden kann – durch reine Beobachtung oder explizite Kommunikation – desto geringer ist diese Interpretationslücke. Da, wie zuvor dargelegt, Handlungswissen des MMI-Kontextes häufig als implizites Wissen zu klassifizieren ist, liegt es nahe, dass Wissenselemente der MMI vor allem durch Beobachtung adaptiert werden können und eine Objektivierung dadurch nur erschwert erfolgen kann. Der Objektivierung einer Handlung und ihrer Abhängigkeit zur Beobachtbarkeit bzw. zur Kommunizierbarkeit stellen Schütz und Luckmann die Objektivierung von Handlungsresultaten gegenüber. Dabei unterscheiden die beiden Autoren zwischen beiläufigen Folgen einer Handlung und motiviert erzeugten Folgen, die sie „Erzeugnisse“ nennen. „Bloße Begleiterscheinungen oder ‚Spuren‘ des Handelns können zwar als ‚Objektivierungen‘ subjektiver Vorgänge Wissen an Andere vermitteln, sind aber bei der
50
51 52
Gemeint ist die Nutzergeneration, die bereits im Kindesalter in regelmäßigen Kontakt mit interaktiven Medien und Systemen tritt. Vgl. hierzu Marc Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants, in: On The Horizon 9.5 (2001), url: http://www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital% 20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf ders.: Digital Natives, Digital Immigrants, Part II: Do They Really Think Differently?, in: On The Horizon 9.6 (2001), url: http : / / www . marcprensky . com / writing / Prensky % 20 - %20Digital % 20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part2.pdf Eva Windisch/Niclas Medman: Understanding the digital natives, in: Ericsson Business Review 2008, S. 36–39, url: http://www.ericsson.com/ericsson/corpinfo/publications/ericsson_business_ review/pdf/108/understanding_digital_natives.pdf. Vgl. u.a. Rogers: Diffusion of innovations, S. 8–10, 16 Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 22. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 360ff.
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Interaktionswelten
Vergesellschaftung des Wissens von weit geringerer Bedeutung als motivierte Veränderungen, die wir ‚Erzeugnisse‘ nennen wollen.“53 Aus gestaltungswissenschaftlicher Sicht kann der gestaltungsdiskursive Begriff Artefakt dem Erzeugnisbegriff von Schütz und Luckmann gleichgesetzt werden, da Gestaltung der Prozess einer motivierten Ausprägung eines Objektes ist. Erzeugnisse gewährleisten ein Objektivierungspotential indem durch die Handlung eine Aussage in sie hinein codiert wurde. Dabei scheint es weniger relevant zu sein, ob diese Aussage bewusst oder unterbewusst hinein codiert wurde. Viel mehr Relevanz scheint der Umstand zu haben, ob das Codierungssystem gesellschaftlich genormt ist oder sich an etablierten Systemen anlehnt, also beispielsweise ein bekanntes Zeichensystem verwendet wird bzw. abstrahiert wird, oder während der Decodierung in erheblichem Maße interpretiert werden muss – die Zeichen also stärker durch Annahmen als durch Wissen gedeutet werden54 . Eine Interpretation müsste dabei durch „eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Erfahrungs- und Relevanzstrukturen“ des ErzeugnisSchaffenden und des Beobachtenden bzw. des Verwendenden unterstützt werden55 ; oder noch spezifischer: „Wir können sagen, dass auf allen Ebenen der „Objektivierung“ die Übernahme „objektivierten“ Wissens auf der typischen Ähnlichkeit der subjektiven Relevanzstrukturen beruht, und ferner, dass auf der zeichenhaften Ebene schon die Vermittlung des Wissens auf der Annahme typischer Ähnlichkeit der subjektiven Relevanzstrukturen beruht.“56 Ein Beispiel aus der Interaktionsgestaltung soll diese Überlegungen unterstützen. Geht man davon aus, dass der Interaktionsgestalter ein grafisches Userinterface derart gestalten möchte, dass es selbsterklärend ist, dem Nutzer also vermittelt, welche Aktionen ausgelöst werden können und welche Folgen diese Aktionen haben, so stehen dem Interaktionsgestalter hierzu unterschiedliche Codierungsmöglichkeiten zur Verfügung. Er könnte die Handlungsmöglichkeiten und deren Folgen für den Nutzer textuell, also mit Hilfe eines sprachlichen Zeichensystems, benennen. Er könnte auch ein abstrakteres Zeichensystem wählen, indem er eine eigene Iconfamilie entwirft, die die Handlungen und deren Folge abstrahiert und konzentriert vermittelt. Alternativ könnte er andere Wahrnehmungsparameter – wie Farbe, Form oder Verortung – zur Codierung verwenden. In diesem Falle würde er eine eigene Syntax einführen, die zwar auf der einen Seite weniger komplex sein kann, auf der anderen Seite jedoch zunächst vom Nutzer, während der Nutzung, erlernt werden muss. Die Berücksichtigung wahrnehmungspsychologischer und wahrnehmungstheoretischer Phänomene, sowie grafischer Variablen kann diese Interpretationslücke jedoch verringern57 . 53 54 55 56 57
Siehe Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 369. Vgl. ebd., S. 271--272. Vgl. ebd., 375ff. Siehe ebd., S. 388. Vgl. Abraham Antoine Moles/Hans Ronge: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung (DuMont Dokumente), Köln: DuMont Schauberg, 1971 und Jacques Bertin/William J. Berg: Semiology of graphics: Diagrams, networks, maps, Redlands und Calif: ESRI Press, 2011.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
Fasst man diese Überlegungen zusammen, erschließen sich grundsätzliche Arten, wie subjektive Handlungsmuster, die sich für einen Nutzer bewährt haben, an einen anderen Nutzer weitergegeben werden können und was in Summe zur Objektivierung dieses Handlungsmusters führen kann. Zum einen, indem ein Nutzer einem anderen während der Nutzung oder zumindest im Nutzungszusammenhang das Handlungsmuster vermittelt. Dies kann entweder durch Vorführung, Beschreibung oder Erklärung erfolgen. Zum anderen kann die Vermittlung unabhängig vom Nutzungskontext erfolgen. In diesem Fall muss der Wissende – also der Nutzer, der das Handlungsmuster bereits erprobt und angenommen hat – die Intention haben, dieses an andere zu vermitteln, in dem er beispielsweise eine Anleitung schreibt, Fachliteratur publiziert oder als Gestalter Handlungsofferten in ein Artefakt hinein codiert. Schütz und Luckmann weisen in Bezug auf die codierte Vermittlung von Wissenselementen darauf hin, dass jeder Übertrag eines Wissenselementes in ein Zeichensystem, also sowohl die Codierung als auch die Decodierung, zu einer Verfälschung führen kann58 . Demnach würde die Vermittlung eines Handlungsmusters durch Vorführung innerhalb des Handlungskontextes theoretisch die unmittelbarste Objektivierung ermöglichen59 . Laut Schütz und Luckmann ist die Objektivierung subjektiven Wissens aber nur der erste Schritt der Überführung eines Wissenselementes in den gesellschaftlichen Wissensvorrat. Hierzu müsse das Wissen zwar zunächst „intersubjektiv relevant“60 sein, die Reine, das einzelne Individuum übersteigende Relevanz, sei aber nur eine Grundvoraussetzung zur Übernahme in einen gesellschaftlichen Wissensvorrat. Während die Autoren die Relevanz quantitativer Faktoren – also zum Beispiel die Menge der objektivierten Wissenselemente oder die Menge der Subjekte, die ein Element teilen – nicht leugnen, stellen sie gleichzeitig dar, dass absolute quantitative Faktoren dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht werden61 . Vielmehr fügen sie an, dass Wissenselemente eines gesellschaftlichen Wissensvorrates subjektübersteigende Relevanz aufweisen müssen, also eine gesamtgesellschaftliche, oder treffender rollenspezifische Relevanz haben müssen62 . „Denn in historischen Gesellschaften ist die Vermittlung sozial relevanten Wissens von subjektiven Relevanzstrukturen [...] immer schon weitgehend abgelöst und bildet eine in der Sozialstruktur fest verankerte Selbstverständlichkeit. Was sozial relevant ist, für wen es relevant und an wen und wie es zu vermitteln ist, gehört zum Bestand ‚sozialisierter‘ Interpretations- und Motivationsrelevanzen.“63 Diese Charakterisierung gesellschaftlichen Wissensvorrats wirft die Frage auf, ob Interaktionskonventionen über den reinen Zustand objektivierter Wissenselemente mit 58 59
60 61 62 63
Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 382. Ein Umstand auf den Rogers im Zusammenhang der Diffusion einer Innovation hinweist, indem seine Studien belegen, dass der persönliche Kontakt zwischen zwei Akteuren innerhalb des Diffusionsprozesses, durch den der Eine dem Anderen seine persönlichen Erfahrungen kommuniziert, am effektivsten für die Diffusion einer Innovation ist. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 18–19. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 388. Vgl. ebd., S. 390ff. Vgl. ebd., S. 393ff. Siehe ebd., S. 395.
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intersubjektiver Relevanz hinausgehen und umfassendere Relevanz für einzelne gesellschaftliche Rollen erlangen können. Die Darstellung der unterschiedlichen Erörterungen von Berger, Luckmann und Schütz stehen im Einklang mit linguistischen Theorien des Sprachausbaus in ihrer Sprachform reduzierter Behelfssprachen zu Kreolsprachen. Erickson beschreibt diesen Prozess des Sprachausbaus, um in der Folge Rückschlüsse auf die Entstehung eines Sprachsystems der MMI zu ziehen64 . Als Grundlage hierzu identifiziert er eine Strukturgleichheit zwischen primitiven Behelfssprachen – „pidgins“ – ,die beispielsweise zum Zweck des Handels zwischen Gruppen mit unterschiedlicher Muttersprache und Kultur entstanden sind, und der Interaktion mit frühen Macintosh-Systemen65 . Demnach entstanden pidgins beispielsweise im späten 17. Jahrhundert, um mit fremden Kulturen Seehandel zu betreiben. Aus dem Bestreben, einfache Handelsabkommen zu schließen, haben sich so Sprachsysteme mit rudimentärer Grammatik, geringem Vokabelumfang und ohne Zeiten, innerhalb kurzer Zeitspannen entwickelt66 . Diese Charakteristik schreibt Erickson ebenfalls dem Interaktionssystem des frühen Macintoshs zu. „The Macintosh interface also has the limited vocabulary characteristics of pidgins, and is extended by using simple pointing and dragging gestures. Finally, like a pidgin, the Macintosh interface has distinct limitations in its communicative power -- you can get your basic tasks done, but that´s about it.“67 Betrachtet man diese von Erickson beschriebene limitierte Kraft des Macintoshs mit heutigen Computersystemen, kann man eine deutliche Weiterentwicklung feststellen. So konnte der Macintosh laut Erickson in seinen Anfängen keine Befehle zeitgesteuert, zu einem späteren Zeitpunkt ausführen – „most of its commands take effect here and now“68 . Heute können nicht nur Expertennutzer bestimmen, wann ein System einen automatischen Virentest ausführt, Softwareupdates installiert, den Nutzer an Termine erinnert, oder zu welchem vergangenen Zustand eine Datei zurückversetzt werden soll. Diese Funktionen, die laut Erickson über den Grundumfang einer einfachen Interaktionssprache hinausgehen, sind in heutigen Systemen mit überschaubarem Aufwand und teilweise geringem Vorwissen ausführbar. Dies lässt zum einen darauf schließen, dass die Anforderungen der Nutzer mit steigender Erfahrung über primitive Tätigkeiten hinausgehen, als auch, dass sich das Kommunikationssystem der MMI weiterentwickelt hat und nun komplexere Interaktionsabläufe unterstützt. Geht man davon aus, dass Ericksons Grundanalogie stimmt, könnte daraus abgeleitet werden, dass die Interaktion mit einem vollkommen neuen interaktiven System von einfachen Interaktionsregeln mit geringer Komplexität und daraus folgendem geringem Funktionsumfang begünstigt wird. Die Bildung eines solchen pidgin of interaction
64 65 66 67 68
Vgl. Erickson: Interface and Evolution of Pidgins: Creative Design for the Analytically Inclined. Erickson nennt die Designmethodik, die auf Strukturgleichheit und den daraus folgenden Analogien beruht design by symmetrie. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 12–13. Siehe ebd., S. 13. Siehe ebd., S. 13.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
würde sich für ein stark unkonventionelles innovatives interaktives System bzw. ein interaktives System in einem unkonventionellen Kontext anbieten. Bill Buxton verbindet 1999 mit der Aneignung einer Interaktionssprache die Entwicklung der Nutzungskompetenz eines Anwenders: „Even ‚natural‘ languages are learned. Anyone who has tried to learn a foreign language (a language that is ‚natural‘ to others) knows this. We are considered a native speaker if and when we have developed fluency in the language by the time we are required to draw upon those language skills. If we orient our discussion around computers, the same rules apply. A language could be considered ‚natural‘ if, upon approaching the computer, the typical user already has language skills adequate for expressing desired concepts in a rich, succinct, fluent, and articulate manner.“69 Digital Natives stellen die Generationen dar, für die die sichere Verwendung der etablierten Interaktionssystematiken selbstverständlich ist. Sie können als digitale Muttersprachler angesehen werden, welche die gängigen institutionalisierten Wissenselemente der MMI sozial geerbt haben. Bei der Betrachtung ihrer hohen Interaktionskompetenz stellt sich jedoch die Frage, was die große Kompetenz dieser Nutzergeneration ausmacht: die umfangreiche Kenntnis bestehender Systematiken und die sichere Verwendung, oder die Fähigkeit respektlos und ohne Angst oder Scheu neuen Systemzuständen und Funktionsanordnungen gegenüber zu treten, diese zu explorieren, schnell neue Erfahrungen zu sammeln und diese Erfahrungen in neue oder gegebenenfalls die bestehenden Systematiken abzubilden. Die Frage ist also, was wiegt bei digitalen Muttersprachlern stärker, der Verlust der Angst, die laut Howard Rheingold70 ein erheblicher Faktor beim Erstkontakt zwischen interaktivem System und neuem Nutzer ist, oder die umfangreiche Kenntnis des Interaction-Pidgin – bzw. der daraus entstehenden Kreole – durch den frühen Kontakt mit diesen. Vielleicht ist es auch die Kombination aus beidem – ein Zustand in dem beide Aspekte einander bedingen würden. Renate Möller folgert 1990 in diesem Zusammenhang71 : „Das Faktum, in eine technologisch hochentwickelte Gesellschaft hineingeboren zu werden, entbindet das Individuum von der Last, den technischen und technologischen Stand der Gesellschaft kognitiv aufarbeiten zu müssen, um diese Phänomene interpretieren zu können. Der Prozess der Habitualisierung des Umgangs mit diesen Geräten erfolgt bereits in früher Kindheit und macht die heranwachsenden Gesellschaftsmitglieder mit Maschinen vertraut, obgleich sie nichts oder nur sehr wenig über die diesen Maschinen zugrunde liegenden technisch-physikalischen Interna wissen. So werden in der kindlichen Sozialisation Deutungen
69
70 71
Siehe Bill Buxton: The "Natural" Language of Interaction: A Perspective on Nonverbal Dialogues, in: Brenda Laurel (Hrsg.): The art of human-computer interface design, Reading und Mass: AddisonWesley, 1999, S. 405–416, S. 408. Vgl. Rheingold: An interview with Don Norman, S. 10. Siehe Renate Möller: Der Weg zum "User": Probleme von EDV-Novizen bei der Aneignung des Phänomens Computer, in: Werner Rammert (Hrsg.): Computerwelten - Alltagswelten, Bd. 7 (Mensch und Technik), Opladen: Westdt. Verl, 1990, S. 144–161, S. 158–159.
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Interaktionswelten
hochkomplexer Zusammenhänge übermittelt, die es dem Individuum ermöglichen, auch in Bereichen, die es intellektuell nicht erschließen kann, kompetent zu agieren.“ Erickson hat betrachtet, unter welchen Umständen sich pidgins zu komplexeren Sprachsystemen, creoles, weiterentwickelt haben. Im Sinne des design by symmetrie Ansatzes hat er versucht, diese Umstände auf das Interaktionssystem des Macintoshs zu übertragen72 , bevor digitale Muttersprachler in Erscheinung getreten sind. Grundvoraussetzungen für den Übergang einer Pidginsprache zur Kreolsprache seien demnach73 : 1. „lack of a fully-developed common language“ 2. „lack of dominant, ‚full featured‘ language that could become a common language“ 3. „cultural pressures for a more complex communicative system“
Erickson sah diese drei Kriterien für die MMI erfüllt. Für ihn war zum Zeitpunkt seiner Niederschrift, 1990, kein De-facto-Standard in der MMI erkennbar, also weder eine Muttersprache der Interaktion, noch ein dominanter Ansatz; wohl aber das Verlangen der Anwender nach einem Solchen. Betrachtet man die starke Zunahme der MMI in der breiten gesellschaftlichen Masse in den letzten 35 Jahren, erscheint es wahrscheinlich, dass sich in diversen Kontexten De-facto-Standards herausgebildet haben oder gegenwärtig herausbilden.74 Daraus ließe sich die Theorie ableiten, dass die Erweiterung einfacher Interaktionssysteme in Bezug auf ihren Sprachumfang und ihre Komplexität gekoppelt ist, an die Diffusion dieser Wissensstrukturen – also der Vergrößerung der sozialen Gruppe, die diese Wissensstrukturen, das Interaktionssystem, teilt. Wie für den Übergang von Pidginsprachen zu Kreolsprachen würde dies jedoch voraussetzen, dass die Nutzung des ursprünglichen Sprachsystems über einen längeren Zeitraum Relevanz hat und konstant erfolgt, sodass eine Anschlussfähigkeit neu-typisierter Wissenselemente besteht. Für interaktive Systeme bedeutet dies, dass das interaktive System mit 72 73 74
Vgl. Erickson: Interface and Evolution of Pidgins: Creative Design for the Analytically Inclined, S. 13–15. Siehe ebd., S. 14. An dieser Stelle sei auf die diversen regulatorischen Vorgaben zur Gestaltung von Nutzeroberflächen hingewiesen, die beispielsweise Google, Apple oder Microsoft für die Umsetzungen von Anwendungen in ihren Ökosystemen vorgeben. Vgl. Google LLC/Open Handset Alliance: Android Documentation: Design & Quality, 2018, url: https://developer.android.com/design/ Apple Inc.: iPhone Human Interface Guidelines - User Experience ders.: Human Interface Guidelines: macOS, 2018, url: https : / / developer . apple . com / macos / human-interface-guidelines/overview/themes/ ders.: Human Interface Guidelines: iOS, 2018, url: https : / / developer . apple . com / ios / human interface-guidelines/overview/themes/ Microsoft Corporation: User Experience Interaction Guidelines for Windows 7 and Windows Vista, 6.01.2010 ders.: Windows desktop applications Design Guidelines, 2018, url: https://msdn.microsoft.com/ en - us / library / windows / desktop / dn688964(v = vs . 85 ) .aspx und ders.: User Interface Principles, 2018, url: https://msdn.microsoft.com/en-us/library/windows/desktop/ff728831(v=vs.85).aspx.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
der neuartigen, primitiven Interaktionssystematik über eine längere Zeit hinweg verwendet wird, bzw. gegebenenfalls mehrere Versionen interaktiver Systeme dieselbe Interaktionssystematik verwenden. Erickson formulierte bereits vor der umfangreichen Diffusion interaktiver Systeme und einer etwaigen Etablierung von De-facto-Standards der MMI zwei primäre Wege der Sprachentwicklung einer Pidgin-Interaktionssystematik zur KreolInteraktionssystematik, die die abgeleitete Theorie bestärken. Erstens hielt er eine solche Entwicklung durch Erweiterung des Wortschatzes – also durch Erweiterung des Funktions- und Interaktionsumfangs des Systems – für möglich; zweitens durch die Verallgemeinerung des bisherigen Vokabulars – also durch die Erweiterung der Interaktionssystematik auf neue Kontexte75 . Die dargelegte Theorie stellt dar, dass beide Wege parallel bzw. eng miteinander verbunden vollzogen werden. Die Übertragung, also die Diffusion, einer Interaktionssystematik profitiert aufbauend auf Rogers und Tarde vom Überschreiten einer kritischen Masse. Ist eine Interaktionssystematik – als Menge institutionalisierter Interaktionsmuster – sowohl quantitativ, als auch qualitativ, in Form der richtigen Verbreitung an relevanten Schlüsselpositionen eines kommunikativen Netzwerkes, ausreichend verbreitet, nimmt die Diffusionsgeschwindigkeit und -Intensität zu76 . Die Entscheidung, ob ein Akteur einer sozialen Gruppe, ein Wissenselement adaptiert, ist basierend auf Rogers Diffusionstheorie, vom Grad des gestifteten Nutzens abhängig, also dem relativen und subjektiven Vorteil, den der Akteur durch die Übernahme des Wissenselementes erhält. Daraus schließt sich, dass – sofern ein erster ausreichender Nutzen durch die Verwendung der Interaktionssystematik gestiftet wurde – diese Systematik erweitert wird, damit der von ihr erzeugte Nutzen noch größer wird. Dies würde einer Aufwands-Nutzen-Optimierung entsprechen, sofern man davon ausgeht, dass jede Umstellung auf eine neue Systematik einen größeren Aufwand für den Anwender darstellt, als die Erweiterung der bekannten Systematik. Eben diese Verbindung aus bestehender Verbreitung, Diffusionsintensität, subjektivem Nutzen und dem Bestreben, diesen unter Beachtung einer Kosten-Nutzen-Maxime zu vergrößern, würde die Kopplung aus Diffusion und Weiterentwicklung einer Interaktionssystematik bestätigen.
6.6
Zwischenfazit zur Bildung von Interaktionskonventionen
Wie dargestellt ist der Weg vom ersten Gebrauch bis hin zur Bildung von Handlungsroutinen geprägt vom Wechselspiel der subjektiven und intersubjektiven Lebenswelt. Interaktionskonventionen basieren auf Handlungsversuchen und der Wahrnehmung, Analyse und Reflexion dieser Handlungen, wobei der Handlungsversuch eine Auswahl aus einer Menge von Handlungsoptionen darstellt, die auf den eigenen Vorerfahrungen oder der Beobachtung anderer Akteure basiert. Die häufige Anwendung dieser Best
75 76
Vgl. Erickson: Interface and Evolution of Pidgins: Creative Design for the Analytically Inclined, S. 15. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 15–19, 35 Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 40ff.
157
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Interaktionswelten
Practices führt zu einer Routine, die die schnellere Ausübung der Handlung bei gleichzeitiger Abnahme des kognitiven Aufwandes ermöglicht. Die sich fortschreitenden Erfahrungen sedimentieren in die subjektive Lebenswelt, die ihrerseits Schnittpunkte zum kollektivierten Erfahrungsraum der intersubjektiven Lebenswelt aufweist. Die sedimentierten Erfahrungen werden zu Erwartungen abgeleitet und auf die umgebende Lebenswelt projiziert, indem das eigene und fremde Handeln intersubjektiv typisiert wird. Die Verbreitung einer habitualisierten Handlungsroutine eines Akteurs innerhalb einer sozialen Gruppe erfolgt durch ebendiese wechselseitige intersubjektive Typisierung, sowie der darauf aufbauenden Tradierung und Legitimation. Kongruieren die subjektiven Erwartungen in der Folge in ausreichendem Maße mit den Erwartungen anderer Akteure der gemeinsamen Lebenswelt, kann von Interaktionskonventionen gesprochen werden, die folglich dem kollektivierten intersubjektiven und interaktionsbezogenen Erfahrungsgefüge einer Gesellschaft entsprechen. Im speziellen Fall der MMI spielen sich diese Prozesse in den lebensweltlichen Regionen der subjektiven bzw. intersubjektiven Interaktionswelt ab. Die letztlich resultierenden Konventionen sind Interaktionskonventionen, die implizites Handlungswissen abbilden. In der Praxis werden diese Interaktionserfahrungen und -Fähigkeiten – nach Hörning 2012 – durch Handlung und Gebrauch erlangt und durch sozialen Austausch kollektiviert. „Dabei erwerben wir über den Gebrauch der neuen Geräte nicht nur neue Geschicklichkeiten und Erfahrungen, sondern gelangen gleichzeitig in Interaktion und Kommunikation mit unseren Mitpraktikern zu veränderten Vorstellungen und Urteilen, was wir von den Dingen zu halten haben, wie auch zu neuen kulturellen Kompetenzen, wie wir sie am besten in unser Leben einpassen.“77 Dabei wird, wie Bosch 2012 treffend formuliert, „das Subjekt gleichermaßen ‚objektiviert‘ wie Kultur ‚subjektiviert‘“78 . Dabei kann sowohl von einer Konventionalisierung individueller Lebenswelten zu einer kollektiven Kulturwelt, als auch von einer Subjektivierung kollektiver Konventionen und Kulturmerkmale und die Abbildung dieser in materialisierten Repräsentanzen, sowie nutzbaren und erfahrbaren Artefakten gesprochen werden. Nachdem ein solches Artefakt – im Sinne eines gestalteten, mit Informationen aufgeladenen Objektes – von einer konventionsprägenden Masse im Konsens als funktional und problemlösend beurteilt wurde, folgt eine Phase in der dieses Artefakt und alle damit verbundenen Konzepte immer wieder angewendet, zitiert und kopiert wird. Es wird zum Leitbild oder Paradigma79 . Die häufige Kopie des Artefaktes führt zu einer verstärkten Auseinandersetzung von Menschen mit diesem Objekt und den
77 78 79
Siehe Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, S. 35. Siehe Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 57. Vgl. Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies?, S. 4.
6 Zur Bildung von Interaktionskonventionen basierend auf Luckmann, Berger und Schütz
zugrundeliegenden Konzepten. Im Falle interaktiver Systeme führt dies zu einer häufigen Konfrontation von Nutzern mit den verwendeten Interaktionskonzepten. Die stärkere Konfrontation mit den häufig auftretenden Interaktionskonzepten führt unter Umständen zum routinierteren Umgang der Nutzer mit diesen. An dieser Schwelle könnte die Konventionsbildung verortet werden. Sie wäre demnach begünstigt von dem Wechselspiel, dass das nun häufig verwendete Paradigma zwar seine rege Anwendung der ursprünglichen Nutzbarkeit verdankt, in der Folge aber – aufgrund der nun häufigen Verbreitung – auch dann als nutzbar angesehen wird, wenn es eigentlich zu unrecht eingesetzt wurde und den ursprünglichen Sinn verfehlt. Es besteht demnach eine beidseitige Verbindung aus Nutzbarkeit eines Interaktionskonzeptes und seiner Verbreitung, die im späteren Verlauf im Zuge der Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen auf Innovationen80 eingehender untersucht werden soll. Im Zuge dieser späteren Auseinandersetzung sollen die bisher dargestellten Betrachtungen um eine konstruktivistische Auslegung und eine damit verbundene Entlehnung zentraler Begriffe der Evolutionstheorie erweitert werden. In dieser Perspektive könnten Interaktionskonventionen als Produkt evolutionärer, ungerichteter sozialer Konstruktions- und Institutionalisierungsprozesse verstanden werden, die aus Etablierung einer Ansicht oder eines Verhaltens, aus stillschweigendem oder explizitem Konsens resultieren und den Entstehungsprozess neuer Konzepte ebenso beeinflusst, wie in der Folge die Bildung neuer Interaktionskonventionen.
80
Vgl. Kapitel 7.
159
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
Basierend auf den Darstellungen zu Konventionen und Innovationen scheinen Interaktionskonventionen auf zwei Wegen Einfluss auf eine Innovation auszuüben. Erstens, indem sie bereits zum Zeitpunkt und im Kontext der Entstehung, Entwicklung, Organisation und Gestaltung einer MMI-Innovation wirken und diesen Prozess beeinflussen. Zweitens, indem sie bei der Bewertung und Anwendung einer Innovation einen Erfahrungsraum repräsentieren, vor dem die Innovation bestehen muss1 . Das neuartige Anzeige- und Bedienkonzept muss anschlussfähig an die bestehenden Interaktionskonventionen sein und dennoch in der Perspektive des Anwenders die Kriterien einer Innovation erfüllen. Die Wirkung von Interaktionskonventionen im Kontext der Diffusion und Anwendung einer Innovationen sollen im Detail im Zuge der Erläuterungen im Kapitel 8 betrachtet werden. Vor allem im Kontext der Gestaltung, in der besonderes Augenmerk auf die spätere Anwendung, deren Umstände und die daraus resultierenden Anforderungen gelegt wird, scheinen Interaktionskonventionen im Entstehungskontext mannigfaltig zu wirken. Eine theoretische Wirkung von Interaktionskonventionen auf den Gestaltungsprozess innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte stellt die bereits eingeführte und dargestellte konventionsgeprägte Interaktionswelt des Gestalters dar. Diese beeinflusst den Gestaltungsprozess und als solches auch den Innovationsprozess und sein Ergebnis, indem sie implizit in die Entstehung und Bewertung von Entwürfen und Konzepten hineinwirkt. In diesem Zusammenhang soll betrachtet werden, inwiefern die Wirkungsweise von Interaktionskonventionen mit Hilfe des Modells der Pfadabhängigkeit beschrieben werden kann. Hierzu scheint eine erste Feststellung essentiell zu sein, nämlich die, das – insbesondere – Interaktionsgestalter immer auch Nutzer sind, also immer über eine eigene Interaktionswelt und mannigfaltige
1
Bereits Thomas Jaspersen unterscheidet (1985) bei der Produktwahrnehmung zwischen den Perspektiven der Nutzer und der Erzeuger. Vgl. Jaspersen: Produktwahrnehmung und stilistischer Wandel, S. 2 und Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 17--18.
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Interaktionswelten
Interaktions- und Nutzungserfahrungen im Zusammenhang mit interaktiven technischen Systemen verfügen. Interaktionsgestaltung gehört zu den Teildisziplinen der Gestaltung bei denen eine grundsätzliche Erfahrung des Gestalters mit der zu gestaltenden Materie vorausgesetzt werden kann. Im Zeitalter der Digitalisierung und der steigenden Präsenz interaktiver Systeme – als Stichwort seien hier die bereits länger etablierten Technikleitbilder Ubiquitous Computing, Tangible Interfaces, Internet der Dinge und Smart Home genannt, deren Grundgedanken heute bereits realisiert und in etablierten Produkten abgebildet wurden2 – stellen diese nicht nur den Gegenstand der Gestaltung, sondern darüber hinaus ein Gestaltungswerkzeug dar. Es muss somit davon ausgegangen werden, dass Gestalter über eine eigene Interaktionswelt verfügen, die gespeist ist durch eigene Interaktionserfahrungen mit unterschiedlichen interaktiven Artefakten und Systemen. Eine weitere Wirkungsdimension von Interaktionskonventionen auf die Entstehung von Innovationen stellt die Interaktionswelt der Nutzer dar, die im Zuge der Gestaltung analysiert, erörtert und im Kontext der Interaktionsgestaltung durch unterschiedliche Methoden mehr oder minder präzise ermittelt werden kann. Eben diese äußere Betrachtung der Interaktionskonventionen der späteren Nutzer, beziehungsweise dessen was zum Zeitpunkt der Gestaltung als späterer Nutzer3 erwartet wird, ermöglicht es erst, Bedürfnisse und Möglichkeiten abzuleiten, um reine funktionale Anforderungen für Anwender bedienbar umzusetzen. Diesem Wirkungsgefüge aus Pfadabhängigkeit und Konventionen als Gegenstand der gestalterischen Analyse soll sich ausführlich in den nun folgenden Abschnitten gewidmet werden. Hierzu soll ein theoretisches Modell der Beeinflussung des Gestaltungsprozesses durch die Interaktionswelt des Gestalters und durch die Interaktionswelten der Nutzer skizziert werden. Auch wenn der Gestalter keine Nutzungserfahrungen besitzt, die im direkten Zusammenhang mit dem zu gestaltenden System und dessen Kontext stehen und sich somit selbst nicht als Teil der potentiellen Nutzergruppe sieht, versucht er dennoch im Zuge des Gestaltungsprozesses bewusst oder unterbewusst Querverbindungen zwischen seinem Erfahrungsraum und dem Gestaltungszusammenhang herzustellen. Denn, wie bereits im Abschnitt 4.4 dargestellt, 2
3
Vgl. Ben Challis: Tactile Interaction, in: Mads Soegaard/Rikke Friis Dam (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed, Aarhus und Denmark: The Interaction Design Foundation, 2013, url: https://www.interaction-design.org/encyclopedia/tactile_interaction.html Wolfgang Coy: Auf dem Weg zum "Finalen Interface". Ein medienhistorischer Essay, in: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcriptVerl, 2008, S. 309–321, S. 316 Steve Mann: Wearable Computing, in: Mads Soegaard/Rikke Friis Dam (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, Aarhus und Denmark 2013, url: https://www.interaction-design. org/encyclopedia/wearable_computing.html Ingrid Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, in: Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 199–233, S. 222--225. Der Begriff Nutzer wird hier im Sinne einer losen Menge von Individuen verwendet, die gemeinsame Eigenschaften aufweisen, die zum Zeitpunkt der Entstehung, Entwicklung, Organisation und Gestaltung eines interaktiven Systems und der darin verwendeten Bedien- und Anzeigekonzepte eine spätere Nutzung dieser in Aussicht stellen.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
findet der Innovationsprozess und äquivalent dazu der Gestaltungsprozess „keinesfalls in einem luftleeren wertfreien Raum“4 statt. Dies führt zur Abhängigkeit von Inventionen, Innovationen, ihrer Diffusionsprozesse, sowie dem Gestaltungsprozess, seiner Entwürfe, Varianten und Ergebnisse zu vorherigen, bereits bekannten Entitäten gleicher Kategorie. Diese Abhängigkeit besteht auch dann, wenn den Akteuren der Entstehungsprozess ihrer Idee sowie deren Beziehung und Abhängigkeit zu eigenen Erfahrungen und bereits bekannten Entitäten nicht bewusst ist. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die eigene subjektspezifische Interaktionswelt den Gestalter bei Entwurfstätigkeiten und Entwurfsbewertungen beeinflusst5 ; dass zur Bewertung einzelner Gestaltungsvarianten auch eigene Erfahrungen verwendet werden und somit die Interaktionswelt das finale Ergebnis der Gestaltung maßgeblich beeinflusst. Der Gestaltungsprozess muss daher als intersubjektiv geprägter Prozess verstanden werden, auch wenn durch entsprechende Methoden und reflexive Phasen versucht wird, diesen Prozess und vor allem seine Ergebnisse zu objektivieren. Wie Claudia Mareis 2011 formuliert, „stellen die gestalterischen Praktiken und Kompetenzen, [...] eben keine ‚neutralen‘ Methoden und kein ‚neutrales‘ Wissen dar, sondern sind über ihre subjektive Empfindung hinaus als kollektive, sozial geprägte und habitualisierte, diskursiv und historisch formierte ‚Gebilde‘ zu verstehen“6 . Die Lebenswelt und insbesondere die Interaktionswelt jedes am (Interaktions-) Gestaltungsprozess beteiligten Akteurs kann somit als spezifische Wertungs- und Akzentuierungsperspektive verstanden werden, die zugleich hilfestellende Vorlage und flankierende Einschränkung bei Gestaltungsvorhaben ist. Sie entscheidet, was zielführend zu sein scheint und was als undurchführbar und irrelevant bewertet und in der Folge verworfen wird7 . Vorerfahrungen stellen somit Nährboden aber auch Barrieren für Prozesse dar, deren Ziel es ist, neuartige Konzepte und Artefakte zu erzeugen. Im Sinne von Dreyfus/Dreyfus/ Athanasiou (1986) kann davon ausgegangen werden, dass „selbst kreative Handlungen und Einsichten, die auf den ersten Blick ‚neu‘, ‚unkonventionell‘ und ‚unerwartet‘ [scheinen], [...] auf Erfahrungen vergangener Situationen zurückzuführen [sind]“8 . Auch Martin Heidenreich betont 2006 diesen ambivalenten Charakter des Vorwissens, zugleich Potential als auch Blockade zu sein: „Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage nach dem zwiespältigen Verhältnis von Erfahrungswissen und Innovation: Zum einen können vergangene Erfahrungen neue Lernprozesse blockieren; zum anderen impliziert der Erfahrungsbegriff immer auch die Möglichkeit, bisherige Wissensbestände angesichts neuer 4
5 6 7 8
Siehe Bredies: Design und Wissenschafts- und Technicksoziologie. Wie beeinflussen Wissenschafts- und Technikstudien das Design, und wie werden sie vom Design beeinflusst?, S. 151. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 44. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 273. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 44. Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 161--162, mit Bezug zu Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 40.
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Interaktionswelten
Herausforderungen auf veränderte Weise zu nutzen. Erfahrungen legen keinesfalls die zukünftigen Denk- und Verhaltensweisen fest, sondern können prinzipiell jederzeit kreativ reinterpretiert werden.“9 Implizites Wissen spielt somit nicht nur – wie bereits dargestellt10 – im Innovationsund Interaktionsprozess eine gewichtige Rolle, sondern ebenfalls im Gestaltungsprozess. Somit muss davon ausgegangen werden, dass die Interaktionswelt eines Gestalters11 und die darin manifestierten Handlungserfahrungen – also Interaktionserfahrungen – implizit in den Gestaltungsprozess einfließen. Sie sind Teil des impliziten Wissens, auf das der Gestalter zurückgreift, um Methoden, gestalterische Denkmuster und Best Practices zielführend anzuwenden. Dem impliziten und subjektspezifischen Interaktionswissen scheint dabei vor allem die Rolle der Selektion zuschreibbar. Im Sinne Alfred Schütz´ und Thomas Luckmanns12 (2003) ist es Projektionsfläche und Widerstand zugleich und stellt einen Rahmen dar, aus dem heraus neue Ideen und Konzepte entstehen und vor dem diese im iterativen Gestaltungsprozess bestehen müssen13 . Die Frage ist somit, in welchen Zusammenhängen und Prozessen Vorwissen und die jeweilige subjektspezifische Interaktionswelt, die gestaltenden Akteure im Prozess der Konzeption und Entwicklung eines Bedien- und Anzeigekonzeptes beeinflusst, blockiert oder beflügelt. Hierzu soll in der Folge betrachtet werden, wie implizites Vorwissen zu Pfadabhängigkeit führen kann und in welcher Form es zu explizitem Wissen überführt werden kann, um im Gestaltungsprozess überprüfbar genutzt werden zu können. Neben dem impliziten Wissen eines Gestalters und der subjektspezifischen Interaktionswelt scheint ebenfalls der subjektspezifische Habitus eine prägende Rolle bei der Gestaltung zu spielen14 . Da sich jedoch in den vorliegenden Betrachtung auf die Wirkung von Interaktionskonventionen fokussiert werden soll, soll der beeinflussende Habitus des Gestalters an dieser Stelle vernachlässigt werden.
9 10
11
12 13
14
Siehe Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 185. Vgl. 4.3. Vgl. auch Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 40 oder Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 249, 270. In der Folge soll Gestalter im Zuge der Betrachtungen zur Wirkung von Interaktionskonventionen im Entwicklungskontext von Innovationen synonym für Akteure verwendet werden, die im weitesten Sinne im Entwicklungsprozess gestalterisch tätig sind. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 44. Vgl. zur Rolle impliziten Wissens auf die Gestaltung auch Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 270 und Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin, S. 24. Für weitere Bezüge zum Habitus aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 206, 267–269, 273 Bonß u. a.: Handlungstheorie: Eine Einführung, S. 237--247 Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 184 ff.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
7.1
Theorieüberführung der Pfadabhängigkeit als Wirkungsprinzip von Konventionen auf Innovationen
Wie Rainer Frietsch 2011 zusammenfassend skizziert, stammt das Konzept der Pfadabhängigkeit „insbesondere aus der evolutorischen Innovationsökonomie [...]. Danach entstehen Innovationen nicht vor einem leeren Hintergrund. Sie finden nicht – oder nur bedingt – zufällig statt, sondern sind im Allgemeinen das Ergebnis von Forschungsarbeit, die jedoch auf den Erfahrungen und dem bisherigen Wissen der Beteiligten aufbaut.“15 Entscheidend bei der Pfadabhängigkeit sind positive Rückkopplungseffekte, die dazu führen, dass nicht immer die effizienteste, innovativste oder beste Lösung die Oberhand behält. Paul Allan David arbeitet 1985 als Beispiel für ein Konzept aus dem Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion, das durch positive Rückkopplungseffekte etabliert wurde und zum De-Facto-Standard wurde, die QWERTY Tastatur heraus.16 Dieses Tastaturlayout hatte zunächst einen technischen Vorteil gegenüber alternativen Tastaturanordnungen, da im QWERTY Layout alle Buchstaben so verteilt sind, dass sich die Typenhebel häufig nacheinander zu tippender Buchstaben auf ihrem Weg zum Papier bzw. vom Papier hinweg, nicht treffen. Das QWERTY Layout ermöglicht somit grundsätzlich und konstruktionsbedingt einen schnelleren Tipprhythmus. Gleichzeitig führt dieses Layout jedoch auch dazu, dass die Finger beim Tippen der Buchstaben weitere Wege von einem Buchstaben zum nächstfolgenden Buchstaben zurück legen müssen. Andere Tastatur-Layouts optimierten hingegen die Wege, die die Finger zurück legen müssen, und waren daher nachvollziehbarer sortiert und schneller erlernbar. Die Typenhebel kollidierten jedoch häufig, sodass das Layout zwar einfach anzuwenden und zu erlernen war, jedoch nur begrenzt effizient war. Das QWERTY Layout hingegen kann so erlernt werden, dass die Finger routinierter die Wege zurück legen können. Die Effizienz ist daher nicht bereites konstruktiv limitiert und kann durch Übung gesteigert werden. Wie David beschreibt, kauften Büroleiter Schreibmaschinen, mit denen die meisten Büroangestellten umgehen konnten. Wohingegen die meisten Büroangestellten für die Schreibmaschinen ausgebildet wurden, die am meisten verbreitet waren17 . Somit erlernten die meisten Büroangestellten das schnelle Mitschreiben und Tippen mit dem QWERTY Tastaturlayout. Die an dieses Layout trainierten Büroangestellten konnten ihr Motorik und ihre routinierten Handlungsabläufe nur mit entsprechendem Aufwand an andere Tastenlayouts anpassen. Ein Aufwand, der bei einer Kosten-Nutzen-Analyse im Rahmen einer Maschinenneuanschaffung ins Gewicht fiel. Schreibmaschinenhersteller, die ein abweichendes Tastenlayout verwendeten und um Gewinnoptimierung und höhere Marktanteile bemüht waren, sahen in der Adaption des erfolgreichsten Layouts eine Anpassung der eigenen Produkte an die Bedürfnisse
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Siehe Frietsch: Qualifikation und Innovation, S. 15. Vgl. Paul A. David: Clio and the Economics of QWERTY, in: The American Economic Review 75.2 (1985), S. 332–337 Vgl. ebd. und Douglas Puffert: Pfadabhängigkeit in der Wirtschaftsgeschichte. Beitrag zum Handbuch der Wirtschaftsgeschichte, in: Carsten Herrmann-Pillath/Marco Lehmann-Waffenschmidt (Hrsg.): Handbuch zur Evolutorischen Ökonomik, Bd. 3, Berlin: Springer, 2009, S. 1ff.
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Interaktionswelten
der Nutzer und somit auch der Kunden. Auf diese Weise beeinflusste die positive Rückkopplung sowohl Hersteller, Kaufentscheider, als auch Nutzer gleichermaßen. In der Folge wurde eben dieses Tastenlayout für Computer und insbesondere Personal Computer adaptiert. Hierbei wirkte ebenfalls eine Pfadabhängigkeit, indem sich bei der Anordnung der Tasten einer Computer Tastatur an den Fähigkeiten und den Vorkenntnissen der potentiellen Anwender orientiert wurde. Obwohl ein Computer zur Erstellung eines Textes keine Typenhebel mehr benötigt besaß das QWERTY Layout durch seine Etabliertheit genügend Vorteile, um sich gegenüber alternativen Tastenanordnung durchzusetzen. Die Pfadabhängigkeit soll in der Folge, im Sinne Davids als „dynamische Eigenschaft eines Allokationsverfahrens“ verstanden werden, die „unabhängig davon [ist], ob das dabei herauskommende Ergebnis effizient ist oder nicht.“18 Im Kontext des Gestaltungsprozesses interaktiver Systeme kann der Kreislauf der gegenseitigen Beeinflussung von subjektspezifischen Interaktionswelten und Interaktionskonzepten basierend auf positiven Rückkopplungen wie folgt skizziert werden: Im Rahmen des iterativen Gestaltungsprozesses erzeugen gestaltende Akteure eine unbestimmte Menge von Entwürfen und Varianten, die eine konkrete Aufgabe bzw. ein konkretes Bedürfnis oder Problem adressieren. Bereits bei dieser Erzeugung von Varianten greifen die gestaltenden Akteure auf das ihnen eigene subjektspezifische – implizite wie explizite – Vorwissen zurück. Die Kreativität die Teil dieses Schrittes ist, wird durch bestehende Artefakte und Konzepte und die Erfahrungen mit diesen gespeist. Im Zuge der folgenden Iterationsschleifen gibt es verschiedene Evaluations- und Bewertungsmöglichkeiten. Zum einen – und diese Weise kann als die am stärksten in die gestalterische Praxis integrierte angesehen werden – bewerten die gestaltenden Akteure unmittelbar die erzeugten Entwürfe und Varianten. Hierbei stellen sie diese in Bezug zu den ihnen bekannten zielbezogenen Anforderungen aber auch in Bezug zur eigenen Interaktionswelt. Was dieser Interaktionswelt entspricht erscheint bedienbar und anwendbar. In Kombination mit den Zielen und zu erfüllenden, funktionalen Anforderungen des zu gestaltenden Systems ergibt sich auf diese Weise ebenfalls eine Aufgabenangemessenheit. Durch den Vergleich der unterschiedlichen Varianten unter den Gesichtspunkten Anwendbarkeit und Aufgabenangemessenheit können so Rückschlüsse auf die weiteren Iterationsschritte bzw. gestalterischen Weiterentwicklungen und Konkretisierungen gezogen werden. Zum anderen kann die Bewertung der verschiedenen Varianten und Entwürfe für Interaktionskonzepte durch eine Probandengruppe erfolgen. Hierzu muss im Zuge des Gestaltungsprozesses eine funktional bedienbare Umsetzung der Entwürfe und Konzepte erstellt werden. Diese Prototypen können vor dem Hintergrund der Interaktionswelt der einzelnen Probanden auf Anwendbarkeit hin überprüft werden. In diesem Falle gilt also, je stärker eine Gestaltungsvariante den Vorerfahrungen der Probanden entsprechen, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese als anwendbar und bedienbar wahrgenommen wird19 .
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19
Siehe Puffert: Pfadabhängigkeit in der Wirtschaftsgeschichte. Beitrag zum Handbuch der Wirtschaftsgeschichte, S. 1ff. Vgl. auch David: Clio and the Economics of QWERTY Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 98. Vgl. hierzu 2.5.1 und 2.5.3.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
Vor dem Hintergrund eines Gestaltungsprojektes gilt, je repräsentativer die Probandengruppe für die tatsächliche spätere Nutzergruppe ist, desto aussagekräftiger sind diese Testergebnisse für die Bedienbarkeit und somit die Qualität der Gestaltungsvarianten und die Tauglichkeit für das gegenständliche Projekt und dessen Aufgaben, Problemstellungen und Ziele. Die Folge der Evaluationsschleifen und Konkretisierungen im Zuge des Gestaltungsprozesses ist ein finales Interaktionskonzept. Dieses muss sich am Markt beweisen, sofern es zu einem Produkt gekoppelt diffundieren konnte20 . Wurde das finale Interaktionskonzept zum anwendbaren Artefakt und zum funktionierenden Produkt – in dem Sinne das es Absatz findet, erworben wird und in einem spezifischen Kontext angewendet wird –, führt die Verwendung dieses Produktes durch Nutzer zum Erleben des Interaktionskonzeptes. Die daraus resultierenden Nutzungserfahrungen erweitern die subjektspezifische Interaktionswelt der Nutzer. Sind Nutzer gleichzeitig gestaltende Akteure, liegt es nahe, dass die Erweiterung der subjektspezifischen Interaktionswelt einhergeht mit der Erweiterung des impliziten Gestaltungswissens.
7.2
Die Interaktionswelt als Quelle und Referenz der Gestaltung
Gestaltung ist nicht nur auf Entwürfe und Artefakte fokussiert, sondern im selben Maße auf die Menschen, die diese Konzepte anwenden und verwenden sollen. An dieser Stelle soll mit Bezug zu und in Anlehnung an Carsten Mohs u. a. (2006) zwischen anwenden und verwenden unterschieden werden, wie es die Autoren für die Begriffe vorhanden und zuhanden vorschlagen. Anwenden steht somit für eine bewusstseinspflichtige Bedienung eines interaktiven Systems, wohingegen verwenden eine selbstverständlichere intuitivere Handlung ist, in der das interaktive Systeme zum Instrument wird, mit dem ein konkretes Ziel verfolgt wird; wobei das interaktive Systems selbst einer geringeren Aufmerksamkeit des Nutzers bedarf21 . Im Zuge des User Centered Design22 werden die Bedürfnisse, Motivationen, Ziele und Fähigkeiten der späteren
20 21 22
Auf diesen Aspekt wird ausführlich unter 8 eingegangen. Vgl. hierzu Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 131. Vgl. zum User Centered Design, der User Experience und weiteren Qualitäten benutzbarer Anzeigeund Bedienkonzepte Bredies: Design und Wissenschafts- und Technicksoziologie. Wie beeinflussen Wissenschafts- und Technikstudien das Design, und wie werden sie vom Design beeinflusst? Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte Jonathan Grudin: The computer reaches out: the historical continuity of interface design, in: Jane Carrasco Chew (Hrsg.): Empowering people, Bd. 1990 (Human factors in computing systems), Reading, MA: Addison-Wesley, 1992, S. 261–268, url: http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download? doi=10.1.1.128.6801&rep=rep1&type=pdf Marc Hassenzahl: User Experience and Experience Design, in: Mads Soegaard/Rikke Friis Dam (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, Aarhus und Denmark 2013, url: https: //www.interaction-design.org/encyclopedia/user_experience_and_experience_design.html Holtzblatt/Beyer: Contextual Design Johnson: Interface Culture: Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces
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Interaktionswelten
Nutzer als zentraler Bestandteil der Gestaltung verstanden und mittels unterschiedlicher Methoden im Gestaltungsprozess analysiert. Bredies formuliert dies im Jahr 2010 wie folgt: „Gerade für Designer ist mittlerweile zentral, wie sie das ‚Skript‘ eines Gegenstandes besser auf die Benutzer abstimmen können. Benutzerzentriertes Design und Mensch-Maschine-Ergonomie sind Beispiele für den Versuch, möglichst viel vorhandenes Wissen beim Benutzer anzusprechen und den Dingen die Arbeit zuzuweisen, die sie zuverlässiger und präziser durchführen können.“23 Dabei reichen die Methoden von weichen Methoden, bei denen der Gestalter auf Basis seiner subjektspezifischen Erfahrung zu einem gewissen Grad fiktive Nutzeranforderungen und -Eigenschaften herleitet, bis hin zu statistischen Methoden, bei denen große Datenmengen zu Nutzungsprofilen abstrahiert und ausgewertet werden. Ein Beispiel für eine solche Methode stellen Personas dar. Hierbei werden in Form kurzer fokussierter Steckbriefe repräsentative Nutzereigenschaften zu markanten Personen oder Profilen kombiniert, die die Zieldefinition, Anforderungsanalyse und Kommunikation innerhalb des Gestaltungsprozesses vereinfachen sollen24 . Auf diese Weise sollen die Bedürfnisse und Anforderungen der intendierten Nutzer in den Fokus der Gestaltung und rein technische Gesichtspunkte in den Hintergrund gerückt werden25 . Karen Holtzblatt und Hugh Beyer bezeichnen diesen Gestaltungsprozess als Contextual Design, in dessen Ablauf Ergebnisse frühzeitig prototypisch realisiert und getestet werden. „Contextual Design is a structured, well–defined user–centered design process that provides methods to collect data about users in the field, interpret and consolidate that data in a structured way, use the data to create and prototype product and service concepts, and iteratively test and refine those concepts with users. This is the core of the Contextual Design philosophy -- understand users in order to find out their fundamental intents, desires, and drivers. But these are invisible to the users -- so the only way to glean them is to go out in the field and talk with people.“26
23
24
25 26
Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI. Siehe Bredies: Design und Wissenschafts- und Technicksoziologie. Wie beeinflussen Wissenschafts- und Technikstudien das Design, und wie werden sie vom Design beeinflusst?, S. 152. Vgl. Holtzblatt/Beyer: Contextual Design Lene Nielsen: Personas, in: The Interaction Design Foundation (Hrsg.): The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed, Bd. 1, The Interaction Design Foundation, 2015, url: https: //www.interaction-design.org/encyclopedia/personas.html Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 74--75, 81ff. Stickdorn/Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, S. 178ff. oder Unger/ Chandler: A project guide to UX design: For user experience designers in the field or in the making, S. 112ff. Vgl. Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 227. Siehe Holtzblatt/Beyer: Contextual Design.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
Diese Fokussierung auf die intendierten Nutzer birgt jedoch einige Herausforderungen. Zum einen stellen sowohl die rein fiktiven, als auch rein statistischen Methoden – und alle Mischformen – stets eine Verwässerung der tatsächlichen Nutzer und ihrer Interaktionswelten dar. Die weichen Methoden mit teils fiktiven Ergebnissen bergen die Gefahr, dass der Gestalter seine ihm eigenen Vorerfahrungen auf die Nutzer projiziert und dadurch an der Realität vorbei gestaltet. Bereits die Identifikation bzw. Definition der intendierten Nutzer, der Menge also die aus Sicht eines gestaltenden Akteurs das spätere interaktive System nutzen werden, kann erheblich von der tatsächlichen späteren Nutzergruppe und ihrer Ziele und Eigenschaften abweichen. Das weitere Herausarbeiten einzelner markanter Nutzereigenschaften, basierend auf diesen ersten, teils wagen Annahmen, wie es beispielsweise bei Personas üblich ist, suggeriert eine Präzision und Zuverlässigkeit, die eigentlich nicht gegeben ist. Auch die Ableitung von statistischen Messdaten, Nutzungsdaten und Nutzerbefragungen können erstens nur erhoben und befragt werden, wenn es bereits Referenzsysteme gibt, die überarbeitet oder ersetzt werden sollen; und stellen zweitens eine Abstraktion von Einzelfällen dar. Konkrete Anforderungen können durch diese Abstraktion verwässert werden. Eigentlich scharf trennbare Nutzergruppen können gegebenenfalls zu einer universalen Nutzermasse reduziert werden. Zum anderen besteht immer – egal wie repräsentativ und zutreffend die Vorstellung der intendierten Nutzers ist – eine Kluft zwischen subjektspezifischer Interaktionswelt des Gestalters und Interaktionswelt der tatsächlichen späteren Nutzer27 . Trotz der Verwendung von emphatischen Gestaltungs- und Kreativmethoden bleibt die grundsätzliche Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Interaktionswelten bestehen. Sie führt dazu, dass die Qualität und Bedienbarkeit gestalteter Bedien- und Anzeigekonzepte immer erst im Rahmen der Nutzung überprüft werden kann. Das bedeutet, die Qualität eines interaktiven Systems zeigt sich immer erst im Kontext und zum Zeitpunkt seiner realen Nutzung28 . Evaluationen, Prototypen und frühe, repräsentative Nutzertestes können maximal eine Vorschau und grobe Tendenz vermitteln. Somit liegt die Schlussfolgerung nahe, dass durch die Berücksichtigung allgemeiner Konventionen bei der Gestaltung interaktiver Systeme gleichzeitig auch sehr subjektspezifische Interaktionswelten und die darin enthaltenen Nutzungserfahrungen einzelner Individuen angesprochen werden können. Dadurch könnte die ungenaue Kenntnis der tatsächlichen späteren Nutzer des zu gestaltenden Artefaktes kompensiert werden. Dies erhöht in der Theorie die Wahrscheinlichkeit einer intuitiven Nutzbarkeit29 und verringert gleichzeitig die theoretische Innovativität. Womit das Grunddilemma erfasst wäre, dass Konventionalität, Innovativität und Benutzerfreundlichkeit in einem komplexen Bezug zueinander stehen, die sich in Pfadabhängigkeiten und – wie 27 28 29
Vgl. Jaspersen: Produktwahrnehmung und stilistischer Wandel, S. 28. Vgl. Oberquelle: Benutzergerechte MCI in einer dynamischen Welt - Eine Gestaltungsaufgabe, S. 157. Vgl. zum Begriff der Intuitivität Kapitel 2.5.1 sowie Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 130 ff. und Carsten Mohs u. a.: IUUI Intuitive Use of User Interfaces: Auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Basis für das Schlagwort 'Intuitivität', in: MMI Interaktiv - Aufmerksamkeit und Situationawareness beim Autofahren 1.11 (2006), S. 75–84.
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Interaktionswelten
es Michael Friedewald 2008 formuliert – Aneignungszumutungen30 niederschlagen und durch die Gestaltung durchdrungen werden müssen. Mit Aneignungszumutung ist in diesem Zusammenhang die Tendenz der Nutzer gemeint, die zunehmende Quantität von Nutzungserfahrungen im Umgang mit einem interaktiven System mit dessen Qualität zu verwechseln. Die Gewöhnung an ein gegebenenfalls schlechtes Bedienund Anzeigekonzept kann zu einer Vertrautheit führen, die in der Folge mit Benutzerfreundlichkeit verwechselt wird. Zur Durchdringung dieser komplexen Relation von Innovativität, Konventionalität und Benutzerfreundlichkeit bzw. intuitiver Nutzbarkeit muss es das Ziel der Gestalter sein, nicht nur die funktionalen und emotionalen Anforderungen unterschiedlicher Nutzer zu erfassen, sondern auch ihre Vorverständnisse und Handlungserfahrungen. Hierzu scheint es nach Howard Rheingold (1999) notwendig, im Sinne der Systemgestaltung, das zu gestaltende Artefakt immer in Bezug – Funktionsbezug oder sonstigen Bezug – zu anderen Bestandteilen eines größeren Zusammenhangs zu betrachten31 . Dabei besteht nicht nur der Doppelhorizont zwischen Offenheit der Problemdefinition und Offenheit der Lösungsdefinition32 , sondern ebenfalls die Diskrepanz zwischen abweichenden Anforderungen aller Stakeholder – wie tatsächlicher Nutzer, intendierter Nutzer, Gestalter, Programmierer, Ingenieure, Marketing, Lieferanten – sowie den unterschiedlichen Interaktionswelten der tatsächlichen Nutzer, der Gestalter und der intendierten Nutzer, als Projektion der Gestalter auf die tatsächlichen Nutzer. Die zentrale Herausforderungen kann als Problem der Anschlussfähigkeit bezeichnet werden.33 Entscheidend für die Anschlussfähigkeit ist dabei die Identifikation und Fokussierung auf einen gemeinsamen Kontext. Wie Horst Oberquelle 2008 markant formuliert, sind interaktive Systeme „nur in dem Maße erfolgreich, wie sie sich im Nutzungskontext bewähren.“34 Der Nutzungskontext bestimmt dabei, welches implizite Wissen von den Nutzern verwendet wird, um mit dem System zu interagieren35 . Umso klarer ein System einen Handlungskontext und das damit assoziierte Handlungswissen adressiert, desto geringer ist die kognitive Last, die der Nutzer aufbringen muss, um das System zu bedienen und desto intuitiver und bedienbarer erscheint das Anzeigeund Bedienkonzept36 . Der Nutzungskontext umfasst dabei mehr, als nur die reine Beziehung zwischen Handlungsziel, Handlungsumgebung und Handlung. Er umfasst
30 31 32 33 34 35 36
Vgl. Friedewald: Ubiquitous Computing: Ein neues Konzept der Mensch-Computer-Interaktion und seine Folgen, S. 259. Vgl. Rheingold: An interview with Don Norman, S. 6. Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 173--174; Mit Bezug zu Jonas, Wolfgang: Design-System-Theorie. 1994. Vgl. ebd. Siehe Oberquelle: Benutzergerechte MCI in einer dynamischen Welt - Eine Gestaltungsaufgabe, S. 157. Vgl. u.a. Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 184. Vgl. Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 130 ff. und Mohs u. a.: IUUI Intuitive Use of User Interfaces: Auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Basis für das Schlagwort 'Intuitivität'.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
den gesamten Raum in dem der Nutzer Erfahrungen sammelt, verarbeitet und im Gesamtgefüge seiner Wissensstrukturen integriert37 . Dabei ist weniger relevant, welchem Nutzungszusammenhang und Nutzungskontext die Gestalter das interaktive System zuordnen. Entscheidend ist, welchem Nutzungszusammenhang der Anwender bei der Interaktion mit einem System herstellt und welchen Erwartungshorizont er daraus ableitet38 . Wie Ingrid Rügge 2008 und Claudia Mareis 2011 herausstellen, bedeutet diese Abhängigkeit von einem Bewertungs- und Nutzungskontext, dass sich der gesamte Gestaltungsprozess in diesem kontextuellen Gefüge befindet und Betrachtungen und Methoden kontextsensitiv gewählt und angepasst werden müssen39 . Holtzblatt/Beyer empfehlen einige Modelle, die bei der Identifikation des Gesamtkontextes helfen sollen40 : •
•
•
•
•
„Das Fluss-Modell erfasst die Kommunikation und Koordination zwischen Menschen, die betrieben werden, um eine spezifische Aufgabe auszuführen. Es identifiziert die formalen und informellen Strukturen und Kommunikationsmuster, die essentiell zur Erfüllung der Aufgabe sind. Das Modell zeigt, wie die Tätigkeit in formale und informelle Rollen und Verantwortlichkeiten aufgeteilt ist.“ „Das Kulturelle Modell erfasst die Kultur und Richtlinien, die einschränken, wie eine Arbeit ausgeführt wird. Es verdeutlicht, wie Akteure eingeschränkt werden und wie sie diese Einschränkungen umgehen, um zu gewährleisten, dass die Arbeit erledigt wird.“ „Das Sequenz-Modell zeigt die detaillierten Schritte, die ausgeführt werden, um jede Aufgabe, die wichtig für die Arbeit ist, durchzuführen. Es zeigt die verschiedenen Strategien der Akteure, ihre Intentionen und Ziele, die sie mit den Teilschritten verfolgen, und die Probleme, die sie dabei bewältigen müssen.“ „Das Physische Modell zeigt die physische Umgebung der Akteure und wie sie die Arbeit unterstützt oder behindert. Es zeigt wie die Akteure ihre Umgebung organisieren, um die eigene Arbeit einfacher zu gestalten.“ „Das Artefakt-Modell zeigt die Artefakte, die erzeugt und verwendet werden, um die Arbeit zu erledigen. Artefakte decken auf, wie die Akteure über ihre Arbeit denken -- welche Konzepte sie nutzen und wie sie diese organisieren, um die Arbeit zu erledigen.“
Die Methoden und theoretischen Betrachtungsmodelle müssen so gewählt und interpretiert werden, dass sie die Anschlussfähigkeit der Gestaltungsergebnisse an rea37 38
39
40
Vgl. dazu Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 308. Vgl. hierzu die Betrachtungen zur Web Usability von Nielsen/Loranger: Web Usability, in denen die Autoren herausarbeiten, dass der Nutzer -- implizit -- entscheidet welche Zusammenhänge er herstellt, um eine Website zu erfassen und zu bewerten. Vgl. Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 231 und Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 77. Siehe Holtzblatt/Beyer: Contextual Design.
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Interaktionswelten
le Nutzungszusammenhänge innerhalb unterschiedlicher Nutzungskontexte ermöglichen. Hierzu muss sichergestellt sein, dass die Kluft zwischen der Projektion der subjektspezifischen Interaktionswelt des Gestalters auf den intendierten Nutzer und der Interaktionswelt des realen Nutzers so gering wie möglich ausfällt. Hierbei geht es auch darum, das Phänomen der Reflexivität 41 durch Beobachtungen, Messdaten und gesicherte Informationen zu stützen und die Gestaltungsergebnisse dadurch so belastbar zu machen, wie möglich.
7.3
Leitbilder und Paradigmen – methodische Ansätze zur Einflussnahme auf den Entstehungskontext von Innovationen
Basierend auf den Betrachtungen des impliziten Charakters des im Gestaltungsakt abgerufenen Erfahrungswissens und der Tendenz zur Pfadabhängigkeit, soll in der Folge erörtert werden, inwiefern und unter welchen theoretischen Gesichtspunkten dieses Erfahrungswissen bewusst für den Gestaltungsprozess genutzt werden kann. Dabei soll zunächst von folgender Grundannahme ausgegangen werden: Intersubjektiver Konsens kann sowohl darüber herrschen, wie ein interaktives System in einem spezifischen Kontext funktioniert, als auch darüber, wie sich zukünftige interaktive Systeme eines solchen Kontextes verhalten sollen. Interaktionskonventionen können somit einen gegenwärtigen, oder einen zukünftigen Zeithorizont aufweisen. Besonders die zukunftszugewandten intersubjektiven Interaktionskonventionen können im Gestaltungsprozess genutzt werden, um gezielt innovative Interaktionskonzepte zu erzeugen. In unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskursen wird in diesem Zusammenhang der Begriff des Leitbilds geprägt, wobei dieser sowohl implizite als auch explizite Vorverständnisse meinen kann42 . Wie Hans Dieter Hellige 1996 betont, weicht jedoch das genaue Verständnis des Leitbildbegriffs meist in unterschiedlichen Diskursen voneinander ab und reicht von diffusen „Perspektivbündeln“, über „komplexere Metaphern“ bis hin zu „Ideallösungen“ und „Zukunftsvisionen“43 .
41
42
43
In Anlehnung an Schmidt: Sprache oder die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, S. 41. Sie beschreibt in diesem Zusammenhang das Verhalten von Gestaltern während des Entwicklungsprozesses, sowie von Nutzern während der Anwendung, die jeweils aufgrund ihrer Erfahrungen mit anderen sozialen und technischen Akteuren Erwartungen ableiten, wie sich ein solcher Akteur in einer vorliegenden Situation verhalten wird und ihre eigenen Handlungen an diese Erwartungen anpassen. Der Gestalter glaubt, dass der intendierte Nutzer diese und jene Eingaben durchführen kann, will und wird, da es der Gestalter selber -- basierend auf dem ihm zur Verfügung stehenden Wissen -- tun würde, wenn er das interaktive System vor sich hätte. Der tatsächliche Nutzer glaubt, dass er diese und jene Aktion mit dem interaktiven System machen kann, weil sich bisher bekannte interaktive System auch so verhalten haben; weil sie auch so gestaltet wurden. Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 58, 60 Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 220. Vgl. Hans Dieter Hellige: Technikleitbilder als Analyse-, Bewertungs- und Steuerungsinstrumente: Eine Bestandsaufnahme aus informatik- und computerhistorischer Sicht, in: Ders. (Hrsg.): Technikleitbilder auf dem Prüfstand, Berlin: Ed. Sigma, 1996, S. 13–36, url: http : / / www . artec . uni bremen.de/team/hellige/Hellige-Technikleitbilder.pdf, S. 16.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
Wie Hellige weiter ausführt variieren diese Bedeutungen „sowohl im Zeithorizont, im Realitätsgehalt und in der Wirkungsmacht“44 . Des Weiteren wird in der entsprechenden Literatur der Leitbildbegriff häufig in Kombination mit dem Begriff des Paradigmas verwendet. Entgegen der diffusen Verwendung des Leitbildbegriffs kann der Paradigmenbegriff im allgemeinen, sowie im stark technikbezogenen Kontext klarer erfasst werden; wie folgende Versuche von Ingrid Rügge (2008), Birgit Blättel-Mink (2006) und Peter Mambrey, Michael Paetau und August Tepper (1995) zeigen: „Mit Leitbildern sind hier die Annahmen von EntwicklerInnen gemeint, wie ein zu modellierender Arbeitsprozess abläuft, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln und welche mentalen Modelle die zukünftigen BenutzerInnen haben, aber auch die Vorgehensweise bei der Entwicklung von Technik. Aus diesen Leitbildern entstehen Paradigmen, das sind technologieorientierte Vorgaben, wie Anforderungen aus einem bestimmten Bereich zu modellieren sind. Mobile Lösungen werden vor dem Hintergrund vorhandener Konzepte gestaltet bzw. werden an ihnen gemessen[. . .].“45 Technologische Paradigmen sind „Muster zur Lösung bestimmter technoökonomischer Probleme. [...] Sie definieren die technischen Möglichkeiten für weitere Innovationen und grundlegende Vorgehensweisen, diese Möglichkeiten zu verwerten.“46 „Paradigmen sind nach Th. Kuhn die langfristigen Orientierungsmuster der Wissenschaft wie das mechanistische Weltbild, die eigentlich nicht in Frage gestellt werden, sondern von der von Thomas Kuhn so bezeichneten ‚normalen‘ Wissenschaft für lange Zeit immer wieder verwendet und bewiesen werden.“47 Hellige stellte jedoch die Zweckmäßigkeit und Tauglichkeit eines stark technikbezogenen Paradigmenbegriffs in Frage: „Der Leitbildbegriff hat gegenüber dem Kuhnschen Paradigmen-Begriff den Vorteil, daß er keine temporäre Gültigkeit beansprucht, sondern immer in Konkurrenz zu Alternativen oder Gegenleitbildern steht. [. . .] Der Kuhnsche Paradigmen-Begriff taugt für technische Lösungsmuster nur schlecht, weil in der Technik unterschiedliche Paradigmen nebeneinander bestehen können und Hybridlösungen an der Tagesordnung sind. [. . .] Den Paradigmenbegriff sollte man in der Technik daher allgemein akzeptierten und erprobten Regelsystemen vorbehalten (Zill 1996, S. 99 f.), d. h. grundlegenden, aber nicht notwendigen Einstellungs- und Deutungsmustern, die einer Vielzahl von Leitbildern zugrunde liegen oder Problemhorizon-
44 45 46 47
Siehe ebd. Siehe Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 220. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 97. Siehe Mambrey/Paetau/Tepper: Technikentwicklung durch Leitbilder: Neue Steuerungs- und Bewertungsinstrumente, S. 30.
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Interaktionswelten
te längerfristig bestimmen, z. B. tayloristische Grundorientierungen (s. u. Klotz und Hamacher) oder Ansätze der technischen Kommunikation (Rammert 1992).“48 Vor dem Hintergrund der Konzeption und Gestaltung von Bedien- und Anzeigekonzepten interaktiver Systeme, soll der Leitbildbegriff in der Folge losgelöst von einem reinen Technikbezug betrachtet werden. Vielmehr soll dieser Begriff in dem Sinne verwendet werden, dass interaktive Artefakte nach expliziten und impliziten Leitbildern gestaltet werden. Sie bilden explizite oder implizite gegenwärtige Vorverständnisse aller am Gestaltungsprozess beteiligten Akteure ab. Im Sinne Meinolf Dierkes und Lutz Marz (1994) sind Leitbilder „in diesem Verständnis dann alle ‚dominanten Eigenschaften‘, die die Wahrnehmung, das Denken, die Entscheidungen und das Verhalten von Individuen und Gruppen sowie die Kooperation und Kommunikation von Unternehmen und Organisationen leiten“49 . Dabei scheint es zunächst irrelevant zu sein, ob innerhalb des Gefüges aller beteiligten Akteure ein intersubjektiver Konsens über die gegenwärtigen Vorverständnisse besteht. Leitbilder können demnach implizit wie explizit, subjektspezifisch wie intersubjektiv sein. Aus Perspektive der Technikgenese stellen Leitbilder aber nur einen Einflussfaktor dar, der eine grobe Richtung bei der Bildung von alternativen Produkten und Artefakten bevorzugen kann. Damit wird nur die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich eine Ausprägung der favorisierten, also dem Leitbild entsprechenden, Entwurfsrichtung am Markt in der Form behauptet, dass sie gänzlich abweichende Produkte vollkommen verdrängt. Sprich Leitbilder sind kein Mittel der strikten Steuerung der Technikgenese und zur Steuerung der Entwicklung interaktiver Systeme in eine ganz bestimmte Richtung, sondern sind nur ein Instrument zur diffusen Orientierung oder tendenziellen Beeinflussung50 . Auf den konkreten Fall der Gestaltung eines interaktiven Systems und seines Interaktionskonzeptes – also des Bedien- und Anzeigekonzeptes – stellen Leitbilder also die Möglichkeit dar, eine Tendenz im Gestaltungsprozess vorzugeben und können als weitere Dimension zur Bewertung von Varianten angesehen werden. Des Weiteren dient, wie Hellige betont, der Leitbildbegriff vor allem dazu, im Nachhinein Einflussfaktoren für bestimmte Entwicklungspfade der Produkt- und
48
49
50
Siehe Hellige: Technikleitbilder als Analyse-, Bewertungs- und Steuerungsinstrumente: Eine Bestandsaufnahme aus informatik- und computerhistorischer Sicht, S. 22--23. Hellige verweist an dieser Stelle auf Zill (1996), Leitbild und Modell. Anmerkungen zur inhaltlichen Überlastung eines zentralen technischen Begriffes, in: H.-P. Böhm, H. Gebauer, B. Irrgang, Nachhaltigkeit als Leitbild der Technikgestaltung, Dettelbach, S. 95--106; und Rammert (1992), From mechanical engineering to information engineering: Phenomenology and social roots of an emerging type of technology, in: M. Dierkes, U. Hoffmann (Hrsg.), New Technology at the Outset, Frankfurt/M, New York, S. 193--205. Siehe. ebd., S. 18--19. Vgl. zur Wirkung und Funktion von Leitbildern im Technikgenese- und Entwurfsprozess auch Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 114, 115 Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 162--167 Meinolf Dierkes/Ute Hoffmann/Lutz Marz: Leitbild und Technik: Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen, edition sigma, 1992. Vgl. zu den Parametern und Eigenschaften der Technikgenese und die darin wirkenden Steuerungsmechanismen Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 162--167.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
Technikentwicklung zu identifizieren. Im Technikgenesediskurs steht das Leitbild als ex-post Analysewerkzeug im Fokus, nicht als ex-ante Gestaltungswerkzeug. „Leitbildansätze sollten daher in erster Linie als wichtiger Bestandteil der Hermeneutik von Technikgeneseprozessen verstanden werden, statt sie als Instrumente der Technikgestaltung und -steuerung zu überfordern“.51 Somit weisen sowohl Werner Rammert 1993 als auch Hans Dieter Hellige 1996 darauf hin, dass Leitbilder primär zur Analyse dienen und diese vor allem in der Retrospektive erfolgt. Selbst wenn sie den Gestaltungsprozess prägen sollen, sind sie laut Rammert nur als grobe Richtungsvorgabe geeignet und nicht als konkretes Steuerungsinstrument. Aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive scheint der Leitbildbegriff jedoch einen reflektiven Aspekt im Gestaltungsprozess zu ermöglichen. Nämlich die Identifikation und Verdeutlichung der, im Gefüge der am Gestaltungsakteure vorhandenen, dominanten Vorverständnisse, die das jeweilige Handeln implizit oder explizit beeinflussen. So sieht Hellige die Funktion einer Berücksichtigung von Leitbildern ex-ante darin, fixe Denkmuster und strikte Gedankenbahnen zu öffnen und so potentiell neue Lösungswege zu ermöglichen. „Die Aufgabe einer entwicklungsbegleitenden Leitbildforschung reduziert sich so am Ende darauf, Problemlösungshorizonte durch die Aufdeckung von Vorverständnissen und Fixierungen zu öffnen, den Interessenbezug von Leitbildern aufzuzeigen und dadurch auf die Notwendigkeit des Aushandelns von Leitbildern hinzuweisen. Die Analyse impliziter Leitbilder ist dabei vielleicht wichtiger als die Aufstellung und Propagierung neuer expliziter Leitbilder.“52 Basierend auf diesen Darstellung können zwei Rückschlüsse auf die Gestaltung von innovativen Bedien- und Anzeigekonzepten unter Berücksichtigung von Konventionen und Vorverständnissen gezogen werden. Erstens, dass die Identifikation von impliziten Leitbildern im Gestaltungsprozess helfen kann, Pfadabhängigkeiten zu identifizieren. Eine solche Analyse von impliziten Leitbildern der im Gestaltungsprozess involvierten Akteure würde eine Priorisierung dieser Vorstellungen, Werte und Ziele ermöglichen, wodurch eine Konzentration auf die realen Anforderungen der Anwender begünstigt werden kann, um die Aufgabenangemessenheit und Anwendbarkeit des Zielsystems zu vergrößern. Zweitens, dass die Formulierung von expliziten Leitbildern darüber hinaus helfen kann, die Innovativitität von zu gestaltenden Interaktionskonzepten zu fördern, indem eine gemeinsame Vorstellung des zukünftigen Konzeptes erzeugt wird, die die Kommunikation und Bewertung von Entwurfsvarianten im Zuge des Gestaltungsprozesses unterstützt. Die Formulierung solcher Leitbilder in Form von Abstraktionen, Metaphern, Analogien, Visualisierungen53 und Werten ermöglicht 51
52 53
Siehe Hellige: Technikleitbilder als Analyse-, Bewertungs- und Steuerungsinstrumente: Eine Bestandsaufnahme aus informatik- und computerhistorischer Sicht, S. 30. Vgl hierzu auch ders.: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 17. Siehe ders.: Technikleitbilder als Analyse-, Bewertungs- und Steuerungsinstrumente: Eine Bestandsaufnahme aus informatik- und computerhistorischer Sicht, S. 30. Was beispielsweise mit Moodboards realisiert werden kann.
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es von bestehenden mentalen Modellen abzuweichen, wie Peter Mambrey, Michael Paetau und August Tepper 1995 am Beispiel der Schreibmaschine darstellen. So weist er darauf hin, dass durch die Formulierung der Metapher „Schreibklavier“ als Leitbild bei der Entwicklung eines Apparates zum maschinellen Schreiben von Texten der funktionale und technologische Zusammenhang zum Buchdruck gelöst wurde und dies erst die Pfadabhängigkeit zu eben diesem Buchdruck umgangen hat. „Um so überraschender war es, daß Erfinder versuchten, andere Prinzipien für das automatisierte, technikunterstützte Schreiben zu finden, das nichts mit dem Buchdruck zu tun hatte. Häufig sind Erfindungen kontinuierliche Verbesserungen herkömmlicher Verfahren oder Artefakte und nicht alternative Entwürfe dazu. Hier war dies anders. Die neue Metapher ‚Schreibklavier‘ eröffnete alternative Sichtweisen und bekam dadurch eine geburtshelfende und vorbildstiftende Funktion.“54 Aus Gestaltungsperspektive ist jedoch die Frage wie ein solches explizites Leitbild, das von bestehenden Konventionen abweichen soll, im Bedien- und Anzeigekonzept abgebildet werden muss, damit für die Nutzer eine Anwendbarkeit entsteht, ohne dieses Leitbild und den Bezug zum Gestaltungskontext zu kennen55 .
7.4
Zwischenfazit zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
Dadurch, dass (Interaktions-) Gestalter auch Nutzer sind, kann festgehalten werden, dass ein interaktives Artefakt nicht nur durch das implizite Wissen gestaltender Akteure, sondern auch durch ihre Interaktionswelten geprägt wird. Ferner wirken im Gestaltungsprozess Vorverständnisse und dominante Eigenschaften, die Denkprozesse, Handlungen und Entscheidungen der Akteure beeinflussen und als implizite oder explizite Leitbilder betrachtet werden können. Die Analyse dieser impliziten Leitbilder innerhalb des Gestaltungsprozesses scheint eine Fokussierung auf relevante Einflussfaktoren und Ziele des Gestaltungsprojektes zu ermöglichen. Die explizite Formulierung intersubjektiver Leitbilder kann darüber hinaus die Gestaltung innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte ermöglichen, indem Pfadabhängigkeiten überwunden werden. Offen ist, inwiefern in jeweiligen Einzelfällen solche expliziten Leitbilder im Anzeige- und Bedienkonzept abgebildet werden müssen, damit der Nutzer die entsprechenden Konzepte versteht und eine Bedienbarkeit entsteht. Im Zusammenhang mit den Erkenntnissen aus den Betrachtungen zu Innovationen ergeben sich weitere Grundsätze bei der Gestaltung innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte. Denn selbst wenn explizite Leitbilder verwendet werden, um Innovationen zu fördern, basiert nach Gabriel Tarde der Gestaltungsprozess nach wie vor auf Nachahmung, da jeder kreative Prozess ein Prozess der Nachahmung ist56 . Man kann 54 55 56
Siehe Mambrey/Paetau/Tepper: Technikentwicklung durch Leitbilder: Neue Steuerungs- und Bewertungsinstrumente, S. 74. Vgl. hierzu 2.5.1, 2.5.2, 2.5.3 und 2.5.4. Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 168.
7 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Entstehungskontext von Innovationen
nur erdenken was auf Beobachtbarem oder Gelerntem beruht. Dabei wird zwischen implizitem und explizitem Wissen unterschieden. Explizites Wissen ist gelerntes, formulierbares Wissen, das bewusst abgerufen werden kann. Implizites Wissen sind Beobachtungen, Gefühle, Tendenzen. Sie beeinflussen Entscheidungen, sind aber weder formulierbar noch bewusst anwendbar. Das heißt jede Kreation, jede Idee beruht auf Gesehenem und Gelerntem. Damit man etwas lernen oder sehen kann, muss es existieren. Es muss durch etwas repräsentiert werden – z.B durch ein technisches Artefakt oder eine gängige Lehrmeinung. Diese etablierten Innovationen können sowohl natürliche Strukturen, Handlungsmuster und Systeme sein, als auch menschliche Erzeugnisse. Die Interaktionswelt, implizite Leitbilder und implizites Wissen verlieren somit nie ihren Einfluss auf die Gestaltung, unabhängig davon welche methodischen und analytischen Anstrengungen im Zuge des reflexiven iterativen Gestaltungsprozesses unternommen werden. Gleichzeitig stellt Tarde in seiner Theorie der Gesetze der Nachahmung von 1890 heraus, dass niemand etwas erdenken kann, das exakt dem entspricht, was jemand anderes zuvor erdacht hat. Dies ist durch abweichende Lebenswelten begründet, die unterschiedliches Vorwissen und unterschiedliche Denkmuster aufbieten. Abstrakte Konzepte können sicherlich auf unterschiedliche Weisen erdacht werden und sich gleichen. Die detaillierte Umsetzung dieser Konzepte wird jedoch immer differieren, sofern die Erdenkenden bzw. Umsetzenden nicht miteinander in engem kooperativen Austausch stehen. Selbst wenn ein Akteur das Ziel hätte, etwas zu erzeugen, das in allen Einzelheiten und Details exakt einer Innovation entspricht, die jemand anderes erzeugt hat, könnte er es nicht. Hierzu wäre bereits die Voraussetzung nötig, dass er von dem anderen Akteur und seiner innovativen Kreation weiß. Er müsste darüber hinaus nicht nur um die Kreation wissen, sondern für eine exakte Kopie jedes erdenkliche Detail dieser Kreation kennen und die zugrunde liegende Idee verstanden haben57 . Er müsste verstanden haben, was zum Erdenken der Kreation geführt hat, welche strukturellen Muster diesem Prozess zugrunde gelegen haben und weshalb sie als Innovation erfolgreich wurde. Dies führt zur Theorie, dass selbst eine exakte Nachvollziehung aller Voraussetzungen und Grundlagen einer Innovation zu einem Ergebnis führt – egal ob in Form eines Artefaktes oder eines Konzeptes – das natürliche Ungenauigkeiten und Varianzen aufweist. Will man eine bestehende Innovation kopieren, reicht das Bestreben das beste Artefakt dieser Innovation zu kopieren nicht aus, da jede Kopie, und wenn sie noch so perfekt ist, fehleranfällig ist. Diese Ungenauigkeit ist ein Naturgesetz, das Variationen fördert und Selektion ermöglicht58 . Das bedeutet, dass selbst wenn man auf die Formulierung neuer expliziter Leitbilder innerhalb eines Gestaltungsprozesses verzichtet und die Interaktionswelt, das implizite Wissen, sowie implizite Leitbilder vollumfänglich wirken können, entsprechen die resultierenden Anzeige- und Bedienkonzepte nicht zu 100% den bestehenden Konventionen. Kopie führt immer auch zu
57 58
Vgl. ebd., S. 163. Vgl. Kapitel 4.2 ebd., S. 163, 207–211, 232–238.
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Variation, die eine Selektion ermöglicht. Selbst wenn die absolute Kopie einer Innovation glücken würde, wäre sie per se keine Innovation sondern eine weitere Instanz der Ursprungsidee. Das Aufgreifen bestehender Innovation führt somit nur dann zu Innovationen, wenn Variation stattfindet. Doch selbst wenn natürliche Varianzen entstehen, sind diese nicht zwingend innovativ59 . Will man das bestmögliche Anzeige- und Bedienkonzept für eine konkrete Aufgabe erdenken, ist der Innovationsgrad nur ein Parameter, den es als Gestaltungsziel zu betrachten gilt. Das beste Anzeige- und Bedienkonzept ist immer ein Ergebniss impliziter und expliziter Einflüsse. Der Grundcharakter des Gestaltungsprozesses als reflexiver und iterativer Prozess ist die Grundvoraussetzung die natürliche Varianz, welche durch Nachahmung und kreative Prozesse entsteht, durch Selektion zu nutzen. Bei der intendierten Konzeption und Gestaltung innovativer Bedien- und Anzeigekonzepte müssen daher die zu Grunde liegenden Qualitäten der etablierten Vorbilder verstanden, die impliziten Leitbilder aller beteiligten Akteure analysiert, explizite Leitbilder aufgestellt und alle Ziele und Interessen, die im Gestaltungsprozess verfolgt werden, und somit alle Stakeholder, identifiziert werden. Diese müssen in Relation zueinander gesetzt und priorisiert werden. Dazu gehört ebenfalls den Grad der Innovativität sowie die Bedienbarkeit und Aufgabenangemessenheit als solche Anforderungen zu betrachten. Neben den genannten Markt-, Konkurrenz- und Anforderungsanalysen muss für eine solche skizzierte Konventionsanalyse, die alle impliziten Einflussfaktoren des Gestaltungsprozesses erfasst und berücksichtigt, auch betrachtet werden, wie Konventionen auf Nutzerseite, also bei der Nutzung und Bewertung von Anzeige- und Bedienkonzepten wirken. Dies soll im Zuge der Betrachtungen zu Konventionen und ihrer Wirkung im Anwendungskontext geschehen.
59
Vgl. Kapitel 4.4.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Für die Betrachtung der Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext muss eben dieser zunächst klarer umrissen werden. So soll in der Folge unter Anwendungskontext ganz allgemein der Zeitpunkt und Kontext verstanden werden, in dem ein Nutzer mit einem interaktiven System in Berührung kommt. Konkret umfasst dies die Anwendung eines interaktiven Systems, in der unmittelbar die Interaktionswelt des Nutzers das vorliegende System und dessen Anzeige- und Bedienkonzept erschließt, erklärt und zum Gegenstand einer Gegenüberstellung von neuen und etablierten Erfahrungen erhebt. Dies bezieht sich sowohl auf häufige Auseinandersetzungen ein und des selben Nutzers mit ein und demselben Interaktionskonzept, als auch auf die erstmalige Auseinandersetzung mit einem für den Nutzer unbekannten Interaktionskonzept. Ein solcher Erstkontakt entsteht besonders häufig dann, wenn eine Innovation in einen neuen Anwendungskontext eingeführt wird und in diesen diffundiert. Somit kann die Betrachtung der Wirkung von Konventionen im Zuge der Diffusion erheblich zur Charakterisierung des Spannungsfeldes zwischen Innovationen und Konventionen beitragen. In den vorigen Betrachtungen zum Kreislauf der gegenseitigen Beeinflussung von subjektspezifischen Interaktionswelten und Interaktionskonzepten wurde bereits auf den Aspekt eingegangen, dass ein neuartiges Interaktionskonzept unter gewissen Voraussetzungen diffundieren muss, um tatsächliche Anwendung zu finden. Noch stärker wurde bereits im Zuge der Betrachtungen des Innovationsbegriffes herausgearbeitet, dass eine Innovation ohne erfolgreiche Diffusion sozial nicht existent ist. Dem Prozess der Diffusion einer Innovation, den Voraussetzungen für eben diesen und die Relevanz von Konventionen und subjektspezifischen Interaktionswelten der jeweiligen beteiligten Akteure im Zuge der Diffusion von innovativen Anzeige- und Bedienkonzepten soll sich in den folgenden Betrachtungen gewidmet werden. Dabei soll versucht werden, die wichtigsten Charakteristiken und Faktoren der Diffusion von Innovationen aus den entsprechenden Diskursen zu erläutern, den bisherigen Betrachtungen gegenüberzustellen und aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive für den Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion zu deuten. Hierzu scheint es
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Interaktionswelten
essentiell zu sein, zunächst den Diskurs des Diffusionsbegriffs klar von der Technikgeneseforschung abzugrenzen, auch wenn beide Forschungsbereiche in einander greifen mögen. Letztere kann einen Beitrag dazu leisten, zu erklären, wie Interaktionskonzepte und Interaktionstechnologien entstehen, wohingegen die Diffusionsforschung verstärkt betrachtet, wie die entstandenen Konzepte und Technologien verbreitet werden, um Anwendung zu finden. Mit Bezug zur Gestaltung eines Anzeige- und Bedienkonzeptes und des damit verbundenen Artefaktes als organisiertes Gefüge aus Konzepten, Technologien und Ressourcen, bedeutet „Anwendung finden“ vor allem, das Gestaltungsergebnis vom Entstehungskontext in den Anwendungskontext zu überführen. Da dieses Gestaltungsergebnis – wie bereits zuvor dargestellt – nicht in sämtlichen denkbaren Anwendungskontexten, einen ausreichend hohen Nutzen stiften kann und es eine Diskrepanz zwischen dem mutmaßlichen, im Gestaltungsprozess angestrebten, und dem tatsächlichen Anwendungskontext geben kann, ist die erfolgreiche Diffusion eines neu gestalteten Anzeige- und Bedienkonzeptes nicht garantiert. Vom tatsächlichen Anwendungskontext ist in der Konsequenz abhängig, ob der Nutzer dieses Anzeige- und Bedienkonzeptes selbiges als Innovation einordnet. Aus Sicht des Anwenders kann der Anwendungskontext als Bewertungskontext einer Innovation angesehen werden. Während der Anwendung eines interaktiven Systems findet ein Abgleich zwischen der Lebenswelt und insbesondere der Interaktionswelt und allen darin sedimentierten Erfahrungen und den aktuellen Interaktionserfahrungen statt, durch die sich der Anwender zum einen die aktuellen Zustände des interaktiven Systems, sowie seine Handlungsoptionen herzuleiten versucht, und zum anderen das interaktive System als ganzes bewertet, indem er es mit ihm bereits bekannten Systemen – die für ihn subjektiv im Bezug zum vorliegenden System stehen – vergleicht. Bei dieser Bewertung kann zwar bereits der perspektivgebundene Innovationsgrad durch den Anwender bestimmt werden, dieser entscheidet aber nicht ausschließlich über die weitere Anwendung beziehungsweise Nutzung des interaktiven Systems. Des Weiteren ist dieser Ablauf nicht der einzige Schritt des Diffusionsprozesses.
8.1
Transdisziplinäre Annäherung an die Diffusion von Innovationen
Die Diffusion von Innovationen stellt einen Forschungsschwerpunkt innerhalb unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen dar, dessen Grundzüge bereits von Gabriel Tarde 1890 in seiner Theorie zu den Gesetzen der Nachahmung beschrieben wurden12 . Der von Barbara Wejnert beschriebene Diffusionsdiskurs umfasst Betrachtungen und Forschungen zur Verbreitung von neuen landwirtschaftlichen Praktiken, dem Saatgut neu gezüchteter Hybridpflanzen, innovativer Technologien, Fertigungstechniken und politischen Innovationen und Reformen3 . Die Tatsache, dass die Erkenntnisse der
1 2 3
Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung. Vgl. Wejnert: Integrating models of diffusion of innovations: A conceptual framework, S. 298. Vgl. ebd., S. 298.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Diffusionsforschung auf solch heterogenen Schwerpunkten basieren, erhöht die Adaptierbarkeit eben dieser Erkenntnisse auf den Kontext der MMI und den Gegenstand innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte. Zwecks eben dieser Adaptierung, soll den folgenden Betrachtungen zunächst ein recht weites Verständnis des Diffusionsbegriffs zugrunde gelegt werden. Everett Rogers, dessen Werk Diffusion of Innovations ab 1962 mehrmals aufgelegt wurde, versteht Diffusion – entgegen anderen Autoren – allgemein als Überbegriff für die Innovationsverbreitung, unabhängig davon, ob sie geplant oder spontan erfolgt4 . Das Ergebnis der Diffusion erfasst Blättel-Mink 2006 mit Bezug zu Braun-Thürman 2005 als Konsum: „Das Neue wird nicht allein als solches wahrgenommen, sondern auch als Verbesserung gegenüber dem Alten anerkannt [...]. Zum Ausdruck kommt die Anerkennung als Innovation im Konsum: Ein Produkt wird gekauft, eine Organisationsform praktiziert, eine technische Idee kommt in Anlagen zum Einsatz.“5 Erst der Erfolg am Markt, dokumentiert durch Konsum, bestätigt demnach eine Neuerung als Verbesserung und deklariert sie zur Innovation67 . Die zentrale Frage die daraus resultiert ist somit, welche Aspekte und Prozesse entscheiden, ob eine Neuerung konsumiert wird und in welchem Umfang sie konsumiert wird. Diffusion soll somit zunächst als Überführung einer Neuerung von einem Ausgangskontext in einen zuvor unerschlossenen Kontext verstanden werden. Als Folge einer erfolgreichen Diffusion findet die diffundierte Neuerung Anwendung. Ob die diffundierte Neuerung auch im Zielkontext als neu angesehen wird, ist abhängig von der Betrachtungsperspektive, bzw. den betrachtenden Akteuren und ihrer Lebenswelt. Everett M. Rogers versteht den Diffusionsprozess vor allem als Kommunikationsprozess. „Diffusion is the process in which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system.“8 „Diffusion is a particular type of communication in which the message content that is exchanged is concerned with a new idea. The essence of the diffusion process is the information exchange through which one individual communicates a new idea to one or several others. At this most elementary form, the process involves (1) an innovation, (2) an individual or other unit of adoption that has knowledge of, or has experienced using, the innovation, (3) another individual or other unit that does not yet have knowledge of, or experience with, the innovation, and (4) a communication channel connecting the two units.“9 4 5 6
7 8 9
Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 6. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 27. Vgl. auch Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 168 Edgerton: Innovation, Technology, or History: What is the Historiography of Technology About? oder Aicher: Die Welt als Entwurf, S. 187. Vgl. zum Anspruch an eine Innovation besser zu sein und nicht nur neu Kapitel 4.5. Siehe Rogers: Diffusion of innovations, S. 5. Siehe ebd., S. 18.
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Interaktionswelten
An späterer Stelle konkretisiert Rogers die unterschiedlichen Rollen innerhalb des Kommunikationsprozesses und prägt diesen des Weiteren als sozialen Prozess. „[...] the heart of the diffusion process consists of interpersonal network exchanges and social modeling by those individuals who have already adopted an innovation to those individuals who are influenced to follow their lead. Diffusion is fundamentally a social process.“10 Somit wäre Diffusion im Kontext der gegenständlichen Betrachtung ein sozialer Prozess dessen Hochphase durch interpersonellen Informationsaustausch zwischen Nutzern und Nichtnutzern geprägt ist. Für die Betrachtungen zur Diffusion von Anzeigeund Bedienkonzepten und weiter gefasst ganzer interaktiver Systeme leiten sich daher einige Fragen ab: • • •
Welche sozialen Prozesse prägen den Diffusionprozess? Welche subjektspezifischen Eigenschaften prägen den interpersonellen Austausch? Wie führt Kommunikation über ein interaktives System zu dessen Anwendung?
Bevor in der Folge diese Aspekte unter den Betrachtungen zur Charakteristik der Diffusion und ihren Faktoren und der Übertragung selbiger auf die Verbreitung von Innovationen im Kontext der MMI untersucht werden, soll zunächst die Betrachtung des Diffusionskontextes den Aktionsrahmen des Diffusionsprozesses umreißen.
8.1.1
Zum Diffusionskontext
Wie im Kapitel 4.4 hergeleitet, ist die Existenz und die Radikalität einer Innovation immer perspektivgebunden. Sie ist abhängig von der intersubjektiven Lebenswelt eines bewertenden Akteurs und dem Bewertungskontext. Im Kontext der MMI geht der Anwendungskontext in den Bewertungskontext auf. Beide Kontexte bilden ein Gefüge, in dem eine Neuerung bewertet und über eine stete Anwendung dieser entschieden wird. Der Anwendungskontext ist notwendig, um Ziele, Motivationen und Bedürfnisse des Nutzers den Funktionen eines interaktiven Systems gegenüber zu stellen. Wie Horst Oberquelle 2008 herausstellt, sind „Interaktive Systeme [...] nur in dem Maße erfolgreich, wie sie sich im Nutzungskontext bewähren“11 . Wie Thilo Schwer 2014 in seinen Betrachtungen zur Produktsprache in der Produkt- und Konsumkultur folgert, können Produkte „ohne einen Anwendungsfall oder Gebrauchszusammenhang [...] nur als graue, schwarze oder metallische Kästchen betrachtet werden, die – je nach Ausführung – zwar mit großer Aufmerksamkeit für Details und in hochwertigen Materialien ausgeführt sind, ansonsten aber sehr wenige Eigenschaften und Eigenheiten vermitteln können“12 . Dies gilt vor allem, wenn man Artefakte als Arrangements begreift, in denen Funktionen und Bedeutungen durch Gestaltungsmittel hinein codiert 10 11 12
Siehe Rogers: Diffusion of innovations, S. 35. Siehe Oberquelle: Benutzergerechte MCI in einer dynamischen Welt - Eine Gestaltungsaufgabe, S. 157. Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 107.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
wurden und im Sinne einer Interphänomenalität 13 Befolgungsofferten auf das Artefakt übertragen wurden. Die Gestaltung stellt aus dieser Deutungsperspektive die Verbindung zwischen Ausdruck und Verstehen her, die einen eindeutigen Relationsraum, einen Verständniskontext benötigt. Eine Entschlüsselung im Sinne einer Decodierung ist nur möglich, wenn der Zeichensatz mit den, dem Kontext entsprechenden, Bedeutungen verbunden wird. Entsprechend einer radikal konstruktivistischen Perspektive, sind diese Deutungszusammenhänge jedem Individuum, basierend auf seiner sozialhistorischen Prägung, eigen. Die subjektspezifische Lebenswelt beeinflusst somit das Verständnis einer Innovation und seiner Anwendungspotentiale. Produkte und ihre Wahrnehmung sind somit kontextabhängig14 . Ebenso wie die Lebenswelt eines Akteurs bei der Diffusion eines innovativen Artefaktes eine Rolle spielt, wirkt die Interaktionswelt auf das Verständnis und die Anwendbarkeit des Bedien- und Anzeigekonzeptes einer solchen interaktiven Innovation und beeinflusst somit deren Diffusion. Im Diffusionkontext entsteht der subjektspezifische Zusammenhang zwischen einer Neuerung und Strukturen der Lebenswelt des Anwenders. Der Neuerung wird nicht nur ein Anwendungsziel bzw. eine Bedeutung zugewiesen. Zusätzlich wird eine subjektspezifische Beziehung zwischen der Neuerung und bereits bekannten Artefakten und Konzepten hergestellt. „Die Produkte unserer Alltagskultur lassen sich [. . .] nicht mehr einzeln bzw. isoliert betrachten – ihre Bedeutungen sind erst in den jeweiligen Handlungs-, Funktions- oder Stilensembles zu begreifen. Vielfach entsteht erst durch die Kombination mit anderen Produkten ein signifikanter Bedeutungskomplex.“15 Diese Beziehung zwischen der Neuerung und bekannten Artefakten und Konzepten ermöglicht einen Vergleich. Erst der Vergleich ermöglicht eine subjektspezifische Bewertung; erst die Bewertung ermöglicht die Entscheidung, ob das unbekannte interaktive System angewendet wird und in der Folge weitere Anwendung finden wird. Somit verleiht erst der Kontext einem Konzept einen Zweck und einem Artefakt Funktionalität. Im Kontext der MMI ist jedoch nicht nur die Facette des Diffusionskontextes, auch Bewertungskontext einer Innovation zu sein, relevant, sondern darüber hinaus auch die Facette, Anwendungskontext zu sein. So basiert die Entscheidung, ob ein interaktives System erstmalig und darüber hinaus angewendet werden soll, nicht nur auf dem reinen Vergleich mit anderen bekannten Artefakten und Konzepten, sondern in entscheidendem Ausmaß auf der Interaktion mit dem System. Dabei muss das bisher unbekannte interaktive System, mit seinem Anzeige- und Bedienkonzept, anschlussfähig an die bisherigen Erfahrungsstrukturen der relevanten Interaktionswelt 13 14 15
Vgl. Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, S. 92. Siehe auch Kapitel 2.1.2. Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 17. Siehe ebd., S. 110--111. Schwer nimmt an dieser Stelle Bezug zu Dagmar Steffen („Einleitung“ im Katalogbuch „Welche Dinge braucht der Mensch? Hintergründe, Folgen und Perspektiven der heutigen Alltagskultur“; Frankfurt am Main: Anabas Verlag 1996, S. 9--17).
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des Nutzers sein. Je nach Anwendungskontext werden unterschiedliche Erfahrungen herangezogen, um die eigenen Handlungsziele im Abgleich mit den Informationen, die der aktuelle Zustand des interaktiven Systems vermittelt, in konkrete Aktionen zu überführen. Diese Facetten der subjektspezifischen Interaktionswelt sind kontextabhängig. Ein Nutzer kann je nach Anwendungsziel und Nutzungskontext unterschiedliche Erfahrungsstrukturen der Interaktionswelt zur Interaktion heranziehen und, daraus resultierend, unterschiedliche Erwartungen an ein interaktives System haben. So kann sich der Erwartungshorizont eines Nutzers einer Website, die er über einen PC aufruft, vom Erwartungshorizont des selben Individuums, das die Website über ein Smartphone aufruft, unterscheiden. Obwohl in beiden Fällen der jeweilige Aufruf des WebAngebotes über dieselbe Adresseingabe erfolgen kann, können die Ansprüche und die Erwartungen des Nutzers bezüglich des Informations- und Funkionsumfangs, sowie der Aufbereitung, Anordnung und Ausgestaltung, sowie der Interaktionsweise auf den unterschiedlichen Endgeräten abweichen, weil er im jeweiligen Nutzungszusammenhang verschiedene Erfahrungen gemacht hat. Diese Erfahrungen müssen dabei nicht zwingend auf dem Umgang mit der explizit vorliegenden Website oder interaktiven Anwendung basieren. Wie Jakob Nielsen für das Web formuliert hat, erwartet der Nutzer, dass sich eine Website so verhält, wie es die restlichen 95% der Websites tun, die er regelmäßig aufruft. Relevant für die Erwartungen des Nutzers ist also, welche interaktiven Anwendungen er in einen kontextuellen Zusammenhang zueinander stellt. Somit findet die Bewertung eines unbekannten interaktiven Systems auf unterschiedlichen Ebenen statt. In der Theorie scheint zwischen dem ersten Eindruck, also der ersten Beurteilung des interaktiven Systems vor bzw. unmittelbar bei der Aufnahme der Nutzung, und der Bewertung nach abgeschlossener Nutzung unterschieden werden zu können. Beim ersten Eindruck können vor allem Aspekte wie das grafische und funktionale Verhalten des interaktiven Systems als zentral angesehen werden. Im Fokus stünde somit, ob und in welchem Ausmaß das interaktive System den Vorerwartungen des Nutzers entspricht und sich konventionell zu seinen Erfahrungen verhält. Beschreibt die visuelle Gestaltung des interaktiven Systems die möglichen Funktionen und Handlungen – ist also eine Selbstbeschreibungsfähigkeit gegeben? Verwendet es bereits bekannte – weil bereits erlernte – Codierungen? Sind mit den verwendeten Codierungsmustern die bereits erlernten Bedeutungen und Funktionen abgebildet? Führen die ersten Eingaben zu den erwarteten Folgen? Stellt sich nach den ersten Augenblicken der Interaktion ein Gefühl der Vertrautheit ein? Ist bereits vor der Eingabe die Folge der Handlung absehbar? Nach der abgeschlossenen Nutzung scheinen hingegen vor allem Aspekte wie Effizienz und Effektivität im Vordergrund zu stehen. Wurde das Ziel des Nutzers erreicht? War das interaktive System eine Hilfe das angestrebte Ziel zu erreichen? Ist es aufgabenangemessen gestaltet? Während es scheint, das beim ersten Eindruck vor allem formale Erfahrungen der Interaktionswelt herangezogen werden, die auch als Interaktionskompetenz oder Grad der Expertise beschrieben werden könnten, macht es den Anschein, das der Grad der
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Zufriedenheit mit dem interaktiven System, der durch die abgeschlossene Nutzung entsteht, vor allem durch den Vergleich mit der Erfahrung in der Verwendung mit anderen Artefakten, die demselben Zweck dienen und die der Nutzer bereits verwendet hat, um ein aus seiner Sicht äquivalentes Ziel zu erreichen, resultiert. Das hieße, während die Erfahrungen, die zur Bildung eines ersten Eindrucks herangezogen werden eher diffuser Natur sind und durch den Abgleich mit allgemeinen Konventionen geprägt sind, können die Erfahrungen die zur retrospektiven Bewertung der Nutzung des interaktiven Systems verwendet werden, konkreten vorigen Anwendungen vergleichbarer Artefakte und Konzepte zugeordnet werden. Somit würde die Tendenz bestehen, dass der erste Eindruck durch implizite Erfahrungen geprägt ist, wohingegen die retrospektive Bewertung durch explizite und eher benennbare Erfahrungen geprägt sein könnte. Eine empirische Belegung dieser Zusammenhänge ist nicht bekannt. Wie Tarde grundsätzlich im Zuge seiner Theorie zu den Gesetzen der Nachahmung festhält, verändern sich Nachahmungen beim Übergang von einem Milieu in ein anderes16 . Demnach können auch innovative Anzeige- und Bedienkonzepte bzw. innovative interaktive Systeme bei der Überführung in einen neuen Kontext abgewandelt werden. Dies kann Aspekte der Funktionszuweisung ebenso betreffen, wie wechselnde Erwartungen und Sinnzuschreibungen der Anwender, basierend auf neuen Milieus und Anwendungskontexten. Da die Diffusion bereits als Überführung einer Innovation vom Entstehungskontext in den Anwendungskontext angesehen werden muss, kann auch hier bereits eine Veränderung der ursprünglichen Innovation erfolgen. Diese Betrachtungen stützen nochmals die bisherigen Schlussfolgerungen, dass zwischen dem intendierten Anwendungskontext, der innerhalb des Entstehungskontext einer Innovation von den dortigen Akteuren angenommen wird, und den dort geltenden Anforderungen, und dem tatsächlichen Anwendungskontext unterschieden werden muss.
8.1.2
Zur Charakteristik und zu Faktoren der Diffusion
Nachdem nun der Diffusionkontext und die Zusammenhänge der Bewertung eines interaktiven Systems betrachtet wurden, soll in der Folge die der Bewertung vorausgehenden Schritte des Diffusionsprozesses analysiert werden. Hierzu soll die zuvor in Abschnitt 8.1 einleitend aufgestellte Arbeitsdefinition des Diffusionsbegriffes durch umfangreichere Gegenüberstellung von Faktoren und Charakteristiken der Diffusion, die in unterschiedlichen Diskursen identifiziert wurden, erweitert werden. Entsprechend den bisherigen Beobachtungen, dass die Einstufung einer Innovation als solche subjektspezifisch und perspektivgebunden ist, und somit im Zuge der Diffusion von einem Kontext in einen anderen variieren kann, heben diverse Quellen die Komplexität und Langwierigkeit des Diffusionsprozesses hervor17 . 16 17
Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 45. Vgl. unter anderem Rogers: Diffusion of innovations, S. 7, 18–19 Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 28 Bill Buxton: The Long Nose of Innovation: The bulk of innovation is low-amplitude and takes place over a long period. Companies should focus on refining existing technologies as much as on crea-
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„Many technologists believe that advantageous innovations will sell themselves, that obvious benefits of a new idea will be widely realized by potential adopters, and that the innovation will diffuse rapidly. Seldom is this the case. Most innovations, in fact, diffuse at a disappointingly slow rate, at least in the eyes of the inventors and technologists who create the innovations and promote them to others.“18 Steven Johnson identifiziert im Jahr 2010 einen Zyklus von 20 Jahren den nahezu jede technologische Innovation durchlaufen musste, um marktreif zu werden und um vollständig zu diffundieren19 . „Call it the 10/10 rule: a decade to build the new platform, and a decade for it to find a mass audience.“20 Diese 10/10 Regel galt demnach für Innovationen wie das HD-Fernsehen, die Videokasette oder die DVD. Als Ausnahme führt Johnson jedoch Youtube an. Obwohl es seiner Analyse nach eine radikalere Innovation als das HD-Fernsehen oder die DVD war, brauchte Youtube nur rund zwei Jahre um eine Massenverbreitung zu erreichen21 . Auch die grafische Benutzerschnittstelle (GUI) bewegte sich laut Johnson in 10-jährigen Zyklen in denen zunächst ein tragendes Konzept entwickelt wurde, es in der Folge dann den Expertenmarkt erschloss und zehn Jahre später den Massenmarkt erreichte22 . Johnson führt die schnellere Entwicklung und Diffusion von Youtube auf das Internet als Innovationskontext zurück. Eine Erklärung hierfür könnte die hohe kommunikative Dichte des Internets als Verbreitungsmedium einer Innovation sein. Die kommunikativen Prozesse der Diffusion können gestützt durch das Internet schneller ablaufen. Ein weiterer Unterschied zwischen Youtube und den anderen von Johnson erfassten Innovationen ist die geringe Kopplung des Youtube-Konzeptes mit festen Hardware-Trägern. Die DVD, das HD-Fernsehen und das GUI waren zwar nicht allesamt technische Artefakte, sie waren jedoch allesamt auf bisher nicht verbreitete neue und leistungsfähige technische Artefakte angewiesen, die vom Kunden bzw. Anwender angeschafft werden mussten. Zuvor genutzte Technologie war mit diesen Innovationen nicht mehr kompatibel. Die Nutzung von Youtube setzt hingegen nur einen Internetzugang und ein internetfähiges Gerät voraus aber keine neue Technologie. Sie konnte mit der Infrastruktur erfolgen mit der Anwender schon zuvor das
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tion, hrsg. v. Bloomberg Businessweek, 2008, url: http : / / www . businessweek . com / innovate / content/jan2008/id2008012_297369.htm. Siehe Rogers: Diffusion of innovations, S. 7. Auch Buxton führt an unterschiedlichen Stellen eine gesamt Dauer von ca. 20 Jahren an, die eine neue Technologie benötigt, um in Artefakten integriert zu diffundieren. Vgl. Buxton: The Long Nose of Innovation: The bulk of innovation is low-amplitude and takes place over a long period. Companies should focus on refining existing technologies as much as on creation und ders.: 31.1: Invited Paper: A Touching Story: A Personal Perspective on the History of Touch Interfaces Past and Future, S. 448. Siehe Steven Johnson: Where good ideas come from: The natural history of innovation, New York: Riverhead Books, 2010, S. 13. Vgl. ebd., S. 12--15. Vgl. ebd., S. 15--16.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
World Wide Web genutzt hatten. Bei den anderen erwähnten Innovationen musste vor der Nutzung der Erwerb einer neuen Trägertechnologie erfolgen, da bestehende Technologie auf keinen Fall genutzt werden konnte. Daraus können zwei Merkmale für die Diffusion innovativer, immaterieller Konzepte gezogen werden: 1. Konzepte, die mit bestehenden technischen Artefakten verwendet werden können, weisen ein höheres Diffusionspotential auf. 2. Die Dichte des Diffusionsmilieus entscheidet über die Verbreitungsgeschwindigkeit. Konzepte, die in einem (massen-) kommunikativen Kontext genutzt werden, diffundieren schneller, als Konzepte, die in abgeschotteten Kontexten – z. B. in hochspezialisierten Kontexten, mit kleinen verstreuten und relativ autarken Nutzergruppen – angesiedelt sind.
Johnson zieht im Zusammenhang des zweiten Punktes Parallelen zwischen der Stadt und dem Internet, die laut ihm nachweislich die Bildung und Verbreitung von Innovationen begünstigen23 . Dies scheint an der gemeinsamen Charakteristik einer hohen Kommunikationsdichte zu liegen, die auch Tarde als gewichtigen Faktor der Nachahmung und somit der Diffusion sieht24 . Wie Rogers herausstellt, spielen objektive Kriterien bei der letztlichen Bewertung einer Neuerung eine nachrangige Rolle. Nur eine kleine, erste Nutzergruppe, die Early Adopter, ziehen solche objektiven Kriterien, wie Studienergebnisse und wissenschaftliche Erkenntnisse, heran, um über die Nutzung eines neuen Artefaktes oder Systems zu entscheiden. Die meisten Individuen vertrauen jedoch auf die Meinung und Empfehlung anderer Personen innerhalb ihres Umfeldes. Diese Vorbilder können sowohl über die Existenz eines bis dato unbekannten Artefaktes oder Konzeptes informieren, als auch gleichzeitig eine erste Bewertung vornehmen und kommunizieren25 . Rogers folgert daher, dass der Diffusionsprozess zum einen aus der Kommunikation zwischen zwei Akteuren über einen zu diffundierenden Gegenstand besteht und zum anderen aus Nachahmungsprozessen. „This dependence on the experience of near peers suggests that the heart of the diffusion process consists of the modeling and imitation by potential adopters of their network partners who have previously adopted.“26 Der Diffusionsprozess könnte somit als mehrstufiger Prozess angesehen werden. Die erste Phase besteht aus der Kommunikation zwischen Akteuren eines sozialen Systems über eine Neuerung. Dabei gibt der eine Akteur, seine Erfahrungen an den anderen Akteur weiter. Dies kann explizit – z. B. verbal – oder implizit – z. B. durch Interaktion mit der Neuerung, während der zweite Akteur anwesend ist – erfolgen. Im zweiten Schritt der Diffusion ahmt der zweite Akteur den ersten Akteur nach, 23 24 25 26
Vgl. ebd., S. 16--17. Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 40. Auf diesen Aspekte wird an späterer Stelle nochmals eingegangen. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 18--19. Siehe ebd., S. 19.
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indem er die kommunizierten Erfahrungen verifiziert und die Neuerung selber ausprobiert. Dabei orientiert er sich an dem Vorgehen des ersten Akteurs bzw. an dem Vorgehen, dass Akteur zwei aus der Kommunikation durch Akteur eins schließt. In der Folge erfolgt eine bewusste oder unterbewusste Bewertung während der Nutzung und rückblickende, vergleichende Evaluation, die zur Einstellung oder Verstetigung der Nutzung führt. Diffusion soll in diesem Sinne in der Folge als Ergebnis von Kommunikation, Nachahmung und Adaption verstanden werden. Wie Gabriel Tarde bereits herausgestellt hat, erfolgt Nachahmung immer entlang einer gewissen Hierarchie. Das heißt, innerhalb des von Rogers identifizierten sozialen Systems, in dem die Diffusion erfolgt, scheinen einzelne Akteure nachahmungswürdiger zu sein als andere27 . Ihre Meinung und Aussagen haben eine höhere Strahlkraft und somit höheres Gewicht. Rogers fasst diese Gruppe unter dem Begriff der „Opinion Leader“ zusammen28 . Ihre Strahlkraft kann aus unterschiedlichen Faktoren resultieren, wie dem sozialen Stand oder der Expertise im Umgang mit Artefakten des relevanten Kontextes. Ihre Relevanz wird durch den Umstand gestärkt, dass die direkte interpersonelle Empfehlung einer Innovation innerhalb eines sozialen Netzwerks wirkungsvoller ist, als die unpersönliche Empfehlung durch Evaluationen oder Testergebnisse. Nur die aller ersten Adopter einer Innovation verlassen sich auf objektive Evaluationen, da in ihrem Umfeld noch kein Erfahrungsschatz besteht auf den sie zurückgreifen könnten29 . Darüber hinaus identifiziert Rogers den Einfluss der kritischen Masse auf den Diffusionsprozess. Darunter versteht er, eine unbestimmte quantitative Menge an Akteuren innerhalb des sozialen Systems, die bereits die Neuerung anwenden und durch ihre Wahrnehmbarkeit als Gruppe eine Art opinion leadership erlangen. Neuerungen, die innerhalb eines sozialen Systems über diese quantitative Hürde hinaus diffundiert wurden, verbreiten sich in der Folge leichter und schneller30 . Wie Blättel-Mink zusammenfasst, hat Tarde „Prozesse der Imitation als konstitutiv für gesellschaftlichen Wandel bzw. Entwicklung [analysiert]. Zu den Faktoren, welche die Imitation von Neuerungen beeinflussen, gehören die Kompatibilität mit den bestehenden Strukturen (Anschlussfähigkeit), Normen und Werten und die imitativen Fähigkeiten der treibenden Kräfte der Imitation. Dabei können Imitationen sowohl im Sinne einer schöpferischen Zerstörung wirken als auch im Sinne des friedlichen Nebeneinander von Neuerungen“31 . Dabei hat Tarde verschiedene Charakteristika der Nachahmung identifiziert: „1. Eine Nachahmung vermag zunächst genau oder ungenau zu sein. Die Frage ist, ob sie in dem Maße strenger wird oder sich in dem Maße mehr verwirrt, in dem sich im Laufe der Zeit die nachzuahmenden Handlungen oder Ideen einer Kultur vermehren und komplexer werden. Man möchte meinen, daß sich mit jedem neuen Grad an Komplexität die Ungenauigkeit steigert. Dennoch beobachtet man 27 28 29 30 31
Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 232--238. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 5, 27. Vgl. ebd., S. 18--19. Vgl. ebd., S. 27ff. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 85.
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genau das Gegenteil. Die Nachahmung ist so sehr die innerste Seele des sozialen Lebens, daß beim zivilisierten Menschen die dazu notwendige Fähigkeit und Gechicklichkeit schneller wächst als die Anzahl und Komplexität der Erfindung. Sie stiftet übrigens immer vollkommenere Ähnlichkeiten.“ [...] „Egal unter welchem Aspekt das soziale Leben betrachtet wird, es endet auf die Dauer immer und unweigerlich mit der Bildung einer Etikette, d.h. dem vollkommenen Sieg des Konformismus über die individuellen Einfälle.“ „2. Zweitens kann die Nachahmung bewußt oder unbewußt sein, überlegt oder spontan, freiwillig oder unfreiwillig. [...] Diese unfreiwilligen und unbewussten Nachahmungsformen werden niemals freiwillig und bewusst, während die freiwilligen und bewußten Formen dazu neigen, unfreiwillig und unbewusst zu werden.“32 Die unterschiedliche Ausprägung der Bewusstheit einer Nachahmung wurde bereits zuvor im Zuge der Betrachtungen zur Pfadabhängigkeit im Entstehungskontext behandelt. Sie entspricht dem Unterschied zwischen der impliziten Beeinflussung, der Inspiration eines Gestalters durch Bestehendes und der bewussten Kopie eines bestehenden Konzeptes oder Artefaktes. Tardes Aussage, „Man möchte meinen, dass sich mit jedem neuen Grad an Komplexität die Ungenauigkeit steigert. Dennoch beobachtet man genau das Gegenteil“ soll an dieser Stelle hinterfragt und in der Folge ausführlicher betrachtet werden. Die bisherigen Schlussfolgerungen legen viel mehr nahe, dass absolut exakte Nachahmung ausgeschlossen werden können; insbesondere wenn das Nachzuahmende eine ausgesprochen hohe Komplexität aufweist. Hierzu müsste, der Kopierende exakt wissen, welche sichtbaren und unsichtbaren Merkmale die Form, Charakteristik und Qualität des nachzuahmenden Artefaktes, Prozesses oder Konzeptes erzeugen und durch welche Handlungen diese reproduziert werden können. Es kann davon ausgegangen werden, dass besonders gute Nachahmungen aus subjektspezifischer Betrachtungsperspektive nicht mehr vom Original zu unterscheiden sind und ggfs. auch nicht auseinander gehalten werden müssen, da sie denselben subjektiven Nutzen stiften. Die allgemein gültige Schlussfolgerung Tardes, dass größere Komplexität größere Genauigkeit stiftet, stützen diese Beobachtungen jedoch nicht. Stattdessen legen die bisherigen Betrachtungen den Schluss nahe, dass größere Komplexität im Zuge der Nachahmung größere Variationen nach sich zieht. Diese werden durch die Nutzer entweder als nicht nutzenstiftend aussortiert (Substitution) oder als ebenso nutzenstiftend als Lösung eines Problems akzeptiert (Akkumulation). Gegebenenfalls werden sie sogar als noch nutzenstiftender dem Nachahmungsvorbild vorgezogen (ebenfalls Akkumulation)33 . Für die aktuelle Betrachtung ist dieser Aspekt aber von nachrangiger Bedeutung. Viel wichtiger ist die diffuse Menge aller im gleichen Maße nutzenstiftenden Lösungen. Hiermit sind solche Lösungen gemeint, die in einem begrenzten
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Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 207--211. Vgl. zu Akkumulation und Substitution ebd., S. 191 ff.
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Spektrum voneinander abweichen, sodass die Varianz weniger wahrnehmbar ist, als die Gemeinsamkeiten der diversen Lösungen. Für einen Betrachter entsteht so ein unscharfes, diffuses Gesamtbild genauer Nachahmungen. Dieses Gesamtbild kann dann einen relativ genauen Eindruck ergeben, was eine nutzenstiftende Idee zu Leisten in der Lage sein muss. Wenn Tarde dies mit Genauigkeit meint, kann seine Aussage an dieser Stelle nachvollzogen werden. In diesem Falle würde jedoch höhere Komplexität nicht unmittelbar zu einer größeren Genauigkeit führen, sondern vielmehr das Spektrum der möglichen Varianzen, die dennoch als diffuses Gesamtbild wahrgenommen wird, vergrößern. Somit würde höhere Komplexität vor allem die Toleranz gegenüber Varianzen erhöhen und erst in der Folge den Eindruck einer größeren Genauigkeit erwecken. Diese Auslegung Tardes Aussage wird an späterer Stelle seiner Ausführungen gestützt, in dem er dort schreibt: „Egal unter welchem Aspekt das soziale Leben betrachtet wird, es endet auf die Dauer immer und unweigerlich mit der Bildung einer Etikette, d.h. dem vollkommenen Sieg des Konformismus über die individuellen Einfälle.“34 Betrachtet man Nachahmung ausschließlich in Bezug zu sozialem Handeln und somit im Anwendungskontext einer Innovation, können Tardes Aussagen somit präzisiert werden. Demnach weist die Nachahmung von Handlungen und der Anwendung von Artefakten, egal wie komplex diese sind, stets eine ausreichende Genauigkeit auf, um letztlich einen sozialen Konsens über die Handhabung dieses Artefaktes zu erzeugen. Somit kann Diffusion als Überführung einer Neuerung von einem Ausgangskontext in einen zuvor unerschlossenen Kontext, indem soziale Prozesse des interpersonellen Informationsaustausches die Nachahmung der Neuerung bzw. ihrer Anwendung anregen und an deren Ende die Bildung eines sozialen Konsens steht, verstanden werden. Zu betrachten ist in diesem Zusammenhang, welche Informations- und Entscheidungsschritte zur Nachahmung führen. Rogers erfasst fünf Stufen des „Innovationdecision process“, die ein einzelner Akteur im Rahmen des intersubjektiven Austauschs innerhalb der Diffusion durchlaufen kann. Er beschreibt damit den gesamten Prozess den ein Subjekt von der Inkenntnisnahme einer Innovation bis hin zur Bewertung, dem Einsatz und dessen Evaluation vollzieht. Rogers fünf Stufen umfassen35 : Knowledge Persuasion Decision Adaption durch: (a) Implementation oder (b) Re-Invention 5. Confirmation 1. 2. 3. 4.
34 35
Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 208. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 20 ff.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Die erste Stufe knowledge beschreibt nach Rogers die Phase, in der ein Subjekt von der Existenz einer Neuerung erfährt und das grobe Wissen erhält, was diese Neuerung bewirkt und wie sie verwendet wird. In der Folge bildet sich das Subjekt im Rahmen der persuasion eine erste Haltung zur Innovation. Diese basiert noch nicht auf der direkten Verwendung bzw. Anwendung, sondern auf einem ersten Eindruck36 . Zunächst findet ein Entscheidungsprozess – decision – statt, in dem das Subjekt entscheidet, ob es die Neuerung erstmalig beziehungsweise folgend anwenden möchte. Entscheidet sich das Subjekt, die Neuerung anzuwenden, so tritt laut Rogers die vierte Stufe in Kraft, die implemention. Sie kann in zwei Ausprägungen erfolgen. Entweder das Subjekt nimmt die Neuerung durch genaue Nachahmung auf dieselbe Art und Weise in Gebrauch, wie es ihm kommuniziert wurde, oder es erfolgt eine re-invention, in der das Subjekt die Neuerung auf eine veränderte Art und Weise anwendet. Diese adaptierte Verwendung kann in Puncto Zweck, Art und Weise oder sonstigen Handlungsparametern vom Vorbild abweichen. Thilo Schwer unterscheidet bei der Adaption durch Re-Invention bzw. Veränderung der Innovation drei Ausprägung, die insbesondere bei der Adaption von Artefakten gelten: „Aneignung durch Anpassung“, „Aneignung durch Modifikation“ und „Aneignung durch Nutzung als Rohmaterial“37 . Im Zuge der fünften und letzten Stufe, der confirmation, wird die vorausgegangene Entscheidung, die Neuerung zu verwenden, bestätigt oder revidiert. Wie zuvor betrachtet, scheint der Ausgang dieser Stufe – der Reflexion der ersten Anwendung – vor allem auf Erfahrungen der unmittelbaren Anwendung zu basieren und stark auf Vergleichen mit bisherigen Erfahrungen der Lebenswelt und, im Kontext der MMI, mit Erfahrungen der Interaktionswelt zu basieren. Somit haben Konventionen auf Innovationen im Zuge der Diffusion vor allem in den Stufen decision, implemention und confirmation Auswirkungen. Während der fünf stufige Entscheidungsprozesses über die Anwendung einer Innovation auf der Ebene eines einzelnen Subjektes stattfindet, hat Rogers die am gesamten Diffusionsablauf beteiligten Subjekte anhand ihrer Adaptionsgeschwindigkeit gruppiert. In diesem Zusammenhang spielen zwei, bereits zuvor genannte Aspekte eine gewichtige Rolle. Zunächst die Aussage Tardes, dass Nachahmung immer entlang gewisser Hierarchien „von oben nach unten“ erfolgen. Daraus ergibt sich, dass eine Neuerung einen neuen Kontext nicht vollumfänglich simultan erschließt, sondern durch die Akteure dieses Kontextes in einer bestimmten Reihenfolge entsprechend einer sozialen Kommunikationshierarchie adaptiert wird. Demzufolge kann die Diffusion scheitern, wenn an unterschiedlichen Punkten innerhalb der Kommunikationshierarchie die dortigen Akteure entscheiden, die Neuerung nicht zu verwenden und die Kommunikation über eben diese Neuerung einstellen. Wie Tarde konkretisiert, setzt die Nachahmung eine gemäßigte Distanz zischen Nachahmer und Nachgeahmten voraus. „Der Einfluss des Vorbildes wirkt nämlich im umgekehrten Verhältnis zu dessen Entfernung und nicht nur im direkten Verhältnis zu dessen Überlegenheit. Entfernung wird hier im soziologischen Sinn des Wortes verstanden. So entfernt ein 36 37
Vgl. hierzu die Betrachtungen im Rahmen des Abschnittes 8.1.1 zum Diffusionskontext. Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 139.
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Fremder im räumlichen Sinne auch sein mag, er ist im soziologischen Sinne nah, wenn man das Begehren ihn nachzuahmen, leicht befriedigen kann. Dieses Gesetz der Nachahmung des Nächststehenden, des am wenigsten weit Entfernten erklärt, warum sich ein Vorbild aus der obersten Schicht einer Gesellschaft nur schrittweise und allmählich ausbreitet. Entsprechend lässt sich daraus unmittelbar schließen, dass, sobald eine untere Klasse beginnt eine der obersten Klassen nachzuahmen, sich die Entfernung zwischen beiden verringert haben muss.“38 Die von Rogers identifizierte Rolle des Opinion Leader ist somit nicht während des gesamten Diffusionsprozesses durch dieselben Subjekte belegt, sondern wechselt mit fortschreitender Diffusion entlang der Kommunikationshierarchie. Die Opinion Leader sind es, die von einer Hierarchieebene in die nächst tiefere herabwirken. Die Reihenfolge in der ein neuer Kontext oder viel mehr die Subjekte innerhalb dieses Kontextes erschlossen werden, hat Rogers durch Adopter-Kategorien erfasst. Diese basieren auf der Geschwindigkeit, mit der ein Akteur bereit ist, eine im Kontext aufgetretene Neuerung zu adaptieren. Rogers benennt fünf Anwendergruppen39 : •
•
• •
•
Innovators: als Gruppe der ersten Anwender, die Neuerungen gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Rogers beschreibt diese Gruppe als Kosmopoliten, die die Einstiegshürde für Ideen in ein neues System darstellen. Early adopters: als zweite Anwendergruppe, die stärker in lokalen Netzwerken organisiert ist, als die Gruppe der Innovatoren. Die Early Adopter nehmen daher laut Rogers sehr häufig die Rolle der Opinion Leader ein. Early majority: als dritte Gruppe, die noch vor dem Durchschnittsanwender die Anwendung beginnen. Late majority: als vierte, skeptische Gruppe, die die Anwendung erst beginnt, wenn ein Großteil des eigenen Umfeldes bereits positive Nutzungserfahrungen gemacht haben und diese weitergeben konnten. Laggards: als letzte Anwendergruppe. Laut Rogers umfasst diese Gruppe häufig sehr konservative, traditionell eingestellte Menschen, die nur eingeschränkt in soziale Netzwerke eingebunden sind.
Die teils lange Dauer, die – wie einleitend beschrieben – eine Innovation benötigt, um vollständig in einen neuen Kontext überführt zu werden, ist basierend auf den bisher beschriebenen Prozessen, abhängig von der Größe des Kontextes und seiner Dichte; also davon, wie viele Kommunikationshierarchien bestehen und wie stark zwischen den Akteuren dieses Kontextes kommuniziert wird. „Fällt ein Stein ins Wasser, wiederholt sich die erste Welle und dehnt sich bis zum Beckenrand aus. Zünde ich ein Streichholz an, verbreitet sich die erste Welle, die ich dem Äther mitteile, augenblicklich über die Ausdehnung des Raums. Ein Paar Ameisen oder Rebläuse auf einem Kontinent auszusetzen genügt, um ihn in wenigen Jahren zu verheeren. [...] Das Gesetz von Malthus und Darwin über die Tendenz 38 39
Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 240--241. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 22, 282–285.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
der Individuen einer Art, sich im geometrischen Verhältnis auszubreiten, ist bekannt: Es ist ein echtes Gesetz über die Zeugungsstrahlen der Lebewesen. Genauso wird ein lokaler, von wenigen Familien gesprochener Dialekt durch Nachahmung zu einer Nationalsprache. Die Kunst, einen Feuerstein zu behauen, einen Hund zu zähmen, einen Bogen zu bauen und in späteren Zeiten Brot aufgehen zu lassen, Bronze zu bearbeiten, Eisen zu gewinnen usw., mußte sich zu Beginn unserer Gesellschaft durch Ansteckung ausbreiten. Dabei war jeder Pfeil, jedes Stück Brot, jede Bronzespange und jeder behauene Feuerstein eine Kopie und diente zugleich als Modell. So verbreiteten sich bis heute gute Errungenschaften aller Art strahlenförmig. Der einzige Unterschied ist, dass die zunehmende Bevölkerungsdichte und die vollendeten Fortschritte diese Ausdehnung ungemein beschleunigen, so wie die Geschwindigkeit des Tons von der Dichte des Mediums abhängt.“40 Wenn also die Geschwindigkeit mit der eine Neuerung diffundiert von der Dichte des Diffusionsmediums – des sozialen Milieus – abhängt, wieso diffundieren dann nicht alle Neuerungen innerhalb eines Mediums gleich schnell und gleich erfolgreich? Weil die Diffusion von weiteren Parametern abhängig sein muss; zum Beispiel von der Qualität des subjektiven Nutzungszuwachses, die eine Neuerung in der Anwendung stiftet. Hinzu kommt ein Paradoxon, denn umso dichter ein Diffusionsmedium ist, desto schneller ist zwar die potentielle Verbreitungsgeschwindigkeit, doch gleichzeitig nimmt die potentielle Menge der bestehenden etablierten Artefakte und Konzepte zu, zu denen die Neuerung im Vergleich steht, zu deren Nutzungserfahrungen sie ggfs. in Konflikt steht und deren subjektive Nutzungsqualität sie übertreffen muss. Darüber hinaus muss sie eine Anfangsschwelle – man könnte auch von einem Momentum sprechen – überschreiten, das heißt eine Attraktivität, ein Potential vermitteln, die bzw. das groß genug zu sein scheint, um den Aufwand, den es kostet, sich mit etwas neuem auseinander zu setzen, rechtfertigt. Blättel-Mink beschreibt diese Kraft als Gegendruck der auf eine Innovation trifft. „Der Kapitalist, der eine Innovation finanzieren soll, wird eher auf das altbewährte Produkt zurückgreifen, da er dessen Rendite kennt, bevor er das höhere Risiko, das mit einem neuartigen Produkt verbunden ist, einzugehen bereit ist. Der Arbeiter tut sich schwer mit neuen Arbeitsmethoden, und der Konsument muss von der Güte des neuen Produktes erst mühsam überzeugt werden. Weiterhin wird die Einführung neuer Betriebsformen von der Öffentlichkeit häufig negativ beurteilt.“41 Rogers nennt verschiedene Faktoren, die den Erfolg und die Geschwindigkeit der Diffusion beeinflussen und in Bezug zur Dichte des Diffusionsmilieus bzw. Kontextes und des dort herrschenden Gegendrucks stehen42 : • • 40 41 42
Relativer, subjektspezifischer Vorteil Kompatibilität Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 40. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 70. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 15--16.
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Interaktionswelten • • •
Komplexität Möglichkeit die Innovation schadlos auszuprobieren Beobachtbarkeit
Darüber hinaus bemängelt Rogers, dass Innovationen häufig einzeln und unabhängig von einander betrachtet werden. Dies sei jedoch eine zu starke Vereinfachung und werde den Interferenzen und dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Innovationen während ihrer Verbreitung nicht gerecht. Vielmehr stellt er heraus, dass sich Innovationen abhängig zueinander verbreiten. Die gezielte Gruppierung und Verbindung von Innovationen könne die Diffusion sogar unterstützen und beschleunigen43 . Wejnert (2002) schlägt vor, die Faktoren des Diffusionsprozesses in drei Hauptbereiche zu unterteilen44 : in Charakteristiken einer Innovation, Charakteristiken der Akteure und Charakteristiken des umgebenden Kontextes. Wejnert stellt somit heraus, dass eine Innovation zwar Grundvoraussetzungen zur erfolgreichen Diffusion erfüllen muss, diese Charakteristiken einer Innovation aber nicht allein entscheidend sind für die Geschwindigkeit und den Erfolg des Diffusionsprozesses. Die von Rogers angeführten fünf Faktoren, die den Erfolg und die Geschwindigkeit der Diffusion beeinflussen, können entsprechend Wejnerts Klassifizierung als Charakteristiken der Innovation verstanden werden bzw. gar als Ergänzungen der von Wejnert in dieser Kategorie genannten Faktoren. So könnte der von ihm genannte Faktor der „persönlichen und öffentlichen Konsequenzen“ durchaus einer übergeordneten Kosten-Nutzen-Kalkulation zugeschrieben werden, die seinen zweiten und gleichzeitig letzten Punkt dieses Bereichs darstellt, und somit diverse Ebenen, wie ökonomische oder soziale Faktoren berücksichtigt. Rogers genannter Faktor des relativen Vorteils ist ebenfalls dieser Kosten-Nutzen-Kalkulation zuzuschreiben. Die übrigen vier Faktoren stellen dagegen verstärkt Merkmale dar, die die Innovation quasi aus sich selbst heraus aufweist und weniger durch die Gegenüberstellung mit anderen Artefakten oder Konzepten erhält. Wie Ingo Schulz-Schaeffer u. a. im Jahr 2006 anhand der Verbreitung von Innovationen im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisse formulieren, können für die Diffusion von Innovationen in unterschiedlichen Diffusionszusammenhängen eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren diverser Kategorien zusammenwirken45 . Als Umweltfaktoren können auch die bereits beschriebene Dichte des Diffusionsmilieus, sowie der dort herrschende Gegendruck angesehen werden. Wie Wejnert auflistet, stellt die Heterogenität des Milieus einen weiteren wichtigen Faktor dar. Die ungestörte Ausbreitung einer Idee oder eines Produktes setzt die Homogenität des Milieus voraus. „Jedes soziale Ding, d.h. jede Erfindung und jede Entdeckung, ist bestrebt, sich in seinem sozialen Milieu auszudehnen, wobei, wie ich hinzufügen möchte, das Mi-
43 44 45
Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 15. Vgl. Wejnert: Integrating models of diffusion of innovations: A conceptual framework, S. 297--299. Vgl. Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies?, S. 2.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
lieu selbst die Tendenz zur Ausdehnung zeigt, weil es sich wesentlich aus gleichen Dingen zusammensetzt, die alle unbegrenzte Bestrebungen zeigen. Diese Tendenz aber scheitert hier wie in der äußeren Natur meistens an der Konkurrenz anderer rivalisierender Tendenzen, was für die Theorie jedoch keine Rolle spielt. Der Begriff Tendenz ist metaphorisch verwendet. Man könnte der Welle oder der zeugenden Art genauso ein eigenes Begehren zusprechen wie der Idee. Damit ist gemeint, dass vereinzelt auftretende, individuelle Kräfte eine gemeinsame Richtung einnehmen. Diese Kräfte gehören zu den unzähligen Wesen, aus denen sich das jeweilige Milieu der verschiedenen Formen zusammensetzt. So verstanden setzen die Tendenzen voraus, dass das betreffende Milieu homogen ist. Das ist bei den Wellen im Äther oder in der Luft größtenteils der Fall, im geographischen und chemischen Milieu der Arten schon viel weniger und im sozialen Milieu der Ideen noch unendlich viel weniger.“46 Umso mehr konkurrierende Ansätze und Ansichten also in einem Milieu herrschen, desto schwieriger ist es, dass eine Innovationen Anwendung findet, da sie auf anschaulicher Weise auf diversen Ebenen gegen unterschiedlichste Konkurrenten bestehen muss und den jeweiligen Vergleich im Rahmen der Kosten-Nutzen-Rechnung für sich entscheiden muss. Aber auch in sehr konventionsgeprägten Anwendungszusammenhängen können Details sehr heterogen ausgestaltet sein. Während in einem solchen Kontext also die Grundfunktionen aller Artefakte sehr konventionell bedient werden können, können Nebenfunktionen in unterschiedlichen Artefakten mittels konkurrierender Ansätze gesteuert werden. Ein Beispiel für einen solchen Interaktionskontext mit grundsätzlicher Konventionsprägung stellt das Automobil dar. Die Steuerung eines Kraftfahrzeugs ist eine sehr routinierte Tätigkeit, die gleichermaßen von explizitem Wissen, wie der Straßenverkehrsordnung, und implizitem Wissen, wie Handlungswissen um motorische Abläufe und die Einschätzung kritischer Verkehrssituationen, geprägt ist. Dieser Interaktionskontext ist durch die bestehenden Konventionen konkret erfassbar. Die Grundfunktionen eines Automobils funktionieren bei allen Herstellern und Modellen gleich. Die grundsätzlichen Handlungsabläufe konnte sich der Nutzer, in diesem Fall der oder die Fahrerin, daher ausgiebig antrainiert und im Rahmen seiner beziehungsweise ihrer Fahrtätigkeiten Routinen entwickelt. Diese müssen aber auf jedes Automobil, das gelenkt wird, neu abgestimmt werden. Denn betrachtet man das gesamte Cockpit eines Automobils und nicht nur die Kernfunktionen, wie Gas geben, Bremsen und Lenken, lässt sich über diverse Hersteller und Modelle hinweg eine größere Heterogenität feststellen. Die gängigsten Funktionen, die ein Nutzer während der Fahrt auslösen muss, sind bei allen Automobilen größtenteils identisch – Lenken, Blinken, Abblendlicht, Lichthupe, Fernlicht, Scheibenwischer, Verstellung der Scheibenwischerfrequenz, Scheibenwaschanlage und weitere47 . Jedoch unterscheiden sich die Bedienelemente zur Auslö46 47
Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 41. Wenngleich diese Funktionen in absehbarer Zeit zunehmend automatisiert werden und sich der Nutzer somit von den unmittelbaren Aufgaben und Tätigkeiten des Fahrens abwenden und neuen Tätigkeiten innerhalb des Automobils zuwenden können wird.
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sung dieser Funktionen bei verschiedenen Autoherstellern und Automodellen48 . Hier haben sich keine strengen, herstellerübergreifenden Standards etabliert. Die hohe Intuitivität während der Nutzung eines spezifischen Automobils und der Interaktion mit allen Stell- und Drehteilen, Eingabeflächen und Systemen entsteht durch die häufige Nutzung. Die gewonnen Erfahrungen können im Idealfall durch eine niedrige Einstiegshürde beim anfänglichen Kontakt mit einem neuen Automobil oder bisher unbekanntem Fahrerumfeld übertragen werden. Sobald ein Fahrer in unterschiedliche Automobile gesetzt wird, erkennt man seine Interaktionswelt. Ein Automobil, dass er zuvor noch nie gesteuert hat, das eventuell sogar von einem Hersteller gebaut wurde, von dem er noch nie zuvor ein Fahrzeug gefahren hat, stellt für ihn eine neue Herausforderung dar, obwohl der grundsätzliche Kontext bekannt ist und bereits zum Erfahrungsraum wurde. Dabei ist es interessant zu sehen, wie häufig er ungewollt beziehungsweise nicht gewollte Funktionen auslöst, weil er hinter einzelnen Aktionen andere Funktionsreaktionen erwartet. Die Automobile, die er zuvor gefahren hat, bestimmen seine Erwartungshaltung und prägen seine Interaktionswelt. Gestärkt wird diese Beobachtung in diesem Kontext dadurch, dass Autofahren ein höchst routinierter, automatisierter Prozess ist und somit der Fahrer koordinierte Handlungsabläufe ausführt, die größtenteils auf seinem motorischen Gedächtnis basieren. Die Ausführung dieser Handlungen gerät erst dann ins Stocken, wenn die Reaktion des Fahrzeugs nicht mehr zu den einstudierten Abläufen und Erwartungen des Fahrers passt. Im Innenraum eines Automobils befinden sich viele Bedienelemente und Anzeigeflächen: Hardkeys, Softkeys, Sensoren und Graphical-User-Interfaces. Da das Fahrzeug als interaktives System im öffentlichen Raum gelenkt und bewegt wird, muss die Hauptaufmerksamkeit des Fahrers zu jeder Zeit auf dem Straßenverkehr liegen. Einige interaktive Anwendungen innerhalb des Automobils dürfen nur im Stand bedient werden. Die Driver Distraction, die Ablenkung des Fahrers vom Verkehrsgeschehen und seiner primären Tätigkeit, der Steuerung des Fahrzeugs, muss gering gehalten werden. Daher kann der Nutzer häufig die haptischen und grafischen Bedienelemente nicht vollkommen sehen und muss sich eher über Haptik, Motorik und räumliche Wahrnehmung, über die Anordnung der Bedienelemente in Relation zum Lenkrad und zueinander, orientieren. Auch wenn grafische Benutzer-Schnittstellen auch im Automobil grundsätzlich dem Nutzer über direkte Feedbacks, Affordanzen, Trigger und Feedforwards eine starke Anleitung geben können, ist die Wahrnehmung dieser Hinweise nicht so gesichert, wie bei anderen Interaktionskontexten – wie der Interaktion mit einem Smartphone, das der Anwender zur Bedienung in den eigenen Händen hält und einen guten Betrachtungswinkel und -abstand gewährleisten kann. Beim Autocockpit, dessen Verwendung in einem höchst routinierten Prozess stattfindet, der geprägt ist von Automatismen, spielt daher die Intuitivität der Bedienelemente, also der Konformität zur Erwartungshaltung des Fahrers eine größere Rolle, als bei GUI-basierten Interaktionssystemen. Bei GUI-basierten Interaktionssystemen wendet der Nutzer in der 48
Funktionsanordnung, Menüstrukturen und Bedienkonzepte neuerer Infotainmentsysteme im Fahrzeug weichen hingegen noch stärker von einander ab.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Regel bereitwillig einen höheren kognitiven Aufwand auf, als beim Fahren eines Automobils. Dies kann zumindest für fortgeschrittene Nutzer – sowohl PC-Nutzer als auch Autofahrer – abgeleitet werden. In Bezug zu Bourdieu und seinem Habitus Begriff, schließen Wolfgang Böhm und Josef Wehner 1990 auf eine „millieugebundene Präformiertheit“, die entscheidet, wie aufgeschlossen eine Person einem unbekannten technischen Artefakt gegenübersteht und welche Kriterien dieses Artefakt im Detail erfüllen muss, um Anwendung zu finden. „Der Ort ihrer Genese und Reproduktion ist das Milieu einer Person, jener Bereich der soziohistorischen Welt, in dem insbesondere die schicht- und bildungsmäßig verankerten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ausgebildet werden, die als Bestände eines elementaren Orientierungswissens die Einstellungen, Handlungen und Beurteilungsfähigkeiten einer Person -- auch in der Welt technischer Artefakte -- ermöglichen.“49 Auch Renate Möller weist auf den Einfluss des Nutzer-Habitus auf die Diffusion hin, auch wenn sie dies nicht so explizit tut, wie es bei Böhm und Wehner der Fall ist. Sie schreibt dazu: „Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Annahme, dass sich Menschen konstruktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Sie reproduzieren ihre Umwelt als Deutung. Diese Deutungen sind ´die Basis für das Handeln, sie ermöglichen Kompetenz, aber sie können auch zu Problemen führen. Da diese interpretative Konstruktion und Rekonstruktion der Wirklichkeit auch wesentlich die Handhabe der
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49
Die Abbildungen der Fahrzeuginnenräume entstammen Daimler AG: Mercedes-Benz S 65 AMG Coupé 2014: Exterieur: anthrazitblau metallic, Interieur: designo Leder Exkusiv Nappa sattelbraun/schwarz, Affalterbach, 2014, url: http://media.daimler.com/marsMediaSite/de/instance/ picture.xhtml?oid=7535574 BMW: Cockpit 7er BMW, 2016, url: https : / / mediapool . bmwgroup . com / download / edown / pressclub/publicq?dokNo=P90208701&actEvent=image Volkswagen AG: Cockpit VW Golf, 2016, url: https : / / www . volkswagen - media - services . com / documents/10541/234141/DB2012AU00971_LARGE.JPG Angus MacKenzie/Andrew Yeadon: Cockpit Tesla Model S, hrsg. v. Motortrend.com, 2013, url: http: //st.motortrend.com/uploads/sites/5/2013/06/2013-Tesla-Model-S-cockpit.jpg BMW Group: Cockpit Mini Cooper S, MediaPool der BMW Group, 2016, url: https://mediapool. bmwgroup.com/download/edown/pressclub/publicq?dokNo=P90211177&actEvent=image Michael Harnischfeger: Cockpit DS5, hrsg. v. AUTO Zeitung, 2012, url: http://fotos.autozeitung.de/ 938x704/images/bildergalerie/2012/03/Bilder-Citro%C3%ABn-DS5-Hybrid4-2012-Test-006.JPG Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG: Cockpit Porsche Panamera S, 2016, url: http : / / files . porsche . com / filestore/galleryimagerwd/multimedia/none/rd-2013-970-g1-2nd-v6-gallery-interior-06/zoom/ 279fa58d-37d0-11e3-bd76-001a64c55f5c/porsche-panamera-image.jpg Audi AG: Audi TT, Audi MediaCenter, 2016, url: https://bit.ly/2yZz0LK. Siehe Wolfgang Böhm/Josef Wehner: Der symbolische Gehalt einer Technologie: Zur soziokulturellen Rahmung des Computers, in: Werner Rammert (Hrsg.): Computerwelten - Alltagswelten, Bd. 7 (Mensch und Technik), Opladen: Westdt. Verl, 1990, S. 105–129, S. 108.
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Technik beeinflusst, lege ich im Kontext von Handlungsproblemen mit dem Computer großes Gewicht auf die 'Deutung' des Computers durch den Computernutzer und die 'Bedeutung' des Computers für den Computernutzer.“50 In dieser radikal konstruktivistischen Sichtweise ist die Lebenswelt des Akteurs, im Sinne seiner Erfahrungsstrukturen, die „schicht- und bildungsmäßig verankerten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster“51 und insbesondere seine Interaktionswelt diffusionsbeeinflussende Charakteristika des von der Innovation zu überzeugenden Akteurs. Diese Aspekte gelten vor allem im Anwendungskontext eines innovativen interaktiven Artefaktes. Zur gleichen Kategorie kann die Integration in kommunikative und soziale Netzwerke angesehen werden, sowie seine dortige Rolle. So ist für die Diffusion relevant, welchen Zugang der Akteur zu anderen Akteuren des Milieus hat, die ihm von der Existenz der Innovation berichten und ihm darüber hinaus Nutzungserfahrungen vermitteln. Wie zuvor bereits beschrieben, spielt dabei der persönliche Bezug zwischen den Kommunikationspartnern eine gewichtige Rolle, sowie die Nähe und Hierarchie innerhalb des Kommunikationsnetzwerkes52 . Besonderen Fokus soll an dieser Stelle auf die Charakteristiken der Innovation gelegt werden, die häufig im Zusammenspiel mit Faktoren der anderen beiden Kategorien zu wirken scheinen. Insbesondere den fünf Faktoren relativer Vorteil, Kompatibilität, Komplexität, Testbarkeit und Beobachtbarkeit, die Rogers in diesem Zusammenhang nennt, soll sich detaillierter gewidmet werden53 . Die Komplexität einer Innovation wurde zuvor bereits mehrfach betrachtet, insbesondere im Zusammenhang der Nachahmbarkeit komplexer Innovationen. Die dortigen Schlussfolgerungen waren, dass große Komplexität im Zuge der Nachahmung zu starker Varianz führt. Auf Anzeigeund Bedienkonzepte interaktiver Artefakte bezogen bedeutet dies, dass je komplexer das ABK des Artefaktes ist und je unbekannter die darin verankerten Prinzipien, also je innovativer das ABK an sich ist, desto stärker die Handlungsabfolgen innerhalb eines Milieus variieren. In diesem Zusammenhang spielt der nächste Faktor Rogers’ eine Rolle, die Beobachtbarkeit. „Die Tätigkeiten der höheren Sinne lassen sich leichter durch Nachahmung übertragen, als die der niederen. Wenn man jemanden auf etwas schauen oder hören sieht, wird man leichter dazu veranlasst, ihn nachzuahmen, als wenn man beobachtet, wie er an einer Blume riecht oder ein Gericht kostet.“54 Auch Rogers weist darauf hin, das diverse Studien belegen, dass Innovationen, die nicht beobachtbar sind, langsamer und schlechter diffundieren. 50 51 52 53 54
Siehe Möller: Der Weg zum "User": Probleme von EDV-Novizen bei der Aneignung des Phänomens Computer, S. 146. Siehe Böhm/Wehner: Der symbolische Gehalt einer Technologie: Zur soziokulturellen Rahmung des Computers, S. 108. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 18--19 Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 40 ff. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 15--16. Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 213.
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„A technology usually has two components: a (1) hardware aspect, consisting of the tool that embodies the technology as a material or physical object, and (2) a software aspect, consisting of the information base for the tool. For example, we often speak of (1) ‚computer hardware‘, [...] and (2) ‚computer software‘, consisting of the coded commands, instructions, manuals, and other information aspects of this tool that allow us to use it for certain tasks. This example illustrates the close relationship between hardware and software, between a tool and the way it is used. [...] The diffusion of such software innovations has been investigated, although a methodologial problem in such studies is that their adoption cannot be so easily traced or observed. Such idea–only innovations have a relatively lower degree of observability and thus a slower rate of adoption.“55 Umso beobachtbarer also eine Innovation angewendet wird, desto leichter fällt die Nachahmung. Gleichzeitig gilt, je expliziter das durch die Anwendung gewonnene praktische Wissen ist, desto leichter lässt es sich verbal von einem Akteur an einen anderen weiter geben. Zentral für die Diffusion innovativer interaktiver Artefakte ist somit, wie gut die innovativen Bedienabfolgen beobachtet und nachvollzogen werden können, und ob der bereits nutzende Akteur in der Lage ist, seine Handlungen verbal weiter zu geben. Ist ein Interaktionskonzept nicht klar benennbar, kann es auch nicht weiter empfohlen werden. Wie sowohl Eva Illouz als auch Schwer betonen, entwickeln sich nicht nur Artefakte weiter, indem neue Innovationen entstehen, sondern parallel dazu auch die Anwender, indem sie immer weitere neue Artefakte verwenden und somit Erfahrungen sammeln. Gleichzeitig reift auch die Fähigkeit der Anwender komplexe Zusammenhänge zu benennen und Erfahrungen verbal zu erfassen und zu beschreiben56 . „Analog zur Ausdifferenzierung der Waren findet eine Ausdifferenzierung von Sprache und Wahrnehmung statt, die gleichzeitig zu einer neuen Selektionskompetenz führt.“57 Die Kommunizierbarkeit der Nutzungserfahrungen und -Grundlagen stellen somit keine absolute Hürde dar, die nicht überschritten werden kann – wie beispielsweise die Lichtgeschwindigkeit als absolute Höchstgeschwindigkeit angesehen wird – sondern ist eine im aktuellen Milieu, Kontext und zeitlichen Bezug bestehende, relative Hürde. Wie Rogers hervorhebt, werden Innovationen die nur eingeschränkt beobachtbar sind, häufig mit weiteren Entitäten gekoppelt, um die Gesamtwahrnehmbarkeit zu steigern. Dies können technologische Entitäten sein, die ein Artefakt formen, das als Produkt diffundiert, oder Inhalte, die auf einer Website mit innovativem Interaktionskonzept präsentiert werden und dafür sorgen, dass Nutzer die Seite besuchen und das Konzept anwenden. 55 56
57
Siehe Rogers: Diffusion of innovations, S. 13. Vgl. Eva Illouz: Emotionen, Imagination und Konsum: Eine neue Forschungsaufgabe, in: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hrsg.): Warenästhetik: Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Bd. 1964 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), Berlin: Suhrkamp, 2011, S. 47–90, S. 82f. Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 116.
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„The clustering of visible innovations is one evidence for the importance of observability (and peer–to–peer networks). Other consumer innovations, such as home computers, are relatively low in observability and thus diffuse more slowly.“58 Rogers bezeichnet den Personal Computer als Innovation, die schwer beobachtbar sei und attestiert ihm dadurch eine relativ geringe Diffusionsgeschwindigkeit. Diese Aussage muss wahrscheinlich in den zeitlichen Kontext Rogers´ Niederschrift gesetzt werden und muss primär für die Diffusion der ersten PC-Generation in den 1970er und 1980er Jahren betrachtet werden. Aufgrund der gegenwärtigen starken Verknüpfung zwischen Kommunikation und computerbasierten Artefakten, wie sie bei Smartphones, Tablet-Computer und smarten Tangibles – wie Smartwatches, Fitnessarmbändern und Datenbrillen – auftritt, scheint Rogers´ Aussage nicht grundsätzlich auf interaktive Systeme übertragbar zu sein. Diese Geräteklassen rücken stark in den gesellschaftlichen Fokus, erlangen selber medialen Charakter59 und gehören in diversen Milieus zum hedonistischen Alltag60 . Die Nutzung innovativer Geräte wird in diesen Milieus aktiv publik gemacht. Die schadlose Testbarkeit einer Innovation, also die Möglichkeit, die Innovation ohne negative Auswirkungen befürchten zu müssen eigenhändig auszuprobieren, scheint im Kontext der Diffusion interaktiver Innovationen eine große Rolle zu spielen. Insbesondere, wenn die Beobachtbarkeit der Hauptmerkmale einer Innovation bzw. ihrer Anwendung eingeschränkt ist, wie es bei innovativen Anzeige- und Bedienkonzepten der Fall zu sein scheint, ist die Erfahrbarkeit und Testbarkeit ein erheblicher Faktor. Insbesondere, da die unmittelbare Nutzungserfahrung, wie zuvor bereits erörtert, primär zu implizitem Wissen führt und somit nur eingeschränkt verbalisiert werden kann. Wie Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou prägnant formulieren, scheint die eigene Erfahrung „immeasurably more important than any form of verbal description“61 zu sein. Können Innovationen also direkt erprobt werden, ist die daraus resultierende direkte Erfahrung um ein vielfaches relevanter für den folgenden Diffusionsprozess, als die reine Kommunikation über die Innovation. 58 59
60
61
Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 16. Vgl. Karl H. Hörning/Daniela Ahrens/Anette Gerhard: Die Autonomie des Lebensstils. Wege zu einer Neuorientierung der Lebensstilforschung, in: OttoG Schwenk (Hrsg.): Lebensstil zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturwissenschaft, Bd. 7 (Reihe ‚qSozialstrukturanalyse‘q), VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1996, S. 33–52, S. 50. Vgl. Peter Behrens u. a.: Mediennutzung und Medienkompetenz in jungen Lebenswelten: Repräsentative Onlinebefragung von 14- bis 29-Jährigen in Deutschland, in: Media Perspektiven 2014, S. 195–218, url: http://www.lfk.de/fileadmin/media/medienkompetenz_fortbildung/04-2014_ Behrens_Calmbach_Schleer_Klingler_Rathgeb.pdf Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 95ff. SINUS-Institut: DIVSI Milieu-Studie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet: Eine Grundlagenstudie des SINUS-Instituts Heidelberg im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI), Hamburg: Dt. Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI), 2012, url: https : / / www . divsi . de / sites / default / files / presse / docs / DIVSI - Milieu - Studie _ Gesamtfassung.pdf. Siehe Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 23. Vgl. auch Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 155--156.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Für die weiteren Betrachtungen soll der Diffusionprozess zunächst nochmals unterteilt werden. Der Kern des Diffusionsprozesses stellt die subjektspezifische Entscheidung die Innovation anzuwenden – ob unverändert oder durch unterschiedliche Anpassungen – oder nicht anzuwenden dar. Er soll in der Folge konstruktivistisch betrachtet werden. Erst nach dieser Entscheidung spielen sich soziale Prozesses größeren Ausmaßes ab, wie Tarde formuliert. „Nur wenn der individuelle Zweikampf beendet ist, beginnt der soziale. Jeder Nachahmungshandlung ist eine Unentschiedenheit des einzelnen vorausgegangen. Denn eine Entdeckung oder Erfindung, die sich auszubreiten sucht, muß immer einige Hindernisse in Form einer in jedem einzelnen schon bestehenden Idee oder Praxis überwinden. So findet im Herzen oder im Geist dieser Person ein Konflikt statt: Entweder zwischen zwei Kandidaten, d.h. zwei Arten von Politik [...] oder zwei konkurrierende Ausdrücke, die sich seiner nicht festgelegten Sprache anbieten. Solange dieses Zögern im einzelnen anhält, ahmt er noch nicht nach. Erst wenn er nachahmt, ist er Teil der Gesellschaft. Sobald er aber nachahmt, hat er sich entschieden.“62 Die auf diese Zweikämpfe folgenden sozialen Prozesse, sollen in den hier aufgeführten Betrachtungen jedoch ausgeklammert werden. Des Weiteren unterscheidet Tarde im Zusammenhang der individuellen Nachahmungsentscheidung zwischen logischen und unlogischen Faktoren. „Um logische Ursachen handelt es sich, wenn der Mensch eine Neuerung deshalb wählt, weil er sie für nützlicher und wahrer hält als andere, d.h. weil diese mehr als jene mit den schon in ihm bestehenden Zielen und Prinzipien übereinstimmt.“63 Die von Tarde so bezeichneten „unlogischen Faktoren“ wirken in größeren Zusammenhängen bzw. stehen nicht in direktem Bezug zur Qualität einer Innovation und entziehen sich somit auch dem Einfluss der Gestaltung. Daher sollen diese Faktoren ebenfalls für die weitere Betrachtung vernachlässigt werden. Die subjektspezifische Entscheidung eine Innovation anzuwenden wäre demnach auf logische Ursachen zurückzuführen, die wiederum Rückschlüsse auf den Einfluss der Gestaltung erlauben. Der Kern dieser Entscheidungslogik kann, wie Rogers, aber auch Wejnert nahelegen, als Kosten-Nutzen-Rechnung betrachtet werden. Dadurch lassen sich die von Wejnert beschriebenen Einflusskategorien der Innovation, des Individuums und der Umwelt bzw. des Kontextes aus rein subjektspezifischer Perspektive betrachten. In der Folge wäre die Entscheidung, ob eine Innovation durch ein Subjekt Anwendung findet, das Ergebnis eines mehr oder weniger bewussten Abwägungsprozesses von Vor- und Nachteilen. Die zentralen Kriterien wären demnach Aufwand und Ertrag, die unter der Prämisse einen Ertragsüberschuss zu erreichen, also die gegenwärtige Situation zu verbessern, gegeneinander abgewogen würden. Ertrag kann im Kontext der MMI vor allem als Nutzen verstanden werden, wobei zunächst Artefakte allgemein als nutzstiftend angesehen werden sollen, die dem Anwender helfen eines 62 63
Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 183--184. Siehe ebd., S. 159ff.
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Interaktionswelten
seiner Bedürfnisse zu befriedigen. Dies können sehr greifbare, konkrete Aufgabenstellungen sein, die messbar erreicht oder verfehlt werden können. Entsprechend der Maslowschen Bedürfnishierarchie sind jedoch auch abstraktere Anforderungen möglich, die höheren Bedürfnissen des Menschen entsprechen, wie dem Bedürfnis auf soziale Anerkennung oder Selbstverwirklichung und deren Befriedigung für außenstehende nicht zwingend überprüfbar oder nachvollziehbar sind. Im Sinne der Viabilität ist es in diesem Zusammenhang irrelevant, wie sehr die unterschiedlichen Bedürfnisse erfüllt werden, also wie stark die gegenwärtige Situation verbessert wird und wie groß der Ertragsüberschuss ausfällt. Nach Ernst von Glaserfeld (1984) ist nur relevant, dass ein Vorteil durch die Nutzung der Innovation entsteht und dieser alle zusätzlich auftretenden Nachteile ausgleicht. „Und den Begriff der Viabilität möchte ich, wenn ich das so grob tun darf, als die Hälfte dessen definieren, was wir gewöhnlich unter ‚passen‘ verstehen. Wenn ich ein Paar Schuhe kaufen muß, dann suche ich solche, die mir weder zu klein noch zu groß sind. Der Begriff der Viabilität, [. . .], zieht lediglich das Zukleinsein in Betracht; wenn ein Schuh nicht drückt, ist es völlig belanglos, wieviel Spielraum er meinem Fuß läßt. [. . .] In der biologischen Anpassung [. . .] ist es gleichgültig, wieviel Spielraum der Organismus zwischen den Hindernissen hat, die die Umwelt ihm in den Weg stellt -- was zählt, ist einzig und allein, daß er durchkommt. Ebenso ist es nicht nur gleichgültig, sondern schlechthin unerkundbar, wie weit Theorien, die die Wissenschaft aufbaut, von der ontischen ‚Wirklichkeit‘ entfernt sind -was zählt ist, daß sie die Probleme der Erlebniswelt, derentwegen sie konstruiert wurden, einigermaßen lösen.“64 Auf den vorliegenden Betrachtungsschwerpunkt übertragen, ist es somit irrelevant, wie stark ein Konzept die Erwartungen eines Nutzers übererfüllt bzw. übertrifft. Es muss nur seine essentiellsten Erwartungen erfüllen und einige wenige relevante, um neben der reinen Zweckmäßigkeit eine zusätzliche Befriedigung zu generieren. Diese zusätzliche Befriedigung ist aber nur dann für die Diffusion relevant, wenn es alternative und konkurrierende Angebote und Konzepte gibt, zwischen denen der Akteur wählen kann. Ist dies nicht der Fall, entscheidet bereits die reine Erfüllung der essentiellsten Belange über die Nutzung des Artefaktes bzw. der Innovation. Umso häufiger einzelne Bewertungskriterien jedoch erfüllt werden und je mehr konkurrierende Produkte dies tun, desto weniger Wert legt der Anwender bzw. Beobachter auf diese Bedürfnis bei der Anwendungsentscheidung, wie Thilo Schwer in Bezug auf Jochen Gros (1974) konstatiert65 . „Bezogen auf Konsumgüter leitet Gros daraus ab, dass beispielsweise die permanente Erfüllung der praktischen Funktionalität dazu führe, dass diese als Unterscheidungsmerkmal bei der Auswahl eines Produktes in den Hintergrund
64
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Siehe Ernst von Glaserfeld: Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München: Piper, 1984, S. 16–38, S. 20. Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 68.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
trete. Stattdessen würden ästhetische oder symbolische Funktionen zur Beurteilung herangezogen. Auch diese verlören bei ständiger Bedürfnisbefriedigung ihre hohe Bedeutung bei der Alternativauswahl: ‚Geht man davon aus, daß im Zuge der industriellen Entwicklung die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse tendenziell zur Selbstverständlichkeit wird, dann ist zu erwarten, daß diese Bedürfnisse an aktuell motivierender Kraft verlieren. In dem Maße, in dem die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse problemlos wird, verlagert sich unsere Aufmerksamkeit: Bedürfnisse nach Gruppenzugehörigkeit, sozialem Kontakt, nach Objektbesetzung, Status, Selbstverwirklichung, kognitivem Reizmaterial, nach Welterkenntnis und nach dem Schönen.‘“66 So wie Wejnert drei unterschiedliche Kategorien der Faktoren des Diffusionsprozesses definiert hat, können im Zuge der subjektbezogenen, konstruktivistischen Betrachtung der Entscheidung, ob eine Innovation Anwendung findet, verschiedene Dimensionen der Produktwahrnehmung unterschieden werden. Dies scheint aus unterschiedlichen Gründen relevant für die vorliegende Betrachtung zu sein. Zunächst, da innovative interaktive Konzepte im Sinne Rogers´als software innovations angesehen werden können, also als Innovationen die schwer beobachtbar sind und daher häufig gekoppelt mit anderen Konzepten und materiellen Konstruktion verwendet oder gar diffundiert werden und diese Cluster als ganzes auf den Betrachter wirken. Innovative interaktive Konzepte werden daher stärker als reine hardware innovations im Zusammenspiel mit anderen Konzepten und Arrangements wahrgenommen und bewertet. Des Weiteren, da nicht nur das zu diffundierende, innovative interaktive Konzept nutzenstiftend sein muss, sondern das gesamte Arrangement aus Sicht des Bewertenden und die Anwendungsentscheidung treffenden Subjektes ausreichend nutzenstiftend sein muss. Selbst, wenn das innovative interaktive Konzept demnach äußerst nutzenstiftend wäre, könnte der Gesamteindruck des Arrangements dazu führen, dass die Verwendung des Artefaktes als nicht lohnenswert eingeschätzt wird. Zum dritten, da in der Folge somit nicht nur Kriterien, die ein interaktives und innovatives Konzept direkt erfüllen kann die Entscheidung beeinflussen, ob es Anwendung findet, sondern ebenfalls Kriterien, die die materiellen Aspekte des Arrangements – des Produktes – erfüllen können bzw. müssen. Erst die Wirkung des gesamten Arrangements ermöglicht die theoretische Befriedigung aller relevanten Bedürfnisse unterschiedlicher Bedürfnisebenen. So spielen, wie Hassenzahl/Burgmester/ Koller 2003 herausstellen, neben der pragmatischen Qualität eines Artefaktes, also seiner Gebrauchstauglichkeit als Kombination aus Benutzbarkeit und Nützlichkeit, bei der Entscheidung über die Anwendung eines Artefaktes auch hedonische Qualitäten eine Rolle, wie zum Beispiel Stimulation und Identität67 .
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67
Siehe Jochen Gros: Erweiterter Funktionalismus und Empirische Ästhetik, Diss., Staatliche Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, 1974, S. 42; zitiert nach Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 68. Vgl. Hassenzahl/Burgmester/Koller: AttrakDiff: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer Qualität, S. 187--188. Vgl. zur Rolle irrationaler Faktoren in der
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Die Entscheidung ob ein interaktives, innovatives Konzept Anwendung findet ist demnach nicht nur vom Interaktionskonzept sondern auch von den weiteren Komponenten des Gesamtartefaktes abhängig. Die einzelnen Bestandteile werden vom Betrachter aber meist im Zusammenspiel des Gesamtarrangements wahrgenommen. „Ist ein interaktives Produkt zur Manipulation der Umwelt geeignet, und wird auch von seinen Benutzern so wahrgenommen, besitzt es ‚pragmatische‘ Qualität. Erweitert ein interaktives Produkt hingegen durch neue Funktionen die Möglichkeiten des Benutzers, stellt neue Herausforderungen, stimuliert durch visuelle Gestaltung und neuartige Interaktionsformen oder kommuniziert eine gewünschte Identität (z. B., indem es professionell, cool, modern, anders wirkt) besitzt es ‚hedonische‘ Qualität“68 . Schäfers betont 2011 in diesem Sinne die hedonische, ikonenhafte Wirkung des Automobils als Aushängeschild und Wertsteigerung der eigenen Rolle innerhalb der Gesellschaft. Das Automobil bedient nicht nur rein funktionale Anforderungen sondern bedient höhere menschliche Bedürfnisse der Selbstdarstellung und sozialen Differenzierung69 . Cooper u. a. listen 2014, mit Bezug zu Donald Norman, drei grundsätzliche Arten von Zielen auf, die ein Nutzer verfolgt70 . Reflektive Lebensziele beziehen sich darauf, wer der Nutzer sein möchte; handlungsbezogene Endziele beziehen sich darauf, was der Nutzer tun möchte; implizite oder intuitive Erfahrungsziele beziehen sich darauf, wie sich der Nutzer fühlen möchte71 . Thilo Schwer beschreibt hingegen vier Dimensionen, die die Produktwahrnehmung prägen und somit auch über die Diffusion eines Produktes bzw. innovativen Artefaktes entscheiden. Die Sachdimension „Die Sachdimension beinhaltet, [. . .] alle Produkteigenschaften sowie alle Kommunikationen über Bauweise, Funktionalität etc., die dem Gerät – unmittelbar oder im Vergleich mit anderen Produkten – zugeschrieben werden können. Ihr Doppelhorizont wird über die Differenz ‚dies/anderes‘ aufgespannt.“ Die Zeitdimension „Die Zeitdimension umfasst sowohl zeitliche Bezüge in Richtung Zukunft und Vergangenheit als auch zeitliche Abfolgen und kontinuierliche Entwicklungen.“ Schwer unterscheidet in dieser Dimension nicht nur zwischen Vorher und Nachher sondern ebenfalls zwischen Kontinuität und Diskontinuität.
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70 71
Nutzungsentscheidung auch Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte, S. 78--80. Siehe Hassenzahl/Burgmester/Koller: AttrakDiff: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer Qualität, S. 188. Vgl. Bernhard Schäfers: Zur Sozialgeschichte und Individualbedeutung des Autos, in: Peter Weibel (Hrsg.): Car culture, Karlsruhe: ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 2011, S. 225–234, S. 226. Vgl. hierzu Abbildung 12. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 76ff.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Die Sozialdimension „In der Sozialdimension geht es darum, mögliche Alter-Sichtweisen, also unterschiedliche bzw. kontingente Perspektiven von Anderen, aufzugreifen, die Ego in seiner Handlungsausrichtung berücksichtigen könnte. Die Differenz ‚Konsens/Dissens‘ erfasst in der Außenperspektive somit sowohl Zugehörigkeit als auch Abgrenzungen.“ Die Fiktionsdimension „Diese vierte Dimension thematisiert schließlich mögliche Ego-Perspektiven, die im Rahmen der Differenz ‚Identität/Fiktionen‘ verortet werden können. Im Bereich der Identität geht es um persönliche Kontinuität, autonome Möglichkeiten, auf die Umwelt einzuwirken, sowie um Aspekte der Selbstbewertung. Der Gegenpol der Fiktion erfasst im Gegensatz dazu fiktive Rollen, die das Individuum einnehmen kann, mögliche Ich-Ideale, die gewünscht oder durchgespielt werden, aber nicht zur Selbstbewertung gehören.“72 Die durch die unterschiedlichen Wahrnehmungsdimensionen transportierten Qualitäten können dabei unterschiedliche Bedürfnisse ansprechen und befriedigen. Zu verstehen, was die Bedürfnisse und Ziele des Anwenders sind, ist essentiell für die Gestaltung interaktiver Produkte. Alle weiteren Betrachtungen, welche Handlungen und Operationen zur Erreichung dieser Ziele nötig sind und wie diese im Detail gestaltet und angelegt werden, können nur auf der Betrachtung der grundsätzlichen Ziele fußen. Der Schwerpunkt der Gestaltung kann nicht immer ausschließlich Ästhetik oder Intuitivität sein. Vielmehr müssen die Ziele der Nutzer erfüllt bzw. dem Nutzer geholfen werden, die Ziele durch die Verwendung des interaktiven Artefaktes zu erreichen. Ein Beispiel für die Erfüllung pragmatischer Anforderungen auf der Sachdimension stellt die mobile Anwendung „Photoshop Express“ dar, die sich primär an Amateurfotografen richtet und auf deren Ziele und Bedürfnisse zugeschnitten ist. „The user – likely an amateur photographer – is thinking in terms of how his photo looks.“73 Daher werden in Photoshop Express technische Zusammenhänge und Algorithmen der graphischen Datenverarbeitung und -Manipulation zugunsten einer Vorschau der Nutzeraktion verschleiert. Professionelle Photoshop Nutzer, der Desktop-Anwendung, nehmen mit zunehmender Expertise höhere Hürden in Kauf. Sie wissen welche Effekte, Filter und Einstellungen miteinander kombiniert werden können und haben Ziele, die nicht mit einer einzelnen Funktion, sondern mit der Aneinanderreihung von Funktionen erreicht werden. Das design model74 das in Photoshop Express angewendet wurde, um das technologische Modell, die Autoren nennen es „implementation model“, zu verschleiern, würde in Photoshop CC zur exponentiellen Vervielfältigung von Effekten, Filtern 72
73 74
Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 224--233. Siehe zur symbolischen Funktion von Produkten auch Crampton Smith: Foreword: What Is Interaction Design?, S. xiii--xiv. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 19--20. Siehe Norman: The design of everyday things, S. 189 ff. und Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 16--21.
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und Funktionen und somit zur Überladung der grafischen Benutzeroberfläche führen. Obwohl verwandte Ziele mit denselben technischen Möglichkeiten erzielt werden können, kann es also sinnvoll sein, dem Anwender gänzlich unterschiedliche Herangehensweisen anzubieten, um die Ziele je nach Anwendungskontext zu erreichen. „[...] the first question a designer should ask: Why is a user performing an activity, task, action, or operation in the first place? Goals motivate people to perform activities; understanding goals allows you to understand your users' expectations and aspirations, which in turn can help you decide which acitivities are truly relevant to your design."' „Since goals are driven by human motivations, they change very slowly – if at all – over time. Activities and tasks are much more transient, because they are based almost entirely on whatever technology is at hand.“75 Allerdings müssen für eine erfolgreiche Diffusion innovativer Interaktionskonzepte nicht nur die Ziele des Nutzers betrachtet werden. Auch die Ziele der Kaufentscheider, Geschäftsziele und technische Ziele müssen berücksichtigt werden. Aspekte der Sozialdimension und der Fiktionsdimension unterliegen dabei ebenso der Gestaltung, wie rein funktionale Wirkungszusammenhänge der Sachdimension; wenngleich sie im Zuge der Gestaltung von ABKs nicht immer direkt erkennbar sind oder gar explizit als Gestaltungsziele und klare Nutzeranforderungen formuliert werden können. Bedürfnisse, die durch diese Dimensionen angesprochen werden, sind die Selbstdarstellung bzw. das senden von Ich-Aussagen, mit denen, um im Vokabular von Schwer zu bleiben, das Ego sich selbst bzw. sein Wunschbild des eigenen Selbst nach außen hin kommuniziert. Artefakte werden durch ihre Eigenschaften sozial mit Bedeutung aufgeladen. Menschen haben laut Sophia Prinz (2014) – mit Verweis auf Simmel (1995 und 1998)76 – den Drang, diese Werte durch die Nutzung der Artefakte auf sich selbst zu übertragen und dadurch eine Selbstinszenierung zu erzeugen. Durch die Nutzung von Artefakten wird folglich sozial kommuniziert. Nutzung ist somit auch Ich-Aussage. Selbstwahrnehmung, Selbstinszenierung und Selbstverwirklichung müssen in dieser Konsequenz als wichtige Faktoren der Nutzungsentscheidung und demnach der Diffusion eines Produktes bzw. der darin angewendeten Innovationen angesehen werden77 . Zwar basiert diese Form der Kommunikation auf der Aneignung von Aussagen, die dem Artefakt während des Gestaltungsprozesses initiiert wurden, jedoch scheinen nur solche Eigenschaften zur Abbildung des Egos verwendet zu werden, die ihrerseits leicht erfahrbar sind. Somit scheinen vor allem ästhetische Merkmale die visuell oder haptisch erfahrbar sind die Bedeutung eines 75 76
77
Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 19, 79. Prinz bezieht sich hierbei auf Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Aufsätze und Abhandlugen, 1901-1908, Bd. Bd. 7 (Gesamtausgabe / Georg Simmel), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, S. 116–131 und ders.: Soziologische Ästhetik, 1. Aufl. (Klassiker der Sozialwissenschaften), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. Vgl. Sophia Prinz: Die Praxis des Sehens: Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung (Sozialtheorie), Bielefeld und Frankfurt/Oder: transcript-Verl, 2014, S. 19--20.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Artefaktes zu prägen, weniger Aspekte wie die Bedienführung innerhalb eines ABKs, oder die darin enthaltenen mentalen Modelle oder Metaphern, die ebenfalls Gegenstand der Interaktionsgestaltung sind. Ein zentraler Aspekt der Sozialdimension ist die soziale Abgrenzung oder die Integration von bzw. in eine Gruppe, die sowohl als Ich-Aussage gewertet werden kann, als auch als direktes Bedürfnis. Die Diffusion und insbesondere die essentielle Entscheidung ob die Innovation angewendet wird, ist nicht zuletzt auch die Entscheidung über Zugehörigkeit oder Abgrenzung. Beobachtung und Nachahmung, als rudimentäre Bestandteile der Diffusion, erzeugen sozialen Konsens oder Dissens, bilden dadurch soziale Grenzen und schaffen soziale Zugehörigkeitsgefühle78 . Ein Beispiel für ein gestalterisch überarbeitetes ABK, dessen Ablehnung durch die Nutzer auf deren Ziel sich sozial abzugrenzen bzw. sich als Teil einer elitären Expertengruppe darzustellen zurückzuführen ist, ist das Bloomberg-Terminal. Die Designfirma IDEO hat im Jahr 2007 das User Interface inklusive seiner Informationsanordnung, -Priorisierung und Hierarchisierung, der visuellen Gestaltung, sowie der Menüstruktur, den Bedienabfolgen, dem Funktionsumfang und der Verknüpfung mit zusätzlichen Geräten überarbeitet79 . Obwohl – wie anhand eines Vergleichs zwischen Abbildung 19
Abbildung 19: IDEO Designkonzept des Bloomberg Terminals80 . und Abbildung 20 nachvollzogen werden kann – vor allem die Lesbarkeit des nach wie vor sehr textlastigen GUI durch die Optimierung der Schriftgrößen und Kontraste einhergehend mit der Invertierung der Hintergrund- und Textfarbe, hin zu dunkler Schrift auf weißem Hintergrund, als objektive Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit angesehen werden kann, wurde das Konzept nicht umgesetzt. Lex Fenwick, der 78
79 80
Vgl. Yaneva: Grenzüberschreitung. Das Soziale greifbar machen: Auf dem Weg zu einer AkteurNetzwerk-Theorie des Designs, S. 84 Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 184 und Fischer: Interphänomenalität. Zur AnthropoSoziologie des Designs, S. 102. Vgl. IDEO: Bloomberg Terminal Concept for Portfolio Magazine: Envisioning the future and adoption of financial data delivery, 2015, url: http://www.ideo.com/work/bloomberg-terminal-concept/. Quelle: ebd.
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Interaktionswelten
damalige CEO von Bloomberg, hat die damalige Beibehaltung des bestehenden GUI damit begründet, dass sie verpflichtet seien, eine hohe Konsistenz und Verwandtschaft zu vorherigen GUI-Versionen aufrecht zu erhalten, an die sich die Nutzer des Bloomberg-Terminals bereits gewöhnt hätten. „We have to be religiously consistent“81 . Dominique Leca sieht die Ablehnung der Neugestaltung jedoch primär im Bedürfnis der Nutzer begründet, sich selber als absolute Experten darzustellen, die das äußerst komplexe und schlecht lesbare Bloomberg-Terminal beherrschen und sich dadurch vom Durchschnitts-Menschen absetzen. „Simplifying the interface of the terminal would not be accepted by most users because, as ethnographic studies show, they take pride on manipulating Bloomberg's current ‚complex‘ interface. The pain inflicted by blatant UI flaws such as black background color and yellow and orange text is strangely transformed into the rewarding experience of feeling and looking like a hard-core professional. [...] The more painful the UI is, the more satisfied these users are. [...] The Bloomberg Terminal interface looks terrible, but it allows traders and other users to pretend you need to be experienced and knowledgeable to use it.“82
Abbildung 20: Bloomberg Terminal, Stand 201683 . Das bedeutet, in einigen Kontexten, vor allem bei Expertensystemen, bestehen soziale Konventionen, die dazu führen, dass Neuerungen nicht diffundieren können. Dabei geht es weniger um reine Interaktionskonvention, die verhindern, dass zu stark abweichende Neuerungen abgelehnt werden, sondern um anderweitige Eigenschaften, deren Bestätigung eine Aussage über das Subjekt tätigt. Auch wenn eine Bestätigung,
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Siehe Dominique Leca: The Impossible Bloomberg Makeover, 2010, url: http : / / uxmag . com / articles/the-impossible-bloomberg-makeover. Siehe ebd. Quelle: Bloomberg Finance L.P: Tools HARDWARE, 2016, url: https : / / www . bloomberg . com / professional/hardware/.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
wie im vorliegenden Beispiel, eigentlich die Verweigerung neuer und in einigen Aspekten besserer Konzepte bzw. Artefakte bedeutet. Somit wäre die primäre Aussage, dass der Nutzer keine Optimierung braucht, da er den hohen Ansprüchen des Systems – hier in Form der schlechten Lesbarkeit und hohen visuellen Komplexität – gerecht wird. Die eigentliche Untauglichkeit des Systems wird zur Erhebung des eigenen Ichs in einen elitären Expertenkreis verwendet. Dieses Streben des Nutzers hat dieselbe Wirkung, wie eine verfestigte Interaktionskonvention, mit dem Unterschied, dass die Selbstinszenierung aus einem menschlichen Bestreben erwächst und nicht aus der Bestätigung und Kollektivierung von Nutzungserfahrungen. Die Bedeutung, die einem Artefakt zugewiesen wird, darf laut Schwer nicht als „statisch angeheftete Eigenschaft“84 betrachtet werden. Vielmehr könne sich die Bedeutungszuschreibung und damit die Tauglichkeit für spezifische Ich-Aussagen sowohl in unterschiedlichen Phasen der Produktwahrnehmung als auch im Verlauf der Zeit verändern. Gleichzeitig könne diese Vergänglichkeit sogar im Zuge des Gestaltungsprozesses bewusst angelegt sein, um Raum für zukünftige Produkte vorzuhalten. Als Beispiel führt Schwer hierbei das iPhone an, dessen gewollte aktuelle und innovative Bedeutung demnach bewusst zeitlich begrenzt wird85 . Das bewusste Aufgreifen von Trends oder gar kurzzeitige Hervorrufen von Trends erzeugt Mode, deren Attraktivität durch Aktualität und zeitlichen Verfall begründet ist und deren Hauptziel es ist, permanent neue Kaufreize zu setzen und den Konsum aufrecht zu erhalten86 .
8.2
Fokussierung auf die Diffusion von Innovationen im Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion
Die Diffusion kann zweigeteilt betrachtet werden. Zunächst die Phasen, die zur Aufmerksamkeit auf die Innovation und die letztliche Anschaffung – egal ob Kauf, Download oder sonstige Aneignung jeglicher Art – führen und mit analytischen Gestaltungsmethoden, wie der Customer Journey Analyse betrachtet werden. Darauf folgend die Phasen der ersten Selbsterfahrung und Selbstbewertung. Also die Momente der ersten Nutzung und tiefer gehenden Nutzung, in denen eigene Eindrücke und Erfahrungen gesammelt werden, die mit bestehenden Erfahrungen verglichen und kumuliert werden und aus denen eine Einschätzung über das Artefakt hervorgeht. In diesem Zusammenhang entsteht die Entscheidung das Artefakt weiterhin zu nutzen, oder die Nutzung einzustellen. Der Diffusionsprozess umfasst im Kontext interaktiver Systeme somit die Herstellung des ersten Kontaktes zwischen Mensch und Artefakt, im Sinne einer Technologie,
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Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 120. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. zur Rolle von Mode und Trends aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 67 und Gyde Hansen: from societal changes via trends to product design: with a focus on the outdooor market, Diss., Schwäbisch Gmünd: Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd, 2010.
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eines Konzeptes, einer These oder ähnlichem, inklusive aller informativen und organisatorischen Voraussetzungen, die Bewältigung dieses ersten Kontaktes, die gleichzeitige und anschließende Bewertung dieses Kontaktes, sowie die Entscheidung, ob weitere Kontakte statt finden, die Anwendung also verstetigt wird. Diese Verstetigung der (Interaktions-)Handlung bzw. des Kontaktes zwischen Nutzer und Artefakt ist die Voraussetzung zur Etablierung einer Innovation im MMI-Kontext und die Voraussetzung für die Bildung neuer Interaktionskonventionen. Basierend auf den bisherigen Betrachtungen87 lässt sich summieren, dass sich Technik evolutionär entwickelt; Technik zu großen Teilen sozial konstruiert wird; konstruierte Technik in Produkten und Artefakten gebündelt wird; technische Artefakte bedienbar und anwendbar gestaltet werden müssen; in diesem Zusammenhang Handlungsofferten in Artefakte hinein codiert werden; innovative Artefakte, um Anwendung zu finden, in neue Kontexte diffundieren müssen; die Diffusion im Kern ein Kommunikationsprozess ist, in dessen Verlauf auf subjektspezifischer Ebene eine zentrale Entscheidung getroffen wird, ob das Artefakt angewendet wird oder nicht; die Entscheidung auf einer Abwägung von Kosten und Nutzen basiert, jedoch durch irrationale Aspekte beeinflusst wird; und die Lebenswelt und Interaktionswelt und somit die bestehenden Interaktionskonventionen zentrale Größen bei dieser Abwägung sind. Wie dargestellt, müssen im Zuge der Gestaltung für eine erfolgreiche Diffusion nicht nur die Ziele der Nutzer betrachtet werden, sondern auch die der Kaufentscheider und weiterer beeinflussender Akteure. Die Qualitäten, die das innovative Konzept oder Artefakt dadurch erlangt werden von Akteuren innerhalb des Diffusionsprozesses ganzheitlich wahrgenommen. Umso häufiger Qualitäten durch vergleichbare Artefakte und Konzepte angeboten werden, desto weniger relevant scheinen sie für die Nutzungsentscheidung zu sein. Im Kontext der MMI und der Diffusion MMI-bezogener Innovationen lassen sich diese Aspekte in Bezug zueinander setzen. So formuliert David Liddle drei Gruppen der Technologienutzung oder -Adaption, die aus MMIPerspektive eine Auslegung Rogers’ fünf Adopterstufen darstellen können: Enthusiasmus, Professionalisierung und Konsumierung.88 .
87
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An dieser Stelle soll explizit auf Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs Häußling: Design als soziotechnische Relation. Neue Herausforderungen der Gestaltung interund transaktiver Technik am Fallbeispiel humanoider Robotik, S. 280--281 Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick Rogers: Diffusion of innovations Schulz-Schaeffer u. a.: Introduction: What Comes after Constructivism in Science and Technology Studies? und Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt verwiesen werden. Vgl. Crampton Smith: Foreword: What Is Interaction Design?, S. xii. Vgl. auch Moggridge: Designing interactions, S. 243--249.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext •
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Enthusiasten: Sie nehmen jeden Aufwand in Kauf, da sie begeistert und infiziert von der Technologie, dem versprochenen Nutzen und der zu Grunde liegenden Idee sind. Professionelle: Geht häufig einher mit Märkten, auf denen Käufer und Nutzer unterschiedliche Personen sind. Käufer nehmen komplizierte und schlechte Bedienbarkeit in Kauf, wenn andere Faktoren überwiegen und zwingen die Nutzer, sich dem System anzupassen und zu Experten zu werden. Konsumenten: Nutzer denen es ausschließlich um Funktion und Nutzen geht, nicht nur um Technologien. Wenn es kompliziert zu nutzen ist, kaufen sie es nicht.
Mit dieser Einteilung scheinen jedoch Adopter-Charakterisierungen, die Grade der Entscheidungsfreiheit, wie sie Rogers kategorisiert, und die Expertisegrade der Anwender vermischt zu werden. Aufgrund des deutlichen Bezugs zur MMI und der Nähe zu wahrnehmbaren Praxiserfahrungen sollen sie dennoch in die Betrachtungen einfließen. Wie bereits dargestellt, weist Christensen (1997) darauf hin, dass disruptive Innovationen nicht zwingend bessere Lösungen aus Kunden- bzw. Anwendersicht darstellten, sie jedoch immer einen neuen Markt erreichten, auf dem diese Nachteile weniger ins Gewicht fallen89 . Die Nutzung und Nutzbarmachung von Technologien beginnt demnach in Nischen. Dort stellt auch geringer Funktionsumfang bereits erste Anwender, die Enthusiasten, zufrieden. Steigt der Funktionsumfang auf ein gesättigtes Maß, das in etwa als die Funktionalität beschrieben werden kann, mit der die aller meisten Anwender, die Konsumenten, ihre aller meisten mit dem Produkt verbundenen Ziele erreichen, ist zunehmende Anwenderzufriedenheit nur über nicht technologische Faktoren erreichbar. Die hier kurz beschriebene Entwicklung der Qualität einer Technologie in Bezug zur Anwenderzufriedenheit, die ein Artefakt stiftet, hat Christensen ausführlicher betrachtet. Norman hat dies in den MMI-Kontext übertragen91 . Demnach erfüllen innovative Artefakte zu Beginn ihrer Marktexistenz wenige Anforderungen. Ihre Nutzung steigt, sobald sie zunehmend funktionale Anforderungen erfüllen. Werden die relevanten funktionalen Anforderungen erfüllt, ist ein Zugewinn der Anwenderzufriedenheit nur noch über nicht technologische Aspekte, wie der User Experience, der Benutzungsfreundlichkeit oder dem Preis zu erzielen. Wie Norman hervorhebt sind verständliche, effektive und genießbare Produkte demnach vor allem für die late majority92 wichtig. „For late adopters, human–centered design is essential, for these people don’t want promises, they want easy to understand, effective, enjoyable products.“93 Der Weg von der Produktentstehung bis zur Produktanwendung kann aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive konstruktivistisch betrachtet werden94 . In dieser 89 90 91 92 93 94
Vgl. Christensen: Disruptive Innovation, S. 1033--1034. Siehe ebd., S. 1083. Grafik nach Norman 1998 "`The Invisible Computer"' und ders.: The innovator's dilemma: The revolutionary book that will change the way you do business (ursprünglich 1997). Vgl. Abbildung 21. Vgl. Seite 192 in Abschnitt 8.1.2. Siehe Christensen: Disruptive Innovation, S. 1084. Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 17--18.
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Interaktionswelten
Produktperformance
Übermäßige Qualität, die die meisten Kunden nicht interessiert
durchschnittliche, vom Nutzer geforderte Performance unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse
Technologie ist „gut genug“ und deshalb irrelevant. Die User Experience dominiert. Zeit
„High technology“ Konsumenten wollen mehr Technologie und bessere Performance
„Consumer commodity“ Konsumenten wollen Komfort, Zuverlässigkeit, geringer Kosten …
Schwellenwert, ab dem Technologie Grundbedürfnisse befriedigt
Abbildung 21: Die Bedürfniss-Befriedigungs-Kurve aus anwenderzentrierter Perspektive. „New technologies start out at the bottom left of the curve: delivering less than the customers require. As a result, customers demand better technology and more features, regardless of the cost or inconvenience. A transition occurs when the technology can now satisfy the basic needs.“90 .
Sichtweise basiert die Entscheidung, ob ein Artefakt angewendet wird auf einer subjektiven Betrachtung unterschiedlicher Charakteristika dieses Artefaktes. Das heißt die subjektive Lebenswelt wird zur Bewertung eines Produktes herangezogen. Dabei werden ebenso funktionale, wie hedonistische, ökonomische, soziale oder anderweitige Merkmale des Artefaktes betrachtet.
„Auf der einen Seite haben wir die wahrnehmende Person, den Rezipienten mit seinen visuellen, haptischen, olfaktorischen und akustischen Wahrnehmungskanälen, die durch sein Bewußtsein zusammengefügt werden. Der Rezipient lernt und bildet einen Erfahrungshintergrund mit Filterwirkung aus. Die Wahrnehmung ist somit selektiv, d. h. sie ist bestimmt durch sein Wissen und durch sein Gefühl, durch seine kognitiven und affektiven Strukturen. Diese einander beeinflussenden Strukturen sind dynamisch, sie werden durch Lernprozesse ständig verändert. Auf der anderen Seite haben wir das Produkt, welches ebenfalls komplexe Strukturen aufweist und einem ständigen Wandel unterliegt. Gebrauchsgüter werden nicht nur durch ihre Form definiert, sondern ebenso durch ihre soziale, wirtschaftliche und ergonomische Erstellungs- und Gebrauchsfunktion, durch ihre Relation zu anderen Umweltprodukten und ihre Beschaffenheit. Sie lassen sich ebenso durch ihre materielle Zusammensetzung wie durch die in ihnen verwendete Technologie bestimmen. Wir haben also bei der Produktwahrnehmung zwei komplexe, dynamische und somit zeitabhängige Strukturen: -- die Wahrnehmungsstruktur und
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
-- die Produktstruktur, welche miteinander durch Handlungssituationen in Verbindung stehen.“95 Wie Thomas Jaspersen 1985 herausgestellt hat, muss die Produktstruktur während der Handlungssituation zu der individuellen Wahrnehmungsstruktur des Betrachters eines Artefaktes passen. „Der Betrachtungsgegenstand entsendet eine Vielzahl Informationen, die vom Betrachter unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet werden. Ausschlaggebend hierfür ist, was der Betrachter erlebt hat, was er fühlt und denkt: das wiederum ist nicht zufällig, sondern durch seine Erfahrung bedingt. Der Betrachter sieht also nur das, was seine Rezeptionsstruktur zuläßt.“96 Alle Objekte haben eine dingliche und eine symbolische Ebene. Sie bieten „praktische und sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten“ und sind gleichzeitig auch als Symbol und „Repräsentanz von Zeichen und Ideen“ lesbar. Dieser „Doppelcharakter dinglicher Objekte“ wirkt auf den Nutzer und wird im Zuge der Diffusion gewertet97 . Es ist die Aufgabe des Gestalters zwischen den verschiedenen Strukturen auf den zur Verfügung stehenden Ebenen zu vermitteln98 . Wie bereits ausführlich im Abschnitt 8.1.2 dargestellt, findet die Bewertung von Artefakten auf diversen Ebenen statt. Rogers definiert jedoch unterschiedliche Arten der Innovations-Entscheidung, also der Entscheidung, ob eine Innovation angewendet wird, oder nicht. Er unterscheidet hierbei drei unterschiedliche Grade der Entscheidungsfreiheit eines einzelnen Individuums99 : 1. Optionale Innovations-Entscheidung – Das Subjekt entscheidet individuell ob es die Innovation anwendet oder ablehnt, kann jedoch von den gesellschaftlichen Normen beeinflusst werden. 2. Kollektive Innovations-Entscheidung – Die gesamte Gemeinschaft bzw. Gesellschaft entscheidet sich für oder gegen die Verwendung der Innovation. 3. Autoritäre Innovations-Entscheidung – Ein Entscheidungsträger, Subjekt oder Institution, trifft für die Gemeinschaft die Entscheidung über Verwendung oder Ablehnung der Innovation.
Entsprechend dieser Entscheidungsarten scheint auch die Produktwahrnehmung unterschiedlich starken Einfluss auf die Anwendungs-Entscheidung zu haben. So scheint berücksichtigt werden zu müssen, um was für eine Art Produkt es sich bei dem interaktiven Artefakt handelt, das Anwendung finden soll, und wie stark innovative Interaktionskonzepte tatsächlich die Wahrnehmung dieses Produktes prägen;
95 96 97 98
99
Siehe Jaspersen: Produktwahrnehmung und stilistischer Wandel, S. 4. Vgl. auch ebd., S. 14, 29–30. Siehe ebd., S. 6. Vgl. Bosch: Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz, S. 52. Vgl. Häußling: Design als soziotechnische Relation. Neue Herausforderungen der Gestaltung inter- und transaktiver Technik am Fallbeispiel humanoider Robotik, S. 281--282 Fischer: Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs, S. 92ff. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 28--29.
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wie stark die Produktwahrnehmung als ganzes gewichtet wird und die Nutzungsentscheidung beeinflusst; wie der Kontext bzw. Markt beschaffen ist, in den das Artefakt diffundieren soll und welche Anforderungen an das Artefakt vom Nutzer und weiteren relevanten Akteuren gestellt werden. Wie zuvor dargestellt, können einzelne defizitäre Wahrnehmungsdimensionen eines Produktes durch andere Eigenschaften und Wirkungsebenen ausgeglichen werden. Sodass die Qualitäten eines innovativen ABKs immer nur ein Aspekt im Gefüge der Produktwahrnehmung ist. Ein weiterer gewichtiger Aspekt ist das Verhältnis zwischen Nutzer und Anwendungsentscheider, das Rogers mit den angesprochenen Graden abgebildet hat. Hier muss sicherlich zwischen Konsumgütern und Investitionsgütern unterschieden werden und zwischen der Frage, ob der Akteur der eine Kaufentscheidung trifft auch der tatsächliche Anwender des Produktes ist. Dies führt letztlich zu der Frage, welche Alternative der finale Anwender überhaupt hat. In diesem Zusammenhang steht das zuvor betrachtete Beispiel der Etablierung des QWERTY-Tastatur-Layouts100 , bei der das Wechselspiel aus Kosten-Nutzen-Abwägung im Zuge der Anschaffungsentscheidung von Schreibmaschinen und der Kosten-Nutzen-Abwägung im Zuge der Erlernung der Bedienung von Schreibmaschinen konventionsfördernd wirkte. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang stellt Windows 8 dar. Microsoft hat mit dieser Version des Desktop-Betriebssystems so stark mit den Prinzipien der vorigen Betriebssystemversionen gebrochen, wie niemals zuvor. Seit der Einführung des grafischen Desktops wurden zentrale Bedienprinzipien, wie die Mausinteraktion, die Schreibtisch Metapher oder das Konzept von Anwendungsfenstern, die verschoben werden können, nicht mehr radikal verändert. Michael Friedewald kam bereits im Jahr 2000 zur Einschätzung, dass „die Metapher des Schreibtisches wegen ihres Erfolgs heute zu einem Hemmnis bei der Entwicklung von noch benutzerfreundlicheren Computern geworden ist“101 . Im selben Zusammenhang verweist Friedewald auf einen Aufsatz von Alan Kay, der bereits 1984 eben diese Tendenz erkannte. „A powerful genre can serve as wings or chains. The most treacherous metaphors are the ones that seem to work for a time, because they can keep more powerful insights from bubbling up. As a result progress is slow [...].“102 Solche Doktrinen, die über lange Zeit unverändert bleiben, verfestigen sich und erzeugen einen hohen Diffusions-Gegendruck. Diese Phasen in denen bestehende Konzepte unverändert bleiben, obwohl genügend radikalere Inventionen zur Einführung zur Verfügung stünden, nennt Gerhard Mensch Stagflation103 . Laut Blättel-Mink zeichnet sich eine solche Phase durch „einen Mangel an gewichtigen Innovationen“ aus104 . In einer solchen Phase befand sich die Desktop-Interaktion. Seit der Einführung des 100 Vgl. Kapitel 7.1 bzw. David: Clio and the Economics of QWERTY. 101 Siehe Michael Friedewald: Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 53. Jahrgang.4 (2000), S. 165–171, url: http://www.friedewaldfamily.de/Publikationen/NatwissRundschau.pdf, S. 170. 102 Siehe Alan Kay: Computer Software, in: Scientific American, issue 251(3), Bd. 1984, 1984, S. 41–47, S. 42. 103 Vgl. Mensch: Das technologische Patt: Innovationen überwinden die Depression. 104 Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 78.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
grafischen Desktops wurde er nicht mehr radikal verändert. Eine solche Patt-Phase begünstigt die Verfestigung bestehender Konzepte zu Konventionen. Mit Windows 8 versuchte Microsoft diese Grundparadigmen zu erschüttern, was viele Experten schon länger fordern105 . Dabei hielten Konzepte Einzug, die zuvor in anderen InteraktionsKontexten, die weniger konventionsbeladen waren, eingeführt, erprobt und etabliert wurden. Vor allem Interaktionsprinzipien aus dem Kontext mobiler Geräte mit berührungsempfindlichen Monitoren wurden übernommen. Gleiches gilt für OS X Lion in dem Konzepte aus iOS übernommen wurden. In diesen Interaktions-Kontexten wird keine Maus und somit kein Mauszeiger benötigt. Grafische Schaltflächen werden durch direkte unmittelbare Berührung des Monitors ausgelöst. Dies führt zu gänzlich anderen Anforderungen an die Größe von visuellen Elemente und deren Funktionalität. Gleichzeitig werden Eingabemöglichkeiten vielseitiger, da komplexe Zieh- und Wischbewegungen das Aktionsspektrum der Nutzer erweitern. Interaktionsprinzipien, die sich in diesem Kontext bewährt haben, wurden von Microsoft auf Windows für Desktop-PCs übertragen ohne zu berücksichtigen, ob Touchbedienung die bevorzugte Eingabeart der Nutzer sein wird. Zwar blieb die Event-Loop106 , die Maus wurde jedoch durch Touchinteraktion ergänzt oder sollte sogar ersetzt werden und das Fensterparadigma wurde durch ein mentales App-Modell ersetzt, in dem Anwendungen sich gegenseitig nicht mehr überlagern sondern bildschirmfüllend und einander verdrängend angezeigt werden und eher in einem logischen geometrischen Raster angeordnet werden, anstatt dem Nutzer zu gestatten ein Chaos auf der Anzeigefläche herzustellen. An einigen Stellen wurden die Nutzer dazu gezwungen, komplexe und teils versteckte Elemente, die für eine Touchinteraktion optimiert sind, mit der Maus zu bedienen. Damit hat Microsoft die Anschlussfähigkeit des ABK von Windows 8 an die Interaktionswelt der Anwender reduziert und in der Folge massive mediale Kritik geerntet. Vor allem der Wegfall zentraler Bedienelemente, wie des Startbutton, haben zuvor gängige und routiniert durchgeführte Bedienabfolgen verhindert und mit der Interaktionswelt der Anwender gebrochen. Nutzer wurden somit vor die Herausforderung gestellt, die Art und Weise ihrer PC-Nutzung anzupassen107 . Die zentrale Rolle des Startbuttons und des dahinter verborgenen Startmenüs bei der Verwendung von Windows wurde im Gestaltungsprozess von Windows 8 anscheinend deutlich unterschätzt. Die Bestandsnutzer finden sich nicht mehr zurecht, da mit zu vielen zentralen Paradigmen und sicherheits- und orientierungsgebenden Mechanismen gebrochen wurde.
105 Vgl. beispielsweise Friedewald: Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, S. 170. 106 Vgl. Coy: Auf dem Weg zum "Finalen Interface". Ein medienhistorischer Essay, S. 315. 107 Vgl. hierzu Axel Vahldiek: Gerücht: Windows 8.1 wieder mit Startbutton, 2013, url: http://heise. de/-1843902 Jürgen Kuri: Marktforscher: Windows 8 ist riskant für Microsoft, aber notwendig, 2012, url: http: //heise.de/-1715980 Axel Vahldiek: Windows 10: Upgrade-Installation auch von Windows 7 aus möglich, 2014, url: http://heise.de/-2438050.
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Interaktionswelten
Die Gestaltungsentscheidung, den Startbutton zu entfernen, könnte dadurch erklärt werden, dass die an der Entwicklung beteiligten Akteure nicht genau wussten, wie die große Mehrzahl der Windows Anwender das Betriebssystem verwenden oder die Bereitschaft der Anwender und wahrscheinlich auch ihre Fähigkeit, diese Art der Nutzung zu ändern, überschätzt wurde. Die starke Konventionalität des bisherigen Windows-Anzeige- und Bedienkonzeptes, mit seinem über Versionen in der Grundfunktion gleichgebliebenem Startmenü, der Taskleiste und dem Desktop, wurde somit allem Anschein nach unterschätzt. Eine weitere Erklärung könnte sein, dass zu viele dieser Grundprinzipien gleichzeitig verändert wurden. Dies ist vor allem deshalb problematisch, da die Nutzer über unzählige Softwareversionen und somit unzählig Anwendungsjahre hinweg gewohnt waren, das vertraute Bild aus Startmenü, Taskleiste und Desktop direkt nach PC-Start zu erblicken. Windows 8 veränderte dieses vertraute Bild und startet stattdessen in einen neuen Ausgangsbildschirm, mit großen Informationsflächen und Anwendungskacheln. Ein Bild, das dem mentalen Modell routinierter Windows-Nutzer widerspricht und sie bereits vor der ersten richtigen Anwendung des neuen Systems herausfordert, indem es unmittelbar nach Systemstart kommuniziert: „Nichts ist mehr so wie es einmal war“. Erschwerend hinzu kam, dass Microsoft – so macht es zumindest den Anschein – versucht hat mehrere Strategien gleichzeitig zu verfolgen und spezifische Geräteund Kontextanforderungen synergetisch zu bedienen, indem angestrebt wurde ein Betriebssystem mit einer einheitlichen Bedienoberfläche für Smartphones, TabletComputer und Personal Computer zu entwickeln. Anstatt einen gemäßigten Übergang zu wählen, bei dem neue Prinzipien mit der alten Logik zu einem konsistenten Konzept kombiniert werden, hat man zwei stark verschiedene Ansätze konkurrierend in einem System abgebildet. Man hat zwar ein neues Anzeige- und Bedienkonzept (ABK) integrieren wollen und das System so konzipiert, dass alles mithilfe des neuen Konzeptes realisierbar ist; gleichzeitig wurden aber auch Teile des alten ABKs im Hintergrund erhalten, sodass der Nutzer in der Lage ist, zwischen den grundsätzlich verschiedenen Modellen während seiner Nutzung zu wechseln, und in einzelnen Situationen sogar dazu gezwungen wird, um den bisher bekannten Funktionsumfang nutzen zu können. Das verbindet zwei Welten, die kein konsistentes Gesamtbild ergeben und erschwert es dem Nutzer ein neues Verständnis seines Systems und seiner Bedienmuster, seiner Mental Map, zu bilden. Die unterschiedlichen Konzepte konkurrieren wahrnehmbar miteinander. Wie Axel Vahldiek im Jahr 2013 bewertete und einschätzte, führte „der große Umbruch von Windows 7 zu Windows 8 [...] bei den Nutzern zu vielen Momenten der Verwirrung und der Unzufriedenheit. Die dadurch verschlechterte User Experience führt immer wieder zu Gerüchten, Microsoft werde in der Nachfolgeversion des Betriebssystems einige bekannte und in Windows 8 abgeschaffte Prinzipien und Bedienkonstrukte wieder implementieren und somit zurück kehren zu bekannten und etablierten Eingabesituationen“108 . Aufgrund der großen Marktmacht von Microsoft, der enormen Verbreitung des Betriebssystems im privaten und beruflichen Kontext,
108 Siehe Vahldiek: Gerücht: Windows 8.1 wieder mit Startbutton.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
ist die Firma in der komfortablen Situation, einen gewissen Druck auf die Kaufentscheider von Betriebssystemen auszuüben, da diese auf Supportdienstleistungen, Kompatibilität mit teils historisch gewachsenen Software- und Hardware-Infrastrukturen, aktuellen Anwendungen und Sicherheitsfunktionen angewiesen sind, und somit wirkliche Alternativen häufig fehlen. Die Anwendbarkeit und Intuitivität bzw. Anschlussfähigkeit an die Interaktionswelt der eigentlichen Anwender stellt bei der Entscheidung über die Anschaffung von Windows 8 demnach nur einen Aspekt der Kosten-Nutzen-Abwägung der Kaufentscheider dar. Dies erklärt, dass Windows 8 Anwendung fand, obwohl die Zufriedenheit der Nutzer um das Jahr 2013 herum nicht besonders groß war. Gleichzeitig wurde Windows 8 im Bereich der Konsumgüter, in dem Kaufentscheider auch primäre Nutzer sind, sogar für fallende Notebook-Verkaufszahlen verantwortlich gemacht109 . Alternativen wie Tablets wurden gegenüber Notebooks mit Windows 8 vorgezogen. Die große Kritik an der radikalen Änderung zentraler Bedienparadigmen hat Microsoft zum einen dazu veranlasst, einige wichtige Funktionen in der Nachfolgeversion von Windows 8 wieder zu integrieren, und zum anderen Windows 8 nur als strategischen Übergangsschritt darzustellen und den Nutzern und den Anschaffungsentscheidern Anreize zu geben, schnell, unkompliziert und ohne hohe Kosten auf die Nachfolgeversion umzusteigen. Im Jahr 2014 wurde angekündigt, dass in Windows 10 das Startmenü mit erweiterter Funktionalität wieder zurückkehrt. Es wurde ferner angekündigt, man werde versuchen mit Windows 10 eine harmonische Kombination aus Windows 7 und Windows 8 zu schaffen und somit den harten Schnitt zwischen diesen beiden Versionen rückwirkend abzuschwächen. Die Tatsache, dass – entgegen vorheriger Firmenpolitik Microsofts – auch ab Version sieben auf die zum Zeitpunkt dieser Niderschrift veröffentlichte Betriebssystemversion zehn gewechselt werden konnte, könne, nach Einschätzung von Vahldiek, auch als Reaktion auf die immense Kritik am harten Bruch zwischen den Nutzungskonzepten von Windows 7 und Windows 8 und den damit verbundenen Verkaufszahlen von Windows 8 verstanden werden und erleichterte es den Anwendern, Windows 8 zu überspringen110 . Die Überspringung der Versionsnummer 9 kann als Marketingmaßnahme verstanden werden, dem neuen Produkt eine möglichst unbefangene Markteinführung ohne Einfluss des schlechten Images von Windows 8 zu ermöglichen. Aus dem (interaktions-) gestalterischen Anspruch heraus, einen Mehrwert zu erzeugen, anwendbare Artefakte zu gestalten und das Nutzungserlebnis vollumfänglich zu verbessern, sollen in der Folge äußere Faktoren, die die Anwendungsentscheidung der Nutzer im Rahmen des Diffussionsprozesses beeinflussen, wie der Zwang einer höheren, autoritären Instanz111 , ausgeklammert werden. Vielmehr soll der Fokus auf optionalen Anwendungsentscheidungen112 liegen, bei denen der Nutzer subjektspezi-
109 Vgl. Matthias Parbel: PC-Verkäufe auf neuem Tiefststand: Schuld soll Windows 8 sein, www.heise.de, 2013, url: http://heise.de/-1839852. 110 Vgl. Vahldiek: Windows 10: Upgrade-Installation auch von Windows 7 aus möglich. 111 Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 28--29. 112 Vgl. ebd., S. 28--29.
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Interaktionswelten
fisch und individuell entscheidet, ob er das innovative interaktive Artefakt anwendet oder ablehnt. Dabei ist davon auszugehen, dass es die Aufgabe der Gestaltung ist, die grundsätzlichen Möglichkeiten eines Artefaktes zu kommunizieren und Anschlussfähigkeit an die Lebenswelt des Nutzers herzustellen113 . Daher soll im weiteren Verlauf die Qualitäten interaktiver Artefakte betrachtet werden, die die Anwendungsentscheidung beeinflussen, und der Einfluss der Gestaltung auf diese Qualitäten. Ebenso soll der Grad des Vorwissens des Nutzers als Einflussfaktor der Interaktionswelt und der Fähigkeit des Nutzers seine bisherigen Interaktionserfahrungen auf neue Situationen zu übertragen, betrachtet werden. Dieser Aspekt erfasst das Spektrum möglicher Varianzen, die im Grenzgebiet zwischen Anschlussfähigkeit und Innovation angesiedelt werden können. Damit sind solche Artefakte gemeint, die für das Subjekt zwar bereits eine Innovation darstellen, die aber dennoch anschlussfähig an die eigene Interaktionswelt sind, sodass die Interaktionserfahrungen auf das innovative ABK übertragen werden können. In diesem Zusammenhang soll auch die interne und die externe Konsistenz innovativer, interaktiver Systeme betrachtet werden, da diese die Erlernbarkeit unkonventioneller Bedienprinzipien erleichtern.
8.2.1
Analyse diffusionsrelevanter Qualitäten und Betrachtung ihrer Gestaltbarkeit
Wie mit Bezug zu Schwer bereits dargestellt, werden Produkte immer erst in Relation zu Handlungs-, Funktions- oder Stilensembles mit Bedeutung aufgeladen114 . Ihre Wirkung ist daher kontext- und subjektspezifisch. Artefakte, die Anwendung finden, weisen unterschiedliche Qualitäten auf und erreichen damit den Diffusionsentscheider – im Kontext der MMI der Nutzer – auf unterschiedlichen Ebenen. Wie Hassenzahl/Burgmester/Koller herausstellen, müssen erfolgreiche Produkte sowohl über pragmatische Qualität verfügen, als auch über hedonische Qualität 115 . Die subjektspezifische Beurteilung dieser Qualitäten findet häufig ganzheitlich statt, wie Engeln betont116 . Das Nutzererleben, also die Wahrnehmung des Artefaktes durch die Interaktion, unterliege dabei unterschiedlichen Einflüssen117 : 1.„Vorerwartung, beeinflusst durch das Marken- bzw. Produktimage, Vorerfahrungen und allgemeine Einstellungen des Konsumenten.“ 2.„Ergänzende Produktinformationen, vermittelt z. B. über Werbung, Testberichte, Forumsdiskussionen im Social Web oder persönliche Gespräche im Alltag.“ 3.„Der Produktauftritt, realisiert über unterschiedliche Vertriebswege und Geschäftsausstattungen, die Verpackung, das äußere Produktdesign und die mit dem Produkt verbundenen Services.“ 113 114 115 116 117
Vgl. Häußling: Design als soziotechnische Relation. Neue Herausforderungen der Gestaltung inter- und transaktiver Technik am Fallbeispiel humanoider Robotik, S. 281--282. Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 110--111. Vgl. Hassenzahl/Burgmester/Koller: AttrakDiff: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer Qualität, S. 188. Vgl. Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte, S. 77. Vgl. ebd., S. 77.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext 4.„Die erlebbaren Funktionen des Produktes, also wie nützlich es im Rahmen der eigenen Lebensgestaltung angesehen wird.“ 5.„Die Interaktion mit dem Produkt, die durch die Gestaltung von Mensch-Maschine-Dialogen inkl. der damit verbundenen Informationsausgaben und Bedienelemente definiert wird.“
Diese Einflüsse auf die Produktwahrnehmung wirken undifferenziert vor und während des Diffusionsprozesses auf den Nutzer. Vor allem die direkte Interaktion mit dem Artefakt scheint dem Nutzer ein Urteil über die pragmatische und die hedonische Qualität zu erlauben. Erst in der Interaktion mit dem Artefakt wird der Funktionsumfung unmittelbar erlebbar und können der Aufwand der Nutzung der Qualität des Ergebnisses gegenübergestellt werden und hedonische Qualitäten direkt über alle Sinne wahrgenommen werden. Während die pragmatische Qualität den logischen Aspekt der Anwendungsentscheidung anspricht, scheint diese auch durch psycho-soziale Aspekte geprägt zu sein118 . Sie ist nicht nur von rein funktionalen Anforderungen und Zielen des Nutzers abhängig, die mit den wahrgenommenen Produkteigenschaften abgeglichen werden. Vielmehr werden Artefakte durch ihre Eigenschaften und die Relation zu anderen Bezugssystemen, die der Nutzer erzeugt, sozial mit Bedeutung aufgeladen. Nicht das Produkt sondern das subjektive Wahrnehmungsbild dessen ist Basis für Wertung und Anwendungsentscheidung119 . Wie Schwer anmerkt, werde „dieses Wahrnehmungsbild [...] vielfältig geformt: durch Gestaltungsgesetze, Bedürfnisse, Vorwissen, aber auch durch Konnotationen, also weitläufigere, mit der Wahrnehmung verknüpfte Eigenschaften. Dies führt zu subjektiv geprägten Assoziationen, die in enger Beziehung zu unseren Gefühlen stehen.“120 Wie mit Bezug zu Prinz und Simmel bereits aufgezeigt wurde, tendieren Menschen dazu, durch Artefaktnutzung Werte auf sich selbst zu übertragen und dadurch sozial zu kommunizieren121 . Nutzung ist auch Ich-Aussage. Die potentielle Erfüllung der Bedürfnisse Stimulation und Identität wird Produkten zugeschrieben122 . „Die Hersteller geben Waren bereits durch Marke, Werbung, Präsentation etc. verschiedene vorgefertigte Geschichten, Erlebniswelten und ideelle Eigenschaften mit auf den Weg, um sie als erfolgversprechendes Rohmaterial für Erlebnisse anzupreisen. Denn Produkte sollen Situationen emotional aufladen, den Alltag spannungsreicher machen und dabei helfen, das angestrebte Selbstbild erlebbar zu machen.“123
118 119 120 121
122 123
Vgl. Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 66. Vgl. Jochen Gros: Empirische Ästhetik, Diss., 1972, S. 55. Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 61. Vgl. Prinz: Die Praxis des Sehens: Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, S. 19--20, Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben und ders.: Soziologische Ästhetik. Vgl. Hassenzahl/Burgmester/Koller: AttrakDiff: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer Qualität, S. 187--188. Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 132.
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Interaktionswelten
Selbstwahrnehmung, Selbstinszenierung und Selbstverwirklichung müssen in dieser Konsequenz als wichtige Faktoren der Nutzungsentscheidung und demnach der Diffusion eines Produktes bzw. der darin angewendeten Innovationen angesehen werden. „Die Ausweitung der Bildmedien und kommerziellen Ausstellungsformate, der rasche Wechsel von Sinneseindrücken auf dem Boulevard und schließlich die alltägliche Konfrontation mit den vielen anonymen Gesichtern haben schließlich Simmel zufolge noch zwei weitere ‚irrationale‘ Folgen für den modernen Großstadtmenschen: Einerseits -- wie bereits erwähnt -- die nervlich-perzeptive Überreizung, die das Individuum zwingt, sich von seiner sozialen und objektiven Umgebung innerlich zu distanzieren, und andererseits das wachsende psychische Bedürfnis, sich durch Formen der ästhetischen Selbststilisierung -- zu denen etwa die Wahl von Mode, Schmuck, oder Wohninterieurs gehörten -- von der Masse abzuheben.“124125 Die Wirkung des Anzeige- und Bedienkonzeptes und seiner Repräsentanz, dem User Interface, ist immer an die Wirkung des ganzen Artefaktes gekoppelt. Es wird untrennbar mit dem Träger verbunden und Teil der Produktwahrnehmung. Interaktionskonzepte sind der essentielle Zugang zur eigentlichen Funktion des interaktiven Artefaktes in seiner Eigenschaft als Produkt. Grafische User Interfaces haben dabei die Möglichkeit einen enormen Umfang an Handlungs-, Unterhaltungs- und Informationsoptionen zu bündeln und zu repräsentieren. Obwohl die Benutzerschnittstellen lediglich eine Facette des gesamten Artefaktes darstellen, prägen sie die Wahrnehmung oder noch deutlicher das Erleben des Artefaktes entscheidend. Eine gute Bedienbarkeit vermittelt Vertrautheit. Nicht schlüssige Bedienmuster, versteckte Funktionen, inkonsistente Strukturen verwirren und verunsichern den Nutzer und vermitteln ihm ein Gefühl der Konfusion. Die Interaktion mit dem Artefakt kann als implizit wirkende Qualität angesehen werden. Sie wirkt demnach stark auf emotionaler Ebene. Visuelle und haptische Aspekte der Benutzerschnittstelle hingegen, wie der grafische Anteil des User Interfaces, sind explizite Qualitäten, die nicht nur gezielt während des Entstehungsprozesses hinein codiert wurden, sondern auch verstärkt vom Nutzer wahrgenommen werden. Wie Gross 1972 betont, werden „85% aller Informationen der Außenwelt über die visuelle Wahrnehmung gewonnen“126 . Demnach prägt die visuelle Wahrnehmung zum Großteil die Wirkung eines Artefaktes. Wie Prinz betont, unterliegt die visuelle Wahrnehmung kulturellen Wahrnehmungsschemata, die „zu einem wesentlichen Teil auf der Verinnerlichung von ‚visuellen Ordnungen‘ basieren.“
124 Siehe Prinz: Die Praxis des Sehens: Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, S. 19--20. 125 Prinz verweist an dieser Stelle auf zwei Werke Georg Simmels. Zum einen auf Simmel 1995: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders.: Gesamtausgabe in 24 Bänden, Band 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116-131; und zum anderen auf Simmel 1998: „Psychologie des Schmucks“, in: ders.: Soziologische Ästhetik, Bodenheim: Philo, S. 161168. 126 Vgl. Gros: Empirische Ästhetik, S. 43.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
„Wie die Welt dem Sehenden erscheint, ist also nicht nur eine Frage kollektiver Bedeutungsstrukturen oder intersubjektiver Lernprozesse, sondern wird ebenso von der Konstellation und Struktur ihrer formalen Gestalten -- seien es Bilder, Architekturen oder gewöhnliche Gebrauchsgegenstände -- bedingt.“127 Entscheidende Qualitäten werden im Zuge der Produktwahrnehmung über visuelle Kanäle transportiert. Visualität stellt einen zentralen Kommunikationsweg zwischen Artefakt und Nutzer dar. Visualität ist wichtig. Sie ist der eindringlichste, aber nicht der einzige Aspekt eines interaktiven Artefaktes, der der Gestaltung unterliegt und die Produktwahrnehmung beeinflusst. Sie ist gleichzeitig jedoch stark an ästhetische Faktoren gekoppelt und unterliegt somit Trends und Mode. Sie altert gewollt oder ungewollt und hat somit eine zeitlich begrenzte Wirkung. So wurden visuelle Metaphern lange Zeit verwendet, Signifier für Affordanzen zu erzeugen. Die ausgeprägte Erzeugung visueller Metaphern hat zu einer eigenen Stilistik geführt, die von üppigen Wölbungen, starkem Schattenwurf und übermäßigem Gebrauch von Texturen, wie Leder und Holz, geprägt war und ebenso exzessiv verwendet wurde, wie sie schnell veraltet und abgenutzt wirkte128 . Die Systematik eines ABKs, seine grundliegendsten Konzepte und Strukturen bilden hingegen dauerhafte Bedienqualität. Sie ist durch unmittelbare Interaktion mit dem Artefakt erfahrbar und nur schwer losgelöst vermittelbar129 . Laut Michael Wilson (2011) sind fünf Faktoren dafür entscheidend, ob Nutzer bereit sind neue Konzepte zu erlernen130 : Importance: „If the interface you are designing is critical to your users then it's far more likely they are going to spend time learning how to use it. The more important the application is the more time they will spend trying to get used to it.“ Frequency: „I use a handful of applications and websites everyday. Using them so regularly has meant their interface is now very familiar to me and I know exactly where everything is. I tend to perform the same tasks during every visit and because I perform them so frequently I can complete them without having to think about them.“ Cost: „[...] the more someone pays for an application the more time they are going to invest in learning it. [...] One reason for this is the `Value Attribution' theory that states we value things more when they cost more. [...] It could also have something to do with the `Commitment & Consistency' theory. People want to be seen acting consistently and if they have made a commitment to purchase something they are going to try harder to prove to themselves that it was a worthwhile purchase.“
127
Siehe Prinz: Die Praxis des Sehens: Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, S. 8. 128 Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 313. Siehe zu Skeuomorphismus auch Kaptelinin: Affordances and Design, S. 2595--2598. 129 Vgl. Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 23. 130 Vgl. Michael Wilson: When is Learnability More Important than Usability?, 2011, url: http://www. uxbooth.com/articles/when-is-learnability-more-important-than-usability/.
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Alternatives: „If there are lots of companies providing the same service then it's likely you will try to find a better solution elsewhere. However, if your app is unique in some way and it's much harder to find a suitable substitute then your users are going to be forced to push through any difficulties until the app feels familiar.“ Simplicity: „The more features you have within your interface the more complicated it will look. If your interface looks complicated your users are going to perceive it as difficult to use and expect it to take a long time to learn. If it looks like it's going to take a substantial investment in time to learn, people are going to be more apprehensive about starting the learning process.“ Die subjektive Einfachheit eines Anzeige- und Bedienkonzeptes ist Ergebnis der (Interaktions-) Gestaltung. Sie resultiert aus Entscheidungen, die innerhalb des Entwurfsprozesses getätigt wurden und im Zuge der Produktentwicklung bzw. Realisation umgesetzt wurden. Im Fokus dieses Prozesses muss der Nutzer stehen, da er über den Grad der Einfachheit urteilt. User Centered Design ist die Voraussetzung für die Einflussnahme der Gestaltung auf die Diffusion eines Produktes. Aufbauend auf Schwers Folgerungen, ist die Voraussetzung für die Einflussnahme der Gestaltung auf die Diffusion eines Produktes die Verlagerung des „Bezugspunktes des Gestaltungsprozesses“ von „der Relation zwischen Gestalter und Designobjekt [. . .] hin zu einer Gewichtung der Funktionen in der Relation zwischen dem Designobjekt und dem Nutzer“131 . Daraus schließend brauchen Innovationen reale Probleme. Ohne reale Probleme können Innovationen nicht diffundieren und keine Anwendung finden. Um Anwendung zu finden, müssen sie einem Anwender einen wahrnehmbaren Vorteil bringen und somit eines seiner Probleme bzw. Bedürfnisse ansprechen. Ohne Diffusion besteht keine wahrnehmbare Innovation, ohne Nutzen findet keine Diffusion statt, ohne Problem gibt es keine Nutzen132 . Die unmittelbare Interaktion mit dem Artefakt und die dabei entstehende Erfüllung und Bestätigung beziehungsweise die Enttäuschung und Nicht-Erfüllung der eigenen Nutzungserwartungen stellt die direkteste Wirkungsdimension interaktionsgestalterischen Einflusses auf die Produktwirkung und die Anwendungsentscheidung dar. Die eigene Verwendung des Artefaktes bzw. Interaktion mit dem Artefakt vermittelt unmittelbare kausale Zusammenhänge zwischen Aktion des Nutzers und Reaktion des Artefaktes. Diese Abfolgen erzeugen erst Funktionalität. Renate Möller verweist 1990 auf die Wichtigkeit dieser Verständnisgenerierung im Zuge der Diffusion. Es reiche nicht aus, dass ein neuer Nutzer, Benutzungsmuster und Handlungen kopiere und nachahme. Verständnis für das was man tue und die daraus resultierenden Folgen sei entscheidend, um die eigene Arbeit als sinnhaft zu erleben, so Möller133 . „So ist die Bearbeitung von beliebigen, vordefinierten Aufgaben mit Hilfe des Computers prinzipiell für jeden auswendig erlernbar, es handelt sich ja nur um die Ein131 132 133
Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 66. Vgl. hierzu auch Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, S. 65+91. Vgl. Möller: Der Weg zum "User": Probleme von EDV-Novizen bei der Aneignung des Phänomens Computer, S. 145.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
gabe von Tastenkombinationen auf einer Tastatur, aber diese scheinbar so einfache Aktion fällt den Anfängern extrem schwer. Eine verständnislose Bedienung, auch wenn sie noch so einfach erscheint, hat für den Computernutzer die folgenden Konsequenzen: 1.Es fällt dem EDV-Laien schwer, die für bestimmte Aufgaben nötigen Kommandos und Eingaben zu lernen, weil diese für ihn unzusammenhängende, nicht im Sinn unterlegbare Informationen darstellen. 2.Ohne ein naives Vorverständnis bzw. ohne ein Bild vom Computer (und sei es noch so vage) wird ein Anwender nie in der Lage sein, einmal gelernte Routinen auch in neuen Situationen anzuwenden. So kann er unerwartet Systemreaktionen oder Konsequenzen eigenen Fehler nicht deuten, also auch nicht angemessen darauf reagieren. Aus dem Bewußtsein um diese unbefriedigende Situation resultiert bei vielen Anfängern ein Gefühl der Unsicherheit und der Hilflosigkeit.“134
Möller geht sogar soweit, dass sie es für einen „Irrglauben“ hält, wenn man annehme, „Verständniskompetenz der Anwender könne auf Benutzeroberflächen übertragen werden, wie raffiniert auch immer diese operieren oder konstruiert sind.“ Die Nutzung des Computers könne nicht von außen, einzig durch den Computer selbst oder durch systematische Schulung, geradlinig in einen rationalen Prozess gelenkt werden, sondern müsse vom Nutzer selbst mit seiner eigenen Rationalität geleistet werden135 . Dem ist entgegenzusetzen, dass die Grenze, wann ein Nutzer ein neues System aufgrund seiner Rationalität, seines Vorwissens und seiner Fähigkeit, Analogien und Zusammenhänge zu erkennen und Systematiken zu übertragen, versteht und wann und in welchem Ausmaß dieses Verstehen durch die Struktur und Gestaltung des Systems gewährleistet wird, verschwimmt. Im Kern beschreibt Möller nicht nur den Erstkontakt und Folgekontakt mit einem interaktiven Artefakt, sondern darüber hinaus die Ausprägung und Anwendung einer Expertise, die entscheidet, in welchem Ausmaß ein Anwender seine bisherigen Interaktionserfahrungen abrufen und auf neue Situationen adaptieren kann. Konventionen können das Handeln beeinflussen, indem bestehende Erfahrungen als Basis für die Abschätzung zukünftiger Ereignisse genommen werden, vor allem, wenn diese Ereignisse eine direkte Folge des eigenen Handelns zu sein scheinen. Dabei sind sowohl positive Erwartungen als auch negative Erwartungen möglich, sodass die Erfahrungen gewisse Handlungen nahelegen und andere nahezu ausschließen136 . Verstoßen interaktive Systeme gegen diese Erwartungen leidet die Nachvollziehbarkeit des implementierten Bedien- und Anzeigekonzeptes und die Akzeptanz des Anwenders. Für den Nutzer entsteht der subjektive Eindruck einer hohen Lernschwelle des für ihn unkonventionellen ABKs. Dies stellt einen ersten Beurteilungsfaktor des 134 135 136
Siehe ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 145. Vgl. John Zeleznikow u. a.: Positive and negative expectations and the deontic nature of social conventions, in: Proceedings of the 9th international conference on Artificial intelligence and law - ICAIL '03, ACM Press, 2003, S. 119.
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Interaktionswelten
Nutzers im frühen Kontakt mit einem interaktiven System dar und ist somit relevant bei der Entscheidung, ob er das System in der Folge nutzen wird und auch weiter empfehlen wird. Allerdings wirkt ein solches interaktives System nicht auf jeden Anwender gleich. Carsten Mohs u. a. definieren im Jahr 2006 fünf Wissensebenen – siehe Abbildung 22 – auf denen Handlungen von Nutzern basieren137 und die aufeinander aufbauen: 1. Angeborenes Wissen: genetisch festgelegte oder erworbene Instinkte und Reflexe aus der pränatalen Phase 2. Sinneserfahrungen: Affordances oder Image Schemata: „einfache und abstrahierte Repräsentationen wiederkehrender alltäglicher Erfahrung“ (Beispiel: Schubladen und Container) 3. Kultur: Kulturell geprägtes Wissen das durch Gruppendynamik und Adaption in lose gekoppelten Gruppen etabliert wurde. 4. Expertise: Wissen auf einem Spezialgebiet 5. Werkzeuggebrauch: wird von den Autoren als oberste Ebene beschrieben, also noch über dem Experten Wissen. Man könnte hier auch vom Werkzeugexperten sprechen. Das heißt während die reine Expertise Wissen aus abstrakteren Bereichen beinhaltet, ist das Werkzeugwissen eine sehr praxisbezogene Expertise, die direkten Bezug zu Handlungen hat. „Innerhalb der gleichen Expertisedomäne gibt es für gleiche Aufgaben – je nach benutztem Hilfsmittel – verschiedenes Benutzungswissen auf der Werkzeugebene.“
Anzahl erreichter Nutzer Werkzeuggebrauch Expertise Kultur Sinneserfahrung Angeboren
Spezialisierungsgrad
224
Abbildung 22: Ebenen des Vorwissens. Die Größe der Kästen spiegelt die Anzahl der erreichten Nutzer wider. Wie Mohs u. a. hinweisen, ist die Darstellung nicht maßstabsgetreu und andere Überlappungsverhältnisse sind möglich.138
137 138
Vgl. Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 131. Darstellung nach ebd., S. 131.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Diese fünf Begriffe bilden ein Kontinuum auf dem Fähigkeiten und Vorerfahrungen zu verschiedenen Aktionen verortet werden können. Analysierend schreiben die Autoren zu diesem Kontinuum: „Je weiter wir uns in dieser Taxonomie der Werkzeug-Ebene nähern, desto spezieller wird das Vorwissen, auf dem Intuition beruht, und desto kleiner wird die erreichbare Benutzergruppe. Auf jeder dieser Ebenen könnte man nun ‚Intuitivität‘ festmachen. Da wir aber annehmen, dass im Zweifel ein Fallback auf früher gelerntes Wissen mit höherfrequenten Enkodiergelegenheiten stattfindet und es darum geht, möglichst universell anwendbare Regeln für die Gestaltung intuitiver UI zu erarbeiten, bezieht sich unsere Definition lediglich auf die ersten beiden Ebenen (Angeboren und Sinneserfahrung).“139 Mohs u. a. verweisen somit darauf, dass intuitiv nutzbare ABKs primär Erfahrungsgefüge adressieren, die entsprechend ihrer Systematik auf angeborenem Wissen oder abstrahierten Repräsentationen wiederkehrender alltäglicher Erfahrungen basieren. Interaktionskonventionen, als – im Kontext dieser Arbeit – per Definition intersubjektiv kollektivierte Erfahrungen können dagegen auf der dritten Stufe dieser Systematik verortet werden, da sie in lose gekoppelten Gruppen etabliert wurden. Je spezieller der Anwendungskontext des interaktiven Artefaktes ist, desto spezifischer ist das Erfahrungswissen das adressiert wird und je kleiner ist diese Gruppe. Möller schreibt zu den Wissensbeständen dieser dritten, der kulturellen Wissensebene: „Das Wissen um die Möglichkeiten bestimmter Werkzeuge ist Teil der kollektiv gewonnenen Wissensbestände einer Gesellschaft und wird seinerseits in den Konstruktionsprozess neuer Werkzeuge eingebracht. Die Teilhabe an diesen kollektiven Wissensbeständen liefert somit Deutungsmuster, die dem Individuum das Einordnen und die Beurteilung auch solcher Werkzeuge ermöglichen, mit denen es noch nie unmittelbar konfrontiert wurde. Alfred Schütz und Thomas Luckmann sprechen von ‚sedimentierten Gruppenerfahrungen‘. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass es gesellschaftliche Erfahrungen sind, die dem Einzelnen Kategorien, aber auch Relevanzstrukturen als ‚lebensweltlichen Wissensvorrat‘ bereitstellen, vor deren Hintergrund er Erfahrungen sammeln, klassifizieren und einen Sinnzusammenhang geben kann.“140 Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, unterscheiden Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou fünf Stufen des Erwerbs praktischer Fähigkeiten. Sie beschreiben damit fünf Stufen, die oberhalb des kulturellen Vorwissens, also der dritten Stufe nach Mohs u. a., angesehen werden können. Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou unterteilen 1986 somit den
139 Siehe ebd., S. 131. 140 Siehe Möller: Der Weg zum "User": Probleme von EDV-Novizen bei der Aneignung des Phänomens Computer, S. 157--158. Möller bezieht sich hierbei auf Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 25ff. sowie auf Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 72ff.
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Interaktionswelten
Grad der Expertise, inklusive der Ebene des Werkzeuggebrauchs, in weitere fünf Stufen, die auf subjektspezifischen Kombinationen der unterschiedlichen Wissensebenen basieren141 : 1. 2. 3. 4. 5.
Novice Advanced Beginner Competence Proficiency Expertise
Claudia Mareis fasst die Eigenschaften dieser fünf Stufen im Jahr 2011 wie folgt zusammen: „Anfänger verfügen noch über kein kohärentes Wissen darüber, wie ihr Können im Gesamtgefüge ihrer Tätigkeit zu bewerten sei, sondern befolgen abstrakt scheinende, kontextfreie Regeln, die nur einzelne Aspekte einer Situation berücksichtigen.[...] Fortgeschrittene Anfänger können dank erster praktischer Berufserfahrungen bereits Faktenwissen mit konkretem Fallwissen kombinieren, dabei scheint insbesondere das Sammeln von Erfahrungen relevant: ‚experience seems immeasurably more important than any form of verbal description‘. Mit wachsender fachlichen Kompetenz werden kontextfreie Handlungsregeln zunehmend durch situative Entscheidungen und kontextbezogene Ziele ersetzt. Das praktische Handeln zeigt sich nun flexibler und eigenverantwortlicher als in den Stufen davor, die Komplexität einer Situation wird besser wahrgenommen [...] Erfahrene Berufsleute können in einem noch höheren Maße auf elaborierte Wahrnehmungsmuster und ein holistisches Verständnis von Prozessen zurückgreifen und beginnen so, Analogien in scheinbar unterschiedlichen Situationen zu erkennen und situationsübergreifend zu reagieren. Experten schließlich verfügen über eine umfassende, holistische Wahrnehmung ihrer Tätigkeit und eine integrierte Auffassung von Situationen. Sie reagieren (scheinbar) ohne Anstrengung, rasch und flüssig sowie den jeweiligen situativen Erfordernissen angemessen. [...] Die letzten beiden Stufen, ‚Erfahrung‘ und ‚Expertise‘, sind nach Dreyfus und Dreyfus jene Stufen, in denen regelbasiertes Wissen und analytische Entscheidungen zunehmend durch ‚ganzheitliches‘, ‚intuitives‘ Handeln ergänzt und letzten Endes sogar vollständig dadurch ersetzt würden. Je erfahrener Menschen in ihrer praktischen Tätigkeit sind, so die Konklusion des Dreyfus-Modells, desto weniger müssen sie auf analytische Regelsätze zurückgreifen und können stattdessen ihrer Intuition folgen.“142 Demnach ist es nicht nur relevant, welche Ebene des Vorwissens nach Mohs u. a. ein interaktives System adressiert, sondern darüber hinaus über welchen Expertisegrad der adressierte Nutzer verfügt. Davon ist abhängig, wie umfangreich das ei141
Vgl. Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 21--36. 142 Siehe Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 155--156.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
gene Vorwissen ist und wie routiniert dieses auf die neue Anwendungssituation adaptiert werden kann. Dieses Erfahrungswissen ist laut Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou (1986) deutlich wichtiger, bei der Erschließung neuer Systeme und Interaktionssituationen, als verbale Beschreibungen oder Erklärungen anderer Akteure143 . Demnach ist das unmittelbare Erfahren von kausalen Zusammenhängen höher einzuschätzen, als die Vermittlung von theoretischem Wissen durch andere Akteure. Exploratives Vorgehen im Sinne von trial and error scheint erfolgversprechender bei der Ersterschließung neuer Interaktionssituationen zu sein, als Anweisungen zu befolgen oder Anleitungen zu lesen144 . Aus dem Schluss, dass große Erfahrung zu Intuition führt,145 folgt, dass erfahrene Nutzer und Experten besonders konventionell sind. Sie beherrschen viele unterschiedliche Interaktionsparadigmen, können diese routiniert anwenden und auf neue Situationen übertragen146 . Wie das Artefakt im Zuge der Interaktion wirkt, ist im erheblichen Ausmaß von der Expertise und vom Erfahrungsumfang des Anwenders abhängig und damit einhergehend mit der Fähigkeit des Nutzers, seine Erfahrungen auf neue Situationen und Kontexte zu adaptieren. Je höher diese Fähigkeit ausgeprägt ist, desto schneller wird sich der Nutzer auf ein für ihn innovatives ABK einlassen können und die darin zugrunde liegenden Bedienprinzipien erlernen und verstehen. Durch die Adaption seiner Interaktionserfahrungen erschließen sich die Aktions-Reaktions-Zusammenhänge des Artefaktes als kausales Regelwerk und nicht als undurchschaubare BlackBox. Die unmittelbare Nutzungserfahrung ist ein großer Faktor der Anwendungsentscheidung. Neben impliziten Qualitäten eines interaktiven Artefaktes – wie der Konventionalität der Bedienmuster – spielen explizite Faktoren, wie die Funktionalität, die Aufgabenangemessenheit, die wahrnehmbare Qualität der Materialien und der Konstruktion eine große Rolle bei der ganzheitlichen Bewertung des Artefaktes bzw. des Nutzungserlebnisses. Obwohl die Wirkung des Anzeige- und Bedienkonzeptes und seiner Repräsentanz, dem User Interface, immer an die Wirkung des ganzen Artefaktes gekoppelt ist, bildet die Systematik eines ABKs, seine grundliegendsten Konzepte und Strukturen, eine Bedienqualität, die auf andere Artefakte und Strukturen übertragbar ist. Anzeige- und Bedienkonzepte hegen in sich Abläufe, Muster und Strukturen, die auf unterschiedliche Kontexte und technische Arrangements adaptiert werden können. In jedem dieser Verbindungen, muss das ABK seine Zweckmäßigkeit und Aufgabenangemessenheit beweisen. Die grundsätzliche Bedienbarkeit – oder Nicht-Bedienbarkeit – ist jedoch bereits in den essentiellen Elementen des ABKs angelegt und von der Kopplung mit anderen Arrangements teilweise losgelöst. Bei diesen Qualitäten eines ABKs kann wahrscheinlich zwischen Qualitäten, die konventionsgeprägt sind und solchen die konventionsentkoppelt wirken, unterschieden werden. 143
Vgl. Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 23. 144 Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 155--156. 145 Vgl. ebd., S. 155--156. 146 Vgl. zur Fähigkeit von Experten, praktische Erfahrungen auf neue Situationen zu übertragen Saße/ Wilkens: Computermaus prägt Lernvorgänge im Gehirn.
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Interaktionswelten
Letzteres sind sodann Faktoren, die äußerst unkonventionellen ABKs Bedienbarkeit verleihen. Hierzu zählen die interne und externe Konsistenz oder die Verwendung von Metaphern und Anlehnungen an die lebensweltlichen Erfahrungen der Nutzer im Umgang mit der natürlichen und sozialen Umwelt.
8.2.2
Konsistenzen und Metaphern – Ansätze zur Einflussnahme auf die Akzeptanz und Diffusion unkonventioneller Lösungen
Wie dargestellt, beeinflussen Konventionen die Diffusion von innovativen Anzeigeund Bedienkonzepten. Gleichzeitig spielen neben der Konventionalität eines ABKs weitere Faktoren eine gewichtige Rolle. Konventionen beeinflussen die Bedienbarkeit und dadurch auch die Diffusion. Somit leitet es zu der Frage, wie stark gegen Konventionen verstoßen werden darf, bevor die Benutzbarkeit so sehr leidet, dass die Diffusion erschwert oder verhindert wird. Im Umkehrschluss führt es gleichzeitig zu der Betrachtung, welche weiteren Faktoren gegebenenfalls die Diffusionsnachteile einer sehr unkonventionellen Interaktionslösung kompensieren können. Die Frage nach der Kompensierbarkeit unkonventioneller Lösungen wurde bereits zu Teilen beantwortet. Hedonische Qualitäten können psycho-soziale Bedürfnisse, beispielsweise das Bestreben der Nutzer, sich selbst darzustellen, bedienen. Artefakte wirken ganzheitlich, sodass defizitäre Eigenschaften eines Produktes durch andere Qualitäten kompensiert werden können. Äußerst hedonische interaktive Artefakte können theoretisch diffundieren, obwohl das verwendete ABK sehr unkonventionell ist, oder das gesamte Artefakt wenig pragmatische Qualität aufweist, also beispielsweise nicht aufgabenangemessen ist. Aus Sicht der Interaktionsgestaltung ist jedoch besonders interessant, welche Eigenschaften ein Anzeige- und Bedienkonzept aufweisen kann, um die eigene Unkonventionalität aus sich selbst heraus zu kompensieren. Im Zuge dieser Betrachtung stellt sich die Frage, wie man unkonventionelle ABKs Nutzern unterschiedlicher Expertise-Stufen zugänglich machen kann. Entweder indem man allgemeine Erfahrungen und Instinkte anspricht, also grundsätzlichste kausale Zusammenhänge der Lebenswelt, die bei nahezu jedem potentiellen Nutzer vorausgesetzt werden können, wie kausale Zusammenhänge der Natur oder des sozialen Zusammenlebens. Diese werden in Form von Metaphern adressiert. Oder – und das setzt die Fähigkeit voraus, bereits erlernte Zusammenhänge auf neue Situationen zu übertragen – man erzeugt eine hohe Konsistenz. Diese ermöglicht, dass durch trial and error erste Erfahrungen mit den funktionalen Zusammenhängen des Artefaktes gesammelt werden können und diese in der Folge auf alle weiteren neu auftretenden Situationen während der Interaktion mit dem System übertragen werden können. Intuitivität ist im Zusammenhang der vorliegenden Betrachtung als Folge aus Konsistenz, Konformität und Selbsterklärbarkeit definiert. Umso stärker demnach mit Konventionen gebrochen wird, je geringer also die Konformität ist, desto höher muss die Konsistenz und die Selbsterklärbarkeit eines interaktiven Systems sein. Ein gut gestaltetes interaktives System zeigt dem Nutzer was es kann, „zeigt sich so, wie es
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
ist“147 . Damit der Nutzer verstehen kann, was es ist, muss das System selbstbeschreibend und noch besser selbsterklärend sein. Hierzu muss ein vom Nutzer verständliches Vokabular verwendet werden, eine eindeutige, bekannte, visuelle und interaktive Sprache. Diese Sprache muss von einer möglichst großen Nutzergruppe gesprochen bzw. verstanden werden. Konsistenz kann hingegen nicht nur aus einem einzelnen System heraus entstehen. Im folgenden soll zwischen internen und externen Konsistenzen unterschieden werden. Je höher die interne Konsistenz einer interaktiven Anwendung ist, umso stärker kann der Nutzer basierend auf ersten Erfahrungen mit exakt diesem interaktiven System auf zukünftige Interaktionen mit dem gleichen System schließen. Dies stellt die Basis für Interaktionsstrategien wie trial and error dar. Diese führen für den Nutzer nur dann zu einem befriedigenden Erlebnis, wenn der Aufwand neue Erfahrungen zu machen dadurch belohnt wird, dass diese Erfahrungen bei zukünftigen Situationen hilfreich sein werden. Ein inkonsistentes System würde je nach Systemzustand auf ein und dieselben Aktionen des Nutzers unterschiedlich reagieren, sodass die Vorausschaubarkeit der Folge der eigenen Aktionen des Nutzers leidet. Die interne Konsistenz eines interaktiven Systems kann direkt durch interaktionsgestalterisches Vorgehen und entsprechende Methoden erzeugt und im Zuge des Entwicklungs- und Entwurfsprozesses überprüft werden. Formale gestalterische Faktoren wie einheitliche Raster,148 eine einheitliche Farb- und Formgebung, die Verwendung einer abgestimmten Icon-Familie mit einheitlicher Formsprache, Flächigkeit, Perspektive und Linienstärke und die Verwendung von einheitlichen Bedienelementen für ähnliche Eingabesituationen erhöhen die wahrnehmbare Konsistenz149 . Komplexer ist die externe Konsistenz, die insbesondere bei Cross-Channel-Systemen relevant sind. Mit Cross-Channel-Systemen sind in dem hier vorliegenden Kontext interaktive Anwendungen gemeint, die auf teils sehr unterschiedlichen Geräten ausgeführt werden, die für den Nutzer aber den Eindruck einer zusammengehörenden Anwendungsfamilie erzeugen. Dabei geht es nicht nur um visuelle Verwandtschaft, sondern ebenfalls um funktionale und strukturelle Ergänzung der einzelnen Anwendungen durch jeweils andere Elemente des Systems. Für den Nutzer verschwimmen die Grenzen zwischen den einzelnen Anwendungen. Ein Kanal bezeichnet dabei einen Kontaktpunkt zwischen Nutzer und System. Dies kann eine Geräteklasse sein – beispielsweise Smartphones – oder eine einzelne Anwendung – beispielsweise eine Website150 . Für jede dieser Ausprägungen scheint es eigene Erfahrungsräume inner147 Vgl. Aicher: Die Welt als Entwurf, S. 71. 148 Vgl. Mullet/Sano: Designing visual interfaces: Communication oriented techniques, S, 134. 149 Vgl. zu Aspekten formaler Gestaltung auch Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 204--211. 150 Vgl. zur Gestaltung von Cross-Channel-Systemen und Multiscreensystemen Christophe Stoll: Multiscreen Patterns: Patterns to help understand and define strategies for the multiscreen world. 2011, url: http://previous.precious-forever.com/2011/05/26/patterns-for-multiscreen-strategies/ Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 126--127, 268–271 Gene Smith: Experience Maps: Understanding Cross-Channel Experiences For Gamers, 2010, url: http : / / nform . com / ideas / experience - maps - understanding - cross - channel - experiences - for gamers/
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Interaktionswelten
halb der Interaktionswelt des Nutzers zu geben. Das heißt es gibt sehr kanalspezifische Konventionen, die die jeweilige interaktive Anwendung erfüllen kann, die für wiederum andere Anwendungen des Cross-Channel-Systems nicht gelten. In CrossChannel-Systemen ist Kanal-übergreifende Konsistenz ein Mittel fehlende Kanal-interne Konventions-Konformität zu kompensieren. Entweder ein Anzeige- und Bedienkonzept nutzt die im Kanal gängigen Muster und Regeln oder es nutzt die Berührungspunkte zu anderen Kanälen innerhalb eines Cross-Channel-Systems, um ein übergeordnetes Bezugssystem zu erzeugen und Konsistenz innerhalb dieses Systems zu nutzen, die dann die fehlende Erfüllung der Konventionen kompensiert. Hierzu muss der Nutzer jedoch genug Bestandteile des Cross-Channel-Systems kennen und die systembildenden Eigenschaften erkennen, um eine mentale Systematik und ein Bezugssystem herzustellen. Ist sein Bezugssystem nach wie vor ein einzelner Kanal, hilft auch die Konsistenz über alle Kanäle des Cross-Channel-Systems nicht, da die übrigen Kanäle vom Nutzer nicht als relevante Bezugspunkte erkannt werden und daher nicht als Fundus zu übertragender Erfahrungen dienlich scheinen. Relevant ist somit die subjektive Beziehung mehrere Kanäle aufeinander beziehungsweise zueinander. Schwer betont, das die Komplexität der Produktwahrnehmung und Bedeutungsaufladung durch Wechselwirkung eines einzelnen Produktes mit einem Gefüge weiterer Produkte, die für einen subjektiven Nutzer einen Sinn- und Funktionszusammenhang aufweisen, stark zunimmt. „Produkte können demnach als Bestandteile einer komplexen Einheit gesehen werden, die infolge einer Zusammenstellung zu Ensembles, die der individuelle Nutzer vornimmt, entsteht. Durch die Kombinationsmöglichkeiten und die dabei auftretenden Wechselwirkungen wird das ohnehin schon große Feld der Konsumgüter in Bezug auf die Deutungsmöglichkeiten weiter ausgedehnt.“ Verantwortlich hierfür zeichnet Schwer vor allem verschiedene „Ebenen [komplexer] Strukturen aus Produkt, Ergänzung, Nutzungs- und Stilzusammenhängen, die sich unter unterschiedlichen Folien deuten lassen.“151 Wie Andrea Resmini und Luca Rosati 2011 betonen, müssen Artefakte, die vom Nutzer als Teile eines gemeinsamen System wahrgenommen werden, gemeinsam angedacht und gestaltet werden. Nur so können die nötigen Konsistenzen erzeugt werden, um dem Anwender einen Wechsel zwischen den Artefakten zu erlauben und die Bedienbarkeit über alle Artefakte hinweg aufrecht zu erhalten.
151
Stickdorn/Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, S. 80ff. Jon Fisher/Simon Norris/Elizabeth Buie: Sense-making in Cross-channel Design, in: Journal of Information Architecture 4.Issue 1-2 (2012), url: http://journalofia.org/volume4/issue2/01-surla/ jofia-0402-01-surla.pdf Andrea Resmini/Luca Rosati: Pervasive information architecture: Designing cross-channel user experiences, Burlington und MA: Morgan Kaufmann, 2011, url: http : / / pervasiveia . com / wp / wp content/uploads/2011/04/chapter3-heuristics.pdf Wolfram Nagel: Multiscreen UX design: Developing for a multitude of devices, 2015. Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 112--113.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
„When multiple interactions are designed as unstructured and unrelated, but are in fact perceived as one single experience by the user, as McMullin and Starmer point out, structural gaps and behavioral inconsistencies are common and unavoidable, and the sheer cognitive load and awkwardness of switching back and forth between noncommunicating and apparently diverse touch points hampers the final user experience.“152 Apple verweist in den Gestaltungsrichtlinien zu iOS Anwendungen aus dem Jahr 2010 darauf153 , dass unter keinen Umständen in einer iOS Anwendung Metaphern anderer iOS Anwendungen neu definiert und abweichend verwendet werden sollten. Auf diese Weise sollte die Gesamtqualtität des iPhones bzw. iOS gesteuerter Produkte gestärkt werden. Hohe Konsistenz innerhalb eines Bezugssystems verstärkt nicht nur die Verständlichkeit aller einzelnen Elemente, sondern scheint darüber hinaus die Konventionsbildung fördern zu können. Diese kann, wie angeführt durch Gestaltungsrichtlinien, aber auch durch eine strikte Zugangs- bzw. Integrationskontrolle ins Bezugssystems erfolgen. Die Kontrolle vor der Zulassung einer iOS-App zum Appstore, dem zentralen Archiv und Marktplatz für Apps für iPod Touch, iPad und iPhone, führt zu einer konventionellen Erwartungshaltung der Nutzer. Durch den von Apple kontrollierten Zugang zum Appstore, konnte dafür gesorgt werden, dass alle dort erschienen und erscheinenden Apps in Puncto Interaktion – also in ihrer Struktur, dem Verhalten der GUI-Elemente, der grundsätzlichen Navigationsstruktur, ihrem Feedback, der Performance und der Eindeutigkeit der Element und Aktionen – und User Experience den Vorgaben von Apple entsprechen. Auf diese Weise wurde die Variation der ABKs von iOS-Apps gering gehalten. Apps, die zu sehr von den Vorgaben Apples abweichen, werden den Nutzern nicht im Appstore angeboten. Somit wurden aus Vorgaben und Richtlinien einer Firma Erfahrungen der Nutzer, die sie im Umgang mit den nun konventionellen Apps sammelten und immer wieder durch die Interaktion mit neuen konventionellen Apps bestätigten, sodass dadurch gängige Konventionen entstanden, wie iOS-Anwendungen zu bedienen sind. Thiel beschreibt 2014 am Beispiel Apples den Netzwerkeffekt, der durchaus als verwandt zur Pfadabhängigkeit angesehen werden kann. Demnach habe Apple ein starkes Geflecht von Produkten entwickelt, die sich untereinander ergänzen und in kombinierter Anwendung einen größeren Nutzen stiften. Gleichzeitig sei dieses Ökosystem interessant für Entwickler von Apps, sodass eine Vielzahl attraktiver App-Angebote garantiert ist. Für die Entwickler von Apps sind die finanziellen Reize bei solch erfolgreichen Systemen, höher. Apple profitiert wiederum vom reichhaltigen App Angebot, wodurch das eigene Ökosystem noch nutzbarer und attraktiver wird. Die Anwender bzw. Käufer tendieren bei ihren Kaufentscheidungen, zu den Geräten, die am ehesten die Erfüllung ihrer Ziele und Bedürfnisse versprechen. Die Erweiterbarkeit eines funktionalen
152 153
Siehe Resmini/Rosati: Pervasive information architecture: Designing cross-channel user experiences, S. 42. Vgl. Apple Inc.: iPhone Human Interface Guidelines - User Experience.
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Systems und das vielfältige App-Angebot sind dabei Faktoren, die einen lang anhaltenden und ausbaufähigen Nutzen versprechen154 . Dieses Wechselspiel positiver Rückkopplungen beschreibt Paul Allan David155 1985 in ähnlicher Form am Beispiel der Schreibmaschine. Gefolgert werden kann daraus, dass Marktmacht und Netzwerkeffekte die Diffusion von Innovationen fördern und die Sogwirkung dieser Rückkopplungseffekte andere zur Nachahmungen anregen und dadurch abweichende potentielle Innovationen hemmen. Aus Gestaltungsperspektive stellt sich somit bei Netzwerkeffekten die Frage, wieviel Ähnlichkeit zwischen den ABKs der unterschiedlichen interaktiven Entitäten eines Gesamtsystems nötig ist, um die positiven diffusionsfördernden und konventionsbildenden Folgen eines Ökosystems oder Produktnetzwerks zu nutzen und wieviel Eigenständigleit gewährt werden sollte, um die jeweilige Aufgabenangemessenheit sicher zu stellen. Interne und externe Konsistenz – im Sinne systeminterner Konsistenz – haben Vorteile, die aber nur zum Zuge kommen, wenn sie mit den Zielen und mentalen Modellen der Anwender vereinbar sind. Wie Cooper u. a. 2014 am Beispiel von MS Office herausstellen, profitiert die Systemwahrnehmbarkeit, wenn Anwendungen desselben Produktpaketes in Funktionsund Menüanordnung, -Benennung und -Visualität übereinstimmen. Einen qualitativen Mehrwert erhält PowerPoint jedoch nicht dadurch, dass es die Strukturen einer reinen Textverarbeitungssoftware, wie MS Word, übernimmt156 . Die funktionalen Übereinstimmungen zwischen einer Präsentationssoftware (PowerPoint), Textverarbeitungssoftware (Word) und einer Tabellenverarbeitungssoftware (Excel), und die Anforderungen die Nutzer an die jeweiligen Produktkategorien stellen und die Ziele, die sie durch die Anwendung der Programme erreichen wollen, scheinen eigentlich zu gering bzw. zu unterschiedlich zu sein, um diese Programme und ihre Anwendungsfälle identisch zu behandeln. Wie Cooper u. a. des Weiteren anhand von Photoshop und Photoshop Express aufzeigen, kann visuelle Gestaltung und die Fokussierung auf verwandte Aufgaben, die mit Programmen erledigt werden können, ausreichen, um eine Zusammengehörigkeit zu kommunizieren. Individuelle aufgaben- und kontextangemessene ABKs und ihre GUIs stellen in diesem konkreten Fall keinen wahrnehmbaren Bruch der systeminternen Konsistenz dar, sondern das Ergebnis nutzer- und nutzungszentrierter Gestaltung157 . Wenn ein Ökosystem eine hohe Konsistenz aufweist, vermitteln die implementierten Bedienprinzipien und -Abläufe eine starke innere Logik. Diese Logik ermöglicht es, Erfahrungen einzelner Entitäten des Ökosystems auf Anwendungssituationen mit anderen Entitäten des selben Ökosystems zu übertragen. Die jeweiligen eigenständigen Qualitäten der einzelnen Entitäten erzeugen jedoch im Zusammenspiel ein wahrnehmbares qualitatives Gesamtbild des Ökosystems. Es sollte also ein ausgewo-
154 155 156 157
Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 54. Vgl. David: Clio and the Economics of QWERTY. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 430--431. Vgl. ebd., S. 19--20.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
genes Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Spezialisierung bzw. Eigenständigkeit der einzelnen Entitäten bestehen. Am Beispiel der Anfangsjahre der Konzeption und Gestaltung von Bedien- und Anzeigekonzepten für mobile Anwendungen zeigt Ingrid Rügge im Jahr 2008, dass sich „die Gestaltung der Benutzungsoberfläche [...] bisher an den Gestaltungskriterien für Desktop Computing-Lösungen [orientiert] und [...] nicht die Besonderheiten der mobilen Benutzung [berücksichtigt]“158 . Das bedeutet, dass kontext-unabhängige Konventionstreue zu Lasten der Benutzerfreundlichkeit geht. Somit kann das volle Potential eines neuen Kontextes erst ausgeschöpft werden, wenn neue kontext-relevante Konventionen geschaffen beziehungsweise etabliert werden, die dem Kontext angepasste Interaktionskonzepte berücksichtigen. Wenn solche kontextspezifischen Konventionen jedoch noch nicht bestehen, oder bewusst mit ihnen gebrochen werden soll, müssen ABKs andere Erfahrungsebenen der Nutzer ansprechen. Entweder sehr verbreitetes und rudimentäres Erfahrungswissen der Nutzer wird adressiert, beispielsweise der Ebene „Sinneserfahrungen“159 , oder spezifischeres Wissen, beispielsweise Expertenwissen, anderer Nutzungszusammenhänge und Kontexte. Letzteres funktioniert nur, wenn die adressierten Nutzer eine ausgeprägte Fähigkeit haben, dieses ihnen eigene Wissen auf neue Kontexte zu übertragen. In beiden Fällen kann die methodische Verwendung von Metaphern die Wissensadaptierung ermöglichen. Metaphern stellen ein Instrument dar, neue Gegebenheiten zu abstrahieren und können als Lern-, Orientierungs- und Erinnerungshilfe eine Anschlussfähigkeit neuer Erfahrungen an die bisherige Lebenswelt gewährleisten160 . Metaphern vereinfachen die Objektivierung und die Typisierung sowie die Adaption relevanten Vorwissens aus anderen Bereichen der Lebenswelt zur Lösung neuer Probleme bzw. zur Interaktion mit unbekannten, unkonventionellen Systemen und spielen somit, wie Johnson hervorhebt, vor allem bei der Erschließung neuer Technologien eine große Rolle. „Jedes Zeitalter findet sich mit der jüngsten Technologie ab, indem es Bilder von älteren und vertrauten Dingen heranzieht. Meist nimmt dies die Form einer Analogie zwischen Maschinen und Organismen an.“161 Im Gegensatz zu diesem Prozess, nehmen digital Natives162 komplexe Zusammenhänge als gegeben hin und bauen ihr Weltbild auf diesen vorgegebenen Strukturen und 158
Siehe Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 227. 159 Vgl. Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 131. 160 Vgl. hierzu Mambrey/Paetau/Tepper: Technikentwicklung durch Leitbilder: Neue Steuerungs- und Bewertungsinstrumente, S. 16 Peter Hoschka: Metaphern und Innovation in der Informatik. Überlegungen am Beispiel der Assistenz-Metapher. In: Detlef Müller-Böling/Norbert Szyperski (Hrsg.): Innovations- und Technologiemanagement, Stuttgart: Poeschel, 1991, S. 427–442 und Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 214. 161 Siehe Johnson: Interface Culture: Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern, S. 26. 162 Auf diesen Sachverhalt wurde bereits in Kapitel 6.5 ausführlicher eingegangen. Vgl. auch Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants
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Interaktionswelten
Zusammenhängen auf. Werden solche Weltbilder also durch neue Gebilde erweitert, wird dies durch die Herstellung von Analogien und Metaphern vereinfacht und eine Anschlussfähigkeit an die eigenen Erfahrungen erzeugt. Dies führt zu dem Umstand, dass Analogien und Metaphern über die Zeit die Qualität der Abstrahierung einbüßen und selber zu einem fixen Sachverhalt werden können; sie stehen dann nicht mehr für etwas im übertragenen Sinne, sondern repräsentieren einen Umstand bzw. einen Zustand oder Gegenstand im reinen Sinn. Solche Metaphern, die ihren übertragenen Sinn einbüßen, können wiederum als Basis bzw. Referenz für neue Analogien und Metaphern dienen. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang stellt der Joystick dar. Wie Hans Dieter Hellige 2008 darstellt, wurde der Joystick erstmals Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts zum Computer-Eingabemedium weiterentwickelt. Dabei habe er „in Gestalt und Funktionsweisen den bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen ‚control stick‘ von Autos und Flugzeugen“ imitiert163 . Dabei sei der Name Joy Stick bereits eine aus dem „Slang der Piloten“ entsprungene Analogie und eine „sexuell-anzügliche Bezeichnung“164 . Im späteren Verlauf und der zunehmenden Etablierung von Computerspielen und Spielekonsolen hat der Begriff Joy Stick zunehmend die von Hellige attestierte sexuelle Anzüglichkeit eingebüßt und wurde zum Inbegriff für das Eingabemedium165 . Im Zuge der steigenden Verwendung von Touchdisplays, wird dieser Joystick wiederum zur visuellen Metapher, um Wirkungsprinzipien der 8-Wege-Steuerung auf das Touchdisplay zu übertragen. Dabei wird das Aussehen des Joy Sticks, wie am Beispiel der in Abbildung 23 gezeigten App „Fifa 15 Ultimate Team“ erkennbar ist, visuell nachempfunden, um dem Nutzer zu veranschaulichen, dass das entsprechende Eingabeelement zur Steuerung eines Objektes dient und dabei in vier bis acht Richtungen bewegt werden kann. Der Joystick steht somit nicht nur für eine abgestorbene Metapher166 , die zum Eigenbegriff wurde, sondern darüber hinaus auch für die von Hellige identifizierte Entwicklung von mechanischen UIs hin zu digitalen und virtuellen, die auch im Automobil erkennbar ist167 . Durch das Erzeugen einer Metapher und die digitale Abbildung physischer Objekte und ihrer Funktions- und Sinnzusammenhänge kann somit Benutzbarkeit erzeugt
Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants, Part II: Do They Really Think Differently? und Windisch/Medman: Understanding the digital natives. 163 Siehe Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 34. 164 Vgl. ebd. 165 Vgl. Alastair H. Cummings: The Evolution of Game Controllers and Control Schemes and their Effect on their games, 2007, url: http://mms.ecs.soton.ac.uk/2007/papers/6.pdf Lorenzo Garbani: History of Computer Pointing Input Devices, 2011, url: http : / / students . asl . ethz . ch / upl _ pdf / 358 - report . pdf und William Lu: Evolution of Video Game Controllers: How Simple Switches Lead to the Development of the Joystick and the Directional Pad, 2003, url: http: //web.stanford.edu/group/htgg/sts145papers/wlu_2003_1.pdf. 166 Vgl. Nake: Zeigen, Zeichnen und Zeichen. Der verschwundene Lichtgriffel, S. 145. Beispiele aus dem MMI Bereich sind Desktop, Buttons, Joy Sticks und die Maus. 167 Vgl. Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 20 ff. 168 Quelle: Electronic Arts Inc.: FIFA 15 Ultimate Team by EA SPORTS, hrsg. v. Electronic Arts Inc., 2014, url: https://itunes.apple.com/de/app/fifa-15-ultimate-team-by-ea/id870794720?mt=8.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Abbildung 23: Darstellung der Bedienelemente in der Fussballsimulation „Fifa 15 Ultimate Team“ aus dem Jahr 2014. Zur Steuerung der Spielfiguren dient ein, einem Joy Stick funktional und visuell nachempfundenes, Bedienelement.168
werden. Dadurch können die Stärken und Fähigkeiten des Benutzers als Basis der Interaktion mit für ihn unbekannten Systemen wiederverwertet werden. Das größte Metaphersystem im Kontext der Mensch-Computer-Interaktion stellt wohl das WIMP-Konzept dar. WIMP steht für Windows, Icons, Menus und Pointer und bezeichnet damit die essentiellen Metaphern, die das Bild des Nutzers, wie ein PC funktioniert, prägen. Wie Wolfgang Coy 2008 herausstellt, stießen diese Konzepte und Metaphern zunächst auf „den erbitterten Widerstand derjenigen Nutzer, die sich mit den offensichtlichen Herausforderungen zeilenorientierter Interaktion abgefunden hatten, nämlich dem Erlernen aller möglichen Befehlsnamen des Betriebssystems und der jeweiligen Programme und der Erinnerung an die Namen vorhandener Dateien und Verzeichnisse“169 . Die Abstraktion der PC internen Prozesse für den Nutzer zu einfachen Modellen, die anschlussfähig an die alltäglichen Erfahrungen der Nutzer waren und durch einfache grafische Elemente repräsentiert werden konnten, benötigten eine hohe Rechenleistung, die aus Sicht der technikaffinen Nutzer, die bereits ein hohes Interaktionswissen bzw. eine entsprechende Kompetenz aufgebaut hatten indem sie über ein hohes technisches Grundverständnis verfügen, unverhältnismäßig war. Von den routinierteren Nutzern wurden die neuen Metaphern abgelehnt170 . Für Novizen, also Nutzer mit keiner oder geringer Nutzungs-Vorerfahrung, stellten sie jedoch eine große Erleichterung bei der Erschließung der Blackbox PC dar. Wie Coy betont, hat sich das WIMP Konzept und die damit ebenfalls verbundene Desktop Metapher trotz einiger Schwächen durchgesetzt und zur dominierenden Doktrine entwickelt. „Mit Grafikbildschirmen. Maus und Event Loop hat sich eine grafische Nutzerschnittstelle (Graphical User Interface -- GUI) etabliert, der seit ihrer Einführung um 1980 ein nahendes Ende vorhergesagt wird. Doch die WYSIWYG-Schnittstelle (What you see is what you get), die auf Grund unterschiedlicher Ausgabetechnik 169 Siehe Coy: Auf dem Weg zum "Finalen Interface". Ein medienhistorischer Essay, S. 315. Vgl. zur ausführlicheren Darstellung der Entwicklung der zentralen Paradigmen heutiger Desktop-Systeme auch Moggridge: Designing interactions, S. 17--22. 170 Vgl. Coy: Auf dem Weg zum "Finalen Interface". Ein medienhistorischer Essay, S. 315--316.
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Interaktionswelten
es nicht einmal erreicht hat, dass Ausdruck und Bildschirmdarstellung exakt übereinstimmen, hat sich nun über ein Vierteljahrhundert etabliert. Selbst die vorn und hinten nicht passende Metapher des Bildschirms als Schreibtisch ist geblieben, weil sie den Nutzern mehr emotionalen und intellektuellen Halt bietet als irgendeine andere vorgebrachte Vorstellung von der Arbeitsweise eines PCs.“171 Wie Johnson schreibt, stellt die gängige Desktop-Metapher eine Adaption bekannter Sinn- und Funktionsstrukturen der Nutzer dar, die abstrahiert wurde, um Computer bedienbarer zu machen. „Wenn der Computer jede nur denkbare Gestalt annehmen konnte, warum sollte man ihn dann nicht die alte analoge Welt nachahmen lassen, die er ersetzen sollte? Es war eine Art Tauschhandel der Imagination: Wenn die Menschen ihre auf Atomen aufgebauten Aktenschränke, Papierkörbe und Papierstapel aufgaben, warum sollte man diese Dinge nicht einfach in die digitale Welt übertragen? Ein Teil der Lösung war einfach funktionell. Dabei konnte man auf die vorhandenen Stärken und Fähigkeiten des Benutzers aufbauen.“172 Auf diese Weise wurde versucht, dem Nutzer das Bild zu vermitteln, die eigentlich schwer nachvollziehbare Datenspeicherung und die logischen Operationen eines Computers seien im Grunde nichts anderes als das Abheften von Akten in Registern und die Bearbeitung von Dokumenten. Durch die komplette Übertragung der Prozess und Objekte der Arbeitswelt auf die Abläufe und Funktionen des Computers konnte dieser besser in die routinierten Handlungsabläufe im Büroalltag integriert werden. Auf diese Weise wurde versucht dem Nutzer ein umfassendes Mentales Modell zu vermitteln, dass die neuen Erfahrungen im Umgang mit dem Computer anschlussfähig an ihre bestehende Lebenswelt machte. Auch Apple schrieb im Jahr 2010 in seinen Gestaltungsrichtlinien für iPhones vor, Metaphern zu verwenden, um neuen Nutzern die Anwendung unbekannter Applikationen zu vereinfachen173 . Wie Norman herausstellt, gibt es sowohl das Mentale Modell174 des interaktiven Systems, dass der Gestalter erzeugt, wenn er das System andenkt, das Mentale Modell von dem der Gestalter während der Entwicklung des interaktiven Systems glaubt, dass es der Nutzer entwickeln wird, und das Mentale Modell, das der Nutzer letztlich bildet175 . 171 172 173 174
175
Siehe Coy: Auf dem Weg zum "Finalen Interface". Ein medienhistorischer Essay, S. 315. Siehe Johnson: Interface Culture: Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern, S. 60. Vgl. Apple Inc.: iPhone Human Interface Guidelines - User Experience, S. 31. Vgl. zur Begriffserläuterung Mary Jo Davidson/Laura Dove/Julie Weltz: Mental Models and Usability, 1999, url: http://www.lauradove.info/reports/mental%20models.htm und Nancy Staggers/ A. F. Forcio: Mental models: concepts for human-computer interaction research, in: International Journal of Man-Machine Studies, Bd. 38, 1993, S. 587–605. Vgl. Norman: Some Observations on Mental Modelsders.: The design of everyday things, S. 190. Eine vergleichbare dreiteilige Untergliederung Mentaler Modelle finden sich auch in Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten und IBM: Object-oriented interface design: IBM common user access guidelines, 1. Aufl., Bd. SC-34-4399-00 (IBM Form), Carmel und Ind: Que Corporation, 1992. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 7.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Auch Möller stellt heraus, dass „die Probleme und Handlungsstrategien von den Anwendern in Eigendeutung konstruiert“ werden und daher „nicht antizipierbar“ sind176 . Das heißt sie weist explizit darauf hin, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein impliziertes mentales Modell tatsächlich auch so vom Nutzer gebildet wird. Ein Bezug des Gestalters auf mutmaßliches Vorwissen des Nutzers bzw. rudimentäre Wissensstrukturen, kann immer nur eine Basis sein. Ob und wie der Nutzer diese zu nutzen weiß, bleibt offen bzw. ist erst nach der Diffusion erfassbar. Obwohl Möller also den Erfolg antizipierter Handlungsstrategien, die in Handlungsofferten und funktionalen Aktions-Reaktions-Regeln abgebildet werden und mit gestalterischen Mitteln intendiert in ein ABK hinein codiert werden, anzweifelt, stellt sie die Theorie auf, dass die bewusste gestalterische Intendierung eines mentalen Modells und die bewusste gestalterische Bezugnahme auf bestehende Konventionen oder eben die Distanzierung von diesen Konventionen eine spätere Analyse und das daraus resultierende Verständnis der Gründe für die erfolgreiche oder misslungene Diffusion eines innovativen interaktiven Systems erleichtert, wenn nicht gar erst möglich macht. Je bewusster die Ausgangslage, der Urzustand eines zu diffundierenden Artefaktes, bekannt ist, desto besser kann der Diffusionsprozess und seine Folgen beobachtet werden. So wie bereits das Grundverständnis des interaktiven Programms in den Köpfen der beteiligten Akteure variiert, variieren auch die jeweiligen Erfahrungsräume und Bewertungssysteme und so wie der Gestalter nicht in der Lage ist, das Mentale Modell des Nutzers zu 100 Prozent im Voraus zu erfassen, ist er nicht in der Lage das Bewertungs- und Erfahrungsgefüge des Nutzers zu bestimmen und somit treffsicher zu berücksichtigen177 . Norbert Streitz stellt 1988 heraus, dass Metaphern den Gestalter dazu befähigen, zwar nicht das Mentale Modell des Nutzers absolut festzulegen oder im Vorhinein zu erkennen, aber das von ihm intendierte Modell zumindest stärker in das interaktive System hinein zu codieren und somit die Wahrscheinlichkeit, dass das tatsächlich vom Nutzer gebildete Mentale Modell und das von ihm Intendierte gleiche Grundzüge aufweisen, zu erhöhen178 . Zum einen soll jedoch kritisch angemerkt werden, dass auch bei einer Metapher nicht zu 100 Prozent davon ausgegangen werden kann, dass jeder Nutzer über das nötige Wissen verfügt, die codierte Metapher in das richtige relative Erfahrungsgefüge zu setzen, um es wieder zu decodieren und daraus auf das zugrundeliegende Funktionssystem zu schließen. Des Weiteren scheinen Metaphern zwar im – dargestellten – begrenztem Maße grundliegende Modelle kommunizieren zu können, es 176 177
178
Siehe Möller: Der Weg zum "User": Probleme von EDV-Novizen bei der Aneignung des Phänomens Computer, S. 145. „In addition, customers who purchase a product may not be the same people who use it from day to day, a subtle but important distinction. Finally, experts in a domain may not be able to easily place themselves in the shoes of less–expert users when defining tasks and flows.“ Siehe Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 10. Vgl. Norbert Streitz: Mental models and metaphors: Implications for the design of adaptive usersystem interfaces, in: Heinz Mandl/Alan Lesgold (Hrsg.): Learning issues for intelligent tutoring systems (Cognitive science), New York: Springer, 1988, S. 164–186, S. 181.
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Interaktionswelten
ist jedoch sehr fragwürdig, ob beeinflussende Interaktionskonventionen ebenfalls mit Hilfe von Metaphern oder einer anderen Methodik in das interaktive System hinein codiert werden können; vor allem, da sie im Sinne der Pfadabhängigkeit dem Gestalter nicht bewusst sein müssen oder gar können, er sie somit also nicht zwingend intendiert hinein codieren kann. Ebenso sind sie dem Anwender nicht zwingend bewusst, werden daher nur implizit genutzt, sodass eine Metapher nicht aktiv entschlüsselt werden könnte.
8.3
Zwischenfazit zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Während im Entstehungsprozess innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte Konventionen vor allem im Sinne der Pfadabhängigkeit wirken und die Formulierung, Ausarbeitung und Bewertung neuer Konzepte und Ansätze beeinflussen, wirken sie im Anwendungskontext auf diffusere Art und Weise. Aus Sicht der Nutzer werden innovative ABKs im Verbund mit weiteren Technologien und Produkten wahrgenommen. Die einzelnen Charakteristika und Qualitäten das ABKs werden erst im Zuge der Interaktion erfahrbar. Vorher wirken primär Qualitäten der übrigen Merkmale und Bestandteile des Produktclusters. Diese Produktcluster prägen die Wahrnehmung der Nutzer. Somit ist die Diffusion eines ABKs und dessen Verwendung, welche Voraussetzung für die Aneignung und Intersubjektivierung von Handlungsmustern ist, auch abhängig von der Produktwahrnehmung. Während ein innovatives ABK im Entstehungskontext als Wissen, Theorie oder Idee unter Produzenten und Theoretikern diffundiert, diffundiert es im Anwendungskontext im Verbund mit anderen Konzepten und Technologien. Dadurch können die Defizite eines ABKs durch die übrigen Eigenschaften des Verbundes ausgeglichen werden. Gleichzeitig kann das ABK seinerseits defizitäre Bestandteile ausgleichen. Im Kontext der MMI, kann man feststellen, dass die Kompatibilität und Anschlussfähigkeit neuer innovativer Interaktionskonzepte an die bestehende Interaktionswelt eines Subjektes dessen Anwendungsentscheidung maßgeblich mit beeinflusst. Im Zuge der logischen Kosten-Nutzen-Rechnung verfolgt das Subjekt durch die Anwendung eines Artefaktes ein konkretes Ziel, egal ob es das Bestreben hat, sich selbst zu unterhalten, darzustellen, mit einem Familienmitglied auf der anderen Seite des Planeten zu kommunizieren, komplexe höhere mathematische Berechnungen durchzuführen oder ein simples Loch in die Wand zu bohren. Nutzer haben Erwartungen, die durch die eigene Lebenswelt und Interaktionswelt geprägt sind. Diese Erwartungen, wie ein Artefakt funktioniert bzw. bedienbar ist, spielen bei der Bewertung eines innovativen Artefaktes eine entscheidende Rolle. Sie entscheiden darüber, wie hoch der Verwendungsaufwand subjektspezifisch eingeschätzt bzw. wahrgenommen wird. Durch die Kopplung innovativer ABKs mit weiteren Technologien und Konzepten zu komplexen Artefakten werden innovative Interaktionskonzepte leichter diffundiert. Gleichzeitig spielen dadurch aber weitere Faktoren bei der Diffusion eine Rolle, die losgelöst von der reinen, gegebenenfalls intuitiven Bedienbarkeit des Artefaktes sind.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Die ganzheitliche Produktwahrnehmung beeinflusst, welche Ziele und Funktionen dem Artefakt zugeschrieben werden. Die Ziele eines potentiellen Anwenders können dabei auf unterschiedlichen konkreten und abstrakten Bedürfnisebenen liegen. Nur wenn das Subjekt dieses Ziel durch die Anwendung des innovativen Artefaktes erreicht, hat es Qualität und kommt zunächst für eine weitere Nutzung in Frage. Ob das Artefakt grundsätzlich zur Erreichung eines Zieles in Frage kommt, hängt stark davon ab, in welchen Kontext es das Subjekt setzt bzw. welche Handlungsofferten der Gestalter in das Artefakt oder Konzept hineinkodiert hat und somit wie anschlussfähig das Artefakt an die Erfahrungen und Erwartungen des Subjektes ist. Dabei ist auch entscheidend, ob der potentielle Nutzer ausschließlich pragmatische Erwartungen an das Artefakt stellt oder darüber hinaus hedonistische, ökonomische oder psycho-soziale Aspekte eine Rolle spielen. Sofern das Subjekt bereits Artefakte kennt, die dasselbe Ziel erfüllen, wird es die Verwendung des neuen Artefaktes mit den Nutzungserfahrungen der zuvor verwendeten Artefakte vergleichen. Auch wenn dieser Vergleich unterbewusst abläuft, ist er Teil der Kosten-Nutzen-Analyse. Weicht das ABK eines interaktiven innovativen Artefaktes also zu stark von den Interaktionskonventionen eines Subjektes ab, ist der Aufwand, zu verstehen was auf welche Weise mit dem Artefakt getan werden kann, sehr hoch. Der subjektive Aufwand ist demnach höher als bei den Artefakten, die zuvor seinen Konventionen entsprachen. Der Nutzen, den das innovative Artefakt stiftet, muss daher subjektiv größer sein, als der Mehraufwand, den das Subjekt aufwenden muss, um das unkonventionelle ABK zu verstehen und zu erlernen. Je häufiger der gesuchte Nutzen jedoch von konkurrierenden Produkten gestiftet wird, desto nachrangiger wird er bei der Entscheidung, welches dieser Produkte verwendet werden soll179 . Durch die Relativität und Subjektspezifität einer Innovation und den Umstand, dass im Zuge des Übergangs vom Entstehungs- in den Anwendungskontext die Betrachtungsperspektive bzw. der Bewertungshorizont wechselt, können ABKs noch vor ihrer Diffusion im Anwendungskontext bereits den Status einer Innovation verlieren. Was im Entstehungskontext innovativ ist, kann, auch bedingt durch die zeitliche Dimension der Diffusion, im Anwendungskontext bereits bekannt oder sogar veraltet sein. Dies gilt vor allem für stilistische Aspekte der Gestaltung, die für kurze Zeit als innovativ wahrgenommen werden können, aber eine sehr geringe Halbwertszeit haben können. Etablierte Innovationen180 wirken besonders vertraut und dadurch besonders effizient181 . Sie liefern eine hohe Nutzungszufriedenheit. Je vertrauter der Umgang mit 179
Auf diesen Umstand wurde bereits in Kapitel 8.1.2 verwiesen. Vgl. auch Gros: Erweiterter Funktionalismus und Empirische Ästhetik, S. 42; zitiert nach Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 68. 180 Umso länger sich eine Neuerung im Milieu befindet, desto weiter konnte sie diffundieren und desto wichtiger wird sie. Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 42, 43. 181 Vgl. Friedewald: Ubiquitous Computing: Ein neues Konzept der Mensch-Computer-Interaktion und seine Folgen, S. 259 und Josef Wehner/Werner Rammert: Zum Stand der Dinge: Die Computerwelt und ihre wissenschaftliche Beobachtung, in: Werner Rammert (Hrsg.): Computerwelten - Alltagswelten, Bd. 7 (Mensch und Technik), Opladen: Westdt. Verl, 1990, S. 225–238.
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Interaktionswelten
ihnen ist, desto ökonomischer scheint das subjektspezifische Verhältnis zwischen Nutzungsaufwand und Nutzen zu sein. Laut Berger/Luckmann, (1977) bringt „Gewöhnung [...] den psychologisch wichtigen Gewinn der begrenzten Auswahl. [...] Habitualisierung sorgt für eben die Richtung und Spezialisierung des Handelns, die der biologischen Ausstattung des Menschen fehlen und baut auf diese Weise Spannungen ab, welche von ungerichteten Trieben kommen.“182 Diese Gewöhnung resultiert aus der Nutzungsintensität, die das Resultat aus der Nutzungshäufigkeit, der Nutzungsdauer und der Nutzungskomplexität ist. Somit ist sie abhängig vom Expertisegrad des Nutzers und der generellen Verbreitung des Interaktionskonzeptes innerhalb des Diffusionskontextes bzw. Milieus. Besonders etablierte Interaktionskonzepte stellen somit den Hintergrund dar, vor dem eine Neuerung im Zuge ihrer Diffusion bestehen muss. Die Überführung dieser Neuerung in einen Anwendungskontext kann nur erfolgen, wenn sie als bedienbar wahrgenommen wird. Nur in der Kombination aus einer grundsätzlichen Bedienbarkeit des Interaktionskonzeptes und der Funktionalität des verwendenden interaktiven Systems, findet beides im Verbund Anwendung und wird dieses Artefakt konsumiert. Je konventioneller das Interaktionskonzept ist, also je stärker es den Vorerfahrungen des Nutzers entspricht, desto bedienbarer ist es. Gleichzeitig nimmt die subjektive Innovativität ab. Ein stark unkonventionelles Interaktionskonzept wird somit beim ersten Eindruck und während der ersten Interaktionsmomente mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Erwartungen des Nutzers nicht erfüllen können. Durch eine hohe Selbstbeschreibungsfähigkeit und hohe interne Konsistenz kann diese Unkonventionalität jedoch kompensiert werden. Die negativen Erfahrungen, durch die nicht Erfüllung erster Erwartungen, führen dazu, dass der Nutzer die Reaktion des Systems auf seine Eingaben nicht mehr abschätzen kann. Je schneller er das Gefühl bekommt, zu verstehen wann das interaktive System auf welche Weise auf eine bestimmte Eingabe reagiert, desto weniger erscheint das unkonventionelle Interaktionskonzept unbedienbar zu sein. Aus anfänglichem Unbehagen kann schnell Vertrautheit entstehen. Kombiniert mit der Gesamtwirkung des Artefaktes können so die zunächst bestehenden Nachteile des unbekannten ABKs durch Vorzüge innerhalb anderer Dimensionen der Produktwahrnehmung kompensiert werden, bis der Nutzer genügend Interaktionserfahrung gesammelt hat, um einen geringeren Anwendungsaufwand wahrzunehmen. Wie Werner Rammert 1993 herausstellt, wird die „Gestalt und Verwendung neuer Produkte“ und dadurch ein Teil der Folgen der Technikentwicklung bereits im Entstehungskontext festgelegt, der restliche Teil werde aber durch „institutionelle Bedingungen und kulturelle Muster der Aneignung und des Umgangs mit den Dingen in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen“ bestimmt183 . Dies verdeutlicht den vielseitigen Einfluss von Konventionen auf Innovationen. Sie wirken sowohl im Entstehungskontext, als auch im Anwendungskontext innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte.
182 183
Siehe Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 57. Siehe Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 49--50.
8 Betrachtungen zur Wirkung von Konventionen im Anwendungskontext
Dabei muss davon ausgegangen werden, dass zwar nicht alle Qualitäten eines Artefaktes direkt der (Interaktions-) Gestaltung unterliegen, aber grundsätzlich explizite Qualitäten im Entstehungskontext erzeugt werden können, somit die Gestaltung einen Einfluss auf die Diffusion hat. Denn ungeachtet der tatsächlichen Einflussnahme der (Interaktions-) Gestaltung auf die endgültige subjektspezifisch wahrgenommene Produktqualität und auf die Anwendungsentscheidung, ist im Sinne von Armin Grunwald (2006) nur relevant, „dass die Akteure ihr Handeln so verstehen, als ob Gestaltung möglich wäre [...]“184 . Auch wenn im Großen Technikentwicklung nicht gesteuert und somit nicht gestaltet werden kann, können die beteiligten Akteure im Kleinen Einfluss nehmen und somit ihre Intentionen gestalterisch in die Entwicklung und Entscheidungen einfließen lassen. Gemäß den bisherigen Folgerungen, dass sobald einer Qualität einer Innovation in deren Entstehungsprozess Aufmerksamkeit gewidmet wird, sie bewusst und explizit angelegt ist, folgert somit, dass die Gestaltung im kleinen Einfluss auf die Wirkung von Artefakten nimmt, in dem sie einen Teil der Qualitäten des Artefaktes explizit anlegt und dadurch dessen Diffusion beeinflusst.
184 Siehe Gottschalk-Mazouz: Grunwald, Armin: Technik für die Gesellschaft von morgen. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Technikgestaltung. Frankfurt a.M.: Campus 2000, in: Birgit Blättel-Mink (Hrsg.): Kompendium der Innovationsforschung, Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2006, S. 250–251, S. 250--251, vgl. Armin Grunwald: Technik für die Gesellschaft von morgen: Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Technikgestaltung (Gesellschaft - Technik - Umwelt), Frankfurt/Main: Campus-Verl, 2000.
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9 Folgerungen zu Konventionen im Gestaltungszusammenhang
Wie in den vorigen Kapiteln 7 und 8 dargestellt, muss die Wirkung von Konventionen auf Innovationen zweigeteilt betrachtet werden. Konventionen wirken sowohl im Entstehungskontext einer Innovation – indem sie auf den Gestalter Einfluss nehmen, während dieser das potentiell innovative System gestaltet – als auch im Anwendungskontext – in dem Konventionen in Form eines Pools aus Handlungsmustern und als Referenzsystem des Nutzers beim anfänglichen Kontakt mit dem innovativen System die Anwendungsentscheidung beeinflussen und im weiteren Verlauf der Anwendung die Interaktionswahrnehmung prägen. Damit die Innovation Anwendung findet, muss sie mittels Diffusion vom Entstehungskontext in den Anwendungskontext überführt werden. Während dieses Prozesses spielen die Qualitäten der Innovation eine entscheidende Rolle. Dabei werden diese jedoch im Verbund mit anderen Eigenschaften und Qualitäten wahrgenommen. Technologien und Konzepte diffundieren häufig als Verbund und werden von den potentiellen Anwendern als ganzheitliche Produkte wahrgenommen. Die Qualitäten dieser Artefakte sind insbesondere im Zuge der ersten Begutachtung und ersten Interaktion mit dem Artefakt von Bedeutung; wenn gleich auch weitere qualitative Faktoren die Produktwahrnehmung und die Anwendungsentscheidung beeinflussen und somit defizitäre Qualitäten durch Eigenschaften des Artefaktes, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zur Anwendung und Interaktion stehen, kompensiert werden können. Die Beweggründe eines Subjekts, ein innovatives Artefakt anzuwenden, sind dabei äußerst unterschiedlich und können auf unterschiedlichen Ebenen identifiziert werden. Psychosoziale Ziele müssen dabei nicht immer im Einklang mit rationalen, pragmatischen Zielen stehen. Durch diese Einflussnahme teils nicht vorhersehbarer und nicht messbarer Ziele der potentiellen Nutzer, ist die Entwicklung innovativer Artefakte und Konzepte nur bedingt in vollem Umfang planbar und steuerbar. Zwar können grundsätzlich wichtige Qualitäten im Zuge des Entstehungsprozesses identifiziert und explizit angelegt werden, jedoch kann weder die Wahrnehmung dieser Qualitäten im Anwendungskontext
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Interaktionswelten
garantiert werden, noch die Relevanz dieser Qualität im Zuge der Anwendungsentscheidung prognostiziert werden. Der Begründungszusammenhang gestalterischer Entscheidungen ist vom Verwertungskontext des Ergebnisses der Gestaltung entkoppelt1 . Für die Gestaltung gilt: Der Verwertungskontext wird beim Entstehungsprozess analysiert. Das heißt, die Entkopplung von Entstehungskontext, Verwendungskontext und Bewertungskontext wird durch Designmethoden und das designpraktische Vorgehen reduziert, wobei aus nutzerzentrierter Gestaltungsperspektive der Verwendungskontext die größte Wichtigkeit aufweist, da dort das gestaltete Artefakt funktional wirken soll. Jedoch muss auch die Gestaltung auf Innovationen und Grundlagen zurückgreifen, die in einem von der Nutzung entkoppelten Entwicklungskontext entstanden sind, sodass das Dilemma nicht gänzlich gelöst werden kann. Bryan Lawson und Kees Dorst fassen 2009 die Vor- und Nachteile von Konventionen in der Gestaltung zusammen, wobei sie in diesem Zusammenhang Konventionen als etablierte Handlungsmuster einer sozial konstruierten Designpraxis meinen. Im Themenschwerpunkt der Interaktionsgestaltung stellen Interaktionskonvention einen Ausschnitt dieser Gestaltungskonventionen nach Lawson und Dorst dar, indem sie etablierte Problemlösungen darstellen, mit denen Interaktionsgestalter Funktionen bedienbar machen können. Die von Lawson und Dorst identifizierten Eigenschaften und Folgen können demnach auch für Interaktionskonventionen im Gestaltungsprozess interaktiver Systeme gelten. „When confronted with a design challenge, one could respond by working according to conventional wisdom, following `the rules of the game'. [. . .] Rules–of–thumb, for example, are heuristic ways of getting to a workable solution without employing sophisticated theory. Rule–based thinking that are often a combination of logic and the experience of many designers before us. We also find that many of the `rules' in design are much more tenous and culturally determined, they are conventions: customs and habits; the set ways of working within a field. [. . .] These conventions and rules undoubtedly have their uses [. . .]. But an over–reliance on these conventions can lead to standard, run–of–the–mill solutions.“2 Konventionen können also die gestalterische Praxis erleichtern, stellen aber gleichzeitig ein Hemmnis dar, innovative Ansätze zu entwickeln und diese zu verfolgen. Im Entstehungskontext wirken Konventionen auf die beteiligten Akteure und ihre Ideen und Entscheidungen. Durch Pfadabhängigkeiten erscheinen Entscheidungen, die anschlussfähig an die Lebenswelt bzw. die Interaktionswelt der entwickelnden und gestaltenden Akteure sind, sinnvoller als andere. Um innovative Interaktionskonzepte und innovative interaktive Artefakte zu gestalten muss der Gestaltungsprozess, seine Methoden und seine Ergebnisse reflektiert und hinterfragt werden. Wie dargestellt können explizit formulierte Leitbilder helfen, Pfadabhängigkeit insbesondere in heterogenen Entwicklungsteams zu identifizieren und aufzubrechen. Der Nutzer muss 1 2
Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 121. Siehe Lawson/Dorst: Design expertise, S. 68.
9 Folgerungen zu Konventionen im Gestaltungszusammenhang
als diffuse Menge unterschiedlicher Akteure begriffen werden, deren existierende Fähigkeiten und Vorerfahrungen unterschiedlich ausgeprägt und insgesamt heterogen sind. Um intuitiv nutzbare ABKs zu entwickeln, müssen diese bestehenden Fertigkeiten adressiert werden. Um innovative Interaktionskonzepte anwendbar zu machen und ihre Diffusion zu unterstützen, muss es hingegen die Aufgabe der Gestaltung sein, nicht nur Handlungsofferten in das interaktive Artefakt hinein zu codieren, sondern gleichzeitig Konsistenz zu schaffen, Berührungspunkte zu eventuellen verwandten Artefakten und Systemen heraus zu arbeiten und Orientierungpunkte, die Anschlussfähigkeit zur bisherigen Interaktionwelt der Nutzer herstellen, zu schaffen und für den potentiellen Anwender wahrnehmbar zu machen. Insbesondere in neuen Interaktionskontexten und bei der Verwendung innovativer Ein- bzw. Ausgabetechnologien bietet sich ein Potential, innovative ABKs anzuwenden und in diesem Kontext neue Handlungsmuster zu objektivieren und neue Interaktionskonventionen zu ermöglichen.
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10 Schlussfolgerung
Ziel der hier dargelegten Betrachtungen ist es, die Interferenz von Interaktionskonventionen und Innovationen im Kontext der Mensch-Maschine-Interaktion aus designwissenschaftlicher Perspektive durch Diskurserweiterung zu erfassen. Hierzu wurden, basierend auf der Bestimmung des Handlungs- und Betrachtungskorridors in Kapitel 2, in den Kapiteln 4 und 5 Ergebnisse und Theorien relevanter Diskurse betrachtet und in den gestaltungswissenschaftlichen Diskurs übertragen. Die Gegenüberstellung von Innovationen und Konventionen im Kapitel 7 führt in der Folge zu ersten Rückschlüssen und zur Formulierung weitergreifender und tiefergehender Fragestellungen. Basierend auf dieser Auseinandersetzung, soll ein Versuch erfolgen, die bidirektionale Wechselwirkungen zwischen Konventionen und Innovationen im Kontext der Interaktionsgestaltung aus systemischer, prozessualer Perspektive, also nicht aus Perspektive des Nutzers, zu betrachten und den Entstehungsprozess einer Innovation grob in fünf Schritte zu gliedern: Kreation, Invention, Kombination, Diffusion und Adaption.
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Abbildung 24: Die fünf Schritte des Entstehungsprozesses einer Innovation.
Kreation -In der Kreationsphase sind Forscher jedweden Themen-Schwerpunkts oder Berufs involviert. Demnach können die forschenden Personen aus Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Ingenieurswissenschaften, Gestaltungswissenschaften oder anderweitiger Disziplinen kommen. Klassischer Weise findet in der Kreationsphase die Grundlagenforschung statt. In dieser Phase wirken vor allem bestehende Konventionen auf die handelnden Akteure als Leitbilder und Paradigmen ein. Hierbei geht es um die Neustrukturierung bestehender Wissens- und Konventionsstrukturen in Theoriegefügen einer Disziplin bzw. eines Diskurses. Invention -In dieser Phase werden Ergebnisse der Kreations-Phase konzentriert und aufbereitet. Das Ergebnis sind Konzepte, Patente, Visionen und Pläne. An dieser Stelle findet das erste Mal ein Rückkanal zu bestehenden Konventionen statt. Die nun vorhandenen konkreten Forschungsergebnisse fließen als Vorwissen in folgende Kreationsprozesse ein. Gleichzeitig beeinflussen existierende Konventionen die Akteure bei der Deutung und Selektion einzelner Ergebnisse der Kreationsphase durch Rückkopplungseffekte, wie der Pfadabhängigkeit. Kombination -Designer, Ingenieure, Planer, Analytiker, Entscheider und weitere Akteure stellen Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Inventionen her und kombinieren sie zu komplexen Artefakten oder Artefakt-Clustern. Hier ist erstmals der eigentliche Ge-
10 Schlussfolgerung
staltungsprozess verortet, sofern Forschung durch Design1 ausgeblendet wird2 . In diesem Schritt werden die beteiligten Akteure von ihrem Vorwissen beeinflusst. Konventionen wirken sich implizit auf die Kombination der Inventionen und der Konzeption und Realisation der Artefakte aus. Die Bewertung welche Kombination und Entwicklung lohnenswert erscheint ist von der Lebenswelt, Konventionen und Pfadabhängigkeit bestimmt. Diffusion -Um Anwendung zu finden, muss die Innovation bzw. der Artefakt-Cluster in den sie eingebettet ist, vom Entstehungskontext in den Anwendungskontext überführt werden. Während dieser Diffusion entscheidet sich, ob ein Artefakt anschlussfähig3 an die bisherigen Erfahrungen, Ziele und Bedürfnisse der potentiellen Anwender ist, es zum erfolgreichen Produkt wird und ob die darin eingearbeiteten Inventionen als Innovationen wahrgenommen werden. Nutzer stoßen im Rahmen eines Marktes, in dem unterschiedliche mehr oder weniger funktionsstiftende Artefakte miteinander konkurrieren, auf die neu kombinierten Artefakte. Bei der Kaufentscheidung, Verwendung, Bewertung und evtl. Weiterempfehlung dieser Artefakte greifen die Nutzer immer wieder auf ihr Vorwissen zurück und vergleichen das neue Artefakt mit bereits bekannten und erprobten Produkten. Interaktionssituationen, die der Nutzer nicht mit seinem bestehenden Wissen, seinen bisher angeeigneten Interaktionsroutinen, lösen kann, stellen ihn vor Probleme. Werden diese Probleme gelöst, wird das im Rahmen des Lösungsprozesses gewonnene Wissen verwendet, um die Interaktionswelt zu erweitern. Umso häufiger dieses Wissen angewendet wird, umso routinierter kann es in Zukunft verwendet werden und desto stärker wird es in der Interaktionswelt verankert. Erst wenn das Interaktionsproblem nicht basierend auf Umfängen der Interaktionswelt gelöst werden kann, versucht der Nutzer es durch Vorwissen aus anderen Kontexten adaptiv zu lösen, also mit Hilfe von Umfängen der darüber liegenden Alltagswelt. Würde auch dies nicht gelingen, führe es laut Berger und Luckmann (1977) dazu, dass der Ursprung des Problems, in diesem Fall das interaktive Artefakt, nicht mehr als Teil der intersubjektiven Alltagswelt betrachtet wird4 .
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Siehe zu den Formen der Designforschung das Kapitel 2.1.4, die Abbildung 11 sowie Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 65--67 Zimmerman/Forlizzi/Evenson: Research through design as a method for interaction design research in HCI van den Boom: Was heisst Forschung? Ein paar persönliche Bermerkungen zum Thema Kirchmann: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft und Bonsiepe: Die Dialektik des Entwerfens und der Entwurfsforschung: Vortrag auf dem Symposion des Swiss Design Network, Basel 13. - 14. Mai 2004, S. 2. Andernfalls wäre Forschung durch Design bereits in der Inventionsphase anzusiedeln. Vgl. zur Anschlussfähigkeit von Innovationen an die Erwartungen von Nutzern die Abschnitte 8.1.1, 8.1.2, 8.2 und Rogers: Diffusion of innovations, S. 15--16. Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 27--28.
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Somit wirken an dieser Stelle Konventionen auf die Innovation. Diffundieren innovative Artefakte in eine Nische, also einen wenig konventionsgeprägten Kontext, erfolgt die Diffusion unter geringem Gegendruck etablierter Kräfte. Ist ein Ansatz oder Konzept in einem solchen Kontext etabliert und konventionalisiert, wird eine anschließende Diffusion in einen stark konventionsgeprägten Kontext, mit höherem Gegendruck durch etablierte Kräfte, erleichtert. Adaption -Andere am Markt agierende Akteure – z. B. Unternehmen oder Anwender – übernehmen nun die entscheidenden strukturellen Bestandteile des Artefaktes und lassen diese in eine eigene Kombinations-Phase einfließen. Gegebenenfalls fließen in diese Kombinationsphase auch neue Inventionen, Artefakte, oder Innovationen ein, die sich auf anderen Märkten bzw. in anderen Kontexten etabliert haben. Mit den vom Markt als gut beurteilten Innovationen bilden diese Unternehmen nun weitere Artefakte, die mit den ursprünglichen sich bereits am Markt befindlichen konkurrieren sollen. Auf diese Weise erhöht sich die Anzahl der Produkte am Markt, die dieselbe oder eine vergleichbare Idee nutzen. Die Konsumenten treffen somit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf diese, haben geringere Alternativen im Zuge ihrer Nutzungsentscheidung, da im Kern alle zur Verfügung stehenden Lösungen vergleichbar sind, und binden folglich die Idee und die durch den Umgang damit gewonnenen Erfahrungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in ihren Erfahrungsschatz ein. An dieser Stelle kann Innovationen erhebliche Auswirkungen auf bestehende Konventionen zugeschrieben werden. In dieser Phase können stark etablierte Konventionen verdrängt werden und etablierte Meinungs- und Wissensstrukturen revidiert werden. Basierend auf den bisherigen Ergebnissen soll in der Folge zunächst in Kapitel 10.1 das am Beginn dieser Betrachtungen in Kapitel 1 erarbeitete Spannungsfeld zwischen Innovationen und Konventionen resümierend konkretisiert werden. Anschließend werden in Kapitel 10.2 die bisherigen Erkenntnisse mit dem Schwerpunkt auf Wirkungsgrößen, die das Spannungsfeld beeinflussen und prägen, aufgearbeitet. Darauf aufbauend soll in Kapitel 10.3 versucht werden, Rückschlüsse aus dem Spannungsfeld zwischen Innovationen und Konventionen und den darin wirkenden Zusammenhängen auf die Gestaltung und ihre Methoden und Prozesse zu ziehen. In Kapitel 10.4 werden die Ergebnisse zum Spannungsfeld zwischen Innovationen und Konventionen in Bezug zur Nachhaltigkeit von Gestaltungsergebnissen eingeordnet.
10.1
Konkretisierung des Spannungsfeldes zwischen Innovationen und Konventionen
Wie ausführlich dargestellt, führen die Fähigkeiten und Vorerfahrungen der Anwender zu Erwartungen, die im Rahmen der Interaktion mit Systemen und Artefakten bedient werden müssten, um Intuitivität zu erzeugen. Diese Erwartungen können sowohl aus der Interaktionswelt als auch aus anderen lebensweltlichen Bereichen entspringen. Je
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konventioneller gestaltete Lösungen und Interaktionen sind, desto anschlussfähiger sind sie an bestehende Wissensstrukturen der Nutzer. Gestaltung sollte an Innovationen den Anspruch stellen, bestehende Dinge zu verbessern, was auch durch die komplette Neuschaffung von Konzepten und Artefakten gelingen kann. Nur durch das Streben nach Besserem entsteht somit aus gestalterischer Perspektive Neues. Die Verbesserung trägt implizit in sich, mit Konventionen zu brechen, um eine Unterscheidbarkeit und Bewertbarkeit zu gewährleisten, und öffnet somit ein Spannungsfeld aus Innovativität und Konventionalität, das subjektspezifisch gedeutet und bestückt werden kann. Die Bedienbarkeit, Intuitivität und die Bedienfreude und ganzheitlicher die User Experience sind qualitative Merkmale der MMI, die diesem Spannungsfeld ausgesetzt sind. Diese Grundcharakteristik von gestaltungsbezogenen Konventionen, die zu Pfadabhängigkeit führen können, wird im Kontext der Interaktionsgestaltung durch die Interferenz mit Interaktionskonventionen erheblich verschärft. Auf der einen Seite stellen bestehende Prinzipien komfortable Voraussetzung dar, auf denen gestalterisch aufgebaut werden kann. Auf der anderen Seite können sie erheblich einschränken, wenn sie zu dominierenden Doktrinen werden5 . Sowohl die Gestalter, als auch die Nutzer, müssen sich von bestehenden Strukturen lösen, um Neues zu schaffen bzw. Neues nutzen zu können und zu verstehen. Während das Beziehungsgeflecht zwischen Gestaltungskonventionen und Innovationen und die daraus resultierende Pfadabhängigkeit durch gestalterische Methoden, wie gezielten Kreativitätstechniken und Innovationsmethoden6 , gelöst werden können, können die Reaktionen der Nutzer auf neuartige Anzeige- und Bedienkonzepte nur schwer zum Zeitpunkt der Gestaltung abgeschätzt werden. Intuitivität kann als Grad der Nachvollziehbarkeit interner Systemlogiken und Funktionsabläufe erfasst werden. So betrachtet kann mangelnde Intuitivität somit durch andere Nachvollziehbarkeit schaffende Aspekte kompensiert werden. Intuitivität könnte somit als Korrelation zwischen Konsistenz, Konformität und Selbsterklärbarkeit betrachtet werden, wobei die Konsistenz und Selbsterklärbarkeit umso höher sein müsste, desto stärker mit Konventionen gebrochen wird7 . Interessant erscheint die Frage, ob es einen Unterschied zwischen Konventionstreue und Erwartungskonformität gibt. Nachvollziehbar erscheint, dass Konventionstreue die Erwartungskonformität erhöht. Um die Konformität mit den Erwartungen des Nutzers zu betrachten, muss berücksichtigt werden, woraus diese Erwartungen gespeist werden. Je institutionalisierter das Wissen des Nutzers ist, desto stärker ist es in der Interaktionswelt verankert. Je umfassender dieses Wissen und die entsprechenden Erwartungen intersubjektiv geteilt werden, desto stärker werden sie zu Konventionen. Erwartungen können aber auch auf ersten erfolgten Interaktionssituationen basieren und darauf aufbauend
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Vgl. Kapitel 1 und Lawson: How designers think: The design process demystified, S. 162. Gleiches gilt auch -- wenn auch ungleich schwerer -- für die Loslösung von Interaktionskonventionen, die insofern Einfluss auf den Gestalter ausüben, als dass dieser ebenso ein Anwender ist und somit dazu tendiert, zu gestalten, was er intensiv kennt, also täglich verwendet. Vgl. hierzu den Abschnitt 2.5.1 und Raskin: Viewpoint: Intuitive equals familiar.
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konsistente Nachfolgesituationen voraussetzen. Wird mit Konventionen gebrochen, erhöht die interne Konsistenz die Erwartungskonformität und relativiert damit den Konventionsbruch. Die Intuitivität ist nach geringer Eingewöhnungsphase trotzdem erreichbar. Daher sollte im Zweifel, bei Konflikten, die Erwartungskonformität über der Konventionstreue stehen, wenn letztere zu interner Inkonsistenz eines Systems führen würde8 . Allerdings kann auch die Erwartungskonformität zu einer Inkonsistenz führen. Dies lässt sich in der Praxis vor allem im Rahmen von Nutzertests beobachten, in denen Probanden ihre Erwartungen mitteilen sollen und gleichzeitig das System verwenden sollen. Dabei kann die Quelle der Erwartungen der Nutzer häufig nicht explizit benannt werden und basiert häufig auf implizitem Wissen. Sie können sowohl aus Konventionen als auch aus der subjektspezifischen Interaktionswelt oder gar aus vorigen Erfahrungen mit demselben System stammen. Im letzteren Fall wäre somit die Erwartung der Nutzer durch Konsistenz erfüllt. In den ersten beiden Fällen muss hingegen abgewägt werden, was für die Mehrzahl der Anwender schwerer wiegt, ein konsistentes ABK oder eine Erfüllung aller situationsbedingter Erwartungen, die in Gänze ein sehr heterogenes und inkonsistentes ABK ergeben können. Wenn also sowohl die Erwartungskonformität als auch die Konventionskonformität zu Inkonsistenz führen würde, scheint es notwendig zu sein, die konzeptionellen Unterschiede zwischen einem erwartungskonformen System und einem konventionellen System genauer zu analysieren. Die Intuitivität der Nutzung ist in der Folge von der Größe der Nutzergruppe und ihrer Homogenität abhängig. Bei großen Nutzergruppen ist kein System vorstellbar, dessen Anzeige- und Bedienkonzept alle subjektspezifischen und situationsspezifischen Erwartungen der Mehrzahl der Anwender erfüllt, ohne dass es dadurch gleichzeitig konventionskonform ist. Wissen kann aus unterschiedlichen Quellen stammen, unterschiedlich stark verarbeitet worden sein und in der Folge unterschiedlich umfangreich und bewusst abgerufen werden. Wie Ludger Schmidt u. a. 2013 hervorheben, kann Vorwissen grundsätzlich, sofern man die gesamten lebensweltlichen Erfahrungen betrachtet, „angeboren [sein], sensomotorischen Charakter haben, kulturell beeinflusst und durch Fachkenntnisse erworben sein“9 . Des Weiteren sprechen die Autoren von einem Top-Down Prozess in dem die gespeicherten Informationen innerhalb eines Kontinuums angesprochen werden können. Dabei gelte, „je höher in der Kontinuum-Hierarchie, desto spezifischer ist das Wissen und desto weniger potentielle Anwender existieren.“10 Je häufiger die Kenntnisse angewendet werden, desto unbewusster verläuft die Anwendung. Ziel bei der Interaktionsgestaltung muss es daher sein, wie im Abschnitt 2.5.1 aufgezeigt, auf möglichst tief verankertes Wissen im Kontinuum-Modell zurückzugreifen.11
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Vgl. Abschnitt 2.5.3. Siehe Schmidt u. a.: Interaktionsgestaltung zur Teleoperation eines mobilen Roboters, S. 29. Vgl. hierzu auch die Abschnitte 5.3, 5.4 und 7.2. ebd. Vgl. zu Kontinuum Mohs u. a.: IUUI -- Intuitive Use of User Interfaces, S. 131 und die Ausführungen hierzu im Abschnitt 8.2.1, die Abbildung „Die fünf Stufen des Kompetenzerwerbs“ in Mareis: Wis-
10 Schlussfolgerung
Konventionen sind potentiell stärker verbreitet und somit allgemeiner, umso stärker sie auf angeborenem Wissen basieren. Innovationen können demnach stärker von allgemeinen Konventionen abweichen, wenn sie sich an Experten richten, die bereits Wissensstrukturen haben, die über allgemeine Konventionen hinausgehen. Bei diesen Experten ist eher davon auszugehen, dass nicht nur ein umfangreicheres Handlungswissen und aufgabenspezifischere Konventionen vorliegen, sondern darüber hinaus eine höhere Kompetenz darin besteht, bestehende Erfahrungen auf neue Situationen zu übertragen. Gleichzeitig liegt bei Experten nahe, dass sie Einbußen in puncto Intuitivität zugunsten neuer Funktionsumfänge und Handlungsmöglichkeiten hinnehmen. Das interaktive System muss dennoch in jedem Fall eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit an die Interaktionswelt der Expertengruppe haben und sollte eine hohe interne Konsistenz aufweisen12 . Des Weiteren sollte, entsprechend des Verbesserungs-Bestrebens bei der Gestaltung interaktiver Systeme, nur mit Erwartungen des Nutzers gebrochen werden, wenn es einen klaren, subjektspezifischen Mehrwert für ihn gibt13 .
10.2
Innovationsbegünstigende Faktoren bei der Gestaltung interaktiver Artefakte und Konzepte
Es stellt eine Herausforderung im Gestaltungsprozess dar, sich von etablierten Lösungsmustern zu lösen und neue, eigenständige Lösungswege zu beschreiten. Selbst die durch eigenständige Lösungswege erarbeiteten Möglichkeiten und Ansätze unterliegen wiederum der Gefahr aus Routine mit den gängigen Mustern verglichen und vor diesem Hintergrund bewertet und als untauglich deklariert zu werden. Zwar sollten Konventionen und die Konformität und Anschlussfähigkeit neuer Lösungsansätze an diese nicht gänzlich vernachlässigt werden, jedoch sollten die Gestaltungsvarianten und Lösungsräume eigenständig auf ihre Tauglichkeit und Qualitäten hin untersucht und geprüft werden. Ihre Konventionstreue sollte dabei nur eine zu bewertende Qualität neben anderen sein. Es scheint daher für die Gestaltung von potentiell innovativen interaktiven Systemen lohnenswert zu sein, innovationsfördernde Aspekte im Rahmen des Gestaltungsprozesses zu berücksichtigen. Ein solcher Aspekt kann, wie zuvor betrachtet, die Analyse bestehender impliziter und expliziter Leitbilder sein und in der Folge die Formulierung von gemeinsamen Leitbildern für den Entwurfs- bzw. Entwicklungsprozess. Wie Ingrid Rügge 2008 betont, wird Technik nach expliziten und impliziten Leitbildern gestaltet14 . Unter Leitbildern versteht sie sowohl mentale Modelle als auch Methoden und Vorgehensweisen im Entwicklungsprozess. Leitbilder sind entweder
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senskulturen im Design. Zwischen systematisiertem Entwurf und reflektierter Praxis, S. 191, sowie den Abschnitt 5.3. Vgl. Grafik 22. Vgl. Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 52 und Abschnitt 4.5. Vgl. Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 220. Vgl. auch Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Mensch-Computer-Interface: Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript-Verl, 2008, S. 7.
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getragen von der breiten Gesellschaft oder von wissenschaftlichen und/oder kulturellen Milieus. Im Rahmen eines Entwicklungsprozesses, können sie unterschiedliche Disziplinen und daraus gespeiste heterogene Entwicklungs- und Entwurfsgruppen implizit und explizit auf gemeinsame Ziele und Visionen sensibilisieren. Explizite Leitbilder können helfen Pfadabhängigkeit im Entwicklungs- und Entwurfsprozess zu minimieren. Sie stellen demnach einen Einflussfaktor der Technikgenese dar, der eine grobe Richtung bei der Variantenbildung bevorzugen kann. Leitbilder sind jedoch kein Mittel der strikten Steuerung, sondern ein Instrument zur groben Orientierung oder tendenziellen Ausrichtung15 . Es kann zwischen Leitbildern und mentalen Modellen, die während der Gestaltung entstehen und gelten, und Metaphern und mentalen Modellen, die die Anwender in Folge der Gestaltung während der Nutzung haben, unterschieden werden. Die Beteiligung einer großen Gruppe bei der Herausbildung eines Leitbildes und der Erarbeitung früher Konzepte führt bereits zu Aufmerksamkeit und stärkerem Interesse bei den beteiligten Akteuren. Für die Formulierung von Leitbildern scheint es daher lohnenswert, sowohl spätere Nutzer des interaktiven Systems, als auch am Entwicklungsprozess beteiligte Entscheider und für die spätere Diffusion entscheidende Beeinflusser, wie Influencer, Changeagents und Gatekeeper16 , mit einzubeziehen. Dadurch kann die Diffusion gefördert werden. Die Forcierung von Leitbildern unterstützt zwar nicht direkt die Entstehung einer Innovation, hilft aber kreierten Inventionen bei der Verbreitung. Ist die Gruppe, in der die Innovation diffundieren soll, relativ genau fassbar und überschaubar, kann Partizipation innerhalb des Gestaltungsprozesses bereits der erste Schritt zur Diffusion sein. Das Fallbeispiel des Bloomberg-Interface, das im Abschnitt 8.1.2 behandelt wurde17 , zeigt, dass soziale Konventionen ebenfalls Diffusion von Interaktionskonzepten stören kann und ähnlich wie reine Interaktionskonventionen wirken, aber anders entstehen. Das bedeutet, in einigen Kontexten können soziale Konventionen bestehen, die dazu führen, dass Neuerungen nicht diffundieren. Im konkreten Beispiel ging es weniger um die Konvention, altbewährtes Gutes zu festigen und zu erhalten und dadurch noch besser zu machen, sondern darum, über die Verweigerung besser bedienbarer Alternativen eine Aussage über sich selbst als Nutzer und die eigene Expertise und Leidensfähigkeit zu tätigen und den Anspruch des Systems an Anwender zu verstärken und herauszustellen. Die Komplexität und Unbenutzbarkeit wird in diesem Fall zum Selbstausdruck der Nutzer verwendet. Dieses Streben der Nutzer hat dieselbe Wirkung, wie eine verfestigte Interaktionskonvention, nur, dass sie aus einem
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Vgl. Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 162--167. Vgl. auch Hellige: Technikleitbilder als Analyse-, Bewertungsund Steuerungsinstrumente: Eine Bestandsaufnahme aus informatik- und computerhistorischer Sicht, S. 30 und Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 220. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 5, 14, 27. Vgl. auch die Abbildungen 19 und 20 sowie IDEO: Bloomberg Terminal Concept for Portfolio Magazine: Envisioning the future and adoption of financial data delivery und Leca: The Impossible Bloomberg Makeover.
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menschlichen Bestreben erwächst und nicht aus der Bestätigung und Kollektivierung von Nutzungserfahrungen. Mit der in Abbildung 25 gezeigten „Predicting the Future of Computing“ Anwendung18 erhällt man mittels Crowdsourcing19 eine gute Übersicht über mögliche Innovationen und den geschätzten Zeitpunkt ihrer Diffusion. Sie erlaubt zum einen Nutzern Zukunftsvisionen zu formulieren und das Jahr ihrer wahrscheinlichen Realisierung einzuschätzen. Zum anderen ermöglicht sie einer breiten Masse von Anwendern diese Einordnungen permanent zu aktualisieren und so einen Konsens über die digitale Zukunft zu ermitteln. Die Anwendung stellt somit eine Kombination aus DelphiTechnik20 und Crowdsourcing dar. Auf diese Weise entsteht ein ständig aktueller und permanent abrufbarer Eindruck von der Vision der digitalen Zukunft. Durch Partizipation einer losen Nutzergruppe werden Konzepte breit gestreut und durch die grobe zeitliche Verordnung dieser Konzepte konkrete Leitbilder und Ziele formuliert. Eine ähnliche Funktion können Gestaltungs-Szenarien einnehmen, die auf vielfältige Weise ein gemeinsames Bild der Zukunft vermitteln können, und somit ein Ziel oder eine Vision vergegenständlichen und kommunizierbar machen21 . Ein weiterer Ansatz im Rahmen des Entwurfs- und Entwicklungsprozesses potentiell innovative Ergebnisse zu fördern, stellt die Fokussierung des Prozesses auf kurze Entwicklungszyklen dar, deren Ziel es ist, minimale Konzepte von der Konzeption und dem ersten Entwurf bis zur Überprüfungs- und Testphase zu bringen, um die darin gewonnen Ergebnisse in darauf folgenden Iterationsschleifen einfließen zu lassen, in denen u.U. das gesamte Konzept revidiert und gänzlich neu formuliert und erarbeitet wird. Für ein solches Vorgehen haben sich die Bezeichnung Minimal Viable Product 22 und als Prozess LeanUX etabliert23 .
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Vgl. Jonathan Huang u. a.: Predicting the Future of Computing, hrsg. v. The New York Times, 2011, url: http://www.nytimes.com/interactive/2011/12/06/science/20111206-technology-timeline.html und Thomas Lin/Jonathan Huang: Imagining 2076: Connect Your Brain to the Internet: The future, it turns out, starts in 2020. Hrsg. v. The New York Times, 2011, url: http://www.nytimes.com/2011/ 12/13/science/imagining-2076-connect-your-brain-to-the-internet.html. Vgl. Jeff Howe: The Rise of Crowdsourcing, hrsg. v. Wired Magazin, 2016, url: http://www.wired. com/2006/06/crowds/ und ders.: Crowdsourcing: Why the power of the crowd is driving the future of business, 11.05.2010, url: http://www.crowdsourcing.com/. Zu Möglichkeiten des Crowdsourcing in der Gestaltung vgl. Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 188--189. Vgl. Klas Wübbenhorst/Günter W. Maier: Gabler Wirtschaftslexikon: Stichwort: Delphi-Technik, hrsg. v. Springer Gabler Verlag, 2016, url: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/3268/delphitechnik-v8.html. Vgl. Stickdorn/Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, S. 184ff. In der Folge auch als MVP abgekürzt. Vgl. zum Minimal Viable Product Jeff Gothelf/Josh Seiden: Lean UX: Applying lean principles to improve user experience, First edition. (The lean series), 2015, S. 55ff. und Jussi Pasanen: Minimum Viable Product: Build a slice across, instead of one layer at a time, 2014, url: https : / / twitter . com/jopas/status/515301088660959233. Vgl. zu LeanUX Gothelf/Seiden: Lean UX: Applying lean principles to improve user experience Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 320ff.
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Abbildung 25: Die Webanwendung „Predicting the Future of Computing“ erlaubt es Nutzern, Zukunftsvisionen zu formulieren und das Jahr ihrer wahrscheinlichen Realisierung einzuschätzen. Die breite Masse aller Anwender kann diese Einordnungen permanent aktualisieren und so eine ständig aktuelle Vision der digitalen Zukunft ermitteln.
Bruce Tognazzini identifiziert 2010 einige Eigenheiten im von Steve Jobs praktizierten Entwicklungsprozess des Macs, des iPhones und des iPads24 . Demnach ist das kleine in sich geschlossene Entwicklungsteam entscheidend, um ein neues Produkt vernünftig zu durchdringen und „highly integrated designs“25 zu erschaffen. Auch Cooper u. a. weisen darauf hin, dass Problemlösungen und Produktentwicklung durch kleine Kernteams durchgeführt werden sollten, die schlagkräftig genug sind, um die Aufgabe zu erfüllen und agil genug, um das eigene Vorgehen den sich wechselnden Projektherausforderungen anzupassen26 . Zwar kann eine begrenzte Teamgröße da24 25 26
Vgl. Bruce Tognazzini: Mac & the iPad, History Repeats Itself, 2010, url: http://www.asktog.com/ columns/082iPad&Mac.html. Vgl. ebd. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 146ff.
10 Schlussfolgerung
zu führen, dass der Funktionsumfang des neuen Produktes zunächst begrenzt ist, wie der in Abbildung 26 dargestellte MVP-Ansatz und das Prinzip LeanUX zeigen, kann diese funktionale Begrenztheit auch als Vorteil betrachtet werden. Das Dogma dieser Prinzipien ist es, lieber einen durchdachten und stimmigen kleinen Funktionsumfang bei Markteinführung eines innovativen Produktes anzubieten, als eine Fülle nicht aufeinander abgestimmter und unausgereifter Funktionen.
Minimum Viable Product
Emotional design Usable
Reliable
Functional
Abbildung 26: System- und Produktaspekte und ihre Relevanz für ein „Minimal Viable Product“27 . Ein weiterer Faktor der Produktentwicklungsweise von Steve Jobs und seinem Team, die Tognazzini identifiziert, hat mit der Kontrollierbarkeit des neuen Produktes und dem daraus resultierenden Ökosystem zu tun. Zum einen habe Steve Jobs stets die Strategie verfolgt, nicht alle gängigen Systeme, Peripherien und Standards zu unterstützen, zum anderen habe er sich häufig bewusst gegen gängige Funktionen und Kompatibilitäten entschieden, wie z. B. die Cursor Tasten oder die Unterstützung von Flash bei iPhone & iPad. Dadurch habe er zwar Entwickler und Nutzer gezwungen sich anzupassen, gleichzeitig habe er aber auch ermöglicht das neue Produkt in der ihm angedachten Qualität nutzen zu können. Dies ginge häufig auf Kosten einer stockenden Anfangsphase, in der die Nutzung des neuen Gerätes auch Entbehrungen mit sich brachte, wie z.B ein geringes Softwareangebot oder wenige Hardwareerweiterungen und Peripherie-Geräte28 . Folgt man diesen Darstellungen Tognazzinis kann konstatiert werden, dass die erfolgreichen Apple Produkte der Vergangenheit bereits mit den essentiellen Merkmalen derzeit proklamierter Ansätze wie LeanUX oder dem
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Die Darstellung basiert auf Pasanen: Minimum Viable Product: Build a slice across, instead of one layer at a time. Vgl. Tognazzini: Mac & the iPad, History Repeats Itself.
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MVP-Ansatz entwickelt wurden. Die Fokussierung auf wenige Kernziele und -Kernfunktionen, kann die Entwicklung von innovativen Produkten und Konzepten fördern und kurze Zyklen aus Konzeption, Entwurf und Überprüfung ermöglichen. Die explizite Befolgung des MVP-Ansatzes im Gestaltungsprozess kann als Leitbild verstanden werden, auf ineinander greifende, konvergente und konsistente Funktionen zu achten, die einen sehr hohen Nutzen für den Anwender versprechen und dieses zunächst durch geringe Funktionsvielfältigkeit zu gewährleisten. Neben innovationsfördernden Faktoren innerhalb des Entstehungskontextes einer Innovation, können verschiedene Faktoren identifiziert werden, die den Verbreitungserfolg und die Verbreitungsgeschwindigkeit von Innovationen beeinflussen und ihre Anwendung und Anwendbarkeit erhöhen29 . In Bezug zu Everett Rogers (1962) lässt sich zusammenfassen, dass Faktoren – wie die Komplexität, die Kompatibilität einer Innovation, ihre Wahrnehmbarkeit, Erfahrbarkeit und Beobachtbarkeit und die Möglichkeit sie ohne Folgen, also ohne Nachteile befürchten zu müssen, auszuprobieren – die Diffusion unterstützen. Im Kontext der MMI lässt sich dies basierend auf den erfolgten Darlegungen konkretisieren. Eine Innovation im MMI Kontext muss demnach an bestehende Wissensstrukturen der Interaktionswelt der Nutzer anschlussfähig sein und kompatibel zu bereits verwendeten interaktiven Systemen. Mangelnde Anschlussfähigkeit und Kompatibilität kann durch hohe Konsistenz und Nachvollziehbarkeit ausgeglichen werden. Die Wahrnehmbarkeit, Erfahrbarkeit und Beobachtbarkeit einer Innovation im MMI Kontext kann in Bezug gesetzt werden zu Aspekten der Benutzerfreundlichkeit und der User Experience. Eine einfache Bedienbarkeit und hohe Selbstbeschreibungsfähigkeit einer Benutzungsschnittstelle kann nicht nur als Usability-Aspekt verstanden werden, sondern auch als relativer Vorteil für den Nutzer und somit als Faktor, der die Diffusion begünstigt. Die schnelle Erlernbarkeit und Anwendbarkeit ist ein relativer Vorteil, sofern die Innovationen auch weitere Vorteile bringt. Konventionstreue, also die Anschlussfähigkeit, kann wie zuvor bereits gefolgert die Erlernbarkeit wiederum begünstigen. Das bedeutet bei Interaktionskonzepten und interaktiven Artefakten scheinen die erfolgsbildenden Faktoren stärker in gegenseitiger Wechselwirkung zu stehen, als bei Innovationen anderer Bereiche. Auch das schadlose Testen bekommt bei der Interaktion eine besondere Bedeutung. Die Schadlosigkeit im wörtlichen Sinn ist hierbei eher von nachgestellter Wichtigkeit. Viel entscheidender scheint die generelle Möglichkeit zu sein, InteraktionsInnovationen zu testen und auszuprobieren. Der potentielle Nutzer muss hierzu Zugang zu Systemen haben, die das neue Konzept anwenden. Diesen Zugang kann er sich entweder durch den Kauf dieses Produktes holen, wobei er jedoch auf die Qualität des Produktes vertrauen muss, ohne es vorher getestet zu haben und somit eine Art Vorschuss liefert, oder in Kaufhäusern, Auslageflächen, Messen, bei Freunden, Bekannten oder in vergleichbaren Situationen den Erstkontakt ausüben bzw. die ersten Testerfahrungen machen. Die Beobachtbarkeit der Innovation bzw. deren Nutzen bringt den potentiellen Nutzer im Interaktionskontext erst dazu, die Innovation auch testen bzw. anwenden zu wollen. 29
Vgl. Abschnitt 8.1.2 und Rogers: Diffusion of innovations, S. 15--16.
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Innovationen zu komplexen Gebilden zu verbinden und dadurch wahrnehmbare Qualitäten an implizite Qualitäten zu koppeln, kann die Diffusion schwer wahrnehmbarer Innovationen fördern30 . Das kann zum Beispiel durch die Verwendung neuer Bedienmuster und -Gesten in einem leistungsstarken und attraktiv gestalteten Gerät, wie einem Smartphone oder einem Automobil, sein. Beim BMW 7er G11 von 2015 wurden Interaktionsgesten im freien Raum integriert. Die reine Funktion ist nur eingeschränkt verkaufsfördernd und verbessert nicht direkt die Kernfunktion eines Automobils, erweitert aber die Interaktionsmöglichkeiten im Fahrzeuginnenraum und die User Experience. Um eine solche Interaktionsinnovation zu verbreiten muss sie an andere, erfahrbarere und messbarere Innovationen gekoppelt werden, wie beim Beispiel des BMW 7er an neue Motoren- und Antriebstechnologien, Assistenz- und Frühwarnsysteme, Beleuchtungskonzepte oder automatische Einpark- bzw. Fahrfunktionen.31
Abbildung 27: Die Innovationen zur MMI im 7er BMW müssen aktiv beworben werden, um wahrnehmbar zu sein. Ihre Diffusion wird dadurch gefördert, dass die übrigen Innovationen des Produktes wahrnehmbarer sind.32 Wie dies am Beispiel der Oberklasse-Limousine deutlich wird, müssen Innovationen, die nur schwer wahrnehmbar sind, aktiv beworben werden, wenn sie Anwendung finden sollen. Zwar können sie auch durch die Attraktivität des Gesamtproduktes Verbreitung finden, aus gestalterischer Sicht und im Bezug zur Diffusion von MMIInnovationen, genügt eine Verbreitung ohne Anwendung jedoch nicht, um von einer erfolgreichen Diffusion zu sprechen. Die Werbung kann somit bei innovativen Interaktionskonzepten eine wichtige Rolle spielen, um auf das Vorhandensein schwer wahrnehmbarer und schwer zugänglicher Interaktionskonzepte hinzuweisen. Dies gilt insbesondere für reine Handlungskonzepte, wie Gesten, die nicht visuell im GUI abgebildet sind. Werbemaßnahmen können jedoch nicht nur die Wahrnehmbarkeit eines Interaktionskonzeptes erhöhen, sondern darüber hinaus neue Bedienkonzepte und -Möglichkeiten veranschaulichen 30 31 32
Vgl. ebd., S. 16. Vgl. Abbildung 27. Die Grafik entstammt der offiziellen Produktseite des Fahrzeugs von 2016. Dort werden auch weitere Innovationen angepriesen. Siehe BMW: In Allem einen Schritt voraus.. Innovationen im BMW 7er. 2016, url: http://www.bmw.de/de/neufahrzeuge/7er/limousine/2015/innovative-funktionen. html.
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und erklären, sodass Early User bei der ersten eigenen Interaktion mit dem System das zuvor durch die Werbung gezeigte Verhalten des Systems wiedererkennen. Dadurch wissen sie, was sie wie tun müssen und erhalten somit den Eindruck einer intuitiven Bedienung. Beispiele hierfür sind die Touchgesten bei Apples iPhone, die bereits im ersten iPhone Werbespot im Jahre 2007 ausführlich gezeigt und gleichzeitig erklärt wurden33 . Auch die ursprüngliche Produktpräsentation, in deren Rahmen auch komplexe Gesten wie der Pinch-Zoom, eine Geste mit Zeigefinger und Daumen zum Vergrößern oder Verkleinern eines Bildes, demonstriert wurden, kann bereits als Werbemaßnahme verstanden werden34 . Aufgrund der damaligen sehr geringen Verbreitung von touchbasierten interaktiven Systemen, vor allem im Kontext des Massenmarktes der Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie, waren solche gestenbasierten Interaktionsprinzipien noch eher unbekannt. Entgegen der Anpreisung des Apple Marketings war eine solche Geste zum Vergrößern und Verkleinern der Darstellung eines Bildes somit nicht intuitiv, da man nur im entferntesten Sinne davon reden kann, dass hier bereits existierendes Vorwissen der Nutzer angesprochen wird. Ebenfalls kann die Annahme, es handele sich bei diesem Pinch-Zoom um eine Analogie zur realen Umwelt, also eine Art Metapher, eher als Trugschluss angesehen werden. In der realen physischen Welt käme wohl kein Akteur auf die Idee, ein Foto durch das Auseinanderbewegen von Zeigefinger und Daumen derselben Hand zu vergrößern oder zu verkleinern. Noch nicht mal ein elastischer Gegenstand, wie ein leerer Luftballon, könnte leicht mit diesen zwei Fingern gedehnt werden. Allerdings ist diese Geste leicht zu beobachten und leicht nachzuahmen. Die motorische Komplexität ist gering. Die Reaktion des Systems präzise und klar definiert. Dies unterstützt die schnelle Erlernbarkeit und Übertragbarkeit auf diverse Interaktionssituationen. Die Wahrnehmbarkeit und Erlebbarkeit einer Interaktionsinnovation ist unmittelbar verbunden mit der User Experience. UX ist somit diffusionsfördernd, wie auch Nazmun Nahar, Timo Käkölä und Najmul Huda 2002 hervorheben35 . Wie Engeln 2013 darstellt, wird sie nicht nur durch die Vorerwartung des Nutzers beeinflusst, sondern auch durch das Marken- und Produktimage, die allgemeine Einstellung des Konsumenten und seiner Vorerfahrungen in vergleichbaren Situationen und mit vergleichbaren Produkten, zusätzliche Produktinformationen, die er über Werbung, Test- und Erfahrungsberichte, Forumsdiskussionen, Social-Media-Kanäle oder persönliche Gespräche erhalten hat, den Produktauftritt in unterschiedlichen Kommunikations- und Vertriebswegen, das Produktdesign und Verpackungsdesign, sowie die direkten er-
33 34 35
Vgl. Bernhard Marconato: Erste iPhone 2G Werbung - Deutsch (HD - So - 2007), 2013, url: https: //www.youtube.com/watch?v=H4g0nSbWkxQ. Vgl. N2TechGeeks: [HD] Steve Jobs - IPhone Introduction in 2007 (Complete), hrsg. v. appleblub der Apple News Blog, 2013, url: https://www.youtube.com/watch?v=9hUIxyE2Ns8. Vgl. Nazmun Nahar/Timo Käkölä/Najmul Huda: Diffusion of Software Technology Innovations in the Global Context, in: Ralph H. Sprague (Hrsg.): Proceedings of the 35th Annual Hawaii International Conference on System Sciences: 7 - 10 January 2001 [i.e. 2002], Big Island, Hawaii [held at the Hilton Waikoloa Village], Los Alamitos und Calif: IEEE Computer Society, 2002, S. 3.
10 Schlussfolgerung
lebbaren Funktionen und Qualitäten des Produktes36 . Somit muss die Diffusion von MMI-Innovationen, ebenso wie die User Experience, ganzheitlich betrachtet werden37 . Basierend auf den Darstellungen von Jochen Gros 1974 und Thilo Schwer 201438 lässt sich folgern, dass eine Technologie oder ein Produkt, wenn sie bzw. es Funktion stiftet, über den Joy-of-Use und die User Experience zusätzlich Qualität erzeugen muss, wenn der potentielle Anwender bereits die Funktionserfüllung durch alternative Technologien oder Produkte gewöhnt ist. Für eine Interaktionsinnovation im MMIKontext gilt daher, dass sie nur dann Anwendung finden wird und diffundiert, wenn entsprechend der Erwartungshaltung des Nutzers subjektspezifische Bedürfnisse erfüllt werden. Diese können sich je nach Lösungsangebot im Interaktionskontext und dem Diffusions-Gegendruck, sowie den Vorerfahrungen und Fähigkeiten des Nutzers und seiner Interaktionswelt unterscheiden. Marco Spies hat, wie in Abbildung 28 gezeigt, 2012 die unterschiedlichen Ebenen auf denen interaktive Produkte den Nutzer ansprechen in einer Ableitung der Maslowschen Bedürfnispyramide dargestellt39 . LO YA L I TÄT J OY OF USE
AQUISITION UND RETENTION
E M OT I O N E N
KO N T E XT
AWARENESS UND C O N S I D E R AT I O N
NUTZEN
FUNKTION
- Eingehen auf die emotionalen Bedürfnisse des Benutzers
- Eingehen auf die praktischen Zielsetzungen und Bedürfnisse des Benutzers - Kommunikation der Erhältlichkeit und des Nutzenvorteils
- Dienst / Produkt für die Zielgruppe zugänglich machen
Abbildung 28: Die Bedürfnispyramide von Nutzern.40 Entsprechend dieser Darstellung soll ein Produkt funktional und für die Anwender zugänglich sein, einen konkreten Nutzen für die Anwender stiften und dadurch 36 37
38
39 40
Vgl. Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte, S. 77. Vgl. Abschnitt 8.2. Vgl. auch Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, S. 4 Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte Hassenzahl: User Experience and Experience Design, S. 63--71 Löwgren: Just How Far Beyond HCI is Interaction Design? ders.: How far beyond human-computer interaction is interaction design? ders.: From HCI to Interaction Design, S. 32 Saffer: Microinteractions: Designing with details, S. 26ff. Tullis/Albert: Measuring the user experience: Collecting, analyzing, and presenting usability metrics, S. 4. Vgl. Abschnitt 8.1.2 Gros: Erweiterter Funktionalismus und Empirische Ästhetik, S. 42 und Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 68. Vgl. Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 142--143. Darstellung basiert auf ebd., S. 143.
261
262
Interaktionswelten
einen Vorteil gegenüber bestehenden Lösungen darstellen, aufgaben- und kontextangemessen sein, auf einer emotionalen Ebene den Nutzer ansprechen und Nutzen und Bedienfreude erzeugen. Weitere relevante Aspekte könnten die Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit und Einfachheit41 sein. Letztere wird beim MVP-Ansatz vorausgesetzt. In Jussi Pasanens Darstellung42 von 2014, muss ein MVP auf den vier Ebenen der Funktionalität, Zuverlässigkeit, Benutzbarkeit und der Emotionalität wirken. Basierend auf den bisherigen Ergebnissen scheint die Darstellung einer vielschichtigeren Wirkungspyramide – wie in Abbildung 29 – sinnvoll zu sein, die versucht die ganzheitliche Artefaktwahrnehmung des Nutzers im Rahmen der Diffusion und Anwendung interaktiver Konzepte und Systeme zu erfassen. Sie folgt dem Versuch Spies’ und Pasanens, die Bedürfnisse der Anwender äquivalent zur Maslowschen Bedürfnispyramide abzubilden, kombiniert beide genannten Darstellungen und ergänzt diese um die zuvor erzielten Analyse- und Betrachtungsergebnisse.
Minimum Viable Product
Spaß (Joy-of-Use)
symbolischer und emotionaler Mehrwert
Bedienbarkeit aufgabenangemessen
Zuverlässigkeit nutzenstiftend
Funktionalität
Abbildung 29: Die UX-Pyramide von Nutzern. Neben den Qualitäten eines potentiell innovativen interaktiven Systems, Konzeptes oder Artefaktes, spielt der Kontext in den es hinein diffundieren soll eine wichtige Rolle43 . So kann das Besetzen einer Nische innovativen Konzepten zum Durchbruch verhelfen44 . Nische meint in diesem Zusammenhang einen Interaktionskontext bzw. 41
42 43
44
Vgl. zu Einfachheit und „Simplicity“ Edward de Bono: Simplicity, London, New York: Viking, 1998, S. 15--44, 280–288 und Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 215. Siehe Abbildung 26. Vgl. zum Gegendruck während der Diffusion und zur Dichte des Milieus Abschnitt 8.1.2 Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 70 Johnson: Where good ideas come from: The natural history of innovation, S. 16--17 und Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 40--41. Vgl. Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 60.
10 Schlussfolgerung
ein Milieu mit geringem Gegendruck, der dadurch häufig eine begrenzte Nutzermenge aufweist oder verhältnismäßig jung ist. Peter Thiel vertritt die Meinung, dass die größte Chance, mit etwas gänzlich Neuem – er bezieht sich hierbei auf ein gänzlich neues Produkt – erfolgreich zu sein, besteht, wenn man zunächst eine Nische bedient und in dieser Nische eine absolute Alleinstellung inne hat. Aus dieser dominanten Position innerhalb der Nische, können andere Märkte und Kontexte erschlossen werden. Neue interaktive Bereiche und gänzliche neue Produkte mit neuen technischen Möglichkeiten – zum Beispiel das erste Smartphone mit berührungssensitiven Display, oder ein erstes Consumer-Produkt mit Hirnsteuerung, Cognitive User Interface – stellen ebenso Nischen dar, wie Expertensysteme, die eine überschaubare Nutzergruppe mit spezifischen Fähigkeiten ansprechen. Diese Nutzungsbereiche bieten demnach ein besonders hohes Potential, gänzlich neue Interaktionskonzepte und Bedienlogiken zu etablieren. Ähnlich wie anhand von Touchgesten beobachtet, können diese neuen Interaktionskonzepte und Bedienlogiken dann auf Anwendungskontexte expandiert werden, in denen ältere Konzepte zuvor lange Zeit dominant waren. Touchgesten wurden auf Smartphones etabliert, über Tablets den Nutzern in komplexeren Bediensituationen, größeren Funktionsumfängen und auf größeren Displays nahe gebracht und letztlich über Windows 8 und Windows 10 vom Tablet auf den Desktop PC übertragen. Die Herausforderung beim Besetzen einer Nische besteht aus gestalterischer Perspektive darin, dass häufig dazu tendiert wird in vollkommen neuen Anwendungsfeldern, die aus zuvor nicht da gewesenen technischen Möglichkeiten und Konstruktionen resultieren, eben diese Konstruktions- und Wirkungsprinzipien im Anzeige- und Bedienkonzept45 abzubilden46 . Innovationen mit einem solchen Interface bzw. Artefakte mit einem solchen Anzeige- und Bedienkonzept, mit innovativen interaktiven Aspekten und Konzepten, diffundieren mit geringem Gegendruck in diese gänzlich neuen Kontexte. Die Abbildung des mechanischen beziehungsweise technischen Wirkprinzips oder gar die Übernahme von Interaktionskonventionen anderer Kontexte in das ABK prägen in der Folge jedoch den neuen Kontext47 . Zwar erreicht ein technologieorientiertes Interface eine hohe Nachvollziehbarkeit bei den Early Usern, da diese häufig technisch fokussiert sind, jedoch kann dadurch der Zugang und die intuitive Nutzung für spätere Nutzergruppen erschwert werden. Auch die Reifung der ersten Nutzer hin zu fortgeschrittenen Nutzern kann gehemmt werden, da ausgereiftere Funktionen nicht immer konsistent zu den ursprünglichen mechanischen bzw. technischen Wirkprinzipien abgebildet werden können.
45 46
47
In der Folge mit „ABK“ abgekürzt. Vgl. D.R Gentner/J. Grudin: Design models for computer-human interfaces, in: Computer 29.6 (1996), S. 28–35, url: http://research.microsoft.com/en-us/um/redmond/groups/coet/grudin/ papers/ieeecomputergentner1996.pdf, S. 30 und Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 20--22. Die Übernahme bestehender Konzepte setzt dabei aber gewisse Struktur- und Problemgleichheit voraus. Vgl. Schulz-Schaeffer: Innovation durch Konzeptübertragung: Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung. S. 248.
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Interaktionswelten
Die einfachere Konzeption eines Interfaces für radikale, sehr innovative Systeme anhand ihrer technischen Funktionsweisen, also die Adaption der Funktionsweisen als Mentales Modell und die Entwicklung der Interaktionskonzepte anhand dieses Modelles, mag zwar Zeit sparen und zu zufriedenstellenden Ergebnissen für die Early User führen, allerdings kann damit die Chance ein nachhaltig aufgabenangemessenes, zufriedenstellendes und nachhaltig innovatives Interaktionskonzept einzuführen vertan werden. Radikale Neuerungen stoßen häufig einen neuen Bereich auf, der konventionelles Neuland darstellt. Die Wahrscheinlichkeit in diesem Zusammenhang Nutzer vorzufinden, die dazu bereit sind sich neue Interaktionsweisen und Mentale Modelle anzueignen, ist höher, als es in etablierten und konventionalisierten Kontexten der Fall ist. In diesen neuen Kontexten bestehen weniger Konventionen. Die wenigen Erwartungen der Nutzer sind weniger konventionell und somit weniger gefestigt. Sie sind vielmehr Anleihen in anderen eventuell verwandten Interaktionsgebieten und stellen aus dieser Sicht Bezugspunkte im Rahmen des Erfahrungsabgleichs dar, ohne harte Bewertungskriterien sein zu müssen. Die ersten Interaktionskonzepte, die bei einem solch radikalen System also Verwendung finden, haben eine hohe Chance konventionsbildend zu sein. Es erscheint daher erstrebenswert, besonders bei diesen ersten Interaktionskonzepten gründlich zu arbeiten, anstatt vom Start dieses Sektors hinweg eine von Defiziten geprägte Konvention zu schaffen. Bereits während der Gestaltung sollte die Chance erörtert werden, gezielt Neues zu schaffen, was nutzerorientiert ist, ohne Pfadabhängigkeitseffekten zu erliegen. Der subjektspezifische Bewertungskontext einer Innovation im Interaktionskontext spielt eine entscheidende Rolle darin, ob bereits etablierte Muster bestehen und das neuartige Muster diesen gegenübergestellt wird. Neue Konzepte für Touch-Keyboard Layouts können sich durchsetzen, sofern die Interaktion über Displayberührung bereits – subjektspezifisch für den Nutzer – einen neuen Nutzungskontext darstellt. Nur dann wären die Voraussetzung erfüllt, dass die existierenden Konventionen der Hardware Tastatur Layouts QWERTZ und QWERTY nicht dominieren. Dann ist es sogar vorstellbar, dass ein neues Layout zur Konvention in diesem neuen Nutzungskontext wird und den Weg zurück zum alten Kontext findet und den derzeitigen QWERTZ bzw. QWERTY Standard ablöst48 . In diesem Zusammenhang ist relevant, dass Wissen an feste Verwendungskontexte gebunden ist und somit der Anwendungskontext einer Innovation entscheidende Überschneidungen mit dem Wirkungskontext einer Konvention aufweisen muss, um abgeglichen zu werden49 . Wie Franz Koller und Tobias Limbach im Jahr 2009 herausstellen, wurde die erste Gerätegeneration des iPhones als sehr pragmatisches und hedonisches Produkt wahr-
48
49
Vgl. für weitere Ausführungen Wendy E. Mackay u. a.: Improving two-thumb text entry on touchscreen devices, in: the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 2013, S. 2765– 2774. Vgl. Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, S. 184 ff. Siehe auch die ausführlichen Anmerkungen Martin Heidenreichs in der Fußnote 3, an selbiger Stelle.
10 Schlussfolgerung
genommen50 . Es sei ein begehrtes Produkt mit hoher Image-Wirkung und hoher Nutzbarkeit. Lediglich die Bedienung der Tastatur werde als zu umständlich betrachtet51 . Dies mag zum einen vom Haupt-Bedienmedium des Gerätes, dem Touchscreen, und dessen Parametern, wie Bildschirmdiagonale, Auflösung, Grad und Genauigkeit der Berührungsempfindlichkeit, abhängen. Es kann aber auch der Tatsache zugeschrieben werden, dass für den damals eigentlich neuen Nutzungszusammenhang mobiler Endgeräte mit Touchscreen, die hauptsächlich der Unterhaltung und Kommunikation dienen, und den für diese Geräteklasse zentralen Anwendungsfall der Texteingabe, kein auf Anwendungskontext und technische Rahmenbedingungen optimiertes Konzept entwickelt wurde, sondern die etablierte Eingabemethode mittels Tastatur inklusive der Layoutdoktrine QWERTZ bzw. QWERTY übernommen wurde und auf die geringe Anzeigefläche, die der Touchscreen zur Verfügung stellt, adaptiert wurde. Das zeigt, dass das Clustern diverser Innovationen zu einem attraktiven Artefakt deren Diffusion gefördert hat. Zeitgleich zeigt es, dass, obwohl das Smartphone, repräsentiert durch das besonders innovativ eingeschätzte erste iPhone-Modell, für die Anwender neue Sinnzusammenhänge darstellt und sie somit andere Ansprüche an eine Texteingabe haben können, während der Konzeption und Gestaltung eine Abkehr vom etablierten Tastaturlayout offensichtlich nicht in Betracht gezogen wurde oder nicht sinnvoll erschien. Die Studie von Koller/Limbach zeigt, dass diese Entscheidung von den Probanden eher als Nachteil, denn als Vorteil wahrgenommen wurde. Da diese Befragung bereits 2009 stattfand – das iPhone kam im November 2007 auf den deutschen Markt – und die damaligen Probanden daher als Early User und Early Adopter angesehen werden können, könnte auf der einen Seite davon ausgegangen werden, dass diese besonders unkonventionell und aufgeschlossen gegenüber Innovationen waren und daher eine Abkehr vom alten Tastaturlayout befürwortet haben. Auf der anderen Seite könnte auch das Wegfallen eine Verschlechterung zum Status Quo, also der Tastaturbedienung auf Business-Telefonen und Handys mit Volltastatur, wie dem Nokia Communicator oder Handys, darstellen. Während die Größe der Tasten weitgehend den Tastengrößen bereits etablierter Handys und Telefonen entsprach, war die mangelnde Haptik, die durch fehlende ertastbare Konturen und Formen und fehlende Druckpunkte entstand, eine deutliche Verschlechterung, die über den visuellen und den auditiven Feedbackkanal kompensiert werden musste. Im Jahr 2016 war eine hohe Zahl von nachträglich installierbarer Tastaturen für Smartphone-Betriebssysteme in den jeweiligen App-Portalen verfügbar, die entweder neue Layouts anbieten, oder sich von der ursprünglichen Eingabemetapher des Tastendrucks lösen und neue, der Eingabemodalität angemessenere Interaktionsweisen, wie Wischinteraktionen, anbieten52 . Daher liegt der Schluss nahe, dass die Bereitschaft für neue Texteingabewerkzeuge für mobile Endgeräte 9 Jahre nach der Markt50
51 52
Vgl. Franz Koller/Tobias Limbach: Dem Kultobjekt auf der Spur: Apple iPhone-Studie auf www.AttrakDiff.de, 2009, S. 9--32. Vgl. zur pragmatischen und hedonischen Qualität eines Produktes Hassenzahl/Burgmester/Koller: AttrakDiff: Ein Fragebogen zur Messung wahrgenommener hedonischer und pragmatischer Qualität, S. 188. ebd. Vgl. Abbildung 30.
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Interaktionswelten
einführung der ersten iPhone-Generation stärker gegeben ist, als es die Early Adopter in der Studie von 2009 vermuten ließen und die Entwickler und Gestalter während der Entwicklung des iPhones vermuteten.
Google Tastatur
Multiling O
Dynamic Keyboard
Dvorak iOS
Abbildung 30: In den gängigen App-Portalen – Google Play Store und iTunes App Store – ist eine Vielzahl von Tastaturen mit alternativen Tastenanordnungen, Eingabemöglichkeiten und Verhalten verfügbar.53
53
Quellen: Google Inc.: Google-Tastatur, Google Play Store, 2016, url: https://play.google.com/store/ apps/details?id=com.google.android.inputmethod.latin Honso: Multiling O Keyboard + emoji, Google Play Store, 2016, url: https://play.google.com/store/ apps/details?id=kl.ime.oh
10 Schlussfolgerung
Offen und kaum zu überprüfen ist die Frage, ob die Integration konventioneller Tastaturkonzepte in den ersten Smartphone Generationen die Diffusion der neuen Gerätetypen signifikant gefördert hat oder ob die Diffusion auch mit alternativen Tastaturkonzepten erfolgreich gewesen wäre und wie stark die an die Diffusion der Geräte gekoppelte Überführung konventioneller Tastaturkonzepte in den jungen Verwendungskontext touchbasierter mobiler interaktiver Artefakte die Akzeptanz für neue Tastaturkonzepte einschränkt. Aus den Betrachtungen ist die These ableitbar, dass Nischenmilieus es nicht nur ermöglichen, dass Innovationen mit geringem Gegendruck diffundieren, sondern etablierte Lösungen auch weniger etabliert und dogmatisiert sind, auch wenn sie aus einem gefestigten bestehenden Kontext in die neue Nische diffundieren. Wenn konventionelle Ansätze also in einen neuen Kontext diffundieren, übertragen sie nicht zwingend ihren dogmatischen Charakter auf den neuen Kontext. Zur Überprüfung dieser These könnte eine Gegenüberstellung der Verbreitung bzw. Akzeptanz alternativer Tastaturkonzepte für Desktop Computer – hierbei handelt es sich wahrscheinlich vor allem um alternative Tastaturlayouts – und der Verbreitung bzw. Akzeptanz alternativer Tastaturkonzepte für Smartphones und Tablets hilfreich sein. Intuitivität basiert, wie dargestellt, nicht nur auf der Anschlussfähigkeit zu Erfahrungsstrukturen der Anwender, sondern auch auf Konsistenzen54 . Dabei muss nicht nur eine systeminterne Konsistenz angestrebt werden, sondern auch eine intersystemische Konsistenz. Letztere muss dem Anwender einen grundsätzlichen Zugang zu seiner Interaktionswelt ermöglichen, kann innerhalb dieses Korridors jedoch neue Pfade einschlagen, um visuell-, strukturell- oder funktional-innovative Interaktionskonzepte anzuwenden. Umso geringer die intrasystemische Konsistenz ist, desto höher muss die systeminterne Konsistenz sein, um neue Interaktionserfahrungen schnell und häufig zu bestätigen und in routinierte Handlungsmuster zu überführen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, je seltener eine konkrete Interaktionsaufgabe innerhalb eines Systems auftritt, desto stärker sollte der Interaktionsgestalter auf konventionelle Lösungen zur Darstellungen und Strukturierung der Funktionen zurückgreifen. Hierzu existiert jedoch kein standardisierter Baukasten, der konventionelle Lösungen vorhält und für jedes System angewendet werden könnte55 . Ein solches Konstrukt wäre auch nicht erstrebenswert. Interaktionsgestaltung kann keine Kombination beliebiger Elemente
54
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Alastair Breeze: Dynamic Keyboard - Free, Google Play Store, 2014, url: https : / / play . google . com/store/apps/details?id=com.alastairbreeze.dynamickeyboard und DK Digital Media: Dvorak Keyboard +, iTunes Store, 2016, url: https : / / itunes . apple . com / de / app / dvorak - keyboard - + / id712692558 ? mt = 8. Vgl. auch Nuance Communications: Swype, iTunes Store, 2016, url: https : //itunes.apple.com/de/app/swype/id916365675?mt=8 und Menny Even Danan: Alternative English Layouts, Google Play Store, 2010, url: https : / / play . google . com / store / apps / details ? id = com . anysoftkeyboard.languagepack.alt.english. Vgl. die Abschnitte 2.5.4, 8.2.2, sowie Mullet/Sano: Designing visual interfaces: Communication oriented techniques, S. 131 Resmini/Rosati: Pervasive information architecture: Designing cross-channel user experiences, S. 42. Vgl. Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 15.
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Interaktionswelten
eines starren Baukastens sein. Sie muss immer fundiert und analytisch begründet werden. Zu viele kontextabhängige Faktoren beeinflussen den Erfolg eines Interaktionskonzeptes. Ein Baukasten würde nur die Menge der Möglichkeiten einschränken. Die gestalterische Bedienung am Baukasten müsste nach wie vor unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren erfolgen. Ein Baukasten stellt somit nicht automatisch eine Arbeitserleichterung dar, sondern häufig eine Einschränkung der Möglichkeiten, in der Hoffnung, dass auch gestaltungsfremde Disziplinen verwertbare Ergebnisse liefern könnten. Es erscheint grundsätzlich erstrebenswert für jede Anwendung und Anwendungsfamilie einen Baukasten entstehen zu lassen, der jedoch speziell aufgabenangemessen hergeleitet und entwickelt werden muss. Er speist sich zwar aus etablierten Mustern, liegt aber nicht allgemeingültig bereit, um auf jedes zu gestaltende System und dessen GUI angewendet zu werden. Konsistenz basiert auf Vereinheitlichung und Ähnlichkeit aber nicht auf Pauschalisierung.
10.3
Auswirkungen des Spannungsfeldes auf die Interaktionsgestaltung
Wie ausführlich beleuchtet, wirken Konventionen dreifach auf die Gestaltung. Sie wirken als Konvention der Nutzer, die der Gestalter von außen betrachten und bewusst analysieren kann und die zu Bedürfnissen und Möglichkeiten der Nutzer führen, an die der Gestalter seine Gestaltung anpasst, als Habitus des Gestalters, der die Gestaltung implizit beeinflusst und als die eigene Interaktionswelt des Gestalters, die ihm bekannte Lösungen intuitiver erscheinen lässt und den Blick auf neuartige Ansätze erschwert56 . In den folgenden Ausführungen und Schlussfolgerungen geht es primär um die Beobachtungs- und Betrachtungsergebnisse zum Entstehungskontext von Innovationen und der darin verortbaren Wirkung von Konventionen. Dabei ist der Entwicklungskontext, oder wie Blättel-Mink ihn nennt, der Begründungszusammenhang, vom Anwendungskontext, dem Verwertungszusammenhang, entkoppelt57 . Dabei scheinen die Auswirkungen dieser Entkopplung im Gestaltungskontext weitreichender zu sein, als in anderen Bereichen. Die Interaktionsgestaltung scheint dem Einfluss von Konventionen dabei besonders stark ausgesetzt zu sein. Dies kann vor allem aus den Beobachtungen gefolgert werden, das Konventionen zwar immer Einfluss auf die Gestaltung haben, sie aber in wenigen Bereichen so stark die Anwendung des gestalteten Ergebnisses beeinflussen, wie im Kontext der MMI. Konventionen wirken im Kontext der Interaktionsgestaltung also nicht ausschließlich und auch nicht primär im Gestaltungsprozess. Das heißt durch Faktoren der Pfadabhängigkeit, der Leitbilder und Paradigmen, wirken sie zwar auch direkt auf die Tätigkeit des Gestalters, aber vor allem erst auf das gestaltete Artefakt. Der Wirkungsbereich von Konventionen liegt somit außerhalb des direkten Beobachtungsbereichs des Gestalters. Zwar kann dieser Umstand auch in anderen Gestaltungsbereichen beobachtet werden – etwa wenn Reaktionen von Rezipienten auf Medienprodukte nicht immer 56 57
Vgl. hierzu die ausführlichen Betrachtungen in Kapitel 6 und Kapitel 7. Vgl. Abschnitt 4.3 und Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 121.
10 Schlussfolgerung
abschätzbar sind, oder der Umgang mit Gebrauchsgütern oder Möbelstücken nicht wie vom Gestalter intendiert erfolgt und in manchen Fällen sogar eine Zweckentfremdung stattfindet, oder das neue dynamische Exterieur nicht so begeistert, wie vom Gestalter erhofft – jedoch sind all diese Punkte häufig durch Geschmack, Ergonomie, Markt- und Meinungsforschung erfassbar. Zwar sind ebenso interaktive Systeme in Puncto Geschmack, Ergonomie, Markt- und Meinungskonformität erfassbar, aber ob sie intuitiv bedienbar sind, ist nur subjektspezifisch erfragbar und bisher nur unzureichend erklärbar. Die Berücksichtigung einer Interaktionswelt kann hierzu den theoretischen Rahmen bieten, der in den Gestaltungsprozess und die darin angewendeten Methoden Einzug halten sollte. Wie Brown herausstellt, verlagern Ökonomische Tätigkeiten ihren Schwerpunkt von der reinen Herstellung von Artefakten hin zur Erzeugung von Wissen und Diensten. Der Fokus auf Menschen und ihre Bedürfnisse ist dabei besonders wichtig. Gestaltung hilft, diesen Fokus zu ergreifen und zu verwenden58 . Hierzu muss Gestaltung bereits bei der strategischen Ausrichtung von Projekten, Prozessen und Produkten angesiedelt werden. Sie stützt sich dabei auf die Erfahrung aus praktischen Entwurfsund Gestaltungstätigkeiten, weicht in dieser Form in ihren Methoden jedoch von den praktischen/handwerklichen Gestaltungstätigkeiten ab59 . Die Charakterisierung des Gestaltungsprozesses als im Kern interdisziplinär geprägter Prozess60 verdeutlicht die – potentiell – besondere Eignung gestalterischer Methoden und Denkweisen für den Innovationsprozess. Wie Brown 2009 und Cooper u. a. 2014 betonen, hat diese Verlagerung der Gestaltung vom Ende des Entwicklungsprozesses hin zum Anfang, also von der Attraktivierung von Entwicklungsergebnissen am Ende eines Entwicklungsprozesses hin zur disruptiven Initialisierung von Entwicklungsprozessen durch Designstudien und strategischer, auf Anwender fokussierter, Gestaltung, bereits stattgefunden oder zumindest begonnen61 . Diese Betrachtung, wann Gestaltung im Entwicklungsprozess zum Zuge kommt, prägt zum einen das Verständnis von Innovationen und zum anderen die Rolle bzw. den Beitrag den Gestaltung an der Innovationsschaffung leisten kann, indem es feststellbar scheint, das je früher die Gestaltung im Entwicklungsprozess eingreift, desto geringer die bestehenden Rahmenbedingungen ausgeprägt sind und desto stärker gestalterische Einflüsse und Perspektiven auf Innovationen wirken können. Simultan zur Verlagerung des Wirkungsbereichs und der Relevanz der Gestaltung im Gesamtentwicklungsprozess, wird auch die Gestaltung durch die Veränderung von Forschung und Entwicklung beeinflusst. Unter dem Einfluss immer kürzerer Entwicklungszyklen, stetig komplex bleibender oder – trotz oder gerade aufgrund steten technischen Wandels – komplexer werdender Zusammenhänge, vernetzter und korrelierender Problemstellungen, heterogener Nutzergruppen, internationaler Märkte und facettenreicher und verwobener Anwendungsfälle und -Kontexte, gilt es, Gestaltung 58 59 60 61
Vgl. Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 7--8. Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 8. Vgl. Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 56 und Kapitel 2.1. Vgl. hierzu Kapitel 2.3 und die Darstellung 12.
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Interaktionswelten
als sich wandelnde Tätigkeit zu betrachten und hierzu eine Reflektion und Erweiterung der bisherigen Handlungsmodelle anzustreben. Hierzu ist es besonders relevant, zu betrachten, wie im Kontext der MMI die Gestaltung Innovationen beeinflusst und gleichzeitig durch frühere Innovationen und heutige Konventionen beeinflusst wird und wie diese Erkenntnisse genutzt werden können. Obwohl User Experience implizit wirkt, muss sie explizit angelegt, also gestaltet werden62 . Da die User Experience konventionsfördernd wirken und explizit gestaltet werden kann, kann die Gestaltung auf die Bildung von Konventionen Einfluss ausüben. Wie gesteuert, kontrolliert und vorhersagbar dies jedoch erfolgen kann, ist fraglich. Eine ausführliche Analyse ist entscheidend für erfolgreiche Gestaltung. Es gilt nicht nur die Bedürfnisse der Anwender, des Marktes und aller Stakeholder zu erfassen, sondern auch bestehende Strukturen herauszubilden und ihre Relevanz auf das zu gestaltende Artefakt oder Konzept zu verstehen. Muss sich das zu Gestaltende vom Bestehenden abgrenzen oder muss es anschlussfähig sein? Wie stark darf eine Abweichung ausfallen? Existiert bereits etwas, dass dem bereits erstellten Entwurf nahe kommt, obwohl man zum Zeitpunkt des Erstellens nichts davon wusste? Wie Buxton 2011 am Beispiel diverser Vorläufer der Computer-Maus herausstellt und explizit an der, von der Literatur nahezu unbeachteten, „Rollkugel“ zeigt, die laut Buxton die erste Maus darstellt, kann man nicht davon ausgehen, dass es noch keine Lösung für ein Problem gibt, nur weil man selber noch nichts von deren Existenz weiß. „While the Rollkugel has been largely overlooked, and the English/Hawley mouse generally given credit for this innovation, it is worth keeping in mind what we just saw regarding the precedence of the trackball. Therein is yet another lesson in the nature of innovation. Not knowing about a precedent does not mean that the precedent didn't exist. This is why I so strongly emphasize that innovation is not just about inventing the new, but also classical research and scholarship into the past.“63 Ist also das erklärte Ziel eines Entwicklungsprozesses etwas innovatives zu schaffen, so ist eine ausführliche Bestandsanalyse essentiell. Gleichzeitig birgt die zu intensive Auseinandersetzung mit Bestehendem die Gefahr, sich nicht mehr eigenständig von diesem Wissen lösen zu können und zur Nachahmung des Bekannten zu tendieren. Wie ausführlich in den Kapiteln 4.1 und 7 anhand der Theorie der Gesetze der Nachahmung Gabriel Tardes betrachtet, kann man nur erdenken, was auf den bestehenden eigenen oder intersubjektiven Wissensstrukturen, also auf Beobachtbarem und Gelerntem beruht. Daher ist jeder kreative Prozess ein Prozess der Nachahmung64 . Will man des Weiteren eine bestehende Innovation kopieren, reicht das Bestreben das beste Artefakt dieser Innovation zu kopieren nicht aus, da jede Kopie, und wenn sie noch so perfekt ist, anfällig für Abweichungen ist. Diese Ungenauigkeit ist ein Naturgesetz, 62 63 64
Vgl. die Abschnitte 4.5 und 8.2.1 und Engeln: User Experience als Ansatz zur Gestaltung marktattraktiver Produkte, S. 77. Siehe Buxton: Some Milestones on Computer Input Devices: an Informal Timeline. Vgl. auch Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 168.
10 Schlussfolgerung
das Variationen fördert und Selektion ermöglicht. Die Folge daraus ist, das niemand exakt etwas erdenken kann, was jemand zuvor erdacht hat, weil niemand die exakt gleichen Kenntnisse hat als der Andere. Abstrakte Konzepte können sicherlich auf unterschiedliche Weisen erdacht werden und sich gleichen. Die detaillierte Umsetzung dieser Konzepte wird jedoch immer differieren, sofern die Erdenkenden bzw. Umsetzenden nicht miteinander in engem kooperativen Austausch stehen. Selbst wenn jemand das Ziel hätte etwas exakt gleiches zu erdenken könnte er es nicht, aufgrund der natürlichen Ungenauigkeit und der Varianz. Bei der Gestaltung spielt somit Beobachtbarkeit eine wichtige Rolle, ohne sie kann keine Erkenntnis gewonnen werden und ohne diese keine Erfahrungen und kein Wissen auf denen Neues aufbauen kann. Im Gestaltungsprozess muss die Waage gehalten werden, zwischen Informationsgewinnung und Analyse und der Loslösung von Bestehendem, der Nachahmung und der Ignorierung. Als Orientierung innerhalb dieses Austarierungsprozesses sollte der Nutzer dienen. Wie stark sich das Ergebnis des Gestaltungsprozesses an bestehenden Strukturen orientiert oder eigenständige, innovative, Ansätze verfolgt, sollte von den Zielen des Nutzers und den daraus ableitbaren Anforderungen abhängig gemacht werden. Wie Cooper u. a. herausstellen, entsteht genügend Spielraum für Innovationen im Kontext der MMI, wenn man sich auf die Ziele der Anwender fokussiert und nicht auf die Handlung, die sie bisher ausüben, um das Ziel oder ein Vergleichbares zu erreichen65 . Im Rahmen einer solchen, auf den Nutzer und seine Ziele fokussierten Gestaltung gilt es die Interaktionswelt der potentiellen Anwender zu analysieren. Die Betrachtungsmethoden, -Prinzipien66 und Handlungsmodelle67 des Contextual Designs können hierzu einen geeigneten Rahmen bieten, da sie dem Gestalter ermöglichen, sich auf unterschiedliche Aspekte der Arbeit von Nutzern, ihrer Beziehung zu technischen Artefakten und anderen Akteuren des Systems zu fokussieren. „Contextual Design is a structured, well–defined user–centered design process that provides methods to collect data about users in the field, interpret and consolidate that data in a structured way, use the data to create and prototype product and service concepts, and iteratively test and refine those concepts with users. This is the core of the Contextual Design philosophy -- understand users in order to find out
65 66
67
Vgl. Cooper u. a.: About face: The essentials of interaction design, S. 15, 79. Wie Kontextanalysen, Nutzerinterviews, Shadowing, Personas, Storyboards, Iterationsschleifen, Zwischentests, Nutzerpartizipation während aller Gestaltungs- und Konzeptionsphasen. Siehe zu Shadowing Stickdorn/Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, S. 156, 157ff. und Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 88--89. Vgl. Holtzblatt/Beyer: Contextual Design, die vier Modelle nennen: Das Fluss-Modell, das Kommunikation und Koordination zwischen den Akteuren eines System erfasst, das kulturelle Modell, das die Arbeitsweise sowie Zwänge bei der Arbeit erfasst und betrachtet, wie diese umgangen werden, das Sequenz-Modell, das die einzelnen Arbeitsschritte und eingesetzten Strategien erfasst und beschreibt, das physikalische Modell, das die Arbeitsumgebung und dessen Beschaffenheit und Organisation betrachtet und das Artefakt-Modell, das sich auf die Artefakte und Objekte fokussiert, die verwendet werden.
271
272
Interaktionswelten
their fundamental intents, desires, and drivers. But these are invisible to the users -- so the only way to glean them is to go out in the field and talk with people.“68 Contextual Design berücksichtigt nach Holtzblatt und Beyer (2013) die Lebenswelt und Interaktionswelt der identifizierten Nutzergruppen ohne sich auf rein technische, inhaltliche oder funktionale Anforderungen an das System und sein UI zu beschränken. Das Ziel besteht darin, zu überlegen, wie Technologie eingesetzt werden kann, um Anwendern konkrete Aufgaben zu erleichtern und nicht darin, zu betrachten, was mit einer bestimmten Technologie getan werden kann. Bei den Zielen des Nutzers muss zwischen funktionalen und nicht funktionalen Zielen unterschieden werden. Darüber hinaus bietet sich die Unterscheidung zwischen unmittelbar mit dem zu gestaltenden System, Artefakt oder Service verbundenen Zielen und davon losgelösten Zielen an69 . Wie Rügge 2008 darstellt, können im Gestaltungsprozess aufbauend auf Analysen konkrete Bilder erzeugt werden, „wie ein zu modellierender Arbeitsprozess abläuft, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln und welche mentalen Modelle die zukünftigen BenutzerInnen haben“70 . Es geht darum zu verstehen, was Nutzer im Kontext ihrer Ziele sowie ihrer zeitlichen, räumlichen, technischen und sozialen Umgebung machen wollen und können. Für diese Form der Anforderungsanalyse gibt es bereits Methoden, wie Shadowing oder Nutzerbefragungen71 , oder verdeckte Nutzertest. Solche Nutzertests führt beispielsweise Facebook durch, indem es den Nutzerpool künstlich in verschiedene Testgruppen aufsplittet, diesen unterschiedliche Versionen des Interfaces anbietet und gleichzeitig Nutzungsdaten sammelt, die in der Folge zur vergleichenden Evaluation der unterschiedlichen Konzepte verwendet werden können72 . Durch die enormen Daten über Vorlieben und soziale Strukturen der Nutzer bzw. innerhalb des Nutzermilieus, können weitreichende Rückschlüsse auf die Lebenswelt und Interaktionswelt der Anwender gezogen werden. Für die Berücksichtigung der Analyseergebnisse im Gestaltungsprozess bestehen ebenfalls bereits umfangreiche Ansätze und Methoden, wie Usecases, Personas, Nutzungsszenarien und Customer Journeys bzw. User Journeys. Basierend auf den Ergebnissen der angestrebten Diskurserweiterung scheinen weitere Problemlösungsmittel hilfreich. Experience Maps stellen eine gute methodische Ergänzung zu Personas dar. Sie ermöglichen die Berücksichtigung individueller Inter-
68 69 70 71
72
Siehe Holtzblatt/Beyer: Contextual Design. Vgl. die Abschnitte 8.1.2, 8.2 und Kapitel 10.2, insbesondere die Darstellungen 28 und 29, sowie Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 90--91. Siehe Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 220. Für ein Beispiel für die Abfrage der Interaktionserfahrungen und Nutzungskompetenz von Probanden siehe Alan Edwards u. a.: Dual stream input for pointing and scrolling, in: CHI '97 extended abstracts on Human factors in computing systems looking to the future - CHI '97, ACM Press, 1997, S. 305, url: http://www.sigchi.org/chi97/proceedings/short-talk/zhai.htm. Vgl. Josh Constine: Facebook's New Mobile Test Framework Births Bottom Tab Bar Navigation Redesign For iOS 5, 6, & 7, 2013, url: http://techcrunch.com/2013/09/18/facebooks-new-mobile-testframework-births-bottom-tab-bar-navigation-redesign-for-ios-5-6-7/.
10 Schlussfolgerung
aktionswelten im Designprozess73 . Sie stellen den Verlauf der Nutzererfahrung eines Nutzers, repräsentiert durch ein Persona, im Umgang mit einem Service oder interaktiven Produkt dar und können als Abwandlung von Customer Journey Maps angesehen werden74 . Diese Methode bietet sich vor allem an, wenn die Nutzung eines Systems mehrere Schritte erfordert und mehrere Phasen durchläuft. Sie kann auch hilfreich sein, um den Weg eines Nutzers vom Anfänger im Umgang mit dem System hin zum Experten abzubilden und die jeweiligen notwendigen Erfahrungen und spezifischen Anforderungen und Bedürfnisse anschaulich abzubilden. Während der Betrachtungen zur Verbreitung von Innovationen im MMI Kontext75 wurde ausführlich auf den subjektspezifischen Nutzen eingegangen, den die Verwendung eines neuen bzw. unbekannten Artefaktes bzw. Systems bringen muss. Die Erfassung dieses subjektspezifischen Nutzens könnte eine relevante Größe in der Konzeption und Gestaltung werden. Die genaue Form einer subjektspezifischen Nutzungsanalyse ist noch zu erarbeiten. Basierend auf den bisherigen Betrachtungen, würde hierbei der subjektspezifische Nutzen eines Systems bzw. eines Produktes anhand unterschiedlicher Verfahren ermittelt und in einem kontextuellen Rahmen für das Subjekt relevanten Alternativ-Systemen und -Produkten gegenüber gestellt. Hierzu müsste zunächst das Problem bzw. Ziel des Nutzers qualitativ beschrieben und dessen bisherige Problemlösungswege objektiv erfasst werden. Zur Identifizierung von Vor- und Nachteilen einer neu gestalteten Lösung gegenüber den bisherigen Lösungen, müssten implizite und explizite Bewertungsfaktoren des Nutzer gesammelt werden, die in jedem einzelnen Gestaltungsschritt zur Bewertung von Varianten herangezogen werden könnten. Hilfreich hierzu scheint die Erfassung der Erwartungen des Nutzers zu sein, beispielsweise durch Expectation Maps76 oder ein Risk/Reward Modell77 . Ein solches Vorgehen könnte somit bereits während einer Analysephase angestoßen werden und während der gesamten Konzeptions- und Entwurfsphase angewendet werden. Die erarbeitete Lösung könnte mittels Nutzertests und Evaluation die zuvor aufgestellten Kriterien nochmals überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Eine deutliche Erweiterung zum Persona-Konzept stellen milieu-basierte Modelle dar. Wie Spies 2012 herausstellt, können die Verhaltenstypologien der Nutzer beim Kauf und der Verwendung interaktiver Artefakte nicht ausschließlich über abstrahierte Modelle wie Milieu Modelle, die lebensweltliche Ausprägungen empirisch ermitteln und abstrahiert abbilden, betrachtet werden. Vielmehr sei es wichtig, mehr über die
73
74 75 76 77 78
Vgl. zu Experience Maps Smith: Experience Maps: Understanding Cross-Channel Experiences For Gamers und nForm.: Experience Map, 2008, url: http://nform.com/tradingcards/experience-map. Spies verwendet für einen vergleichbaren Ansatz den Begriff Nutzungsszenarien. Vgl. hier Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 85–87. Vgl. zu Customer Journeys Stickdorn/Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, S. 158ff. und Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 128. Vgl. Abschnitt 8.2. Vgl. Stickdorn/Schneider: This is service design thinking: Basics, tools, cases, S. 176ff. Vgl. hierzu Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 66--67. Vgl. Crampton Smith: Foreword: What Is Interaction Design?, S. xii Rogers: Diffusion of innovations, S. 22 und Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 21--36.
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Interaktionswelten
Innovators
Enthusiasten
Early Adopter
Early Majority
Professionelle Konsumenten
Late Majority
Laggards
Novice
Advanced Beginner
Competence
Proficiency
Expertise
Abbildung 31: Nutzerprofile nach Liddle, verortet zwischen den Adopter-Stufen nach Rogers und den Stufen des Kompetenzerwerbs nach Dreyfus u. a.78
Nutzer und ihre Verhalten zu wissen, das nach Situation und Kontext variieren könne79 . Ein milieu-basiertes Modell zur Ergänzung von Personas müsste demnach die Fähigkeiten und das Verhalten der Nutzer erfassen und weniger ihre Einstellungen, Werte oder gesellschaftlichen Milieus. Das Nutzerprofil, wie in den Abbildungen 31 und 32 dargestellt, kann die personenbezogenen Informationen der Personas, wie Alter, Geschlecht, Arbeitstätigkeit, Wünsche und Ziele im Umgang mit dem System und die Arbeitsumgebung, um Faktoren der Interaktionswelt, wie dem Expertisegrad im Umgang mit dem spezifischen zu entwerfenden System und der allgemeinen Interaktionskompetenz und der Vielseitigkeit oder Spezialisiertheit dieser Kompetenz, ergänzen. Nutzungsprofile können in Milieus verortet werden, das heißt, unterschiedliche Personas können demselben Nutzerprofil angehören. Dadurch werden die Expertisestufen, Nutzertypen und Nutzungsphasen nach Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou81 oder Liddle82 und die Innovationsfreudigkeit von Anwendern systematisiert und von spezifischen Zielen und Wünschen einzelner Nutzergruppen losgelöst. Dies ermöglicht eine spezifischere Auseinandersetzung mit den Anwendern eines interaktiven Systems. Die zentralen Fragen zur Bestimmung der Nutzerprofile für ein zu gestaltendes System sind, welche Systeme die Anwendergruppe häufig bedient, wie ausgeprägt die Interaktionskompetenz ist, wie geübt die Anwender im Umgang mit artverwandten Systemen sind, wie geübt 79 80 81 82
Vgl. Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 134--137. Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 22 und Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 21--36. Vgl. ebd., S. 21--36. Vgl. Crampton Smith: Foreword: What Is Interaction Design?, S. xii.
10 Schlussfolgerung
Innovators
Enthusiasten X-Treme User
Power User Early Adopter
Early Majority
Konsumenten Professionelle Experten
Lethargische
Late Majority
Laggards Verweigerer
Novice
Advanced Beginner
Competence
Proficiency
Expertise
Abbildung 32: Nutzermilieus verortet zwischen den Adopter-Stufen nach Rogers und den Stufen des Kompetenzerwerbs nach Dreyfus u. a.80
die Anwender im Umgang mit unterschiedlichen Systemen sind, wie lange sie bereits vergleichbare Systeme nutzen und somit in Summe, welche Vorkenntnisse bereits aus vorigen Interaktionsprozessen bestehen, wie gefestigt diese sind, wie routiniert das daraus resultierende Wissen abrufbar ist und wie aufgeschlossen die Nutzer gegenüber Innovationen sind. Zwei weitere Betrachtungsebenen versprechen eine lohnenswerte milieu-bezogene Perspektive bei der Gestaltung potentiell innovativer Artefakte und deren Interaktionskonzepte. Der Freiheitsgrad bei der Entscheidung, ob ein Artefakt bzw. System verwendet werden soll, kann, wie in Abbildung 33 gezeigt, in Bezug zum Grad und der Intensität der Nutzung gesetzt werden. So entsteht ein Spektrum aus Anwendern, die sich selbst zur Nutzung eines Artefaktes entschieden haben und somit eher aufgeschlossen gegenüber dem System sind, dieses aber nur sehr selten und kurz einsetzen, bis hin zu Anwendern, die das System verwenden müssen, weil es entweder keine Alternativen gibt, oder andere Akteure es vorschreiben, und die somit durchaus abgeneigt gegenüber dem System sein können, es aber sehr exzessiv und intensiv verwenden müssen. Diese Milieus können den Blick auf die Wahrnehmung des Systems durch die Nutzer schärfen und bei der Identifizierung von Stakeholdern83 im Diffusionsprozess und Produktentwicklungsprozess helfen. Sie können in einem Akzeptanzmodell abgebildet werden, das, wie die Nutzerprofile, grundsätzlich als Ergänzung von Personas vorstellbar wäre.
83
Vgl. zur Stakeholder Analyse Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 56--57 und Unger/Chandler: A project guide to UX design: For user experience designers in the field or in the making, S. 76ff.
275
Interaktionswelten
autoritär
Entscheidungsfreiheit des Nutzers
276
Professionelle Verweigerer
Experten
Lethargische
Power User Konsumenten
X-Treme User
optional
Intensität der Nutzung
Abbildung 33: Akzeptanzmilieus verortet nach dem Freiheitsgrad der Nutzungsentscheidung nach Rogers und der Intensität der Nutzung84 .
Diese Methoden können helfen, ein grundsätzliches Dilemma der nutzerzentrierten Gestaltung abzumildern. Auf der einen Seite können Anwender, wie Eric von Hippel heraushebt85 , als Innovatoren tätig werden. Sie im Entwicklungs- und Gestaltungsprozess zu berücksichtigen und zu involvieren hilft die künftigen Artefakte und Systeme anwendbarer und nutzenstiftender umzusetzen. Das Hauptproblem von Nutzer-zentrierter-Gestaltung ist jedoch, dass Nutzer nicht wissen was sie brauchen, bis man es ihnen gibt, und häufig nichtmal wissen was sie derzeit tun. Wenn man sie fragt was sie morgen brauchen, nennen sie, was sie heute bereits kennen. Das führt nur zu Verbesserungsinnovationen – inkrementellen Innovationen – aber nicht zu disruptiven Innovationen86 . Auch Hippel streitet Nutzern die Fähigkeit ab, über völlig neue Anwendungen verlässliche Aussagen machen zu können. Dies liegt vor allem daran, das Nutzer nicht darin geschult sind, ihre eigene Tätigkeit zu reflektieren und sich von dem, was sie kennen zu lösen. Nutzungskompetenz führt also nicht automatisch zu Gestaltungskompetenz. Das zweite Problem nutzerzentrierter Gestaltung, das das Dilemma erst erzeugt, ist, dass Gestalter häufig denken, sie seien archetypische Anwender und daher von sich auf die Anwender des zu gestaltenden Systems schließen. Wie Norman im Gespräch mit Rheingold 1999 darlegt, wird dieses Phänomen verstärkt, je intensiver sich die Gestalter mit dem zu entwerfenden System befassen. „Designers may think of themselves as typical users, and maybe they were before they started, but after they thought about the task for as long as you need to for 84
85 86
Vgl. Rogers: Diffusion of innovations, S. 28--29 Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 44 und Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 21--36. Vgl. Eric von Hippel: The sources of innovation, New York: Oxford University Press, 1988. Vgl. Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 39--40.
10 Schlussfolgerung
proper design, they are no longer typical, they can no longer understand the average user: they know too much.“87 Dieser Aspekt geht über eine reine Pfadabhängigkeit hinaus, schließt sie jedoch auch ein. So ist ein Interaktionsgestalter immer auch ein Expertennutzer, da er wie kaum ein anderer ein tiefes grundsätzliches Verständnis für interaktive Systeme aufweist und eine hohe Nutzungs- und Interaktionskompetenz besitzt. In dem er bereits die Grundanforderungen an ein neues, zu gestaltendes System analysiert sammelt er mehr Informationen über dieses System, als jeder spätere Nutzer – vor allem ein Novize – haben wird. Hinzu kommt, dass der Gestalter nicht vor der Anwendung seiner eigenen Interaktionskonzepte zurückschrecken würde und keine Angst bei einem Erstkontakt nachvollziehen kann88 und weil er in gewisser Weise befangen bei der Bewertung seiner eigenen Ideen und Konzepte ist89 . Daraus entsteht die Anforderung an die interaktionsgestalterische Praxis, das eigene Wissen zu berücksichtigen, aber nicht in den Fokus zu setzen, sondern das zu gestaltende System aus unterschiedlichen Perspektiven mit unterschiedlichen Interaktionswelten zu betrachten. Hippel interessieren die so genannten Lead User oder auch Schlüsselkunden, welche zwei Charakteristika in sich vereinen. Zum einen weisen sie, so Hippel, Bedürfnisse auf, die generell im Markt auftreten. Sie hätten diese Bedürfnisse aber früher als der übrige Markt bzw. Anwendungskontext. Zum zweiten würden sie einen signifikanten Nutzen aus der Bedienung dieses bzw. dieser Bedürfnisse ziehen. Daher seien sie bereit sehr früh Innovationen zu verwenden und stellen gleichzeitig hohe Anforderungen an die Verwertbarkeit und Nutzbarkeit dieser Innovation90 . Um dem Rechnung zu tragen, sollen Gestalter sich nicht darauf fokussieren, einzelne Bestandteile eines Interfaces zu verbessern, sondern die Art und Weise, wie Nutzer ihr Ziel erreichen91 . Es wird also für eine prozessorientierte, methoden- und usecase-gestützte Interaktionsgestaltung geworben. Zwischen der Nutzungskompetenz und Bewertungskompetenz der Anwender und der Analysekompetenz und Gestaltungskompetenz der Gestalter muss es eine Vermittlung geben. Die starke Einflussnahme der eigenen Perspektive des Gestalters auf die Gestaltungsergebnisse könnten basierend auf Gros’ Überlegungen von 1972 kompensiert werden. Das Konzept der Empirischen Ästhetik, wie es Schwer 2014 auf verschiedene Produktentwurfsprozesse überträgt, kann dazu beitragen, nicht nur durch Personas, Milieus und Empathie in die Rolle der Anwender zu schlüpfen, sondern mit einer gewissen Rationalität „das Produkt mit den Augen der Zielgruppe zu betrachten“92 . Diese Tests, die im Rahmen der Empirischen Ästhetik na87 88 89 90
91 92
Vgl. Rheingold: An interview with Don Norman, S. 10. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. Gros: Empirische Ästhetik, S. 77ff., 121. Vgl. Hippel: The sources of innovation ders.: Democratizing innovation, Cambridge und Mass: MIT Press, 2005 und Gerhard Fuchs: Hippel, Eric von: The Sources of Innovation. Oxford University Press, 1988, in: Birgit Blättel-Mink (Hrsg.): Kompendium der Innovationsforschung, Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2006, S. 261. Vgl. Rheingold: An interview with Don Norman, S. 7--8. Vgl. Gros: Empirische Ästhetik, S. 77ff., 121. Zitiert nach Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 63--64.
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Interaktionswelten
hegelegt werden, könnten als Evaluationsmethode im Gestaltungsprozess dienen, um die verschiedenen Wirkungsweisen eines Interaktionskonzeptes und dessen Produkt zu überprüfen und dadurch Rückschlüsse auf die Diffundierbarkeit zu schließen. Die Theorie hierbei ist: je unkonventioneller das Interaktionskonzept ist, desto attraktiver muss das Gesamtprodukt sein. Um die Relevanz all dieser Methoden, Werkzeuge und Fragestellungen festzustellen, muss im Gestaltungsprozess zunächst das Ziel oder zumindest die Möglichkeit erkannt bzw. formuliert werden, dass etwas innovatives entstehen könnte, das nicht ohne weiteres an bestehende Strukturen anschlussfähig ist und das somit mit besonderer Aufmerksamkeit in die Nutzung zu bringen ist. Wie Horst Rittel und Melvin Webber 1992 herausstellen, sind die grundsätzliche Identifikation eines Ziels, als Wunschzustand, und eines Problems als Differenz des Wunschzustands zum Ist-Zustand, zwei der größten Herausforderungen im Gestaltungsprozess. Sie sind verbunden mit den Herausforderungen der Problemrealisierung, die laut Rittel und Webber darin besteht, kausale Zusammenhänge zwischen Ist-Zustand und Zielzustand auszumachen und der Identifikation von Handlungen, die vom Ist-Zustand zum Zielzustand führen. Ihre Folgerung daraus ist, dass die Operationalisierung einer Planungsidee nicht möglich ist und jedes Problem und jede Lösung spezifische Eigenheiten haben93 . Sie vertreten damit insgesamt eine eher planungskritische Position. Wenn also alle Probleme und Lösungen Eigenheiten aufweisen, können Strategien und Methoden nur Ansätze liefern, dem Zustandswechsel gestalterisch habhaft zu werden. Die Folgerungen, die ein Gestalter aus den Ergebnissen von Analysemethoden und -Strategien zieht, entscheiden über die Innovativität der Lösung94 . Die Basis der Gestaltung muss daher zwingend die natürliche Varianz der Entwürfe sein, die durch Nachahmung und kreative Prozesse entsteht. Diese Varianz muss durch reflexive und iterative Selektionsprozesse zu Erkenntnissen verdichtet werden. Für diese Selektion und die fundierte Erzeugung von Varianzen ist ein gewisser Grad von Bewusstsein für die eigene gestalterische Handlung von Nöten. Es ist zu empfehlen, den Gestaltungsprozess nicht nur reflexiv zu betrachten, sondern bereits aktiv während der Durchführung zu analysieren und den Blick auf innovationsbeeinflussende Faktoren zu richten. Die bisher genannten Analysen und Schwerpunkte der gestalterischen Praxis sollten hierzu erweitert werden. Bei der intendierten Konzeption und Gestaltung innovativer Anzeige- und Bedienkonzepte müssen die zu Grunde liegenden Qualitäten der etablierten Vorbilder verstanden, die impliziten Leitbilder aller beteiligten Akteure analysiert, explizite Leitbilder aufgestellt und alle Ziele und Interessen,
93
94
Vgl. Horst W. J. Rittel/Melvin M. Webber: Dilemmas in einer allgemeinen Theorie der Planung, in: Wolf D. Reuter (Hrsg.): Planen, Entwerfen, Design, Bd. 5 (Facility management), Stuttgart: Kohlhammer, 1992, S. 13–35, S. 19. Für eine Einordnung des Werks Rittels aus gestaltungswissenschaftlicher Perspektive siehe Felicidad Romero-Tejedor: Horst Rittels Planungsdenken. Ein Modell für Design?, in: Präsidentin der Fachhochschule Lübeck (Hrsg.): Öffnungszeiten: Design & Research, Bd. 29 (Öffnungszeiten), 2015, S. 72–84, S. 74-. Siehe zur Eigenheit von Problemen und Lösungen auch Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 8. Vgl. Brown: Change by design: How design thinking transforms organizations and inspires innovation, S. 39--40.
10 Schlussfolgerung
die sowohl im Anwendungs- als auch im Entstehungskontext und vor allem im Gestaltungsprozess von unterschiedlichen Akteuren verfolgt werden, identifiziert werden. Diese müssen in Relation zueinander gesetzt und priorisiert werden. Dazu gehört ebenfalls den potentiellen bzw. gewünschten und wahrscheinlich möglichen Grad der Innovativität, sowie die Bedienbarkeit, die Aufgabenangemessenheit und die hierzu voraussetzbaren Interaktionskompetenzen der Nutzer als solche Anforderungen zu betrachten.
10.4
Gestaltung zwischen Verbesserung, Erneuerung, Folgenabschätzung und Kritik
Unter Beachtung aktuell gängiger Leitbilder der Technikentwicklung95 muss Gestaltung eine Schaltung zwischen aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen der Anwender und den aktuellen und zukünftigen Möglichkeiten und Funktionen technischer Arrangements und Artefakte herstellen. Tomás Maldonado wirft 2003 im Rahmen eines Festvortrags zum 50. Geburtstag der Gründung der HfG Ulm die Frage auf, ob Gestaltung neue Aufgaben und Ziele findet und wenn ja, ob diese Aufgaben, sowie die daraus resultierenden Veränderungen für die Gestaltung und die Gesellschaft wünschenswert sind. Er postuliert als Antwort den Anspruch, das Gestaltung nicht nur Artefakte formen und Sinnzusammenhänge erzeugen soll, sondern die dafür verwendeten Technologien im Zuge des Gestaltungsprozesses zu hinterfragen sind. „Es geht darum, bei der Wertung der neuen Entwurfsanforderungen eine aufmerksame Prüfung der neuen Technologien (Informatik, Robotik sowie Bio- und Gentechnologie) nicht zu übergehen -- also der Technologien, die heute gleichzeitig grandiose Erwartungen wie auch quälende Sorgen wecken.“96 Technologie und Fortschritt sollte objektiv beurteilt werden. Entwerfen ist nicht selbstgenügsam oder selbstbezüglich, sondern im Innersten mit der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Dynamik unserer Gesellschaft verbunden. Daher sollten im Entwurf die Vorzüge und Risiken von Technologien verantwortungsvoll berücksichtigt werden. 95
96
Beispiele hierfür sind Industrie 4.0, Internet der Dinge, Virtual Reality, Augmented Reality, Tangible Media, Wearable Computing, Brain-Computer Interface, Gesture Control, Virtual Personal Assistants, Cognitive Expert Advisors, Conversational User Interfaces, Connected Home, Ubiquitious Computing, Persuasive Computing, Smart Dust, Human Augmentation und Human enhancement technologies. Vgl. hierzu u.a. Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion, S. 17--19 Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 222--225 oder Gartner, Inc.: Gartner's 2015 Hype Cycle for Emerging Technologies Identifies the Computing Innovations That Organizations Should Monitor, Stamford, Conn., 2015, url: http : / / www . gartner . com / newsroom / id / 3114217 und ders.: Gartner's 2016 Hype Cycle for Emerging Technologies Identifies Three Key Trends That Organizations Must Track to Gain Competitive Advantage, Stamford, Conn., 2016, url: http://www.gartner.com/newsroom/id/3412017. Siehe Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 366 und 368.
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Interaktionswelten
Das Ziel zukünftiger Gestaltung soll nicht nur im Bestreben liegen, Neues zu erschaffen, sondern auch darin, Bestehendes zu verbessern. Dabei soll, so Maldonado, vor allem die Nachhaltigkeit im Fokus stehen. Er plädiert dafür, bereits existierende Produkte und Artefakte auf ihre ökologische Nachhaltigkeit zu überprüfen und sie in der Folge einer Neuüberarbeitung zu unterziehen. Er weist darauf hin, dass wenn Produkte, die nicht nachhaltig sind, nicht überarbeitet werden könnten, sie durch gänzlich neue Entwürfe und Artefakte ersetzt werden müssten. Er weist jedoch nachdrücklich darauf hin, dass nicht nur ökologische Nachhaltigkeit im Fokus von Analysen und Gestaltungszielen stehen darf, sondern auch die soziale Nachhaltigkeit beachtet werden müsse und diese nicht automatisch durch die Erfüllung ökologischer Nachhaltigkeitsanforderungen erzielt würde97 . Berücksichtigt man die zerstörerischen Charakter von Innovationen auf bestehende Wissens-, Sach- und Sozialstrukturen, stellt sich die Frage, inwiefern nachhaltige Interaktionsprinzipien im Bezugsgeflecht von Innovation und Konvention verortet werden können und insbesondere inwiefern, sofern sie denn überhaupt existieren können, sie innovativ sind. Wie Blättel-Mink 2006 heraus stellt, kann von nachhaltigen Innovationen gesprochen werden, „wenn wirtschaftliche Innovationen vereinbar sind mit sozialer und ökologischer Verträglichkeit“98 . Sie bezieht sich dabei auf die Definition von Nachhaltigkeit durch die Vereinten Nationen, wonach eine nachhaltige Entwicklung versucht, die Bedürfnisse der gegenwärtigen Bevölkerung zu befriedigen, ohne nachfolgende Generationen einzuschränken oder zu schädigen99 . Die Nachhaltigkeit eines Interaktionsprinzips stellt die Zukunfts-Perspektive dar. Der Konventionsbezug und die Interaktionswelt stellt den Bezug zur Vergangenheit, den Rückblick, dar. Der Innovationsgrad sowie der Bezug zum Nutzung- bzw. zum Interaktionskontext stellt die Gegenwart dar. Nachhaltigkeit bezieht sich aus dieser Betrachtung heraus auf die zukünftigen Folgen einer Innovation, die durch aktuelle und frühere Gestaltungsentscheidungen geprägt wird und wurde. An der Konstruktion innovativer Interaktionsprinzipien sind nicht nur Unternehmen beteiligt, auch andere Akteure sind involviert. Gestalterische Nachhaltigkeit scheint aber vor allem aus unternehmerischer Sicht interessant zu sein. Beispielsweise im Rahmen der Markenkommunikation und der Versionspflege interaktiver Systeme, die über mehrere Jahre genutzt werden und nicht aktualisiert werden können, während Nachfolgesysteme bereits auf den Markt kommen und gleichzeitig mit älteren Versionen genutzt werden. Daher sollte versucht werden, neue Systeme anschlussfähig an bestehende und zukünftige Systeme zu gestalten. Gros führt 1971 die Langlebigkeit der Gestaltung eines Produktes, Artefaktes oder Systems auf eine, auf die Nutzungsdauer abgestimmte, Komplexität zurück. Sie sei in der Lage den Bedarf an neuen visuellen und strukturellen Reizen abzumildern. „Mit diesem Wissen könne der Gestalter die
97 98 99
Vgl. Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 373--374. Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 87. Vgl. Gro Harlem Brundtland: Our Common Future, hrsg. v. World Commission on Environment and Development (WCED), 1987, url: http://www.un-documents.net/our-common-future.pdf und Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 87.
10 Schlussfolgerung
künstliche und natürliche Alterungsfähigkeit – und damit letztlich die Nutzungsdauer von Produkten – beeinflussen.“100 Nachhaltige Interaktionskonzepte müssen somit ausreichend Reize, in Form von Komplexität, aufweisen, um Nutzer lange zufrieden zu stellen. Dabei müssen sie die Entwicklung die ein Anwender mit zunehmender Erfahrung und Expertise vollzieht unterstützen. Wie Michael Wilson 2011 herausstellt, sollte hierzu die Lernkurve des Anwenders im interaktiven System abgebildet sein. „The next time you are about to start an interface design, you should stop and think about the learning curve you are going to leave your users with. Creating an interface where every feature is easily accessible is not always the best option. It's not always a bad thing to ask your users to experiment with your interface to find what they are looking for.“101 Hierzu gehört auch, die User Experience nicht nur als Sensation und kurzweiligen Reiz zu begreifen, sondern als langanhaltende Erfahrung. Wie Spies betont, muss es um „nachhaltige Emotionen gehen, statt um oberflächliche Wow-Effekte“102 . Interaktionsformen, die den Bedürfnissen der heutigen Nutzergeneration entsprechen ohne die Möglichkeiten künftiger Nutzergenerationen einzuschränken oder zu indoktrinieren103 scheinen erstrebenswert zu sein. So sind Metaphern beispielsweise ein probates Mittel, Wirkungsprinzipien anschaulich zu kommunizieren und helfen häufig vor allem Early Adoptern, die das nötige Hintergrundwissen zum Verständnis der Metapher aufweisen oder aufgrund einer hohen Affinität die Bereitschaft haben, sich dieses Wissen anzueignen. Für alle folgenden Nutzergruppen nimmt dieser Vorteil jedoch ab, bis er zu einer nicht nachvollziehbaren Gestaltungsentscheidung wird. Nachhaltigkeit bei MMI-Konzepten heißt somit auch, den zeitlichen Verlauf der Diffusion und Nutzung über unterschiedliche Nutzergruppen, Nutzungskompetenzen und Nutzungskontexte hinweg zu berücksichtigen. Demnach müssen alle Aspekte eines Anzeige- und Bedienkonzeptes und seiner Interaktionsformen so gewählt sein, dass sie verschiedenen Nutzern universelle Möglichkeiten bieten mit dem System zu interagieren, ohne sie zu stark auf eine dominierende Interaktionsweise zu prägen und den Nutzern, wie auch späteren Nutzern somit ein Entwicklungspotential offen zu halten. Einzelne Gestaltungsentscheidungen haben häufig ungeahnt lange Bestand. Werden sie getroffen, ohne dass die Tragweite abgeschätzt werden kann, können sie zu unnötig komplizierten Doktrinen führen. Ein Beispiel für eine solche Gestaltungsentscheidung ist das Tastatur-Kürzel STRG+ALT+ENTF, auf das Bill Gates 2013 im Gespräch mit David Rubenstein eingeht. „Es war ein Fehler. Wir hätten einen einzelnen Button haben können, doch der Typ, welcher das IBM Keyboard designt hatte, wollte uns keinen einzelnen Button 100 101 102 103
Siehe Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 50--51. Siehe Wilson: When is Learnability More Important than Usability? Siehe Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 353. Vgl. Lawson: How designers think: The design process demystified, S. 162 und Friedewald: Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, S. 170.
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Interaktionswelten
liefern. Tatsächlich war der Ingenieur David Bradley, welcher am ursprünglichen IBM PC gearbeitet hatte, für STRG+ALT+ENTF verantwortlich. Es ist einfach auch ein langanhaltendes Vermächtnis; die Tastenkombination arbeitet sogar noch mit Windows 8 und startet den Task Manager. Es ist also eine ziemlich lange Geschichte für einen Fehler.“104 Auch Maldonado gesteht 2003 ein, dass die Folgen des Entwurfs nicht immer abschätzbar sind105 . Daraus lässt sich die Wichtigkeit von Reflektion und überprüfenden Analyse- und Entwurfsschleifen ableiten. Er summiert diese Überlegungen mit dem Appell zu mehr Aufmerksamkeit. Er empfiehlt, dass „die Entwerfer mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Horizont ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verantwortung erweitern sollten; dass sie sich von den engen, bisweilen erstickenden Grenzen einer aufs Professionelle beschränkten Sichtweise befreien sollten; dass sie den Folgen ihres Handelns für die konkrete Lebenswelt der Menschen eine immer größere Aufmerksamkeit widmen sollten“106 . Blättel-Mink zieht im Jahr 2006 ebenfalls den Schluss aus ihren Betrachtungen unterschiedlicher Strömungen im Innovationsdiskurs, dass die Diffusion „unter Unsicherheit [verläuft], es kann zu ruinösen wie zu konstruktiven Effekten kommen. Ob und wie, d.h. mit welcher Tiefe und Reichweite eine Innovation an (gesellschaftlicher) Bedeutung gewinnt, kann man schätzen, aber nicht mit Gewissheit vorhersagen“107 . Im leichten Gegensatz zu Maldonado und Blättel-Mink, vertritt Tarde bereits 1890 die Meinung, dass unter der Voraussetzung einer konstanten und langfristigen aktuellen Entwicklung in einem sozialen Milieu, deren Fortgang und somit auch die Folgen prognostiziert werden könnten. „Gesetzt dem Fall, es gibt heute bestimmte Quellen von Nachahmungsstrahlen, die getrennt oder konkurrierend zueinander mit annähernd gleicher Geschwindigkeit danach streben, sich allmählich durchzusetzen, so ist es möglich vorauszusagen, wie sich der gesellschaftliche Zustand in zehn oder zwanzig Jahren darstellt, vorausgesetzt, daß nicht irgendeine Reformation oder Revolution und keine neue rivalisierende Quelle ihre Verbreitung durchkreuzt.“108 Demnach könnten die Folgen einer Innovation bzw. ihrer Diffusion am ehesten abgeschätzt werden, wenn die Diffusion ein konstanter ungestörter Prozess ist, das gesamte Diffusionsmilieu also keinen weiteren Einflüssen, wie anderen diffundierenden Innovationen, ausgesetzt ist und die Geschwindigkeit mit der sich eine Innovation verbreitet und die Form und Weise der Adaption homogen ist. Dies stellt einen äußerst theoretischen Fall dar, der sich nur schwer in der beobachtbaren Praxis marktwirtschaftlicher Strukturen entdecken ließe. 104 Siehe David M. Rubenstein/Bill Gates: The Opportunity to Make a Difference: A conversation with Bill Gates COL '77, LLD '07 and David M. Rubenstein, campaign co-chair, 2013, url: http://alumni. harvard.edu/stories/opportunity-to-make-difference. 105 Vgl. Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 369. 106 Siehe ebd., S. 374. 107 Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 27. 108 Siehe Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 42.
10 Schlussfolgerung
Werner Rammert schließt 1993 die Abschätzung von Folgen einer Innovation nicht grundsätzlich aus, sieht aber die Erfordernis spezieller Kompetenzen für die Abschätzung der Folgen von innovativen Konzepten und Artefakten. Hierzu benötige man die Kenntnis der gegenwärtigen Strukturen, die zur Entstehung der Innovation geführt haben. Diese Strukturen finden sich zum einen bereits in Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen bzw. -Netzwerken, zum anderen finden sie sich in Milieus und Märkten wieder, in denen „die institutionellen Bedingungen und kulturellen Muster der Aneignung und des Umgangs mit den Dingen“ die Diffusion und Anwendung von Innovationen prägen. Deswegen, so folgert Rammert, reichen die technischen Kompetenzen von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern nicht mehr aus, um nutzbare Artefakte zu erzeugen und risikolos funktionierende Systeme anzubieten. „Sollen sozial unerwünschte Folgen und ethisch unverantwortbare Risiken zukünftig vermieden werden, sind soziale Kompetenzen zur Diagnose von sozialen Folgen und zum Dialog mit sozialen Akteuren über Alternativen schon in den Prozess der Technikentwicklung selbst einzubetten.“109 Die große Herausforderung bei der Integration der Folgeabschätzung in den Gestaltungsprozess ist, dass die Retrospektive immer einfacher ist als die Vorausschau. Im Nachgang wirken Entscheidungsverläufe immer stringenter und Probleme und Lösungsoptionen immer greifbarer und besser beschreibbar, als sie in Wirklichkeit im Augenblick ihrer Akutheit waren110 . Das heißt, die Folgen können nicht vor einer Handlung abgeschätzt werden, sondern erst frühestens unmittelbar nach der Ausführung der Handlung. Dies stellt ein weiteres Indiz für die Notwendigkeit iterativer Entwurfs- und Analyseschleifen dar. Heike Raap weist 2015 auf die Verzerrungen111 retrospektiver Betrachtungen hin. Dies gelte insbesondere für die Betrachtung von Designprozessen ihren Ergebnissen und den Umständen ihres Entstehens112 . Ist die Reflexion zu stark von der Entwurfshandlung abgekoppelt, kann die von Rammert geforderte Nachvollziehung der Gegebenheiten, die zum Entwurf geführt haben, nicht mehr stattfinden. Die daraus resultierende Unschärfe führt zu der von Raap genannten Verzerrung und der von Christensen 2010 identifizierten Plausibilität, die durch Abstraktion gewonnen wird. Wie Michael Friedewald im Jahr 2000 betont, erlaubt eine solche entkoppelte Geschichtsbetrachtung keine Zukunftsprognosen. Kausale Zusammenhänge sind aus einer derart distanzierten Betrachtung nur schwer abzuleiten113 . Somit erlauben auch die Betrachtungen technikgeschichtlicher Prozesse im MMI-Bereich, die anhand einiger Beispiele in dieser Arbeit erfolgen, keinerlei Prognosen auf zukünftige Prozesse, Konzepte oder Entwicklungen. Sie erlauben auch nur bedingt abstrakte Hilfestellungen in Form von Leitfäden, Methoden oder Zukunftsvisionen zur Gestaltung von Interaktionsmodellen. Die Reflektion früherer Entstehungsprozesse ermöglicht jedoch eine Sensibilisierung der Gestaltungsakteure, 109 Siehe Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive: Forschungsstand, Theorieansätze, Fallbeispiele ; ein Überblick, S. 49--50. 110 Vgl. hierzu z. B. Christensen: Disruptive Innovation, S. 1090. 111 Diesen Begriff verwendet sie neutral, also wertfrei. 112 Vgl. Raap: Simplifizieren, präzisieren, idealisieren? Vom Retrospektiven Betrachten von Desingprozessen, S. 66--71. 113 Vgl. Friedewald: Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, S. 165.
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Interaktionswelten
um aktuelle Einfluss- und Steuerungspotentiale zu erkennen und ungewollten Tendenzen gegenzusteuern. Mehr als die Einflussnahme auf Tendenzen scheint jedoch nicht möglich zu sein. Unter Berücksichtigung der Komplexität der Problemerkennung, Problemrealisierung und Handlungsidentifikation, sowie der Abschätzung der Folgen der eigenen Gestaltungsentscheidungen und der Verschleierung kausaler Zusammenhänge im Rahmen reflexiver Geschichtsbetrachtungen und der damit unmöglichen Transponierung von Entwicklungserfahrung auf zukünftige Situationen, können Entwerfer nicht als die alleinigen Autoren des Fortschritts angesehen werden. Denn hierzu wäre eine Klarheit darüber vorausgesetzt, „welche Gegenstände – oder welche Produkte und Prozesse – es denn sind, die über kurz oder lang als Agenten des Wandels fungieren können“114 . Die schwere Abschätzbarkeit der Folgen von Entwurfsentscheidungen führt jedoch nicht nur zu Risiken. Unvorhergesehene Forschungsergebnisse sind meistens ebenso wichtig, nützlich und weitreichend, wie angestrebte Forschungsergebnisse. Gleiches gilt vermutlich für Innovationen. Wenn eine Innovation diffundiert und dabei zur ReInvention wird, das heißt in ihrer Nutzung vom Anwender abgewandelt wird, dann doch nur, um einen neuen Zweck zu erfüllen und subjektiven Nutzen zu stiften, den zuvor kein Artefakt, oder nicht in ausreichendem Maße, gestiftet hat. „The unanticipated results of research are often as important as the anticipated results---for example, electronic mail and instant messaging were by-products of research in the 1960s that was aimed at making it possible to share expensive computing resources among multiple simultaneous interactive users.“115 Wie Marcin Wichary, User Experience Designer bei Google – einem Unternehmen, das als eines der innovativsten im Internetsektor angesehen wird116 , da es technologische Standards prägt, erweitert und zu Services kombiniert, die eine extrem hohe Marktabdeckung erreichen–, im Jahr 2011 betont, entscheidet der Umgang mit scheinbar kleinen Entwicklungen und weniger innovativen Lösungen, ob Potentiale für große Innovationen entstehen. Nicht die reine Fokussierung auf die große Lösung führt zum Ziel, sondern der Raum für viele kleine Ansätze abseits des eigentlichen Problems. „So, I do a lot of putting things together, and they actually don't seem like that big a deal to me because that's what I do. And sometimes you just throw [your
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Siehe Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 369. Siehe National Research Council: Innovation in information technology, S. 2--3. Die Autoren beziehen sich an dieser Stelle auf „Funding a Revolution: Government Support for Computing Research (1999)“ und „Evolving the High Performance Computing and Communications Initiative to Support the Nation's Information Infrastructure (1995)“. Vgl. Keese: Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, S. 42, 114–118, 187ff., 210–229, 259 Thomas Rappold: Silicon Valley Investing: Investieren in die Superstars von heute, morgen und übermorgen ; mit praktischen Anleitungen und vielen Tipps et Tricks eines Profi-Investors, 1. Aufl., München: FBV, 2015, s. 17ff., 25f., 45ff., 55ff., 60ff., 110ff., 199ff. oder Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 27f., 30f., 34f., 119f.
10 Schlussfolgerung
experiment] at random people inside Google, and some of them become more popular, and others nobody cares about.“117 Nicht nur negative Folgen von Innovationen sind nicht abschätzbar, auch positive Auswirkungen sind nicht vorhersehbar. Eine gewisse Skepsis ist angebracht, sie sollte aber nicht zum Hemmnis werden, innovative Ansätze zu verfolgen. Armin Grunwald118 weist 2006 auf den ambivalenten Charakter von Innovationen hin, auch wenn der Innovationsbegriff „zurzeit in der öffentlichen Debatte ausschließlich positiv“ besetzt sei. Wie er ausführt, müssen „Innovationen [...] in die Gesellschaft integriert werden, wofür in der Regel ein gesellschaftlicher Preis zu zahlen ist. Dieser Preis äußert sich darin, dass es (fast) nie nur Gewinner durch Innovationen gibt, sondern auch Verlierer, z. B. wenn etablierte Produkte durch neue vom Markt verdrängt werden. Innovationen verändern das gesellschaftliche Wertgefüge bis hin zu sozialen Ordnungen, indem sie das Alte entwerten.“ Innovation zeige damit „unweigerlich einen Aspekt der Zerstörung“.119 Wenn man das weitere Verständnis von Technologie Robert Friedels (2007) zugrunde legt, in dem Sinne, dass Technologie ein vom Menschen planvoll organisiertes Gefüge ist, werden folgende Aussagen von Frieder Nake aus dem Jahr 2008 besonders interessant für die Betrachtung der Nachhaltigkeit von Innovationen im MMIKontext. „Es ist doch auf der einen Seite kaum zu denken, dass ein Technisches wirklich endgültig verschwindet, wenn es überhaupt einmal zum Produkt geworden war.[. . .] Das im Titel anklingende Verschwinden ist, im Marxschen Sinne, ein moralischer Verschleiß, im Hegelschen Sinne eine Aufhebung. Moralischer Verschleiß: neuere Technik leistet das Gleiche, aber billiger und vielleicht auch überlegener. Aufhebung: dialektisch gesehen wird eines überwunden, indem es der Form nach entschwindet, dem Inhalt nach aber bleibt“.120 Wenn der Inhalt bleibt, bedeutet dies, dass die Instanz der Innovation verschwindet, ihre Essenz, das Konzept, aber bleibt und in künftige Inventionen durch direkte ReKreation oder indirekte implizite Beeinflussung einfließt. Aus einer rückblickenden an Entwicklungssträngen interessierten Perspektive sind negative Folgen von Innovationen, in der Form, dass Etabliertes verschwindet und dieses als Verlierer deklariert werden könnte, abzumildern, da nichts planvoll organisiertes verschwindet. Somit muss Gestaltung Varianz schaffen und somit auch unterlegene Entwürfe produzieren. Die Einflussnahme dieser unterlegenen Ansätze auf eine überlegene Lösung ist nicht abschätzbar. 117
Siehe Dan Redding: Inside Google's User Experience Lab: An Interview With Google's Marcin Wichary, hrsg. v. SMASHING MAGAZINE, 2011, url: http://www.smashingmagazine.com/2011/07/08/ interview-google-marcin-wichary/. 118 Grunwald ist Naturwissenschaftler und Philosoph, Leiter des Instituts für Technikfolgeabschätzung (ITAS) am Forschungszentrum Karlsruhe und Leiter das Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). 119 Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 41. 120 Siehe Nake: Zeigen, Zeichnen und Zeichen. Der verschwundene Lichtgriffel, S. 123.
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Interaktionswelten
Wenn alle Theorien zur Erklärung technologischen Wandels die Unsteuerbarkeit des Prozesses hervorheben, ist dann der technologische Output dieses Prozesses überhaupt gestaltbar? Ist er nicht von der Wechselwirkung mit vielen Größen und anstoßenden Systemen abhängig? Letztlich entscheidet diese Frage auch über die Einflussnahme des Gestalters auf die Nachhaltigkeit von Innovationen. Entgegen der Gestaltungsskepsis der unterschiedlichen Erklärungsansätze der Technikgenese, sowie soziotechnologischer und evolutionstheoretischer Ansätze zur Beschreibung der Technikentwicklung, unterstreicht Grunwald „dass die Akteure ihr Handeln so verstehen, als ob Gestaltung möglich wäre, und darauf komme es vor allem an. Technikgestaltung erfolgt in der Teilnehmerperspektive, mit jeweiligen Gestaltungsintentionen, die normativ reflektiert und die in der Regel nicht vollständig umgesetzt werden können.“121 Auch wenn im Großen Technikentwicklung nicht gesteuert und somit nicht gestaltet werden kann, können die beteiligten Akteure im Kleinen Einfluss nehmen und somit ihre Intentionen gestalterisch in die Entwicklung und Entscheidungen einfließen lassen. Wie Hörning 2012 konstatiert, vermeidet das Design der Gegenwart semantisch enge Gestaltung, die zu funktional abgeschlossenen Artefakten führt, um Multifunktionalität und Funktionsanpassung durch die Nutzer zu ermöglichen. Damit werde die „Multifunktionalität und Polysemantik“ von Artefakten angestrebt122 . Diese Weite der Gestaltung steht im Widerspruch mit der Fokussierung auf konkrete Ziele der Anwender, wie es die nutzerzentrierte Gestaltung postuliert. Aufgabenangemessenheit impliziert auch eine gewisse funktionale und strukturelle Strenge, um auf spezifische Nutzungs- und Sinnzusammenhänge eines Anwendungskontextes zu passen. Erst die Berücksichtigung der intersubjektiven Interaktionswelten eines Nutzermilieus ermöglicht die Anschlussfähigkeit solch strenger Konzepte an andere Anwendungskontexte. Die subjektspezifischen Erfahrungsräume verbinden Anwendungssituationen und erzeugen dadurch konzeptionelle Weite. Aufgabenspezifische Interaktionskonzepte stehen somit nicht im Widerspruch zu nachhaltigen Interaktionskonzepten, die derzeitige Nutzerbedürfnisse befriedigen, ohne die Befriedigung zukünftige Bedürfnisse bzw. der Bedürfnisse zukünftige Nutzergruppen zu behindern. Wie beschrieben, besteht ein Weg, bestehende Doktrinen eines Anwendungskontextes aufzubrechen, darin, innovative Ansätze zunächst in einem kleineren, noch nicht konventionell besetzten Anwendungskontext, zu etablieren. Demnach könnte es, wie auch von Christensen nahe gelegt, wirkungsvoll sein, innovative Bedienstrukturen und -Konzepte nicht für aktuelle Usecases und Märkte anzubieten, sondern stattdessen neue Kontexte zu suchen, die die Stärken der innovativen Systematiken voll ausnutzen können, ohne ihnen gängige Konventionen entgegen zu setzen und somit den Marktzugang zu versperren123 . Dabei besteht die theoretische Gefahr, dass die
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Siehe Blättel-Mink: Kompendium der Innovationsforschung, S. 250--251. Vgl. Hörning: Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken, S. 43--44. Vgl. Christensen: The innovator's dilemma: The revolutionary book that will change the way you do business, S. 258--259.
10 Schlussfolgerung
diffundierte Innovation in dieser Nische zur Doktrine wird, sobald der Anwendungskontext an Relevanz gewinnt und von zunehmend mehr Nutzermilieus erschlossen wird. Dennoch stellt die Übernahme bestehender Konventionen in einem neuen Anwendungskontext nur selten eine dauerhaft befriedigende Lösung dar. Neue Kontexte brauchen neue Konventionen. Im Jahr 2008 attestierte Rügge der Gestaltung der Benutzungsoberfläche mobiler Anwendungen, sie orientiere sich an den Kriterien zur Gestaltung von Desktop Computing-Lösungen und berücksichtige somit nicht die spezifischen Anforderungen der mobilen Nutzung124 . Aus heutiger Sicht kann wohl behauptet werden, dass sich in den vergangenen zehn Jahren ein klares Bild von den Anforderungen mobiler Nutzung entwickelt hat, was die zunehmende Nutzungsqualität derzeitiger Apps und die spürbare Zunahme dokumentierter Gestaltungsmethoden für mobile Systeme und Multi-Channel-Systeme verdeutlicht. Gleichzeitig zeigt es aber auch, das kontext-unabhängige Konventionstreue zu Lasten der Benutzerfreundlichkeit geht. Somit kann das volle Potential einer Innovation in einem neuen Kontext erst ausgeschöpft werden, wenn neue kontext-relevante Konventionen geschaffen und etabliert wurden. Ob etwas für einen neuen Kontext von einem alten bzw. bestehenden Kontext übernommen wird und ob dies aus Aufgabenangemessenheit geschehen soll, oder um dem neuen Anwender den Umstieg zu erleichtern, muss bewusst entschieden werden. Dabei entsteht jedoch die Folgefrage, wie man nach der Übername von Konventionen und Paradigmen des bestehenden Kontextes in der Folge der Nutzung und der Vergrößerung der Nutzergruppe und Herausbildung diverser Anforderungen- und Kompetenzdimensionen, über unterschiedliche Entwicklungsschritte hinweg den Umstieg auf eine kontextangemessene Lösung schafft, ohne mit den nun bereits gewonnen Nutzungserfahrungen der Anwender zu brechen. Am Beispiel mobiler Smartphone-Anwendungen kann man konstatieren, dass diese erst im Laufe mehrerer Betriebssystem-, Geräte- und Anwendungsgenerationen eine Eigenständigkeit und Reife erreicht haben, die sie auch durch unterstützende, simultan verlaufende Technologieentwicklungen, wie HTML5 und CSS3 und Entwurfsmethoden und -Paradigmen wie „Mobile first“125 und dem Leitbild skalierbarer Oberflächen und responsivem Design erreichen konnten. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass zwischen dem mobilen Anwendungskontext von Smartphones und dem lange etablierten Kontext von Personal Computern mit WIMP-basierten126 Sys-
124 Vgl. Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 227. 125 Ein Gestaltungsansatz, der in der Praxis für ein diffuses Spektrum von Strategien und Paradigmen steht. Im Fokus dieses Methodenspektrums steht die Optimierung der Darstellung von Inhalten und Funktionen auf mobilen Endgeräten und insbesondere auf Smartphones. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Nutzer entweder die Inhalte und Funktionen hauptsächlich über mobile Endgeräte verwenden, oder der Einstieg in die Nutzung über ein mobiles Endgerät erfolgt. Das „first“ kann sich dabei auf die Gestaltungsreihenfolge und bzw. oder auf die Nutzungsreihenfolge beziehen. 126 WIMP steht für die Kernkonzepte grafischer Benutzeroberflächen auf gängigen PCs: Windows (Fenster), Icons (Symbole und Piktogramme), Menus (Funktionsmenüs und -Listen) und Pointer (Mauszeiger).
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Interaktionswelten
temen eine Nische entstanden ist, die durch Tablets wie dem iPad, diversen Androidbasierten Geräten oder letztlich dem Microsoft Surface127 befüllt wurde, und die eine Konzeptüberführung vom mobilen Anwendungskontext in die PC-Welt ermöglicht hat, was sowohl an Windows 8 und Windows 10 beobachtbar ist, als auch an mehr oder weniger moderateren Änderungen zentralerer Bedienparadigmen von OS X 10.5 Leopard bis zu OS X 10.11 El Capitan. Initiativen mit langfristigen Zielen, die über wirtschaftliche Ziele hinausgehen, haben das Potential die gesamte Informations-Technologie zu beeinflussen und weiter zu bringen. Das gilt auch für Initiativen die augenscheinlich scheitern128 . Man sollte Entwicklungen demnach planen und Veränderung und die Etablierung neuer Interaktionskonzepte langfristig angehen. Es lohnt sich diese schrittweise zu planen und dabei auch ein augenscheinliches Scheitern einzelner Zwischenschritte in Kauf zu nehmen. Aus einer solchen Perspektive heraus stellt sich die Frage, ob Windows 8 als erfolgreicher Zwischenschritt auf dem Weg zur Loslösung vom dominierenden WIMP Paradigma und der Schreibtisch-Metapher129 angesehen werden kann. Zweifelsfrei hätte dieser Zwischenschritt anschlussfähiger an die bisherige Interaktionswelt der bestehenden Nutzer und in Summe bedienbarer und zufriedenstellender ausfallen können. Ist die Neuerung zu radikal und das Feld in das sie diffundieren soll zu konventionsgeprägt, empfiehlt es sich moderate Weiterentwicklungen anzustreben und, sofern ein größeres Leitbild verfolgt wird, dieses über parallele Diffusionen innovativerer Konzepte in kleinere Nischen zu begleiten. Nachhaltigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, auch kommerzielle Misserfolge bei solchen Entwicklungen in Kauf zu nehmen. Aufgrund der Pfadabhängigkeit innerhalb der Technikentwicklung beeinflussen Innovationen stets die folgende Technikentwicklung, wobei der Einfluss je nach Kontext stärker oder schwächer ausfallen kann. Vor diesem Hintergrund scheint die nachhaltige Konzipierung von Innovationen im Interaktionskontext sehr lohnenswert. Da die Folgen von Innovationen irreversibel und unvorhersehbar sind, scheint die gezielte Gestaltung nachhaltiger Innovationen jedoch unmöglich. Während des Gestaltungsprozesses können zwar alle möglichen und denkbaren Folgen zur Zwischenevaluation der Gestaltungsergebnisse verwendet werden, wie sich das letztliche Interaktionskonzept jedoch tatsächlich auf die Nutzer und bestehende Konventionen im jeweiligen Kontext und vor dem Hintergrund der bestehenden Nutzungserfahrungen der Nutzer auswirken, kann – wenn überhaupt – erst rückblickend beurteilt werden. Die kontextübergreifende nachhaltige Gestaltung von Innovationen scheint nahezu unmöglich. 127
128 129
Gemeint ist hier der Tablet Computer der Firma Microsoft und nicht der von 2007 bis 2012 „Microsoft Surface“ genannte interaktive Tisch. Siehe zur Bewertung der Nutzungsqualität des interaktiven Tisches Michael Burmester/Franz Koller/Christine Höflacher: Touch it, move it, scale it Multitouch. Untersuchung zur Usability und Erlernbarkeit von Multitouchinteraktionen am Beispiel des Multitouch-Tables Microsoft Surface, Stuttgart, 2009, url: http://www.hdm-stuttgart. de/news/news20091202180357/UID_Studie_Touch%20it,%20move%20it,%20scale%20it.pdf, S. 5--23. Vgl. National Research Council: Innovation in information technology, S. 10. Vgl. Friedewald: Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, S. 170.
10 Schlussfolgerung
Zentrale Fragen bei der Gestaltung von Interaktionskonzepten sind somit: • • • • • • • • • • •
In welcher technologischen Entwicklungsphase befindet sich das Artefakt nach Liddle130 ? An wessen Bedürfnisse muss das Interaktionskonzept angepasst werden131 ? Welche Nutzungskompetenz bzw. Expertisestufe weisen die Nutzer auf132 ? Gibt es bereits etablierte Interaktionskonventionen innerhalb des Marktes bzw. Nutzungskontextes? Gibt es etablierte Konventionen anderer Bereiche, die die Nutzung des Artefaktes berühren? Wie heterogen/homogen ist die Nutzergruppe133 ? Welche Botschaft muss die Nutzung vermitteln und welche Wirkung soll sie in welcher Wirkungsdimension haben134 ? Wie lange soll das System dem Anwender Anreize geben, mit ihm zu Interagieren135 ? Wie komplex muss es in Relation zur angestrebten Nutzungsdauer sein? Welche Weiterentwicklungsszenarien gibt es? Wie könnte es sich in Zukunft von gegenwärtigen Designentscheidungen, bedienten Konventionen und überdeckenden Doktrinen, lösen?
Diese Fragen können einen Begleitrahmen nutzerzentrierter Interaktionsgestaltung bieten. Sie ersetzen nicht die Entwurfsschwerpunkte und -Fragestellungen zur Gebrauchstauglichkeit – Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Lernförderlichkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformität, Individualisierbarkeit und Fehlertoleranz –, Benutzerfreundlichkeit, der User Experience und dem Joy of Use,
130 Vgl. Moggridge: Designing interactions, S. 245--249. 131 Vgl. die Abbildungen 31, 32 und 33. 132 Vgl. den Abschnitt 2.5.1 und Kapitel 8, sowie Dreyfus/Dreyfus/Athanasiou: Mind over machine: The power of human intuition and expertise in the era of the computer, S. 21--36. 133 Je heterogener sie ist, desto mehr müssen allgemeine, den Masseninteraktionsmedien entstammende Konventionen als Bezugspunkte verwendet werden. Je homogener die Nutzergruppe ist, desto besser können konkrete Interaktionswelten -- die Interaktion betreffende Sektoren der Lebenswelt -- durch Beobachtung wie User Studies, Shadowing, Interviews oder andere und Analyse nachgezeichnet werden. 134 Vgl. Moggridge: Designing interactions, S. 248 Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 17--18, 95ff. Hassenzahl: User Experience and Experience Design, S. 82--84 Behrens u. a.: Mediennutzung und Medienkompetenz in jungen Lebenswelten: Repräsentative Onlinebefragung von 14- bis 29-Jährigen in Deutschland und zu den Wirkungsdimensionen Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 224--233 und Crampton Smith: Foreword: What Is Interaction Design?, S. xiii--xiv. 135 Vgl. den Abschnitt 8.2.2, sowie zur Komplexität und Obsoleszenz Jochen Gros: Dialektik der Gestaltung: Zwischenbericht 2 der Arbeitsgruppe Freizeit WS 70/71 (Diskussionspapier / Inst. für Umweltplanung der Univ. Stuttgart), Universität Stuttgart, 1971, S. 38 Schwer: Produktsprachen: Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, S. 50--51 und Thiel: Zero to one: Wie innovation unsere Gessellschat rettet, S. 54.
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sondern erweitern diesen Fokus mit dem Ziel, weitreichende, unkonventionelle Änderungen und innovative Ansätze anwendbar und mehrwertschaffend aufzubereiten und in interaktive Systeme und Applikationen zu integrieren.
11 Fazit
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Adaption und Reflektion von Innovations- und Konventionsdiskursen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, um den gestaltungswissenschaftlichen Diskurs zu erweitern. Dadurch wird ein größeres Bewusstsein und Verständnis um bzw. für das Spannungsfeld aus Innovationen und Konventionen im Kontext der Interaktionsgestaltung geschaffen. Für die gestalterische Praxis bedeutet dies, die Sensibilisierung des Gestalters für die Eigenheiten von Innovationen und Konventionen im MMI-Kontext in der Reflexionsschleife des Gestaltungsprozesses zu fördern. In die Bearbeitung der Forschungsfragen flossen sowohl Betrachtung verschiedener wissenschaftlicher Diskurse, von Forschungsergebnissen und Theorien als auch Best Practices, Projekt- und Entwurfserfahrungen aus der gestalterischen Praxis ein. Diese Arbeit unterliegt somit selbst dem Betrachtungs- und Spannungsfeld des gegenwärtigen gestaltungswissenschaftlichen Diskurses1 . Interaktion wird im Rahmen der Arbeit sowohl als technische als auch kommunikative Handlung verstanden, die auf einem eigenen Sprachsystem basiert, das eine Strukturgleichheit zu anderen (menschlichen) Sprachsystemen aufweist. Dadurch können zentrale Erkenntnisse der Sprachbildung auf die Bildung von Interaktionskonventionen übertragen werden. Demnach werden Interaktionskonventionen durch die Interaktion zwischen Mensch und Maschine gebildet und gefestigt. Basierend auf Theorien von Luckmann, Berger und Schütz2 wird ein Prozess vom implizitem Wissen hin zur sozialen Praxis skizziert. Dieser umfasst die Erprobung und Ausübung einer Handlung, die Erfahrung und Bestätigung der Handlung, die Typisierung der
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Vgl. Meier/Dorsz: Abenteuer Universität: Ein Zwischenbericht Meier (Hrsg.): Design Theorie: Beiträge zu einer Disziplin. Vgl. zum Stand und den Problemen aktueller gestaltungswissenschaftlicher Promotionsvorhaben Oliver Ruf: Diesseits des Ästhetischen: Designwissenschaft als Designtheorie, in: Präsidentin der Fachhochschule Lübeck (Hrsg.): Öffnungszeiten: Design & Research, Bd. 29 (Öffnungszeiten), 2015, S. 18–28, S. 18. Vgl. Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft: Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, S. 97. Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. 49ff. und 56ff. Vgl. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 331ff., 355ff. und 447ff.
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Interaktionswelten
Handlung, die Habitualisierung der Handlung, die Institutionalisierung der Handlung und die Objektivierung der Handlung. Dieser Weg vom ersten Gebrauch bis hin zur Bildung von Handlungsroutinen ist geprägt vom Wechselspiel der subjektiven und intersubjektiven Lebenswelt. Im Zuge der vorliegenden Betrachtungen wird Innovation aus Gestaltungsperspektive als anwendungsorientiert, perspektivgebunden, relativ und ungerichtet definiert. Ihr Entstehungsprozess umfasst die Kreation, Invention, Kombination, Diffusion und Adaption. Innovationen werden jedoch häufig als Teil eines gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsprozesses gesehen und als Teilschritte einer stetigen Weiterentwicklung und Verbesserung. So beschrieben, ähnelt die Innovation nur einem Instrument zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung. Sie wird auf ihre Funktion für das gesamte marktwirtschaftliche System begrenzt. Welche qualitativen Veränderungen und Inhalte sie im Detail verbirgt bleibt häufig unbetrachtet und ist für die abstrahierte Betrachtung des ganzen System irrelevant. Für die hier erfolgten Betrachtungen von Innovation und Konvention sind diese Aspekte jedoch interessant, da die Qualität einer Innovation und deren Auseinandersetzung mit den bestehenden Konventionen stärker auf die Anwendbarkeit und die Nutzer wirkt, als es bei der distanzierten Betrachtung eines gesamten marktwirtschaftlichen Systems erscheinen mag. Für die Gestaltung ist der detaillierte Nutzen einer Innovation, ihr Zweck und ihre Folgen wichtiger, als ein gesamtwirtschaftlicher Fortschritt, dessen qualitative Richtung irrelevant zu sein scheint, solange es wenigstens eine Bewegung ist. Somit stellen Innovationen für die Designforschung konkrete Untersuchungsgegenstände dar und nicht nur Randerscheinungen oder Kenngrößen. Weiterhin stellt eine Innovation ein zu gestaltendes Objekt dar, ihre Qualität ist eine Evaluationsgröße zur Bewertung der Gestaltung und ihre Folgen formen den Anspruch einer nachhaltigen Gestaltung. Tomás Maldonado ruft hierbei zu mehr Aufmerksamkeit auf. Er empfiehlt, dass „die Entwerfer mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Horizont ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verantwortung erweitern sollten; [...] dass sie den Folgen ihres Handelns für die konkrete Lebenswelt der Menschen eine immer größere Aufmerksamkeit widmen sollten“3 . Hierzu sollte auch der spezielle Bereich der Interaktionswelt innerhalb der Lebenswelt in den Bereich gestalterischer Betrachtungen rücken. Basierend auf Habermas’ Begriff der sozialen Lebenswelt, wird im Rahmen der Betrachtungen der Begriff der Interaktionswelt, als Objektivierung intersubjektiver handlungsbezogener Erfahrungen in der Interaktion mit nicht-menschlichen Entitäten, herausgearbeitet. Interaktionskonventionen sind folglich das implizite Wissen einer Gesellschaft verfestigt in der sozialen Interaktionswelt. Die Interaktionswelt stellt einen Wert- und Handlungsrahmen dar, der im Zuge der Diffusion einer Innovation und der ersten und weiteren Auseinandersetzung mit einem aus subjektspezifischer Perspektive innovativem interaktiven System als Grundlage der Bewertung dient. Durch den Abgleich mit der eigenen Interaktionswelt
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Siehe Maldonado: Digitale Welt und Gestaltung: Ausgewählte Schriften, S. 373–374.
11 Fazit
entscheidet ein Subjekt über den spezifischen Grad der Anwendbarkeit, Nützlichkeit und Intuitivität einer Anwendung. Interaktionskompetenz ist auch immer von einer Anpassung des Menschen an technische Strukturen und Logiken geprägt. Um Systeme zu entwickeln, die sich den Denk- und Arbeitsweisen des Menschen anpassen, müsste zunächst analysiert werden, wann sich das System gängigen Interaktionskonventionen unterordnet und wann es sich wirklich an menschlichen Fähigkeiten und Denkweisen orientiert. Der Mensch passt sich so rasch seiner Umgebung an, dass man eine Balance finden muss, zwischen Anpassung an den Nutzer und Herausforderung des Nutzers, um nachhaltige Bedienbarkeit und Intuitivität bei ausreichender Komplexität zu gewährleisten und gleichzeitig innovative Interaktionskonzepte zu realisieren. Das bedeutet, dass prinzipiell bei der Interaktionsgestaltung der Nutzer im Fokus stehen sollte und nicht technische/mechanische Prinzipien. Man darf aber nicht unbedarft mit etablierten technisch geprägten Interaktionsprinzipien brechen. Jede Technologie und jedes System oder Artefakt steht in wechselseitigem Bezug zu einem Kontext und beeinflusst diesen, wie er auch die Technologie bzw. das System oder Artefakt beeinflusst. Gestaltung muss den Anspruch verfolgen, diese wechselseitige Beeinflussung zu erfassen und bestmöglich im Gestaltungsprozess zu berücksichtigen. Die Fokussierung auf den Nutzer und seine Ziele im Zusammenspiel mit der umgebenden Welt, den bestehenden Sinn- und Wissensstrukturen und lebensweltlichen Gefügen, stellt die Erweiterung des gestalterischen Fokus gegenüber reinen funktionalen, inhaltlichen, technischen und formalen Aspekten eines zu gestaltenden Artefaktes bzw. Systems dar. Auch wenn ein Konsens über die Strukturiertheit und Methodisierung von Gestaltungsprozessen besteht4 , müssen diese bestehenden Methoden und Strukturen ständig an neue Kontexte angepasst werden5 . Durch diese Kontextabhängigkeit muss das gängige Verständnis von bzw. der Konsens über Gestaltungsprozesse und -Methoden in einem historischen Bezug gesehen werden. Es gibt keine allgemein gültige Designmethodik6 . Der Gestaltungsprozess wird in den vorliegenden Betrachtungen als Prozess der Nachahmung gedeutet. Die Interaktionswelt, implizite Leitbilder und implizites Wissen verlieren dadurch nie ihren Einfluss auf die Gestaltung. Gleichzeitig ist Gestaltung ein schöpferischer Akt, der selbst bei absolutem Fokus auf Perfektion, niemals eine exakte Kopie von etwas Bestehendem in seiner vollen konzeptionellen Tiefe hervorbringen kann. Gestaltung erzeugt immer Varianz auch wenn sie auf Nachahmung basiert. Dies stellt die Ausgangslage einer konstruktivistischen Betrachtung dar, wonach Interaktionskonventionen als Produkte evolutionärer, ungerichteter sozialer Konstruktionsund Institutionalisierungsprozesse verstanden werden, die den Entstehungsprozess 4 5 6
Vgl. Kenneth B. Kahn: New product forecasting: An applied approach, Armonk und N.Y: M.E. Sharpe, 2006, S. 2. Vgl. Rügge: Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing, S. 231. Vgl. Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, S. 77. Eine Ähnliche Position vertreten sowohl Spies: Branded Interactions: Digitale Markenerlebnisse planen & gestalten, S. 45 als auch Unger/Chandler: A project guide to UX design: For user experience designers in the field or in the making, S. 63–65.
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neuer Konzepte ebenso beeinflussen, wie in der Folge die Bildung neuer Interaktionskonventionen. Dadurch können abschließend zwar keine universellen Handlungsanweisungen abgeleitet werden, es können aber Anregungen für neue Analysewerkzeuge und -Methoden gegeben werden. Die Erkenntnis das die Bildung und Verbreitung von Innovationen und die darauf folgende Konventionsbildung ein diffuser ungerichteter Prozess mit diversen Akteuren, interferierenden Systemen und Motivation ist, führt zu weiteren Fragestellungen. Wie kann in ein solches Gefüge sinnvoll eingegriffen werden? Wo soll Gestaltung wirken? Wie kann Gestaltung diesen Prozess beeinflussen? Der Schlüssel kann in der Erkenntnis der Subjektspezifität der Gestaltung liegen. In der Möglichkeit, jederzeit neue Nischen zu bilden, die zu neuen Bezugssystemen heranwachsen und neuen Konventionen Raum geben und darin, dass erst die Alternativen Vergleichbarkeit schaffen und dadurch Qualität erkennbar wird und Evolution nur durch Varianz wirken kann. Kollektive Handlungsmuster können sich nur dann verändern, wenn den Nutzern auch ein verändertes Interaktionssystem zur Verfügung steht oder zumindest angeboten wird. Die Aufgabenangemessenheit, Bedienbarkeit und das Nutzererlebnis sollten jedoch grundsätzlich gegeben sein. Es sollte Unkonventionelles mit dem primären Ziel entstehen, die Art und Weise, wie Nutzer ihre Ziele erreichen zu verbessern, nicht mit der Prämisse etwas Neues zu schaffen. Gestaltung hat im konventionsgeprägten Kontext der MMI die Aufgabe für immer neue Varianten zu sorgen, die in unterschiedlichem Maße vom Bestehenden abweichen. Erst so ist eine prinzipielle Entwicklung – egal ob Veränderung oder Verfestigung – möglich. Dabei bietet sich ein breites methodisches Spektrum oder besser gesagt eine große Bandbreite möglicher Fokussierungen, vom Ausblenden bestehender Strukturen bis hin zur detaillierten Betrachtung dieser. So bildet sich ein Raum zwischen Inventiondesign, Interaktionsgestaltung und Anwendung. Als Erzeugnis gestaltender Nutzer mit subjektspezifischen Lebenswelten und Interaktionswelten, die das System verfestigt oder verändert, kann Gestaltung als Katharsis verstanden werden. Somit erfolgt die Reinigung aus dem System selbst heraus. Vorausgesetzt man sieht die resultierende Entwicklung, ob Veränderung oder Verfestigung, als etwas Reinigendes. Hierzu sollte im Bestreben eines mündigen Gestaltungsprozesses die Interaktionswelt als Wertungsgefüge wahrgenommen und berücksichtigt werden. Gestaltungsentscheidungen sollten ebenso auf die Beeinflussung durch bestehende Konventionen geprüft werden, wie auf die Tauglichkeit für die potentiellen Nutzer, die Anschlussfähigkeit an bestehende Strukturen und die Offenheit für künftige Konzepte. Um innovative Interaktionskonzepte anwendbar zu machen und ihre Diffusion zu unterstützen, muss es die Aufgabe der Gestaltung sein, nicht nur Handlungsofferten in das interaktive Artefakt hineinzucodieren, sondern gleichzeitig Konsistenz zu schaffen. Es müssen Berührungspunkte zu eventuellen verwandten Artefakten und Systemen herausgearbeitet und Orientierungspunkte, die Anschlussfähigkeit zur bisherigen Interaktionswelt der Nutzer herstellen, geschaffen und für den potentiellen Anwender wahrnehmbar gemacht werden. Die Erkenntnis nach der Betrachtung der Ausgangsfragestellungen lautet, dass keine einfachen Antworten gegeben werden können. Weder sind Konventionen das Gegenteil von Innovationen, wie es zunächst scheinen mag, noch sind anderweiti-
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ge eindeutige kausale Zusammenhänge zwischen Konventionen und Innovationen erkennbar. In Bezug zum Konstruktivismus und zu den Theorien von Luckmann, Berger und Schütz ist das Spannungsfeld zwischen Konventionen und Innovationen im MMIKontext – ähnlich wie in der Sprachbildung – durch intersubjektive Austausch- und Normungsprozesse geprägt. Diese sind zwar beobachtbar und rückblickend analysierbar, sie scheinen aber nicht oder nur in begrenztem Ausmaß steuerbar zu sein, auch wenn, anders als bei der Sprachbildung, Akteuere gestaltend und nicht nur regulierend eingreifen. Universelle Handlungsanweisungen können nicht abgeleitet werden. Es können aber Anreize für neue Analysewerkzeuge und -Methoden gegeben werden und der Appell formuliert werden, den Fokus der Gestaltung um die subjektspezifischen Interaktionswelten der wahrscheinlichen Nutzergruppen zu erweitern und den Einfluss der Interaktionswelten der gestaltenden Akteure und sonstigen Teilhaber am Entwurfs- und Entwicklungsprozess zu erkennen. Die vorliegende Arbeit leistet einen Beitrag, den Gestaltungs- und Reflexionsprozess dahingehend weiterzuentwickeln.
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Danksagung Diese Arbeit abzuschließen wäre nicht ohne die Hilfe und Unterstützung vieler Personen möglich gewesen. An erster Stelle gilt mein Dank Frau Prof. Dr. Cordula Meier für die Unterstützung und Betreuung, für den fachlichen Austausch, die Rückmeldungen und Anmerkungen, sowie die Freiheiten bei der zeitlichen Realisation und der inhaltlichen Schwerpunktsetzung. Ebenfalls möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Georg Kneer bedanken, der mein Promotionsvorhaben von Anfang an unterstützt hat. Seine Ratschläge und die gemeinsamen Besprechungen haben geholfen, ein erstes Themenfeld in konkrete Fragestellungen und Forschungszusammenhänge zu überführen. In der Folge hat er die Arbeit mit Feedback und methodischen wie fachlichen Anregungen begleitet. Eine berufsbegleitende Promotion wäre ohne einen Arbeitgeber und ein berufliches Umfeld, dass dieses Vorhaben nicht nur duldet, sondern befürwortet, nicht möglich. Daher gilt mein besonderer Dank Eva-Katrin Quast und Prof. Jörg Beck für unzählige Gespräche über Gestaltung, Designtheorie und Designgeschichte, die vielen herausfordernden und spannenden Projekte, sowie die Möglichkeit in den unterschiedlichen Stadien meiner Forschung und Niederschrift die Arbeitszeit anzupassen. Ihre fachlichen und persönlichen Ratschläge haben die Arbeit an diversen Stellen beeinflusst. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Dr. Stefan Dietzel und Thomas Schiffeler für das geduldige und intensive Korrekturlesen dieser Arbeit. Eure Anmerkungen haben nicht nur geholfen, die flüchtigen Fehler der Arbeit zu beheben, sondern die Arbeit an vielen Stellen zugänglicher und lesbarer zu machen. Ohne den großen Rückhalt meiner Familie und Freunde wäre dieses Vorhaben nicht möglich gewesen. Insbesondere möchte ich mich bei meinen Eltern Luzia und Walter Münchow, sowie meiner Schwester Meike Münchow bedanken, die mich stets darin bestärkt haben, diesen Weg zu gehen und mir auf vielfältige Weise während der Promotion den Rücken gestärkt haben. Mein abschließender Dank gilt meiner Frau Janina für ihre Liebe, ihre aufbauenden und kritischen Worte, ihre Ratschläge und ihre Rücksicht aber auch ihre Hartnäckigkeit. Sie hat mich insbesondere gegen Ende meiner Arbeit immer wieder dazu ermutigt und angespornt, an meinem Vorhaben festzuhalten; auch in der Zeit, in der
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wir als Familie gewachsen sind und uns unseren Traum vom Eigenheim verwirklicht haben. Ohne sie hätte ich manche Blockade nicht überwinden können.
Abbildungsverzeichnis 1 Apples Anwendung „Kalender“ –veröffentlicht als Teil von OS X 10.8 Mountain Lion am 25. Juli 2012 – in der offiziellen Umsetzung mit skeuomorphen Texturen (unten im Bild) und einer der grafische reduzierteren Visualität (oben im Bild), wie sie früheren Betriebssystemversionen entspricht. ................................................................................ 14 2 Im historischen Abriss der Visualität von Scrollbars ist eine Tendenz der Reduktion der Elementanzahl, ihrer visuellen Komplexität und ihrer Wahrnehmbarkeit und Kontraste erkennbar. 15 3 Die Scrollbars in Windows 7, das von 2009 bis ca. 2015 vertrieben und gepflegt wurde, weisen vier Hauptbestandteile auf: eine Schiene, einen Griff und zwei Schaltflächen mit Pfeilen. . 16 4 Das Trackpad eines Dell XPS M1530, von 2007, mit aufgedruckten Hilfsflächen, um die Scrollbar zu steuern.................................................................................. 18 5 Ein Drehsteller an einer Geschirrspülmaschine mit uneindeutigem Mapping. .................. 19 6 Der Drehregler muss im Uhrzeigersinn gedreht werden, damit die nächst tiefere LED aufleuchtet. ...................................................................................... 20 7 Apples Mighty Mouse (links; vertrieben von 2005 bis 2009 ohne Kabel und bis 2017 mit Kabel) und Magic Mouse (rechts; vertrieben ab 2009) im Vergleich. Die Mighty Mouse hat einen ScrollBall und ermöglicht es so, horizontale und vertikale Scrollbars zu steuern. Die Magic Mouse hat eine berührungssensitive Oberfläche und registriert so Touchgesten. ....................... 22 8 Die Systemeinstellungen zur Scrollrichtung in OS X 10.10 Yosemite. .......................... 23 9 Model des interaction design research, nach Daniel Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, in: Design Issues 24.3 (2008), S. 4–18, url: https://www.mitpressjournals.org/doi/pdf/10.1162/desi.2008.24.3.4. .... 26 10 Verortung der gegenständlichen Untersuchung anhand des Models des interaction design research nach Daniel Fallman: The Interaction Design Research Triangle of Design Practice, Design Studies, and Design Exploration, in: Design Issues 24.3 (2008), S. 4–18, url: https : //www.mitpressjournals.org/doi/pdf/10.1162/desi.2008.24.3.4.................................... 28 11 System der endogenen und exogenen Gestaltungsforschung. ............................... 41 12 Die Evolution des Softwareentwicklungsprozesses. ......................................... 51 13 Affordanzen, Feedforward und Feedback in Norman’s „Stages of Action model“, wie es Vermeulen u. a. deuten. ....................................................................... 64 14 Konventionen können als intersubjektive Schnittmenge subjektspezifischer Erfahrungsräume angesehen werden. .................................................................... 66
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15 Der Abgleich zwischen Bekanntem und Unbekanntem erfolgt auf Basis des bewussten oder unbewussten Erkennens bekannter Strukturen. ........................................... 66 16 Zum Erkennen von Konventionskonformität wird eine intersubjektiver Referenzraum herangezogen, zum Erkennen von Erwartungskonformität ein subjektspezifischer.................. 67 17 Informationskreislauf während der Interaktion ............................................ 72 18 Informationsfluss während der Interaktion ................................................ 73 19 IDEO Designkonzept des Bloomberg Terminals. ........................................... 207 20 Bloomberg Terminal, Stand 2016. ......................................................... 208 21 Die Bedürfnis-Befriedigungs-Kurve aus anwenderzentrierter Perspektive .................. 212 22 Ebenen des Vorwissens. Die Größe der Kästen spiegelt die Anzahl der erreichten Nutzer wider. ....................................................................................... 224 23 Darstellung der Bedienelemente in der Fussballsimulation „Fifa 15 Ultimate Team“ aus dem Jahr 2014. Zur Steuerung der Spielfiguren dient ein, einem Joystick funktional und visuell nachempfundenes, Bedienelement. ........................................................... 235 24 Die fünf Schritte des Entstehungsprozesses einer Innovation. ............................. 248 25 Die Webanwendung „Predicting the Future of Computing“ erlaubt es Nutzern, Zukunftsvisionen zu formulieren und das Jahr ihrer wahrscheinlichen Realisierung einzuschätzen. Die breite Masse aller Anwender kann diese Einordnungen permanent aktualisieren und so einen ständig aktuelle Vision der digitalen Zukunft ermitteln......................................... 256 26 System- und Produktaspekte und ihre Relevanz für ein „Minimal Viable Product“. .......... 257 27 Die Innovationen zur MMI im 7er BMW müssen aktiv beworben werden, um wahrnehmbar zu sein. Ihre Diffusion wird dadurch gefördert, dass die übrigen Innovationen des Produktes wahrnehmbarer sind. ........................................................................ 259 28 Die Bedürfnispyramide von Nutzern........................................................ 261 29 Die UX-Pyramide von Nutzern............................................................. 262 30 In den gängigen App-Portalen – Google Play Store und iTunes App Store – ist eine Vielzahl von Tastaturen mit alternativen Tastenanordnungen, Eingabemöglichkeiten und Verhalten verfügbar. ............................................................................... 266 31 Nutzerprofile nach Liddle, verortet zwischen den Adopter-Stufen nach Rogers und den Stufen des Kompetenzerwerbs nach Dreyfus u. a. ............................................. 274 32 Nutzermilieus verortet zwischen den Adopter-Stufen nach Rogers und den Stufen des Kompetenzerwerbs nach Dreyfus u. a. ........................................................ 275 33 Akzeptanzmodell der Nutzer, verortet nach dem Freiheitsgrad der Nutzungsentscheidung nach Rogers und der Intensität der Nutzung................................................... 276
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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., 175 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4
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Tim Kammasch (Hg.)
Betrachtungen der Architektur Versuche in Ekphrasis 2020, 326 S., kart., Dispersionsbindung, 63 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-4994-9 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4994-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
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