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German Pages 384 Year 2019
Lucyna Darowska (Hg.) Diversity an der Universität
Bildungsforschung | Band 4
Für Zofia, Renate, Peter und Miloš
Lucyna Darowska (Dr. rer. soc.) lehrt und forscht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Themenschwerpunkte sind Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Migration, Diversity und Gender.
Lucyna Darowska (Hg.)
Diversity an der Universität Diskriminierungskritische und intersektionale Perspektiven auf Chancengleichheit an der Hochschule
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Ulrike Niermann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4093-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4093-3 https://doi.org/10.14361/9783839440933 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Einleitung
Lucyna Darowska | 7 Diskriminierungsschutz als Teil von Diversity-Strategien an Hochschulen
Nathalie Schlenzka & Rainer Stocker | 13 Intersectionality Matters! Zur Bedeutung der Intersectional Critical Diversity Studies für die Hochschulpraxis
Margrit E. Kaufmann | 53 »Uni, ö f f n e Dich!« Nachdenken über Diversität, Teilhabe und Dekolonisierung im Wissenschaftsbetrieb
Ayla Satilmis | 85 Wissenschaft, Nachwuchslaufbahn und Behinderung Eine Bestandsaufnahme zu Tabuisierung und Exklusion im Hochschulsystem
Caroline Richter | 115 Diversity und Fluchtmigration Anforderungen an die Hochschulausbildung für Sozialund Gesundheitsberufe
Cinur Ghaderi & Rebekka Ehret | 151
Der Versuch, globale Bildungsbiographien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren Universitäre Angebote für Geflüchtete und Migrierte
Andrea Hertlein & Rudolf Leiprecht | 179 Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen Intersektionale Trans*verbündetenschaft für gleiche Teilhabe an Hochschulen
René_ Rain Hornstein | 225 Neue Wege: Anforderungen an Hochschulen im Umgang mit trans* Studierenden
Alex Stern | 265 Can ›epistemic silence‹ be decolonised? Diversity, Menschenrechte, Feminismen
Lucyna Darowska | 323 Autor*innen | 379
Einleitung L UCYNA D AROWSKA
Diversity ist ein facettenreicher, viel kritisierter Begriff und zugleich ein strategisches Prinzip. In einigen Abteilungen von Hochschulen und Universitäten wie z.B. Stabsstellen, Rektoraten, Präsidien und der Verwaltung tritt Diversity als eine Dimension der konzeptionellen Ausrichtung des ›modernen‹ Managements in Erscheinung. In anderen Teilen der Hochschulstrukturen, z.B. in vielen Fakultäten, ist sie kaum bekannt und wird u.U. nicht vermisst. Wie der Diversity-Begriff substanziell gefüllt wird – ob er für eine symbolische strategische Positionierung im Wettbewerb der Hochschulen steht oder als eine gesellschaftliche und institutionelle Richtlinie von hoher Relevanz gesehen wird, liegt in der Entscheidung der involvierten Akteur*innen. Der Begriff ist, wie an vielen Stellen schon thematisiert wurde, in mehrere Richtungen dehnbar und somit uneindeutig. Menschen sind divers, und die Tatsache, dass jedes Individuum einzigartig ist, soll anerkannt werden – das wäre, kurz zusammengefasst, ein menschenfreundlicher Appell, der aufgrund seiner Fokussierung auf individuelles Handeln eher institutionelles ›Werben für Vielfalt‹ nach sich zieht und somit wenig Ressourcen bindet. Bei einer etwas weiter gehenden Auslegung wird methodisch auf Typisierung zurückgegriffen, um einen institutionellen Umgang mit den typisierten Individuen bzw. Gruppen anzutrainieren. Solche Typenbildung hat die Tendenz, sich in Theorie und Praxis essentialistisch zu sedimentieren. Ein anderes Diversity-Verständnis bringt den Begriff in einer u.U. instrumentellen Weise mit einem materiellen oder ideellen Gewinn aus divers zusammengesetzten Gruppen in Verbindung. Diese Annahme wird allerdings nicht immer durch eine Erforschung der Voraussetzungen für die Einlösbarkeit dieser Erwartung untermauert. Eine weitere (vierte) Diversity-Interpretation schließt an die gewesenen und gegenwärtigen Emanzipationsbewegungen – Schwarze Bürgerrechtler*innen, People of Color, migrantische Selbstorganisationen, Frauenbewegungen, Selbstorganisationen von Menschen mit Beeinträchtigung bzw. Disability Studies, LGBTIQ+ Aktivismus u.a. –
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an. Hinter dem Diversity-Gedanken stehen in diesem Fall also historisch erkämpfte Konzepte, die eine im Anspruch diskriminierungskritische und demokratische Perspektive vereinen und einer Anpassung an den jeweiligen institutionellen Kontext bedürfen. Das ›De-Essentialisieren‹ ist hier ein Teil der kritischen Auseinandersetzung innerhalb dieser sozialen Bewegungen bzw. mit den an sie von außen herangetragenen Anforderungen. Emanzipationsbewegungen erkämpfen sich die Menschenrechte, die theoretisch alle ›haben‹, die real aber einem großen Teil der Menschheit vorenthalten bleiben. Somit orientiert sich der so ausgelegte Diversity-Begriff an der Antidiskriminierungsgesetzgebung, Rassismuskritik und der Herstellung von Chancengleichheit für alle. Repetition eines zirkulierenden Schlagwortes oder ein tiefgründiges Anliegen? Das müsste demnach jeweils mit Bezug auf die erwähnten oder auf weitere Auslegungen entschieden werden. Erfordert nicht ein Ringen um die Akzeptanz der selbstverständlichen Tatsache individueller Vielfalt in einer in vieler Hinsicht homogenisierenden Institution ein gründliches Hinterfragen der expliziten und impliziten institutionellen Regeln des Handelns? Gehört also dazu nicht eine Befragung der Gewissheiten der Institution, z.B. der etablierten Vorstellung von Leistung und Maßstäben der Leistungsbewertung, der routinierten Strukturen des Studierens, der Methoden und der Reichweite der Wissensproduktion und -reproduktion, autoritärer Strukturen und eines an sie angepassten Managementtypus, der allgegenwärtigen Ökonomisierung etc.? Inwiefern sind autoritäre Strukturen in einer demokratischen Gesellschaft tragbar? Dieser Band wählt den vierten der oben genannten Zugänge zu Diversity und orientiert sich an der Antidiskriminierungsgesetzgebung und diskriminierungsund rassismuskritischer Auslegung von Diversity, denen wiederum die Menschenrechte und ein weit gefasstes Demokratieverständnis sowie das Streben nach Chancengleichheit zugrunde liegen. Die Autor*innen der verschiedenen Beiträge untersuchen punktuell oder systematisch aus der Perspektive der benachteiligten Gruppen und ihrer Verbündeten die Nicht-Erfüllung der Erwartung, Hochschulen als nicht-diskriminierende Bildungsinstitutionen zu erfahren, und diskutieren die Barrieren und Hintergründe. Beim Hinterfragen der Strukturen und Handlungsroutinen geht es nicht um die systematische Untersuchung der gesamten Institution oder gar sämtlicher Hochschulen, sondern eher um Schlaglichter auf theoretische Kontroversen und praktische Widersprüche. In einigen Beiträgen werden konkrete praktische Lösungen angeboten, in anderen wird auf die Problemstellen und Unstimmigkeiten hingewiesen, deren Folgen diskutiert werden. Formuliert werden Forderungen und Empfehlungen, gerichtet an Diversity-Konzepte und die Praxis der Hochschulen, sowie Postulate für weitere Forschung. Fragen werden
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aufgeworfen und in ihrer Komplexität diskutiert. Entsprechend greifen die einzelnen Beiträge unterschiedliche thematische Aspekte aus den Bereichen der Verwaltungsstruktur oder der Lehre und Forschung auf und gehen zugleich auf die Konzipierung von Gleichbehandlung und Chancengleichheit ein. Sie problematisieren habituelle Handlungsformen in der Praxis der Lehre und Wissenschaft, analysieren die Bildungsinstitutionen im Kontext der Gesetzgebung oder auf dem Hintergrund der globalen Verhältnisse, ggf. mit historisierenden Anschlüssen an Theorien und Praktiken. Dringend benötigte Handlungsbedarfe werden identifiziert, Ausgrenzungspraktiken und Leerstellen werden aus wissenstheoretischen Perspektiven diskutiert. Die Themen des Bandes im Einzelnen Der Beitrag von Nathalie Schlenzka und Rainer Stocker »Diskriminierungsschutz als Teil von Diversity-Strategien an Hochschulen« betrachtet die Hochschulen aus der Perspektive der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), in der die Gesetzgebung, also das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zentral ist. Der aktuelle Forschungsstand zu den Diskriminierungserfahrungen an den Hochschulen wird geschildert; besondere Aufmerksamkeit schenken die Autorin und der Autor den Beschwerdestellen. Der Beitrag thematisiert die Verpflichtungen der Hochschulen und zeigt die vorhandenen Handlungsspielräume und künftige Entwicklungsmöglichkeiten für einen effektiveren Diskriminierungsschutz auf. Nach dieser Auseinandersetzung mit der Rechtslage und ihrer realen Umsetzung geht der Aufsatz von Margrit E. Kaufmann »Intersectionality Matters! Zur Bedeutung der Intersectional Critical Diversity Studies für die Hochschulpraxis« auf das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis von Diversity ein. Der Beitrag stellt die Intersectional Critical Diversity Studies dar, die mit einer Gerechtigkeitsorientierung bzw. der Kritik von strukturellen Ungleichheiten in Verbindung gebracht werden. Dabei werden sowohl multiple Faktoren der Ungleichmachung und Exklusion sowie Zuschreibungen in ihren Wechselwirkungen thematisiert als auch Praxen der Solidarisierung reflektiert. Die Autorin plädiert für eine stärkere Verzahnung von Forschung und Praxis in der Hochschule. Ausgehend von dem Verständnis der Hochschule als sozialer Raum geht der Beitrag von Ayla Satilmis »›Uni, ö f f n e Dich!‹ – Nachdenken über Diversität, Teilhabe und Dekolonisierung im Wissenschaftsbetrieb« ebenso auf die Theorie und Praxis von Diversity ein, wobei er den Schwerpunkt auf die Öffnung der Hochschulen legt. Dabei wird Bezug auf soziale Ungleichheiten genommen. Im Weiteren werden Leerstellen in Diversity-Theorie und -Praxis identifiziert und ein
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partizipatorisches und demokratisierendes Verständnis von Diversity eingefordert. Im Anschluss an dekoloniale Theorieansätze im internationalen Diskurs wird der ›Wissenschaftsbetrieb‹ kritisch diskutiert. In den darauf folgenden Beiträgen werden Teilaspekte des breiten auf die Theorie und Praxis von Diversity an den Hochschulen rekurrierenden Diskurses aufgegriffen, beginnend mit der Untersuchung von Caroline Richter. In ihrem Beitrag »Wissenschaft, Nachwuchslaufbahn und Behinderung: Eine Bestandsaufnahme zu Tabuisierung und Exklusion im Hochschulsystem« stellt die Autorin eine weitgehend unbeachtete Problematik in den Fokus. Gezeigt wird, dass in der Praxis der Wissenschaft Menschen mit Beeinträchtigung und chronischer Erkrankung die Erfahrung einer ›gläsernen Decke‹ machen, die ihre Karriere als wissenschaftliche Nachwuchskräfte massiv behindert. Im Kontext der geschilderten Exklusionspraktiken und deren Tabuisierung fordert die Autorin strukturelle und politisch-rechtliche Änderungen, für die eine starke Interessenrepräsentation eine der Voraussetzungen ist. Cinur Ghaderi und Rebekka Ehret verknüpfen in ihrem Beitrag »Diversity und Fluchtmigration. Anforderungen an die Hochschulausbildung für Sozial- und Gesundheitsberufe« die Hochschulausbildung in den Sozial- und Gesundheitsberufen mit der Tatsache der Fluchtmigration. Indem sie den Hochschulraum auf dem Hintergrund der Internationalisierungsstrategien zugleich als Sozialraum betrachten, dekonstruieren die Autorinnen aus der wissenstheoretischen Perspektive den sich als universalistisch gebenden Anspruch der gegenwärtig praktizierten Lehre. Ein transnationales und transkulturelles Wissen müsste – so die Autorinnen – aus einer mehrdimensionalen, interdisziplinären und reflexiven Diversity-Perspektive generiert werden, die Intersektionalität und dekoloniale Theorien berücksichtigt und sich nicht entpolitisieren lässt. Die Schnittstelle zwischen Flucht und Migration einerseits und der Hochschule andererseits ist das Thema des Beitrags von Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht »Der Versuch, globale Bildungsbiographien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren – Universitäre Angebote für Geflüchtete und Migrierte«. Die Autorin und der Autor zeigen in ihrem Beitrag, wie die viel geforderte Öffnung der Hochschulen, in diesem Fall die Öffnung für Bildungsbiographien aus dem außereuropäischen Raum, in der Praxis nicht oder nur zögerlich funktioniert. Die Anerkennung der vorgängigen Hochschulbildung der Bewerber*innen beim Zugang zu diesem bis jetzt einmaligen, für transnationale Bildungskontinuität konzipierten Studiengang stößt auf massive strukturelle Hürden. Diese werden im Beitrag exemplarisch beschrieben und in der Analyse mit Theorieansätzen zu Rassismus und Othering verknüpft.
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Die folgenden zwei Beiträge befassen sich mit dem institutionellen Umgang der Hochschulen mit der Geschlechtlichkeit ihrer Mitglieder. René_ Rain Hornstein beleuchtet im Aufsatz »Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen. Intersektionale Trans*verbündetenschaft für gleiche Teilhabe an Hochschulen« vielfältige Diskriminierungsformen trans- und intergeschlechtlicher sowie nicht-binärer Menschen, die aus der traditionellen binären normativen Ordnung der Hochschulen hervorgehen. Der Beitrag gibt Einblicke in die rechtliche Lage und zeigt darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, trans*gerechte Lehre, Forschung und trans*gerechte institutionelle Praxen zu etablieren. »Verbündetenschaft« ist eine der Strategien zu deren Realisierung. Alex Stern führt in seinem Beitrag »Neue Wege: Anforderungen an Hochschulen im Umgang mit trans* Studierenden« aus seiner Perspektive in das Thema trans* Studierende an den Hochschulen ein und zeigt am Beispiel zweier Hochschulen, wie unterschiedlich die Ausschöpfung von Spielräumen in demselben rechtlichen und hochschulpolitischen Rahmen sein kann. Der Autor identifiziert die vielen Orte, an denen binäre geschlechtliche Ordnung in Vorschriften, Regeln und habituellen Praktiken in der Hochschule hergestellt wird, und zeigt Alternativen, mit denen die Hochschulen den Barrieren und diskriminierenden Praktiken begegnen können. Der Band schließt mit einer erneuten Fokussierung auf Wissen als zentrale Kategorie der Hochschulen und diskutiert im Beitrag von Lucyna Darowska »Can ›epistemic‹ silence be decolonised? Diversity, Menschenrechte, Feminismen« die Möglichkeiten und Grenzen einer dekolonialisierenden Wissensproduktion. Dabei wird die unter ›dekolonial‹ üblicherweise verstandene Perspektive erweitert. Die unzureichend an den Universitäten vertretene kritische Perspektive auf die marktdogmatischen asymmetrischen globalen Wirtschafts- und politischen Strukturen wird ebenso problematisiert, wie der Bezug auf ›Marxismus‹ als Analyseperspektive hinterfragt wird. Auch in diesem Beitrag sind die Menschenrechte ein zentraler Referenzpunkt und erneut wird um eine die wissenschaftliche Community übergreifende Forschungsperspektive geworben. Lucyna Darowska, Oldenburg, 4.8.2019
Diskriminierungsschutz als Teil von Diversity-Strategien an Hochschulen N ATHALIE S CHLENZKA & R AINER S TOCKER
Abstract: Im ersten Teil des Beitrags wird erläutert, was unter Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu verstehen ist und welche Diskriminierungsformen an Hochschulen beobachtet werden können. Auf der Grundlage des vorhandenen Forschungsstandes werden im zweiten Teil des Beitrags das Ausmaß und typische Fallkonstellationen von Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen beschrieben. Der dritte Teil befasst sich mit den Möglichkeiten und Verpflichtungen, die sich für Hochschulen aus dem AGG ergeben. Auf der Basis einer Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) wird im vierten Teil des Artikels dargestellt, inwiefern Beschwerdestellen nach § 13 AGG vorhanden sind, wie sie ausgestaltet sind und welche Rolle sie an den Hochschulen im Kontext des Diskriminierungsschutzes spielen. Der abschließende Ausblick stellt dar, welche Handlungsmöglichkeiten aus Sicht der Autor_innen bestehen, um Diskriminierungsschutz an Hochschulen umzusetzen.
Keywords: Diskriminierung, Diskriminierungserfahrungen, Diskriminierungsschutz, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Beschwerdestelle, Richtlinien, Antidiskriminierungsberatung, Verpflichtungen, Hochschule
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Obwohl in den vergangenen Jahren einerseits eine verstärkte Beschäftigung mit Diversity an Hochschulen stattfand, steht andererseits das Thema Diskriminierungsschutz nach wie vor eher selten im Fokus. Immer wieder ist zu beobachten, dass Personen, die sich für mehr Diskriminierungsschutz an ihren Hochschulen einsetzen, mit ihrem Engagement auf Widerstände und Ablehnung stoßen. Zu sehr wird befürchtet, dass der Ruf der Hochschule leiden könnte. In der Ablehnung schwingt zudem oft eine große Verunsicherung darüber mit, was Diskriminierung ist und welche konkreten Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten bestehen. Der Beitrag erläutert in einem ersten Teil, was unter Diskriminierung zu verstehen ist und welche Diskriminierungsformen an Hochschulen relevant sein können, und gibt im zweiten Teil den Forschungsstand zum Ausmaß von Diskriminierung an Hochschulen wieder. Der dritte Teil befasst sich mit den Möglichkeiten und Verpflichtungen, die sich für Hochschulen aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ergeben. Auf der Basis einer Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) wird im vierten Teil des Artikels dargestellt, inwiefern Beschwerdestellen nach § 13 AGG vorhanden sind und welche Rolle sie an den Hochschulen im Kontext des Diskriminierungsschutzes spielen. Der abschließende Ausblick stellt dar, welche Handlungsmöglichkeiten aus Sicht der ADS bestehen, um Diskriminierungsschutz an Hochschulen umzusetzen. Die Ausführungen basieren auf den verschiedenen Projekten und Publikationen der ADS zu Diskriminierung an Hochschulen. So ging die Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit dem Modellprojekt »Diskriminierungsfreie Hochschule – Mit Vielfalt Wissen schaffen« (Czock et al. 2012) der Frage nach, inwiefern Diskriminierungen aufgrund der Merkmale Alter, Behinderung, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion und Weltanschauung, sexuelle Identität sowie ggf. weiterer sozialer Kategorien an Hochschulen vorkommen. Ziel des Projektes war es, Hochschulen darin zu unterstützen, Diskriminierungsmechanismen zu erkennen und Strategien für einen diskriminierungsfreien Umgang mit und unter Studierenden und Beschäftigten zu implementieren. Die Ergebnisse des Projekts sind in den Praxis-Leitfaden »Diskriminierungsschutz an Hochschulen« (ADS 2013a) eingeflossen. Der Leitfaden enthält konkrete Vorschläge für eine erfolgreiche Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen. Zudem hat sich die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in ihrem Zweiten Gemeinsamen Bericht an den Deutschen Bundestag (ADS 2013b) mit der Diskriminierung im Hochschulbereich beschäftigt, der auch zahlreiche Empfehlungen zu dieser Thematik enthält. Daneben veranschaulicht die im Auftrag der ADS erstellte Expertise »Sexuelle Belästigung im Hochschulkontext – Schutzlücken und Empfehlungen« den unzureichenden Schutz für Studierende in Bezug auf sexuelle Belästigung und gibt Empfehlungen,
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welche Maßnahmen Hochschulen in diesem Kontext ergreifen können (Kocher/Porsche 2015). Der 2017 vorgelegte Dritte Gemeinsame Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beschäftigt sich unter der Überschrift »Diskriminierung in Deutschland« ebenfalls mit Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen (ADS 2017a).
W AS IST EIGENTLICH D ISKRIMINIERUNG ? D EFINITIONEN UND B EISPIELE IM H OCHSCHULKONTEXT Wie im letzten Abschnitt dargestellt, können an Hochschulen unterschiedlichste Formen von Diskriminierung auftreten, welche Hochschulen in den Blick nehmen sollten. Hier soll daher noch einmal näher darauf eingegangen werden, was rechtlich unter Diskriminierung zu verstehen ist und welche Formen von Diskriminierung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz unterschieden werden. Unter Diskriminierung ist nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz die Benachteiligung von Menschen aufgrund eines schützenswerten Merkmals wie beispielsweise des Geschlechts – dies schließt auch die Geschlechtsidentität ein –, der ethnischen Herkunft, des Alters, einer Behinderung, der sexuellen Identität oder der Religion/Weltanschauung zu verstehen (AGG § 1). Dabei ist nicht relevant, ob die Diskriminierung an ein tatsächliches oder zugeschriebenes Merkmal anknüpft. Wird etwa vermutet, dass eine Person muslimisch sei, und wird sie deswegen benachteiligt, obwohl sie tatsächlich christlich ist, handelt es sich trotzdem um eine Diskriminierung aufgrund der Religion. Neben den im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geschützten Merkmalen können für den Hochschulbereich aber auch die Merkmale »soziale Herkunft«, »Familienstatus«, »Aussehen« sowie andere Merkmale als Anknüpfungspunkte für Diskriminierungserfahrungen relevant werden (siehe oben). Das AGG enthält aber keine Schutzbestimmungen in Bezug auf diese Merkmale, so dass hier nicht der gleiche Schutz besteht. Diskriminierung geschieht in der Regel nicht eindimensional, also nicht exklusiv auf ein Merkmal bezogen, sondern in komplexen Formen (mehrdimensional). Personen können aufgrund mehrerer geschützter Merkmale wie der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder des Alters in ein und derselben Situation benachteiligt werden. In diesen Fällen wird von mehrdimensionaler Diskriminierung gesprochen. Eine spezifische Form von mehrdimensionaler Diskriminierung ist die intersektionale Diskriminierung. Bei dieser wirken mehrere Diskriminierungsmerkmale innerhalb einer Diskriminierungserfahrung derart zusammen, dass sie nicht mehr getrennt voneinander zu betrachten sind. Durch diese
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Überschneidung entsteht eine qualitativ neue Diskriminierungserfahrung (Fredman 2016: 7), bei der das gleichzeitige Zusammenwirken verschiedener sozialer Ungleichheiten in den Blick genommen (Walgenbach 2012b: 81) und »das Spezifische einer Unterdrückungskonstellation« herausgestellt werden kann (Walgenbach 2012a: 11, Herv. im Orig.). Hochschulen sollten ihren Blick daher auch auf Gruppen richten, die von mehrdimensionaler und intersektionaler Diskriminierung betroffen sein können und Präventions- und Empowerment-Maßnahmen in diesem Kontext anbieten (siehe Kapitel 5). Besonders relevant sind dabei im Hochschulkontext wie auch in anderen Lebensbereichen Intersektionen in Anknüpfung an das Geschlecht. Entscheidend für eine Benachteiligung ist das Ergebnis, nicht jedoch das Motiv (Absicht, Gedankenlosigkeit, allgemeine Verwaltungspraxis etc.). Eine Benachteiligung kann einerseits vorliegen, wenn Gleiches ungleich behandelt wird. Andererseits liegt eine Benachteiligung aber auch vor, wenn Menschen mit ungleichen Voraussetzungen gleich behandelt werden. Generell wird im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zwischen unmittelbaren (direkten) und mittelbaren (indirekten) Diskriminierungsformen unterschieden. Auch (sexuelle) Belästigungen stellen eine Diskriminierungsform dar (§ 3 AGG). Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person eine weniger günstige Behandlung als eine Vergleichsperson erfährt, erfahren hat oder erfahren würde und diese Ungleichbehandlung an ein Merkmal wie zum Beispiel die (zugeschriebene) ethnische Herkunft oder Religion anknüpft. Eine unmittelbare Diskriminierung kann beispielsweise vorliegen, wenn ein ausländischer Studierender im Seminar rassistisch beleidigt wird, eine muslimische Studierende auf Grund ihrer Religion eine schlechtere Leistungsbewertung erhält oder in einer Berufungskommission die Bewerberin abgelehnt wird, weil ihr mit Kindern die Professur nicht zugetraut wird und stattdessen ein männlicher Bewerber eingestellt wird. Ausgehend von den Beschwerden und Beratungsanfragen betreffend Diskriminierung an Hochschulen, die bei der ADS und anderen Antidiskriminierungsberatungsstellen eingehen, lässt sich feststellen, dass es sich zumeist um unmittelbare Diskriminierungen handelt. Des Weiteren geht es bei den Diskriminierungserfahrungen an der Hochschule häufig um Belästigung bzw. sexuelle Belästigung. Unter (sexueller) Belästigung werden nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 3 AGG) unerwünschte Verhaltensweisen verstanden, die eine Person wegen eines Merkmals einschüchtern, beleidigen oder erniedrigen und ein feindliches/herabwürdigendes Umfeld schaffen oder bezwecken zu schaffen. Die sexu-
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elle Belästigung ist eine spezifische Form der Belästigung. Belästigung und sexuelle Belästigung stellen, wie oben dargelegt, eine häufige Diskriminierungsform an Hochschulen dar. Formen von mittelbarer Diskriminierung an der Hochschule sind dagegen kaum Anlass für eine Beschwerde bei Antidiskriminierungsberatungsstellen. Bei mittelbaren Diskriminierungen wirken sich scheinbar neutrale Verhaltensweisen, Regelungen und Vorschriften in der Praxis als Benachteiligung für bestimmte Personengruppen aus. Hier führt eine formale Gleichbehandlung im Ergebnis zu einer Benachteiligung dieser Gruppen. Diese kann mitunter sachlich gerechtfertigt sein. Eine mittelbare Diskriminierung liegt beispielsweise vor, wenn ein jüdischer Student wegen seiner Religion nicht die Samstagsklausuren mitschreiben kann und ihm von der Hochschule ohne sachliche Rechtfertigung keine Ausweichtermine angeboten werden. Die mittelbare Diskriminierung ist eng mit der institutionellen Diskriminierung verbunden, bei der Routinen, Wertvorstellungen, formale Regularien, Gesetze und die Organisationskultur einer Institution zur Benachteiligung und Ausgrenzung sozialer Gruppen führen (Gomolla/Radtke 2009: 18). Dass mittelbare bzw. institutionelle Diskriminierung an Hochschulen seltener gegenüber Beratungsstellen berichtet wird, kann auch damit zusammenhängen, dass sie einerseits für die Betroffenen selbst schwieriger zu erkennen ist und andererseits ein Vorgehen dagegen an einem Ort wie der Hochschule, der von Hierarchien und Machtverhältnissen geprägt ist, als aussichtlos angesehen wird bzw. für die Betroffenen die Gefahr der Viktimisierung mit sich bringt. Darüber hinaus können Benachteiligungen durch sprachliche und bildliche Darstellungen entstehen, wenn z.B. rassistische oder sexistische Begriffe in Lehrbüchern verwendet werden. Zentral ist hier die Frage der Wissensproduktion. Diese Ideen und Bilder können durch Medien, Wissenschaftsliteratur und Lehrveranstaltungen und -konzepte transportiert werden, aber auch im alltäglichen Sprechen im Kreis der Kolleg_innen. Alle diese unterschiedlichen Ebenen von Diskriminierung sollten von Hochschulen in den Blick genommen werden, wenn sie Maßnahmen gegen Diskriminierung entwickeln. Dabei sollten die Hochschulen einen horizontalen Ansatz zugrunde legen. Der horizontale Ansatz bedeutet, dass die verschiedenen Merkmale gleichermaßen schutzwürdig sind. Damit wird eine Hierarchisierung von Diskriminierungsmerkmalen bzw. Betroffenengruppen verhindert. Der Fokus auf Gemeinsamkeiten bedeutet aber nicht, dass die Spezifika von Diskriminierungsformen und -erfahrungen der einzelnen Betroffenengruppen nicht mehr deutlich wahrgenommen werden.
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A USMASS UND E RLEBEN VON D ISKRIMINIERUNGSERFAHRUNGEN
AN
H OCHSCHULEN
Der Forschungsstand zu Diskriminierungserfahrungen und Diskriminierungsmechanismen an Hochschulen ist bisher noch überschaubar. Bisher liegen vor allem Umfragen vor, die sich mit Diskriminierungserfahrungen an einzelnen Hochschulen befassen (s.u.). Darüber hinaus gibt es Studien und Artikel, die spezifische Ausformungen von Diskriminierung wie z.B. Rassismus (Kuria 2015, Popal 2016), Sexismus (Chebout/Gather/Valentiner 2016, Feltes 2012) oder die fehlende Inklusion an Hochschulen (Klein 2016, Knauf 2013) untersuchen. Im Folgenden werden die Studien näher betrachtet und die Aussagen über das Ausmaß von Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen und deren Umgang mit Diskriminierung in den Blick genommen. In einer Studie an der Universität Duisburg-Essen (UDE) aus dem Jahr 2010 gaben von über 5.500 der befragten Studierenden 11 % an, selber Diskriminierung beobachtet zu haben (Müller/Kellmer 2011: 4). 3 % aller Befragten fühlten sich aufgrund ihrer nationalen Herkunft an der UDE schon einmal diskriminiert, und 11 % haben dies mindestens einmal beobachtet (ebd.: 2). Außerdem wurde festgestellt, dass die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts doppelt so häufig von weiblichen Studierenden berichtet wurde. 7,3 % der über 30-jährigen Befragten wurden aufgrund des Alters schon mindestens einmal diskriminiert. Aufgrund der Religion fühlten sich 12 % der muslimischen und jüdischen Befragten diskriminiert, 70 % aller Befragten können ihre Religion an der UDE wie gewünscht praktizieren (ebd.). Zu ähnlichen Ergebnissen in Hinblick auf die selbst erlebte Diskriminierung kommt die Umfrage an der Christian-Albrechts-Universität Kiel aus dem Jahr 2012, deren Stichprobe über 5.000 Studierende zählte (ungefähr 21 % der Studierendenschaft). 15,3 % der Teilnehmenden hatten schon mindestens einmal Diskriminierung erlebt (Heitzmann/Klein 2012: 125). 28,7 % haben bereits Diskriminierung beobachtet (ebd.: 126). Erstaunlicherweise denken trotzdem 90 % der Befragten, dass Diskriminierungen an der Hochschule (fast) nie oder eher selten vorkommen (ebd.: 125). Ein weiterer Widerspruch, auf den die Umfrage aufmerksam macht, ist, dass nur rund ein Viertel (25,1 %) der Befragten der Meinung ist, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts noch relevant sei, obwohl dies die von den Befragten am häufigsten erlebte oder beobachtete Art von Diskriminierungserfahrung war (Klein/Rebitzer 2012: 127). Knapp 13 % der Befragten, die sich als weiblich einordneten, wurden mindestens einmal auf Grund des Geschlechts diskriminiert. Betrachtet man die Reaktionen auf die erlebte Diskriminierung, so zeigt die Umfrage auf, dass die Befragten mit Diskriminierungserfahrung diese
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nur selten (1,3 %) gemeldet oder Hilfe oder Beratung in Anspruch (2,7 %) genommen haben (ebd.: 133). Die große Mehrheit der Befragten (84,8 %) kennt keine Beauftragten oder Beratungsstellen, an die sie sich als von Diskriminierung Betroffene hätten wenden können (ebd.). Auch die Umfrage an der Technischen Hochschule Mittelhessen aus dem Jahr 2014, die den Schwerpunkt auf Studierende mit »Migrationshintergrund« und internationale Studierende legt und an der sich insgesamt 1.362 Studierenden beteiligten, misst mit 11,3 % selbst erlebte Diskriminierungserfahrungen im unteren zweistelligen Bereich (Bleicher/Reijditsch et al. 2014: 39). 32,3 % der Befragten wurden hierbei in Bezug auf ihre Hautfarbe diskriminiert, 25,8 % wegen der Religion und 20,9 % aufgrund der Staatszugehörigkeit (ebd.: 133). Diese Umfrage gibt auch Hinweise auf die Verursacher_innen von Diskriminierung und belegt, dass Diskriminierung sowohl von Kommiliton_innen (63,5 %) als auch von Dozent_innen (45,3 %) ausgehen kann (ebd.: 137). Das bestätigt die schon in der Umfrage von Klein und Rebitzer gemachte Beobachtung, dass Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen sowohl von Mitstudierenden (41,9 %) als auch von Lehrpersonal (38,9 %) ausgehen kann (Klein/Rebitzer 2012: 133). Auch die Umfrage der TH Mittelhessen bestätigt die fehlende Unterstützung im Falle von Diskriminierung. Über die Hälfte der Befragten mit Diskriminierungserfahrungen wurden nicht durch andere Personen unterstützt (Bleicher/Reijditsch et al. 2014: 142). Eine aktuellere Umfrage aus dem Jahr 2016 zu Diskriminierungserfahrungen an der Universität Bielefeld, die sich an alle Statusgruppen der Hochschule richtete, kommt zu deutlich höheren Werten im Hinblick auf Diskriminierungserfahrungen. An der Umfrage beteiligten sich 1.393 Personen, davon 1.081 Studierende. Die Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass beinahe jede_r zweite Befragte (45,5 %) bereits Diskriminierung an der Hochschule erfahren oder diese beobachtet hatte (Berghan et al. 2016: 16). 45,4 % dieser Personen gaben an, schon einmal Erfahrung mit Diskriminierung oder ungerechter Behandlung gemacht zu haben, 23,9 % waren sogar mehrfach damit konfrontiert, und 3,3 % sind regelmäßig von Diskriminierung betroffen (ebd.). Der häufigste Bezugspunkt für Diskriminierung ist mit 33,7 % das Geschlecht, gefolgt von sozialer Herkunft (15,0 %) und finanzieller Lage (14,8 %) (ebd.: 19ff.). Auch das Aussehen (14,2 %), das Alter (13,9 %), die Migrationsbiografie (12 %) und die politische Orientierung (11 %) liegen in ihrer jeweiligen Häufigkeit noch über 10 % (ebd.). Befragte, die selbst Diskriminierung erlebten, sind nur selten aktiv gegen die Diskriminierung vorgegangen und etwa ein Drittel hat die Diskriminierung in der unmittelbaren Situation komplett ignoriert (ebd.: 25). So haben zwar etwa 46 % mit Kommiliton_in-
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nen/Arbeitskolleg_innen oder Bekannten in der Uni und knapp 50 % mit Familienangehörigen oder Bekannten außerhalb der Uni darüber gesprochen (ebd.: 39). Aber nur etwas mehr als 10 % der Betroffenen haben eine professionelle Stelle innerhalb oder außerhalb der Uni aufgesucht (ebd.). Auch im Rahmen der großen Betroffenenumfrage »Diskriminierungserfahrungen in Deutschland«, welche das Berliner Institut für empirische Integrationsund Migrationsforschung (BIM) 2015 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchführte, schilderten Betroffene in 650 Fällen Diskriminierungserfahrungen im Hochschulkontext (ADS 2017: 207).1 Betrachtet man die Merkmale, an die die Diskriminierungserfahrungen im Hochschulbereich anknüpfen, so handelt es sich vor allem um Diskriminierungserfahrungen anhand des Geschlechts und dort insbesondere um Diskriminierungserfahrungen von Frauen: Während diese Art von Diskriminierung in den meisten Teilen des Bildungsbereichs wie Schule und frühkindlicher Erziehung unterrepräsentiert ist, ist sie im Bereich der (Fach-)Hochschulen deutlich überrepräsentiert. Dies deckt sich auch mit den Beratungsanfragen an die ADS und an andere Antidiskriminierungsberatungsstellen, bei denen im Hochschulbereich vor allem Fälle in Anknüpfung an das Geschlecht gemeldet werden. Ebenfalls überrepräsentiert sind in allen Bereichen des Bildungswesens und auch in der Hochschule Diskriminierungen anhand der »sozialen Herkunft«, welche im Hochschulbereich vor allem an die eigene und die elterliche Bildung sowie die sozio-ökonomische Situation anknüpfen (ADS 2017: 301). Die Diskriminierungserfahrungen an der Hochschule äußern sich häufig einerseits als diskriminierend wahrgenommene schlechtere Bewertung von Leistungen und andererseits als Herabwürdigung und Mobbing. Die schlechtere Leistungsbewertung wird in der Hochschule vor allem aus Gründen der ethnischen Herkunft (30,8 %), der »sozialen Herkunft« (22,8 %), des Lebensalters (17,3 %, sowohl wegen zu niedrigen als auch wegen zu hohen Lebensalters) erlebt (ADS 2017: 305). Besonders dramatisch sind jedoch die Differenzen bezüglich des Geschlechts. Machen die Geschlechtsdiskriminierungen in der Schule noch 21,8 % bei jüngeren bzw. 25,4 % bei älteren Befragten aus, so steigt der Anteil von Geschlechtsdiskriminierungen in der Hochschule auf 41,4 % an, wobei vor allem Frauen (29,4 %) betroffen sind. Dies spiegelt sich auch in folgenden Aussagen wider:
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In der Betroffenenumfrage wurden insgesamt 14.764 selbst erlebte Diskriminierungserfahrungen ausgewertet (ADS 2017: 207). Näheres zur Methode der Studie und Gesamtergebnissen siehe ADS 2017: 204ff.
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»Im Übungsbetrieb meiner Universität wurde angenommen, ich hätte meine Hausaufgaben (Informatik, Programmieren) nicht selbst angefertigt, sondern dies durch einen (männlichen) Kommilitonen erledigen lassen und wurde daher erneut geprüft.« (Aussage Betroffenenbefragung) (ADS 2017: 307) »Mir wurde im Studium weniger zugetraut weil ich eine Frau bin.« (Aussage Betroffenenbefragung) (Ebd.: 306)
Bisher gibt es wenig Forschung zu Geschlechtsdiskriminierung in der Hochschule in Form schlechterer Leistungsbewertungen. In einer Untersuchung von Noten in der Vorbereitung des juristischen Examens und im Examen selbst wird festgestellt, dass Frauen trotz besserer Abiturnoten und unter Kontrolle der Vornoten sowie anderer Variablen schlechter abschneiden als männliche Studierende (Towfigh et al. 2014). Zudem zeigt sich die Hochschule im Hinblick auf die personelle Zusammensetzung immer noch als männlich dominierter Raum (Statistisches Bundesamt 2016: 24-25). Dies könnte mit dazu beitragen, dass vor allem Frauen von Diskriminierung anhand ihres Geschlechts in Form einer schlechteren Leistungsbewertung berichten (Beigang et al. 2017: 180). Auf die diskriminierenden Leistungsbewertungen in der Hochschule wurde von den Befragten in 36,2 % der Fälle gar nicht reagiert. Fast ebenso viele Personen (29,1 %) gaben an, der diskriminierenden Person bzw. Situation ausgewichen zu sein. Eine Reaktion gezeigt, die auf eine Verbesserung der eigenen Situation abzielt, also eine Beratung eingeholt (16,8 %), eine Beschwerde eingelegt (11,2 %) oder Klage eingereicht (2,4 %) haben dagegen nur insgesamt 22,8 % aller Betroffenen (ebd.). Geht es um Mobbing und Herabwürdigungen an der Hochschule, zeigt die Betroffenenumfrage auf, dass diese insbesondere im Zusammenhang mit der (zugeschriebenen) sexuellen Orientierung, dem Aussehen, der ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, der Religion und Weltanschauung und dem Alter stehen (ADS 2017: 309). Das Mobbing geht dabei- ähnlich wie auch bei den anderen Studien festgestellt wurde – sowohl von Dozent_innen (43,2 %) als auch von Kommiliton_innen (56,2 %) aus (ebd.). So schildert ein Betroffener: »Es geht in meinem Fall um Diskriminierung an der Uni, durch Mitstudent_innen; hierbei möchte ich betonen, dass es vor allem interessanterweise durch die Mitstudent_innen, also die eigene resp. etw. jüngere Generation, geschieht; die Dozent_innen sind nicht das Thema. Es handelt sich v.a. darum, dass ich als Person aufgrund meiner sexuellen Orientierung von den meisten Mitstudent_innen ausgeschlossen und gemieden werde.« (Zitat Betroffenenbefragung) (Ebd.: 310)
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Auch bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gehen immer wieder Beratungsanfragen aufgrund von Diskriminierungserfahrungen im Bereich Hochschule ein. Insgesamt waren es aber im Zeitraum 2013 bis 2017 nur circa 180 Beratungsanfragen, was vor allem damit zu tun hat, dass das Allgemeine Gleichbehandlungssetz (AGG) keinen Diskriminierungsschutz für Studierende bietet (s.u. Kapitel 4). Etwa jeweils ein Viertel dieser Beratungsanfragen betrafen Diskriminierungen wegen des Geschlechts (24 %) bzw. der ethnischen Herkunft (27 %) sowie in circa 20 % der Fälle wegen des Merkmals Behinderung (ADS 2017: 150). Die Beratungsanfragen betrafen Themen wie sexuelle Belästigung, Altersgrenzen beim Zugang zum Studium, fehlende angemessene Vorkehrungen, fehlende Barrierefreiheit bzw. die Verweigerung von Nachteilsausgleichen für Studierende mit Behinderungen sowie Benachteiligungen aufgrund des Tragens eines Kopftuches. Zudem ging es – wie auch in der Betroffenenumfrage des BIM herausgestellt (siehe oben) – immer wieder um abwertende Äußerungen durch Dozent_innen und Professor_innen sowie um als diskriminierend empfundene Benotung (ebd.: 153). In den Beratungsfällen, die bei nicht-staatlichen und staatlichen Antidiskriminierungsberatungsstellen eingehen,2 spielt der Bildungsbereich insgesamt eine große Rolle. Von den befragten Beratungsstellen gaben 23 % an, »oft« Beschwerdefälle aus dem Hochschulbereich zu erhalten, bei 40 % von ihnen war das »manchmal« der Fall (ADS 2017: 158). Einerseits wird von Belästigungen durch andere Studierende berichtet, die an die Herkunft oder Religion der Betroffenen oder an das Geschlecht der Studierenden anknüpfen. Bei Schlechterbehandlung durch Hochschullehrer_innen wird immer wieder berichtet, dass Studierende mit einer anderen Muttersprache als Deutsch, aber auch Studierende mit Kopftuch in ihren Leistungen schlechter bewertet würden. Dies zeigen auch folgende Zitate auf (ebd.: 158ff.): »Schlechtere Prüfungsergebnisse bei Nichtmuttersprachlern, erschwerter Zugang zu Promotions- und HIWI-Stellen, politisches und systemkritisches Engagement führt zu schlechteren Noten.« (Gleichbehandlungsbüro Aachen – Abfrage ADS 2017) »Wenn internationale Studierende aufgrund von Sprachproblemen etwas nicht verstehen, wiederholen deutsche Hochschulbeschäftigte mit den gleichen Worten, nur lauter, die Angaben – oder man spricht mit ihnen, als wären sie kleine Kinder.« (Beratungsstelle – Abfrage ADS 2017) 2
Die ADS führte Ende 2016 eine Befragung zu Beratungsfällen durch, an der insgesamt 45 staatliche und nicht-staatliche Antidiskriminierungsberatungsstellen teilnahmen (ADS 2017: 49ff.).
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»Diskriminierung aufgrund des Kopftuchs an der Hochschule: hierbei Verweigerung der Teilnahme an einer Klausur. Diskriminierung auch in Form von Beleidigung durch Plakate und Wandmalerei.« (Beratungsstelle – Abfrage ADS 2017)
Zudem wird auch immer wieder von der Diskriminierung von Trans_Studierenden berichtet, wie folgende Aussage verdeutlicht: »Studierende grenzen mit Unterstützung der Lehrperson eine transsexuelle Mitstudierende aus.« (Beratungsstelle – Abfrage ADS 2017). Auch das Alter von Studierenden kann zu Diskriminierungserfahrungen führen, wie dieses Zitat veranschaulicht: »Verweigerung von Studienkrediten, Promotionsstipendien und preiswerten Dienstleistungsangeboten, die Studenten jüngeren Alters zur Verfügung stehen« (Büro gegen Altersdiskriminierung – Abfrage ADS 2017). Diese Daten und Beispiele verweisen auf die Vielfältigkeit von Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen. Sie geben aber auch erste Hinweise auf Prozesse an Hochschulen, die mit Diskriminierungsrisiken behaftet sein können, wie Prüfungen, der Zugang zum Studium generell oder zur Studienfinanzierung, der Zugang zu Beschäftigung an Hochschulen (von studentischen Hilfskraftstellen bis hin zu Professuren), aber auch allgemein Lern- und Lehrsituationen und das Verhältnis der Studierenden untereinander. Auch das Projekt »Diskriminierungsfreie Hochschule – Mit Vielfalt Wissen schaffen« gibt viele Hinweise, an welchen Stellen sich Diskriminierungsrisiken festmachen lassen (Czock et al. 2012). So machen die Autor_innen dieser Studie Diskriminierungsrisiken u.a. dort fest, wo Informationen, Beratung und Unterstützung nicht für alle Personengruppen in gleicher Weise zugänglich sind und wo bei der Gestaltung von Prozessen besondere Bedarfe bestimmter Personengruppen wie beispielsweise Studierender mit Behinderungen, Trans_studierender oder älterer Studierender keine Berücksichtigung finden und in der Folge Zugangschancen bzw. Teilhabechancen ungleich verteilt sind. Ebenfalls anfällig für Diskriminierungsrisiken können Prozesse aufgrund mangelnder Regulierung oder infolge von Intransparenz und fehlender DiversityKompetenz bzw. Antidiskriminierungskompetenz der Akteur_innen sein, da auf diese Weise Einfallstore für das Wirksamwerden von Stereotypen entstehen und bestehende Ungleichheiten verlängert oder sogar verstärkt werden. Darüber hinaus können Verfahren der Auswahl, Vergabe und Besetzung von Studienplätzen, Promotionsstellen etc. aufgrund von Intransparenz, fehlenden Regelungen und mangelnder Diversity-Kompetenz seitens der Angehörigen von Auswahlgremien mit Diskriminierungsrisiken behaftet sein. Diese Ergebnisse legen nahe, dass institutionelle Diskriminierung (siehe nächster Abschnitt) auch an Hochschulen eine Rolle spielen kann und es daher zentral ist, diskriminierende Regeln und Routinen zu identifizieren (ebd.: 47ff.).
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In welchem Ausmaß genau Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen erlebt werden und welche Mechanismen wirkmächtig werden, lässt sich trotz diverser Studien aufgrund deren geringer Vergleichbarkeit und Nicht-Repräsentativität nicht vollständig erfassen. Allerdings zeigen die Daten auf, dass Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen kein Einzelfall sind. Dabei ist zu bedenken, dass einzelne Betroffene wiederholt Diskriminierung erleben. Auch Diskriminierungserlebnisse, die auf den ersten Blick nicht so gravierend erscheinen mögen – etwa Beleidigungen, Vorurteile oder herabsetzende Bemerkungen – können, wenn sie immer wieder erlebt werden, zu starken Belastungen führen (Nguyen 2013). In deren Folge können die Studienleistungen gemindert und kann die Gesundheit der Studierenden beeinträchtigt werden; mitunter wird gar das Studium abgebrochen. Auf die Auswirkungen von Diskriminierung verweist auch die oben genannte Betroffenenumfrage; diese bestätigt, dass Betroffene die erfahrene Diskriminierung als belastend empfinden (47 %), durch die selbst erlebte Diskriminierung misstrauischer werden (40,2 %) und insgesamt aufmerksamer gegenüber Diskriminierung werden (41,5 %)3 (ADS 2017: 337). Darüber hinaus verweisen die Umfragen an den einzelnen Hochschulen darauf, dass es bisher zu wenige Anlaufstellen für Hochschulangehörige im Falle von Diskriminierung gibt und Betroffene selten wissen, an wen sie sich im Falle einer Diskriminierung wenden können. Schließlich wird auf Grundlage der bisher vorliegenden Forschungsergebnissen der dringende Handlungsbedarf der Hochschulen deutlich, Diskriminierungserfahrungen ernst zu nehmen, sich mit diesen zu beschäftigen und den Diskriminierungsschutz zu stärken. Zugleich ist weitere Forschung zu Diskriminierungsrisiken und -erfahrungen an Hochschulen nach wie vor notwendig, um die Mechanismen von Diskriminierung an Hochschulen nachvollziehen und entsprechende Schutzstrategien entwickeln zu können.
R ECHTLICHE V ERPFLICHTUNGEN DER H OCHSCHULE ZUM D ISKRIMINIERUNGSSCHUTZ Vor dem Hintergrund der Diskriminierungserfahrungen, die an Hochschulen gemacht werden, und der aufgezeigten institutionellen Diskriminierungsrisiken stellt sich die Frage, welchen Diskriminierungsschutz Menschen haben, die an der Hochschule von Diskriminierung betroffen sind. Die folgende Betrachtung wird
3
Mehrfachnennungen waren bei der Frage nach den Auswirkungen möglich.
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sich diesbezüglich auf den Diskriminierungsschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz fokussieren.4 Hochschulen unterliegen in ihrer Funktion als Arbeitgeber den Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Daraus ergeben sich für sie verschiedene Verbindlichkeiten und Rechte. So müssen Hochschulen als Arbeitgeber nach § 12 AGG erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligungen ergreifen. Dieser Schutz umfasst beispielsweise präventive Maßnahmen wie Schulungen und Sensibilisierung. Auch muss die Hochschule das Personal über Rechte und Pflichten im Hinblick auf den für sie bestehenden Diskriminierungsschutz informieren. Kommt eine Diskriminierung vor, müssen Hochschulen im Einzelfall von Instrumenten wie Abmahnungen, Versetzungen, Kündigungen oder Unterbindungen Gebrauch machen. Zur Intervention gegen Diskriminierung müssen Hochschulen gemäß § 13 AGG eine Beschwerdestelle sowie ein Beschwerdeverfahren einrichten. Das AGG räumt allen Beschäftigten – also auch studentischen Hilfskräften, Auszubildenden oder Praktikant_innen – ein umfassendes Beschwerderecht in Bezug auf Diskriminierungen ein (siehe dazu auch Liebscher/Kobes 2010). Darüber hinaus haben Hochschulen nach § 5 AGG die Möglichkeit, positive Maßnahmen zu ergreifen. Positive Maßnahmen (Nachteilsausgleiche) sind kompensatorische Maßnahmen, um eine vollständige und effektive Chancengleichheit für alle Mitglieder der Gesellschaft zu gewährleisten. Positive Maßnahmen zielen demnach auf die Herstellung tatsächlicher Gleichstellung ab und sind für die Umsetzung eines effektiven Diskriminierungsschutzes unerlässlich. Beispiele dafür im Hochschulkontext können Mentor_innenprogramme für benachteiligte Zielgruppen oder gezielte Informationsangebote für benachteiligte Studierende sein. Während das AGG allen Beschäftigten an Hochschulen Diskriminierungsschutz bietet, bleiben Studierende von diesem Schutz in der Regel ausgeschlossen. Das AGG ist nur für Studierende an privaten Hochschulen anwendbar, welche zivilrechtliche Verträge mit den Studierenden abschließen. Darüber hinaus greift das AGG auch bei sexueller Belästigung von Studierenden im Hochschulkontext, auch wenn der Schutz nicht so umfangreich ist wie für die Beschäftigten der Hochschule (Kocher/Porsche 2015). Zwar findet das AGG bei öffentlich-rechtlichen Hochschulen über § 2 Abs. 1 Nr. 7 AGG Anwendung, der Bildung als Anwendungsbereich des AGG nennt, doch gibt es für den Bildungsbereich keine Rechtsfolgen. Studierende können da-
4
Personen, die keinen Diskriminierungsschutz nach dem AGG genießen, können diesen aber auch aus anderen Gesetzen wie beispielsweise dem Grundgesetz ableiten. Darauf wird an dieser Stelle nicht eingegangen.
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her – anders als betroffene Beschäftigte – nicht von diesem Diskriminierungsschutz profitieren und haben kein umfassendes, rechtlich verankertes Beschwerderecht in Bezug auf Diskriminierungen. Hochschulen können diese Schutzlücke aber durch eigene Richtlinien und weitere Maßnahmen schließen, wie am Ende des Beitrags erläutert wird.
P RAKTISCHE U MSETZUNG : B ESCHWERDESTELLEN NACH § 13 AGG AN H OCHSCHULEN Obwohl Hochschulen den oben genannten Verpflichtungen nach dem AGG unterliegen, ist nicht klar, ob sie diesen auch nachkommen. Dies liegt auch daran, dass weder die Antidiskriminierungsstelle des Bundes noch andere Stellen wie die Kultusministerien oder die Hochschulrektorenkonferenz die Aufgabe haben, ein Monitoring in diesem Bereich durchzuführen. So ist aktuell nicht bekannt, ob alle Hochschulen in Deutschland eine Beschwerdestelle gemäß § 13 AGG eingerichtet haben. Noch weniger ist bekannt, wie die vorhandenen Beschwerdestellen gemäß § 13 AGG ausgestaltet sind, ob Beschwerdeverfahren vorhanden sind und wie viele Beschwerden bei den Stellen eingehen. Auch stellt sich die Frage, ob Hochschulen ihre Beschwerdestellen auch für Studierende geöffnet haben, um so den Diskriminierungsschutz von Studierenden zu stärken. Um diese und weitere Fragen zu klären, hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes im Zeitraum vom 5. Juli bis 7. August 2016 eine standardisierte OnlineErhebung durchgeführt, bei der alle Hochschulen in Deutschland unabhängig von ihrer Art, Größe oder Trägerschaft kontaktiert wurden (ADS 2019).5 Zielgruppe der Erhebung der ADS waren zum einen die Hochschulleitungen, die als Vertretung der Arbeitgeberseite für die Einrichtung bzw. Benennung von Beschwerdestellen zuständig sind. Parallel dazu wurde eine kurze Befragung unter den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten und den Behindertenbeauftragten an den Hochschulen durchgeführt. Dadurch sollte insbesondere ermittelt werden, wie wichtige Interessenvertretungen die Zusammenarbeit mit und die Bekanntheit
5
Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse basieren auf der Erhebung der ADS bzw. der Publikation »Beschwerdestellen nach § 13 AGG an Hochschulen als Baustein von Diskriminierungsschutz. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung an Hochschulen und Empfehlungen zum Diskriminierungsschutz an Hochschulen«.
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der Beschwerdestellen beurteilen.6 An der Befragung der Hochschulleitungen haben sich rund drei von zehn der Eingeladenen beteiligt (29 %),7 in der Gruppe der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten haben 38 % und bei den Behindertenbeauftragten 32 % den standardisierten Fragebogen vollständig ausgefüllt (vgl. Tabelle 1). Aufgrund der Anonymität der Befragung lässt sich keine Aussage darüber treffen, ob von ein und derselben Hochschule sowohl die Hochschulleitung als auch die angeschriebenen Beauftragten teilgenommen haben. Ein Zusammenspielen der Antworten unterschiedlicher Zielgruppen auf Ebene einzelner Hochschulen ist dadurch nicht möglich und war bewusst nicht vorgesehen. Tabelle 1: Teilnahmequoten in den einzelnen Zielgruppen Hochschulleitungen
Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte
Behindertenbeauftragte
Anzahl Einladungen
408
496
250
Anzahl Teilnehmende
117
190
81
Teilnahmequote
29 %
38 %
32 %
Insgesamt ist es der ADS gelungen, ein breites Spektrum an unterschiedlichen Hochschulen zur Teilnahme an der Befragung zu motivieren. So sind in den drei Zielgruppen jeweils Hochschulen aus fast allen Flächenländern und Stadtstaaten vertreten. Zudem konnten verschiedene Arten von Hochschulen, also Universitäten, Fachhochschulen sowie Kunst- und Musikhochschulen, mit der Befragung erreicht werden. In dieser Hinsicht weicht die Verteilung in den Stichproben nur 6
An den Hochschulen, an denen es Frauen- bzw. Gleichstellungsbeauftragte sowohl für das wissenschaftliche als auch das nichtwissenschaftliche Personal gibt, waren beide Vertretungen zur Beantwortung der Fragen aufgerufen. Ebenso richtete sich die Befragung nicht nur an die Beauftragten für Beschäftigte mit Behinderungen, sondern (sofern vorhanden) auch an die Beauftragten für Studierende mit Behinderungen, da die Beschwerdestellen an manchen Hochschulen auch Letzteren offenstehen.
7
Das Ausfüllen des Fragebogens konnte von der angeschriebenen Zielperson auch an qualifizierte Mitarbeitende delegiert werden. Insbesondere im Falle der Hochschulleitungen ist davon auszugehen, dass von dieser Möglichkeit umfassend Gebrauch gemacht wurde. Da es sich um eine vollständig anonyme Befragung handelt, liegen keine Angaben über die genaue Funktion oder Stellenbezeichnung der Teilnehmenden innerhalb der Hochschule vor.
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geringfügig von der Verteilung in der Gesamtheit aller Hochschulen in Deutschland ab. In Bezug auf die Trägerschaft der Hochschule lässt sich feststellen, dass in den Befragungen, im Vergleich zur Verteilung in der Grundgesamtheit, staatliche Hochschulen gegenüber kirchlichen und privaten Hochschulen zum Teil deutlich überrepräsentiert sind. Was die Größe der teilnehmenden Hochschulen anbelangt, zeigt sich im Vergleich zur Gesamtheit der Hochschulen in Deutschland in allen drei Stichproben ein leicht erhöhter Anteil von mittelgroßen (zwischen 1.000 und unter 10.000 Studierenden) und großen Hochschulen (10.000 Studierende und mehr). Kleinere Einrichtungen mit weniger als 1.000 Studierenden haben sich dagegen nur unterdurchschnittlich an der Befragung beteiligt. Damit sind die Ergebnisse zwar nicht repräsentativ für die Gesamtzahl der Hochschulen in Deutschland. Durch die im Vergleich mit ähnlichen Befragungen8 erfreulich guten Rücklaufquoten und das Erreichen ganz unterschiedlicher Hochschulen liefern die Befunde aber einen umfassenden Überblick über die Situation der Beschwerdestellen an Hochschulen in Deutschland. Von den Hochschulleitungen, die sich an der Befragung beteiligt haben, gaben knapp sechs von zehn (58 %) an, dass es an ihrer Hochschule eine Beschwerdestelle nach § 13 AGG gibt (siehe Abb. 1). 37 % verfügen dagegen nicht über eine Beschwerdestelle, 5 % konnten oder wollten dazu keine Angabe machen. Es ist ein positives Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der befragten Hochschulen eine Beschwerdestelle eingerichtet haben. Dies ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass ein umfassendes Beschwerdemanagement vorhanden ist oder Beschwerden aufgrund von Diskriminierung effektiv bearbeitet werden, wie noch gezeigt werden wird.
8
In einer Befragung zu Diversity an Hochschulen von Buß und Buß lag der Rücklauf beispielsweise bei 22 % (Buß und Buß 2015).
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Abbildung 1: Beschwerdestellen nach § 13 AGG (Befragung der Hochschulleitungen, n=117) Gibt es an Ihrer Hochschule eine Beschwerdestelle nach § 13 AGG, bei der sich Beschäftigte beschweren können, wenn sie sich im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses aufgrund eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt fühlen? 100% 80% 60% 40% 20% 0% ja
nein
keine Angabe
An großen Hochschulen gibt es sehr viel häufiger eine Beschwerdestelle als an kleinen oder mittelgroßen Hochschulen. So gaben 84 % der befragten Einrichtungen mit mindestens 10.000 Studierenden an, eine zuständige Stelle benannt oder eingerichtet zu haben, während dies an kleinen Hochschulen nur bei 54 % und bei mittelgroßen Hochschulen bei 45 % der Fall ist. Dieser Zusammenhang zwischen der Größe der Bildungseinrichtung und der Existenz einer Beschwerdestelle zeigte sich auch in der Befragung von Buß und Buß (2015: 103). Damit geht einher, dass die teilnehmenden Fachhochschulen (im Gegensatz zu Universitäten) sowie die privaten bzw. kirchlichen Hochschulen (im Vergleich zu staatlichen Institutionen) seltener eine Beschwerdestelle eingerichtet oder benannt haben, da es sich dabei in der Regel um kleine bzw. mittelgroße Einrichtungen handelt. An diesen Hochschulen besteht also ein besonders großer Handlungsbedarf, was die Erfüllung der gesetzlichen Mindestanforderungen betrifft. An etwa einem Drittel der befragten Hochschulen, die über eine Beschwerdestelle verfügen, wurde die Beschwerdestelle in den Jahren 2006 oder 2007 und damit direkt nach Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im August 2006 eingerichtet bzw. benannt (34 %). Ein Viertel der Stellen (25 %) wurde in den Folgejahren zwischen 2008 und 2013 geschaffen und immerhin an 16 % der beteiligten Hochschulen gibt es erst seit sehr kurzer Zeit eine Beschwerdestelle, so dass Hoffnung besteht, dass auch in den nächsten Jahren weitere Hochschulen den gesetzlichen Anforderungen nachkommen und eine Beschwerdestelle nach § 13 AGG einrichten bzw. benennen.
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Diejenigen Befragten, an deren Hochschule es (noch) keine Beschwerdestelle gibt, wurden gefragt, aus welchen Gründen die Einrichtung bzw. Benennung einer zuständigen Stelle bisher nicht erfolgte. Am häufigsten verweisen die Hochschulleitungen darauf, dass andere Anlaufstellen an der Hochschule derartige Beschwerden entgegennähmen. Dabei handelt es sich entweder um einzelne Interessenvertretungen (insbesondere die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, die Schwerbehindertenvertretungen oder den Personalrat), die an der jeweiligen Hochschule die Aufgaben der Beschwerdestelle mit erledigen. Oder es wird darauf verwiesen, dass je nach Inhalt der Beschwerde verschiedene Ansprechpersonen zur Verfügung stünden. Damit gibt es an diesen Hochschulen zwar immerhin erste Anlaufstellen für von Diskriminierung Betroffene. Diese Stellen sind jedoch nicht offiziell als Beschwerdestelle nach § 13 AGG benannt und dadurch den Beschäftigten auch nicht als solche kommuniziert. Vergleichsweise häufig wird das Fehlen einer Beschwerdestelle auch damit begründet, dass vonseiten der Leitung kein Bedarf gesehen wird – sei es, dass bisher keine Beschwerden eingegangen sind oder Konflikte auf andere Weise geklärt werden konnten. An dieser Stelle muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass an manchen dieser Hochschulen möglicherweise auch deshalb noch keine Beschwerden eingegangen sind, weil die Betroffenen nicht wussten, an wen sie sich im Falle von Diskriminierung wenden können. Dass die Größe der Hochschule tatsächlich großen Einfluss darauf haben dürfte, ob eine Beschwerdestelle existiert oder nicht, zeigt sich auch in den Antworten auf die Frage nach den Gründen für das Fehlen einer solchen Stelle. So weisen einige Hochschulleitungen darauf hin, dass ihre Hochschule zu klein sei und deshalb entweder nicht über die entsprechenden Ressourcen verfüge, um diesem Erfordernis nachzukommen, oder aufgrund der geringen Zahl an Beschäftigten und Studierenden Probleme auf direktem Weg gelöst werden könnten. Auch dies ist als problematisch anzusehen, da auch an kleineren Hochschulen mit Diskriminierung zu rechnen ist und gerade an kleinen Hochschulen durch das Fehlen von Anonymität das Thematisieren von Diskriminierungserfahrungen besonders schwierig sein kann. Schließlich merkt ein Teil der Befragten an, dass die Einrichtung einer entsprechenden Stelle derzeit in Planung sei. Generell stehen die Beschwerdestellen nach § 13 AGG allen Beschäftigten der Hochschule offen. Dies schließt nach dem Beschäftigtenbegriff des AGG alle Arbeitnehmer_innen einschließlich Auszubildender, Praktikant_innen, arbeitnehmerähnlicher Personen und in Heimarbeit Beschäftigter, aber auch Bewerber_innen, ehemalige Arbeitnehmer_innen und in bestimmten Fällen auch freie Mitarbeiter_innen ein (vgl. § 6 AGG). Interessant ist, dass gut die Hälfte (52 %) der Hochschulen, die über eine Beschwerdestelle verfügen, angeben, ihre Beschwerdestelle nach § 13 AGG auch für Studierende geöffnet zu haben, obwohl keine
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rechtliche Verpflichtung dazu besteht. An diesen Hochschulen können sich daher Studierende, die keine Beschäftigte sind, an die Beschwerdestelle wenden, wenn sie Diskriminierungserfahrungen machen. Dieser hohe Anteil an Hochschulen, die ihre Beschwerdestelle gemäß § 13 AGG auch für Studierende geöffnet haben, ist aus der Sicht der ADS überraschend. Denn in der Regel müssen dafür auch die Beschwerdeverfahren entsprechend angepasst werden; zudem sollten universitätsinterne Richtlinien erlassen werden, welche diese Öffnung der Beschwerdestellen ermöglichen. Dies ist nach Wissen der ADS bisher aber nur an wenigen Hochschulen der Fall. So kann vermutet werden, dass die befragten Hochschulleitungen zwar davon ausgehen, dass ihre Beschwerdestellen nach § 13 AGG für Studierende geöffnet sind, in der Praxis aber keine entsprechenden Verfahren und Richtlinien dafür bestehen und somit die Beschwerdestellen auch von Studierenden nur schwer genutzt werden können. Nur knapp ein Drittel (31 %) der Hochschulen, an denen es eine Beschwerdestelle nach § 13 AGG gibt, hat auch ein geregeltes Beschwerdeverfahren – wie es im AGG vorgesehen ist – eingerichtet (siehe Abb. 2). An mehr als der Hälfte (56 %) wurde darauf verzichtet, 13 % treffen dazu keine Aussage. Damit ist an einem Großteil der Hochschulen mit Beschwerdestellen der Umgang mit eingehenden Beschwerden nicht verbindlich und transparent geregelt. Es ist dann in der Regel auch nicht verbindlich festgelegt, wer Zugang zur Beschwerdestelle nach § 13 AGG hat und ob die Beschwerdestelle tatsächlich auch Studierenden offensteht. Nicht vorhandene Beschwerdeverfahren sind insofern zu kritisieren, als die verbindliche Festschreibung von Abläufen sowohl der beJörg Laptopschwerdeführenden Person als auch den zuständigen Mitarbeiter_innen in der Beschwerdestelle Handlungs- und Rechtssicherheit gibt (Liebscher/Kobes 2010: 29). Transparente und bekannte Beschwerdeverfahren sind auch Grundlage dafür, dass alle an der Hochschule vorhandenen Beratungsstellen und sonstigen Einrichtungen, die bei Diskriminierungserfahrungen an der Hochschule von Betroffenen angesprochen werden, die Befugnisse und Aufgaben der Beschwerdestellen kennen, damit sie Fälle an diese verweisen und gut mit ihr zusammenarbeiten können.
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Abbildung 2: Festlegung eines Beschwerdeverfahrens (Befragung der Hochschulleitungen, n=68) Wurde bei der Einrichtung bzw. Benennung der Beschwerdestelle ein Beschwerdeverfahren festgelegt, in dem der Umgang mit eingehenden Beschwerden verbindlich geregelt wird? 100% 80% 60% 40% 20% 0% ja
nein
keine Angabe
In der konkreten Ausgestaltung der Beschwerdestelle nach § 13 AGG und des Beschwerdeverfahrens sind Hochschulen frei, da das AGG hier keine genauen Festlegungen trifft. So kann die jeweilige Hochschulleitung entscheiden, wo die Stelle innerhalb der Organisation der Hochschule angesiedelt wird. Am häufigsten wird im Rahmen der Befragung angegeben, dass die Beschwerdestelle in der Personalabteilung der Hochschule angesiedelt ist (25 %) (Abb. 3). An etwa jeder fünften der befragten Hochschulen (19 %) ist die Beschwerdestelle im Justiziariat untergebracht und in etwa genauso vielen Fällen (21 %) direkt bei der Hochschulleitung, also entweder bei der_dem Kanzler_in oder im Rektorat bzw. Präsidium. Damit ist in fast zwei Dritteln der Fälle die Beschwerdestelle auf Arbeitgeberseite angesiedelt.
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Abbildung 3: Ansiedlung der Beschwerdestelle in der Organisation der Hochschule (Befragung der Hochschulleitungen, n=68) Wo ist die Beschwerdestelle in der Organisation der Hochschule angesiedelt? Personalabteilung
25%
Rechtsstelle/Justiziariat
19%
Frauen-/Gleichstellungsbeauftragte_r
19%
Kanzler_in
15%
Rektor_in/Präsident_in
6%
An anderer Stelle
13%
Schaffung einer gesonderten… 0%
3% 20%
40%
60%
80%
100%
Dies ist insofern nicht verwunderlich, als es sich bei der Einrichtung bzw. Benennung der Beschwerdestelle um eine Pflicht der Arbeitgeber handelt. An den übrigen Hochschulen ist die Beschwerdestelle dagegen entweder bei den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten (19 %) oder an anderer Stelle (13 %) angesiedelt, also zum Beispiel bei Ombudspersonen oder Diskriminierungsbeauftragten. Nur in ganz wenigen Fällen (3 %) wurde nach Aussage der Hochschulleitung eine zuständige Stelle neu eingerichtet, also eine gesonderte Organisationseinheit geschaffen. Sowohl die Einrichtung der Stelle auf Arbeitgeberseite im Leitungsbereich bzw. der Verwaltung der Hochschule als auch die Ansiedlung bei etablierten Anlaufstellen für Arbeitnehmer_innen wie zum Beispiel der Gleichstellungsbeauftragten kann unter Umständen mit Problemen verbunden sein. Eine Ansiedlung bei der Hochschulleitung bzw. in der Verwaltung kann in Fällen, in denen die Benachteiligung von der Arbeitgeberseite ausgeht, beispielsweise dazu führen, dass eine objektive Aufklärung des Sachverhalts oder die Beseitigung einer festgestellten Benachteiligung gefährdet ist. Wird andererseits die Gleichstellungsbeauftragte oder die Personalvertretung als zuständige Stelle benannt, könnte es möglicherweise zu organisatorischen oder persönlichen Interessenkonflikten kommen. Insbesondere Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte werden häufig bei Diskriminierungserfahrungen angesprochen und sehen ihre Rolle vor allem in der Beratung der Betroffenen, so dass sie nicht gleichzeitig die Funktion einer neutralen Beschwerdestelle übernehmen können. In der Befragung der Frauen- und
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Gleichstellungsbeauftragten sowie der Behindertenbeauftragten an den Hochschulen gaben 35 % der Befragten an, dass sie als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte auch gleichzeitig Beschwerdestelle im Sinne des § 13 AGG sind. Bei den Behindertenbeauftragten sind es mit 16 % der Befragten deutlich weniger. Zu Problemen bei der Ausübung der beiden Ämter führt dies aber nach Aussagen der Befragten wohl in den wenigsten Fällen. Nur jede zwanzigste Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte (5 %), die gleichzeitig die Aufgaben der Beschwerdestelle übernimmt, sah sich deshalb schon einmal Interessenkonflikten ausgesetzt. Bei den Behindertenbeauftragten kann dazu aufgrund zu geringer Fallzahlen keine fundierte Aussage gemacht werden. Es ist aber insgesamt zu vermuten, dass die Doppelmandatierung auch deshalb kaum als Problem wahrgenommen wird, weil bisher nur sehr wenige Fälle (siehe unten) an die Beschwerdestellen gemäß § 13 AGG herangetragen werden. Obwohl die Doppelmandatierung bisher nicht zu größeren Erschwernissen führt, könnte die Einsetzung eines gemeinsamen Koordinierungsgremiums, in dem verschiedene Interessengruppen – also sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmervertretung – an der Hochschule vertreten sind und dem im Beschwerdeverfahren eine beratende Funktion zukommt, eine gute Form der Etablierung einer Beschwerdestelle sein (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013a: 24). Diese Lösung entspräche auch dem neutralen Charakter von Beschwerdestellen, da in einem solchen Koordinierungsgremium sowohl die Arbeitgeberseite als auch die betrieblichen Interessenvertretungen zu Wort kommen können. Danach gefragt, gibt immerhin gut ein Fünftel der befragten Hochschulleitungen (22 %) zu Protokoll, dass an ihrer Hochschule ein entsprechendes Gremium eingerichtet wurde (siehe Abb. 4). Dies ist insofern bemerkenswert, als diese Lösung mit einem Gewissen Aufwand verbunden ist – was wiederum ein deutliches Zeichen dafür ist, dass das Thema Diskriminierungsschutz an den entsprechenden Hochschulen sehr ernst genommen wird. Um zu verstehen, inwieweit das Instrument der Beschwerdestellen an den Hochschulen etabliert ist und wie es genutzt wird, wurde in der Befragung der Hochschulleitungen danach gefragt, wie viele Personen sich in etwa pro Jahr an die Beschwerdestelle wenden, um sich entweder nur zu informieren oder beraten zu lassen oder sich zu beschweren. Circa ein Viertel aller befragten Hochschulen (27 %) gab an, dass in der Regel niemand die Beschwerdestelle kontaktiert (siehe Abb. 4). Rund ein Fünftel (21 %) schätzt, dass sich pro Jahr durchschnittlich eine bis maximal fünf Personen an die Beschwerdestelle wenden, und etwa jede zehnte befragte Hochschule (9 %) vermutet, dass die Zahl der jährlichen Kontakte bei mindestens sechs Personen oder mehr liegt. Natürlich muss die Anzahl der Kontakte mit der Größe der Hochschule (und damit der Anzahl an Beschäftigten und
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Studierenden) ins Verhältnis gesetzt werden, da es an größeren Hochschulen mehr potenzielle Betroffene bzw. Interessierte gibt. Tatsächlich weisen die Ergebnisse darauf hin, dass an größeren Hochschulen tendenziell mehr Kontakte dokumentiert wurden. Insgesamt muss aber festgestellt werden, dass nur an knapp einem Drittel der befragten Hochschulen gesichert davon ausgegangen werden kann, dass die Beschwerdestelle zumindest ab und zu kontaktiert wird. Zudem fällt auf, dass jeweils circa ein Fünftel der teilnehmenden Hochschulen keine Angaben dazu gemacht haben, wie viele Kontakte und Beschwerden es durchschnittlich gab. Hier stellt sich die Frage, ob die Zahlen deshalb nicht bekannt sind, weil sie nicht dokumentiert werden, oder aus anderen Gründen nicht geantwortet werden konnte. Abbildung 4: Anzahl Kontakte und Beschwerdefälle (Befragung der Hochschulleitungen, n=68)
10%
1 bis 5 Personen
21% 7% 9%
6 Personen oder mehr
44%
keine Person
27% 21% 22%
weiß nicht
18% 21%
keine Angabe 0%
10%
20%
30%
40%
50%
Wie viele Personen haben seit Bestehen der Stelle eine formale Beschwerde eingereicht? Wie viele Personen kontaktieren pro Jahr durchschnittlich die Beschwerdestelle?
Auch die Antworten auf die Frage, wie viele offizielle Beschwerden seit Bestehen der Stelle eingereicht wurden, lassen vermuten, dass bisher an den meisten Hochschulen nur sehr selten von dem Beschwerderecht Gebrauch gemacht wurde (Abb. 4). Hier gibt ein Zehntel der Befragten (10 %) an, dass bisher eine bis maximal
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fünf Personen eine formale Beschwerde eingereicht haben, an 7 % der Hochschulen weiß man von mindestens sechs Personen oder mehr. 44 % der Befragten geben zu Protokoll, dass bisher keine Beschwerden eingegangen sind, und wiederum fast vier von zehn (38 %) haben dazu keine Angabe gemacht. Dabei lässt sich feststellen, dass der großen Mehrheit von Hochschulen, an denen bisher keine formale Beschwerde an die zuständige Stelle gerichtet wurde, eine kleine Zahl an Einrichtungen gegenübersteht, wo sehr intensiv vom Beschwerderecht Gebrauch gemacht wurde. Wenig überraschend handelt es sich bei den wenigen Hochschulen, an denen bereits Beschwerden eingegangen sind, in der Mehrzahl um Fälle, wo die zuständige Stelle schon vergleichsweise lange existiert. Damit stand hier nicht nur ein längerer Zeitraum zur Verfügung, in dem Beschwerden eingereicht werden konnten. Diese Stellen dürften in der Struktur der Hochschule auch schon besser etabliert und unter den Beschäftigten und ggf. Studierenden bekannt sein. Ebenso wenig verwundert es, dass es sich dabei vor allem um große Hochschulen mit mehr als 10.000 Studierenden oder zumindest mittelgroße Hochschulen handelt und somit das Beschwerdeaufkommen auch von der Größe der Belegschaft und der Anzahl der Studierenden abhängt. Aus der geringen Anzahl an gemeldeten Kontakten und Beschwerden sollte aber, wie oben schon dargestellt wurde, nicht geschlossen werden, dass Diskriminierung kein Thema an den Hochschulen ist. Das wird auch daran deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der befragten Hochschulleitungen (78 %) von Fällen wissen, in denen sich Betroffene an eine andere Anlaufstelle der Hochschule gewandt und von Diskriminierung berichtet haben. Am häufigsten wird berichtet, dass solche Vorkommnisse den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten geschildert werden (78 %; ohne Befragte, an deren Hochschule die Frauen- bzw. Gleichstellungsbeauftragten gleichzeitig Beschwerdestelle sind). Mehr als der Hälfte der Teilnehmenden (57 %) sind Fälle bekannt, bei denen sich die Betroffenen zunächst an die Personalvertretungen gewandt haben. Ebenfalls vergleichsweise häufig wissen die Hochschulleitungen davon, dass auch die Behindertenbeauftragten (35 %) sowie die Studierendenvertretungen (29 %) als erste Anlaufstellen im Diskriminierungsfall dienen. Gründe für die mangelnde Nutzung der Beschwerdestellen können zum einen die häufig fehlenden Beschwerdeverfahren sein oder auch der oftmals nicht vorhandene Zugang zur Beschwerdestelle für Studierende. Zum anderen könnte aber auch das Fehlen von einschlägigen Beratungsstellen (siehe unten), an die Betroffene von Diskriminierung sich wenden können, ausschlaggebend sein; diesen käme auch die Aufgabe zu, die Betroffenen bei ihrer Beschwerde zu unterstützen, wenn sie die Beschwerdestelle nach § 13 AGG in Anspruch nehmen. Um die Betroffenen erreichen zu können, muss die Beschwerdestelle zudem bekannt sein.
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Zwar geben die Hochschulen an, unterschiedliche Maßnahmen wie die Bekanntmachung der Beschwerdestelle auf der Internetseite der Hochschule, den Aushang von Informationen, den Versand der Informationen über E-Mail-Verteiler etc. zu nutzen, doch scheint dies nicht immer dem Ziel der hochschulweiten Bekanntmachung zu genügen. So stellten die befragten Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sowie Behindertenbeauftragten den Hochschulen im Hinblick auf die Bekanntheit der Beschwerdestellen nach § 13 AGG ein eher negatives Zeugnis aus. So sind nur rund ein Fünftel der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Ansicht, dass die Beschäftigten der Hochschule sehr gut (3 %) oder gut (18 %) darüber informiert sind, dass es eine Beschwerdestelle an der Hochschule gibt. Der Rest geht davon aus, dass die Kolleg_innen weniger gut (28 %) oder sogar schlecht (43 %) über die Möglichkeit einer Beschwerde bei der zuständigen Stelle Bescheid wissen. Unter den Behindertenbeauftragten fällt das Urteil nur wenig besser aus (sehr gut/gut: 28 %; weniger gut/schlecht: 60 %).9 Hier wird deutlich, dass die Hochschulen noch proaktiver als bisher werden müssen, um die Beschwerdestelle bekannt zu machen. Wie schon angedeutet, reichen Beschwerdestellen nach § 13 AGG nicht aus, um wirkungsvoll Diskriminierung an Hochschulen zu vermeiden und Diskriminierungsschutz sicherzustellen. Es wurde daher auch danach gefragt, ob die Hochschulen andere Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung ergriffen haben, unabhängig davon, ob bereits eine Beschwerdestelle vorhanden ist oder nicht (siehe Abb. 5). Fast alle befragen Hochschulen (89 %) haben andere bzw. weitere Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung ergriffen. An rund sieben von zehn Einrichtungen (72 %) gibt es nach Aussage der Hochschulleitungen Anlauf- oder Beratungsstellen wie zum Beispiel Gleichstellungsbeauftragte oder Personalvertretungen, die für von Diskriminierung Betroffene eine Erstberatung anbieten und ggf. an spezialisierte Antidiskriminierungsberatungsstellen verweisen. Diesen etablierten Beratungsstrukturen kann bei der Bekämpfung von Diskriminierungen im Hochschulbereich eine wichtige Rolle zukommen, da sie der erste Kontaktpunkt für die Betroffenen sein können und sie ggf. an die Beschwerdestelle verweisen können. Umso wichtiger ist es, dass die entsprechenden Personen über grundsätzliche Kenntnisse des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes verfügen, um Fälle von Benachteiligung erkennen und entsprechend reagieren zu können. An gut der Hälfte der Hochschulen (55 %) gibt es zudem Informationsmaterialien zum Thema Diskriminierungsschutz. Fortbildungen bzw. Schulungen dazu bieten 44 % der befragten Hochschulen an. Richtlinien zum Schutz vor bestimmten Formen von Diskriminierung wie zum Beispiel sexualisierter Belästigung gibt
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Jeweils fehlende Werte zu 100 %: weiß nicht/keine Angabe.
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es in der Hälfte der Einrichtungen (50 %), Richtlinien zum Schutz vor Diskriminierung generell etwas seltener (39 %). Es ist erfreulich, dass mehr als jede dritte befragte Hochschule Richtlinien zum Schutz vor Diskriminierung hat. Dabei ist aber davon auszugehen, dass es sich teils um Richtlinien handelt, die den fairen Umgang an der Hochschule regeln, nicht aber immer im Detail Beschwerdeverfahren und den konkreten Umgang mit Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen. Entsprechende spezifische Richtlinien gibt es nach der Erfahrung der Antidiskriminierungsstelle an wenigen Hochschulen (siehe unten Abschnitt 5). Immerhin ein Drittel der Hochschulleitungen (32 %) gibt an, dass für Betroffene die Möglichkeit besteht, im Diskriminierungsfall externe Beratungsangebote außerhalb der Hochschule kostenlos zu nutzen. Über eine eigene spezialisierte Antidiskriminierungsberatungsstelle verfügt nur gut ein Zehntel der befragten Hochschulen (12 %). Das heißt, nur an sehr wenigen Hochschulen gibt es bisher Antidiskriminierungsberatungsstellen, an die sich von Diskriminierung Betroffene im Hochschulkontext wenden können. Diese spezialisierten Beratungsstellen sind aber aus Sicht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein wichtiger Baustein, um Betroffene so zu stärken und zu unterstützen, dass sie sich überhaupt an die Beschwerdestelle nach § 13 AGG wenden können. Das Fehlen dieser spezialisierten Antidiskriminierungsberatungsstellen, welche auch in der Regel nicht durch eine Erstberatung zu Diskriminierung ersetzt werden können, ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass an vielen Hochschulen, die eine Beschwerdestelle geschaffen haben, bisher nur wenig Beschwerden eingereicht wurden.
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Abbildung 5: Weitere Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung (Befragung der Hochschulleitungen, n=117)
Jeweils fehlende Werte zu 100 %: nicht vorhanden, keine Angabe
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Positiv hervorzuheben ist, dass sich diese Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung häufig sowohl an die Beschäftigten als auch an die Studierenden richten. Dies gilt insbesondere für die Erst- und Verweisberatung, für Informationsmaterialien zum Thema Diskriminierungsschutz sowie für Richtlinien. Weitere Auswertungen zeigen zudem, dass Hochschulen ohne Beschwerdestellen auch seltener andere Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung ergreifen als Hochschulen mit Beschwerdestellen. Insgesamt ist es positiv, dass schon viele Hochschulen Beschwerdestellen nach § 13 AGG haben und auch sonst Maßnahmen zum Diskriminierungsschutz umsetzen. Die Befragung lässt es aber nicht zu, Genaueres über die Qualität der einzelnen Maßnahmen und ihre Reichweite – jenseits der Beschwerdestellen – auszusagen. Die große Diskrepanz zwischen der Zahl der Diskriminierungserfahrungen, die sich in den verschiedenen Umfragen zu dieser Thematik wiederspiegeln und der Zahl der eingegangenen Beschwerdefälle zeigt aber deutlich, dass die aktuellen Beschwerdestellen die von Diskriminierung Betroffenen nicht ausreichend erreichen bzw. nicht für Beschwerden genutzt werden. Aus der Sicht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes können Beschwerdestellen nur dann gut funktionieren, wenn es überhaupt möglich ist, an der Hochschule Fragen von Diskriminierung zu thematisieren. Diskriminierung muss als Phänomen ernst genommen werden und es muss erkannt werden, dass die Beschwerdestelle nur ein Teil der Antidiskriminierungsarbeit an der Hochschule ist, welcher durch weitere Maßnahmen wie z.B. spezialisierte Antidiskriminierungsberatungsstellen, Richtlinien, welche das Verfahren der Beschwerdestellen regeln, und auch gezielte Informationsarbeit flankiert wird.
H ANDLUNGSMÖGLICHKEITEN FÜR D ISKRIMINIERUNGSSCHUTZ
MEHR
Die Abfrage zu den vorhandenen Maßnahmen im Bereich Diskriminierungsschutz verdeutlicht, dass schon viele Maßnahmen und Bausteine von Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen vorhanden sind. Zentral dabei ist, dass diese Maßnahmen nicht losgelöst voneinander sind, sondern in ein übergreifendes Konzept bzw. eine Strategie von Antidiskriminierung (und Diversity) an der Hochschule eingebunden sind. Eine umfassende Diskriminierungsschutz-Strategie an Hochschulen sollte dabei darauf zielen, dass von Diskriminierung Betroffene ihre Rechte in Anspruch nehmen können und Hilfe und Unterstützung erhalten (zum Beispiel durch Verbesserung der Beratungs- und Informationsangebote). Darüber hinaus sollte
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die Strategie es ermöglichen, Diskriminierungsrisiken – insbesondere die institutionellen und mittelbaren – sowie Barrieren zu identifizieren, die die Ausübung gleicher Rechte behindern, und aktive, kompensatorische, sogenannte positive Maßnahmen durchzuführen, um Chancengleichheit und Gleichstellung zu erreichen. Die Diskriminierungsschutz-Strategie kann als ein Teil der übergreifenden Diversity-Strategie verstanden werden, da Diversity-Konzepte an Hochschulen nicht ohne einen Fokus auf Antidiskriminierung und Diskriminierungsschutz umgesetzt werden sollten. Nachfolgend werden sieben mögliche Bausteine der Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen vorgestellt, die aus Sicht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes relevant sein können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es, um eine Antidiskriminierungsstrategie umzusetzen, der Unterstützung durch die Hochschulleitung und die zentralen Entscheidungsgremien bedarf. Häufig gibt es Widerstände, da die Beschäftigung mit dem Thema Diskriminierung auch bedeutet, sich der Realität von Diskriminierung an der eigenen Hochschule stellen zu müssen. Zudem gibt es die Befürchtung, dass von Antidiskriminierungsmaßnahmen nur bestimmte Gruppen wie beispielsweise Studierende mit Migrationsgeschichte oder Frauen profitieren. Auch bei etablierten Stellen wie z.B. Gleichstellungs- oder Behindertenbeauftragten gibt es die Angst vor Verdrängung oder Schwächung. Darüber hinaus wird immer wieder das Argument ins Feld geführt, dass notwendige Ressourcen für Antidiskriminierungs- und Diversity-Maßnahmen nicht vorhanden seien. Wenn diese Widerstände angegangen werden und die Hochschulleitungen aktiv eingebunden werden, bestehen aber gute Chancen, eine Diskriminierungsschutz-Strategie zu entwickeln. Abbildung 6: Zentrale Bausteine der Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen
Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes
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Umfragen/Monitoring/Identifikation von Diskriminierungsrisiken Umfragen zu Diskriminierungserfahrungen von Studierenden bzw. allen Statusgruppen an einer Hochschule (siehe Kapitel 2) können dazu genutzt werden, mehr über das Diskriminierungserleben, die vorhandenen Diskriminierungsrisiken sowie die Nutzung von bereits bestehenden Beratungs- und Anlaufstellen zu erfahren. Die Ergebnisse der Umfragen helfen, Diskriminierungserfahrungen an der Hochschule sichtbar zu machen. Sie können dazu dienen, die Hochschulleitung und die Hochschulöffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, und bieten zudem eine gute Grundlage für die Entwicklung von Antidiskriminierungsmaßnahmen, da sie auch Hinweise auf Zielgruppen, die besonders in den Blick genommen werden sollten, geben können. Auch ein systematisches Diversity- bzw. Vielfaltsmonitoring über alle Statusgruppen an der Hochschule hinweg kann dazu beitragen aufzuzeigen, wo einzelne Gruppen von Studierenden bzw. Beschäftigen nicht ausreichend vertreten oder beteiligt sind. Zusätzlich kann die Auswertung von statistischen Ungleichheiten helfen, Diskriminierungsrisiken aufzudecken. So kann beispielsweise analysiert werden, ob spezifische Gruppen von Studierenden das Studium abbrechen, bessere Studienabschlüsse erzielen oder ob bestimmte Gruppen beim Zugang zu den verschiedenen wissenschaftlichen Karrierestufen schlechter abschneiden. Dazu können u.a. die Hochschulstatistik, Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks und Personalstatistiken herangezogen werden. Die Datenlage in diesen Statistiken fällt in Bezug auf die Diskriminierungsmerkmale allerdings sehr unterschiedlich aus. Während das Geschlecht und Alter und zum Teil auch soziale Herkunft, Behinderung und der Familienstatus erhoben werden, gibt es nur wenige zuverlässigen Daten zum Migrationshintergrund, zu Religion oder sexueller Identität. Hier können durch eigenes Diversity-Monitoring und Umfragen auf Basis von freiwilligen Selbstangaben Lücken geschlossen werden. Zudem sollten Hochschulen prüfen, ob die vorhandenen Routinen, Arbeitsprozesse und Maßnahmen in Schlüsselbereichen der Hochschule wie Studium, Promotion, Graduiertenverlauf/Karriereentwicklung, Beschäftigung, Berufsverlauf, Berufung und Campusleben mittelbare Diskriminierungsrisiken enthalten. Dabei kann z.B. in Bezug auf das Studium gefragt werden, ob alle Gruppen den gleichen Zugang zu Hochschule haben und wie die besonderen Lebenslagen z.B. von Studienbewerber_innen mit Behinderungen, Migrationsgeschichte etc. berücksichtigt werden.10
10 Im Rahmen des Projektes »Diskriminierungsfreie Hochschule« wurde eine Indikatorik entwickelt, die Hochschulen dabei unterstützen soll, Diskriminierungsrisiken in den einzelnen Schlüsselbereichen zu identifizieren (Czock et al. 2012: 65ff.).
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Vernetzung/Institutionalisierung Darüber hinaus ist es für die langfristige Institutionalisierung einer Diskriminierungsschutz- und Antidiskriminierungsstrategie an der Hochschule wichtig, diese als einen festen Bestandteil von Diversity-Maßnahmen oder einer übergeordneten Diversity-Strategie institutionell zu verankern. Dazu bedarf es einerseits entsprechender Ressourcen und andererseits der Schaffung von verantwortlichen Stellen in der Hochschule. Einige Hochschulen wie die Universität Duisburg-Essen oder die Hochschule Bremen haben eigene Prorektorate geschaffen, die sich dem Thema Diversity und Antidiskriminierung widmen. Andere Hochschulen haben Diversity-Beauftragte ernannt, bei denen das Thema angesiedelt ist, oder ihre Gleichstellungsbüros so erweitert, dass die Themen Diversity und Antidiskriminierung mit bearbeitet werden können. Dies ist aber immer nur möglich, wenn gleichzeitig auch die entsprechenden Ressourcen für diese Erweiterung zur Verfügung gestellt werden. Da es bei Antidiskriminierung um unterschiedlichste Themenbereiche wie Inklusion, Gleichstellung, Umgang mit Heterogenität und Konfliktbewältigung gehen kann, ist es wichtig, dass sich möglichst alle Akteur_innen, die sich mit Fragen von Diskriminierung an der Hochschule befassen, vernetzen und regelmäßig austauschen. Auch eine solche Vernetzung kann helfen, eine Antidiskriminierungsstrategie an der Hochschule nachhaltig zu etablieren. Die Vernetzung bietet zudem die Möglichkeit, leichter mehrdimensionale und intersektionelle Formen von Diskriminierung in den Blick zu nehmen. Personen, die selbst Diskriminierung erfahren (Studierende, Beschäftigte und Lehrende), sollten wo möglich in diese Vernetzung einbezogen werden, damit ihre Interessen und Bedürfnisse ausreichend berücksichtigt werden. Ein gutes Bespiel für eine solche Vernetzung ist der »Runde Tisch Gleichbehandlung und Antidiskriminierung« an der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule Aachen, der es sich, als breit aufgestelltes Aktionsbündnis, zum Ziel gesetzt hat, u.a. Fällen von Ungleichbehandlung, Diskriminierung, Mobbing und sexueller Gewalt entgegenzuwirken.11 Eine Arbeitsgruppe »Antidiskriminierung und Diversity«, an der Vertreter_innen unterschiedlicher Statusgruppen mitarbeiten, gibt es ebenfalls an der Evangelischen Hochschule Berlin. Dieser sensibilisiert zu Fragen von Diskriminierung und entwickelt Konzepte zum Diskriminierungsschutz an der Hochschule.12
11 Mehr zum Runden Tisch Gleichbehandlung und Antidiskriminierung an der RWTH siehe http://www.rwth-aachen.de/cms/root/Die-RWTH/Einrichtungen/EinrichtungenA-Z/~enu/Runder-Tisch/. 12 Mehr dazu siehe: https://www.eh-berlin.de/hochschule/hilfe-beratung-und-initiativen/ antidiskriminierung-und-diversity.html
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Ein Schritt in Richtung Institutionalisierung von Antidiskriminierungsmaßnahmen ist auch, diese an das Qualitätsmanagement der Hochschule anzubinden und in regelmäßig stattfindende Evaluationen einzubeziehen. Darüber hinaus bedarf es auch einer festen Einbindung von Antidiskriminierung und Diversity in die Lehre. Dazu bieten sich vielfältige Möglichkeiten an, etwa die Etablierung von entsprechenden Lehrstühlen, thematische Lehrveranstaltungen und Ringvorlesungen sowie die Ausrichtung von Fachkonferenzen. An der Hochschule Bremen wurde es Studierenden mit Projekten wie »Enter Science« im Bereich des forschenden Lernens ermöglicht, Diskriminierung zu erkennen und zu bearbeiten (siehe dazu auch Beitrag von Margrit E. Kaufmann in diesem Band). Beschwerdestelle nach § 13 AGG Wie oben dargestellt müssen Hochschulen als Arbeitgeber Beschwerdestellen nach § 13 AGG einrichten. Dieser Anforderung sind auch bereits viele Hochschulen nachgekommen. Es zeigt sich aber, dass bei vielen Beschwerdestellen nur selten Beschwerden eingehen (ADS 2019). Hochschulen müssen daher überlegen, wie sie die Beschwerdestellen bekannter machen können. So könnten Hochschulen z.B. jeden Beschäftigten bei der Neueinstellung über die Beschwerdestelle informieren oder Studierende im Rahmen von Erstsemesterveranstaltungen auf die Beschwerdestelle hinweisen. Auch sollte die Beschwerdestelle leicht auf der Website der Hochschule auffindbar sein und Beratungsstellen der Hochschule sollten im Falle von Hinweisen auf Diskriminierung an diese verweisen. Hochschulen sollten zudem prüfen, ob die vorhandenen Beschwerdeverfahren adäquat sind, bzw. transparente Beschwerdeverfahren entwickeln, sofern noch keine konkreten Verfahren vorliegen. Auch sollte überlegt werden, wo die Beschwerdestelle am besten in der Hochschule angesiedelt sein sollte, um den Sachverhalt ›neutral‹ zu beurteilen und Entscheidungen möglichst ›unabhängig‹ treffen zu können. Zudem sollten die bestehenden Beschwerdestellen nach § 13 AGG an allen Hochschulen durch den Erlass entsprechender Regelungen bzw. Richtlinien auch für Studierende geöffnet werden. Richtlinien zum Diskriminierungsschutz, Dienstvereinbarungen, und Leitbilder Wichtige Bausteine im Bereich von präventiven Maßnahmen, wie sie von Hochschulen nach § 12 AGG gefordert werden, sind der Abschluss von Dienstvereinbarungen und das Aufstellen von Verhaltenskodizes zum Diskriminierungsschutz, die allen Beschäftigten und Lehrenden ausgehändigt werden. So gibt es beispielsweise an der Hochschule Pforzheim einen »Ethik-Kodex« der Fakultät für Wirtschaft und Recht, nach dem jegliche Form von Diskriminierung nicht toleriert
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wird.13 Die Dienstvereinbarung »Konfliktbewältigung am Arbeitsplatz« schützt Beschäftigte der Hochschule Bremen vor Diskriminierung, Mobbing und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.14 Ähnliche Dienstvereinbarungen gibt es auch an anderen Hochschulen. Auch in Leitbildern lassen sich Antidiskriminierung und Diversity thematisieren. Im Leitbild der Hochschule Bochum wird u.a. betont, dass Diskriminierungsfreiheit ständig unter Beteiligung der Hochschulmitglieder auf Verbesserungsmöglichkeiten hin geprüft werden muss. Darüber hinaus können Hochschulen Richtlinien zum Schutz vor Diskriminierung erlassen. In der Regel betreffen diese aber wie gezeigt vor allem sexuelle Belästigung und sexualisierte Diskriminierungen (ADS 2017b; Kocher/Porsche 2015). Breiter angelegt ist die »Antidiskriminierungs-Richtlinie« der Hochschule Fulda, die alle Angehörigen der Hochschule vor Diskriminierung in Bezug auf die in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes genannten Merkmale schützt und das Verfahren im Fall von Diskriminierung detailliert festlegt.15 Auch die Universität Konstanz hat im Juli 2015 eine Richtlinie verabschiedet, die sich auf alle Statusgruppen bezieht und sich gegen sexistische Diskriminierung in Anknüpfung an das Geschlecht, die Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung, aber auch explizit rassistische Diskriminierung, Altersdiskriminierung und Diskriminierung aufgrund von Behinderung richtet. Die Richtlinie bestimmt die Formen von Diskriminierung, die an der Hochschule verboten sind, benennt zuständige Ansprechpartner_innen, Maßnahmen und Sanktionen.16 Antidiskriminierungsberatung Erleben Menschen Diskriminierung, benötigen sie in der Regel Beratung und Unterstützung, um gegen die erfahrene Diskriminierung vorzugehen oder aber auch nur um über sie zu sprechen. An dieser Stelle sollte eine spezialisierte Antidiskriminierungsberatung an der Hochschule vorhanden sein, an die sich Betroffene wenden können und die sie, wo nötig, auch in Beschwerdeverfahren begleiten kann. Solche Stellen gibt es beispielsweise mit der »Arbeitsstelle gegen Diskriminierung und Gewalt – Expertise und Konfliktberatung« (ADE) an der Universität Bremen;17 an der Technischen Hochschule Mittelhessen mit der »Beratungsstelle 13 Siehe: https://businesspf.hs-pforzheim.de/fakultaet/profil/unser_ethik_kodex/ 14 https://www.hs-bremen.de/internet/hsb/struktur/gleichstellungsstelle/gl/diskriminie rung/dienstvereinbarung_konfliktbew__ltigung_am_arbeitsplatz.pdf 15 Diese Richtlinie findet sich hier: https://www.hs-fulda.de/fileadmin/user_upload/Un sere_Hochschule/Diversitaet/01-2017_Antidiskriminierungsrichtlinie_18-5-2017.pdf 16 Die Richtlinie findet sich auf der Internetseite der Universität Konstanz: https://www. chancengleichheit.uni-konstanz.de/informationen-gesetze/sexuelle-belaestigung/ 17 Siehe dazu http://www.uni-bremen.de/ade.html
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für Studierende mit interkulturellen Konflikten«18 oder an der Universität Duisburg-Essen mit der Ombudsstelle für Studierende.19 Ebenfalls eine Antidiskriminierungsberatungsstelle für Studierende neu eingerichtet haben die Georg-AugustUniversität Göttingen20 und die Goethe-Universität Frankfurt am Main.21 Entsprechende Beratungsstellen können zudem Diskriminierungserfahrungen dokumentieren, als Fachstelle für Antidiskriminierung wirken und Fortbildungen zum Themengebiet anbieten. Darüber hinaus sollten auch an der Hochschule bestehende Beratungsstellen zum Thema Diskriminierung geschult werden, so dass sie Fälle von Diskriminierung erkennen und Betroffene an eine spezialisierte Antidiskriminierungsberatung weiterleiten können. Positiv ist beispielsweise auch das Vorgehen der Universität Köln. Dort gibt es Vertrauensdozent_innen an den einzelnen Fakultäten, an die sich Studierende bei Diskriminierungserfahrungen wenden können, diese unterstützen Betroffene und verweisen sie ggf. an einschlägige Beratungsstellen weiter.22 Ist es – beispielsweise an einer kleineren Hochschule – nicht möglich, eine eigenständige Antidiskriminierungsberatungsstelle an der Hochschule zu etablieren, so kann dort, wo es externe staatliche oder nicht-staatliche Antidiskriminierungsberatungsstellen vor Ort gibt, mit diesen kooperiert werden. Oder diese Stelle kann unterstützt werden, regelmäßig Beratungsstunden auf dem Campus anzubieten. Darüber hinaus sollten bestehende Beratungsstellen an der Hochschule – wie beispielsweise Beratungsstellen für Studierende mit Behinderung, Studienberatung und psychologische Beratung, Beratungsstellen der Studierendenvertretungen – so fortgebildet werden, dass sie Diskriminierung erkennen, eine Erstberatung leisten und die Betroffenen an spezialisierte Antidiskriminierungsberatungsstellen innerhalb oder außerhalb der Hochschule weiterverweisen können. Öffentlichkeitsarbeit/Fortbildung und Empowerment Schließlich bilden Öffentlichkeits- und Informationsarbeit sowie Fortbildung und Empowerment einen wesentlichen Bestandteil von Antidiskriminierungsarbeit an
18 Siehe dazu: https://www.thm.de/site/international/interkulturelle-oeffnung/beratungs stelle-fuer-studierende-bei-interkulturellen-konflikten.html. Derzeit sind darüber hinaus weitere Hochschulen wie beispielsweise die Hochschule Fulda dabei, entsprechende spezialisierte Antidiskriminierungsberatungsstellen einzurichten. 19 Siehe dazu: https://www.uni-due.de/de/studium/ombudsstelle/ 20 Siehe mehr dazu auf der Website der Universität Göttingen: https://www.uni-goettin gen.de/de/580846.html 21 Siehe https://www.uni-frankfurt.de/64199742/Studierende 22 Siehe https://www.portal.uni-koeln.de/8869.html
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Hochschulen. Nur wenn bestehende Angebote wie Beschwerdestellen und Beratungsstellen allen Statusgruppen bekannt und Studierende und Beschäftigte über ihre Rechte informiert sind, können sie auch entsprechend genutzt werden. Um die Beschwerdestelle nach § 13 AGG und Beratungsstellen, die bei Diskriminierungserfahrungen unterstützen, bekannt zu machen, bedarf es vor allem proaktiver Maßnahmen. So können die verschiedenen Angebote im Bereich Diskriminierungsschutz beispielsweise in Einführungsveranstaltungen und Orientierungswochen für Studierende vorgestellt werden, auf der Internetseite der Hochschule und in den sozialen Medien kann über die Angebote berichtet werden, aber auch im Einstellungsvertrag kann bei allen Beschäftigen auf die vorhandenen Maßnahmen hingewiesen werden. Auch Plakate und Aushänge in allen Fachbereichen können genutzt werden. Dabei ist es wichtig, auch Informationen in anderen Sprachen sowie barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Zugleich ist es notwendig, um Diskriminierung im Hochschulkontext zu vermeiden, das Wissen zu Diskriminierung, eigenen Vorurteilsstrukturen und möglichen Interventionsansätzen durch Fortbildungen von Lehrenden und Verwaltung zu stärken. Dazu bedarf es regelmäßiger, nach Möglichkeit verpflichtender Trainings und Schulungen für alle Statusgruppen der Hochschule. Diese sollten sich mit Themen wie Diskriminierung, Diskriminierungsschutz und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, aber auch Fragen von Diversity beschäftigen. Sinnvoll sind auch Anti-Bias-Trainings für Lehrende, bei denen es darum geht, sich eigener Vorurteile bewusst zu werden und für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen zu sensibilisieren. Andererseits müssen von Diskriminierung Betroffene darin gestärkt werden, Diskriminierung zu erkennen und ansprechen zu können. Für Studierende und Beschäftigte sollten daher auch Empowerment-Workshops angeboten werden, in denen eigene Diskriminierungserfahrungen thematisiert und Handlungsstrategien entwickelt werden können. Positive Maßnahmen Schließlich sind positive Maßnahmen (siehe oben) ein wichtiger Baustein, um Chancengleichheit zu fördern und Diskriminierung vorzubeugen. Hier stehen den Hochschulen zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, die an die vorhandene Diversität der Studierenden und Beschäftigten angepasst werden sollten. Mentor_innenprogramme können für unterschiedliche benachteiligte Zielgruppen entwickelt werden, die auch den Peer-to-Peer-Ansatz nutzen. Auch die Einführung einer Geschlechterquote bei der Besetzung von Selbstverwaltungsgremien und Berufungsausschüssen oder anderer Quoten für benachteiligte Gruppen beim Zugang zum Studium oder zu Qualifikations- und Ausbildungsstellen können die
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Chancengleichheit erhöhen. Im Hinblick auf die Nachteilsausgleiche sollte überlegt werden, diese nicht nur Studierenden mit Behinderungen zu ermöglichen, sondern auch anderen Gruppen von Studierenden zu eröffnen. So können beispielsweise Studierende mit Kindern oder anderen spezifischen Lebenslagen bei der Belegung von Seminaren vorgezogen werden, so dass es ihnen möglich ist, einfacher Studium und Familie zu vereinbaren. Internationale Studierende oder andere Studierende mit geringeren Deutschkenntnissen können mehr Zeit für das Schreiben einer Klausur erhalten. Um Diskriminierung bei der Bewertung von schriftlichen Prüfungen zu vermeiden, können diese anonymisiert werden, so dass kein Rückschluss auf den Namen der zu Prüfenden möglich ist. Zu den positiven Maßnahmen zählt auch, Barrierefreiheit zu gewährleisten. Dabei geht es einerseits um Themen wie die räumliche Barrierefreiheit, aber auch um die Frage von Assistenzen und Gebärdensprachdolmetschern, die Bereitstellung von Lehrmaterialien als barrierefreie elektronische Dateien für sehbehinderte Studierende, die Zulassung technischer Hilfsmittel etc. Jede Hochschule muss individuell entscheiden, an welchen Stellen sie bei der Antidiskriminierungsarbeit ansetzt und wie sie bestehende Maßnahmen, Angebote und Anlaufstellen integrieren kann. Ziel von Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen sollte es sein, ein Klima zu schaffen, in dem Diskriminierungserfahrungen offen angesprochen werden können, sie ernst genommen werden und adäquate Maßnahmen bestehen, um Abhilfe zu schaffen.
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Intersectionality Matters! Zur Bedeutung der Intersectional Critical Diversity Studies für die Hochschulpraxis M ARGRIT E. K AUFMANN
Abstract: Dieser Beitrag widmet sich dem Verhältnis zwischen Diversity-Theorie und aktuellen Diversity-Praxen an Hochschulen und möchte zum vermehrten Austausch zwischen Forschung und Praxis im Hochschulkontext anregen. Er zeigt, weshalb es für die Diversity-Forschung und für die Praxis intersektioneller Perspektiven bedarf. Die hier vorgestellten Intersectional Critical Diversity Studies befassen sich mit der Herausbildung von Diversität durch Diskriminierung und strukturelle Ungleichheit. Dabei geht es sowohl um das Dekonstruieren von Zuschreibungen und deren komplexen Wechselwirkungen sowie um das Erkennen von multiplen Faktoren der Ungleichmachung und Exklusion als auch um die Frage, wie über die Differenzbildungen hinausgehende Formen gelebter intersektioneller Solidarität möglich werden. Diversity Studies, die sich über die Analyse hinaus auf praktische Veränderungen ausrichten, werden mit einer (Hochschul-) Praxis unter dem Leitbild von Diversity als Gerechtigkeitsorientierung verbunden.
Keywords: Hochschule, Intersektionalität, Critical Diversity Studies, DiversityPraxis, alltägliche und strukturelle Diskriminierung, Diskriminierungsschutz, Solidarität, Lehr-Lern-Räume
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Intersektionalität ist nicht nur für Diversity-Forschungen ein grundlegendes Konzept, sondern auch für Diversity-Praxen, doch gibt es bislang noch kaum differenzierte Anwendungen und wenig Austausch zwischen Forscher*innen und Praktiker*innen. Dieser Beitrag1 bezieht sich auf den Austausch zwischen Forschungen und Anwendungen zu Diversity an Hochschulen und möchte die Leser*innen dazu anregen, diesen Austausch vermehrt zu suchen. Für die Praxis geht es mir darum, über ideelle und moralische Absichtserklärungen hinausführend Diversity als Demokratisierungs- und Gerechtigkeitsansatz umzusetzen, wofür ich mit Bezug auf die Critical Diversity Studies (Kaufmann 2016a, 2018) eine Orientierungshilfe geben möchte. Zunächst werde ich auf unterschiedliche Begriffe und Vorstellungen von Diversity in Forschung und Praxis eingehen und im Anschluss daran die aktuelle Situation im Umgang mit Diversity an den Hochschulen skizzieren. Bekanntermaßen bewegen sich diese mit ihren Diversity-Konzepten und Strategien vor allem im Spannungsgefüge zwischen ihren Bestrebungen, im (internationalen und nationalen) neoliberalen Wettbewerb oben zu stehen, und ihrem gesellschaftlichen Bildungsauftrag, der das Ermöglichen von Bildungsgerechtigkeit und das Fördern demokratischer Prozesse mit Sicht nach unten impliziert. Um den hohen Stellenwert, der an den Hochschulen gegenwärtig der Demokratisierung und Bildungsgerechtigkeit zukommt, zu betonen, führt beispielsweise die Hochschulrektorenkonferenz (HRK 2018) unter den »Eckpunkte[n] zur Rolle und zu den Herausforderungen des Hochschulsystems« die Punkte 5: »Bildungsauftrag und Stärkung des Dialogs« sowie 8: »Förderung und Integration« auf. Dass es aber ganz und gar nicht selbstverständlich ist, Bildungsgerechtigkeit als Bildungsauftrag umzusetzen und auch die Diversity Policies entsprechend auszurichten, bringt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zum Ausdruck, indem sie sich dafür ausspricht, Diskriminierungsschutz und Diversity-Strategien an den Hochschulen miteinander zu verbinden (2014: 14). Für Diversity als Gerechtigkeitsorientierung sind jene Forschungsansätze maßgeblich, die mit dem Ziel, gerechtere Verhältnisse zu schaffen, die Herausbildung von Diversität durch alltägliche Diskriminierung und strukturelle Ungleichheitsbedingungen untersuchen. Mit ihren intersektionellen Perspektiven zeigen sie Formen von Mehrfachdiskriminierung in ihren gegenseitigen Bedingtheiten und Wechselwirkungen auf und dekonstruieren Vorstellungen homogener sozialer Gruppen. Sie fragen nach Zuschreibungen, Ausschlüssen, Positionierungen und darüber hinausgehend nach Formen gelebter Solidarität. Gestützt auf langjährige
1
Für ihre konstruktiv-kritischen Leseweisen bedanke ich mich bei Ayla Satilmis, Laura Otto, Rebecca C. Müller, Kim Annakathrin Ronacher und Lucyna Darowska.
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Forschungs- und Praxiserfahrungen – insbesondere als Wissenschaftliche Expertin für Diversity der Universität Bremen – übertrage ich in diesem Beitrag intersektionelle, machtkritische Forschungsansätze zu Diversity auf konzeptionelle Überlegungen für die Hochschulpraxis.2 Dabei werde ich sowohl auf die Organisationsebene eingehen als auch auf das Gestalten einzelner Diversity-Projekte mit intersektioneller Ausrichtung sowie auf ungleichheitssensible Lehr-Lern-Räume. Entgegen der wissenschaftspolitischen Schieflage des Verhältnisses von Theorie und Praxis möchte ich abschließend danach fragen, welche Konsequenzen sich wiederum aus der Praxis für die Theoriebildung ergeben.
1. D IVERSITY
IM
H OCHSCHULKONTEXT
»Diversity« ist, auch im Hochschulbildungsbereich, meist positiv belegt, wird weit mehr akzeptiert und kommt gefälliger daher als »Antidiskriminierung«. Doch was ist der Gegenstand und welche Konzepte dienen als Grundlage für die Praxisumsetzungen zu Diversity an den Universitäten? Wovon spricht wer, wenn sie*er Diversity sagt? Und in welchem Verhältnis stehen Diversity und Diskriminierungskritik zueinander? Zunächst lässt sich differenzieren zwischen »diversity« (kleingeschrieben, im Deutschen »Diversität«) als Phänomen, das beschrieben wird, und »Diversity« (großgeschrieben) als Konzept, einerseits als Analysekategorie der Diversity Studies, andererseits als Praxiskonzepte des Diversity Managements bzw. der Diversity Policies. Wird Diversität, wie im öffentlichen Diskurs, aber auch im Bildungswesen üblich, als Phänomen betrachtet und verhandelt, bleiben deren Entstehungsbedingungen meist ausgeblendet, hingegen wird der Erscheinungszustand, also dessen Leseweise, essentialisierend als feststehende Gegebenheit angenommen. Dies trifft in der Regel auch für Prozesse der Organisations- und Personalentwicklung an den Hochschulen zu. Im Unterschied zu den deskriptiven Zugängen gehen analytisch-dekonstruktive Forschungs- und Theoriekonzepte, auf die ich im nächsten Teil Bezug nehmen werde, von Diversität als Faktum aus – im wörtlichen Sinne als etwas Gemachtes, als Ergebnis von Differenzhandlungen
2
Hintergrund der »Expertise« sind meine soziale und kritische kulturwissenschaftlichethnologische Herkunft, die sich grundlegend nach ethischen und politischen Fragen ausrichtet (also danach, wem gut und zu welchen Zwecken verwendbar), sowie die kooperativen und kollaborativen Forschungs- und Praxiserfahrungen.
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(Fuchs 2007: 17). Dieses erneuert oder reproduziert sich ständig im Rahmen bestimmter Machtordnungen. Als spannungsgeladenes Zeitgeistdispositiv 3 reagiert Diversity, gerade durch die darüber scheinbar vereinten Antagonismen – insbesondere zwischen Antidiskriminierung und Profit – als Verharmlosungs- und Vertuschungsstrategie und soziales Korrektiv auf die zunehmende soziale Diversifizierung und ökonomische Ungleichheit (Kaufmann 2018, 2016b). In der deutschen Öffentlichkeit und Politik wird diversity, das Phänomen Diversität, gemeinhin mit den sechs im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 verankerten Kategorien assoziiert: »Rasse«4 »ethnische Herkunft«, »Geschlecht«, »Religion«/ »Weltanschauung«, »Behinderung«, »Alter« und »sexuelle Identität«. Das AGG dient dazu, in der Arbeitswelt und im Zivilverkehr vor Diskriminierungsfällen, die sich auf diese sechs Kategorien beziehen, zu schützen. Es fußt auf europäischen Richtlinien zur Antidiskriminierung; im Unterschied zu anderen Ländern fehlt hier jedoch ein adäquater Gesetzesrahmen gegen Diskriminierung und Benachteiligung im Bildungsbereich.5 An den US-amerikanischen Hochschulen hingegen hat die Gleichstellungspolitik infolge von Affirmative Action in den 1970er Jahren eine lange Tradition mit etablierten Vorgaben betreffs Zulassungen, Forschungsbereichen und Einstellungspolitiken (Ehmsen 2010: 5).6 Entsprechend gilt Diversity an den US-amerikanischen Colleges und Universitäten, aufgrund der historischen Verflechtung mit Gerichtsurteilen, als »besonders schützenswertes Allgemeingut« (Kaldewey
3
Als ›Dispositiv‹ bezeichnet Foucault (im Interview mit Grosrichar 1979, 119-120) ein Netz von heterogenen Elementen, das Gesagtes und Ungesagtes umfasst, unter denen es ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen gibt und dessen Hauptfunktion zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, strategisch auf einen Notstand zu antworten (mehr zu Diversity als Zeitgeistdispositiv s. Kaufmann 2018).
4
Den Begriff ›Rasse‹ zu verwenden ist Teil des Problems, da die Diskriminierungen sich auf rassistische Zuschreibungen aufgrund von Rassenkonstruktion beziehen.
5
Entsprechend bemüht sich die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Anlehnung an das AGG mit ausführlichen Berichten und der bereits zitierten Handreichung (2014) um die Umsetzung von Antidiskriminierungsmaßnahmen (siehe dazu auch den Beitrag von Nathalie Schlenzka/Rainer Stocker in diesem Band). Für die Hochschulen geht es hier im Sinne der Öffnung (gegenüber dem sog. Bildungstrichter) und Durchlässigkeit (gegenüber den Hürden und Glass Ceilings) v.a. um Maßnahmen für bessere Zugangsund Aufstiegsmöglichkeiten für Studierende und Mitarbeitende.
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Hier fällt der US Supreme Court auf Basis der entsprechenden Rechtsgrundlage zahlreiche Urteile v.a. hinsichtlich ethnischer und rassistischer Diskriminierung.
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2018: 6). Hier nimmt deshalb auch der Druck auf Einstellungsverfahren dahingehend stetig zu, (auch) führende Positionen mit PoC (People of Color) und LGBTIQ* (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual and Queer*) Personen zu besetzen.7 Gerade die hochkompetitiven höheren Bildungsinstitutionen veröffentlichen über Statistiken und Schaubilder zur ethnischen Zusammensetzung ihrer Studierenden und Lehrenden hinaus Zulassungsstatistiken, die nach Ethnizität und Geschlecht differenzieren, wobei sich Ethnizität auf US-Bürger*innen im Unterschied zu »international students« bezieht (ebd.). Davon, dass dadurch alle Gesellschaftsgruppen unter den Leitenden vertreten wären, kann aber auch in den USA noch keine Rede sein. So sind zum Beispiel noch immer 88 % der US-amerikanischen College-Präsident*innen weiß8 (Kempiners/Lemmens 2018). Auch an britischen Hochschulen können sich die Mitglieder auf verpflichtende Antidiskriminierungsrechte beziehen. Hier gibt der Race Relations Amendment Act von 2000 die Förderung von race equality als Gesetzespflicht für öffentliche Körperschaften vor. Deshalb haben alle Hochschulen die Pflicht, entsprechende Gleichstellungsrichtlinien und Aktionspläne zu verfassen (Ahmed 2011: 118). An deutschen Hochschulen fehlt es an vergleichbaren Richtlinien gegen Rassismus und das Aufrechterhalten weißer Suprematie, die Handlungsdruck erzeugen könnten. Dennoch bildet das AGG zusammen mit dem Grundgesetz den maßgeblichen Rückhalt für die Diversity-Prozesse an deutschen Hochschulen.9 Gesetzlich wird ein horizontaler Ansatz vertreten, wonach alle im AGG genannten Diskriminierungsformen gleichermaßen schutzwürdig sind (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014), doch in der Praxis kommt es sowohl zu bewusst gewählten als auch zu nicht reflektierten Priorisierungen. Während an den briti-
7
Für Kaldewey (2018) stellt sich bei Betrachtung der aktuellen Diversity-Studienproteste in den USA der Verdacht ein, »dass gängige Vorstellungen von Diversität gewissermaßen wenig konzeptionelle Diversität in sich selbst zulassen. So schreibt Robert Rhoads in einem aktuellen Beitrag zur US-amerikanischen studentischen Protestkultur einleitend über sein Vorgehen im Text: ›I pay particular attention to race and racial issues, but consider other aspects of diversity as well.‹ – Die anderen Aspekte klingen damit sehr nach ›unter ferner liefen‹.«
8
»Weiß« und »Schwarz« werden im Text, angelehnt an die deutsche kritische Rassismus- und Weißseinsforschung (Eggers et al. 2009: 13), beim Schreiben markiert, um zu betonen, dass es sich dabei um soziale und politische Kategorien handelt.
9
Laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014: 41) enthält das AGG bei öffentlich-rechtlichen Bildungsträgern allerdings gerade für die Studierenden keine Rechtsfolgen und ist nur an privaten Hochschulen anwendbar, da sie zivilrechtliche Verträge mit den Studierenden abschließen.
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schen und US-amerikanischen Hochschulen vor allem Race und Ethnicity im Fokus der Diversity-Programme stehen, ging in Deutschland im Zuge der EU-Richtlinien das Gender Mainstreaming dem Diversity Management voraus. Im deutschsprachigen Kontext haben sich Themen aus den Frauenbewegungen in den Gender Studies manifestiert, über die Gleichstellungspolitik an den Hochschulen institutionalisiert und in entsprechenden Förderprogrammen, wie dem Professorinnenprogramm zur Erhöhung des Frauenanteils unter den Professuren, etabliert. Die Diversity-Maßnahmen könn(t)en von diesen Erfahrungen lernen. Über die Verankerungen der Gender-Gleichstellung und die Unterstützung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinaus beziehen sich diese Maßnahmen vor allem auf Internationalisierung, Integration und Inklusion (Klein/Heitzmann 2012; Bender et al. 2013; Krempkow et al. 2014). Wobei sich die Inklusionsmaßnahmen auf die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 stützen, die an den Hochschulen vor allem hinsichtlich Zugang, Barrierefreiheit und Nachteilsausgleich umgesetzt wird (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014). Andere Benachteiligungsfaktoren nach AGG, wie die Benachteiligung aufgrund von Alter, bleiben unbeachtet. Auch sexuelle Orientierung und Weltanschauung10 sind eher selten Thema, ebenso zahlreiche weitere personenbezogene Diversitätsdimensionen, die im Bildungswesen wirksam werden, wie die unterschiedlichen Bildungswege, die Lerngewohnheiten, Interessensausrichtungen, der Rechtsstatus sowie vielfältige Formen der Vereinbarkeit, beispielsweise von Arbeit und Studium. Besonderes Augenmerk sollte in Diversity-Programmen der sozialen Herkunft zukommen, denn diese ist im deutschen Bildungssystem nach wie vor ein zentraler Benachteiligungsfaktor, der über Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten entscheidet. Es studieren noch immer lediglich 23 % in der ersten Generation, hingegen 77 % der Kinder aus Akademiker*innenfamilien (Urbatsch 2018). Benachteiligungs- und Diskriminierungsformen, die über die unmittelbare, auf Einzelkategorien bezogene Diskriminierung hinausgehen, werden in den Programmen kaum berücksichtigt. Somit bleiben Formen mittelbarer Diskriminierung, d.h. durch scheinbar neutrale Verhaltensweisen, Vorschriften und Regelungen evozierte sowie subtile Formen von Alltagsrassismus, weitgehend ausgeblendet. Dass vielfältige Formen von Mehrfachbenachteiligung und -diskriminierung in den Diversity-Programmen noch gar nicht thematisiert werden, hat damit zu tun, dass diese auch bei den Antidiskriminierungsvorgaben bislang kaum in den Blick genommen werden. Wenn an den deutschen Hochschulen von Diversity die Rede ist, wird darunter in erster Linie der Umgang mit einer sich diversifizierenden Studierendenschaft thematisiert und dabei Diversität als Konglomerat von Persönlichkeitsmerkmalen
10 An einigen Hochschulen wurden ›Räume der Stille‹ eingerichtet.
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verstanden (Beltz-Reihe »Diversity und Hochschule«, beginnend mit Klein/Heitzmann 2012; Wissenschaftsrat 2008, 2013; HRK 2013a, b). Denn in Deutschland begannen die Diversity-Prozesse nicht, wie in den USA, durch Forderungen aus den sozialen Bewegungen als Bottom-up-Prozesse, sondern vor allem Top-down vermittelt über das Hochschulmanagement, beispielsweise im Jahr 2010 über das Projekt »Vielfalt als Chance« und die Studierendenbefragung des CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) sowie das Projekt »Ungleich besser!« des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft mit seinem Auditierungsverfahren. Die Ausrichtung der Befragungen und Maßnahmen auf die Studierendendiversität – und vor allem auf den Zugang, das Lernverhalten und die Abschlüsse – betrifft jedoch nur eine Ebene von Diversity in Bildungsinstitutionen. Denn der Umgang mit Diversität – ob bewusst, gestaltend, fördernd, inkludierend oder alltäglich, unbewusst, institutionell – betrifft die ganze Institution mit ihren Strukturen, den Repräsentationsformen, den Handlungsweisen und Befindlichkeiten der Subjekte in allen sogenannten Statusgruppen, den komplexen Verbindungen zwischen diesen sowie alle Organisationsbereiche und deren Zusammenspiel, worauf ich im dritten Teil näher eingehen werde. In einem so umfassenden Ausmaß sind die DiversityProzesse an deutschen Hochschulen noch kaum angelegt (Kaufmann 2016a, b). Ein solcher Anspruch mag überfordernd wirken, es macht jedoch einen Unterschied, ob wir – im Wissen um die Begrenztheit der Umsetzungen – die Auswahlkriterien reflektieren und weitere Perspektiven mitdenken oder uns lediglich auf ein einzelnes Vorzeigeprojekt konzentrieren. Die meisten Hochschulen setzen Verantwortliche für das Thema in Gestalt von Pro-/Konrektoraten, Stabsstellen und Teams ein, auch beteiligen und sensibilisieren sie verschiedene Organisationsbereiche, zum Beispiel Lehrende, Beratende, Forschende, Personalverantwortliche und Mitarbeitende in der Verwaltung. Wer sich am Diversity-Audit des Stifterverbands beteiligt, entwickelt eine Organisationsstrategie zur Profilbildung. Inzwischen fokussieren einige die Verbesserung der Lehre im Zusammenhang mit dem Prozess der Hochschulöffnung (Rheinländer 2015, Buß et al. 2018, Kaufmann et al. 2018). Beim Vergleich von Diversity-Prozessen in Unternehmen und an Hochschulen stellt sich heraus, dass beide Seiten oftmals gerechtigkeits- und wettbewerbsorientierte Zielsetzungen miteinander verschränken, wenn auch unterschiedlich gewichten (Kaufmann 2016b). Diversity-Management-Strategien, die den sogenannten Business Case vertreten, versuchen Diversität als Potenzial nutzbar zu machen.11 So wird Diversität beispielsweise auch an den Hochschulen zur Image-
11 Der Ansatz der Diversity Policies versucht dem Imperativ ökonomischer Nutzenmaximierung zu entgehen (Bender et al. 2013), doch finden sich an den Hochschulen meist
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steigerung und Rekrutierung eingesetzt, und auch sie reagieren mit dem »Diversity Turn« (Ahmed 2011: 118) auf gesellschaftliche Transformationen, insbesondere auf die zunehmende Internationalisierung, den Bedarf nach Flexibilisierung sowie den Fach- und Führungskräftemangel. Mit dem sogenannten Equity Case geht es den Hochschulen um Bildungsgerechtigkeit, Sensibilisierung und die Öffnung für Studierende und Mitarbeitende aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Schichten, um die personelle Diversifizierung und um Formen der Dekolonisierung. Um zu zeigen, wie die Gerechtigkeitsausrichtung in Form intersektioneller, (mehrfach-)diskriminierungskritischer Praxen forschungsbasiert gestärkt werden kann, stelle ich im Folgenden den Theorie- und Forschungsansatz der Critical Diversity Studies vor, der nicht ohne intersektionelle Perspektiven zu denken ist (Kaufmann 2018, 2016a).
2. C RITICAL D IVERSITY S TUDIES UND I NTERSECTIONALITY Innerhalb der Studies, die diversity als Analysekategorie behandeln, gibt es viele verschiedene Richtungen. Exemplarisch möchte ich diese kurz vorstellen. Krell et al. (2007: 7) postulieren »Diversity Studies als integrierende Forschungsrichtung – oder auch Forschungsprogramm«, das verschiedene Disziplinen, im Fall des Sammelbandes Betriebswirtschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Ethnologie und Medizin an der Freien Universität Berlin, verbindet. Diversity Studies sind hiernach eine Art »Umbrella Concept«, wie es Benschop et al. (2010) nennen, wobei sich unter der Schirmmetapher sowohl verschiedene auf Diversity bezogene Forschungsrichtungen versammeln, wie die Gender Studies, Alter(n)sforschung, Interkulturelle For-
alle drei strategischen Paradigmen wieder, nach denen sich Diversity-Praxen laut Mecheril und Klingler (2010: 104) unterscheiden lassen – nur dass sie unterschiedlich gewichtet sind: Diversity als Rekrutierungsstrategie, die v.a. statistisch-demografisch argumentiert, als Effizienz- und Optimierungsstrategie, die ökonom(ist)ische Argumente anführt, und eben als Gerechtigkeitskategorie mit dem Ziel einer Veränderung der Gesellschafts- bzw. Organisationsverhältnisse. In Unternehmen wird Diversity derzeit meinen Forschungseinblicken zufolge vor allem in das Human Ressource Management eingebunden und für Strategien zur Arbeitskräfteanwerbung und Marktorientierung genutzt (Kaufmann 2016b).
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schungen, Migration und Postcolonial Studies, Antisemitismusforschung, Behindertenforschung, als auch die Forschung zu sogenannten Querschnittsthemen, wie die Vorurteils-, Ungleichheits- und Antidiskriminierungsforschung. Je nach ihren Herkunftsfachrichtungen akzentuieren Forschende unterschiedliche Schwerpunkte der Diversity Studies. Der deutschsprachigen »Diversitätsforschung« (Bendl/Hanappi-Egger 2015) ordnen sich vor allem Diversity-Organisationsforschungen zu. Seitens der Kulturwissenschaft bringt beispielsweise der Ethnologe Vertovec (2015) in seinem Handbuch »Diversity Studies« verschiedene disziplinäre Konzepte im Umgang mit historischen und gegenwärtigen sozialen Differenzen und den sie betreffenden gesellschaftlichen und politischen Dynamiken zusammen. Sein Konzept der »Super-Diversity« (2007) bezieht sich am Beispiel Britanniens vor allem auf die kulturelle Diversifizierung urbaner Zentren und die politische und rechtliche Gestaltung neuer Formen des Zusammenlebens. Dafür verwendet er (ebd.: 1025) den Terminus »diversification of diversity« (zitiert nach Hollinger 1995). Die Gender Studies haben bereits früh Verbindungen mit weiteren Differenzund Ungleichmachungskategorien herausgestellt und dabei Hierarchien, Differenzen und Gemeinsamkeiten sowohl zwischen den Geschlechtern als auch unter Frauen untersucht (Moore 1994). Die These der sozialen Konstruktion von Geschlecht (Beauvoir 1968, Butler 1991), bezieht sich auf diverse Gender- und Begehrensformen und geht mit einer konstruktivistischen Sichtweise auf weitere Diversitätskategorien einher. Ethnomethodologische Ansätze befassen sich mit der alltäglichen, interaktiven und situativen Produktion von Identität und Differenz. Wie Doing Gender (West/Zimmermann 1987), erweitert durch Doing Identity und Doing Difference (Fenstermaker/West 2002), analysiert auch das Konzept Doing Diversity (Kaufmann 2013) praxeologisch situative, interaktive Prozesse des Othering und Sameing als Anders- bzw. Gleichmachen sowie die Zuordnung, Ausgrenzung und Verwerfung hinsichtlich Identitäts- und Differenzkategorien und zeigt dabei, dass je nach Kontext unterschiedliche Dimensionen von Diversität benachteiligungsrelevant sind. Die Critical Diversity Studies als Ansatz, in dessen Rahmen ich arbeite, haben sich in den USA seit Mitte der 1990er Jahre in Reaktion auf die Vereinnahmung der Gerechtigkeitsansätze durch die Wirtschaft entwickelt (Benschop et al. 2010). Sie setzen sich aus den über die sozialen Bewegungen entstandenen dekonstruktiven Studienrichtungen zusammen, wie den Gender/Queer Studies, den Black Studies und Critical Race Theories. »They [Critical Diversity Studies] share at the core, a non-positivistic, non-essentialist understanding of diversity – as well as the socio-demographic identities subsumed under this
62 | Kaufmann term – as socially (re)produced in on-going, context-specific processes. Crucially, they underline how such processes and the resulting understandings both reflect existing unequal power relations within a given context and contribute to maintaining, resisting and/or transforming them« (ebd.: 9-10).
Critical Diversity Studies befassen sich mit den vielfältigen historischen Bezügen, den divergenten Auffassungen vom Begriff, den unterschiedlichen aktuellen Praxen und dem widersprüchlichen Einsatz (sowohl für Profite als auch gegen Diskriminierung), wie am Beispiel der Verwendung an Hochschulen verdeutlicht wurde. Der Hype, der derzeit um Diversity gemacht wird, aber auch seine inhärenten Widersprüche fordern dazu heraus, Diversity als spannungsgeladenes Zeitgeist-Dispositiv genauer nach seinen Bedeutungen zu befragen und zu untersuchen (Kaufmann 2018). Als herrschafts- und machtdurchdrungenes Netz diskursiver und nichtdiskursiver Elemente reagieren Dispositive auf einen gesellschaftlichen Notstand (Foucault 1978), als den ich im Fall von Diversity das soziale und ökonomische Auseinandergehen (Diver-sifizieren) der Zivilgesellschaft erachte (ebd.). Zur Analyse des Dispositivs befragen Critical Diversity Studies Theorie- und Forschungsansätze nach verschiedenen Formen der Ungleichmachung wie (Hetero-)Sexismus x Kolonialität x Rassismus x Weißsein x Klassismus x Ableismus x Bodyismus x Ethnizismus x Nationalismus x religiöse Diskriminierung x Altersdiskriminierung und decken auf, wie und wozu bestimmte Formen der Diversität im Kontext bestimmter Wissens-/Wahrheitsregimes und gesellschaftlicher Machtstrukturen hergestellt und (de-)stabilisiert werden. In Verbindung mit dem Ansatz der Intersektionalität setzen sie sich mit ineinander verschränkten, sich wechselseitig beeinflussenden Formen von Othering bzw. Sameing und Fragen der Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit auseinander (von mir angedeutet mit dem x). Solche Prozesse lassen sich ethnographisch aus einer intersektionellen Perspektive untersuchen, wobei es wichtig ist, für eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Komplexität und Kontingenz gesellschaftlicher Problemlagen einzutreten und die Unsicherheit der eigenen Interpretation, die Situiertheit und Parteilichkeit unserer Wissensproduktion anzuerkennen (Hess/Binder 2011: 52). Den kritischen Positionen geht es also nicht allein um die Analyse von Ungleichheitsverhältnissen, sondern vor allem auch um deren Aufhebung durch soziale, rechtliche und polit-ökonomische Praxen. Einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für die vielfältigen Critical Diversity Studies bilden die Subaltern Studies (Spivak/Guha 1988) in Verbindung mit den Postcolonial Studies (Said 1978, Spivak 1988, Abu-Lughod 1991, Bhabha 2000) und dem Projekt Social Justice (Young 1990, Fraser/Honneth 2003), die
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(sozialistisch-feministischen) Situated Knowledges (Haraway 1988), die (marxistischen) Black Feminist Studies (Combahee River Collective 1978, Davis 1983, hooks 1991) und der Ansatz der Intersectionality (Crenshaw 1989): Die Subaltern Studies (Spivak/Guha 1988) stellen den hegemonialen Klassen die Subalternität (nach Gramsci) gegenüber und wollen darauf gestützt Geschichte aus den Randpositionen heraus neu schreiben, d.h. den Perspektiven unterdrückter, nicht wahrgenommener, zum Schweigen gebrachter Gruppen und Subjekte Gehör verschaffen. Bei Social Justice (Young 1990) geht es um die Kritik an gesellschaftlichen Ausgrenzungen und Diskriminierung jedweder Art und um ein solidarisches Eintreten für gerechtere Gesellschaftsverhältnisse. Damit rücken die Vertreter*innen von der alleinigen Sicht auf einzelne identitätspolitische Bewegungen ab und fördern die Solidarität untereinander. Das Projekt Social Justice verbindet ein plurales Feld unterschiedlicher Akteur*innen und bezieht sich auf die Felder der Politik, Justiz, Ökonomie, der Menschenrechte, Frauenbewegungen, Antirassismus- und Jugendarbeit (Czollek et al. 2011). Um wissenschaftliche Objektivierungstendenzen zu vermeiden, stützen sich die Studies auf die Situated Knowledges nach Haraway (1988). Aus der Perspektive eines wissenschaftskritischen Socialist Feminism postuliert sie die Reflexion der eigenen Positionierung als Wissenschaftler*innen in bestimmten Traditionen und Kontexten und fördert das Bewusst- und Sichtbarmachen des Unmarkierten, bspw. weißer Privilegien, im Sinne einer Dekolonisierung der Gesellschafts-, Geschlechter- und Wissenschaftssysteme (Mignolo 2011, Lugones 2010). Die Dekolonisierung erfordert sowohl den Einbezug ausgeschlossener Wissensformen und Subjekte als auch die Kritik an Herrschafts- und Dominanzstrukturen (Kaufmann/Satilmis 2017). Intersectionality als komplexer, macht- und herrschaftskritischer Ansatz aus den marxistischen Black Feminist Studies (Combahee River Collective 1978) zeigt auf, dass sexistische Diskriminierung mit weiteren Diskriminierungsformen verwoben ist und dass es für deren Kritik nicht ausreicht einzelne Formen für sich zu betrachten. Dieser Ansatz, der sich aus den antirassistischen, antisexistischen, klassenkämpferischen sozialen Bewegungen in den USA bezogen auf die Trias Race – Class – Gender (Davis 1983) entwickelt hat, befasst sich mit Formen von Mehrfachdiskriminierung. Den Begriff der Intersectionality hat die Black-Feminist-Legal-Theoretikerin Crenshaw (1989) eingeführt, indem sie nachwies, dass die aufgrund von Affirmative Action erreichten Antidiskriminierungsgesetze gegen Rassismus und Sexismus gegen die spezifischen multidimensionalen Formen von Diskriminierung, wie sie Women of Color erleben, keinen Schutz bieten. Mit Bezug auf die Metapher einer Straßenkreuzung führte sie den Begriff der Intersektionalität ein, um
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die mehrfachen Gefährdungen sichtbar und einklagbar zu machen (ebd.: 149). Ihr Ansatz verdeutlicht, dass monokategorial angelegte Antidiskriminierungsrechte multidimensionalen Diskriminierungserfahrungen und deren komplexen Wechselwirkungen nicht gerecht werden können. Intersektionalität thematisiert Ungleichheiten und Benachteiligungen sowohl innerhalb einzelner kategorial zugeordneter Gruppen als auch zwischen ihnen. Gestützt auf den intersektionellen Ansatz von McCall (2005) und diesen erweiternd lassen sich zwecks Vereinfachung von Komplexität und Widersprüchlichkeiten vier verschiedene Forschungs- und Praxiszugänge zu sozialer Diversität ausmachen, die sich jeweils paarweise gegenüberstehen (Kaufmann 2018, Kaufmann/Satilmis 2018). Ich möchte bei dieser Darstellung deren jeweilige Bedeutung für den Umgang mit Diversität besonders hervorheben: kategorial _ antikategorial • Der kategoriale, konstruktive Ansatz (meist bezogen auf die Kategorien des AGG) zielt in der Praxis auf das Anerkennen von Pluralität und das Verhindern von Diskriminierungen. Diversitätskategorien werden betont, verglichen und addiert. Der kategoriale Ansatz birgt die Gefahr von Essentialisierung und Othering und dient zugleich der Anerkennung und dem Schutz von Diversity-Kategorien als Diskriminierungsanlässe auf Ebene der Rechtsprechung. • Der antikategoriale, dekonstruktive Ansatz zielt auf das Überschreiten und Infragestellen von Kategorisierungen, indem er diese de-konstruiert. Er lehnt die damit verbundenen Essentialisierungen, Stereotypisierungen und Gruppenzuordnungen ab. Für die Praxis beinhaltet der Ansatz eine Subjektorientierung, möglichst ohne Vereigenschaftlichungen und Othering. Zuweisungsprozesse werden infrage gestellt, Identitätspolitiken benötigen hingegen die Fremd- und Selbstzuordnung für Bündnisse. intrakategorial _ interkategorial • Der intrakategoriale Ansatz widmet sich Differenzen, Ungleichheiten und dadurch bedingten Benachteiligungen innerhalb von kategorial gesetzten Gruppen. Dieser Ansatz geht also von einer Kategorie aus und nimmt, entgegen Vorstellungen von homogenen kategorialen Gruppen, die inneren Differenzierungen und Interdependenzen in den Blick. Praktisch ordnen sich diesem Ansatz Maßnahmen zu, die beispielsweise Unterschiede unter Frauen als Interdependenzen thematisieren (Dietze et al. 2007), die Behinderung genderspezifisch lesen (Köbsell et al. 2010) oder gruppenspezifische Rassismuserfahrungen, beispielsweise unter »asiatischen Deutschen« (Ha 2012), hervorheben.
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• Der interkategoriale Ansatz als derjenige, der zumeist unter ›Intersektionalität‹
kursiert, analysiert die Verwobenheit und gegenseitige Bedingtheit kategorialer Zuordnungen und Ungleichheiten (Crenshaw 1989, Kaufmann 2002). Hierbei geht es um komplexe, situative Formen von Mehrfachdiskriminierung und -privilegierung und deren Wechselwirkungen, wobei in Verbindung mit dem antikategorialen Ansatz stets auf die machtvolle soziale Konstruktion von Kategorien Bezug genommen werden sollte, damit diese nicht erneut essentialistisch verwendet werden. In den Praxisfeldern greifen die vier Ebenen ineinander. Für die Forschung, aber auch für Diversity-Umsetzungen als Veränderungspraxen gilt es sich bewusst zu machen, auf welchen Ebenen wir uns bewegen. Für Diversity-Forschungen beinhaltet das Einnehmen intersektioneller Perspektiven über die Kritik an (essentialisierenden) Identifizierungen und Objektivierungen hinaus, Aushandlungsprozesse um Macht- und Identitätsformationen in den Blick zu nehmen (Bhabha 2000), um sie zu verändern. Auf diese Weise lässt sich auch das vorschnelle Gleichsetzen, Aneinanderreihen, Hierarchisieren und Ausblenden von Identitäts-, Zuschreibungs- und Diskriminierungsformen der Kritik unterziehen und vermeiden (Kaufmann 2002). Als Ansatz, der komplexe Ungleichheitsverhältnisse in ihren Wechselwirkungen auf verschiedenen Analyseebenen zu ergründen versucht, verweisen intersektionelle Perspektiven auf die Beschränktheit von monokategorial und/oder additiv angelegten Gesetzgebungen und Hochschulstrategien. Sie verweisen auf Grenzen der »inclusionary politics of diversity« (Nash 2017: 124) gegenüber den notwendigen Politiken gegen Unterdrückung.
3. K ONZEPTIONELLE B EDEUTUNG DIE H OCHSCHULPRAXIS
DER
S TUDIES
FÜR
»What does diversity do? What are we doing when we use the language of diversity? […] Strong critiques have been made of the uses of diversity by institutions and how the arrival of the term ›diversity‹ involves the departure of other (perhaps more critical) terms, including ›equality‹, ›equal opportunities‹, and ›social justice‹. […] we might want to be cautious about the appealing nature of diversity and ask whether the
66 | Kaufmann ease of its incorporation by institutions is a sign of the loss of its critical edge« (Ahmed 2012: 1).
Lässt sich das, was Ahmed hinsichtlich ihrer Forschung zu Race Equality an britischen und australischen Hochschulen festgestellt hat, dass nämlich der Einzug von Diversity an den Hochschulen mit dem Verlust an kritischen Konzepten einhergeht, verhindern, indem wir den Diversity-Gerechtigkeitsansatz der Studies auf Praxisumsetzungen an Hochschulen übertragen? Oder sollten wir mit anderen Begriffen arbeiten und auf Distanz gehen zum Diversity-Dispositiv? Lassen sich für die Praxis Strategien entwickeln, die auf den vorgestellten Konzepten basieren, neue Fragen an die Praxis stellen, Problembereiche benennen und konkrete Veränderungen bewirken? Oder wird jedweder kritische Impuls im Dispositiv entschärft oder gar aufgesogen? Bei meinen Übertragungsversuchen geht es zum einen darum, die Praxis unter der kritischen Perspektive wahrzunehmen und zu analysieren, was an unseren Hochschulen aktuell unter dem Begriff Diversity verstanden wird und welche Praxen sich damit verbinden. Zum anderen stellt sich mir die Frage, ob, inwiefern und unter welchen Bedingungen es einen Transfer aus den Kritischen intersektionellen Studien in die Praxis (im Sinne eines gerechteren Handelns) geben kann. Aus den vier vorgestellten Querschnittsorientierungen der Studies ergeben sich folgende Konsequenzen für die Diversity-(Hochschul-) Praxis: Die subalternen, marginalisierten Positionen sind für eine ungleichheitskritische Prozessgestaltung grundlegend. Sie einzubeziehen, ermöglicht ansatzweise soziale Öffnungen und Dekolonisierung sowie einen Bottom-up-Organisationswandel durch Partizipation und Empowerment. Es gilt also nicht nur die Studierenden in die Prozesse einzubeziehen, sondern besonders auf diejenigen Subjekte und Gruppen zu achten, die an den Rand gestellt sind, sich an der Uni fremd fühlen, es schwerer haben bzw. sich nicht einbringen können, deren Stimme nicht gehört oder zum Schweigen gebracht wird. Das Projekt Social Justice kann den Zusammenhalt stärken, weil es auf kategorienübergreifende Solidarität und Formen der Verteilungs- und Anerkennungsgerechtigkeit zielt. Demnach gilt es Verbindungen zwischen den einzelnen Fördermaßnahmen und Antidiskriminierungsbereichen an den Hochschulen zu schaffen. Dabei geht es auch um die Diversität, den Status und die existenzielle Sicherheit der Mitarbeitenden, bspw. ausgedrückt durch Stellenprofile, Be-/Entfristungen, niedrige Gehaltsklassen mit vielen halben Stellen und Aufstiegsmöglichkeiten.
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Ungleichheit wahrzunehmen und verringern zu können, setzt stets (Selbst-)Reflexion voraus, insbesondere zu weißer Positioniertheit, aber auch zu Definitionsmacht und Seilschaften. Sensibilisierungsworkshops können die Selbstreflexion fördern. Des Weiteren stellt sich die Frage der Dekolonisierung, d.h. ganz konkret die Frage nach dem Wahrnehmen, Anerkennen, Teilen und Abgeben von Privilegien, im Sinne von unhinterfragten Selbstverständnissen, Zugängen zu Stellen und Wahlmöglichkeiten sowie das Einsetzen der Privilegien für die soziale Öffnung der Institutionen. Die intersektionellen Perspektiven können durch ihre Kritik an monokategorialen, essentialisierenden Ausrichtungen unterkomplexe Zugänge und Ausrichtungen verhindern. Der antikategoriale Ansatz findet sich in subjektorientierten Praxen wieder, die Vereigenschaftlichungen ablehnen und Formen von Othering und Sameing zu vermeiden versuchen. Im Bereich Lehre-Studium geht es bspw. darum, möglichst zu vermeiden, Studierenden Diversitätskategorien zuzuschreiben, sie entsprechend einzugruppieren (Othering) und zu deklassieren, zugleich aber auch darum, differenz- und ungleichheitssensibel zu handeln. Im Bereich der Forschung geht es darum, die homosoziale Kooptation, das habitualisierte SelfCloning, bei der Auswahl von Mitarbeitenden zu unterbinden (Sameing), um mehr Diversität zu ermöglichen. Der antikategoriale Ansatz steht im Gegensatz zu den meisten Förderprogrammen, da sie sogenannte Zielgruppen adressieren. Dies verdeutlicht, dass es nicht darum gehen sollte, entweder kategorial oder antikategorial vorzugehen, sondern dass antikategoriale Reflexionen und Praxen mit kategorialen Ausrichtungen einander ergänzen können. Denn es bedarf beider Perspektiven, der antikategorialen Infragestellung von Zuschreibungen und (identitätspolitischen) Verortungen und der kategorialen Differenzsensibilität im Hinblick auf diskriminierende Praktiken, ohne die sich Diskriminierung nicht benennen und Diskriminierungsschutz nicht einklagen lässt. Denn bislang sind, wie beschrieben, Betroffene höchstens hinsichtlich kategorialer Formen von Benachteiligung und Diskriminierung geschützt (bspw. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014). Die Frage ist nun, wie der Diskriminierungsschutz Mehrfachdiskriminierung einschließen kann und sich auch Fördertöpfe intersektionell ausrichten lassen. Zudem sollten meines Erachtens antikategoriale Umsetzungen mehr Gewicht bekommen. Antikategorial verfahren auch jene Diversity-Praxen, die sich eher am Gemeinsamen als an Differenzen orientieren. Beides zugleich zu beachten, sowohl die Ausrichtung auf Gemeinsamkeiten als auch die auf Unterschiede, stärkt eine Diversitätsorientierung im Sinne von Social Justice. Wichtig scheint mir, nicht nur ein Loblied auf Vielfalt zu singen, sondern auch die soziale Ungleichheit im Blick zu behalten.
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Intrakategoriale Praxen thematisieren innere Differenzierungen innerhalb oftmals homogen vorgestellter kategorialer Gruppen. ›Frauen‹ werden beispielsweise unterschieden nach ›behinderten Frauen‹, ›muslimischen Frauen‹, ›Frauen mit Kindern‹, ›lesbischen Frauen‹ etc. Dieser Ansatz erweitert kategoriale Förderprogramme, indem er auf spezifische Bedürfnisse von Gruppenmitgliedern Bezug nimmt, bspw. auf Vereinbarkeiten von Studium/ Beruf und Familie, Pflege, Jobben, Ehrenamt etc. Allerdings werden die Kategorisierungen in der intrakategorialen Praxis, hier beispielsweise ›Frauen‹, nur diversifiziert und nicht antikategorial, im Sinne von LGBTIQ*, grundsätzlich geöffnet gedacht beziehungsweise infrage gestellt. Die Kategorie Geschlecht wird entgegen dem Forschungsstand der Gender Studies (Kaufmann 2004) in den Praxisfeldern, gerade auch im Zuge des Gender Mainstreamings, noch immer meist dual gedacht. Nur queere Ansätze und gendersensible Sprachformen (Gap und Star) halten hier dagegen. 12 Aus einer interkategorialen Perspektive lassen sich weitere Personen und Gruppen mit Vereinbarkeitsthemen einbeziehen. Damit können sich themen- statt identitätsbezogene Projekte ergeben, die über Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zusammenfinden, statt Differenzen zu betonen. Interkategoriale Praxen fragen nach den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Benachteiligungs- und Privilegierungsformen und nach dem, was aus dem Rechtsrahmen, den Strukturen oder den Bildern von Normalität herausfällt. Auf Subjekte bezogen geht es hierbei um das Wahrnehmen ihrer spezifischen Situation mit besonderem Blick auf diejenigen, die besonders benachteiligt sind und ungeschützt bleiben. So können Schwarze Studierende beispielsweise bei etwas für unsere Studiengänge Alltäglichem wie Feldforschung gänzlich andere Erfahrungen erleben als weiße, da die sogenannte Mehrheitsbevölkerung aufgrund mangelnder Auseinandersetzung mit rassistisch konnotierten Normalitätsbildern noch immer von einem Bild weißer Forscher*innen ausgeht. Für diese Studierenden ist der Zugang zu bestimmten Feldern der Gesellschaft erschwert, und wenn sie sich dennoch aktiv hineinbewegen, kann es zu unmittelbaren Rassismuserfahrungen kommen. In diesem Fall kommen zu den biografischen Diskriminierungserfahrungen und benachteiligenden Studienerfahrungen auch noch diskriminierende Forschungserfahrungen hinzu, die eventuell von den Lehrenden gar nicht als solche erkannt werden, sondern einfach zu schlechteren Bewertungen führen. Wenn dann noch weitere Diskriminierungsformen hinzukommen, beispielsweise die soziale Meidung durch Mitstudierende, die bei der Teamarbeit gute Leistungen erbringen wollen und sich deshalb mit ihresgleichen zusammentun, kann dies extreme Belastungssituationen zur Folge haben. Multiplen Belastungssituationen
12 Siehe die Beiträge von René_ Rain Hornstein sowie Alex Stern in diesem Band.
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ausgesetzt sind besonders geflüchtete Menschen, die studieren möchten, diejenigen also, die meist bereits Traumatisierungen erfahren haben. Für sie ist der Einstieg in die Gesellschaft und die Hochschulen durch strukturelle und bürokratische Rahmenbedingen erschwert, zudem haben sie meist Schwierigkeiten mit der Statusanerkennung, sind mit finanziellen Herausforderungen konfrontiert, haben kein vertrautes soziales Umfeld und müssen in kurzer Zeit eine neue Sprache erlernen. Auch hierbei geht es weniger darum, kategoriale Maßnahmen zu ergreifen, also Sondermaßnahmen für ›Geflüchtete‹, die sie isolieren, als darum, auf die Subjekte und ihre Bedürfnisse ausgerichtet Hilfestellung zu geben, indem sie sich in den Institutionen, vor allem aber in Fächern und Studierendengruppen, zurechtfinden und ›ankommen‹ können. Die trägen bürokratischen und rechtlichen Strukturen an den Hochschulen erschweren hierbei situationsadäquate schnelle Lösungen. Intersektionelle Perspektiven zielen, wie sich aus der Übertragung der Konzepte auf die Praxis folgern lässt, auf soziale Öffnungsprozesse durch mehr Chancengerechtigkeit, Antidiskriminierung, soziale Inklusion, Partizipation, Dekolonisierung und Demokratisierung ohne Fixierung auf einzelne Kategorien (Kaufmann/Satilmis 2018). Bezogen auf die Subjekte geht es um Partizipation, reflektierte Positionalität, Teilen von Privilegien und Empowerment. Wie lassen sich nun intersektionelle Diversity-Konzepte an den Hochschulen konkret anwenden? Für die Diversity-Praxis schlage ich ein exploratives, evaluatives Vorgehen in enger Kommunikation und Kollaboration mit den Beteiligten (Kaufmann/Koch 2015) sowie mit Bezug auf intersektionelle Organisationsforschungen (Kaufmann 2013) vor. Grundlegend für eine Gestaltung unter dem Gerechtigkeitsansatz sind die Explikation und Analyse der aktuellen Situation als Bestandsaufnahmen zu den Strukturen und den machtvollen und subalternen Akteur*innen. Dabei ist vieles zu bedenken und stets die Position und Positionalität der Fragenden und Gestaltenden mit zu reflektieren. Klar wirkende Praxiskonzepte, wie sie derzeit angestrebt werden, können der Komplexität von diskriminierungskritischen Ansätzen nicht gerecht werden.13 Weil es (gerade auch) an den Hochschulen viel um Machbarkeit und die Frage von Ressourcen geht, sind wir über die kritischen Perspektiven dazu angehalten, gut zu überlegen, was zu tun ist. Dies möchte ich im Folgenden mit meinen Fragen unterstützen, denn ich kann zum jetzigen Zeitpunkt eher Fragen formulieren, als dass ich bereits umfassende Antworten gegeben 13 Hierbei beziehe ich mich auf meine Erfahrungen in der Organisationsforschung und -beratung zu Diversity in Unternehmen und an Hochschulen. Dabei habe ich erlebt, dass häufig sehr schnell Leitbilder und Strategien formuliert werden sollen und daher die Zeit fehlt, sich intensiver auf Prozesse und Reflexionsebenen einzulassen. Von daher würde ich empfehlen, die Prozesse zu entschleunigen und zu intensivieren, denn die bewusstseinsbildenden Prozesse sind Teil der Ergebnisse.
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könnte. Die Fragen sind auch nicht als Leitfaden zu verstehen, sondern eher als Suchbewegung, an der sich alle Mitglieder beteiligen können – wobei aber Personen in Leitungspositionen stärker in der Verantwortung stehen. Auch die von mir forschungsorientiert auf das Praxisfeld Hochschule übertragene Unterscheidung zwischen der Befragung der Ebenen der Strukturen, Repräsentationsformen und Interaktions- und Handlungsweisen ist modellhaft, da die Ebenen konkret untrennbar sind und sich wechselseitig bedingen. Fragen zu den Hochschulstrukturen Hinsichtlich struktureller Rahmensetzungen geht es beispielsweise um die institutionelle Öffnung durch Einstiegsmöglichkeiten und flexible Studien- und Arbeitsmöglichkeiten, die Berücksichtigung struktureller Ungleichheit durch interne Barrieren und unsichtbare Glasdecken, Unterstützungsangebote, eine auf Diversität bezogene Gestaltung von Studiengängen, Lehr-Lern- und Forschungssettings. Hierzu stellen sich Fragen wie die Folgenden: Wie ist die Organisationsstruktur? Gibt es bereits ein Diversity-Konzept, wer hat es erstellt und was enthält es? Bezieht es sich auf Diskriminierungsschutz durch effektive Umsetzung von Antidiskriminierungsrechten, Gesetzen, Regeln, Einrichtungen, Maßnahmen und auf das Empowerment benachteiligter Personengruppen? Werden auch strukturelle, mittelbare und alltägliche Diskriminierungen identifiziert und einbezogen und wird versucht, Benachteiligungen aktiv auszugleichen? Gibt es dafür Beschwerdestellen, sind diese für Mehrfachdiskriminierung sensibilisiert und passt sich der Rechtsrahmen den Diskriminierungsformen an? Wird die Verantwortung für Diversity an einzelne Leitungspersonen und/oder sogenannte Beauftragte delegiert und damit abgegeben? Welche Personen und welche Bereiche sind daran beteiligt und wer entscheidet darüber? Fließen in die Gestaltungsprozesse Forschungsbezüge ein? Welche Dimensionen von Diversität haben sie im Blick, welche bleiben, gerade auch indem einzelne benannt sind, ausgeklammert und weshalb? Werden weiße Privilegien thematisiert? Welche Bedeutung kommt den hochschulübergreifenden Akteur*innen zu? Sind sie die treibenden Kräfte oder haben die einzelnen Institutionen Spielräume? Wie steht es mit dem Druck zur Profilierung versus kreative Profilbildung von innen heraus? Gibt es Spielräume für Bottom-up-Prozesse und Formen der Mitsprache? Wie können diese wiederum gebündelt werden? Wer achtet auf subalterne Positionen? Werden sie einbezogen? Sind sie vernetzt? Wo gibt es offenkundige Schranken und ausgesprochene Problembereiche und wo sind die unsichtbaren Glass Ceilings und nicht angetasteten Sticky Floors?
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Fragen zu den Repräsentationsformen Auch die vorherrschenden Repräsentationsformen – also wer wie durch wen repräsentiert wird beziehungsweise Definitionsmacht und Deutungshoheit hat – sind grundlegend für einen bewussten Umgang mit intersektioneller Diversität im Hochschulkontext. Ungleichgewichte in der Deutungshoheit bestehen beispielsweise zwischen den Geisteswissenschaften und den MINT-Fächern, zwischen den drittmittelstarken Forschungsbereichen und jenen, die sich vor allem der Lehre widmen, ebenso zwischen Forschenden und Verwaltungsangestellten. Leicht wird hinsichtlich der Repräsentativität von Diversity ersichtlich, dass in Leitungen und Professuren, aber auch im Mittelbau längst nicht alle AGG-Differenzkategorien überhaupt vertreten sind, und schon gar nicht aus intersektionellen Perspektiven. Die Repräsentationsformen zu Diversity lassen sich dahingehend befragen: Sind sie offen für demokratische Prozesse? Wer wird durch die Repräsentationsformen durch wen wie repräsentiert und wer bleibt dabei außen vor? Welche Kommunikationsplattformen gibt es und wer kontrolliert sie? Welche Bedeutung kommt hier Diversity zu? Werden konkrete Verhältnisse beschrieben oder geht es um Absichtserklärungen? Geht es vor allem um Repräsentationspolitiken, um Worthülsen und Preise? Werden vielfältige Personenkreise adressiert, z.B. auch verschiedene Sprach- und Symbolisierungsformen angewandt, und bleiben die Anrufungen geöffnet? Wer entscheidet darüber, ob diversitätssensible Sprachregelungen eingeführt werden, und darüber, für wen oder was sie sensibel sind? Sind alle Bereiche und Personen ausreichend informiert? Wird gesellschaftliche Vielfalt in allen Bereichen, auch in den oberen Positionen, repräsentiert? Geht es bezogen auf Gruppen sowohl um Trennendes als auch um Verbindungen? Wird dabei auf intrakategoriale und interkategoriale Verbindungen geachtet oder lediglich kategorial gedacht? Fragen zu den Interaktionsformen Diversitätssensible soziale Interaktionen sind sowohl für den Beratungsbereich als auch für die Kommunikation im Lehr-Lern-Forschungsgeschehen besonders zentral, betreffen aber jeden Bereich. Hierzu sollten wir uns m.E. darüber verständigen, was wir mit ›diversitätssensibel‹ meinen, und dies anhand von Beispielen aus der Praxis erarbeiten. Viele der Asymmetrien werden erst interaktiv im Rahmen des Wettbewerbs in Bildungsinstitutionen und des Umgangs damit erzeugt. Deshalb stellt sich zum Bereich der Subjektivierung, Interaktion und Agency innerhalb der Institution wiederum die Frage nach den Kommunikations- und Beteiligungsformen sowie nach nicht-hierarchischen Verbindungen und Beziehungen. Wird von einem ›niedrig hierarchischen‹ Organisationsklima und ›offenen Türen‹ gesprochen, kann sich bei näherer Betrachtung herausstellen, dass das Klima nur
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vermeintlich zugänglich und machtsymmetrisch ist, z.B. weil Ungleichheiten nicht ausgesprochen oder tabuisiert werden. Wie abhängig von den Professuren sind Mitarbeitende im sogenannten Mittelbau (Holderberg 2017)? Wie steht es um deren Prekarisierung (Scheller 2015)? Geht es um eine subjektorientierte, auf Benachteiligungen achtende Nachwuchsförderung? Werden bei Einstellungsverfahren über Gender und Behinderung hinaus weitere Benachteiligungskategorien berücksichtigt und wird dabei eine intersektionelle Perspektive eingenommen? Werden für beteiligende Diversity-Prozesse möglichst Vertreter*innen aller Statusgruppen der Organisation/Organisationseinheit einbezogen? Gibt es Verbindungen zwischen zentralen und dezentralen Akteur*innen, den Mitgliedern in Forschung, Lehre und Verwaltung? Mehrfachdiskriminierung lässt sich nur erkennen und es lässt sich ihr nur entgegenwirken durch das Wahrnehmen von Diversität innerhalb sozialer Gruppen (intrakategoriale Verbindungen) und zwischen ihnen (interkategoriale Verbindungen) und indem die verschiedenen mit Diversity und Diskriminierung befassten Abteilungen und Projekte sich gegenseitig wahrnehmen, sich miteinander vernetzen und einen intersektionellen Ansatz praktisch umzusetzen beginnen. Auch bei intersektionellen Perspektiven bleiben stets Bereiche und Personen(gruppen) ausgeblendet, werden Personen ausgegrenzt und/oder verletzt – und lernen wir ständig über unsere Fehler und Misslingendes. Für die Breitenwirkung sind die Dekanate der Fachbereiche maßgeblich, denn über sie verbinden sich die Mitglieder verschiedener Statusgruppen, Lehrende, Studierende, Forschende, Beratende und Verwaltende. Im Austausch miteinander wächst das Verständnis für die Einzelnen und deren Arbeitsfelder. An den Instituten kommuniziert sich der alltägliche Umgang mit Diversität in den Arbeitsfeldern und zwischen den Personen. An der Universität Bremen haben wir beispielsweise mit dem autonom gebildeten Netzwerk Antidiskriminierung, einem intersektionellen Zusammenschluss vieler Kolleg*innen aus der Diversitäts- und Antidiskriminierungsarbeit, mit rund 60 Mitarbeitenden und Studierenden einen Workshop zum Thema »Diskriminierung an der Uni Bremen – Was können wir dagegen tun?« durchgeführt. Wir haben zu der individuellen Handlungsebene, zu den sozialen Interaktionen und zu strukturellen und institutionellen Veränderungen gearbeitet (verschriftlicht von Ghaffarizad 2015). Dabei wurde auch unterschiedlichen Betroffenen-Berichten Raum gegeben, um auf spezifische Situationen und Bedürfnisse aufmerksam zu machen, dabei wiederum Differenzen und Gemeinsamkeiten auszuloten und dies diskursiv einzuordnen. Auch wurden Wahrnehmungs- und Veränderungsbedarfe bezüglich struktureller Benachteiligung formuliert, die in die zentralen DiversityProzesse einfließen sollten.
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Intersektionelle Praxen am Beispiel des Forschenden Lernens an der Universität Bremen Zentrale Interaktionsebenen unter der Perspektive von Bildungsgerechtigkeit sind an Hochschulen die Bereiche des Lehrens – Lernens – Forschens, die über das Forschende Lernen idealtypisch zusammengehalten werden (Kaufmann et al. 2018). Beim Forschenden Lernen ist Diversität auf vielen Ebenen wichtig, antikategorial gegen Zuschreibungen, intrakategorial beim Differenzieren bezüglich Benachteiligungen, Interessensausrichtungen, Kenntnissen, Möglichkeiten, im Hinblick auf Dekolonisierung und Privilegien und interkategorial durch vielfältige Formen der Zusammenarbeit, die auf Mehrfachbenachteiligung Rücksicht nehmen. Übergreifend ermöglicht das Forschende Lernen das (Er-)Öffnen von inhaltlichen, sozialen und ethischen Reflexionsräumen. Zur Stärkung der Solidarität und des Zusammenhalts in Lehr-Lern-Forschungsräumen leitet beispielsweise das Konzept des »Situated Learning« in der »Communitiy of Practice« (Lave/Wenger 1991) an. Dabei geht es um »learning by doing« (ebd.: 31) als situatives, wechselseitiges Lernen in Zusammenarbeit von Lehrenden, Lernenden, Forschenden, Forschungspartner*innen und Praktiker*innen. Beim partnerschaftlichen Lernen und Forschen finden Studierende früh den Einstieg in die fachlichen Communities, indem sie sich aktiv an der fachkulturellen Wissensproduktion beteiligen (Kaufmann 2018). Forschende und Studierende lernen sich über Forschendes Lernen näher kennen und werden sowohl für unterschiedliche Lern- und Forschungsbedingungen als auch für strukturelle Ungleichheitsfaktoren sensibilisiert. Erprobt und konzeptionell ausgearbeitet haben wir die Verbindung von Forschendem Lernen und Diversität in unseren miteinander verbundenen Projekten »Forschendes Lernen als Studiengangsprofil im Bachelor Kulturwissenschaft«, kurz FLASP, und »e n t e r s c i e n c e für Studierende aller Fachrichtungen«. Durch die Verbindung der Projekte sind viele Synergien entstanden. Beiden geht es um subjektorientiertes Arbeiten und das Öffnen und Unterstützen von Kommunikations- und Reflexionsräumen (Kaufmann/Satilmis 2016, 2018, Kaufmann/ Koch 2015). Dabei beziehen wir uns auf Kulturtheorien zum ›Dritten Raum‹ (Bhabha 2000, »Third Space«) und zu ›Transkulturellen Räumen‹ (Nadig 2006, bezogen auf Hochschulen Darowska et al. 2010). Das Projekt e n t e r s c i e n c e haben wir von Beginn an intersektionell und interdisziplinär ausgerichtet. Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen Geldern für Fördermaßnahmen in der Gender-Gleichstellung und solchen in anderen Kategorien, die mit Benachteiligung zu tun haben, haben wir den Rahmen von Geschlechter-Gleichstellungsmaßnahmen beibehalten und ihn intersektionell ausgedehnt. Zuerst haben wir, trotz aller Problematik, »Studierende mit Migrationshintergrund« adressiert. Die Hürden bei der Gestaltung intersektioneller Projekte
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werden also sowohl durch die Mittelgebenden gesetzt als auch hinsichtlich der Inhalte. Denn wir stoßen auch bei einer interkategorialen Ausrichtung auf bestimmte Grundprobleme: a) Projekte, welche die einen inkludieren, exkludieren dadurch die anderen; b) diejenigen, die mit dem Programm und den gesetzten Kategorien, etwa ›Frau‹ und ›mit Migrationshintergrund‹, adressiert werden, fühlen sich gegebenenfalls nicht angerufen, da sie selbst diese Kategorisierungen für sich ablehnen und explizite Frauenförderung trans*, inter* und gender-queere Personen ausschließt; c) diese Ansätze können suggerieren, dass weiblich konnotierte Personen und Personen mit Migrationsgeschichten Problemfälle seien, weil ihnen eine Sonderbehandlung zuteilwird. So stellt sich auch Diversity-Projekten mit intersektionellem Ansatz die Frage, wie wir Fördermaßnahmen umsetzen und in Richtung Anerkennung von Differenzen und Unterschieden praktizieren können, ohne zugleich diskriminierungsrelevante Unterscheidungen und Zuschreibungen zu reproduzieren. Um an der Öffnung der Institution zu arbeiten, sind klassische Trennungen, beispielsweise zwischen zentralen und dezentralen Organisationseinheiten und zwischen Beratung und Lehr-Lern-Geschehen, zu überwinden. Im Projekt e n t e r s c i e n c e entfernten wir uns gemeinsam mit den Studierenden von der Adressierung, die wir für den Einstieg und die Finanzierung brauchten, hin zur Selbstzuordnung und -befähigung. Es beteiligen sich dementsprechend Studierende aller Fachrichtungen aufgrund vielfältiger Belastungssituationen wie Unvereinbarkeit ihrer Lebens- und Studienbedingungen, Versagensund Prüfungsängste, Diskriminierungserfahrungen, aber mit einem gemeinsamen Interesse an der Projektausrichtung auf Partizipation und Gestaltungsräume. Mit seiner Orientierung an den Bedürfnissen der Studierenden, eingebettet in das Lehr-Lern-Geschehen und ausgerichtet am Forschenden Lernen, entwickelt sich das Projekt Bottom-up stets weiter und gibt zugleich ein Praxisbeispiel für das Bremer Leitbild für Lehre und Studium ab, das sich auf die Grundsätze des Forschenden Lernens, der Partizipation und der Vielfalt stützt. In unseren Lehr-Lern-Forschungsprojekten zu Critical Diversity und Intersectionality lassen sich vielseitige Aspekte von Diversität und Intersektionalität erproben und erlernen. Intersektionelle Diversität spiegelt sich ebenso in den Voraussetzungen, Bedingungen und Tätigkeiten des Lehrens, Lernens und Forschens wider wie in den spezifischen Kommunikations- und Beziehungsformen. Die Motivationen und Interessenlagen von Studierenden und Lehrenden sind ebenso divers wie die angewandten Lehr-Lern- und Forschungsmethoden, die Forschungsgegenstände und die Zielsetzungen (Kaufmann 2018: 177). In unserem DiversityModul beispielsweise ist Diversität Forschungsgegenstand, Thema der Lehre, methodisch-didaktisches Element und Grundlage einer differenz- und ungleichheitssensiblen gegenseitigen Wahrnehmung von Lehrenden und Studierenden. Dies
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fördert den bewussten Umgang mit persönlichen, fachlichen und statusmäßigen Unterschieden zwischen und unter Studierenden und Lehrenden. Ob, wie bei den vorgestellten Projekten, die Forschungsperspektiven aus den Diversity Studies in zentrale Prozesse einfließen können, hängt meist von einzelnen Akteur*innen in Leitungspositionen ab. Ob sich die Studies machtkritisch ausrichten, ist nicht nur eine forschungspolitische, sondern auch persönliche Entscheidung. Alle Mitglieder einer Organisation haben bei ihren alltäglichen Tätigkeiten im jeweiligen sozialen Umfeld Gestaltungsspielräume bei der Umsetzung des Gerechtigkeitsansatzes. Auch wenn die einzelnen Umsetzungen noch so klein und partiell sein mögen, lässt sich die Komplexität und Intersektionalität weiterführend mitdenken. Es ist erstaunlich, dass sich an unseren Hochschulen bislang so wenig Verbindungen und Synergien zwischen Diversity Management/Policies und den Forschungsbereichen abzeichnen. Insoweit wird bisher von Wissenschaft und Praxis auch kaum die Möglichkeit zum gegenseitigen Korrektiv in Anspruch genommen.
4. H ERAUSFORDERUNGEN UND K ONSEQUENZEN FÜR DIE T HEORIE Gegenwärtig droht an den Hochschulen die Gefahr, dass Diversity, gerade in der Verbindung mit Intersectionality, als Sparprogramm aufgefasst wird, das verschiedenste Personen und Gruppierungen und die vielfältigen Bedarfe der Institutionen bündelt, über einen Leisten schlägt und durch Dokumentationspolitiken befrieden soll. Auch gegenüber den Intersektionalitätskonzepten, die derzeit unter Akademiker*innen populär sind, werden zahlreiche Kritiken laut, beispielsweise gegenüber den Taktiken moralischer Standardsetzung für das Zusammenleben angesichts zunehmender sozialer Diversifizierung (Zander 2017). So können gerade auch die kritischen Gerechtigkeitsausrichtungen, symbolpolitisch eingesetzt, gemäß dem Dispositiv als Taktik zur sozialen Befriedung dienen. Dies zeichnet sich in meinen Hochschulforschungen ab und lässt sich durch Ahmeds (2011) Forschung mit Diversity-Praktiker*innen bestätigen. Ihr zufolge sind die kritischen, dekonstruktiven Konzepte nicht-performativ (ebd.: 17). Aber: Können wir uns mit der Kritik von Diversity und Intersectionality begnügen? Ist es aufgrund dieser Fragen und Erkenntnisse nicht umso wichtiger, an der institutionellen Öffnung zu arbeiten, Marginalisierte zu stärken und einzubeziehen? Zugleich helfen uns die kritischen Ansätze, die Begrenzungen unseres Tuns zu verdeutlichen, Überforderungen zu vermeiden, uns in Bescheidenheit zu üben gegenüber zu hohen Ansprüchen und in Geduld gegenüber der bürokratisch-
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institutionellen Veränderungsträgheit. Das forschungsbasierte Arbeiten an der Verständigung zu Diversity und an einer Aufmerksamkeit für die Gaps des Dispositivs (Kaufmann 2018) halte ich für die Praxis für höchst relevant. Die Vermittlung der Theorien fordert die Praxisarbeit dazu heraus, komplexere Verbindungen mitzudenken. Umgekehrt verweisen die Praxisbezüge auf einen Forschungsbedarf in der Gerechtigkeitsperspektive, gerade auch an den Hochschulen. Dabei gilt es die forschungspolitischen Prioritätensetzungen in den Blick zu nehmen, zum Beispiel die Interessenverflechtungen öffentlicher und privatwirtschaftlicher Entscheidungsträger*innen und Investor*innen (Fankhauser/Schöni 2013: 81). Nach dem Gerechtigkeitsansatz haben gerade die Hochschulen die Aufgabe, sich an den kolonialen Traditionen und der Kolonialität des Wissens abzuarbeiten und weiße Privilegien wahrzunehmen und aufzugeben beziehungsweise zu teilen. Die Praxisbezüge verweisen somit auf Grenzen der kritischen Studies, indem sie uns zeigen, dass die Dekonstruktion zwar für das Hinterfragen und die Analysen grundlegend ist, dass wir aber für soziale und institutionelle Veränderungen nicht bei der Kritik stehen bleiben können. Antikategorial und dekonstruktiv denkend, sollten wir dennoch die Wirksamkeit der Kategorisierungen in der Praxis nicht außer Acht lassen. Für Forschende ist es meines Erachtens immens wichtig, die Verbindung zur Praxis nicht zu verlieren. Es geht mir also mit diesem Beitrag auch um den Abbau von Berührungsängsten und Trennlinien zwischen den Studien und den Praxen. Theoretiker*innen könnten, statt Kolleg*innen abzuwerten, die anwendungsorientiert arbeiten,14 neue Formen der Zusammenarbeit anstreben. In diesem Sinne verstehen Benshop et al. (2010) die Critical Diversity Studies als Auftrag sowohl die Wissensproduktion zu hinterfragen und erneuern als auch andere Praxisformen zu entwickeln. »We argue that it is time for the critical literature to become more performative, explicitly dealing with stimulating social change. We suggest that, next to formulating critique, this literature moves towards ›reconstructive reflexivity‹, an engagement with alternative descriptions, vocabularies and voices to open up new avenues and lines of interpretations that produce ›better‹ research ethically, politically, empirically and theoretically (Alevson et. Al. 2008). From a ›critical performative‹ stance (Spicer et al. 2009), it would focus on examining and developing practices and interventions reflecting an affirmative, engaged and pragmatic ethos on diversity« (Benschop et al. 2010: 17).
14 Gegen die Trennung und Abwertung setzt sich in meinem Herkunftsfach, der Anthropologie, bspw. Sarah Pink (2006) mit dem Ansatz der »Applications of Anthropology« ein.
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Forschungsarbeiten können sich auf Formen gelebter Gerechtigkeit und den gesellschaftlichen sowie den institutionellen Wandel ausrichten und die Praktiker*innen stärken. Damit könnten sie gemeinsam zu verhindern versuchen, dass Diversity in Form von Dokumentationspolitiken und Lippenbekenntnissen, die ungleichen Bedingungen und vor allem die unmittelbaren Formen von Diskriminierung verharmlosend, der unternehmerischen Orientierung der Hochschulen dienlich ist statt ihren Mitgliedern. Auch Diversity-Auditierungen und Preise dienen vor allem den Symbolpolitiken und sind somit für Veränderungsprozesse förderlich und hinderlich zugleich. Sie treiben das Thema voran, bewirken, dass ihm mehr Aufmerksamkeit zuteilwird, doch Best Practice als Vorzeigemodelle von Oben verhindert das gemeinsame, spezifische Wachsen in den Institutionen durch Bottom-up-Prozesse. Für Veränderungsprozesse von innen ist das Lehr-Lern-Forschungsgeschehen zentral, und dies nicht schematisch, sondern in Gestalt geteilter sozialer und akademischer Erfahrungen in den Communities of Practice. Als Forschende der kritischen Studies, die aus den sozialen Bewegungen kommt, überkommt mich oftmals Scham, wenn ich wahrnehme, was aktuell unter dem Begriff Diversity im Sinne von Repräsentations- und Befriedungspolitiken präsentiert und was konkret getan wird. Dann frage ich mich, wie bereits zu Beginn meines Arbeitens mit dem Begriff (vor 15 Jahren zusammen mit der Leiterin des Paritätischen Bildungswerks Bremen e.V., Ulrike Brunken, wo wir ausloten wollten, inwiefern er über den Wirtschaftsbereich hinaus für soziale Felder und den Bildungsbereich angemessen sein könnte), ob ich ihn überhaupt noch verwenden kann. Diese auslotende Position im Zwischenraum möchte ich stets wahren, um aufmerksam zu bleiben für die Spannungsverhältnisse und Widersprüche des Dispositivs und meine eigenen Verstrickungen in diese. Mit Appadurai (2009) stimme ich darin überein, dass es wichtig ist, uns auch als Wissenschaftler*innen mit Begriffen wie Diversity zu beschäftigen, für die sich Personen mit viel Macht und Ressourcen derzeit besonders interessieren. Darüber hinausgehend sollten wir uns meines Erachtens einmischen. Einmischen bedeutet das kritische Denken durch Worte und Taten umzusetzen und dabei Ambivalenzen, Ambiguitäten und Widersprüchlichkeiten sowie die eigenen Grenzen und Unzulänglichkeiten wahrzunehmen und auszuhalten.
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»Uni, ö f f n e Dich!« Nachdenken über Diversität, Teilhabe und Dekolonisierung im Wissenschaftsbetrieb A YLA S ATILMIS
Abstract: Die Frage der Hochschulöffnung wird oft mit den Schlagworten Diversität und Teilhabe verknüpft, wobei die Verbindungslinien mitunter vage bleiben. Welche Dimensionen es bei Öffnungsprozessen in der Hochschulpraxis zu beachten gilt und wie Diversität und Teilhabe darin zu verorten sind, diesen Fragen widmet sich dieser Beitrag und blickt auch auf denkbare Dekolonisierungsprozesse. Zunächst geht es um die Bedeutungsvielfalt von Diversität im hochschulpolitischen Kontext und um Leerstellen im vorfindlichen Diversitätsverständnis; dabei wird Bezug genommen auf das Verhältnis von Diversität und Ungleichheiten im Hochschulraum. Der zweite Abschnitt beleuchtet die Hochschule als sozialen Raum und skizziert Schieflagen im Wissenschaftsbetrieb. Danach stehen Überlegungen für eine partizipative Wissenschaftspraxis und Demokratisierung der Hochschule im Mittelpunkt. Dabei wird auf internationale Debatten Bezug genommen, die dekoloniale Perspektiven für die Wissenschaft thematisieren.
Keywords: Hochschulöffnung, Diversität, Intersektionalität, Dekolonisierung, Partizipation, Demokratisierung
86 | Satilmis »… our demand is for decolonisation, not diversity«1
An den bundesdeutschen Hochschulen vollzieht sich gegenwärtig ein tiefgreifender Wandel. Dazu gehört, dass sich die Chancen auf Bildungsbeteiligung in den letzten Jahren merklich verbessert haben und Hochschulbildung für breite Bevölkerungsgruppen zugänglich ist. Gleichzeitig kennzeichnet das bundesdeutsche Bildungssystem eine hohe soziale Selektivität, die sich auch im Hochschulbereich reproduziert. Dies wirft Fragen zum Selbstverständnis höherer Bildungseinrichtungen auf, die bisweilen despektierlich als Massenuniversität bezeichnet werden. Die Sorge um einen akademischen Fachkräftemangel hat dazu beigetragen, dass Öffnung und Durchlässigkeit zu hochschulpolitischen Kernthemen aufgestiegen sind; seltener wird die Hochschulöffnung mit dem Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit begründet (KMK und BMBF 2015, 30; siehe auch Buß et al. 2018, 14 f.). Während die einen im Wettstreit um die »besten Köpfe« Diversität als Potentialverwertungsstrategie betrachten, verweisen andere auf die soziale Verantwortung der Hochschulen und zielen auf Demokratisierungsprozesse. Damit erscheint ›Vielfalt‹ oder ›Diversity‹ im aktuellen Hochschuldiskurs als allgegenwärtiges Schlagwort, dessen Inhalt jedoch der Klärung bedarf, um Entwicklungsprozesse an der Hochschule entsprechend gestalten zu können. Dieser hochschulpolitisch kontextuierte Beitrag greift diese Problematik auf und fragt danach, wie sich Diversität im Hochschulkontext, auch im Zusammenhang mit dem Umbau zur »unternehmerischen Hochschule«, konturiert und welche Aspekte bei den aktuellen Öffnungsprozessen mitzudenken sind. Welche Bedeutungsdimensionen Vielfalt in hochschulpolitischen Diskursen annimmt und welche Leerstellen das hegemoniale Diversitätsverständnis aufweist, wird im ersten Abschnitt skizziert (1). Bezugnehmend auf aktuelle politische Entwicklungen geht es darauf aufbauend darum, die Hochschule als sozialen Raum in verschiedenen Perspektivierungen zu beleuchten. Dabei werden unterschiedliche Aspekte von Teilhabe genauer betrachtet – ebenso wie Fallstricke im Wissenschaftsbetrieb (2). Die anschließenden kursorischen Ausführungen gehen auf internationale Debatten ein und beinhalten Denkanstöße für eine partizipative Wissenschaftspraxis und für die Demokratisierung des Hochschulbetriebs mit Bezug auf dekoloniale Perspektiven (3). Abschließend werden Herausforderungen in der Hochschulpraxis umrissen, die die Hochschulöffnung in Verbindung mit Diversität als einen fortwährenden und vielschichtigen Prozess erkennen lassen. Es
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Auf diese Forderung der Aktivist*innen Gebrial und Shi (2015) wird später im Text (Abschnitt 3) inhaltlich Bezug genommen.
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wird dafür plädiert, Öffnungsprozesse im Sinne eines umfassenden Bildungsauftrags mehrdimensional zu gestalten und dafür notwendige Ressourcen bereitzustellen (4).
1. D IVERSITÄT
UND U NGLEICHHEITEN IM HOCHSCHULPOLITISCHEN K ONTEXT
Mit der Bildungsexpansion hat sich das Gesamtbild an den Hochschulen nachhaltig verändert: Dies betrifft die gestiegenen Studierendenzahlen, die mit einer großen Vielfalt an studentischen Lebenszusammenhängen und Bildungsbiographien einhergehen, und das gewachsene Spektrum an Differenzen zwischen den Studierenden, beispielsweise ihr Vorwissen, ihre Lernerfahrungen und ihre Möglichkeiten im Studium betreffend. Obgleich die Themen Diversität und Heterogenität in Verbindung mit Chancen(un)gleichheit in schul- und bildungspolitischen Debatten schon seit Ende der 1960er Jahre auf der Agenda stehen, haben sie erst in den letzten Jahren in hochschulpolitische Diskurse und Empfehlungen der zentralen Wissenschaftseinrichtungen Eingang gefunden. »Hochschulen müssen«, so fordert der Wissenschaftsrat, »strategisch auf die Heterogenität der Studierendenschaft reagieren« (WR 2013, 32). Denn: »Die Diversität der Studierenden mit ihren unterschiedlichen Eingangsqualifikationen und Studienzielen sowie ihrer unterschiedlichen Herkunft wird perspektivisch weiter zunehmen« (ebd.). Auch die Hochschulrektorenkonferenz hat im Rahmen des Projekts »nexus – Konzepte und gute Praxis für Studium und Lehre« (HRK 2012) die Themen Diversität und Durchlässigkeit explizit aufgegriffen und damit deren Relevanz im Wissenschaftsbereich bekräftigt. Flankiert durch landes- und bundesweite Förderinitiativen ist die Frage des Umgangs mit Heterogenität inzwischen zu einer hochschulstrategischen Angelegenheit avanciert. Die Hochschulen sehen sich nunmehr aufgefordert, Strategien für die mit der Pluralisierung der Studierendenschaft konnotierten Herausforderungen zu entwickeln. Tatsächlich lassen sich Veränderungen im Umgang mit Diversität im Hochschulbereich feststellen. So gibt es mittlerweile an zahlreichen Hochschulen Konzepte zum Diversity Management in der Personal- und Organisationsentwicklung. Überdies sind im letzten Jahrzehnt bundesweit vielfältige zielgruppenspezifische Beratungs- und Unterstützungsangebote für Studierende entstanden. Auch die Anzahl der Publikationen in diesem Themenfeld ist rasant angewachsen (exemplarisch Bender et al. 2013; Kaufmann 2016; Klein und Heitzmann 2013). Hierbei fällt auf, dass die Wahrnehmung von Vielfalt an den Hochschulen verschiedene Etappen durchlaufen hat (vgl. dazu Abb. 1). Die verschiedenen Phasen, die im
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Folgenden nachgezeichnet werden, spiegeln das sich wandelnde Verständnis von Heterogenität bzw. Diversität und sind aufschlussreich bezüglich des vorherrschenden Selbstverständnisses der Hochschulen. 1.1
Perspektiven auf Diversität in der Hochschulpraxis
Der Blick auf Diversität im Hochschulbereich war über viele Jahrzehnte homogenisierend, und dies in zweierlei Hinsicht: Als Ausgangspunkt dienten sogenannte ›Normal-Studierende‹, an diesem imaginierten Prototyp wurden Studierende gemessen. Der studentische ›Normalfall‹ stellte das Allgemeine dar; identitätsbezogene Merkmale und Habitus entsprachen den gesellschaftlichen Erwartungen von Studierenden (i. e. weiß, deutsche Staatsangehörigkeit, heterosexuell, bildungsbürgerlicher Hintergrund, kinderlos, ohne gesundheitliche Beeinträchtigung etc.). In Abgrenzung dazu konturierte sich die Gruppe der ›nicht-traditionellen‹ Studierenden. Innerhalb dieser Gruppe wurde anfangs kaum differenziert. Ebenso wurden soziale und strukturelle Ungleichheiten – mit Ausnahme geschlechterspezifischer Differenzen – selten als integraler Bestandteil des Hochschulbetriebs wahrgenommen bzw. anerkannt, so dass Diversität ›Ausnahmeerscheinungen‹ und ›Spezialfälle‹ meinte. Entsprechend fungierten »Aufnahme- bzw. Zulassungsprüfungen als Homogenisierungsmittel« (Webler 2013, 133). Gleichzeitig war die Abweichung der ›Nicht-Traditionellen‹ tendenziell negativ konnotiert, bisweilen wurde ihnen mangelnde Studierfähigkeit aufgrund von Einpassungsschwierigkeiten unterstellt. Diese defizitorientierte Betrachtungsweise ist seltener geworden, das Verständnis von Diversität hat sich in den letzten Jahren ausdifferenziert. Aktuell dominiert eine differenzorientierte Perspektive, auf deren Grundlage Angebote und Maßnahmen an bestimmte Gruppen adressiert werden. Der zielgruppenspezifische Zugang anerkennt Ungleichheiten zwischen Studierenden und betont das »Anderssein«. Dieses »Anderssein« wird an soziale Attributierungen geknüpft, so dass Diversität vornehmlich als soziale Kategorie erscheint. Im Gegensatz zu dem homogenisierenden Diversitätsverständnis werden nun Differenzlinien nicht nur zwischen den (vermeintlichen) ›Normal-Studierenden‹ und den »Anderen« wahrgenommen, sondern auch innerhalb der Gruppe der »Anderen« wird stärker unterschieden. Insofern gibt es spezifische Angebote für Studierende mit Kind(ern), Studierende aus nicht-akademischen Familien, Studierende mit Behinderung, Studierende mit sogenanntem Migrationshintergrund, für Ältere, für Quereinsteiger*innen, für Teilzeitstudierende usw. Dieses zielgruppenspezifische Verständnis von Diversität ermöglicht es, gruppenspezifische Problemlagen besser in den Blick zu bekommen, ist aber zugleich verbunden mit Markierungen, und es besteht die Gefahr der Stereotypisierung und Essentialisierung. Überdies
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ist ein solches Verständnis von Diversität recht eindimensional angelegt, denn: Was bedeutet es für Studierende mit Migrationshintergrund und Behinderung; was heißt es für ältere Studierende, die Betreuungsaufgaben haben, welche aber nicht kinderbedingt sind? Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das empowernde Potential diversitätssensibler Maßnahmen nicht auch mit Anpassungsdruck und Normierung verbunden ist: Erfolgt die Thematisierung von Differenz und »Anderssein« nicht zwangsläufig vor einer machtvollen, unhinterfragten Kulisse der Normalität (bzw. der Normalitätserwartungen)? In welchem Verhältnis stehen Anerkennung und (De-)Konstruktion von Differenzlinien? Ist Be-Nennung nicht immer auch mit einer Praxis der Ent-Nennung verbunden? (Deutlich wird diese Problematik anhand der weithin geläufigen Wortkonstruktion »Migrationshintergrund«, deren Pendant »ohne Migrationshintergrund« nicht expliziert wird und in der Vorstellung von »Normalität« verborgen bleibt). Und schließlich stellt sich die Frage, wie angemessen und zielführend Diversity-Policies mit Fokus auf Kompensation und Nachteilsausgleich sind, wenn die Problemlagen und Missstände im Hochschulsystem strukturell verankert sind. Abbildung 1: Perspektiven auf Diversität im Hochschulkontext; eigene Darstellung Perspektiven auf Diversität im Hochschulkontext
Ein in der theoretischen Debatte längst geläufiges Konzept hat im Hochschuldiskurs bislang wenig Widerhall gefunden: Intersektionalität.2 Der intersektionelle
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Das Konzept der Intersektionalität wurde Ende der 1980er Jahre von der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin K. Crenshaw mit Bezug auf spezifische Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen Frauen entwickelt. Sie kritisierte, dass deren Perspektiven in feministischen und rassismuskritischen Debatten nicht angemessen, d. h. mit Blick auf ihre einander bedingenden Verknüpfungen betrachtet würden. Intersektionelle Analysen thematisieren das Zusammenspiel und die Wechselwirkung verschiedener Kategorien; ausführlich Crenshaw 1989.
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Ansatz ist mehrperspektivisch angelegt und schaut auf Unterschiede in ihren einander bedingenden Verknüpfungen. Es geht darum, in einem Setting wirksame Differenzkategorien kontextgebunden in ihrer Bedeutung zu erkunden. Aus intersektioneller Perspektive ist also in der Hochschulpraxis zunächst zu fragen, welche Differenzlinien warum wirkungsmächtig erscheinen, und wie sie in ihren Überschneidungen wirken. Mit diesen Fragen gilt es auf Strukturprinzipien und Handlungsroutinen der Hochschule zu schauen, die exkludierende Effekte haben und zu Diskriminierungen führen. Im Vordergrund stehen institutionelle Schieflagen, die zu erkennen, zu hinterfragen und zu verändern sind – und nicht vorrangig die davon Betroffenen. Diversität wird hier als mehrdimensionaler Ansatz verstanden, der miteinander verwobene Ungleichheitsdimensionen im Hinblick auf strukturelle und institutionelle Problemlagen fokussiert, statt gruppenbezogenen oder individuellen Kompensationsmöglichkeiten nachzugehen. Auf dem Prüfstand stehen z. B. die quasi »unsichtbare Normalität« inklusive machtvoller alltäglicher Gewohnheiten, die Privilegierungen und Diskriminierungen im Uni-Alltag als »normale« Prozesse erscheinen lassen. Dieses Verständnis von Diversität ist gegenüber den vorher skizzierten Ansätzen stärker auf organisationale und politisch-institutionelle Veränderungen ausgerichtet (vgl. dazu auch Kaufmann und Satilmis 2018 sowie Riegel 2016). 1.2
Leerstellen im hegemonialen Diversitätsverständnis an Hochschulen
Betrachten wir die im Hochschulbereich verbreiteten Diversitätsansätze hinsichtlich dessen, wen sie wie adressieren, werden die Leerstellen im Verständnis von Diversität deutlich: Heterogenität und Diversität werden vornehmlich mit sozialen Merkmalen verbunden und als soziale Kategorien aufgefasst. Damit werden bestimmte Zuschreibungen wie mit oder ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne Kinder, aus akademischen Familien oder nicht, mit Behinderung oder ohne, zu relevanten Differenzkategorien. Andere relevante und für die Studiengestaltung teils sehr bedeutsame Differenzen wie beispielsweise Lernerfahrungen, vorhandene Sozial- und Handlungskompetenzen, Verfügbarkeit sozialer Netzwerke und persönliches Resilienzvermögen bleiben demgegenüber unterbeleuchtet. Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwiefern kategoriale Zuschreibungen weiterführend sind, um Pluralität und Teilhabe im Wissenschaftssystem voranzutreiben; (re)produzieren solche Gruppenkonstruktionen nicht vielmehr die Grundproblematik der Markierung und Ausgrenzung durch Diversity-Konzepte an Hochschulen? Hier deutet sich das Dilemma an, in dem sich Hochschulpraktiker*innen befinden, wenn sie diversitätssensible Angebote für unterrepräsentierte
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und marginalisierte Gruppen konzipieren: Hochschulmaßnahmen basieren in der Regel auf einem Diversitätskonzept, das Zuschreibungen und Differenzen voraussetzt, die dann im Sinne der Diversität nivelliert werden sollen. Zudem zeigt die Praxis, dass die Inblicknahme und Berücksichtigung einer Kategorie oftmals mit der Vernachlässigung oder Benachteiligung einer anderen einhergeht; d. h. die sozialen Kategorisierungen stehen in einem Konkurrenzverhältnis um Aufmerksamkeit und begrenzte Ressourcen.3 Darüber hinaus fällt auf, dass die thematisierten Kategorisierungen sich in erster Linie auf die Studierendenschaft beziehen. Die personelle Zusammensetzung des gesamten Hochschulbetriebs – inklusive des wissenschaftlichen, administrativen und technischen Personals – werden in der Regel ausgeblendet, wenn es um diversitätsorientierte Maßnahmen an Hochschulen geht. Bemerkenswert ist auch, wie sehr der Blick auf Vielfalt mit zweckrationalen Erwägungen verknüpft ist. Beispielsweise konstatiert die Hochschulrektorenkonferenz: »Der demographische Wandel wird die Zahl der Studierenden mit traditioneller Studienbiographie in den kommenden Jahren weiter sinken lassen und der Mangel an hochqualifizierten Fachkräften für die deutsche Wirtschaft wird weiter zunehmen. Auch aus diesem Grund sollten unterrepräsentierte Gruppen speziell gefördert werden« (HRK 2013).
Die Anerkennung von Heterogenität und die Forderung nach Öffnung der Hochschulen für sogenannte »nicht-traditionelle« Studierende, wie mittlerweile von vielen Seiten proklamiert, erfolgen vor allem unter dem Druck der Bearbeitung politisch-ökonomischer Probleme. Dies spiegelt sich exemplarisch wider im Bund-Länder-Wettbewerb »Aufstieg durch Bildung – Offene Hochschule«: Als Teil der Qualifizierungsinitiative fördert das BMBF von 2011 bis 2020 Konzepte für berufsbegleitendes Studieren und lebenslanges Lernen besonders für Berufstätige, Personen mit Familienpflichten und Berufsrückkehrer*innen mit dem Ziel, »das Fachkräfteangebot dauerhaft zu sichern […] und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftssystems […] zu stärken« (BMBF o. J.). Der im Gang befindliche Umbruch an den Hochschulen und die Dauerdebatte um ihre internationale Konkurrenzfähigkeit erscheinen als vordringliche Sorgen seitens Politik und Wissenschaftsorganisationen. Strukturprobleme, die mit Ex-
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Beispielsweise wurden infolge der Fokussierung auf vergeschlechtlichte Dimensionen von Diskriminierung im deutschsprachigen Diskurs rassialisierende Strukturen und Praktiken an Hochschulen noch bis zur Jahrtausendwende kaum thematisiert; diese finden aktuell stärker Berücksichtigung (vgl. exemplarisch Bender et al. 2013 und Bliemetsrieder et al. 2016).
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klusion und Chancen(un)gleichheit verbunden sind, und entsprechende gerechtigkeitsbezogene Überlegungen werden dem untergeordnet. Indiz dafür (und auch Effekt davon) ist die Beharrlichkeit struktureller Beschränkungen, die in der geringen sozialen Durchlässigkeit im Bildungssystem zum Ausdruck kommen und die fatale Kopplung von sozialer Herkunft mit Bildungs- und Berufschancen weiter reproduzieren (vgl. exemplarisch Bargel und Bargel 2010; Balke und Stange 2018; Gerhards und Sawert 2018). Im Anschluss daran drängen sich verschiedene Fragen auf: Ist die Hochschulöffnung in Verbindung mit Diversität nur als ein »taktisches Manöver« zu verstehen, als eine funktionale Anpassung an aktuelle politisch-ökonomische Erfordernisse und an ein geändertes Umfeld? Was bedeutet Hochschulöffnung mit Blick auf (symbolische) Repräsentationsformen im Lehr-Lern-Alltag? Welche Implikationen hat die Idee der diversitätssensiblen Hochschulöffnung für die Wissenschaftspraxis, für die Gestaltung von Lehr-Lern-Räumen, für Lehr- und Forschungsinhalte, was bedeutet sie auf epistemologischer Ebene? Diese Fragen sind Ausgangspunkt für die nachfolgenden Reflexionen zur Bedeutung der Hochschule und der Hochschulbildung. Mit verschiedenen Perspektivierungen möchte ich mich zunächst den vielfältigen Dimensionen der Hochschule zuwenden und dabei kursorisch auf Problemlagen im Wissenschaftsbetrieb hinweisen; die Überlegungen und Fragen dienen vor allem als Denkanstöße, um Strukturprinzipien kritisch zu reflektieren und mögliche Fallstricke, die im Hochschulbereich Ungleichheiten befördern, sichtbar zu machen.
2. H OCHSCHULE
ALS SOZIALER
R AUM
Nicht hoch genug kann die Relevanz der Hochschulen für die Gesellschaft eingestuft werden, meint der Wissenschaftsrat und betont ihre konstitutive Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung: »Hochschulen sind der gesellschaftliche Ort, an dem in einem breiten disziplinären Spektrum Bildung und Ausbildung mit Forschung, Wissenstransfer und kultureller Selbstwahrnehmung verschränkt werden. Hochschulen entfalten nicht zuletzt über die akademische Lehre eine direkte Wirkung in die Gesellschaft. (...) Ihre darauf gründende Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit des Landes kann nicht überschätzt werden« (WR 2013, 28).
Bekanntermaßen gibt es innerhalb des Hochschulsystems deutliche Unterschiede. So stehen die Lehruniversitäten für die Vielen (»Massenuniversität«) den Exzellenz- und Forschungsuniversitäten für die Wenigen (»Elite-Uni«) gegenüber, und
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darüber hinaus sind die verschiedenen Hochschultypen mit unterschiedlichen Ressourcen ausgestattet. Ohne diese Unterschiede hier zu vertiefen oder die kontroverse und polyphone Auseinandersetzung um die Zukunftsfähigkeit des Hochschulsystems aufzugreifen, möchte ich verschiedene Bedeutungsdimensionen der Hochschule umreißen und dabei das Feld in seinen unterschiedlichen Facetten genauer inspizieren: Die Hochschule lässt sich vorrangig als Bildungseinrichtung betrachten mit Fokus auf die Studierenden; oder aber der Aspekt der Wissensgenerierung rückt in den Vordergrund, dann steht die Forschungsinstitution im Zentrum. Die Hochschule kann als Beschäftigungsort und Arbeitgeberin beleuchtet werden mit den Beschäftigten im Mittelpunkt. Oder wir betrachten die Hochschule als Sphäre der Vergesellschaftung, damit sind alle Hochschulangehörigen angesprochen. Je nachdem, wie wir scharfstellen, rücken andere Aspekte in den Fokus und mit ihnen unterschiedliche Problem- und Handlungsfelder, die nachfolgend skizziert werden. 2.1
Hochschule als Bildungseinrichtung und Ausbildungsort
Die Stätte zur Entwicklung, Diskussion und Aneignung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden ist die Hochschule. Ihre gesellschaftliche Bedeutung liegt insbesondere auch darin begründet, dass sie als Bildungseinrichtung fachliche Qualifizierung und persönliche (Weiter-)Entwicklung bietet. Der formale Zugang wird durch Zulassungsbeschränkungen reguliert, so dass akademische Bildung nach wie vor ein Privileg darstellt. Zu einem Privileg wird die Hochschulbildung insbesondere auch deshalb, weil sie als zentraler Schlüssel für begehrte Arbeitsmärkte und Berufsfelder in der Wissensgesellschaft gilt. Höhere Bildung ist – jenseits der Chance auf Selbstentfaltung – verbunden mit dem Versprechen auf hochqualifizierte Jobs, auf soziales Prestige und gesellschaftliche Anerkennung sowie materiell gesicherte Lebensperspektiven. Betrachten wir die Hochschule als Bildungsinstitution und Ausbildungseinrichtung, geht es vorrangig um Zugang zu höherer Bildung und damit verbunden um Fragen der Bildungsgerechtigkeit: Wer bekommt Zugang zur akademischen Bildungsstätte (und später zu begehrten Positionen)? Wem bleibt dieser Zugang – beispielsweise aufgrund der Ausweitung von Zulassungsbeschränkungen – verwehrt und wer muss aufgrund finanzieller Restriktionen und Unsicherheiten verzichten (vgl. dazu Banscherus et al. 2011, 145)? Wenn die erste Hürde des Studieneinstiegs geschafft ist: Wer schafft den Studienabschluss, wer bleibt auf der Strecke – und warum? Dazu ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass bestimmte Gruppen von Studienabbrüchen stärker betroffen sind als andere (Heublein et al. 2012 und 2017). Wie viel Verantwortung kommt den Hochschulen zu,
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wenn bundesweit durchschnittlich ein Viertel der Studierenden das Studium abbrechen und diese Quote in der Gruppe der migrantisch geprägten Studierenden fast doppelt so hoch ist (ebd.)?4 In welchem Verhältnis stehen die Zugangsregularien und Abbruchquoten zu der schon vor einem halben Jahrhundert von Dahrendorf formulierten Maxime »Bildung ist Bürgerrecht«? Für Dahrendorf ist es die »Pflicht der staatlichen Instanzen, dafür Sorge zu tragen, dass diese Rechte ausgeübt werden können« (1965, 23). Dazu gehört es, die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass möglichst alle Studierenden eine Chance auf Bewältigung des Studiums haben. Neben fachlichem Wissen bietet die Hochschule die Möglichkeit, akademische Praktiken und Ausdrucksweisen einzuüben und sich anzueignen. Innerhalb des Wissenschaftsbetriebs geht es insbesondere um den Zugang zu Informationen, zu Beratung und Betreuung bei Lernprozessen und in Krisensituationen. Zu fragen ist daher, wer im Studienalltag beraten und unterstützt wird – und wer nicht. Wer hat Mitgestaltungsmöglichkeiten und wird an der Wissensproduktion beteiligt? Neben der formalen Teilhabe sind vor allem die sozialen Partizipationschancen genauer in den Blick zu nehmen und hierbei ist darauf zu achten, dass nicht nur die ohnehin erfolgreichen Studierenden Förderung und Unterstützung im LehrLern-Alltag erfahren, sondern insbesondere auch diejenigen gestärkt werden, die vorhandene Angebote nicht kennen oder mit den akademischen Codes weniger vertraut sind, damit ihr Studium gelingt. Vor allem ist die Beteiligung an der LehrLern-Gestaltung und an Forschungstätigkeiten ein wichtiger Faktor, um die soziale Zugehörigkeit zu fördern. Dies führt uns zur nächsten Perspektivierung: die Hochschule als forschende, erkenntnisorientierte und Wissen produzierende Institution.
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Das Diktum der Hochschulrektorenkonferenz, das »Problem des Studienabbruchs ist zwingend individualisiert zu betrachten« (HRK 2013; Herv. A. S.), wirkt vor dem Hintergrund struktureller Schieflagen, die sich u. a. in den hohen Studienabbruchquoten zeigen, wie ein Appell, bloß nicht die gegebenen Lehr-Lern-Strukturen und institutionellen Rahmenbedingungen in Frage zu stellen. Die Verantwortung für den Lernerfolg und ein gelingendes Studium wird damit recht einseitig den Studierenden auferlegt, ohne die Qualität der Lehre, die Lehrkompetenzen und die Prüfungsformate zu thematisieren. Ausgeblendet wird dabei, dass Fragen des Studienerfolgs bzw. -abbruchs im Wechselverhältnis zu den Anforderungen, Bedingungen und Angeboten der Hochschule stehen und dass es Aufgabe der Hochschule, der Hochschul- und Fachdidaktik wie auch der Lehrenden ist, eine motivierende Lehr-Lern-Umgebung und anregende Studienperspektiven für alle Studierenden zu schaffen und dadurch einen erfolgreichen Studienabschluss zu ermöglichen.
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Hochschule als Forschungseinrichtung und Sphäre der Wissensgenerierung
Als Einrichtungen, in denen nicht nur gelehrt, sondern auch geforscht wird, generieren Hochschulen Daten und Erkenntnisse, erproben Methoden, erarbeiten Konzepte und Theorien etc. Die dazugehörigen Fragen sind – dem Humboldt’schen Leitbild der Einheit von Lehre und Forschung folgend – im Idealfall auch Gegenstand der Lehre. Allerdings gerät diese Idee zunehmend unter Druck. Lehre und Forschung stehen infolge der Aufgabenverschiebung, die die Hochschulen in den letzten Jahrzehnten erfahren, in einem Spannungsverhältnis: Dadurch, dass der Wettbewerb um Reputation an die Drittmitteleinwerbung geknüpft ist, wird Forschung mehr und mehr als Hauptaufgabe verstanden, die Lehre erscheint nachrangig. In einer Lehr-Lern-Forschungsinstitution geht es darum, Wissen zu produzieren, zu vermitteln bzw. anzueignen. Dieses Wissen wird kanonisiert und archiviert, um es weiterzugeben. Das an Hochschulen produzierte Wissen und die bewahrten Wissensbestände gelten als gesellschaftlich relevant – was im Umkehrschluss bedeutet, dass »anderem Wissen«, das nicht in akademischen Zusammenhängen generiert wird, diese Anerkennung weitestgehend vorenthalten wird. Wissen muss gewissermaßen selbstreflexiv sein, damit es anschlussfähig ist an hegemoniale Sinn- und Wissen(schaft)sstrukturen (mitsamt den Geltungsansprüchen der Akteur*innen in Wissenschaft und Forschung). Vor diesem Hintergrund ist darüber nachzudenken, welche Forschungsprojekten und -inhalte aufgrund welcher Entscheidungskriterien gefördert werden. Erfahrungsgemäß werden Forschungsmittel überwiegend dann vergeben, wenn die Fragen anwendungsorientiert formuliert und die Ergebnisse verwertbar sind bzw. unmittelbaren Nutzen aufweisen.5 Nach welchen Kriterien werden sie ausgesucht, wer hat Einfluss auf die Bewertungsparameter? Welche Projekte gelten als irrelevant und erhalten keine Finanzierung (und wie transparent sind die entsprechen-
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Hier lässt sich eine Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften feststellen. Allerdings verlaufen die Fronten in den Kämpfen um Ressourcen nicht nur entlang der Disziplingrenzen, sondern auch zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorientierten Forschungen gibt es deutliche Unterschiede. Hinzu kommen regionale Gefälle, und die Chancen auf Fördermittel steigen offenbar auch mit der Größe der Hochschule bzw. eines Fachbereichs (vgl. Kramer 2013). Mitunter drängt sich der Eindruck auf, der auch titelgebend ist für Kramers Aufsatz zu Schieflagen in der Forschungsförderpraxis: »Wer volle Körbe hat, bekommt noch mehr«.
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den Entscheidungen)? Überdies sind grundsätzlichere Fragen zu stellen und hegemoniale Denkweisen, Konzepte und Begrifflichkeiten kritisch zu reflektieren. Als Agentur der (Welt-)Deutung mit Definitionshoheit gegenüber nicht akademisch generierten Wissensformen und -praxen geht es schließlich auch um epistemologische Fragen, um Fragen zur Entstehung der (modernen) Wissenschaften, ihren Bedingungen etc. Daran anknüpfend ist mit Bezug auf die Postcolonial Studies zu überdenken, welche Geschichten (von wem) erzählt werden; welche Perspektiven kommen zur Geltung, welche nicht – und warum? Welches Wissen wird wie und von wem vermittelt? Wer partizipiert an Forschungsprojekten und hat als Teil der Scientific Community Möglichkeiten, Forschungsdesigns zu entwickeln und Wissen mitzuproduzieren? Diese Fragen führen zur nächsten Perspektivierung, die die Hochschule mit ihren Beschäftigten und deren Arbeitsbedingungen fokussiert. 2.3
Hochschule als Beschäftigungsort
Die Hochschule ist auch als Beschäftigungsort und Arbeitszusammenhang bedeutsam, und dies in vielerlei Hinsicht. Der Großteil der bundesdeutschen Hochschulen ist dem öffentlichen Dienst zugehörig, ihnen kommt eine gesellschaftliche Vorbildfunktion zu. Sowohl die Personalpolitik wie auch die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse im Hochschulbereich wurden über viele Jahre in den Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Hochschulen jedoch vernachlässigt. Allmählich – und unter gewerkschaftlichem Druck (vgl. dazu Templiner Manifest 2010) – erfahren diese Aspekte mehr Beachtung. So fordert mittlerweile auch die Hochschulrektorenkonferenz finanzielle Konsequenzen aus den veränderten Anforderungen an Studium und Lehre: Ohne genügende Ressourcen und gesteigerte Grundfinanzierung der Hochschulen ließen sich die anstehenden Aufgaben wie grundlegende Neuorientierung der Lehre, Studienorganisation und Beratung nicht angemessen bewältigen. Sie stellt fest: »Das Engagement zahlreicher Lehrender erfährt wenig Anerkennung, sei es materiell durch Leistungszulagen, durch Reduzierung der Lehrverpflichtungen oder durch erhöhte Sichtbarkeit und Reputationsgewinn« (HRK 2013).
Damit sind zweifelsohne wichtige Punkte benannt, ein grundlegendes Problem bleibt jedoch ausgeblendet; schließlich geht es – zusätzlich zu materiellen Verbesserungen und ideeller Anerkennung – vor allem um die Planbarkeit bzw. um verlässliche berufliche Perspektiven und die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse. Eine hohe Anzahl befristeter Beschäftigungsverhältnisse, die sich oftmals über mehrere Jahre aneinanderreihen, ein großer Anteil von Teilzeitstellen, mangelnde
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Planungssicherheit, eine hohe Arbeitsbelastung und Mehrarbeit, in der die eigene Qualifizierung oftmals zu kurz kommt, prägen den Arbeitsalltag in der Wissenschaft auf allen Qualifikationsstufen unterhalb der Professur (vgl. BuWiN 2017; siehe auch Templiner Manifest 2010).6 Besonders Angestellte im Mittelbau, sogenannte Nachwuchswissenschaftler*innen, stehen vor der Herausforderung, ein hohes Lehrpensum zu erfüllen und sich gleichzeitig durch eigene Forschungen weiter zu qualifizieren. Trotz der strukturell erschwerten Bedingungen sind wissenschaftliche Tätigkeiten an Hochschulen begehrte Arbeitsplätze, die inhaltlich selbstbestimmte und anspruchsvolle Arbeit verheißen. Nur: Wer wird überhaupt als wissenschaftlicher Nachwuchs gefördert und bekommt Möglichkeiten, die Hochschule aus der Binnenperspektive und als Arbeitszusammenhang kennenzulernen? 7 Welche Perspektiven und Sicherheiten bietet die Hochschule als Arbeitsplatz? Inwiefern werden Daueraufgaben in Forschung, Lehre und Wissenschaftsmanagement mit Dauerstellen erfüllt? Welche Mindeststandards bezüglich Bezahlung, Vertragsdauer und Verlängerungsoption sind an den Hochschulen gewährleistet? Was bedeuten die Hierarchien und Abhängigkeiten im Wissenschaftsbetrieb für den Arbeitsalltag? – Diese Fragenliste ließe sich fortführen, soll aber hier ausreichen, um auf strukturelle Probleme am Arbeitsplatz Hochschule zu verweisen. 2.4
Hochschule als Sphäre der Vergesellschaftung
Schließlich stellt die Hochschule eine Sphäre der Vergesellschaftung dar, in der – über die Wissensvermittlung und -aneignung hinaus – Identitätsbildungs- bzw. Identitätsfestigungsprozesse stattfinden, die relevant sind für die Selbstpositionierung und das Selbstwertgefühl. Bildung durch Wissenschaft als Bestandteil der Persönlichkeitsbildung heißt auch, dass es nicht darum geht, nur Wissen anzusammeln, vielmehr stehen die dazugehörigen Denkprozesse im Vordergrund. Sie ermächtigen dazu, implizite Normsetzungen, ihren Entstehungshintergrund und ihre Konsequenzen zu hinterfragen. Die Potentiale der im Studium angeeigneten fachlichen und überfachlichen Wissensbestände und (Handlungs-)Kompetenzen sind (im Idealfall) dauerhaft verfügbar und können im Alltag kontextbezogen angewandt und weiterentwickelt werden. Vor allem für Studierende hat ein Studium 6
Mit der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, das im März 2016 in Kraft getreten ist, wurde auf die ausufernde Befristungspraxis ansatzweise reagiert.
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An dieser Stelle sei kurz auf das Problem homosozialer Kooptationen bei Auswahlverfahren und Fördersystemen verwiesen, also darauf, dass die Akteur*innen in Auswahlgremien dazu neigen, ihresgleichen auszuwählen in Bezug auf soziale Merkmale und Bildungsverlauf; vgl. dazu u. a. Färber und Spangenberg 2008.
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neben dem Wissens- und Bildungstitelerwerb auch sozialisierende Effekte; sie entwickeln gesellschaftliches Orientierungs- und Handlungswissen, erproben sich, erarbeiten subjektiv bedeutsame Erkenntniszusammenhänge, bauen einen Referenzrahmen für ihr Welt- und Selbstverständnis auf u. v. m. Es geht um einen subjektbezogenen Autonomiezuwachs durch Bildung, darum, sich persönlich weiterzuentwickeln, wie auch um fachliche und berufliche Ausbildung. Das Studium kann eine »biographische Ermächtigungserfahrung« (Schwendowius 2015, 281) sein, kann aber auch umgekehrt Marginalisierung und Enttäuschung mit sich bringen. Dafür ist neben der formalen Zugehörigkeit insbesondere die soziale Zugehörigkeit zu beachten und damit die Partizipation an der Wissenschaftspraxis und -kultur, die auch die Entwicklung eines Academic Commitment unterstützt (vgl. dazu Satilmis i. E.). Tatsächlich fällt es den einen leichter und den anderen schwerer, sich im Wissenschaftsbetrieb ein- und zurechtzufinden und damit auch soziale Zugehörigkeit zu erfahren. Die soziale Einbindung hängt maßgeblich damit zusammen, wie bekannt oder fremd das akademische Leben und der entsprechende Habitus empfunden werden, wie sehr die Institution mitsamt ihren impliziten Codes, dem subtilen Konformitätsdruck verunsichert. In diesem Zusammenhang stellen Banscherus et al. fest: »Über Unsicherheiten hinsichtlich der Herausforderungen, die ein Studium mit sich bringt, berichten auch während des Studiums sehr häufig Studierende aus bildungsfernen Milieus, die bislang über geringe oder keine Erfahrungen mit dem ›akademischen Habitus‹ verfügen. Angehörige dieser Gruppe fühlen sich häufig fremd an der Hochschule und im Kontakt mit Studierenden aus anderen sozialen Milieus bzw. den Lehrenden teilweise unerwünscht oder missverstanden« (2011, 145).
Bieten die Studieninhalte und die Studiengestaltung hingegen Anknüpfungspunkte an Erwartungen und Interessen der Studierenden und darüber hinaus noch Mitgestaltungsmöglichkeiten, steigen Motivation, Identifikation und Verbundenheit mit der Fachkultur und der Institution und es wird das Selbstwirksamkeitserleben gefördert (vgl. auch Kreft und Leichsenring 2012). Schließlich gibt es Anzeichen dafür, dass ein erfolgreicher Studienabschluss mit Zugehörigkeits- bzw. Fremdheitserfahrungen korreliert. Deshalb stellt sich im Zusammenhang mit der Hochschulöffnung nicht nur die Frage, wer formalen Zugang zur Hochschule bekommt, sondern auch die Frage der sozialen Zugehörigkeit: Wer findet sich in den Studienalltag reibungslos ein, wem gelingt es, die Studienanforderungen zu bewältigen – und wer fällt weg? Wem werden Unterstützungs- und Beratungsange-
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bote – nicht nur in Krisensituationen – zuteil? Für wen wird Wissenschaft als soziale Praxis erfahrbar? Welche Vorbilder und soziale Netzwerke bietet die Hochschule insbesondere für diejenigen, die nicht vertraut sind mit dem latenten Wissen betreffend die Akademie? Mit Blick auf diese Fragen wird deutlich, dass Teilhabe verschiedene Dimensionen umfasst, die es mitzudenken gilt (siehe Abbildung 2). 2.5
Zwischenresümee: Hochschule als vielschichtiges Feld
Diese kurzen Skizzen zeigen die Vielschichtigkeit des Feldes Hochschule, und die entsprechenden Fragen verweisen auf grundlegende, miteinander verwobene Problemlagen des Wissenschaftsbetriebs. Bei allen genannten Perspektivierungen der Hochschule geht es um Teilhabe, verbunden mit Fragen des Zugangs zum und der Mitsprache im Wissenschaftsbetrieb, der Anerkennung und der Ressourcenverteilung. Sowohl die soziale Zugehörigkeit zum Hochschulsystem als auch die Wissensproduktion und die Anerkennung von Wissensbeständen sind voraussetzungsvoll und bedürfen (selbst)kritischer Reflexionen bezüglich Öffnungs- und Schließungsmechanismen. Die Teilhabe an höherer Bildung (und später an besser dotierten Berufen) ist mit Privilegien verbunden, die nicht nur durch (formale) Zugangsbarrieren reguliert werden, sondern auch mit strukturellen Hürden und Normalitätserwartungen im Studienalltag einhergehen (vgl. dazu auch Canning et al. 2019). Abbildung 2: Dimensionen von Teilhabe im Hochschulbereich; eigene Darstellung
Dimensionen von Teilhabe im Hochschulbereich
Mitsprache, Mitgestaltung
Zugang
Teilhabe Förderung, Ressourcen
Zugehörigkeit, Anerkennung
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Insgesamt wird deutlich, dass sich Fragen der Öffnung und Teilhabe auf verschiedenen Ebenen der Hochschule stellen und mit Diversität im Sinne sozialer und institutioneller Pluralisierung verknüpft sind. In der Debatte um die Hochschulöffnung werden immer wieder Bedenken geäußert, dass unter den gegebenen Rahmenbedingungen, der strukturellen Unterfinanzierung von Studium und Lehre, die Öffnung zusätzlichen Aufwand für die Lehrenden bedeutet, um sich auf die Pluralisierung der Studierendenschaft mit unterschiedlichem Vorwissen und diversen Lernbiographien einzulassen. Auch werden Befürchtungen geäußert, dass durch Öffnungsprozesse das Niveau sinken würde bzw. die Qualität des akademischen Studiums nicht gewährleistet werden könne (vgl. dazu Buß et al. 2018, 13 f. mit weiteren Verweisen). Auch wenn die geäußerten Bedenken auf Verlustängste verweisen, die mit dem (monokulturellen und oftmals elitären) Selbstverständnis akademischer Institutionen zusammenhängen, bleibt zu fragen: Was können Diversitätspolitiken an Hochschulen angesichts der vielschichtigen Probleme zu Veränderungen im Sinne von Problemlösungen beitragen?
3. D ENKANSTÖSSE FÜR D EMOKRATISIERUNG D EKOLONISIERUNG DER H OCHSCHULE
UND
Wichtige Impulse für die Weiterentwicklung in Richtung Demokratisierung und Dekolonisierung des Wissenschaftsbetriebs bieten Diskussionen und Studien im internationalen Hochschulraum. Die Frage, wie Diversity-Konzepte an Hochschulen wirken, ist beispielsweise Gegenstand der Studie »On being included. Racism and Diversity in Institutional Life« von Sara Ahmed (2012). Die feministische Rassismusforscherin hat für ihre Untersuchung Diversity-Akteur*innen in britischen und australischen Einrichtungen zu ihren Tätigkeiten befragt und sie begleitet. Die Implementierung von Diversity an Hochschulen, so stellt sie fest, wird insbesondere durch Absichtserklärungen, Richtlinien und Zielvorgaben ausgewiesen. Es sind vor allen Dingen diese formalen Zeugnisse, die die Institutionen als divers bzw. diversitätssensibel auszeichnen und dazu beitragen »to create a new image of the institution« (a. a. O., 33). Ahmed arbeitet heraus, dass trotz redlicher Absichten und Anstrengungen der befragten Akteur*innen akademische Institutionen durch Diversity Policies in ihren Strukturen nicht diverser würden, vielmehr leisteten sie nolens volens einer »institutional whiteness« (ebd.) Vorschub. »Diversity becomes about changing perceptions of whiteness rather than changing the whiteness of organizations. Changing perceptions of whiteness can be how an institution
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can reproduce whiteness, as that which exists but is no longer perceived« (Ahmed 2012, 34; Herv. im Orig.).
Die Wissenschaftlerin sieht eine Gefahr darin, dass Diversitätskonzepte vor allem die Wahrnehmung der institutionellen Dominanz ändern und Teil einer »performance culture« (a. a. O., 84) sind, nicht aber die dahinterstehenden realen Probleme angehen. Damit kritisiert die Studie Normalisierungsprozesse und bestehende Dominanzkulturen im Wissenschaftssystem und fordert dazu auf, die gängige Praxis der Be- und Ent-Nennung im Rahmen von Diversity-Maßnahmen im Hochschulkontext genauer zu betrachten. 3.1
Dominanzkulturen und Normalisierungsprozesse als verhängnisvolle Kulisse
Hinter einer diversitätsorientierten Fassade kann, in der Lesart von Ahmed, die »Normalität« nicht nur an Hochschulen, sondern auch in anderen Organisationen als wirkungsmächtiges Konstrukt verharren; eine solche Fassade schützt die institutionell ohnehin schon Privilegierten und ermöglicht es, sich trotzdem als diversitätssensibel zu schmücken. »The wall is what we come up against: the sedimentation of history into a barrier that is solid and tangible in the present, a barrier to change as well as to the mobility of some, a barrier that remains invisible to those who can flow into the spaces created by institutions. […] We need rewrite the world from the experience of not being able to pass into the world«, erklärt Sara Ahmed (2012, 175 f.; Herv. A. S.).
Dies führt uns zur strukturellen Dimension von Diskriminierung und Exklusion. Für die Erfassung struktureller Diskriminierung ist das Konzept der Dominanzkultur weiterführend, das die Psychologin und Geschlechterforscherin Birgit Rommelspacher entwickelt hat. Dominanzkultur ist »als ein Geflecht verschiedener Machtdimensionen zu begreifen, die in Wechselwirkung zueinanderstehen« (Rommelspacher 1995, 23, Herv. i. Orig.). Gängige, unhinterfragte Praxen und Strukturen dienen der Dominanzabsicherung. Wirksam hierbei ist das Prinzip der Ent-Nennung. Aus einer machtvollen Position werden die Normen, die ein- oder ausschließen und Anpassung verlangen, definiert, institutionell eingeschrieben und habitualisiert; die fortwährende De-Thematisierung bestätigt sie implizit. Mit der Normsetzung ist eine Marginalisierung und Exklusion derjenigen verbunden, die von dieser Norm abweichen. »Normalität« dient deshalb als legitimierendes
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Paradigma für Exklusion (dazu auch Satilmis 2016, 26 f. mit Bezug auf Rommelspacher). Um den hier skizzierten Wirkmechanismen nachzugehen, ist es notwendig, in Diversitätskonzepten als neutral geltende Normen und Normalisierungsprozesse zu thematisieren und so ihre Funktion für die Aufrechterhaltung von Differenzordnungen und bestehenden Machtverhältnisse offenzulegen. Andernfalls geraten wichtige Aspekte aus dem Blickfeld, die Öffnungsprozesse an Hochschulen betreffen und diese in einen umfassenderen Kontext stellen. Die Reflexion von hegemonialen Normen setzt eine kritische Auseinandersetzung mit den gegebenen Bedingungen mit Bezug auf sich selbst voraus, um eigene Anteile und Verstrickungen in Dominanzkultur(en) und Normalisierungsprozesse nachzuvollziehen (vgl. auch Spivak 2008). In dem Kurzfilm »Why is My Curriculum White?« (UCL o. J.) fragen beispielsweise Studierende aus London, warum Lehrpläne und -inhalte von einer »white supremacy« geprägt sind und warum sie Lebensrealitäten und -erfahrungen, die vom mainstream abweichen, nicht widerspiegeln. Sie machen auf Leerstellen im Curriculum aufmerksam und monieren die »whiteness« des Wissenssystems, fordern geschichtliche Zusammenhänge global zu kontextuieren und nicht eurozentristisch auszurichten – kurzum sie verweisen auf Lücken und Schieflagen in Bildung und Wissenschaft, die aus einer Marginalisierung von Perspektiven resultieren, und betonen die Relevanz von Repräsentation im LehrLern-Forschungsbetrieb. Auf die Folgen des Fehlens von Lehrenden und Forschenden, die in ihren sozialen Attribuierungen von der Mehrheitsgesellschaft abweichen, verweisen auch Ergebnisse einer Umfrage der National Union of Students (NUS) aus Großbritannien: »A running theme […] was a frustration that courses were designed and taught by nonBlack teachers, and often did not take into account diverse backgrounds and views« (NUS 2014, 20).
Die Befragten wünschen sich »more diverse perspectives in their modules« sowie »representation in role models and staff« (a. a. O., 29) und verweisen damit auf Strukturprobleme des Wissenschaftssystems, die hinsichtlich der Grundproblematiken übertragbar sind auf hiesige Verhältnisse. Denn wissenschaftliche Themen und Zugänge stehen im Zusammenhang mit denjenigen, die sie im Lehr-Lernbetrieb vermitteln. Mit der Unterrepräsentation diverser gesellschaftlicher Gruppen im Hochschulbetrieb fallen auch deren Erfahrungen, Fragen, Sichtweisen etc. weg. In diesem Zusammenhang erklärt Ahmed: »Social categories are sediments« (2012, 181), denen nicht zu entkommen ist, indem über sie hinweggesehen wird.
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Die Frage der Repräsentation in Lehre, Studium, Forschung ist demnach von immenser Bedeutung für Hochschulöffnungs- und Diversifizierungsprozesse und dennoch ist Öffnung nicht mit Repräsentationsfragen gleichzusetzen, sondern muss weiter gedacht werden. Vielerorts wird Kritik dahingehend laut, dass Diversitätspolitiken an Hochschulen keinen emanzipatorischen Impetus hätten, oder auch, dass sich der universitäre Diskurs entkoppelt habe von real bestehenden Ungleichheiten (vgl. Gerards und Sawert 2018). Aktuelle Gleichstellungs- und Diversitätspolitiken würden u. a. daran kranken, dass sie kumulative diskriminatorische Effekte und rassifizierende Strukturprinzipen zu wenig in den Blick nehmen und nicht konkret dagegen angehen.8 »Don’t Diversify – Decolonise« ist beispielsweise ein Slogan der Protestbewegung an der University of Oxford, die Ende 2015 eine gesellschaftliche Debatte über Rassismus und Kolonialismus in der britischen Geschichte initiiert hat.9 Aktivist*innen führen aus: »Our demand is for decolonisation, not diversity. This is the distinction that university management refuses to acknowledge exists, because it challenges the very process of knowledge production and the material infrastructure behind it; the terms on which the conversation takes place. The importance, therefore, of hosting a conversation on our terms, a conversation equally accessible for all members of our movement, is in recognising the power of framing discourse. Decolonisation commands an element of self-reflexivity«, so Dalia Gebrial und Chi Chi Shi (2015, Herv. i. Orig.).
Die Hochschulaktivist*innen fordern Lehr-Lern-Inhalte, die mehr als nur die europäische Perspektive umfassen; und sie verlangen eine Zusammensetzung der Lehrenden- und Studierendenschaft, welche die gesellschaftliche Diversität, mit der Oxford sich gerne schmückt, auch tatsächlich repräsentiert. Ihnen geht es darum, dass Hochschulen strukturelle Ungleichheiten und Dominanzkultur(en) im Hochschulkontext und darüber hinaus anerkennen und ihren eigenen Beitrag darin 8
Anzumerken ist hierzu, dass Fördertöpfe von Bund und Ländern eine solche doppelte oder mehrfache Ausrichtung auch selten zulassen: Denn entweder gibt es Fördergelder für geschlechterpolitische Themen oder für zielgruppenspezifische Maßnahmen (wie z. B. Angebote für Studierende mit Migrationshintergrund oder mit Kind). Intersektionelle Ansätze fallen aus den bisherigen Förderstrukturen heraus.
9
Diese Protestbewegung ist entstanden mit Bezug auf die Statue von Cecil Rhodes, der nicht nur Politiker und Unternehmer war, sondern überdies ein maßgeblicher Vertreter des britischen Kolonialismus. Aktivist*innen der Initiative »Rhodes must fall« (#rhodesmustfall) forderten die Entfernung der Statue von Rhodes, durch die sie den britischen Kolonialismus repräsentiert und seine verheerenden Folgen beschönigt sehen.
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kritisch reflektieren. Eine Ausdifferenzierung und Optimierung von Studienangeboten mit Zielgruppenadressierung, wie sie Diversity-Konzepte oft anbieten, empfinden sie als kosmetische Korrektur und symbolische Maßnahme und deshalb als unzureichend, sofern die Wissenschaft und konkret die Hochschulen ihr eigenes Selbstverständnis nicht kritisch hinterfragen und damit verbunden ihre Strukturen und Praktiken auf Marginalisierung und Exklusion hin überprüfen. Anknüpfend an diese Forderungen haben sich auch an diversen deutschen Hochschulen Studierendengruppen formiert und mit anderen Hochschulakteur*innen zusammengeschlossen, die entsprechende Fragen auf die Hochschulagenda setzen. Ihnen geht es um eine öffentliche Auseinandersetzung und politische Debatte zu Themen wie Diskriminierung, Exklusion und sozialen Ungleichheiten im Hochschulsystem, die sie auf verschiedenen institutionellen Ebenen verorten. Dabei betonen sie die gesellschaftliche Verantwortung der Hochschulen und verweisen auf ihren demokratischen Bildungsauftrag. 3.2
Gesellschaftliche Verantwortung und Selbstreflexion
Grundlegend für Öffnungsprozesse ist es, die gesellschaftliche und soziale Verantwortung von Wissenschaftler*innen und Lehrpersonen stärker ins Bewusstsein zu rücken, den Bildungsauftrag zu reflektieren und nach der Aufgabe der Bildungsinstitution und ihrer Vertreter*innen zu fragen: Versteht sich die Gesamtinstitution als Prüfstelle oder als Garant für Bildungsteilhabe? Geht es vorrangig um employability oder um ein demokratisches Verständnis von akademischer Bildung? Dienen Diversity und Öffnung als programmatische Leitideen der Hochschule und werden sie bspw. in hochschulinternen Qualitätsentwicklungsprozessen mit Leben gefüllt – oder sind sie eher Vermarktungsstrategien? Welche Diversitätsdimensionen werden in der Hochschulpraxis und der Organisationsentwicklung berücksichtigt und mit Programmen und Maßnahmen bedacht, welche bleiben außen vor – und weshalb? Auch bezüglich der Lehr- und Forschungsinhalte bedarf es (selbst-)kritischer Reflexionen. Der Informatiker Ralf Streibl appelliert in einem offenen Brief an die Verantwortung der Hochschulen:10
10 Diese Ausführungen sind Teil eines offenen Briefes zur Verantwortung in der Wissenschaft, verfasst und zur Diskussion gestellt von Streibl (2016); sie stehen im Zusammenhang mit der Debatte um die Zivilklausel, also die Selbstverpflichtung wissenschaftlicher Institutionen, ausschließlich für zivile Zwecke zu forschen.
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»Verantwortung in der Wissenschaft endet nicht bei der Forschung. Die Identifikation, Betrachtung, Analyse, Bewertung und Reflexion von Rahmenbedingungen, divergierenden Interessen, gesellschaftlichen Wirkungen, ethischen Fragen und Dilemmata, Entwicklungspfaden, Handlungsspielräumen und Gestaltungsoptionen im offenen kommunikativen Miteinander und im gegenseitigen kritischen Diskurs muss wesentlicher Teil von Hochschullehre und Studium sein« (Streibl 2016).
Dafür braucht es Hochschulmitglieder, die Auswirkungen und Folgen des eigenen wissenschaftlichen Handelns in Forschung und Lehre thematisieren und offenlegen. Zudem sind Räume erforderlich und Anregungen für Studierende, sich mit entsprechenden Fragen und Problemen als Teil ihres Studiums zu beschäftigen. Auf der inhaltlichen Ebene geht es darum, für Dominanzkultur(en) zu sensibilisieren (vgl. Satilmis 2016), Mechanismen zu erkennen, die Exklusion oder Marginalisierung im Wissenschaftsbetrieb (und darüber hinaus) als »normale« Prozesse erscheinen lassen, und über Alternativen nachzudenken, die Teilhabe und Anerkennung befördern. Beispielsweise richten sich ungleichheitssensible LehrLern-Arrangements nach den unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten der Studierenden und lassen ihnen Raum, sich entsprechend zu entwickeln. Dadurch werden die unterschiedlichen Studienbedingungen und das eigene Vorankommen, wenn z. B. das eigene Lerntempo nicht dem der anderen entspricht oder das Vorwissen nicht gegeben ist, nicht primär als persönlicher Mangel gedeutet, sondern kontextuiert und im Zusammenhang mit gegebenen Lehr-LernStrukturen betrachtet. Die Schaffung flexibler Strukturen, die nicht beliebig sind, sondern innerhalb eines gesetzten Rahmens für alle transparent und darin gestaltbar, fördert auch das Selbstwirksamkeitserleben der Studierenden und dient dem empowerment. Entsprechend sind die Rahmenbedingungen in Lehr-Lern-Prozessen, bei Prüfungen und Arbeitszusammenhängen dahingehend zu befragen, inwiefern sie an Dominanzkultur(en) ausgerichtet sind und zu Diskriminierung, und sei es mittelbar, beitragen. 3.3
»Dekoloniale Revision der Universität« und epistemischer Ungehorsam
Reformen im Hochschulbetrieb, wie sie etwa in hochschulpolitischen Empfehlungen der großen Wissenschaftseinrichtungen postuliert oder von gewerkschaftlicher Seite angestoßen werden, beispielsweise ein nachfrageorientierter Zuwachs an Studienplätzen, zusätzliche Studien- und Unterstützungsangebote für Studierende, flexible Prüfungsformen u. Ä., erscheinen in Anbetracht der vielen »Bau-
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stellen« im Hochschulsystem als unzureichend. Die Literaturwissenschaftlerin Sabine Broeck bemängelt, dass es keine radikale Kritik an der Institution gebe, die aktuelle Kritik ziele auf Besitzstandswahrung und -verbesserungen innerhalb des Bestehenden. Sie fordert die »Durchquerung des kolonialen Subtextes der humanistischen Institution« (2012, 291) und plädiert »für eine dekoloniale Revision der Universität« (a. a. O., 292). Mit Bezug auf die Postcolonial Studies geht es darum, hegemoniale Wissenschaftsstandards und kanonisierte Wissensbestände zu reflektieren, Diskurse, Konzepte, Methoden kritisch zu hinterfragen und bislang unterbelichtete Perspektiven auszuleuchten, kurzum: um eine Dekolonisierung des Wissens und der Wissenssysteme (vgl. auch Dhawan 2011). Abbildung 3: Brainstorming zum Thema »Dekolonisierung« im Seminar an der Universität Bremen (Sommersemester 2017); eigene Darstellung
Voraussetzung dafür ist, Ungleichheiten anzuerkennen, historische Dimensionen bewusst zu machen und Kontinuitäten zu reflektieren. Dazu gehören selbstkritische Reflexionen des eigenen Verstricktseins in hegemoniale Strukturen besonders als Lehrende und als Forschende (siehe auch Abb. 3). Donna Haraway, Naturwissenschaftshistorikerin und postmoderne Feministin, hat schon in den 1980er Jahren mit ihrem Konzept »Situated Knowledges« (1988) darauf aufmerksam gemacht, dass Forschungen aus einer machtvollen Position erfolgen; Wissen und Wissensproduktion sind demnach nicht objektivierbar, sondern immer involviert in Machtverhältnisse und eingebunden in Widersprüche. Deshalb besteht die Herausforderung darin, eine wissenschaftliche Position zu vertreten, die die Situiertheit und Perspektivität (auch Subjektivität) des Wissens nicht leugnet, sondern diese im Gegenteil möglichst explizit macht – ohne jedoch auf der eigenen Position zu beharren oder in einen postmodernen Relativismus zu verfallen. Nach Broeck geht es darüber hinaus darum, bestehende Ungleichheitsverhältnisse, die aus
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einer vom Kolonialismus und (Zwangs-)Migration geprägten Moderne resultieren, in der Wissenschaftspraxis zu reflektieren. Die Kulturhegemonie und Ungerechtigkeiten, die »das westliche weiße Subjekt des Wissens und der Tat privilegieren – und damit auch die posteuropäische Wissenschaft hegemonisieren« (Broeck 2012, 294), gilt es in Forschung und Lehre zu hinterfragen. Sie fordert eine umfassende Dekolonisierung der Universität betreffend die Produktion und Verteilung von Wissen; das bedeutet auch die Hinterfragung und Neuorganisation von Theorien, Methoden, Fächern, Themen und Zugängen. Dies ist auch das Anliegen des Literaturwissenschaftlers Walter D. Mignolo, dessen Fokus auf der Kritik europäischer Geschichtsschreibung liegt. Unter dem Titel »Epistemischer Ungehorsam« wurde sein Aufruf übersetzt und 2012 veröffentlicht. Im Original aus dem Jahr 2006 trägt die Veröffentlichung die Überschrift »Descolonialidad del ser y del saber« und verweist noch deutlicher auf die Grundintention des Autors, nämlich die Dekolonialisierung des Seins und des Wissens. Mignolos Überlegungen zur »dekolonialen Option« setzen an der Schnittstelle von politischer Theorie und Praxis an. Ausgehend von der Kritik an der »Rhetorik der Moderne«, so auch der Untertitel des Buches, geht es ihm um die Infragestellung bestehender Regelsysteme und Begründungszusammenhänge. Die Geschichte der Moderne, die im Zusammenhang mit der Geschichte des Kolonialismus zu betrachten ist, und die darin enthaltene Vorstellung einer scheinbar universellen Rationalität mitsamt ihrer Zentrierung auf den europäischen Kontext und männliche Perspektiven sind nach Mignolo ebenso anzuzweifeln wie die »koloniale Matrix der Macht« (Mignolo 2012, 137 ff.). Die Konstruktion von »anderem Wissen«, so die zentrale These, braucht Subjekte, deren Lebensweisen und/ oder Erfahrungen in hegemonialen Wissensbeständen ausgeblendet werden bzw. keinen Platz haben sich zu entfalten; d. h. »anderes«, dekoloniales Wissen geht von de-kolonialisierten Perspektiven aus. In der Verbindung der in Wissenschaft und Forschung unterbelichteten Geschichten, marginalisierten Perspektiven und Erfahrungen entwickelt sich eine »Grammatik der Dekolonialität« (ebd., 162 ff.). Auf diese Weise würden sich Alternativen zu hegemonialen Epistemologien schaffen und gesellschaftliche Verhältnisse verändern lassen, die die Produktion von gesellschaftlich anerkanntem Wissen beeinflussen. Mignolo betont die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels zur Transformation gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und plädiert dafür, Wissenschaft und Wissensproduktion subjektorientiert zu betrachten und hierbei die Erfahrungen und Sichtweisen bislang im Wissenschaftsbetrieb marginalisierter Menschen in den Fokus zu rücken. Diese bieten die Grundlage für die Entwicklung von partizipativen Problembeschreibungen und -lösungen. Er spricht sich für eine Entwick-
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lung von Alternativen zur cartesianischen Epistemologie aus auf Basis einer Körperpolitik, die eine soziale Verortung und Kontextuierung voraussetzt. Um die eigene Wissenschafts- und Forschungspraxis zu hinterfragen und eine »Grammatik der Dekolonialität« voranzubringen, gilt es, dominante Wissenschaftsstandards der Beschreibung entsubjektivierter Erkenntniszusammenhänge zu durchbrechen. Mignolo konstatiert: »Die Grammatik der Dekolonialität (die Dekolonisierung von Sein und Wissen sowie der politischen und ökonomischen Theorie) beginnt dann, wenn die Akteur_innen, die rassisierte Sprachen und ihrer Menschlichkeit beraubte Subjektivitäten bewohnen, ein Bewusstsein der Auswirkungen der Kolonialität von Sein und Wissen erlangen« (ebd., 188).
Eine Befreiung »von unten« visiert nicht eine neue universelle Utopie an, sondern hat das dekoloniale Projekt der Transmoderne im Blick, das in der Verbindung von Lokalgeschichten einer »aktiven zivilen Gesellschaft« (ebd.) zu suchen ist. Mignolos Aufforderung zum epistemischen Ungehorsam (gegenüber der scheinbar universellen Rationalität) umfasst theoretische, methodologische und praktische Impulse für Kritik wie auch Selbstkritik und zielt auf ein »Verlernen« hegemonialer Epistemologien. Dieses Prinzip des learning unlearning (ebd., 169 f.) verlangt und fordert freilich (selbst)kritische Auseinandersetzungen (vgl. dazu auch die Publikation »Learning to Unlearn« von Tlostanova und Mignolo 2012). Die skizzierten Überlegungen bieten vielfältige Anknüpfungspunkte für Öffnungsprozesse im universitären Raum, die sich nicht in Repräsentationsfragen erschöpfen, diese aber mitdenken. Wichtig ist es, nicht in der Analyse sozialer Phänomene verhaftet zu bleiben, sondern gesellschaftliche Verhältnisse mitzugestalten, Handlungsspielräume auszuloten und dabei die Grenzen zwischen akademischer (Re-)Produktion von Wissen und politischem Handeln aufzubrechen. Dafür bedarf es auch eines mehrdimensionalen Diversitätsverständnisses, das intersektionell ausgerichtet ist und bestehende Ambivalenzen und Verstrickungen nicht ausblendet, sondern benennt und auf diese Weise zur Veränderung und Erneuerung der Hochschule und darüber hinaus beitragen kann.
4. S CHLUSSBEMERKUNGEN Die Hochschule ist als sozialer Raum widersprüchlich. Auch wenn sie infolge von Öffnungsprozessen mehr denn je Zugang ermöglicht, ist damit noch längst nicht die soziale Teilhabe am Wissenschaftsbetrieb gewährleistet. Bildung durch Wis-
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senschaft, soziale Teilhabe am Wissenschaftsbetrieb und ein erfolgreicher Hochschulabschluss stellen nach wie vor Privilegien dar. Zugleich bietet die Hochschule emanzipatorisches Potential und Raum für kritisches Denken inmitten hierarchischer Strukturen und archaisch anmutender Abhängigkeitsverhältnisse. Gewissermaßen verdichten sich im Hochschulkosmos soziale und gesellschaftliche Probleme und es entfalten sich Paradoxien, die auch außerhalb der Wissenschaftssystems von Belang sind. Die Ökonomisierung der Rahmenbedingungen an Hochschulen, Fragen der Ressourcenverteilung und -verknappung, die auch Ausdruck des ökonomischen und organisationalen Umbruchs zum New Public Management ist, haben Konsequenzen für Bildung und Wissenschaft; sie bedeuten eine Ökonomisierung des Wissens, was Prozesse der Wissensproduktion, -vermittlung und -aneignung einschließt. Tatsächlich haben im Zuge der Umstrukturierung zur »unternehmerischen Hochschule« Wettbewerb und Konkurrenzprinzipien nicht nur auf der hochschul- und wissenschaftspolitischen Ebene Einzug erhalten, sondern sie machen sich auch in Lehr-Lern-Räumen und im Studienalltag stärker bemerkbar. 11 Um dem entgegenzutreten, gilt es verstärkt Formen der Solidarität im LehrLern-Betrieb zu thematisieren und dabei diversitäts- und ungleichheitssensible Perspektiven einzunehmen. Die den Hochschulalltag prägenden Trennungen wie z. B. von Lehren und Forschen oder von Lehren und Lernen sind als miteinander verknüpfte Wechselverhältnisse ins Bewusstsein zu rücken, ebenso wie Räume zu öffnen sind für kooperative Wissenschaftspraxen sowie für subjektbezogene und erfahrungsorientierte Lern- und Arbeitsformen. Es braucht zudem eine stärkere Verbindung des Akademischen und des Politischen, auch als Regulativ gegen intellektuelle Abstraktionen und entsubjektivierte Lehr-, Lern- und Arbeitsweisen. Dazu gehört ein partizipativ angelegtes Bildungsverständnis, das Kritikfähigkeit stärkt, Mitgestaltungsmöglichkeiten bietet und gesellschaftliche Verantwortung fördert – in diesem Sinne: »Uni, öffne Dich!«
11 In den vergangenen Jahren hat sich die intra- und interuniversitäre Konkurrenz um finanzielle Ressourcen, betreffend sowohl die Drittmittel als auch Teile der Grundausstattung, merkbar intensiviert.
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Wissenschaft, Nachwuchslaufbahn und Behinderung Eine Bestandsaufnahme zu Tabuisierung und Exklusion im Hochschulsystem C AROLINE R ICHTER
Abstract: Im Mittelpunkt stehen hochschulisches Diversity-Management und Policies in Bezug auf ›Behinderung‹ bzw. ›chronische Erkrankung‹. Diskutiert wird ein weitgehend unbeachteter Teilbereich: die Teilhabe von wissenschaftlichem Nachwuchs am Arbeitsmarkt von Hochschulen. Die Bilanz fällt ernüchternd aus: Die beeinträchtigenden Umstände sind vorgelagerten und flankierenden strukturellen Barrieren eingeschrieben. Diese Barrieren erzeugen bereits vor dem Erreichen der Postdoc-Phase gläserne Decken und Drop-outs potentieller Aspirant*innen. Ohne deren Repräsentanz und ohne strukturelle, auch politische und rechtliche Veränderungen bleiben Tabuisierung und Exklusion von Behinderung/chronischer Erkrankung an Hochschulen unverändert, trotz Diversity-Management.
Keywords: Wissenschaft, wissenschaftlicher Arbeitsmarkt, Behinderung, chronische Erkrankung, Nachwuchslaufbahn, Teilhabe, UN-Behindertenrechtskonvention, Diversity
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Eine Dimension von Diversität ist »Behinderung« bzw. »chronische Erkrankung«. Dieser Beitrag setzt sich mit hochschulischem Diversity Management und Policies1 auseinander, insbesondere vor dem Hintergrund der »UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities«. Die zu leistende Statusbestimmung und Positionierung an der Schnittstelle von Hochschule/Wissenschaft und Behinderung/chronischer Erkrankung erfolgt anhand eines weitgehend unbeachteten Teilbereichs: der Teilhabe von wissenschaftlichem Nachwuchs am Arbeitsmarkt von Hochschulen. Der Beitrag führt zunächst in die thematischen Eckpunkte ein, genauer in das Konstrukt Behinderung, die Teilhabe an Arbeit im Sinne der UN-Konvention und die spezifischen Bedingungen wissenschaftlicher (Nachwuchs-)Laufbahnen. Daran anknüpfend wird Diversity Management im Allgemeinen und als spezifischer Gegenstandsbereich illustriert. Anschließend werden bestimmte strukturelle Probleme, die für das Thema ›wissenschaftlicher Nachwuchs und Teilhabe am akademischen Arbeitsmarkt‹ zentral sind, vertiefend dargestellt und als grundlegend bedeutsam für Tabuisierung und Exklusion im Hochschulsystem herausgearbeitet; insbesondere handelt es sich bei diesen strukturellen Problemen um gravierende Forschungslücken und Finanzierungsbarrieren. Im Fazit wird gezeigt, dass die beeinträchtigenden Umstände in vorgelagerten und flankierenden strukturellen Barrieren eingeschrieben sind, die schon vor dem Erreichen der Postdoc-Phase für gläserne Decken und Drop-outs sorgen und so zu Tabuisierung und Exklusion von (wissenschaftlichem Nachwuchs mit) Behinderung/chronischer Erkrankung beitragen.
1. B EHINDERUNG ,
BERUFLICHE T EILHABE UND WISSENSCHAFTLICHE L AUFBAHN AN H OCHSCHULEN
Der Diskurs um Behinderung/chronische Erkrankung und Hochschule/Wissenschaft wird, wenn überhaupt, nur punktuell und in den spezialisierten Communities der Teilhabe- und Inklusionsforschung geführt (z.B. Bauer et al. 2016; Rothenberg et al. 2016; Schulz 2017; Wansing 2012). Er lässt sich problemlos als Spezialdiskurs in und um Minderheiten einordnen. Daran haben weder die UNBehindertenrechtskonvention, das neue Bundesteilhabegesetz oder der teilhabezentrierte Behinderungsbegriff noch die vereinzelten Maßnahmen an und in Hochschulen grundsätzlich etwas verändert.
1
Mit dem Begriff der »Policy« werden im Folgenden inhaltliche Auseinandersetzungen und die aus ihnen hervorgehenden konkreten Handlungsweisen bezeichnet.
Wissenschaft, Nachwuchslaufbahn und Behinderung
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Als sich die Hochschulrektorenkonferenz im Jahr 2009 mit dem Slogan »Eine Hochschule für Alle« (ebd.) positioniert hat, lag ihr Fokus auf der Verbesserung der Chancen für Studierende mit Behinderung/chronischer Erkrankung, meist bezeichnet als Bildungsinklusion mit teilhabeorientierter Didaktik und barrierefreien baulichen Bedingungen (Krüger et al. 2010; Tippelt/Schmidt-Hertha 2013). Ähnliches ist für die rare Forschung zum Thema festzustellen. Die wenigen vorliegenden Studien und Daten legen ihren Untersuchungsfokus vorrangig auf die Zielgruppe »Studierende« (vgl. Deutsches Studentenwerk 2012 und 2018). Diese Beobachtung ist wenig überraschend, denn die systematische Verankerung »inklusionsbezogener Kompetenzen« wird überwiegend für die Lehre angemahnt (vgl. Tippelt/Schmidt-Hertha 2013), nicht aber für die (wissenschaftliche) Organisations- und Personalentwicklung (vgl. Richter 2012). Dass »Eine Hochschule für Alle« allerdings nur dann eine plausible Idee ist, wenn auch Personal und wissenschaftlicher Nachwuchs einbezogen werden, ist bislang eher logische Folgerung als hochschulpolitische Handlungsperspektive. Insbesondere zu den Chancen auf bzw. Bedingungen für Teilhabe am wissenschaftlichen Arbeitsmarkt der Hochschule ist nahezu nichts bekannt (vgl. Bauer/Niehaus 2013; Richter 2016a). 1.1
Behinderung
Behinderung/chronische Erkrankung ist ein vielgestaltiges soziales, kulturelles und historisches Konzept (vgl. Kastl, S. 87ff.). Es existiert keine allgemein anerkannte Beschreibung oder Definition des Begriffs »Behinderung«, jedoch liegen verschiedene Abgrenzungsversuche vor. In den westlichen Gesellschaften stellte Behinderung lange ein tragisches Schicksal des Individuums und individuelles Defizit dar, das es durch Prävention, Kuration und Rehabilitation zu verhüten, zu beseitigen oder auszugleichen gelte (vgl. Oliver/Barnes 2012). Seit den 1980er Jahren entwickelten sich zunächst im US-amerikanischen und englischen Raum und dann zunehmend auch in Deutschland die Disability Studies, die von einem sozialen Modell von Behinderung ausgehen: Der zeitgenössische Behinderungsbegriff rückt Behinderung als sozial, technisch oder kulturell konstruiert in den Mittelpunkt und versteht das »Hindernde« als Ergebnis der Barrieren, die sich aus diesen Konstruktionen ergeben.2 Behinderung wird nicht mehr mit Barriere 2
Ist beispielsweise der Einstieg in öffentliche Verkehrsmittel mit Stufen versehen, liegt die Behinderung eben nicht in einer physischen Besonderheit eines Menschen, nicht in einer ontologisch-essentialistisch verstandenen Behinderung seitens des Subjekts, sondern in der Umwelt, die die Verkehrsmittel so konstruiert, dass Menschen mit unterschiedlichen Besonderheiten sie nicht barrierefrei nutzen können. Oder: Ist ein Bildungssystem so konstruiert, dass Menschen mit Behinderungen von vornherein keinen
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gleichgesetzt, sondern als Folge gesellschaftlich verursachter Barrieren konzeptualisiert.3 In den Mittelpunkt geraten die Gewährleistung von Teilhabe und die Beseitigung von gesellschaftsbedingten Barrieren (vgl. Waldschmidt/Schneider 2007).4 Der Wandel vom früheren mechanistisch-defizitzentrierten Behinderungsbegriff hin zu einem Verständnis von Behinderung als Folge von Umfeldbedingungen ist jedoch längst nicht vollzogen. Normvorstellungen basieren noch immer auf der Annahme eines bedürftigen (weil funktional eingeschränkten) Subjekts, verbunden mit der Zuschreibung von Kompetenzdefiziten. In diesem Zusammenhang nennenswert ist das aus den Disability Studies hervorgegangene Konzept des Ableism bzw. Disableism (Campbell 2009). Als Ableism wird die Beurteilung von Menschen nach ihren Fähigkeiten bezeichnet, die verbunden ist mit der Diskriminierung von Menschen, denen diese als grundlegend konstruierten Fähigkeiten nicht zugeschrieben werden. Nach Wolbring (2009) bedingt der Ableism den Disableism: »Ableism beruht auf einer Bevorzugung von bestimmten Fähigkeiten, Zugang suchen und finden können, dann besteht das zu bearbeitende Problem nicht in der subjektiven Behinderung, sondern in den formalen Bedingungen und informellen Spielregeln des Bildungssystems. 3
Mit dem Bundesteilhabegesetz, in Kraft getreten im Jahr 2017, wurde die Definition von Behinderung neu gefasst. In Anlehnung an das der International Classification of Functions (ICF) zugrundeliegende »bio-psycho-soziale Modell« von Behinderung wurde nun auch die Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren ins Gesetz aufgenommen: »Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können« (§ 2 Abs. 1 SGB IX). In der früheren Version aus dem Jahr 2001 galten Menschen juristisch als behindert, wenn »[…] ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist« (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Zwar hat der Gesetzgeber bereits 2001 im Sinne der ICF »nicht mehr die Orientierung an wirklichen oder vermeintlichen Defiziten, sondern das Ziel der Teilhabe an den verschiedenen Lebensbereichen (Partizipation) in den Vordergrund gerückt« (BT-Drs. 14/5074: 98). Doch auch wenn erstmals »Teilhabe« einbezogen wurde, rekurrierte die alte Definition auf die Abweichung von einem vermeintlichen Normalzustand.
4
Der Paradigmenwechsel zeigt sich auch semantisch: Während das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahr 2009 noch den »Bundesbehindertenbericht« veröffentlichte, gibt es seit 2013 den »Teilhabebericht« heraus.
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die als essentiell projiziert werden, während gleichzeitig das reale oder wahrgenommene Abweichen oder Fehlen von diesen essentiellen Fähigkeiten als verminderter Daseinszustand etikettiert wird, was oft zum begleitenden Disableism führt, dem diskriminierenden, unterdrückenden oder beleidigenden Verhalten, das aus dem Glauben entsteht, dass Menschen ohne diese ›essentiellen‹ Fähigkeiten anderen unterlegen seien« (ebd.: 30). Diese Form der Diskriminierung kann auf der Ebene von Einstellungen, Prozessen oder auch Praktiken erfolgen. Bendel (1999) beschreibt diese Verstrickung: »Die Relevanz sozialer Zuschreibungsprozesse und die hieran geknüpfte Interpretation der Lebenslage von Menschen mit Behinderungen gründet sich jedoch gleichwohl auf vorsoziale Eigenschaften und nicht auf originär sozial konstruierte Muster kulturellen Wissens und gesellschaftlicher Differenzierung« (ebd.: 303). Die behindernden Umstände, die sich in strukturellen Begebenheiten eingeschrieben finden, werden nicht problematisiert, sondern als athematisch ausgeblendet. Auf diese Weise können die behindernden Umstände stabil bleiben und den normativen Ansprüchen einer teilhabeorientierten Idee von Inklusion zuwiderlaufen. Dies gilt ebenfalls für wissenschaftlichen Nachwuchs und seine Teilhabe am hochschulischen Arbeitsmarkt. Das Recht auf Teilhabe einerseits und das Leistungsparadigma der Wissenschaft andererseits scheinen sich aufgrund individueller und struktureller Barrieren nahezu auszuschließen. 1.2
Berufliche Teilhabe und Freiheit der Berufswahl als (menschen-)rechtlicher Auftrag
Spätestens seit der Ratifizierung der »UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities« bzw. des »Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (UN-Behindertenrechtskonvention bzw. UN-BRK) durch Deutschland im Jahr 2009 hat deutsche Hochschulentwicklung die inklusive Gestaltung ihres Arbeitsmarktes zu realisieren, auch in der Wissenschaft. 5
5
Auch insgesamt ist die Teilhabe an der Arbeitswelt noch immer problematisch, »noch immer […] ist für Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen eine adäquate und gerechte Teilhabe an der Arbeitswelt nicht verwirklicht« (Misselhorn/Behrendt 2017: VII). Weimer (2017: 135) konstatiert, Hindernisse und Widerstände gegen die Umsetzung von Inklusion seien in diesem Bereich »besonders hartnäckig« (ebd.): »Der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnte größer nicht sein.«
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Mit der UN-BRK wurde die Verbesserung der Teilhabe auf Ebene der Menschenrechte nachdrücklich verankert.6 Die UN-BRK fordert »das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird« (Art. 27 Abs. 1 S. 1 UNBRK). Artikel 27 der UN-BRK beschreibt das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit, und zwar auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen, und verbietet Diskriminierung aufgrund einer Behinderung in allen Angelegenheiten von Beschäftigung und Beruf. Zudem legt Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention fest, dass die dort geforderten Schritte auch Menschen umfassen sollen, die eine Behinderung während der Beschäftigung erwerben, und formuliert eine staatliche Pflicht, durch geeignete Schritte die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sichern und zu fördern. Darunter subsumiert die UN-BRK die Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten, beruflichem Aufstieg, Unterstützung beim Erhalt eines Arbeitsplatzes und beim Wiedereinstieg (ebd., Buchstabe e), auch im 6
Die Forderungen der UN-BRK sind keineswegs neu. Bereits das Grundgesetz von 1949 verbietet in Art. 3 Abs. 3 Benachteiligung: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«. Und es garantiert in Art. 12 Abs. 1 allen Deutschen sowohl die Freiheit der Berufswahl als auch die Freiheit der Berufsausübung: »Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.« Die Funktion der Berufsfreiheit in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft hat das Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil vom 1. März 1979 wie folgt skizziert: »Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Freiheit des Bürgers in einem für die moderne arbeitsteilige Gesellschaft besonders wichtigen Bereich: Er gewährleistet dem Einzelnen das Recht, jede Arbeit, für die er sich geeignet glaubt, als ›Beruf‹ zu ergreifen, d.h. zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen. […] Darüber hinaus unterscheidet er sich jedoch von ihr durch seinen personalen Grundzug: Der ›Beruf‹ wird in seiner Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im Ganzen verstanden, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt«. Neu ist jedoch, dass die Umsetzung der Forderungen einem Vertrag und in diesem Zusammenhang auch einem Monitoring unterliegt. Erstmalig werden Wunsch und Wirklichkeit von der Monitoring-Stelle am Institut für Menschenrechte in Berlin miteinander abgeglichen und die Ergebnisse veröffentlicht.
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öffentlichen Sektor (ebd., Buchstabe f). 7 Zu Letzterem gehören die staatlichen Hochschulen. In Artikel 24 thematisiert die UN-BRK die der Teilhabe zugrundeliegenden Bildungsvoraussetzungen. In Absatz 1 Buchstabe b wird ein Bildungssystem gefordert, das »Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen [lässt]«. Besonders deutlich hebt Art. 24 Abs. 5 auf hochschulische Bildung und lebenslanges Lernen ab und formuliert Anforderungen an die Institutionen des Bildungssystems, die auch für die Entwicklung und Qualifizierung von wissenschaftlichem Nachwuchs gelten: »Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.«
Die Teilhabe an hochschulischer Bildung und lebenslangem Lernen ist für die Teilhabe an Arbeit als besonders relevant hervorzuheben (vgl. auch Welti 2017: 155), insbesondere aber für die Teilhabe an Arbeit in Forschung und Lehre an Hochschulen. Die deutsche Sozialgesetzgebung sieht seit Langem unterstützende Maßnahmen vor: Es gibt u.a. Regelungen zu Auswahlverfahren und behinderungsgerechter Arbeitsplatzgestaltung (§§ 81, 82 SGB IX), Sonderregelungen zu Mehrarbeit, Zusatzurlaub und Nachteilsausgleich (§§ 124 bis 126 SGB IX). Dafür stehen auch Mittel der Träger der Eingliederungshilfe zur Verfügung, die allerdings nur als Individualansprüche geltend gemacht werden können, nicht als Infrastruktur- oder Investitionskosten von Hochschulen. Während somit Hochschulen durch die Forderungen der UN-BRK einerseits neuen Begründungs- und Investitionsansprüchen ausgesetzt sind, werden ihnen dafür andererseits nicht mehr Mittel gewährt. Dies ist sicher einer der Gründe dafür, warum ein vermeintliches Minderheitsthema wie Behinderung/chronische Erkrankung an Hochschulen randständig ist.
7
Die weiteren geforderten Schritte beziehen sich auf gerechte und günstige, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen einschließlich gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit, gleiche Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte, Chancengleichheit, Schutz vor Belästigungen und Abhilfe bei Missständen (Art. 27 Abs. 1 Buchstabe b und c). Dazu zählen auch der Zugang zu allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratungsprogrammen, Stellenvermittlung sowie Berufsbildung und Weiterbildung (ebd., Buchstabe d).
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1.3
Wissenschaftliche (Nachwuchs-)Laufbahnen
Max Weber bezeichnete wissenschaftliche Laufbahnen vor rund 100 Jahren als riskante Glücksspiele, als »Hazard« (1988 [1919]). Dies gilt trotz zahlreicher Reformen weiterhin (vgl. Reuter et al. 2016). Die wissenschaftliche Laufbahn fordert als unberechenbare Karriere zwischen den Extrempolen einer W3-Professur und dem Hartz-IV-Sozialleistungsbezug (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013) eine hohe und langfristige Risikobereitschaft und Mobilität des Nachwuchses. Zunehmende Formalisierungen und Quantifizierungen sollen Impact-Faktoren messbar und Anforderungen transparenter machen; für eine Leitungsposition in der Wissenschaft werden neben einer Prädikatspromotion über alle Fachdisziplinen hinweg Drittmittelerfolge, Forschungen im Ausland, Publikationen in hochrangigen Journalen und Lehrerfahrung vorausgesetzt und weiterhin soziale Ungleichheit reproduziert (vgl. Graf 2016; Kahlert 2013). Diese Vorstellung überhöht in mythischer Weise »Leistung«: »Einerseits werden Disziplin und Ernsthaftigkeit beschrieben, also eine bestimmte Arbeitshaltung, ein Ethos. Andererseits wird dabei ein Bild vom Abenteurer der Marke ›Lonesome Cowboy‹ entworfen, der viel ›Staub fressen‹ muss, bevor er einen wissenschaftlichen Ertrag herausbekommt bzw. vom einsamen Asketen, der sich ebenfalls durch staubige Akten wühlt, bis er seinen Schatz heben kann. Disziplin und Durchhaltevermögen werden so gepaart mit bestimmten Bildern von Männlichkeit und diese wiederum mit ›Wissenschaftlichkeit‹« (Beaufaÿs 2003: 130).
Dieser Leistungsbegriff idealisiert Autonomie/Einsamkeit und Abenteuer/Unabhängigkeit und verbindet sich mit der Forderung nach räumlicher, zeitlicher, fachlicher und sektoraler Mobilität sowie individueller Leistungs- und Leidensbereitschaft. Und so ist er zugleich unvereinbar mit den im Einzelfall möglicherweise bestehenden flankierenden Kooperations- und Unterstützungsbedarfen und Mobilitätsbeeinträchtigungen, die mit den gesellschaftlich verursachten Folgen von Behinderung/chronischer Erkrankung verbunden sein können. Auch die weiteren Voraussetzungen für den Weg zur Professur werden in ihrer diskursiven Konstruktion vorwiegend individualisiert: Glück und Freiheit, das identitäts- und sinnstiftende Thema zu finden und verfolgen zu dürfen; Glück bei der Wahl einer passenden Mentorin oder eines passenden Mentors; Freiheit zur und Unterstützung bei der eigenständigen Beantragung von Zuschüssen und Stipendien sowie bei der Publikation und Vermarktung von eigenen Forschungsleistungen; Geschick bei der eigenen Positionierung innerhalb der jeweiligen Scientific Community (vgl. Richter 2016b).
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Die Erfüllung von Anforderungen und Voraussetzungen korrespondiert jedoch nicht mit einer während des akademischen Werdegangs zunehmenden Gewissheit um Chancen; zu limitiert sind die verfügbaren Stellen und zu wenig vorhersagbar sind die Entscheidungen von Berufungskommissionen (vgl. Färber/Spangenberg 2008; Metz-Göckel et al. 2016). Als exkludierend wirkend wird in Studien zur wissenschaftlichen Organisation immer wieder ein spezifischer akademischer Habitus thematisiert (u.a. in Beaufaÿs 2006, Engler 2000). Die akademische Selektionspraxis ist demnach an Normalitätsvorstellungen gebunden, die durch Unterdrückungserfahrungen zugleich Formen der Handlungsmächtigkeit generieren können (vgl. Schulz 2017), die aber zugleich Teilhabe und Ausschluss auch auf struktureller Ebene begründen helfen und fortschreiben.
2. D IVERSITY M ANAGEMENT , AKADEMISCHER N ACHWUCHS UND B EHINDERUNG AN DER H OCHSCHULE Typischerweise ist die Auseinandersetzung mit Diversitätsdimensionen im Organisationskontext Gegenstand des Diversity Managements. 2.1
Diversity Management und Behinderung im Allgemeinen
Diversity wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Synonym für Vielfalt, Heterogenität oder Verschiedenartigkeit verstanden und bezieht sich auf das Vorhandensein verschiedener Identitäten und Lebensgewohnheiten von Mitgliedern einer Gesellschaft oder Organisation (vgl. Franken 2015). Durch die in der Regel positive Konnotation des Begriffs Vielfalt wird Diversity im Vergleich zur Homogenität oft als Chance bzw. Vorteil betrachtet (vgl. Fereidooni/Zeoli 2016). Wird Diversity als Ressource einer Organisation betrachtet, dient Diversity Management (DiM) als Instrument zur zielorientierten Administration und Nutzung dieser Ressource, aber auch zur Steuerung von Risiken und negativen Effekten, z.B. bei Kooperationshemmnissen. DiM verfolgt als ganzheitliches Managementkonzept also das Ziel, potentielle Vorteile von Diversität zu maximieren und Nachteile durch Diversität zu minimieren (Cox 1993: 11; Stuber 2004: 20). Unterschieden werden nach Thomas und Ely (2001) verschiedene Ansätze, die für die Sondierung der im Folgenden dargestellten Beispiele herangezogen und hier zunächst vorgestellt werden:
124 | Richter • DiM nach dem »Fairness- und Diskriminierungsansatz« versteht sich als Instru-
ment moralisch und rechtlich gebotener (ebd., S. 245) Gleichstellung und erscheint im Organisationskontext häufig im Zusammenhang mit Corporate Social Responsibility; Problematisch wird der Ansatz jedoch, wenn Diversity als Abweichung vom Verständnis des »Normalmitglieds« einer Organisation gesehen wird und das Anderssein von Minderheiten-gruppen auf diese Weise noch stärker betont wird, so dass diese Personen umso mehr einem Anpassungsdruck ausgesetzt sind (ebd.: 81). Wenn dieses Verständnis darin Ausdruck findet, dass Aufstiegschancen von Minderheiten in einer Organisation eingeschränkt werden, ist ein Glass-Ceiling-Effekt zu konstatieren (vgl. Aretz/Hansen 2002: 35). • DiM nach dem »Markzutritts- und Legitimitätsansatz« konstruiert sich als ein Instrument für den wirtschaftlichen Erfolg einer Organisation, das einen verbesserten Zugang zu neuen Märkten und Kunden sowie das Erzielen eines Wettbewerbsvorteils ermöglichen soll (ebd.: 81). Diese ökonomisch-steigerungslogische Ausrichtung impliziert die Funktionalisierung von Besonderheiten und Unterschieden zwischen Mitgliedern einer Organisation und kann zugleich zur Bildung von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Personen(gruppen) beitragen. • DiM nach dem »Lern- und Effektivitätsansatz« wird als ganzheitlicher Ansatz verstanden, der ethisch-moralische und ökonomische Aspekte integriert, langfristiges organisationales Lernen durch Diversität zu realisieren versucht und bestehende Hierarchien und den Einfluss einer dominanten Gruppe in Frage stellt (ebd.: 81). Dieser Ansatz konfrontiert Organisationen mit Anforderungen, die laut Hansen (2002: 30f.) von ökonomischem Erfolg begleitet oder zumindest schadlos sein müssen.8 Aus der deutschen Soziologie stammt ein weiterer Ansatz: der systemtheoretische Managing-Gender- und Managing-Diversity-Ansatz nach Aretz und Hansen (2002). • DiM nach diesem Ansatz versucht, durch eine systemtheoretische Perspektive
die mangelnden Internalisierungsstrategien der oben genannten Ansätze zu kompensieren und komplexere Diversity-Strategien zu entwickeln, die der omnipräsenten Vielfalt in der pluralen Gesellschaft gerechter werden (vgl. ebd.: 38). Aufbauend auf der »Theorie der Allgemeinen Handlungssysteme« von Talcott Parsons als Bezugsrahmen wird Diversität als Ressource einer Organisation 8
Die ökonomische Wirksamkeit von Diversity und Diversity Management konnte trotz zahlreicher Bemühungen bislang nicht bewiesen werden!
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gesehen, die, wenn sie richtig eingesetzt wird, den Fortbestand der Organisation sichern und die Organisationsstruktur stabiler machen kann (vgl. ebd.: 43). Es werden Dimensionen des Phänomens ebenso wie in den oben genannten Ansätzen funktionalisiert, es wird darüber hinaus aber auch eine Verortung auf verschiedenen Systemebenen vorgenommen.9 Zudem werden sozial konstruierte Differenzen und Hierarchien kritisch reflektiert, um auf Basis der Befunde zu solchen konstruierten Unterschieden, die in Organisationen reproduziert werden und zu Ausgrenzung und Unterdrückung führen, neue Handlungs- und Kommunikationsformen zu entwickeln. Ein DiM nach diesem Ansatz zielt also umfassender als der als ganzheitlich bezeichnete Lern- und Effektivitätsansatz darauf ab, Ausgrenzung und Unterdrückung multiperspektivisch und auf den verschiedenen Ebenen aufzudecken und zu bewältigen. Diese vier Ansätze stellen Idealtypen dar, die in der organisationalen Praxis changieren. In einer Außenbetrachtung ohne Einblick in »Talk«/Außendarstellung und »Action«/Umsetzungspraxis sind sie ohne Forschung und teilnehmende Beobachtung vor Ort kaum einschätzbar. Bemerkenswert ist aber, dass es sich bei Diversity bzw. Diversity Management stets um die Entscheidung einer Organisation handelt, den Umgang mit – in pluralen Gesellschaften ohnehin immer vorhandener – Diversität bewusst zu reflektieren und einzubeziehen. DiM ist kein Selbstzweck, sondern eingebunden in die Rationalitäten, Normen und Werte der Organisation(smitglieder) und darf die Existenz der Organisation nicht grundlegend bedrohen. Die Charta der Vielfalt, ein unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin firmierender Verein mit dem Ziel, »Anerkennung, Wertschätzung und Einbeziehung von Diversity in der Arbeitswelt voran[zubringen]« (https://www.charta-der-vielfalt.de/die-charta/), illustriert das Dilemma der paradoxen Kopplung zwischen moralischer und erhaltungs-, ggf. auch steigerungslogischer Perspektive idealtypisch. Hier wird versucht, Behinderung als optimierenden Produktionsfaktor zu zeigen. Es werden Unternehmen ausgezeichnet, die das vermeintliche Defizit durch optimierte Passungen zwischen Person und Arbeitsplatz in eine Ressource verwandeln. Kritisch betrachtet ist darin eine Überkompensation feststellbar, die offenlegt, was Diversity Management im Umgang mit Barrieren eigentlich zu verhindern suchen soll: Behinderung darf nicht einfach da sein, vielmehr müssen die mit der Behinderung verbundenen Folgen in ihrem 9
Unterschieden wird zwischen den Ebenen des allgemeinen Handlungssystems (z.B. Alter, Behinderung), des organischen Systems (Geschlechtsmerkmale), des psychischen Systems (Persönlichkeitsmerkmale, Ausbildung, sexuelle Orientierung), des Sozialsystems »Gesellschaft« (Ethnizität, Gender) und des kulturellen Systems (Glaube) (vgl. ebd.).
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Schadenspotential weitestgehend ausgeglichen oder sogar nutzbar gemacht werden, um legitim oder aushaltbar zu sein. In dieser Perspektive wird das zentrale Problem deutlich, das die Verbindung von Arbeitsmarkt und Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung brüchig sein lässt: Dem Ansatz des DiM ist die Erwartung von Effizienz und Effektivität, Nutzung und Verwertbarkeit immanent. Wie tief verwurzelt diese antizipierte Erwartung ist, konnte Dobusch (2015) mit ihrer Analyse von Interviews mit Diversity-Manager*innen in Unternehmen und Bildungsorganisationen aufdecken: »Zum einen wird […] eine gewisse Toleranz gegenüber Leistungsunterschieden artikuliert. Zum anderen wird gleichzeitig der prekäre Status dieses flexiblen Umgangs offensichtlich, da dieser als Risiko für die ›Überlebensfähigkeit‹ der Organisation als solche gedeutet wird« (ebd.: 188). Das Motiv der Sicherstellung von Leistung und Leistungsfähigkeit wirkt sich grundlegender aus als das Motiv der Ermöglichung von Teilhabe. Selbst im Diversity Management scheinen die in zahlreichen soziologischen Studien von Cloerkes (1985, 2007) und Neubert/Cloerkes (2001) identifizierten Unsicherheiten und Ängste und das Unbehagen von Menschen ohne Behinderung/chronische Erkrankung gegenüber Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung ebenso stabil zu sein wie die Zuschreibung von Kompetenz- und Leistungsdefiziten, die nach Dobusch (2015) zugleich als Argument der Grenzziehung funktionalisiert werden. Inwieweit dies auch für den wissenschaftlichen Arbeitsmarkt an Hochschulen gilt, ist weitgehend unbekannt. Es gibt aber Hinweise darauf, dass akademische Selektionskriterien und die Zuschreibung von Kompetenzdefiziten die Teilhabe von wissenschaftlichem Nachwuchs mit Behinderung/chronischer Erkrankung negativ beeinflussen (vgl. Richter 2016a). Auf den Homepages deutscher Hochschulen und damit öffentlich sichtbar sind Policies, die dezidiert Auskunft zum Umgang mit Behinderung/chronischer Erkrankung geben, eher nicht. Und wenn sie es sind, werden vorrangig Studierende adressiert; darauf wurde bereits oben im Text hingewiesen. 2.2
DiM an Hochschulen und Behinderung im Speziellen: Eine illustrative Sondierung
Im Folgenden geht es keinesfalls um eine systematische Evaluation von DiversityKonzepten an Hochschulen, sondern um eine Illustration des Status quo anhand ausgewählter Fälle. Dafür werden vier Beispiele aus Hochschulen in NordrheinWestfalen herangezogen: das Projekt »PROMI« der Universität zu Köln, die deutschlandweite Kampagne »AKTIF«, deren Leitung angesiedelt ist an der Universität zu Köln und der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-
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Lippe in Bochum, sowie die hochschulinterne Kampagne »Alle inklusive« und das Mentoring-Programm »mINKLUSIV« der Ruhr-Universität Bochum. Über alle vier berichte ich aus der Perspektive der Außenstehenden, die selbst weder Teil der Entwicklung noch Teil der Umsetzung dieser Policies und Maßnahmen gewesen ist. Die vier Beispiele habe ich ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit ausgewählt. Sie scheinen mir aber geeignet, weil sie einerseits auf die Dimension Behinderung ausgerichtet sind und andererseits die Teilhabe an Wissenschaft und wissenschaftlichem Arbeitsmarkt fokussieren. 2.2.1 Das Projekt »PROMI« und die Kampagne »AKTIF« Für die Fragestellung dieses Aufsatzes ist dieses Projekt von Interesse, weil es durch eine breite Zielstellung unter Einbeziehung verschiedener, vorrangig einflussreicher Stakeholder gekennzeichnet ist. Auf der Homepage des Projekts PROMI10 heißt es: »Im Rahmen des Projektes PROMI – Promotion inklusive haben insgesamt 45 HochschulabsolventInnen mit einer Behinderung die Möglichkeit zur Promotion erhalten. Dazu wurden in den Jahren 2013 bis 2015 zusätzliche halbe Stellen für wissenschaftliche MitarbeiterInnen an 21 Partner-Hochschulen in ganz Deutschland eingerichtet. Bei den Promotionsstellen handelt es sich um 3-jährige sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mit der Möglichkeit zur individuellen Verlängerung um bis zu weitere 2 Jahre. Der Vorteil: Die Promovierenden sind finanziell abgesichert und es besteht ein Rechtsanspruch auf notwendige berufliche Reha-Leistungen. Die Leitung des Projektes sowie die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation liegen bei Prof.’in Dr. Mathilde Niehaus (Arbeit und berufliche Rehabilitation) und Prof. Dr. Thomas Kaul (Pädagogik und Rehabilitation hörgeschädigter Menschen) der Universität zu Köln. Kooperationspartner sind der Arbeitgeberservice Schwerbehinderte Akademiker der ZAV der Bundesagentur für Arbeit und das Unternehmensforum, das die Brücke zur Wirtschaft herstellt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.«11
Als Ausgangspunkt für das Projekt werden vier Aspekte benannt: (1) die Verpflichtungen der UN-BRK, (2) die geringe Beachtung von Akademiker*innen mit Behinderung, (3) der auf Barrieren hindeutende Befund aus einer Pilotstudie zur beruflichen Teilhabe hochqualifizierter Menschen mit Behinderung und damit 10 Link zur Homepage von PROMI: https://promi.uni-koeln.de/; zu den Zielsetzungen: https://promi.uni-koeln.de/zielsetzungen/ 11 Ein vergleichbares, wenngleich deutlich kleineres Projekt stellt das 2011 begonnene Projekt »InWi – Inklusion in der Wissenschaft« des Landesbehindertenbeauftragten von Bremen dar https://www.behindertenbeauftragter.bremen.de/themen/arbeit/inwi_ __inklusion_in_der_wissenschaft-9687.
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verbundenen Chancen und Barrieren (vgl. Bauer/Niehaus 2013) und (4) der Mangel an Sichtbarkeit von Akademiker*innen mit Behinderung. Mit dem Projekt werden vielfältige Ziele auf der Ebene der Promovierenden, der Hochschule und der Gesellschaft verfolgt: Beratung und Karriereplanung schwerbehinderter Absolvent*innen, Bewältigung unterschiedlicher Rahmenbedingungen und Schaffung von Barrierefreiheit für Promovierende mit Behinderungen an den Universitäten, Verbesserung der Arbeitsmarktaussichten nach erfolgreicher Promotion und der Wahrnehmung behinderter Menschen in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Zur Realisierung dieser Ziele wurde ein personell starker Beirat mit Repräsentierenden unterschiedlicher Institutionen implementiert. Nach der Heuristik der oben genannten vier Ansätze des Diversity Managements kann dieses, hier nur überblickshaft skizzierte Projekt wohl am ehesten dem systemtheoretischen Managing-Gender- und Managing-Diversity-Ansatz mit Bezügen zum Lern- und Effektivitätsansatz zugeordnet werden. Es geht um ganzheitliche Auseinandersetzung mit Behinderung und Teilhabe am wissenschaftlichen Arbeitsmarkt, aber auch um weitere Aspekte, wie z.B. den Einfluss auf Gesellschaft und Rahmenbedingungen. Die enge Verflechtung der Lehrstühle/Professuren mit dem Projekt ist darüber hinaus als Ausdruck des spezifischen Standortes zu verstehen. An der Universität zu Köln hat die öffentlich sichtbare und in konkreten Maßnahmen realisierte Auseinandersetzung mit Behinderung bereits jahrelange Tradition, sowohl im Studium als auch in der Personalentwicklung. Die Homepage der Universität12 weist das Thema »Gender Equality & Diversity« prominent aus, es sind zahlreiche aktuelle Initiativen und zahlreiche Informationen u.a. in den Rubriken »Profil«, »Forschung«, »Lehre & Studium«, »Beruf & Karriere« und »Vereinbarkeit & Inklusion« leicht zu finden und verständlich aufbereitet. Universitätsweit ist eine Vielzahl an Professuren und Forschungseinrichtungen im Bereich »Vielfalt & Chancengerechtigkeit« institutionalisiert. Die Dimension Behinderung ist dabei explizit und sichtbar vertreten. Diese standortspezifischen Voraussetzungen dürften als Erfolgsbedingung für die Akquise und Realisierung des Projekts wie auch die Gewinnung des Beirats nicht unwichtig gewesen sein. Zugleich wird mit einem Projekt wie PROMI die Frage nach Behinderung und wissenschaftlicher Laufbahn auch als Begründungsanspruch gegenüber dem eigenen Standort verstärkt. Dieses Beispiel zeigt eine sich selbst verstärkende Policy, die Behinderung nachhaltig thematisieren und bearbeiten wird, weil sie seitens der
12 Link zur Diversity-Homepage der Universität zu Köln: https://www.portal.uni-koeln. de/gender_diversity11.html.
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Organisation gewünscht oder zumindest zugelassen wird, bereits in den Strukturen der Universität institutionalisiert ist und sich fortlaufend und von der Aufmerksamkeit relevanter Stakeholder begleitet weiterentwickeln kann. Die Akteur*innen treten entsprechend selbstbewusst auf: Im April 2017 haben die Projektleiterin und der Projektleiter unter Beteiligung ihrer Partneruniversitäten und Beiratsmitglieder einen offenen Brief an die Bundesbildungsministerin geschrieben, in dem sie dazu auffordern, die Forschungslücke zum wissenschaftlichen Nachwuchs mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen zu schließen. Die deutschlandweite Kampagne »AKTIF – Akademiker*innen mit Behinderung in die Teilhabe- und Inklusionsforschung«13 beschreibt sich als »ein bundesweites Netzwerk aus Forscher*innen mit und ohne Behinderungen, die Inklusions- und Teilhabeforschung betreiben und gemeinsam relevante Themenschwerpunkte und Forschungslücken identifizieren. In standortübergreifender Arbeit nutzen die Forscher*innen Synergien, die aus der Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams entstehen. Die Forschungsgruppen sind an Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen angesiedelt und werden von wissenschaftlichen Expert*innen verschiedener Fachbereiche begleitet und unterstützt. AKTIF startete im Jahr 2015 und ist zunächst auf drei Jahre angelegt.«
Unter dem Motto »Inklusive Forschung darf kein Wettbewerbsnachteil sein!« werden insbesondere drei Ziele verfolgt: (1) Perspektiven zu schaffen und zur Umsetzung der UN-BRK beizutragen, (2) Teilhabeforschung zu stärken und (3) Nachwuchs zu qualifizieren. Die Kampagne beinhaltet zahlreiche unterschiedliche Projekte zur Dimension Behinderung/chronische Erkrankung und ist personell hochkarätig besetzt. Neben der stellvertretenden Vorsitzenden des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Frau Professor Dr. Theresia Degener und ihrem Team vom Zentrum für Disability Studies BODYS an der Evangelischen Fachhochschule Bochum sowie dem Team rund um die Leitung des oben genannten PROMI-Projekts an der Universität zu Köln sind ebenfalls für die Dimension einschlägige Universitäten wie z.B. die Technische Universität Dortmund vertreten. Letztere verfügt mit »DoBuS«, dem Dortmunder Bereich »Behinderung und Studium« innerhalb des »Zentrums für HochschulBildung« an der TU Dortmund über eine thematisch einschlägige zentrale Einrichtung, wird fachlich von der Fakultät Rehabilitationswissenschaften begleitet und arbeitet mit der »Interessengemeinschaft behinderter, nichtbehinderter und chronisch kranker Studierender« (IbS), dem »Autonomen Behindertenreferat« (ABeR) der TU Dortmund und der Beauftragten für die Belange behinderter Studierender zusammen. 13 Link zur AKTIF-Homepage: https://www.aktif-projekt.de/
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Vergleichbar mit dem vorgenannten Projekt PROMI verfügt die Kampagne AKTIF über starke Stakeholder, organisationale Erwünschtheit und Zugriff auf institutionalisierte Ressourcen, so dass sie nach der Logik des systemtheoretischen Gender- und Managing-Diversity-Ansatzes zu funktionieren scheint. Die starke institutionelle Kooperation und Verankerung ist gleichermaßen Vorbedingung und Ergebnis einer bereits etablierten einschlägigen Professionalisierung zum Thema. 2.2.2 Die Kampagne »Alle inklusive« und das Programm »mINKLUSIV« Einen zu den beiden bisher genannten Beispielen eher kontrastiven Fall stellt die Kampagne »Alle inklusive« dar. Die 2016 gestartete Kampagne der Ruhr-Universität Bochum (RUB) unter Schirmherrschaft der Kanzlerin und des Rektors will auf die Angebote der Schwerbehindertenvertretung und die Arbeitnehmerrechte für Beschäftigte mit Behinderung/chronischer Erkrankung hinweisen. Hierfür steht ein Flyer zum Download14 bereit, auf der Homepage der Schwerbehindertenvertretung findet sich ein entsprechender Hinweis. Auf der Universitätshomepage15 steht unter »Profil« die Rubrik »Vielfalt und Chancengleichheit« zur Verfügung, die einen eher kurzen Text und einige Links zu weiteren Beratungs- und Informationsangeboten enthält. Die ausführlichere Homepage unter dem Titel »Chancengleich« bezieht sich vorrangig auf die Gleichstellung der Geschlechter.16 Hier geht es um Informationsgewinn für die Hochschule sowie Informierung und Aufklärung für Beschäftigte, nicht zuletzt mit Blick auf die Quotierungsvorgaben, weniger aber um eine neue Maßnahme oder die Auseinandersetzung mit Barrieren und Chancen. Dies hat ebenfalls einen historisch-organisationalen Grund: Im Gegensatz zu den zuvor genannten Hochschulen ist an der Ruhr-Universität Bochum das Thema Teilhabe und Inklusion nicht durch Lehrstühle und Professuren, Institute und Zentren etabliert. Mit dem Leitbild »menschlich – weltoffen – leistungsstark« versteht sie sich als Lehruniversität, die die Vielfalt auf dem Campus fördert, die konkreten Maßnahmen kommen aber eher aus der Verwaltung als aus der Wissenschaft. Damit steht die RUB beispielhaft für die vielen Hochschulen, die nicht auf eine lange Tradition und Professionalisierung zur Dimension Behinderung zurückblicken können. Dass Maßnahmen wie »Alle inklusive« aus der Verwaltung und nicht aus den im Wissenschaftssystem traditionell 14 Zu finden unter: http://www.uv.ruhr-uni-bochum.de/dezernat3/aktuelles/alle-inklusive. PDF. 15 http://www.ruhr-uni-bochum.de/universitaet/profil/vielfalt-und-chancengleichheit/in dex.html 16 http://www.ruhr-uni-bochum.de/chancengleich/index.html
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mächtigeren Fakultäten kommen und die Fakultäten (ggf. anderer Hochschulen) mit ihrer Forschung nicht im entsprechenden Maße einbezogen werden, schwächt nach meiner Ansicht ihren Wirkungsgrad und setzt ihrem Beitrag zur Förderung eines entsprechenden Diskurses um Diversity und Behinderung/chronische Erkrankung Grenzen. In dieser Kampagne mischen sich der Fairness- und Diskriminierungsansatz und der Marktzutritts- und Legitimitätsansatz: Die Kampagne weist auf Behinderung hin, indem es das Recht auf Nachteilsausgleiche in den Fokus rückt. Wenig verdeckt ist damit das Ziel, Beschäftigte zur Demaskierung des potentiell stigmatisierungsfähigen Merkmals Behinderung (Goffman 1963) aufzurufen, sicher nicht zuletzt mit Blick auf die Einhaltung von Quoten vor dem Hintergrund der andernfalls zu zahlenden Ausgleichsabgabe.17 Letztere ist zwar sehr niedrig und als finanzielle Belastung nahezu vernachlässigbar, aber es geht auch um Außendarstellung und die Übereinstimmung mit dem proklamierten Leitbild. Einen breiteren Ansatz, der etwas stärker auf organisationales Lernen und Weiterentwicklung im Sinne des Lern- und Effektivitätsansatzes setzt, stellt das am selben Standort Ende 2017 gestartete Mentoring-Programm »mINKLUSIV«18 dar, das Benachteiligungen durch Beeinträchtigung und Geschlecht im Arbeitsraum Universität abbauen will und gezielt Wissenschaftlerinnen adressiert. Auf der Homepage des Programms heißt es: »Ob sichtbar oder unsichtbar, angeboren oder erworben, die Hürden im Berufsalltag für Frauen mit Beeinträchtigung sind vielfältig: von strukturellen, über technische bis hin zu emotionalen Barrieren warten immer wieder Herausforderungen. So zahlreich die Hürden, so mannigfaltig sind auch die Erfahrungen und Strategien damit umzugehen. Das neue Mentoringprojekt mINKLUSIV der Ruhr-Universität Bochum bereitet den Weg zu einem inklusiven Forschungs- und Arbeitsraum. Wissenschaftlerinnen mit Beeinträchtigung können hier zielgerichtete Angebote wahrnehmen und in Zusammenarbeit mit erfahrenen Mentorinnen und Mentoren ihre berufliche Laufbahn entwickeln. Als kooperatives Projekt der Gleichstellungsbeauftragten und der Organisations- und Personalentwicklung positioniert sich mINKLUSIV als Baustein auf dem Weg zu einer inklusiven Organisation. Gemäß dem
17 Gemäß § 71 Abs. 1 SGB IX haben private und öffentlich-rechtliche Arbeitgeber, die über mindestens 20 Arbeitsplätze verfügen, auf wenigstens 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Wird die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigt, ist gemäß § 77 Abs. 1 SGB IX für jeden unbesetzten Pflichtplatz eine monatliche Ausgleichsabgabe zu entrichten, die 125 bis 320 Euro pro Jahr und unbesetztem Arbeitsplatz beträgt. 18 Homepage von mINKLUSIV: https://www.ruhr-uni-bochum.de/mentoring/minklusiv/
132 | Richter Motto: ›Eine leistungsstarke Universität nimmt alle mit‹ werden bei mINKLUSIV Diversität und Inklusion an der Ruhr-Universität weitergedacht, gestaltet und die Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe verbessert.«19
Dieses Programm setzt die Kampagne fort, sucht aber einen stärker inhaltlichen Ansatz und bietet eine konkrete intersektionelle Maßnahme, die sowohl die Dimension Behinderung als auch die Dimensionen Geschlecht und Status aufgreift. Die Kampagne hat das Potential, sich als systemtheoretischer Gender- und Managing-Diversity-Ansatz zu entwickeln, ist aber in der frühen Phase eher den Maßstäben des Lern- und Effektivitätsansatzes zuzuordnen. Aufgrund der noch kurzen Laufzeit sind die institutionellen Verankerungen und Vernetzungen noch nicht einschätzbar, bauen aber nicht auf bereits bestehende Kooperationen auf und sind im intendierten Wirkungsgrad deutlich lokaler als PROMI und AKTIF.
3. Z ENTRALE STRUKTURELLE B ARRIEREN ODER »W ARUM SICH H OCHSCHULE GAR NICHT ERST MIT IHREM U MGANG MIT B EHINDERUNG ZU BEFASSEN BRAUCHT « Die Vision des Art. 27 Abs. 1 BRK mit dem Ziel einer humaneren und gerechteren Arbeitswelt – Trenk-Hinterberger (2012) formuliert als dessen Leitidee: »Anzustreben ist ein inklusiver Arbeitsmarkt« – darf nicht ignoriert werden, etwa aufgrund der Vermutung, dass es sich nur um eine Minderheit handele und es daher drängendere Herausforderungen gebe: »Die Rechtspflicht, eine humanere und gerechtere Arbeitswelt zu schaffen, darf man eben nicht nach einer zynischen Kalkulation der Erfolgsaussichten bemessen« (ebd.: 8). Über etwaige Kalkulationen dieser Art können freilich nur Mutmaßungen angestellt werden. Zwei strukturelle Herausforderungen sind im Zusammenhang mit der Einbeziehung von Behinderung/chronischer Erkrankung und der Teilhabe am internen Arbeitsmarkt für wissenschaftlichen Nachwuchs besonders relevant; dies zeigen die vier oben vorgestellten Policies bzw. DiM-Maßnahmen mit ihren positiven Diskriminierungsmaßnahmen und ihren Plädoyers an Beschäftigte und Politik: Es bestehen große Datenlücken und es existiert eine geringe Präsenz im Promotionsund Postdoc-Status. Diese Herausforderungen sind in ihrer Bedeutung für die Teilhabeproblematik so gravierend, dass alle Policies unterhalb des Verbreitungs-
19 Bemerkenswert ist vor allem der erste Satz in diesem Zitat: Können Hürden angeboren sein? Wie stehen Barrieren zu den wartenden Herausforderungen?
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und Professionalisierungsgrades von Institutionalisierungen wie PROMI oder AKTIF nahezu wirkungslos bleiben müssen, denn die Hochschule setzt dann gewissermaßen zu spät, zu machtlos und auf einer zu schwachen Informationsbasis an, um die notwendige Intervention effektiv und erfolgreich zu gestalten. 3.1
Herausforderung 1: Forschungslücken und fehlende Daten
Hochschule und Behinderung/chronische Erkrankung scheinen kaum Berührungspunkte miteinander zu haben. Forschung, die beide Themen zueinander in Bezug setzt, gibt es kaum. Vermutlich ist für die Hochschul- und die Wissenschaftsforschung Behinderung/chronische Erkrankung ebenso randständig, wie Hochschule es für die Teilhabe- und Inklusionsforschung ist. Forschungsgelder zum Konnex dieser beiden Themen zu akquirieren, ist entsprechend schwierig. Dabei ist der enorme Forschungsbedarf längst bekannt. Mit den Erhebungen »beeinträchtigt studieren – Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit« (Unger et al. 2012) und »beeinträchtigt studieren 2 – Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit« (Poskowsky et al. 2018), herausgegeben vom Deutschen Studentenwerk und finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, wurden Grundlagen geschaffen, um die Datenlücke zur Situation Studierender mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen zu schließen. Auch in der 20. und 21. Sozialerhebung (Middendorff et al. 2013, 2017), in denen die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland im Mittelpunkt steht, werden dem Thema »Beeinträchtigung« eigene Kapitel gewidmet. Die Analysen treffen, neben grundsätzlichen Angaben zur Art der Beeinträchtigung, Aussagen zu Studienzugang, Fächerwahl, Studienverlauf, Wohnform und Finanzierung von Studierenden mit gesundheitlicher Beeinträchtigung, z.T. auch zur Wahrnehmung beruflicher Chancen. Beruflicher Verbleib und Übergang werden jedoch nicht thematisiert. »beeinträchtigt studieren« setzt sich z.B. detailliert mit dem Studium bis zu Abschlüssen wie Diplom, Master oder Staatsexamen auseinander, nicht aber mit dem Promotionsstudium oder anschließenden Berufsübergängen.20 Da Absolvent*innen nicht ex post über ihre Arbeitserfahrungen Aus-
20 Gleiches gilt auch für die von Ramm und Simeaner (2014) vorgelegte Publikation »Behinderte und chronisch kranke Studierende: Sonderauswertung des 12. Studierenden-
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kunft geben und keine Daten zu Berufseinstieg und Arbeitsbedingungen einbezogen werden, bleibt es bei einer Momentaufnahme aus der Perspektive von Studierenden. Diese sind wichtig, aber meiner Ansicht nach nicht ausreichend. Inwiefern sich Barrieren auf die Teilhabe an Wissenschaftskarrieren auswirken, bleibt insgesamt athematisch. Eine ähnliche Datenbasis, die die Situation des Personals in Verwaltung und Wissenschaft sowie den Übergang zu Promotion oder Berufslaufbahnen beleuchtet, fehlt. Um die Situation von Postgraduierten und Hochschulpersonal verstehen und Chancen verbessern zu können, müssten sie Gegenstand von Forschung werden. Dies gilt insbesondere für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Bereits im ersten »Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs« (BuWiN), veröffentlicht im Jahr 2008 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, wurde die »Verbesserung der Informationsbasis über die Situation behinderter bzw. chronisch kranker Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler« (ebd.: 3) als wichtiger Reformbereich herausgestellt. Im BuWiN 2013 wurde konstatiert: »Mit besonderer Schärfe treten die Daten- und Forschungsdefizite in Bezug auf die Themenkombination Wissenschaft und Behinderung zutage« (ebd.: 350). Als grundlegende Unzulänglichkeiten wurden die nicht eindeutig etablierte Definition von Behinderung und die Integration der vielfältigen Perspektiven auf Behinderung genannt. Weitere Defizite sah der BuWiN im Jahr 2013 insbesondere in der quantitativen Datenlage (ebd.) und konkretisierte empirischen Forschungsbedarf für die Themenbereiche von Zugang und Verbleib, Karrierewegen, strukturellen und einstellungsbedingten Barrieren, Nachteilsausgleichen und Unterstützungsbedarfen (ebd.: 351). Diese Forschungslücken erkannte auch die Bundesregierung an: »Das wissenschaftliche Konsortium des Berichts fordert […] eine breit gefächerte und anspruchsvolle Datengewinnungsstrategie, partiell eine Weiterentwicklung der amtlichen Statistik sowie eine strategisch ausgerichtete Intensivierung der empirischen Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Die Bundesregierung unterstützt dieses Anliegen nachdrücklich« (Bundesregierung 2013: 16). Doch geändert hat sich nichts. Auch im dritten BuWiN, erschienen im Februar 2017, wird der Hinweis auf bestehende Forschungslücken zur Frage der Chancengerechtigkeit von wissenschaftlichem Nachwuchs mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen fortgeschrieben (ebd.: 64). Zur Korrelation von Wissenschaft und Behinderung wurde bislang keine Datengewinnungsstrategie veröffentlicht. Ein Grund hierfür dürfte in der Problematik der Datenerhebung liegen, die einen gleichermaßen engen wie breiten Behinderungsbegriff erfordert. Bisherige surveys (WS 2012/13)«, in der für die Perspektive der Studierenden eine pessimistischere Zukunftserwartung zu Arbeit und Beruf formuliert, nicht aber detaillierter verfolgt wird.
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amtliche (Personal-)Statistiken zu Behinderung basieren vorrangig auf dem medizinisch-defizitzentrierten Behinderungsbegriff, nicht auf dem sozialen Modell der Disability Studies bzw. der deutschen Teilhabe- und Inklusionsforschung. Somit wird in Deutschland noch immer Schwerbehinderung erfasst. Diese wird nur dann offiziell und messbar, wenn eine bestehende Behinderung mitgeteilt und ein Grad der Behinderung festgestellt wurde. Wer keinen Feststellungsantrag einreicht, kann tatsächlich schwerbehindert sein, ohne entsprechend statistisch erfasst zu werden. Dem Arbeitgeber muss eine Behinderung nur im Fall der Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, die in der Regel erst ab dem Grad einer Schwerbehinderung bestehen, mitgeteilt werden. So wird Behinderung vielfach weder offiziell noch im (personal-)statistischen Zusammenhang erfasst. Und die vorliegenden Zahlen suggerieren, dass in der arbeitsmarktrelevanten Altersgruppe der 18bis 45-Jährigen vermeintlich wenig ›Bedarf‹ besteht: Von den 7,5 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung im Jahr 2015 waren ›nur‹ 7,7 Prozent oder 709.439 im Alter zwischen 18 und 45 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt 2015). Für Datenerhebungen und amtliche Statistiken medizinische Etiketts zu nutzen, statt das soziale Modell (der Disability Studies und UN-BRK) aufrechtzuerhalten, birgt neues Stigmatisierungspotential. Befragungen auf Basis von Selbstauskünften zu individuellem Erleben und sozialen Barrieren durchzuführen, ist hingegen mit dem Risiko verbunden, unterschiedliche Wahrnehmungen von Wohlbefinden zu erfassen; diese können für Analysen auf der Individualebene zwar hochgradig relevant sein, sind für strukturelle Ableitungen aber irreführend und als Basis für politisch-rechtliche Konsequenzen zu wenig belastbar. Die Entwicklung einer Definition und die Erhebung von quantitativen Daten, wie sie der BuWiN fordert, sind vor diesem Hintergrund große Herausforderungen. Aber auch für die qualitative Forschung ergeben sich Probleme, z.B. weil nötige Analysen nicht als relevant identifiziert werden. Wie viele Personen mit Behinderung im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses tätig sind, ist ohne geeigneten (eindeutigen und teilhabezentrierten) Behinderungsbegriff nicht einschätzbar.
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Herausforderung 2: Laufbahnbedingungen von wissenschaftlichem Nachwuchs und deren Finanzierung
In Deutschland sind die speziell auf Promotionsvorhaben abzielenden Förderformen in der Regel entweder eine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen oder ein Promotionsstipendium. Ein Beschäftigungsverhältnis ist der Regelfall, um eine Promotion zu realisieren und im Weiteren eine Wissenschaftskarriere anzustreben. Als entscheidendes Nadelöhr ist aber bereits das Studium zu verstehen, dessen Finanzierung eine existentielle Frage ist.21 3.2.1 Stipendien Neben dem Beschäftigungsverhältnis als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen ist im deutschen Universitätssystem die Förderung der Promotion durch ein Stipendium verbreitet. Geförderte können den größten Teil ihrer Zeit auf die Erstellung ihrer Dissertation verwenden. Stipendien werden im Rahmen von kompetitiven Bewerbungsverfahren vorrangig von Graduiertenkollegs und Stiftungen der Begabtenförderung gewährt; zusätzlich gibt es spezielle Auslandsstipendien. Stipendien begründen kein Arbeitsverhältnis. Sie sind steuerfrei22 und unterliegen somit nicht der Sozialversicherungspflicht. Dies heißt aber auch, dass Stipendien kein Entgelt im Sinne des § 14 SGB IV darstellen, so dass für Stipendiat*innen mit Behinderung kein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie keine Arbeitslosen- und Rentenversicherung besteht. Die finanzielle Zuwendung umfasst neben einem Grundbetrag meist zwar Familien- und Kinderbetreuungszuschläge; Zuschläge für behinderungsbedingte Mehrbedarfe sind jedoch in der Regel nicht vorgesehen. Dabei ist besonders problematisch, dass mit dem Bezug eines Promotions- oder Habilitationsstipendiums das Recht auf Ausgleichsleistungen erlischt. So fehlt die Finanzierungsgrundlage von behinderungsbedingt notwendigen technischen und personellen Hilfen im Rahmen von Promotionsstipendien. Auf Assistenz usw. müssen Promovierende verzichten oder die Kosten selbst tragen. Damit tritt für eine spätere wissenschaftliche Laufbahn das Selektionskriterium der sozialen Herkunft und die Diskriminierung durch sozialen Status in den
21 Die beiden folgenden Teilkapitel wurden in ähnlicher Weise bereits 2016 im Aufsatz »Welche Chance auf eine Professur hat Wissenschaftsnachwuchs mit Behinderung? Selektivität und Exklusion in der Wissenschaft« in den Beiträgen zur Hochschulforschung veröffentlicht. Sie wurden für diesen Aufsatz überarbeitet und aktualisiert. 22 gem. § 3 Nr. 44 EStG
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Vordergrund. Nur wenn die Familie die Kosten für behinderungsassoziierte Ausgleichsleistungen aufbringen und so die Promotionsphase ermöglichen kann, ist der Schritt der Promotion im Rahmen eines Stipendiums möglich. Im Zusammenhang mit Stipendien ist jedoch nicht nur die soziale Herkunft ein Selektionsmerkmal, auch das Merkmal Alter kann für den Ausschluss wirksam werden. Stipendien der stiftungsbasierten Graduiertenförderung für Promovierende sind in der Regel Leistungsstipendien. Die Auswahlkriterien umfassen Qualifikationen wie geringe Studiendauer und Einhaltung einer niedrigen Altersgrenze, aber auch Erfahrungen aus Praktika und Auslandssemestern. Diese Kriterien können von Absolvent*innen mit Behinderung/chronischer Erkrankung im Einzelfall kaum erfüllt werden. Darüber hinaus ist die Förderungshöchstdauer aus der Perspektive von Promovierenden mit Behinderung zeitlich knapp bemessen. Die Nebenbestimmungen des BMBF und der Diversity-Initiative der DFG23 eröffnen inzwischen Möglichkeiten eines Nachteilsausgleichs. Diese beziehen sich auf Auswahlkriterien, Förderungsdauer und die Finanzierung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs. Auch bei der Gesamtbewertung eines Antrags in Bezug auf die bisherigen wissenschaftlichen Leistungen soll so eine Behinderung oder chronische Erkrankung angemessen berücksichtigt werden (beispielsweise bei der Beurteilung des bisherigen wissenschaftlichen Werdegangs und der Publikationsleistung). Falls durch die Einstellung von Menschen mit Behinderung projektspezifische zusätzliche Kosten anfallen, die nicht anderweitig (z.B. durch die Integrationsämter) erstattungsfähig sind, können diese im Wege einer Umdisponierung oder im Wege eines Zusatzantrags als notwendige Mehrkosten bewilligt werden. Insgesamt aber bedeuten sie (a) einen Mehraufwand bei der Antragstellung, müssen (b) überhaupt erst bekannt sein und schrecken (c) bei der Antragstellung sicherlich auch Professor*innen ab, die in Bezug auf Behinderung und entsprechende Antragsrechte unerfahren sind. Vor allem aber setzen diese Maßnahmen der positiven Diskriminierung an einem Punkt an, an dem die Selektion bereits stattgefunden hat. 3.2.2 Eingliederungshilfe: Bisherige Praxis Um die beeinträchtigenden Folgen einer Behinderung/chronischen Erkrankung für die Teilhabe auszugleichen, existieren zahlreiche Instrumente und Maßnahmen der Förderung und des Ausgleichs, u.a. Finanzierung von Bildung, Assistenz, technischer Ausstattung oder Mehrkosten durch Nutzung des privaten PKW. Finanziert werden diese Leistungen bislang über die Eingliederungshilfen, die im Sozialgesetzbuch XI verankert sind und in der Regel vom überörtlichen Träger der Sozialhilfe übernommen werden. Im Jahr 2016 wurde – unter anderem zur 23 Hierzu mehr unter: www.dfg.de/diversity
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Verwirklichung der UN-BRK – das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen bzw. Bundesteilhabegesetz (BTHG) beschlossen, das als Artikelgesetz zahlreiche Rechte und Ansprüche von Menschen mit (schweren) Behinderungen/chronischen Erkrankungen, die in anderen Gesetzbüchern verteilt sind, bündelt, die Leistungen der Eingliederungshilfe formal neu arrangiert und auch inhaltlich neu formuliert. Das BTHG tritt in vier Stufen zwischen 2017 und 2023 in Kraft. Mit dem Bundesteilhabegesetz sind auch hinsichtlich der Teilhabe an Bildung und Arbeit etliche Neuerungen vorgenommen worden. Um einen ausreichend breiten und tiefen Einblick zu gewährleisten, stellen die folgenden Abschnitte die bisherige Rechtspraxis vor dem Hintergrund idealtypischer Studienphasen dar. Bislang bestand für Studierende mit Behinderung ein Rechtsanspruch auf Finanzierung ihres behinderungsbedingten Studienmehrbedarfs aus den Mitteln der Eingliederungshilfe. Dort heißt es in § 54 SGB XII Abs. 1, Nr. 2 und 3: »(1) Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 des Neunten Buches insbesondere 2. Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule, 3. Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit.« Bemerkenswert ist zunächst, wie die ›Angemessenheit eines Berufs‹ ausgelegt wird. Nach einer weitgehend restriktiven Auslegung durch die Sozialhilfeträger bewertete das Landessozialgericht NRW im Jahr 2010 (Aktenzeichen L 20 SO 289/10 B ER)24 die ›Angemessenheit eines Berufs‹ nicht vorrangig danach, ob es möglich ist, mit dem bisher erlernten Beruf trotz Behinderung ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen. Es stellte stattdessen das Recht auf gleiche Chancen in Bezug auf Weiterqualifikation und Berufswahl in den Mittelpunkt: Entscheidend sei der Vergleich mit einem Menschen ohne Behinderungen, der in einer ansonsten gleichen Lebenslage die gleiche auf den Erstberuf aufbauende, weiterführende Berufsausbildung durchführen könne. Diese Auslegung entspricht nach meiner Ansicht dem Teilhabebegriff, der mit dem BTHG insbesondere im Hinblick auf die Forderung der UN-Konvention nach gleichberechtigtem Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung und lebenslangem Lernen (Art. 24 Abs. 5 UN-BRK) realisiert werden soll. In der Bewilligungspraxis war Anspruch auf Förderung gewährleistet bei einem Erststudium im Anschluss an die Hochschulreife, dann auch bei Absolvierung eines konsekutiven Masterstudiengangs, allerdings nur in Ausnahmefällen nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung.
24 Entscheidung des Landessozialgerichts NRW von 2010: L 20 SO 289/10 B ER auf www.rehadat.de
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Um »Hilfe zur Ausbildung für einen angemessenen Beruf« zu erhalten, war bislang irrelevant, ob der Berufsabschluss den tatsächlichen Fähigkeiten des/der Studierenden entspricht, eine realistische Chance auf dem Arbeitsmarkt bietet oder eine zukünftige Erwerbstätigkeit sichern kann. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) empfiehlt als Ausnahmefälle erstens den unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen dem Abschluss der Berufsausbildung und der Aufnahme des Studiums und zweitens die erhebliche Chancenerhöhung auf dem Arbeitsmarkt durch ein Studium. Unter den spezifischen Bedingungen einer akademischen Laufbahn, die eine vorherige Praxis außerhalb des Wissenschaftssystems eher stört als voraussetzt, ist nach meiner Einschätzung nicht ausreichend sicherzustellen, dass eine Dauerposition im wissenschaftlichem Mittelbau oder eine Professur erreicht werden kann, so dass eine Förderung nach abgeschlossener Berufsausbildung kaum in Frage kommen dürfte. Im Falle von postgradualer Weiterqualifizierung, d.h. nicht-konsekutiven Masterstudiengängen und Zweit-, Promotions- oder Habilitationsstudien, stehen Leistungen der Eingliederungshilfe bislang nicht zur Verfügung. Diese Praxis kritisiere ich als stark exkludierend. Es gibt kaum noch traditionell-lineare Bildungsverläufe, die Biographien werden immer mehr durch Wechsel von Studienphasen mit Berufs- und Weiterbildungsphasen geprägt, lebenslanges Lernen stellt ein zentrales Paradigma der Gegenwart und Zukunft dar. Im wissenschaftlichen Arbeitsmarkt der Hochschulen ist lebenslanges Lernen schon lange gleichermaßen wissens- wie entwicklungsbasiert und prägt die auf mehreren Ebenen mobilen Biographien der meisten jungen Wissenschaftler*innen. Wer mit Behinderung/chronischer Erkrankung trotz aller Barrieren den Weg bis zur Promotion oder sogar Habilitation gemeistert hat, aber auf Kostenübernahmen für personelle und technische Unterstützungen angewiesen ist, wird bislang von den weiteren Karrierechancen ausgeschlossen. An dieser Stelle sei nochmals an ein vorgenanntes Zitat erinnert: »Die Rechtspflicht, eine humanere und gerechtere Arbeitswelt zu schaffen, darf man eben nicht nach einer zynischen Kalkulation der Erfolgsaussichten bemessen« (Trenk-Hinterberger 2012: 8). Ändert sich durch das BTHG und die Forderung der UN-Konvention nach gleichberechtigtem Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung und lebenslangem Lernen (Artikel 24 Absatz 5 UN-BRK) substantiell etwas an den Chancen auf Zugang zum wissenschaftlichen Arbeitsmarkt? Es sei hier vorweggenommen: Es gibt strukturelle Verbesserungen, aber die zentralen Barrieren – allein auf Ebene der finanziellen Unterstützungsstrukturen – bleiben vermutlich unverändert.
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3.2.3 Eingliederungshilfe und Bundesteilhabegesetz: Neue Praxis Positiv hervorzuheben sind die Änderungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Die Leistungen der Eingliederungshilfe wurden und werden vermögens- und einkommensabhängig gewährt. Studierende mit Behinderungen mussten bislang Sparbeträge und Vermögenswerte bis zu einem Sockelbetrag von 2.600 € aufbrauchen – zum Vergleich: das Schonvermögen für den Bezug von BAföG beträgt mindestens 5.200 € –, bevor sie Leistungen zum Studium aus der Eingliederungshilfe erhalten konnten. Damit wurden sie finanziell nicht nur schlechter gestellt als ihre Kommiliton*innen ohne Behinderungen, sondern selbst gegenüber jungen Menschen mit Behinderungen, die in einer beruflichen Ausbildung stehen, diskriminiert. Diese müssen für ihren technischen und personellen beruflichen Unterstützungsbedarf nämlich nicht selbst aufkommen. Derartige Regelungen betreffen Studierende und ihre Familien, die in der Regel stärker finanziell und organisatorisch belastet sind. Der grundsätzliche Verzicht auf ein Studium und auf Zugang zur akademischen Laufbahn ist als mögliche Folge anzunehmen. Das BTHG schwächt dieses Hemmnis nun ab, denn die Vermögensschonbeträge für Hilfen nach dem SGB XII inkl. der existenzsichernden Leistungen wurden heraufgesetzt. Der Vermögensschonbetrag wurde zum 1. April 2017 von 2.600,- € auf 5.000,- € angehoben und der Freibetrag für Barvermögen von 2.600 auf erheblich höhere 27.600 Euro erhöht. Auch die Freibeträge für die Anrechnung von Erwerbseinkommen aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit – im Idealfall einer akademischen Laufbahn zum Beispiel als wissenschaftliche Mitarbeiterin oder wissenschaftlicher Mitarbeiter – wurde um bis zu 260 Euro monatlich angehoben. Ab 2020 soll das bisherige Beurteilungs- und Berechnungssystem durch ein neues, dem Einkommensteuerrecht angeglichenes Verfahren ersetzt werden; die Barvermögensfreigrenze wird dann rund 50.000 Euro betragen. Ebenfalls verändert werden die Regelungen zur Kostenheranziehung von Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen; die Einkommen und Vermögen der Ehe- oder Lebenspartner derjenigen, die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen, sollen ab 2020 bei der Bedarfsbeurteilung nicht mehr herangezogen werden. Bislang wird bei erwachsenen Leistungsbeziehenden nur das Einkommen und Vermögen der Eltern unberücksichtigt gelassen, noch bis 2020 wird weiterhin auf Ehe- oder Lebenspartner*in zurückgegriffen – angesichts der besonderen Risiken auf dem Weg zur Professur eine immense finanzielle und soziale Belastung für junge Wissenschaftler*innen mit Behinderung und ihre Familien. Die zukünftig zwar veränderte und leicht abgeschwächte, aber weiterhin bestehende strukturelle Benachteiligung bleibt auf dem akademischen Bildungsweg
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dennoch bestehen. Es ist auch weiterhin nicht explizit eine akademische Qualifizierung als förderungswürdig vorgesehen, die nicht mit dem Merkmal der Verbesserung von Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbunden ist. Die Promotion ist weiterhin als erhebliche Chancenverbesserung auf dem Arbeitsmarkt anzusehen, nur stehen flankierende Beschäftigungsmöglichkeiten an Lehrstühlen und in Projekten, erst recht Dauerstellen im akademischen Mittelbau, in zu geringer Zahl zur Verfügung. Meiner Einschätzung nach ist zu befürchten, dass Aspirant*innen auf W2-Professuren an Fachhochschulen oder auf W1-Professuren an Universitäten finanziell sprichwörtlich ›die Luft ausgeht‹ und sie den Exit in außeruniversitäre Beschäftigungen wählen (müssen). Gleiches gilt für die Habilitation: Sie ist zwar in vielen Fächern noch immer Voraussetzung für die Erlangung einer universitären Professur oder einer Leitungsposition in außeruniversitären Forschungseinrichtungen, ist aber für die Chancen auf dem außerhochschulischen Arbeitsmarkt mit Ausnahme von wenigen Stellen im universitären Verwaltungsbereich oder seltenen Leitungspositionen in Wirtschaft oder Politik eher irrelevant. Durch das BTHG werden die Kostenträger zwar noch stärker als bislang zur Kooperation und Einzelfallprüfung verpflichtet. Sie müssen miteinander und im Einzelfall die Maßnahmen ergreifen, die im Hinblick auf die Person und die Art und Schwere der individuellen Teilhaberisiken am nachhaltigsten und wirksamsten eine Eingliederung in die Gesellschaft versprechen. Ein Doktorgrad oder eine Habilitation stellen nach meiner Einschätzung weiterhin potentiell eher einen Zusatz als eine grundlegende Notwendigkeit dar, obwohl beides auf dem Weg zu einer Dauerstelle in der Wissenschaft, v.a. der Professur, notwendig ist. Eine akademische Laufbahn bis zur Professur ist zudem nicht planbar, sondern immer auch von Zufall und Glück beeinflusst. Die über viele Jahre unsichere Zukunftsperspektive ist schwerlich mit der Perspektive der Kostenträger zu vereinbaren, die die Notwendigkeit einer nachhaltig wirksamen Eingliederung in die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt und sicher auch stellen muss. Ob und unter welchen Voraussetzungen Kostenübernahmen für den behinderungsbedingten Mehraufwand (oder sogar phasenweise für Lebenshaltungskosten) für den vermeintlichen Luxus einer Promotion und/oder Habilitation erfolgen werden, wird sich erst in den kommenden Jahren durch die Rechtsprechung zeigen. Bis dahin bleibt der Zugang wohl eher denjenigen vorbehalten, die entweder an spezifischen ›positiven‹ Diskriminierungsmaßnahmen – wie dem oben genannten Projekt PROMI – teilnehmen (können) oder über einen so solventen sozialen Hintergrund verfügen, dass sie ohne staatliche Zuschüsse auskommen und durch private/familiäre Kontakte Zugang zu Professor*innen mit möglichen Arbeitsstellen haben.
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4. F AZIT : ›B EHINDERUNG ‹ UND D IVERSITY M ANAGEMENT IM DEUTSCHEN H OCHSCHULSYSTEM Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stand die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Werdegängen, Selektionskriterien und Teilhabe an wissenschaftlichen Karrierechancen im deutschen Hochschulsystem unter Bedingungen von Zuschreibungen an Krankheit oder Behinderung. Die an ausgewählten Beispielen illustrierte Bestandsaufnahme und kritische Einordnung wollte und konnte keinesfalls eine systematische Darstellung, Evaluation oder Komparatistik von Maßnahmen der Personalentwicklung leisten. Ziel war vielmehr, mit diesem Aufsatz zum nur punktuell geführten Diskurs um Maßnahmen beizutragen, die auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung in den hochschulischen Verwaltungseinheiten, vor allem aber in Studium und wissenschaftlicher Laufbahn abzielen. Noch ist Behinderung/chronische Erkrankung im deutschen Hochschulsystem kein Thema der wissenschaftlichen Personalentwicklung und kann dies aufgrund vorgängiger Selektionsprozesse auch (noch) nicht sein. Behinderung/chronische Erkrankung und wissenschaftliche Laufbahnen scheinen sich an deutschen Hochschulen weiterhin auszuschließen – und zwar ohne dass Hochschulen aktiv etwas tun müssten, um diesen Zustand der Tabuisierung und Exklusion zu erhalten, und aktiv etwas tun könnten, um ihn kurzfristig zu verändern. Die behindernden Umstände sind in vorgelagerten und flankierenden strukturellen Barrieren eingeschrieben: Es gibt erstens fast keine Forschung (und damit verbunden auch keine Daten) und zweitens sind die Finanzierungsbedingungen prekär und mit Merkmalen wie Alter und sozialer Herkunft intersektionell verknüpft, so dass sich schon vor dem Erreichen der Postdoc-Phase gläserne Decken bemerkbar machen und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Drop-outs besteht. Ist eine Professur ohnehin lediglich für eine exklusive Minderheit erreichbar, ist die Chance, mit Behinderung/chronischer Erkrankung bis dorthin zu gelangen, noch geringer. Es ist zu konstatieren, dass Wissenschaft auf dem internen Arbeitsmarkt kaum mit Behinderung und Werdegängen von Menschen mit Behinderung konfrontiert ist. Die Wissenschaft ist dadurch von der Unterrepräsentation von Menschen geprägt, die beispielsweise mit Assistenz arbeiten. Gründe dafür liegen in früher Bildungsdiskriminierung, exzellenzzentrierter Kopplung von Person und Leistung und restriktiven finanziellen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus ist viel zu wenig über Promotionsverläufe und Werdegänge von Menschen mit Behinderung bekannt. Der akademische Leistungsbegriff und die wissenschaftlichen Selektionskriterien sind somit nicht herausgefordert. Damit verbunden ist zweierlei: Einerseits brauchen sich Nachwuchsförderung, Berufungskom-
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missionen, Fakultäten, Drittmittel- und Stipendiengeber sowie Lehrstuhlinhaber*innen in ihrer Personalentwicklung kaum mit Behinderung/chronischer Erkrankung und Leistungsanforderungen/Karrierebedingungen auseinanderzusetzen, denn es gibt zu wenig Anlässe für eine solche Auseinandersetzung. Sie brauchen sich schließlich nicht mit Anträgen auf Postdoc-Stipendien, mit Berufungskriterien oder mit inklusiver Mitarbeiter*innenführung zu befassen, wenn keine Anträge gestellt, Bewerbungen eingereicht oder personelle Bedarfe geltend gemacht werden, weil schon die Promotion kaum angestrebt wird. Die Promotion wird aber kaum angestrebt, wenn die rechtlichen Bedingungen ein solventes Elternhaus voraussetzen, welches behinderungsbedingte Kosten problemlos übernehmen kann. Anderseits brauchen sich junge Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung kaum mit ihren Leistungen/Karrierewünschen auseinanderzusetzen, denn sie gelangen aufgrund aktueller Strukturen vielfach gar nicht erst bis zur Postdoc-Phase. Dadurch kommt Inklusion als Anforderung gar nicht erst im Wissenschaftssystem an. Der erste Schritt zur Weiterentwicklung ist Forschung: Forschung, die Behinderung/chronische Erkrankung auch als Gegenstand von Personalentwicklung berücksichtigt, die Leistungskategorien kritisch hinterfragt und die Befunde aus einer integrierten Perspektive von Hochschul-, Wissenschafts-, Arbeits- und Teilhabeforschung offen und breit diskutiert. Durch Politik, aber auch durch kleine, hochschulinterne Maßnahmen wäre darauf hinzuwirken, dass die grundsätzlichen Bedingungen für die geringe Repräsentanz von Wissenschaftsnachwuchs mit Behinderung umfassend beforscht werden: auf der Ebene des Wissenschaftsnachwuchses (z. B. hinsichtlich der Leistungserbringung und des offenen Umgangs mit einer Behinderung), auf Ebene der Organisation (vor allem mit Fokus auf zu identifizierende Strukturen und Prozesse) und auf Ebene der Professuren (z.B. hinsichtlich der Beeinflussung durch Vorurteile und Stereotypen). Angesichts der auch von der UN-BRK geforderten Hinwendung zum sozialen Modell von Behinderung ist für zukünftige Erhebungen allerdings ausdrücklich davor zu warnen, Gegenstand und Person zu verwechseln: Wissenschaftsnachwuchs mit Behinderung als abweichend zu untersuchen, während der Wissenschaftsnachwuchs ohne Behinderung unausgesprochen der Referenzpunkt von Laufbahnerwartungen und selektierender Praxis bleibt, wäre mit neuem Stigmatisierungspotential verbunden. Für eine Weiterentwicklung von Inklusion und Chancen auf Teilhabe am wissenschaftlichen Arbeitsmarkt halte ich es für unerlässlich, die Verschärfung von Teilhaberisiken durch intersektionelle Verbindungen von Behinderung/chronischer Erkrankung nicht nur im männlich geprägten Wissenschaftssystem mit dem
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Merkmal Geschlecht, sondern auch mit den Merkmalen Alter und soziale Herkunft zu diskutieren. Die Finanzierung akademischer Qualifikationsstufen ist hochgradig exkludierend und verhindert auf struktureller Ebene von Recht und Politik, dass Menschen mit Behinderung auf wissenschaftliche Leitungspositionen vorrücken können, wenn sie nicht über eine solvente und sozial protegierende Herkunft verfügen. Noch stärker als bei der Debatte um Bildungsteilhabe im Allgemeinen zeigt sich bei der Auseinandersetzung mit Teilhabe an Bildung und Arbeit in der Wissenschaft von Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung im Speziellen die erhebliche Tabuisierung und Exklusion. Wenn es in Bezug auf Behinderungen keine gestaltungsmächtigen Rollenvorbilder, kaum finanzielle Förderung und keine Thematisierung gibt, dann wird im wissenschaftlichen Arbeitsmarkt Behinderung tabuisiert und die Inklusion exkludiert. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, neben vorgängigen und flankierenden Strukturen und den Selektionskriterien auch den akademischen Leistungsbegriff und den Umgang mit verschiedenen Formen von Leistungsfähigkeit im deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystem in den Blick zu nehmen. Eine Auseinandersetzung mit diesem Leistungsbegriff wäre weder etwas Zusätzliches noch etwas, das nur wenige beträfe. Im Gegenteil, es könnten viele, auch akademischer Nachwuchs ohne Behinderung/chronische Erkrankung, von der Auseinandersetzung mit den Idealen und den Realitäten von Leistung und Leistungsfähigkeit profitieren: von Studierenden, die sich nach möglichst klaren Kriterien der Bewertung sehnen, über junge oder bereits etablierte Wissenschaftler*innen, die Orientierung für ihre Laufbahnplanung benötigen, bis hin zu Hochschulleitungen und Politik, die bessere Einblicke in die Bedarfe und Bedürfnisse ihrer jeweiligen Klientelen gewinnen könnten. Die Frage nach Sinnhaftigkeit und Realisierbarkeit von Policies und ihrer Umsetzung in den bislang wenigen Maßnahmen erfordert insgesamt eine intensive Einbeziehung und Auseinandersetzung mit strukturellen Rahmenbedingungen, die den Konnex von Wissenschaft, Nachwuchslaufbahnen und Behinderung wesentlich beeinflussen. Solange diese Einbeziehung und Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen ausbleibt, wird auch die Wirksamkeit von DiversityPolicies, die auf Teilhabe mit Behinderung/chronische Erkrankung abzielen sollen, ausbleiben. Dabei ist das Verständnis von Behinderung, das Policies und Maßnahmen zugrunde liegt oder liegen könnte, grundsätzlich zu reflektieren und zu modernisieren. Sonst bleibt es beim Status quo, bei dem Hochschulen nur vorgeblich Menschen mitwirken lassen, die aber kaum mitwirken können, weil die Defizite der Strukturen durch punktuelle, positiv diskriminierende Maßnahmen nicht hinreichend kompensiert werden können. Legt man die Forderungen der UN-BRK als verbindlicher Menschenrechtskonvention zugrunde und sucht nach
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Möglichkeiten ihrer Realisierung, dann darf Behinderung/chronische Erkrankung nicht als ›Sonderfall‹ verstanden werden, der ausgeblendet oder einbezogen werden kann. Vielmehr geht es um den Umgang mit einem ›Normalfall‹, denn die Vielzahl der Be- und Verhinderungen in akademischen Laufbahnen ist in der Debatte um Karrierebedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses längst bekannt und bewusst. Die derzeitigen Bemühungen um stärkere Partizipation in der Teilhabeforschung unter der Losung »Wir forschen gemeinsam: nichts ohne uns über uns!« (Wontorra, 2017) stellen meines Erachtens ein ambivalentes Vorgehen dar. Positiv sind die notwendigerweise positiv diskriminierenden Maßnahmen – wie z.B. PROMI und AKTIF –, die gezielt durch Finanzierung, Vernetzung und Beratung die Präsenz von Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung erhöhen und Teilhabe mit Assistenz- und Unterstützungsbedarfen zum Thema machen. Negativ könnte sich an solchen Bemühungen – neben der zeitlichen Befristung als Projekt bzw. Kampagne – auswirken, dass sie vorrangig im Dienste der Teilhabeforschung und -förderung stehen. Dies ist weniger paradox, als es auf den ersten Blick wirkt. Ziel ist die selbstverständliche Einbindung und die Herstellung von Chancen auf Teilhabe in allen Bereichen. Dies umfasst mehr als die partizipative Forschung in inklusiven Forschungsteams und die Auseinandersetzung mit Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen im Kontext des Wissenschaftsbetriebs. Wissenschaftler*innen mit Behinderung/chronischer Erkrankung dürfen nicht auf ihre Expertise als Expert*innen der vermeintlich eigenen Sache reduziert werden, sondern müssen unabhängig von der thematischen Reduzierung auf ein Merkmal Teil der Scientific Community sein. Hierfür geeignete Strategien der Ansprache, der Thematisierung und der gezielten Förderung zu finden, erfordert in den kommenden Jahren sicher noch viel Dialogbereitschaft in und zwischen Hochschulen mit all ihren Akteur*innen, in Personal- und Organisationsentwicklung, studentischer Vertretung und Personalrat, Schwerbehindertenvertretung und Fakultäten; und der Dialog wird sich auf Individuelles, Fachliches und Strukturelles beziehen müssen. Bevor die Dialoge Individuelles und Fachliches in den Blick nehmen können, ist meiner Einschätzung nach aber zunächst die Problematisierung und die in Richtung Politik und Recht zielende Thematisierung von Zugangsstrukturen überfällig und zwingend erforderlich.
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Diversity und Fluchtmigration Anforderungen an die Hochschulausbildung für Sozial- und Gesundheitsberufe C INUR G HADERI & R EBEKKA E HRET
Abstract: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Anforderungen an die Hochschulausbildung für Sozial- und Gesundheitsberufe, wenn Diversity und Fluchtmigration zusammengedacht werden. Gesellschaftliche, institutionelle und inhaltliche Diskurse werden verknüpft. Diskutiert wird eine konzeptionelle und hochschulstrukturelle Verbindung von Diversität und Intersektionalität, die postkoloniale Perspektiven integriert. Zukunftsweisend sind Ansätze, die Flucht- und Migrationsaspekte, mit denen der Internationalisierung der Hochschule produktiv zusammenführen. Dabei haben Hochschulen als Sozialräume transnationalen und transkulturellen Wissens den Anspruch, universalistisch zu lehren. Dieser Anspruch ist kritisch zu hinterfragen und im de-universalistischen Sinne zu kontextualisieren. Eine mehrdimensional und interdisziplinär ausgerichtete reflexive Diversity-Perspektive in der Lehre, die nicht auf duale Interaktionspraxis reduziert wird, widersteht der Verführung von Entpolitisierung und übt sich immer wieder im Subjektwiederherstellungsmodus. Neben politisch-historischen Wissensbeständen, dem Wissen über Diversity, Intersektionalität und dekoloniale Theorien sind persönliche Selbstkompetenzen unabdingbar.
Keywords: Fluchtmigration, Diversity, Hochschulausbildung, Intersektionalität, Postkoloniale Theorie, Internationalisierung, Wissen, Wissenskanon, Geflüchtete, Studierende
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1. E INLEITUNG Wenn wir im Hochschulkontext Fluchtmigration und Diversity in einem Atemzug nennen, um daraus Anforderungen an die Hochschulbildung im Sozial- und Gesundheitswesen abzuleiten, dann lohnt ein achtsamer reflektierter Blick auf den diese Frage aufwerfenden gesellschaftspolitischen Raum und die spezifischen Zeitverhältnisse: Globalisierte Modernisierungsprozesse haben unterschiedliche Folgeerscheinungen, zu denen Migration als globale und Fluchtmigration als gewaltsame Dynamik gehören und die zu Veränderungen auf lokaler Ebene führen, hier konkretisiert am Referenzraum und Bildungsort Hochschule. Diversity, ein aus der US-Wirtschaft stammendes Konzept, wird im sozialen Bereich aufgrund der ökonomischen Prämissen kritisch beäugt als Imagepolitik, und auch im Bildungs- und Hochschulkontext erfährt es aus feministischer und postkolonialer Perspektive Kritik (vgl. Ahmed 2007a; 2007b). Demzufolge fragen wir danach, welches Verständnis von Diversity im Kontext von Fluchtmigration an den Hochschulen notwendig wäre und wie es um die Sinnhaftigkeit, Realisierbarkeit und Funktionen der Institutionalisierung von Diversity steht, wenn das Konzept nicht nur »Diversity Schmuck« (Kiesel, 2012) sein soll. Der verwendete Begriff ›Fluchtmigration‹ ist sehr allgemein gefasst; er kann zu den Politiken der Hochschule als Institution in Bezug gesetzt werden, ebenso zu den Menschen, die als Geflüchtete die Hochschule aufsuchen, ferner kann er einen thematischen Gegenstand, d.h. einen Inhalt von Lehre und Forschung mit Blick auf die Praxis bezeichnen. Diese Trias – Hochschulpolitik, Zielgruppe und Gegenstand – wird in den verschiedenen Abschnitten behandelt. Vor diesem Hintergrund wird im Beitrag zunächst ein Blick auf den gesellschaftspolitischen Raum geworfen, alsdann werden die Anforderungen an die Hochschulausbildung für Sozial- und Gesundheitsberufe diskutiert, die sich ergeben, wenn Diversity und Fluchtmigration zusammengedacht werden. Vom Ankommen im gesellschaftspolitischen Raum Das Ankommen der Geflüchteten 2015 im »langen Sommer der Migration«1 hat den gesellschaftspolitischen Raum verändert und Fragen in unterschiedlichen Disziplinen und Institutionen aufgeworfen und herausgefordert (vgl. Eppenstein/Ghaderi 2017). Scheinbare Gewissheiten werden neu verhandelt, alte und neue politische, juristische, pädagogische und soziale Baustellen sind offengelegt und ver-
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Hess et al. (2016); https://www.assoziation-a.de/dokumente/Grenzregime%203_Inhalt _Vorwort.pdf
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langen nach Revision. In vielen Handlungsfeldern, die bisher unbeachtet geblieben sind, erhalten reale Probleme, die faktisch in der Migrationsgesellschaft längst virulent waren, Aufmerksamkeit und fordern nun die Veränderung des Gewohnten heraus, so auch im Bereich von Bildung und ihren Institutionen. Im Bildungsbereich stünden Geflüchtete als Bildungsaspirant*innen vor ihnen offenstehenden Bildungszugängen, hemmenden Barrieren und Integrationserwartungen als Bringschuld, so der Erziehungswissenschaftler Thomas Eppenstein. Noch erscheine »Bildungserfolg mal als ›Glück‹, mal als Nötigung zur Teilnahme an ›Bildungssackgassen‹« (Eppenstein 2017: 21). Noch gebe es kein durchlässiges Bildungssystem für »umwegreiche (und transnationale) Lernbiografien« (ebd.). Viele Flüchtlinge sind bildungsmotiviert, nicht alle. Motivation hängt vom Bildungsniveau ab bzw. von der Lücke zwischen Anschlussfähigkeiten und Anschlussmöglichkeiten. Nötig sind Anschlussmöglichkeiten in das bestehende Bildungssystem, ergänzt um Perspektiven der Verarbeitung biografischer Erfahrungen von Geflüchteten und Perspektiven eines dialogisch und interkulturell ausgerichteten ›Globalen Lernens‹ von Ansässigen und Geflüchteten (ebd.). Eppenstein plädiert dafür, die anstehenden Veränderungen durch Flucht könnten für die Zukunft als Gelegenheit ergriffen und als »Bildungsanlass und Bildungsaufforderung (für Alle) verstanden« werden, wobei »Geflüchtete und verantwortliche Akteure im Bildungssystem gleichermaßen« adressiert werden. Die Figur des Flüchtlings biete Chancen für zukünftiges Handeln, denn sie lässt »epochaltypische Schlüsselprobleme« (Klafki) der Weltgesellschaft erkennen – innerhalb, aber auch außerhalb von Bildungsräumen.2 Verändert hat sich definitiv der diskursive Raum, in dem über Fluchtmigration gesprochen wird. Fluchtmigration wird als gesellschaftlich relevant erachtet und
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Ein anderes Beispiel ist Traumatisierung. Auch hier hat die Dynamik des Fluchtthemas dazu beigetragen, dass die Sensibilität für den Umgang mit Traumata stark zugenommen hat – nicht nur im therapeutischen Raum, sondern in Schulen, Kitas, Wohngruppen; und nicht nur für Geflüchtete, vielmehr für alle Traumatisierten in der Gesellschaft. So gilt es für Hochschulen als Bildungsorte zu erkennen: Es sind Menschen aus Krisenund Kriegsregionen gekommen, haben enorme Gewalterfahrungen gemacht, und Gewalterfahrungen verändern Menschen. Auch ohne die offizielle Diagnose einer Traumatisierung können wir feststellen, dass Gewalt menschliche Beziehungen tief erschüttert und verändert. Trauma-Sensibilisierung ist nicht nur ein Thema für und bei Geflüchteten, sondern generelles gesellschaftliches Thema (z.B. häusliche Gewalt, transgenerationale Gewalt etc.), und mögliche Auswirkungen auf Beziehungen könnten für alle Akteure in der Bildungsinstitution Hochschule relevant sein (wissenschaftliches und verwaltendes Personal, Studierende).
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als Tatbestand, als Realität in der Gesellschaft wahrgenommen und findet Widerhall. Gesellschaft und Institutionen werden auch unter Flucht- resp. Migrationsaspekten betrachtet. So wurden wir Autor*innen von der Herausgeberin angefragt, Diversity unter Fluchtmigrationsaspekten zu analysieren. In diesem diskursiven gesellschaftspolitischen Raum lassen sich jedoch Verkürzungen beobachten. Die augenfälligste Verkürzung besteht in der Konstruktion des Anderen über die binäre Unterscheidung von Personen mit und ohne Migrationshintergrund bzw. Fluchterfahrung: Es werden neue Zielgruppen zur Herstellung von Ordnungen geschaffen, die adressiert werden können, über die gesprochen und geforscht werden kann, über die Wissen generiert werden kann und auf die sich professionelle Umgangsweisen und Anforderungen an Institutionen (hier Hochschule) beziehen können. Wissen kann generiert werden über die geflüchteten Studierenden als Personengruppe ebenso wie über das Thema Fluchtmigration als Inhalt/Gegenstand. Die Thematisierung ist en vogue. Mehr noch, denn Fluchtmigration ist ein prominenter Gegenstand geworden, mit dem sich auf unterschiedliche Weise Kapital akkumulieren lässt; so auch an Hochschulen, denn Wissen um Fluchtmigration schafft einen kompetitiven Raum der Distinktion, wobei Flucht als Bildungsthema offenlässt, was unter ›Wissen‹ verstanden wird. Es lässt sich kritisch fragen, ob die Konstruktion des Anderen dabei gar in guter Manier kolonialer Praktiken umgesetzt wird: mit Instrumenten, die den Rückstand messen in Bezug auf deutsche Sprachkenntnisse/gute Werte/Geschlechteregalität/Menschenrechte, um die UNS-Kategorie als Gegensatz zu den Anderen WEISS zu machen. SIE, die Anderen, werden als hilfsbedürftig, gestört, bildungsbedürftig, irgendwas mit „Hintergrund“ konstruiert, gegenüber einer Wir-Konstruktion als gütig und fähig. »Der koloniale Blick betonte die Differenz, wertete das Eigene auf und ›das Andere‹ ab. Während Europäer/inne/n Zivilisiertheit, Rationalität und Modernität zugeschrieben wurde, beschrieb man die kolonialisierten Menschen als rückständig, wild, unzivilisiert und impulsiv.« So die Analyse von Norbert Frieters-Reermann und Nadine Sylla (2017: 24) beim kontrapunktischen Lesen von fluchtbezogenen Bildungsmaterialien. Die Autor*innen schreiben weiterhin: »Die viel gelobte Willkommenskultur galt in mancher Hinsicht nur, so lange Geflüchtete stille, passive und dankbare Objekte blieben, die auf deutsche Kompetenz und Unterstützung angewiesen waren« (ebd.). Die Konstruktion des Anderen und die kolonialen Kontinuitäten3 als diskursive Praxis evozieren bei den Akteur*innen drei unterschiedliche Strategien bzw.
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»Postkoloniale Theorien nehmen u.a. globale Zusammenhänge und Machtverhältnisse sowie die Herstellung von Differenz zwischen ›uns‹ und ›den Anderen‹ in den Blick. Dabei gehen sie davon aus, dass der europäische Kolonialismus ein wirkmächtiges Er-
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Reaktionsweisen, so Paul Mecheril:4 (1) Ignoranz zur Wahrung der Kontinuität, wobei der Autor als den Hauptort dieser Handlungs- und Wissensformen die konfigurierte soziale Praxis pädagogischer Institutionen sieht, in denen die Anderen dämonisiert würden (vgl. Castro Varela/Mecheril 2016). (2) Disqualifizierung der Anderen als Abwehrstrategie, um sich nicht mit der Botschaft zu beschäftigen, die Geflüchtete mitnehmen: die Botschaft, dass bestehende globale Herrschaftsverhältnisse »waisted lifes« und »überflüssige Körper« im Sinne Zygmunt Baumans (2003) produzieren. In dieser Imperialität von Lebensweisen sind Körper als Symbole einer globalen Ordnung zu sehen, die als lebenswert gelten oder entsorgt werden (Flüchtlingslager; Mittelmeer). (3) Wissen, da durch Wissen um gegenwärtige Verhältnisse über Bildung (im Sinne Klafkis) Veränderungen geschaffen werden; wenn sich der Einzelne selbst relational dazu ins Verhältnis setzt, erfordert dies ein ›Verlernen‹ und einen epistemologischen Wandel. Im diesem emotionalisierten Spannungsfeld von Willkommenskultur und zunehmend restriktiver Asylpolitik bewegen sich gesellschaftliche Reaktionen auf die Flüchtlingsschutzkrise der vergangenen Jahre in Deutschland, in der Schweiz und in ganz Europa. Diese diskursiven Entwicklungen spiegeln politisch polarisierende Bewegungen und divergente Einstellungen zwischen denen, die religiöse, nationale, sprachliche, kulturelle, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als bedrohlich wahrnehmen, und denen, die Vielfalt als Selbstverständlichkeit und Ressourcenreichtum bewerten. Zu den Letzteren gehören die Hochschulen, denn dort wird mittels Leitbildern und Programmen Vielfalt in der Regel als Bereicherung deklariert. Zum Ankommen in der Bildungsinstitution Hochschule Die meisten Hochschulen hatten schon vor 2015 Leitbilder, in denen Diversity propagiert und hochschulpolitische Handlungsfelder zur Förderung von Vielfalt skizziert wurden, doch spätestens nach dem Sommer 2015 wurden studienvorbereitende Angebote spezifisch für Geflüchtete ausgebaut. Damit war das Wissen darum, dass viele geflüchtete Personen – im Gegensatz zur klassischen Arbeitsmigrationsgruppe – zu einem gebildeten Bevölkerungssegment gehören, an den Hochschulen angekommen. Auf dem Fuß folgten erweiterte studienbegleitende Unterstützungsmaßnahmen und Angebotsstrukturen, die den Anschluss ermöglichen sollten. eignis war, welches bis heute globale Zusammenhänge prägt, und für fortdauernde wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten und Identitätskonstruktionen verantwortlich gemacht werden kann.« (Ebd., S. 23) 4
Paul Mecheril, Vortrag 14.12.2018 im Rahmen der Konferenz der Schlauschule München.
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Neben diesen Einschlussstrategien existieren zeitgleich Ausschlussmechanismen, die vor allem in der Beratungspraxis für Studieninteressierte mit Fluchtgeschichte offenkundig werden: »So kann es bei der Bewerbung zu Hindernissen kommen, wenn Kommunikationsprozesse mit sprachlichen Barrieren von Missverständnissen und Informationsverlust begleitet werden. Starre Verwaltungsabläufe können den Zugang erschweren. Die Berührung mit Verwaltung, bei Bewerbung und Zulassung kann eine große Hürde darstellen. Daneben haben Geflüchtete unterschiedliche Erfahrungen mit Behörden in ihren Heimatländern und in Deutschland. Der Wunsch, möglichst autonom alle Herausforderungen zu stemmen und keine Beratung aufzusuchen, kann ebenso problematisch sein. Hier beobachten wir teilweise eine Art Stolz, Dinge allein schaffen zu wollen, anstatt sich beispielsweise vor Einreichen von Unterlagen nochmals hinsichtlich deren Vollständigkeit o.ä. abzusichern.«5
Diese Beobachtungen sind mittlerweile Gegenstand einiger Forschungsprojekte, z.B. untersuchen Michael Grüttner, Jana Berg und Stefanie Schröder in dem Projekt »Wege von Geflüchteten an deutsche Hochschulen (WeGe)«6 die Bedingungen des Studienzugangs für Geflüchtete. Katrin Sontag beforscht in ihrer ethnografischen Studie »Akteure, Räume und Deutungsmuster« die Situation von studieninteressierten Geflüchteten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, die eine Zulassung an einer Hochschule anstreben und derzeit an Vorbereitungsprogrammen der Sprachprogramme teilnehmen oder Gasthörer*innen sind. Sontags Ergebnisse zeigen ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren und Felder, die ihre Situation und die des Hochschulsystems tangieren, wie des Bildungssystems, der Initiative durch Ehrenamtliche oder des Asylsystems.7 Die Hochschule als Forschungsgegenstand in ihrem Umgang mit fluchtbedingter gesellschaftlicher Heterogenität steht im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens von Noelia P. Streicher und Lukas Engelmeier. Sie fragen nach dem Hochschulzugang vor dem Hintergrund bildungsbiografischer Erfahrungen im transna-
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So Monika Hörr, Flüchtlingslotsin am International Office der Evangelischen Hochschule RWL in Bochum zur Beratung und Betreuung der studieninteressierten und studierenden Geflüchteten.
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Vgl. https://www.wege.dzhw.eu/ (Zugriff am 10.1.2019).
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Vgl. Magazin zur 2. Konferenz des Netzwerks Flüchtlingsforschung, S. 12 (unveröffentlicht).
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tionalen akademischen Raum, nach Zugehörigkeitsordnungen im Hochschulkontext, identifizierbaren (Dys-)Funktionalitäten, Adressierungspraxen und Ein- und Ausschlussmechanismen der Hochschulen.8 Doch die Gestaltung des Zugangs von Geflüchteten mit ihren formalen Zugangsbedingungen bzw. -begrenzungen soll hier nicht alleiniges Thema sein. Es geht insbesondere auch um die Fragen, wie sich Hochschulen inhaltlich, institutionell und in der Lehre auf das Thema Fluchtmigration einstellen und wie sie letztlich die Akteure, die später in diesen Bereichen arbeiten, theoretisch diversitätssensibel für die Praxis vorbereiten. Dabei lassen sich die beiden Pole nicht ganz trennen, denn erfahrungsgemäß entsteht eine neue Dynamik, wenn beispielsweise im Unterricht beliebte Themen wie Diskriminierung und soziale Gerechtigkeit verhandelt werden und Diskriminierungsbetroffene unter den Studierenden sind. In der Lehre geht es in erster Linie um die Vorbereitung der Menschen auf die berufliche Praxis, und je diverser der Erfahrungshintergrund ist, desto besser zeigt sich, wie sehr die Hochschule als Teil der Gesellschaft selbst ein Ort von Diversity ist. Hochschule kann dann ein Ort sein, der einen theoretischen Blick auf die Verhältnisse außerhalb der Hochschule ermöglicht, an dem aber zugleich Anforderungen an die Praxis formuliert werden können. Wie kann unter diesen Voraussetzungen eine theoriebasierte Perspektive in der Praxis erzeugt werden? Oder konkreter: Wie kann eine auf Fluchtmigration und Diversität bezogene und berufsbefähigende Ausbildung in Sozial- und Gesundheitsberufen gelingen? Diesen Fragen wird ausgehend von einem disziplinären Selbstverständnis als Handlungswissenschaft nachgegangen. Theoretische Überlegungen zu Sozialer Arbeit als Handlungswissenschaft nehmen regelhaft die Praxis auf; ihre Theorien nähren sich aus der Praxis, verarbeiten sie in den Theorien, die in der Lehre vermittelt werden. Diese Wechselwirkung von Theorie und Praxis ist für Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft selbstverständlich. Zugleich setzen Diversity-Ansätze immer gesellschaftliche und institutionelle Beeinflussungen als Rahmen für professionelle Interaktionen voraus. Die Anforderung an die Hochschulausbildung ist durch die theoretische Anlage der Sozialen Arbeit gegeben, wenn wir von dem Professionsverständnis ausgehen, dass Soziale Arbeit eine Handlungswissenschaft und Menschenrechtsprofession mit ausgeprägter Habitussensibilität ist.
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Vgl. Forschungsprojekt »In-Formelle Möglichkeiten und Grenzen der Hochschulbildung im Spiegel der Erfahrungen Geflüchteter an deutschen Hochschulen (ErgeS)« unter Leitung von Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril; https://uol.de/cmc/for schung/moeglichkeiten-und-grenzen-der-hochschulbildung/ (Zugriff am 10.01.2019).
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2. A NFORDERUNGEN VON D IVERSITY UND F LUCHTMIGRATION AN DIE H OCHSCHULAUSBILDUNG – BEZOGEN AUF S TRUKTUR UND O RGANISATION DER I NSTITUTIONEN Hochschulorganisatorische Diversitätsstrategien zwischen Querschnitt und Spezifikum Der Anstieg der Zahl von Geflüchteten traf die Hochschulen nicht gänzlich unvorbereitet, die institutionelle Reaktion trat jedoch etwas verzögert ein. Inhaltlich war Fluchtmigration bereits in den Jahren vor 2015 ein Thema in der Lehre, insbesondere in Modulen wie interkulturelle und internationale Soziale Arbeit. Auch im Rahmen von Prüfungsthemen, Bachelor- und Masterarbeiten, Begleitveranstaltungen im Praxissemester und von Forschungsaktivitäten zu Themen wie Flucht und Asyl, unbegleitete minderjährige Flüchtlingen, Integration und Desintegration, Globales Lernen usw. kam es zu solchen Thematisierungen. Mit der Zunahme der Geflüchteten im Jahr 2015 häuften sich Anfragen aus der Praxis (Krankenhäusern, Psychiatrien, Wohnheimen, Stadt, anderen Universitäten, usw.) an die Institution Hochschule, um wissenschaftlich basierte Antworten auf praxisbezogene Fragen zu erhalten. Die Lehrenden ihrerseits versuchten parallel dazu beispielsweise über Ringvorlesungen die Hochschulen als diskursiven Ort für das Thema zu nutzen.9 Auch die Studierenden reagierten mit zahlreichen Bewegungen und Initiativen. Es entwickelten sich diverse Strategien der Hochschulen und Fakultäten, auf diese An- und Aufforderungen, auf die hohe Zahl der Geflüchteten zu reagieren. Gerade in den Anfängen der Diskussion wurde an den Hochschulen mit Blick auf den inhaltlichen Gegenstand kontrovers diskutiert, ob es spezifische Studienangebote oder neue Studiengänge für ›Flüchtlingssozialarbeit‹ geben sollte. Skeptiker argumentierten, dass ein solches spezifisches Angebot »die qualitative Durchdringung der Thematik in den generalisierten Studienanteilen unter Umständen vereiteln würde, zudem dass die Wahrnehmung anderer vulnerabler Gruppen in der Gesellschaft, nicht untereinander in Konkurrenz gebracht werden dürfen. Eine integrative Perspektive schließt allerdings nötige Spezialisierungen aus. Gerade im Studiengang Soziale Arbeit ist aus professionstheoretischer Sicht der Krisenfall auch Normalfall, wenn es um soziale Probleme geht. Das hierbei gewonnene Wissen hat zu differenzieren gelernt
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So z.B. an der EvH RWL die Ringvorlesungen „An den Grenzen des Rechtsstaats“ und »Migration, Geschlecht, Religion«; ähnliche Aktivitäten waren an anderen Hochschulen zu beobachten.
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zwischen der Diagnose, ob Personen oder Personengruppen problematisch sind, Probleme verursachen, oder Probleme haben. Auch gibt es eine Skepsis gegenüber konjunkturellen Phänomenen, so gilt es zwischen Dramatisierung und Verharmlosung von Problemsichten argumentativ belastbare Einordnungen vornehmen zu können.«10
Die Einschätzungen und Einordnungen seitens des wissenschaftlichen Personals in diesen Fragen sind nicht eindeutig; ihre Ambiguitäten und Differenzierungen werden in der Lehre sichtbar und sind integraler Bestandteil des Bildungsverständnisses von Hochschule. Die unterschiedlichen Argumentationsfiguren in Seminaren und Praxisbegleitveranstaltungen sind oft analog zu politischen, weltanschaulichen und religiösen Verortungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der öffentlichen Debatte (Eppenstein 2017a). Hochschulpraxis auch als diskursiver Raum gesellschaftlicher Praxis trägt Verantwortung, die sie durch disziplinäre Mehrperspektivität, wissenschaftliche Distanz und begründete normative Urteilsfindung wahrnehmen kann. Genau diese Diskussionen bedingten mitunter, dass die institutionellen Antworten zeitverzögert gegeben wurden. Die Hochschulen haben in der Folgezeit auf die vielfältigen Bedarfe und Anfragen reagiert, spezifische Gremien wurden gebildet, neue Stellen geschaffen (zur Koordination des Themas Fluchtmigration, für die Beratung studieninteressierter Geflüchteter, ferner wissenschaftliche Stellen in der Forschung zu Flucht), neue Weiterbildungen konzipiert, neue Lehrstühle geschaffen, neue Forschungsprojekte initiiert usw. Sowohl seitens der Studierendenschaft als auch seitens der Lehre sind mit unterschiedlichen Motivationen Kontakte mit der Praxis aufgenommen worden. Wissenschaftler*innen wollen erfahren und erforschen, wie Praxis arbeitet – typisch für Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Ambivalent bleibt das Unterfangen, wenn es konkret um die Integration von Geflüchteten in ein Studium geht. Einerseits wird das Thema Flucht als Querschnittsthema behandelt, anderseits als Spezifikum und gesondert, wenn es um die Reglementierung von Zulassungen geht. Das zeigt sich allein schon daran, dass Personen speziell für diesen Bereich eingestellt wurden. Diese strukturelle ›Besonderlichung‹ soll dazu dienen, den Weg zur Hochschule zu erleichtern, indem teils sehr intensive und engmaschige Beratungsangebote geschaffen werden. Gleichzeitig bleiben die konkreten Anforderungen, wenn es um die Bewerbung und insbesondere um den Nachweis von Sprachkompetenzen geht. So sind studieninteressierte Geflüchtete in keinster Weise anders gestellt und die Anforderungen sind genau die gleichen wie bei allen anderen internationalen Studierenden. Da Sprachkompetenz gerade in Berufen des Sozial- und Gesundheitswesens 10 Aus dem Positionspapier an der EvH RWL 2016.
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unverzichtbar ist, sind die Anforderungen hoch: Studieninteressierte müssen Hochschulzugangsberechtigung, ausreichende Sprachkompetenz und Vorpraktikum nachweisen.11 Die Diversität der Studierenden mit ihren Lernstilen, Bildungsbiografien, kulturellen und sozialen Herkünften als Ausgangslage aufzugreifen und konstruktiv einzubringen, ist eine zentrale Herausforderung für Diversitätsstrategien an Hochschulen (Smykalla 2015). Denn die zu konzipierenden Strategien können durchaus »benachteiligende Effekte der Stigmatisierung, Stereotypisierung oder Kulturalisierung durch bloßes Addieren oder Betonen von Unterschiedlichkeit erzeugen. Angesichts des hsdidaktischen Trends zielgruppenspezifische Angebote für ausgewählte Studierendengruppen zu machen sind Gefahren des Othering (Spivak 1985) zu bedenken. Wenn durch Praxen der VerAnderung eine Abgrenzung und Abwertung eines Anderen als anders mit einer Aufwertung des Eigenen einhergeht, wird die mehr oder weniger minorisierte Gruppe zu Repräsentanten einer gesamten Gruppe gemacht. Mit dieser unautorisierten Vereinnahmung von außen werden Menschen in bestimmte Rollen und Positionen gedrängt und funktionalisiert. Durch eine Fokussierung in Diversitätsstrategien auf (Ziel-) Gruppen, welche entlang von Merkmalen konstruiert werden, entstehen Individualisierungen, die Unterschiede zwischen Gruppen und Individuen betonen und neue Normen und Normalitäten produzieren – mitunter auch entgegen der inkludierenden Absicht erneut exkludieren.« (Ebd., S. 172)
Beispielsweise sind zielgruppenspezifische Beratungsangebote für studieninteressierte Geflüchtete ›gut gemeint‹ und können dennoch zu Abwehr führen: Abwehr nicht gegen die Unterstützung an sich, doch Abwehr gegen die in der Struktur des Angebotes liegende binäre Codierung »(passiv, hilfebedürftig, ohnmächtig versus aktiv, helfend, handelnd)« (Frieters-Reermann/Sylla 2017, S. 24), die gewollt oder ungewollt Assoziationen zu globalen Machtverhältnissen und kolonialen Kontinuitäten aufweist. So verwundert es nicht, wenn studieninteressierte Geflüchtete, wie oben erwähnt, ›stolz‹ und aktiv selbst Hürden angehen und trotz aller ›Dankbarkeit‹ für die Angebote Optimierungsbedarf anmelden,12 insbesondere beim Sprachgebrauch in Bezug auf die Formulierung ›Flüchtlinge‹ bzw. ›Migranten‹. 11 In der Schweiz ist ein Niveau von C2 gemäß GER (Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen) erforderlich, um Soziale Arbeit an den Fachhochschulen studieren zu können, während die Universitäten das Niveau C1 fordern. In Deutschland wird für das Studium der Sozialen Arbeit an Fachhochschule und Universitäten i.d.R. das Niveau C1 verlangt. 12 Befragung im WS 18/19 von Monika Hörr mit studieninteressierten Geflüchteten an der EvH RWL.
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Zwar gebe es einige sprachsensible Lehrende, die wie selbstverständlich den Menschen hinter der Bezeichnung z.B. als ›Menschen mit Fluchthintergrund‹ oder ›Menschen mit Migrationsgeschichte‹ benennen. Dies sei aber noch nicht bei allen Lehrenden und nicht bei allen Verwaltungsmitarbeitern der Fall. Hier müsste ggf. noch mehr in der Breite für Othering-Prozesse sensibilisiert und darauf hingewiesen werden, was einzelne Begriffe beim Adressierten auslösen können. Bei der Reaktion auf die inkludierende Anrede zeigt sich die Ambivalenz der differenzierten Gleichheit: Die Adressierten schätzen Hochschulangebote für Geflüchtete, dennoch möchten sie Studierende sein wie alle anderen Studierenden auch und nicht a priori die Anderen; und schon gar nicht möchten sie mit Mitleid behandelt werden. Diese auf den ersten Blick widersprüchliche Beobachtung und Verstörung lässt sich aus sozialpsychologischer Perspektive teils auflösen: Wann, warum und wie wird der Flucht-/Migrationshintergrund salient und wird als herausragendes Merkmal gesehen? Je nach Haltung der Person (wird die eigene Flucht-/Migrationsgeschichte als relevant für Identität und Handeln erachtet?), nach der Situation (Freiwilligkeit, Hierarchie, Kontext, Konsequenz) und danach, ob die Person selbst den Fluchtaspekt einbringt oder durch andere darauf angesprochen wird. Abhängig von diesen und ähnlichen Variablen wird der Wunsch bestehen, diesen sozialen Marker zu fokussieren oder zu defokussieren. Jenseits individualisierter, struktureller oder kulturalisierender Deutungen ist es daher angebracht, Kontexte bzw. Muster zu analysieren, in denen Flucht und Migration als Differenzmarker auffällig bzw. wirksam werden. Konvergenzen und Divergenzen bei den hochschulstrukturellen Anforderungen von Diversität, Internationalität, Fluchtmigration Eine Hochschulstrategie als Antwort auf diese genannten Herausforderungen wäre, spezifische Gremien, die zum Thema Flucht entstanden sind, in bestehende oder neu zu schaffende Diversity-Konzeptionen zu überführen und zu integrieren und dadurch Synergien zu schaffen. Falls bereits zuvor die Genese einzelner Bereiche (wie Schreibwerkstatt, Familienbewusste HS, Behindertenbeauftragte, Genderbeauftragte, Beauftragte bei chronischen Krankheiten etc.) getrennt voneinander verlaufen ist, bietet die Einbettung dieser Spezifizierungen in ein Diversity-Konzept eine Gestaltungsmöglichkeit. Es ist zudem konzeptionell basal, die Diskursstränge der ›Fluchtmigration‹, ›Internationalität‹ und ›studiumsrelevanten Diversität‹ bzw. Heterogenität (bezüg-
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lich Motivation, Interesse, Vorwissen, Intelligenz) mit der ›sozialen Ungleichheitsforschung‹ zu verbinden, um die Individualisierung struktureller Diskriminierung und die Homogenisierung von Gruppen zu vermeiden. 13 Eine mögliche hochschulpolitische Intervention könnte darin bestehen, dass Hochschulen die Fluchterfahrung nicht als Teil der Migrationserfahrung begreifen und Geflüchtete perspektivisch eher als Teil einer größeren Gruppe mit besonderem Beratungsbedarf (z.B. internationale Studierende, Nicht-Muttersprachler, o.ä.) adressieren. Meist wird ›studiumsrelevante Diversität‹14 als Merkmal der ›normalen‹, nicht besonderlichten Studierenden behandelt, die unterschiedliche individuelle Fähigkeiten haben; daneben gibt es die internationalen Studierenden, die mit positiv konnotierten Ressourcen und Mehrwert verbunden werden, dann diejenigen mit Migrationshintergrund, die mit sozialer Ungleichheit assoziiert werden, und schließlich die geflüchteten Studierenden, die zudem vornehmlich als hilfsbedürftig und möglicherweise traumatisiert eingeordnet werden. Diese imaginierten oder faktischen Gruppenzuweisungen gehen nicht auf, da es Differenzierungen innerhalb der Kategorien ebenso gibt wie Überschneidungen. So kann eine Studierende zugleich hochqualifiziert sein und bereits im Heimatland studiert haben, aus einer Krisenregion geflüchtet sein, Mutter sein, traumatisiert sein, mehrsprachig, aber nicht deutschsprachig sein, usw. Hier wäre eine diversitätssensible, machtsensible und intersektionale Perspektive fruchtbar, die die Diskursstränge zusammenführt. In ähnliche Richtung argumentieren auch die Hochschulforscherinnen Ayla Neusel und Andrä Wolter, die in ihrem Sammelband Mobile Wissenschaft (2017) Beiträge aus den Forschungsfeldern der Hochschul- und Migrationsforschung zusammengeführt haben: Internationalisierung und Migration werden in der Hochschulpolitik und oft auch in der Hochschulforschung tendenziell als zwei Themenund Forschungsfelder behandelt. Während der Zuwanderung ausländischer Wissenschaftler*innen und der internationalen Mobilität nach Deutschland und aus Deutschland in hochschulpolitischen Diskursen seit längerem eine hohe Bedeutung zugemessen werde, spiele das Thema Migration eine deutlich geringere Rolle. In jüngster Zeit sei es in einem Bedeutungsaufwind, wobei in diesem Diskurs weniger die Internationalisierung aufgegriffen werde, sondern die Thematisierung von Migration über die Ungleichheit der Bildungs- und Studierchancen verlinkt werde. Dieses wichtige gesellschaftspolitische Thema finde selten Ein-
13 Vgl. auch Emmerich/Hormel 2013, S. 149: Heterogenität ist eine »Kontingenzformel«: einmal verstanden als Produkt von Ausgrenzung und Selektion im Bildungswesen, einmal als individuelles Persönlichkeitsmerkmal. 14 Gemeint ist die Diversität von Motivation, Interesse, Vorwissen, Intelligenz etc.
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gang in die Entwicklungskonzepte der Hochschulen, während Internationalisierung als ein Feld akademischer Reputation, Exzellenz und Profilbildung gesehen werde. Migration (in der Formulierung ›Studierende mit Migrationshintergrund‹) wird dabei häufig nur auf diejenigen bezogen, die mit ihren Familien als Kinder und Jugendliche nach Deutschland gekommen sind und hier ihren Schulabschluss und ihre Studienberechtigung erworben haben, obgleich die sozialwissenschaftliche und statistische Definition von Migration grundsätzlich auch andere mit Einwanderung verbundene Formen internationaler Mobilität einschließt. Ohne Zweifel wurden die deutschen Hochschulen in den letzten zehn Jahren internationaler (vgl. DAAD-Veröffentlichungen). Die Internationalisierung von Bildungsbiografien gehört inzwischen zum Normalfall. In der öffentlichen Debatte wird oftmals übersehen, dass die Nachkommen von Migrant*innen hohe schulische und berufliche Qualifikationen erworben haben. Fasst man internationale Studierende mit denjenigen mit Migrationshintergrund zusammen, weist ein Drittel aller deutschen Studierenden eine Migrationsgeschichte auf (vgl. Neusel/Wolter 2017: 10). Im Schatten der hochschulpolitischen Aufmerksamkeit standen bisher hochqualifizierte Migrant*innen und Studierende mit Migration-„Hintergrund“ mit Residenz in Deutschland, im Vordergrund dagegen waren bisher die ausgewählten Gruppen von Studierenden und Wissenschaftler*innen aus dem Ausland, sogenannte „Bildungsausländer“ bzw. einem internationalen Sprachgebrauch folgend „internationale Studierende“ resp. “Wissenschaftler*innen“. Neu hinzugekommen in den Kreis der wahrgenommenen Gruppen sind die Nachkommen von Spätaussiedler*innen, Einwander*innen aus Süd- und Osteuropa, schließlich die Flüchtenden aus den Kriegs- und Krisengebieten. All dies ist ein Spiegel wachsender Facetten biografischer Mobilität zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Motiven. Als Folge der Globalisierung der Arbeitsmärkte für Wissenschaftler*innen kommt es zu einer steigenden Diversität und Heterogenität unter den Studierenden und Wissenschaftler*innen an deutschen Hochschulen, gekoppelt mit der steigenden Bildungsbeteiligung von Migrant*innen aus Deutschland. Diese Entwicklungen sind Herausforderungen für die deutsche Hochschulpolitik und die deutsche Hochschulforschung. Hochschulen werden immer mehr zu transnationalen Einrichtungen, was sie ihrem universalistischen Wissenschaftsverständnis nach schon lange sind, nicht aber in ihrem Bewusstsein um die Diversität ihrer Mitglieder. Positiv konnotierte internationale Mobilität und eher negativ konnotierte Fluchtmigration sind hierbei zwei Seiten derselben Medaille, mit jeweils system- und institutionsspezifischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Bewertungen, die zu unterschiedlichen begrifflichen, methodischen und theoretischen Konzepten und Verständigungen geführt haben.
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Eine der wenigen Studien ist die von Christian Kerst und Andrä Wolter (2017), die sich drei Gruppen von Studierenden mit Migrationshintergrund widmet: inländischen Studierenden mit Migrationshintergrund, internationalen Studierenden und sogenannten Flüchtlingen, Schutz- und Asylsuchenden. Die Autoren beschreiben diese verschiedenen Gruppen an den Hochschulen, analysieren die Entwicklung der Bildungsbeteiligung und fragen nach Hürden und Problemen auf dem Weg an die Hochschulen sowie nach dem Studienverlauf und dem Übergang in den Arbeitsmarkt. Da sich aus der Bevölkerung mit Migrationshintergrund auch das zukünftige Fachkräfteangebot speist, ist die Frage nach Bildungsbeteiligung eine bildungs- und arbeitsmarktpolitische Schlüsselfrage. Auch die Autor*innen kommen wenig überraschend zu dem Schluss, dass die sozialen Ungleichheitsfaktoren für akademische Bildung und Hochschulkarrieren eine zentrale Rolle spielen: Einflüsse der Migration, des Herkunftslandes, der Bildungsherkunft, Geschlechterverhältnisse spielen eine Rolle, d.h. eine intersektionale Analyse ist erforderlich. Sie betonen die Notwendigkeit, den Diversity-Ansatz im Kontext sozialer Ungleichheitsforschung zusammenzuführen und theoretisch zu reflektieren. Was es bedeutet, Intersektionalität und Diversität als Analyseinstrumente gleichzeitig im Blick zu haben, verdeutlicht u.a. dieses Beispiel: Diversität und damit einhergehende Ressourcen sind nur relevant, wenn diese auch als Kapital positiv bewertet werden. Nach der Theorie des kulturellen Kapitals in der Migration basiert eine adäquate Arbeitsmarktintegration für hochqualifizierte Migrant*innen auf Anerkennung ihres institutionalisierten Kapitals (z.B. ihrer Bildungsabschlüsse) und ihres inkorporierten Kapitals (u.a. kognitive Fähigkeiten, Handlungs- und Sprachkompetenz und Wissen). Je nach Anerkennung lässt sich zwischen einem Up- und Downgrading des kulturellen Kapitals der Migrant*innen unterscheiden. Strukturelle Zugangschancen bei Geflüchteten sind demnach als sichtbare spezifische symbolische Ordnung zu diskutieren. Die Diskussion und Reflexion darüber, wie sich die Hochschule als Institution den Anforderungen stellt bzw. stellen kann, ist selbstverständlich nicht frei von nationalem Kontext und der konkreten Hochschulhistorie zu denken: Wie präsent und politisch ist das Bewusstsein? Wird traditionell Marginales mitgedacht? Oder bleibt es ein Schmuck, ein Nice-to-have-Phänomen?
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3. A NFORDERUNGEN AN DIE H OCHSCHULAUSBILDUNG BEZOGEN AUF DIE L EHRE Das Ankommen des Themas Flucht und studieninteressierter Geflüchteter resp. Studierender hat an den Hochschulen in gewisser Weise die Revisionsbedürftigkeit der Hochschule nicht nur als Organisation, sondern auch in der Lehre freigelegt. Dabei war die gesellschaftliche Realität, dass Menschen nach Deutschland geflüchtet sind, zunächst medienvermittelt, bis nach und nach Menschen über die Arbeits- und Praxisfelder in Kontakt gekommen sind, über ihr Engagement in der Flüchtlingshilfe, über Nachbarschaft und Stadtbild. An den Hochschulen war das Thema durch die Anfragen aus der Praxis angekommen und die Lehre hat sich verstärkt dem Thema gewidmet, um Studierende vorzubereiten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich tatsächlich Studieninteressierte meldeten und sie schließlich an den Universitäten präsent wurden. Der Mainstream diversitätssensibler Lehre behandelte bis vor einigen Jahren das Thema Fluchtmigration als Gegenstand eher sporadisch und adressierte (exkludierend) eher Studierende ohne Fluchthintergrund. Die Fragen, die im Raum standen, lauteten nun: Was ist professionelle Vorbereitung für Dozierende und Studierende? Wie wird in der Lehre die Realität der Gesellschaft thematisiert? Wie wird konstruiert oder dekonstruiert? Wie werden Diskurse dargestellt? Wie gelingen diskriminierungskritische und diversitysensible Hochschulpolitik und Lehre? Was sind Inhalte und Ziele, wie gestalten sich didaktische Methoden in der Hochschulausbildung bezogen auf die Lehre? Inhalte: Was sollten Studierende lernen und Lehrende beachten? Bei der Durchsicht von Positionierungen und Stellungnahmen zu der Frage, wie und mit welchen Inhalten das Studium der Sozialen Arbeit auf die Arbeit mit Geflüchteten vorbereiten kann und soll, findet sich ein Narrativ, das in die Richtung einer Praxis ›as usual‹ weist, aber angereichert ist mit ein paar ›specials‹. Als die ›As-usual‹-Elemente der handlungsleitenden Prämissen gelten Subjektivierung, Empowerment und Sozialraumorientierung, Verzahnung theoretischer Bezüge und praktischen Handelns, kritisch-reflexive Haltung, der Blick für Kompetenzen und Ressourcen auch unter den Bedingungen struktureller Asymmetrien (Müller et al. 2018: 563ff.). Zu den ›specials‹ im Bereich der Fluchtmigration gehören »z.B. die migrationsbezogenen Rechtsgebiete; Erwerb sprachlicher Grundkenntnisse in Persisch
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und Arabisch […], menschenrechtliche[s] Selbstverständnis als Lobbyorganisation für die Rechte von Geflüchteten« und eine spezielle Aufmerksamkeit für die »Prägung der Lebenslagen durch den Aufenthaltsstatus«.15 Was diese durchaus sinnvollen Inhalte eher marginal im Blick haben, ist zum einen eine Perspektive der Nachhaltigkeit. Die Präsenz des Themas Flucht und Migration gibt reaktive Handlungsprämissen für aktuelle Herausforderungen in den Sozial- und Gesundheitsfeldern, jedoch ohne die Weitsicht aktiver langfristiger Veränderungen, die in vielen Bereichen absehbar in der Praxis relevant werden, wie in der Behindertenhilfe, in der Arbeit mit älteren Menschen usw. Zum anderen spiegeln die Formulierungen und Thematisierungen eine Lehre, in der zwar über die Geflüchteten, ihre Lebenslage und die politischen Ursachen gesprochen wird, jedoch in einem Seminarraum, in dem die Geflüchteten selbst physisch nicht erscheinen oder erwartet werden. Die Präsenz geflüchteter Studierender beeinflusst die Lehre. Das Ankommen der Geflüchteten nicht nur als Thema, sondern auch als konkrete Menschen an der Hochschule hat die Realitäten verändert. »Ich hatte den Eindruck, dass das nochmal Schwung bekommen hat, da die Arbeit mit der Zielgruppe Fahrt genommen hat und damit der Dialog erst richtig angefangen hat … davor war es eher so: Wir sprechen als Profis der Sozialen Arbeit über Geflüchtete, davor waren sie nicht existent«, beschreibt Marie Heyder, Koordinatorin des Themenbereichs Migration und Flucht an der EvH RWL ihren Eindruck. An Universitäten war die Präsenz der Geflüchteten eher in den MINT-Fächern als in den SAGE-Fächern wahrnehmbar. Mitunter liegt das am fachlichen Profil, denn viele Geflüchtete (vornehmlich aus Syrien) hatten studiert. Sie haben sich eher Studiengängen zugewandt, die sie schon in den Heimatländern studiert hatten und die zudem mit einem höheren sozialen Status assoziiert waren bzw. sind, d.h. eher Ingenieurwesen oder Medizin als Sozialwesen. Im Laufe der letzten Jahre 15 Vgl. Positionierung der ASH (2016), in: alice, Sommersemester 2016, S. 16f.; https://www.ash-berlin.eu/fileadmin/Daten/alice-Magazin/2017/Hochschulleben/Alice _31_Web_2_.pdf (Zugriff am 10.03.2019). Das Magazin alice der ASH Berlin formuliert ferner Forderungen wie die nach Antirassismus-Arbeit, nach der Beschäftigung von Hochschulangehörigen mit den Fluchtursachen und der Situation in anderen europäischen Ländern und benennt hochschulpolitische Herausforderungen. Die professionellen Herausforderungen angesichts der Situation geflüchteter Menschen und der daraus folgenden Erfordernisse der Professionalisierung in den Studiengängen mündeten in eine »Debatte zwischen Hochschule und Praxis Soziale Arbeit« an der ASH, deren Ergebnisse Rahel Dreyer, Iris Nentwig-Gesemann, Barbara Schäuble und Stephan Voss im Magazin der ASH publiziert haben, vgl. obenstehenden Link.
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sind Veränderungen zu verzeichnen. Nach den Beobachtungen von Marie Heyder liegt das daran, dass »die Geflüchteten selber das deutsche Sozialsystem als Klienten kennengelernt haben und über Hilfesysteme dann als Akteure integriert wurden, z.B. in einer Flüchtlingsunterkunft gibt es Sozialarbeiter, die binden dann Geflüchtete ein, die sie als fit wahrnehmen, die andere dann wieder begleiten … ich habe von Gasthörern gehört, dass das der Ausschlag war, sich für den sozialen Bereich zu interessieren«. Parallel haben die Hochschulen durch Werbung und gute Vernetzung von Hochschulen und Praxis den Zugang für studieninteressierte Geflüchtete im sozialen Bereich erleichtert. Die Hochschulen haben sich für geflüchtete Personen geöffnet (als Gasthörer*innen und Studierende), d.h. es gibt Geflüchtete als Studierende mit Erfahrungswissen und es gibt Nicht-Geflüchtete ohne Erfahrungswissen von Flucht, die beide auf das Thema professionell vorbereitet werden. Dabei gibt es Teilschnittmengen von Studierenden mit Migrationsgeschichte, aber ohne Fluchterfahrung. Von daher ist der Gegenstand Fluchtmigration in der Lehre auf mehreren inhaltlichen und didaktischen Ebenen zu reflektieren: in Bezug auf Sprachen, politische und soziokulturelle Erfahrungen, Beziehungs- und Machtaspekte aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten sowie in Bezug auf einen Diversity-orientierten Wissenskanon. Sprachen. Studierende mit Fluchtgeschichte bringen eine sprachliche Anforderung mit in die Lehre, die sie zumeist gemeinsam haben mit den internationalen Studierenden, die eine Lernendenvarietät des Deutschen sprechen. Sprachfähigkeit ist gewöhnlich sehr allgemein formuliert, wäre aber differenziert zu betrachten. Sie kann das Tempo des Verständnisses betreffen, die Sprech- oder Schreibfähigkeit. Jeder dieser Aspekte kann prinzipiell auch bei anderen Studierenden auftreten, z.B. bei den sogenannten Internationalen, bei Studierenden, deren Eltern über keine Tertiärausbildung verfügen, bei Menschen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, bei Menschen mit Beeinträchtigungen. Für Lehrende entstehen ähnliche Herausforderungen und Reibungspunkte wie für andere Pädagog*innen, die sich um Inklusion bemühen, mit dem Unterschied, dass hier Studierfähigkeit verhandelt wird. Lehrende fragen sich etwa, wie sie damit umgehen sollen, wenn Studierende aufgrund der Sprachkompetenz dem Stoff nicht im erwarteten Tempo folgen können oder im schriftlichen Bereich Probleme haben? Beide Autorinnen haben die Erfahrung gemacht, dass Studierende nach Lehrveranstaltungen zu Flüchtlingssozialarbeit zu ihnen gekommen sind und gesagt haben, dass sie sich zwar sprachlich nicht gut mitteilen könnten, sie aber dennoch sofort verstehen würden, worum es geht. Die mündliche Kommunikation
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gelingt in der Regel eher und leichter als die schriftliche Kommunikation, die insbesondere bei Prüfungsleistungen relevant wird. Verzögertes Tempo bezieht sich nicht nur auf Sprachverständnis im engeren Sinne, sondern auch darauf, dass Studierende mit Fluchthintergrund mit lebenspraktischen Belangen zu tun haben, die sie unter Umständen daran hindern, voranzukommen in ihrem Leben: Sprachniveau-Normen, Aufenthaltsprobleme, Familiennachzug, Situation der Angehörigen in Krisen- und Kriegsgebieten usw. Soziokulturelle und politische Erfahrungen und Erwartungen der Studierenden. Je nachdem, ob und welche Erfahrungen die Studierenden zuvor in ihren Heimatregionen gemacht haben, variieren die Erwartungen an Lehrende, an die Methodik der Lehre, an die Struktur eines Studiums. So kann es zu Überforderungen kommen bei der Frage der selbständigen Strukturierung des Studiums, gerade wenn Studienerfahrungen aus eher restriktiven Hochschulsystemen bestehen. Die Freiheit des Studienverlaufs kann dann anfangs überfordern und Wünsche nach mehr Vorgaben und Sicherheiten evozieren (»Sag mir doch, was ich machen soll!«). Ein strukturiertes Studium erleichtert den Beginn. Darüber hinaus kann es Erwartungen an die Kommunikationskultur geben, die hemmend wirken können; z.B. wenn bestimmte Annahmen über implizite Konventionen bestehen, ob, wie und wonach Dozierende befragt werden dürfen. Manchmal werden Fragen dann nicht aus Respekt nicht gestellt, sondern weil die Studierenden von einer anderen Normalität ausgehen. Kulturelle oder ideelle Unterschiede kann es selbstverständlich auch zwischen Hochschulen und Universitäten in Deutschland geben, etwa in Bezug auf Nähe und Distanz zwischen Studierenden und Lehrenden oder aufgrund studiengangsspezifischer Unterschiede. Beziehungs- und Machtaspekte aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten. Lehrinhalte verändern sich permanent; verglichen mit den 1960er Jahren ist Transgeschlechtlichkeit ein Thema geworden, weil es gesellschaftliche Veränderungen gibt und weil Trans-Studierende sichtbarer sind. Die Inhalte der Lehre sind nicht zu trennen von der Realität – der Realität der Studierenden und der Realität der Praxis. Es handelt sich um ein zusammenhängendes Dreieck. Es bedarf daher der pädagogischen Präsenz und didaktischen Achtsamkeit der Lehrenden, diese Realitäten und zugleich die mit ihnen historisch und aktuell gewachsenen Beziehungsund Machtaspekte aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten wahrzunehmen. Geflüchtete kommen als Menschen, als Personen mit einer Geschichte in die Hochschule. Es erfordert didaktische Überlegungen, wie über den Gegenstand Flucht-
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migration zu sprechen ist, ohne sie darin ›einzuzäunen‹ (im Sinne von evtl. Zuschreibung und Adressieren) und ohne zu ignorieren, dass über ›sie‹ unempathisch verobjektivierend gesprochen wird. Beispiel: In einer Lehrveranstaltung zum Thema Flucht, Migration, Männlichkeit bestand die Gruppe aus ca. 15 Frauen, fast ausschließlich ohne Flucht- oder Migrationshintergrund, und einem männlichen Migranten. Er kam regelmäßig, hörte sich sehr interessiert die Theorien an, war in den Diskussionen eher zurückhaltend. Ihn als ›männlichen Fluchtmigranten‹ zu adressieren, wäre evtl. eine Zuschreibung; durch die Ungleichverteilung in der Gruppe und aufgrund des Seminarthemas (Migration und Geschlecht) wiederum war er ohnehin unausgesprochen im Fokus. In einem anderen Seminar zur Sozialen Arbeit mit Geflüchteten sprachen Studierende wiederholt in Wir-sie- und Eigen-fremd-Dichotomien. Keiner der anwesenden Studierenden hatte eine Flucht- oder Migrationsgeschichte. Für die Lehrende war es ein permanenter Balanceakt, die in dieser Sichtweise inhärenten Stolpersteine und implizierten Logiken theoretisch einzubetten und auf sie zu verweisen, da es keine geflüchteten Studierenden gab, die allein durch ihre Präsenz die Äußerungen in Frage gestellt hätten. In anderen Seminaren gab es Studierende mit Fluchthintergrund, die jedoch genau bestimmte Stereotypisierungen bestätigten und somit in Einklang mit der Gruppe reproduzierten. Diese Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit, Beziehungs- und Machtaspekte aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive wahrzunehmen und Diversity-orientiert zu reflektieren. Der bisherige Wissenskanon ist nicht Diversity-orientiert. Tendenziell gibt es eine Lehre, die immer noch von Normalitätsvorstellungen ausgeht und nicht im gleichen Gewicht Diversitäten berücksichtigt. Doch theoretische Lehre und die Studierendenschaft hängen eng zusammen, denn in der Lehre reagieren Lehrende und Studierende auf die vielfältige Zusammensetzung in der Gruppe. Diese Erfahrung der Vielfältigkeit in einem Seminar, vor allem wenn sie artikuliert wird oder sichtbar ist, verändert die Lehre und die Studierenden. Es ist nicht gleichgültig, wenn sich jemand positioniert. Zum Beispiel ist eine Studentin mit einer TransgenderIdentität zu mir gekommen (R. Ehret) und hat gesagt, sie sei so froh, ich sei die Erste gewesen, die diese Zweigeschlechtlichkeit auch einmal theoretisch problematisiert und verortet habe. Sie sagte, es habe ihr so gutgetan, denn dann wisse sie: Es gibt eine theoretische Auseinandersetzung, es spielt eine Rolle. Diese Erfahrung der Vielfältigkeit in einem Seminar ist relevant für die theoretische Auseinandersetzung und spiegelt das Verhältnis von Theorie, Lehre und Studieren. Sie ermöglicht und verändert das Lernen und spiegelt im Idealfall die gesellschaftliche Wirklichkeit. Dabei ist diese diversitätssensible Sichtweise insbesondere für
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die Studierenden interessant, deren Identität Facetten hat, die nicht durch die vorherrschende Norm geprägt sind. Sie sind erleichtert, wenn sich ihre Erfahrungen im Mainstream der Theorien wiederfinden und als unterschiedliche Normalitäten, die es gibt, besprochen und diskutiert werden, somit erst existent werden und ihnen eine Rückversicherung geben, dass ihre Realität Teil der wahrgenommenen Wirklichkeit ist und anerkannt wird. Zu dieser Wirklichkeit gehört auch Rassismus. Daher ist ein rassismuskritisches Lehrangebot für alle Studierenden zur Vorbereitung auf das Arbeitsfeld Flucht/Migration basal, damit Studierende lernen, rassistische Gedankenmuster zu erkennen und über eine klare innere Haltung zu einem respektvollen und geduldigen Umgang mit anderen Menschen zu finden. Eva van Keuk, Leiterin des Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge in Düsseldorf, sagt über die Anforderungen für angehende Sozialarbeiter*innen: »Es bleibt sehr bequem, sich als Weiße über die armen Diskriminierten Gedanken zu machen, es hilft nicht, deine eigenen Rassismen zu begreifen. Kompetenzentwicklung nicht nur über Wissensaneignung ist gerade in der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen, die abschiebegefährdet sind, ein Bereich, der nachhaltig erschüttert. Hochschulabsolvent*innen sollten fest auf beiden Beinen stehen, auch wenn sie jung sind. Es ist immer wieder faszinierend, wie geschichtslos manche Menschen in die Arbeit kommen im Sinne von Historie, Kontext, Politik, Gesellschaft. Ich meine multiperspektivische Geschichte, Migrationsgeschichte; z.B. ist die Geschichte Israels in der Schule ein heißes Feld, was in einer heterogenen Schülerschaft eskaliert, weil Normierung vorausgesetzt wird, die nicht für alle zutrifft; oder wir nennen es ›Kongo-Konferenz‹, was in der ganzen Welt ›Berlin-Konferenz‹ genannt wird. Wenn du eine heterogene Gruppe vor dir hast, musst du auch Methoden verändern. Damit ist auch die eigene Begrenztheit besser zu verstehen. Aus meiner Sicht müssten sich alle mit dem Konzept und der Forschung zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) auseinandersetzen. Sozialarbeiter*innen arbeiten in gesellschaftlich neuralgischen Punkten, da ist Faktenwissen Pflicht und freiwillige erfahrungsbasierte Vertiefung notwendig.« 16
Allemal deutlich wird hier die Notwendigkeit eines tieferen komplexeren Reflexionsprozesses darüber, wer (Person? Struktur? Organisation?) was (Gegenstand? Haltung?) wie lernen, ver-lernen, neu-lernen muss – es handelt sich also um nicht weniger als eine epistemische Verschiebung der tradierten Wissensproduktion und des Wissenskanons (vgl. Castro Varelas 2016).
16 Interview mit Eva van Keuk am 15.11.2018.
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Diversity-orientierter Wissenskanon. Dieser Anspruch entspricht der Idee, Theorien jenseits des nationalen Containers zu lehren und über den Tellerrand zu schauen. In einer vielfältigen Hochschule werden Studierende belehrt, die aus verschiedenen Weltregionen kommen. Die Theoretiker*innen, die behandelt werden, stammen aus dem deutschsprachigen, europäischen und westlichen Raum. Teils werden internationale Autor*innen besprochen, verhandelt als Teil internationaler Sozialer Arbeit. Das aber legt nahe, dass es eine Verortung in dieser Schublade gibt, ohne dass ein Eingang in den Mainstream stattfindet. Es bleibt in der Sonderschublade. Die offene Frage ist, inwiefern Theorien aus Lateinamerika, aus Afrika, aus Asien inkludiert werden, und im Anschluss daran stellt sich die Frage, welche Soziale Arbeit in anderen Regionen warum und wie vertreten wird. Gibt es solche Theorien, welchen Inhalt haben sie, und können diese Sichtweisen in den Mainstream wissenschaftlicher Diskurse integriert werden? Das würde zu einem breiteren Verständnis jenseits national-orientierter Sozialer Arbeit führen, die sich weiterhin über national-rechtliche Vorgaben des Sozialsystems bestimmt. In Theorien und Vertiefungen wären das erste Schritte, Wissensdiversität einzubauen als Teil des Kanons und ohne Sonderstatus. Das eröffnet ein breiteres Verständnis und neue Fragen in diesem Rahmen. Die daraus abgeleiteten Anforderungen können dann in der Lehre implementiert werden. Mit anderen Worten: Die Theorien müssten breiter sein und die globalen Realitäten berücksichtigen. Theorien wählen, die die eigene Positionierung und soziokulturelle Eingebundenheit mitreflektieren. Es ist wichtig, immer über den eigenen Tellerrand zu schauen, aber auch den eigenen Teller gut zu kennen, d.h. die eigene soziokulturelle Eingebundenheit ist deutlich zu thematisieren. Für die Didaktik in der Lehre bedeutet das, es ist tragend, Theorien zu vermitteln und diese zum eigenen persönlichen Erfahrungsbereich in Bezug zu setzen. Die Analyse würde sonst an der Oberfläche bleiben. Die persönliche Haltung verändert sich erst, wenn transparent ist, was die Theorien mit den Studierenden zu tun haben. Zum Beispiel führt die Vermittlung von Theorien zu komplexen Ungleichheitsverhältnissen (Intersektionalität) erst dann zu Aha-Lerneffekten, wenn diese durch Übungen erfahrungsbasiert werden. Kognitives Verständnis ist hilfreich, aber nicht ausreichend, es bleibt bei einem Intellektualisieren ohne verkörperte Basis.17 17 Im Falle der Intersektionalität tritt immer wieder als erste Reaktion der Studierenden auf die Theorie der Einwand auf, dass die Theorie doch eigentlich keine neue Erkenntnis bringe und die Tatsache, dass Ungleichheiten komplex seien, nach einer Banalität klinge. Bei der Übung »Ein Schritt vor…«, bei der unterschiedliche Identitäten und soziale Positionen per Karte vergeben wurden und Handlungsmöglichkeiten nach sich zogen (je nach Hautfarbe, Fluchtgeschichte, Status als Alleinerziehender usw.), haben
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Eine Theorie verstanden zu haben, bedeutet zu verstehen, inwieweit diese Theorie mit den Lernenden und Verstehenden selbst zu tun hat und wie sie auf der politischen Ebene Positionen beziehen. Die Theorien an sich sind unterschiedlich. Queere Zugänge sind immer auch politisch, Systemtheorie ist kognitiv-beschreibend-erklärend, Thierschs Lebensweltansatz ist beschreibend-erklärend, bei feministischen und postkolonialen Ansätzen muss jede*r sich selbst verorten bzw. positionieren, zum Teil auch im Konstrukt der Kritischen Theorie. Diese Anforderung an die Inhalte und Didaktik sind unmittelbar gekoppelt an Anforderungen an die Lehrenden (abstinent lehren vs. Lehre in Beteiligung) zwischen Positionierung und Dezentrierung. Die ausschließliche Vermittlung eines objektivierten Theorieverständnisses ist für diversitätssensibles Lernen nicht förderlich. Die Reflexion der eigenen Positionierung und darüber, was die Theorie ›mit einem selbst zu tun hat‹, gilt für Lehrende gleichermaßen. Diese Verbindung zwischen gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, Theoriebezügen, Interaktionen und Individuum (ich selbst), dieser Strom muss dynamisch und kontinuierlich laufen. Gerade in einer Disziplin wie der Sozialen Arbeit bietet sich das ultimative Durchdringen ideal an. In der Realität bleibt Lehre oft abstinent, und das hat wiederum mit dem Wissenskanon und dominierenden Diskursen zu tun (vgl. Gilgun 2002). Die Reflexion von Professionalität in der Lehre. Die Konstruktion von Professionalität, Lehrkompetenz und Wissenschaftlichkeit ist im Wissenskanon verfangen. Eine abstinente kognitiv vermittelte Lehre entspricht der Vorstellung, was Wissenschaft ist, wie ein*e Wissenschaftler*in ist. Diese Frage ist gerade für die Soziale Arbeit, die mit der Anerkennung der Sozialarbeitswissenschaft befasst ist, von Bedeutung. Um sich in diesem Anerkennungskampf zu profilieren, sind einige Dozierende bemüht, besonders theoriebasiert und abstinent zu lehren, um ihre Wissenschaftlichkeit zu untermauern, indem sie die eigene Positionierung und Betroffenheit nach Möglichkeit umschiffen. Denn genau das ist gerade der Vorwurf an die Soziale Arbeit, dass sie emotionaler und zu schnell ›betroffen‹ sei. Betroffenheit und Professionalität divergieren in dieser Erzählung. Um professionell zu wirken, sind Gefühle auszublenden. Doch die persönliche Eingebundenheit und der politische Ort der Emotionen gehören zum Profil von Wissenschaftlichkeit (Haraway 1988). einige Studierende teils einen trockenen Hals bekommen, als sie erfasst haben, welche Tragweite diese sozialen Zuweisungen hatten – obwohl es nur ein Rollenspiel war. Zuvor war die Theorie ein kognitives Abnicken, ohne emotional-verkörpertes Wissen, danach entstand eine Vorstellung von der politischen Tragweite der jeweiligen Theorie, in diesem Fall Intersektionalität.
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Es ist eine Herausforderung für Lehrende, über Emotionen als politische Emotionen zu sprechen, ohne dass die Lehre zu Psychotherapie wird und ohne dass Menschen entwürdigt und entblößt werden. Dazu gehört eine enorme Lehrkompetenz und die Fähigkeit, selbstbefähigendes Lernen zu ermöglichen. Diese Perspektive ist eine, die in der Forschung in jüngster Zeit vermehrt Zulauf erhält (über partizipative Forschung; emische Perspektive [vgl. Ehret 2017]). Die ›Betroffenheit‹ ist in der Lehre und Forschung mitzudenken; denn Forschungsfragen verändern sich durch die Erfahrung der Geflüchteten und die Präsenz diverser Erfahrungen. Für einen ganz anderen Zusammenhang (Beeinträchtigung) gibt es eine schwedische Studie From Research Object to Co-Actor (Erdtman et al. 2012), die zeigt, dass sowohl Motivationen als auch Fragen an den Gegenstand andere sind, je nachdem ob Betroffene oder Nicht-Betroffene die Forschungsfragen definieren. Angebracht sind kritische Reflexionen zu Methodik, Denklogiken und Machtverhältnissen in Forschungsprozessen.
4. A B -
UND AUFSCHLIESSENDE
G EDANKEN
Für zukunftsstarke Hochschulen kann eine konzeptionelle und hochschulstrukturelle Verbindung von Diversität und Intersektionalität, die postkoloniale Perspektiven integriert, weiterführend sein. Das impliziert zugleich die Perspektive, Flucht- und Migrationsaspekte mit denen der Internationalisierung der Hochschule produktiv zusammenzuführen und ›internationale‹ Studierende und Dozierende und solche mit Flucht-/Migrationsbiografie in Hochschulforschung, -lehre und Praxis in Zusammenhang zu betrachten. Denn hier werden selbstverständlich Einschlüsse und Ausschlüsse diskutiert und praktiziert. Diese Gedanken erachten wir auch für einen Transfer in und mit gesellschaftlichen Akteuren für wichtig. Durch internationale Mobilität und Migration werden Hochschulen zu transnationalen Einrichtungen und Orten transkulturellen Wissens mit dem Anspruch, universalistisch zu lehren. Zugleich ist dieser Anspruch einer Definitionsmacht über Wissensbestände immer wieder kritisch zu hinterfragen und im de-universalistischen Sinne zu kontextualisieren. Sensibilisierende Diversity-Fortbildungen und Schulungen für Lehrende, Verwaltung, Studierende beachten in einer solchen Sicht die differenzierten Differenzen und die differenzierte Gleichheit entgegen homogenisierenden Wahrnehmungen von in sich geschlossenen Gruppen der Diversity-Kategorien. Zum Beispiel würde eine Person, die in der Behindertenhilfe lehrt, den Blick für Diversity innerhalb des Feldes der Behinderung erweitern und intersektionale Verbindungen
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der jeweiligen Felder in Bezug setzen, entgegen der Alltagswahrnehmung homogener Gruppen von Menschen mit Behinderung, Älteren oder eben Studierenden mit Fluchtgeschichte. Und z.B. wäre Kultur und Kultursensibilität als eine Facette von Diversity in diesem Zugang als Anspruch eines Bewusstseins für die Vielschichtigkeit einer durch diverse, auch kulturspezifische Handlungs- und Wissensformen konfigurierten sozialen Praxis zu verstehen, die für Akteure fremd wirken kann. Die Erfahrung von Fremdheit muss nicht von Kategorien wie Flucht, Migration, Nation, Ethnie, Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder Beeinträchtigung bedingt sein, sie kann vielmehr über jegliche alltäglichen Interaktionen konstruiert sein. Kultursensibilität bedeutet das Wissen darüber, dass Kultur in der Kommunikation nicht nur deskriptiv zur Beschreibung kultureller Phänomene und Gewohnheiten verwendet wird, sondern auch normativ auf-/abwertend in Selbst/Fremdzuschreibungen und Selbstbezeichnungen sowie in Othering-Prozessen, für die argumentativ Kultur ins Feld geführt wird (vgl. Ghaderi 2018). In diesem Sinne können gesellschaftliche Konfliktlinien als strategische kommunikative Aushandlung um Inklusion und Exklusion auf nationalstaatlich definierte Zugehörigkeitsdiskurse zurückgeführt, als Ausdruck von Wissensasymmetrien und individueller Orientierungssuche in pluralisierten Gesellschaften verstanden und hinsichtlich kolonialer und historischer Kontinuitäten analysiert werden. Bei künftig in Fallarbeit Tätigen, die mit Menschen als Kolleg*innen und Adressat*innen z.B. aus Syrien, Sierra Leone, Nigeria, Armenien, Kurdistan usw. arbeiten, sind Wissenslücken über historisch relevante Narrative, über die (deutsche) Kolonialgeschichte und deutsche Außenpolitik zu schließen, um Gruppenbeziehungen und reale oder imaginäre Machtverhältnisse zu verstehen. Die Reflexion des Wissenskanons ist die Basis diversitätssensibler Lehre, doch bisher sind mit der Diversity-Perspektive verbundene dekoloniale Wissensproduktionen noch rar, und so fragt Nausikaa Schirilla (2018): »Ist das Diversity Konzept offen für die Diskussion internationaler Machtverhältnisse, Ungerechtigkeiten oder unterschiedlicher globaler Positionierungen?« (S. 3) Durch die aktuellen und historischen Erfahrungen von Krieg und Gewalt, die durch Geflüchtete und Migrant*innen in der Hochschule körperlich präsent werden, steht die Frage nach der Anerkennung von nicht im dominanten Sinne wissenschaftlich begründetem Wissen im Raum, die intellektuelle Selbstreflexivität erfordert (ebd.). Schirilla schlussfolgert: »Postkoloniale Bezüge zum Diversitätsbegriff beinhalten, dass mit der epistemischen Perspektive andere und neue Formen von Diversität zum Tragen kommen und die Frage der Differenzen viel stärker im Zusammenhang mit Macht und Ausgrenzung zu sehen ist« (ebd., S. 7). Und Castro Varela (2010) spricht Diversity-Ansätzen sogar ein utopisches Poten-
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zial zu, wenn Kulturalisierungen und Stereotypisierungen hinterfragt und Ungleichheiten kontextspezifisch so analysiert werden, dass Gegendiskurse gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung entstehen. Wenn Diversity und Fluchtmigration als Anforderung an die Hochschulausbildung skizziert wird, dann kristallisiert sich heraus, dass neben politisch-historischen Wissensbeständen ein Wissen über Diversity, Intersektionalität und dekoloniale Theorien unabdingbar ist, aber keineswegs losgelöst von Selbstkompetenzen lehrbar ist. Adäquate Diversity-Sensibilisierung verknüpft didaktisch theoretisches Wissen mit Erfahrungswissen. Lesen und Diskutieren hilft bedingt, es muss methodisch didaktisch erfahrbar sein, so dass Menschen über sich nachdenken. Erforderlich sind Wissen, Interesse und Neugier, dass Menschen sich ihrer persönlichen soziokulturellen Prägung bewusst sind, dass eine Verknüpfung von Wissen und Biografie stattfindet, dass eventuell ein Bewusstsein dafür entsteht, wo Menschen positioniert sind, gerade wenn sie selbst später im Kontext der Arbeit mit Geflüchteten tätig werden.
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Der Versuch, globale Bildungsbiographien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren Universitäre Angebote für Geflüchtete und Migrierte A NDREA H ERTLEIN & R UDOLF L EIPRECHT
Abstract: Geflüchtete und Migrierte mit (begonnener) akademischer Bildungsbiographie werden zum einen von den wissenschaftlichen Fachdisziplinen in aller Regel nicht als Teil der jeweils eigenen scientific community wahrgenommen, zum anderen sind sie beim Versuch, ihre akademische Bildungsbiographie fortzusetzen, mit vielfachen, oft unüberwindbar erscheinenden Hürden und formalen und informellen Verhältnissen von Nicht-Anerkennung konfrontiert. Ausgehend von dieser Beobachtung wurde in den frühen 2000er Jahren im disziplinären Kontext von Pädagogik/Sozialpädagogik an der Universität Oldenburg der Versuch unternommen, mit Hilfe eines zweistufigen Programms zur migrationsgesellschaftlichen Öffnung der Universität beizutragen. Es wurde eine universitäre Weiterbildung in Form eines Kontaktstudiums eingerichtet, ergänzt um einen – durch besondere Anerkennungsregelungen faktisch auf zwei Jahre verkürzten – Bachelorstudiengang im Fach Pädagogik. Der Beitrag stellt aus einer institutionellen Innenperspektive die konzeptionelle Entwicklung dieses Versuchs sowie einige konkrete Erfahrungen vor und diskutiert sie. Der Bedarf und die Sinnhaftigkeit eines solchen Angebotes wird herausgearbeitet, und es wird deutlich, dass die bundesweite Einmaligkeit dieses Angebots auch auf einen eklatanten Missstand in der akademischen Ausbildung in Deutschland verweist. Zudem wird gezeigt, dass solche Angebote mit Widersprüchen und Gegenkräften zu tun bekommen. Es wird u.a. über Auseinandersetzungen zur Fremdsprache Deutsch berichtet, ferner über problematische Standardisierungsprozesse bei der formalen Prüfung des Zugangs zum Studium und diverse Erfahrungen von Studierenden mit Othering und Rassismus.
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Keywords: Bildung, Migration, Flucht, Hochschule/Universität, Studium/Studiengang, Non-traditional students, Bildungsbiographien/Biographie, Sprache/ Deutsch, Anerkennung, Differenzverhältnisse, Diskriminierung, Rassismus, Pädagogik, Hochschulzugang, Migrationsgesellschaft, Weiterbildung, Kontaktstudium
E INLEITUNG 1 Es gibt viele Geflüchtete und Migrierte, die auf eine akademische Bildungsbiographie, die sie in ihren Herkunftsländern begonnen oder abgeschlossen haben, zurückblicken und in den jeweiligen Aufnahmeländern – also z.B. in Deutschland – nach geeigneten Angeboten suchen, um sie fortzusetzen.2 Häufig sind sie allerdings damit konfrontiert, dass ihre erworbenen Hochschulabschlüsse nicht oder nicht ohne Zusatzbedingungen oder Zusatzqualifikationen anerkannt werden. Neben dieser eher formalen Nicht-Anerkennung wirken familiäre Belastungen, finanzielle Hürden, sprachliche Barrieren und unüberschaubare Lebenssituationen als Gründe, die eine Fortsetzung der akademischen Bildungsbiographie erschweren (vgl. Stifterverband 2017, S. 22f.). Zudem ist es in vielen Disziplinen und Professionen oft keine leichte Aufgabe, die bereits erworbenen Wissensbestände und Kompetenzen in den neuen Handlungsfeldern nutzbar zu machen und zu erweitern, zumal komparative Möglichkeiten und Kompetenzen, die sich durch Herkunftssprachen und internationale Netzwerke ergeben, eher selten als Ressourcen gesehen werden. Insgesamt stehen einem ›direkten‹ Übergang allzu oft formale und informelle Nicht-Anerkennungsverhältnisse entgegen. Naheliegenderweise
1
Der vorliegende Text erscheint in einer sehr ähnlichen Fassung ebenfalls in einem anderen Sammelband (vgl. Kulaçatan/Behr 2019). Zudem haben wir an einigen wenigen Stellen Passagen aus eigenen Arbeiten, die teilweise bereits publiziert wurden, ohne besondere Kennzeichnung eingefügt und überarbeitet (vgl. Leiprecht 2019a, Leiprecht 2019b, Hertlein 2019). Dies ist vor allem bei den Abschnitten Einleitung, 1. Zur Genese der Angebote und 7. Rassismus/Besonderung der Fall.
2
Nach Ergebnissen der sogenannten IAB-BAMF-SOEP-Untersuchung, die 2016 startete und in deren Rahmen mit repräsentativem Anspruch ein breiter Querschnitt von Geflüchteten im Alter ab 18 Jahren regelmäßig befragt wird, gaben in den ersten Befragungsrunden 18 Prozent an, bereits im Herkunftsland eine Hochschule besucht zu haben, wobei 12 Prozent einen Abschluss erwarben (vgl. Brückner 2017, S. 27ff.; für eine ausführliche Zusammenfassung der aktuellen Daten vgl. Drewes 2018).
Globale Bildungsbiographien
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möchten viele trotzdem ihre akademische Bildungsbiographie fortsetzen,3 benötigen dazu aber Angebote, die mehr oder weniger passgenaue Anschlüsse ermöglichen. Nun ist es leider in Deutschland, aber (nach unserem Wissensstand) auch in der gesamten EU immer noch ungewöhnlich, dass sich Fachdisziplinen an Hochschulen in der Verantwortung sehen, Bildungs- und Studienangebote zu entwickeln, die hier ansetzen. In den verschiedenen Fachdisziplinen wird zwar häufig die Förderung des akademischen Nachwuchses thematisiert und mit Maßnahmen unterlegt, Geflüchtete und Migrierte mit (begonnener) akademischer Bildungsbiographie geraten jedoch kaum als Teil der jeweils eigenen scientific community in den Blick. Verbreitet sind Programme, die hochschulweit eine Art Studium generale oder – seit 2015 – ein allgemeines Orientierungsjahr anbieten. Es fehlen jedoch spezifische Angebote, die direkt mit fachlichen Themen und Inhalten verbunden sind, einen Abschluss in dem entsprechenden Studienfach ermöglichen und von dieser Fachdisziplin ausgehen. Auch an einzelne Fächer gekoppelte akademische Weiterbildungsangebote für Geflüchtete, die von Vertreter*innen einer Fachdisziplin initiiert und verantwortet werden, sind sehr selten. Das Institut für Pädagogik und das Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC)4 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg haben hier im fachlichen Bereich der Erziehungswissenschaften/Pädagogik ein zweistufiges Programm entwickelt. In einer ersten Stufe geht es dabei um eine universitäre Weiterbildung, die neun bis zehn Monate umfasst. Sie existiert seit 2004. Heute lautet ihr Titel Pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft.5 Teilnehmer*innen sind Geflüchtete und Migrierte, die in ihren Herkunftsländern bereits eine Ausbildung abgeschlossen und/oder ein akademisches Studium absolviert oder begonnen haben und teilweise bereits in sozialen bzw. pädagogischen Arbeitsfeldern tätig waren (vgl. Walther 2019, S. 16). In einer zweiten Stufe wurde im Wintersemester 2006/07 darauf aufbauend ein Bachelorstudiengang eingerichtet, der heute den Namen Pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft (PHM) trägt und nicht (wie meist üblich) drei Jahre umfasst; da u.a. die Leistungen
3
Die Schätzungen zu den Geflüchteten, die in den nächsten Jahren ein Hochschulstudium aufnehmen werden, gehen von bis zu 100.000 Personen aus (vgl. Stifterverband 2017, S. 22f.).
4
Beziehungsweise bis 2012 ihre Vorgängerorganisation Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM).
5
Die Weiterbildung wird in der laufenden Förderperiode bis Ende Juni 2020 u.a. aus Mitteln der EU, des Landes Niedersachsen (Sozialministerium) und der Stadt Frankfurt am Main finanziert.
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aus der Weiterbildung anerkannt werden,6 sind für den Studienverlauf zwei Jahre vorgesehen (vgl. Hertlein 2019, S. 60). Zunächst noch als Projekt gestaltet und finanziert, ist er seit dem Wintersemester 2017/18 ein fester und auf Langfristigkeit und Regelmäßigkeit angelegter Bestandteil des Studienangebotes an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Als solcher hat er auch ein Akkreditierungsverfahren erfolgreich durchlaufen. Fachlich-inhaltlich sind Weiterbildung und Studiengang auf (sozial-)pädagogische Fachdiskurse ausgerichtet und an entsprechenden Handlungsfeldern orientiert. Ziel unserer Angebote ist u.a. eine migrationsgesellschaftliche Öffnung der Universität. Geflüchtete und Migrierte mit entsprechender Vorbildung sollen stärker als bisher Anschluss an und Zugang zu akademischer Bildung in Deutschland haben, und es sollen weniger Ausschlüsse produziert werden. Zudem sollen internationale Erfahrungen, Migrationserfahrungen, komparative Perspektiven und Fremdsprachenkenntnisse in besonderer Weise als wertvolle Ressourcen gesehen werden. Insgesamt soll ein Mehr an gesellschaftlicher Diversität Eingang finden in die Lehrveranstaltungen, Sprechstunden, Gremiensitzungen, Einrichtungen, Praxis- und Forschungsprojekte der Universität. Es gibt also viele, viele ›Solls‹, und wir haben den Eindruck, dass wir auf dem Weg bereits ein gutes Stück weit gekommen sind, das Ziel jedoch noch lange nicht erreicht haben. Wir haben zweifellos Erfolge und arbeiten kontinuierlich an Verbesserungen, gleichzeitig kämpfen wir7 aber auf verschiedenen Ebenen mit immer neuen Hindernissen. Es ist leider so, wie der Titel des Films (Leiprecht/Willems 2017), den wir zum zweistufigen Angebot produziert haben, ankündigt: »Aber kämpfen musst Du schon!« Dies gilt zwar insbesondere für diejenigen, die sich als Bewerber*innen für unsere Angebote interessieren oder diese besuchen, aber eben auch für uns als Verantwortliche in Wissenschaft, Lehre und Entwicklung. Im Folgenden wollen wir über diese Auseinandersetzungen und ihre Geschichte und Gründe berichten und die Entwicklungen analysieren, zugleich aber das Erreichte und seine Vorzüge darstellen. Dabei ist unser Beitrag so aufgebaut, dass zunächst die Bildungsangebote, und dabei vor allem der BA PHM, beschrieben und eher die aus unserer Perspektive innovativen und bedeutsamen Gesichtspunkte hervorgehoben werden (mit den Abschnitten 1. Zur Genese der Angebote an der Universität Oldenburg, 2. Struktur und Aufbau des Bachelorstudiengangs PHM, 3. Zu den Studierenden und 4. Zugang und Zulassung). Erst danach werden
6
Zu den Zugangsvoraussetzungen siehe unten, 4. Zugang und Zulassung.
7
Andrea Hertlein ist seit 2009 Dozentin und Rudolf Leiprecht seit 2001 Hochschullehrer am Institut für Pädagogik. Beide sind mit Koordinierungs-, Entwicklungs-, Beratungsund Lehraufgaben im Kontext der hier beschriebenen Angebote befasst.
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problematische Prozesse dargestellt und untersucht (mit den Abschnitten 5. Servicestelle uni-assist e.V., 6. Die deutsche Sprache und 7. Rassismus/Besonderung), wobei auch deutlich werden wird, wodurch die Fortführung der Angebote gefährdet ist.
1. Z UR G ENESE DER A NGEBOTE AN DER U NIVERSITÄT O LDENBURG Die deutsche Green Card8 wurde im August 2000 eingeführt. Sie sollte eine Option sein, ausländische Expert*innen aus sog. ›Drittstaaten‹ – d.h. Nicht-EU-Bürger*innen9 – nach Deutschland zu holen, um den Mangel an IT-Fachkräften auszugleichen (vgl. Hertlein 2019, S. 56). Allerdings berücksichtigte diese Perspektive auf ausländische Spezialist*innen nicht die bereits in Deutschland lebenden Migrant*innen und deren akademische Qualifikationen. Die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung unseres Oldenburger Kollegen Anwar Hadeed in den Jahren 2002/2003 zur beruflichen Situation hochqualifizierter Migrant*innen in Niedersachsen verdeutlichten die paradoxe Situation: Trotz akademischer Vorbildung und teilweise langjähriger akademischer Berufspraxis, beides in Deutschland nicht anerkannt, übte ein Großteil der Befragten Tätigkeiten in angelernten, schlecht bezahlten und nicht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen aus. 10 Zudem wurden sie von den arbeitsmarktpolitischen und arbeitsmarktrechtlichen Akteur*innen der relevanten Institutionen nicht wahrgenommen (vgl. Hadeed 2004). Auf Grundlage der Ergebnisse dieser Studie wurde zunächst die universitäre Weiterbildung Kontaktstudium konzipiert und eingeführt. Die anschließende erste Evaluation dieser Weiterbildung und Gespräche innerhalb der Universität führten dann zu der Idee, zusätzlich einen Studiengang zu entwickeln, um u.a. den Absolvent*innen durch ein Studium die Möglichkeit zu eröffnen, ihre unterbrochenen Bildungs- und Arbeitsbiographien wieder aufzunehmen und einen akademischen
8
Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IT-ArGV). Vom 1. August 2000 bis zum 31. Dezember 2004 wurden 13.041 Arbeitsgenehmigungen erteilt (BAMF 2005, S. 82).
9
Nicht-EU-Länder wie die Schweiz, Norwegen, Liechtenstein oder Kanada und die USA werden allerdings nicht dieser ›Drittstaaten‹-Kategorie zugeordnet.
10 Auffällig waren die vorwiegend prekären Vertragsverhältnisse, nicht selten in Teilzeit und meist ohne Aussicht auf berufliche Aufstiege oder eine Verfestigung der Arbeitsverhältnisse.
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Abschluss zu realisieren, der eine professionell-qualifizierte Berufstätigkeit ermöglicht. Angeknüpft werden sollte dabei auch an die Erfahrungen, die die Absolvent*innen der Weiterbildung Kontaktstudium in Deutschland gemacht hatten. Nicht wenige waren im Verlauf ihrer Migration mit sozialpädagogischen Handlungsfeldern in Kontakt gekommen und hatten bereits in diesem Feld gearbeitet, allerdings – ähnlich wie in der erwähnten Studie von Hadeed (2004) dargestellt – auf Basis einer ehrenamtlichen Tätigkeit und/oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Vor dem Hintergrund des Erfolgs der Weiterbildung Kontaktstudium, der Erkenntnisse der erwähnten Studie, der anhaltenden Nachfrage von Studieninteressierten und des Wissens um die beruflichen Situationen der potenziellen Bewerber*innen startete vor 13 Jahren an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg erstmals ein verkürzter pädagogischer Bachelorstudiengang mit 24 Studierenden. Bis heute haben ca. 100 Studierende den Bachelorstudiengang abgeschlossen. Im Moment sind weitere 30 Studierende im Studiengang eingeschrieben. Die Abbruchquote beträgt lediglich elf Prozent.11 Nur ein (allerdings größer werdender12) Teil der Absolvent*innen der Weiterbildung Kontaktstudium beginnt anschließend ein Studium, die allermeisten davon im BA PHM. Seit Einführung des Studienganges bzw. seines auf Projektbasis angebotenen Vorläufermodells haben 21 Prozent der Absolvent*innen der Weiterbildung ein Studium im BA PHM aufgenommen. Ziel des Studiengangs war und ist zum einen die Qualifizierung der adressierten Studierendengruppe; zum anderen sollte und soll jedoch »über die Reflexion und Analyse des Studiengangs auch ein allgemeiner Beitrag zur Frage geleistet werden, wie Universität sich vermehrt gegenüber bisher institutionell eher vernachlässigten Bildungsaspirationen und Bildungswünschen öffnen kann« (Hertlein 2019, S. 58).
11 Dies ist ein sehr günstiger Wert. Im Vergleich dazu lag 2016 in Deutschland die Abbruchquote im Durchschnitt der Bachelorstudiengänge aller Fächer bei 28 Prozent, wobei in der Gruppe der sog. ›Bildungsausländer*innen‹ sogar 45 Prozent ihr Bachelorstudium abgebrochen haben (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht 2018, S. 163 und Tab F4-4). 12 Der Anteil der Studierenden im BA PHM mit der Vorqualifikation Weiterbildung Kontaktstudium stieg in den letzten Durchgängen von 14 auf 44 Prozent und lag im Wintersemester 2018/19 bei 62 Prozent.
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2. S TRUKTUR UND A UFBAU DES B ACHELORSTUDIENGANGS PHM Das Lehrangebot ist als Vollzeitstudium konzipiert, wobei auch ein Teilzeitstudium möglich ist. Der Gesamtumfang beträgt 180 Kreditpunkte (KP). Da der Studiengang Personen adressiert, die im Ausland eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben und zudem eine akademische Bildungsbiographie in Bereichen aufweisen, die der Pädagogik/Sozialpädagogik verwandt sind, wurde eine besondere Anerkennungspraxis als Regelvorgang im Studiengang verankert. Dadurch bekommt der Studiengang eine spezifische ›äußere‹ Form: Das Basiscurriculum (60 KP) wird im Zulassungsverfahren durch den Nachweis entsprechender Vorleistungen der Bewerber*innen anerkannt und angerechnet. Diese Vorleistungen, die im Herkunftsland oder aber auch durch den erfolgreichen Besuch der Weiterbildung Kontaktstudium erworben wurden, setzen sich zusammen aus dem Bereich des pädagogischen Fachstudiums (36 KP)13 und werden ergänzt um weitere Leistungspunkte (24 KP), die vergleichbar mit den Inhalten und Themen des allgemeinen Professionalisierungsbereichs an der Carl von Ossietzky Universität sein müssen.14 Durch diese Anerkennungspraxis beginnt das Studium mit dem dritten Fachsemester, wodurch ein faktisch zweijähriger Bachelorstudiengang entsteht.
13 Bei der Entwicklung der Module der Weiterbildung Kontaktstudium wurde deshalb darauf geachtet, dass sie auch den Modulen des Basiscurriculums des Bachelorstudiengangs Pädagogik an der Carl von Ossietzky Universität entsprechen. 14 Dieser universitätsweite Professionalisierungsbereich umfasst z.B. Angebote aus Anglistik, Biologie, BWL, Chemie, Germanistik, Informatik, Journalistik, Jura, Kunst, Mathematik, Musik, Philosophie, Religion, aber auch Angebote zu Projektmanagement, Forschungsmethoden, Statistik und zum Erlernen von Fremdsprachen, um nur eine Auswahl von über 500 Angeboten zu nennen.
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Abbildung 1: Studienverlaufsplan
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Inhaltlich-thematisch orientiert sich das Modulangebot des Studiengangs u.a. an den Vorgaben der Sektion Interkulturelle und international vergleichende Erziehungswissenschaft in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Vermittelt werden in den Modulen »Grundlagen über historische, politische, rechtliche und administrative Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland, die im Migrationskontext und zum Aufbau migrationsgesellschaftlicher Handlungskompetenz in pädagogischen Berufsfeldern von besonderer Relevanz sind. Zentrale Elemente aus den erziehungs-, sozial- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen werden im Hinblick auf migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse aufgegriffen und vertieft« (Hertlein/Leiprecht/Mecheril 2017, S. 13).
Dabei geht es auch um eine Auseinandersetzung mit Differenzdimensionen (und ihren Verschränkungen und Überlagerungen) wie Geschlecht/Sexualität, Ethnie/Nation/Kultur/›Rasse‹, soziale Klasse/Schicht, besondere Befähigung/special needs und Alter/Generation, wobei jeweils die Frage nach der Bedeutung in pädagogischen Handlungsfeldern und für eine professionell-pädagogische Praxis im Vordergrund steht. Die Studienschwerpunkte Sozialpädagogik und Migrationspädagogik werden zudem so kombiniert, dass eine handlungswissenschaftliche, auf berufliche Praxisfelder Sozialer Arbeit bezogene Ausrichtung möglich wird. Begleitet werden die Angebote von einem Modulstrang, der sich über alle vier Semester zieht und sich mit der Wissenschaftssprache Deutsch und ihrer Aneignung befasst. Insgesamt sind die Module so aufgeteilt, dass die eine Hälfte für die Studierendenkohorte des Bachelorstudiengangs Pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft reserviert ist (in der Abbildung 1 weiß unterlegt), während die andere Hälfte im Bachelorstudiengang Pädagogik angeboten und für alle BA-Studierenden des Faches geöffnet ist (in der Abbildung 1 grau und dunkelgrau unterlegt). Es war uns wichtig, zum einen spezifische Veranstaltungsformate anzubieten, in denen die Studierendenkohorte in einer Art ›geschütztem Raum‹ reflektiert, diskutiert und lernt, zum anderen sollten aber Veranstaltungen gemeinsam mit den Studierenden des Bachelorstudiengangs Pädagogik besucht werden, um Isolation und Abschottung entgegenzuwirken sowie selbstverständliche Kommunikationsund Interaktionsanlässe und Reflexionsmöglichkeiten nahezulegen. Es ist ein großer Vorteil, wenn nicht so sehr übereinander, sondern miteinander gesprochen wird, und zwar als Gleichwertige innerhalb eines gemeinsamen Faches (vgl. Leiprecht 2019, S. 357).
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3. Z U DEN S TUDIERENDEN 3.1
›Non-traditional students‹
In den Unterlagen zur Akkreditierung des BA PHM haben wir die Gruppe der zu adressierenden Studierenden als ›non-traditional students‹ bezeichnet: »Sie sind auf Grund von transnationalen Migrations- und Fluchterfahrungen sowie Familiengründungen, Erfordernissen des Geldverdienstes etc. in der Regel älter als durchschnittliche Studierende an Universitäten in Deutschland und verfügen auf Grund ihrer beruflichen (und teilweise familiären) Eingebundenheit über spezifische Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Darüber hinaus haben sie als transnationale Migrant*innen linguale Dispositionen und akademische sowie lebensweltliche Wissensressourcen, die nicht immer ohne weiteres in den Lehr-Lern- und sozialen Verhältnissen deutscher Universitäten anerkannt werden.« (Hertlein/Leiprecht/Mecheril 2017, S. 1)
Damit haben wir nicht nur auf einige besondere Merkmale dieser Studierendengruppe aufmerksam gemacht, sondern zugleich – wenn auch in einer eher ›sanften‹ Form – auf die Praxis der Nicht-Anerkennung hingewiesen. Es ist deutlich, dass es hier um eine Studierendengruppe geht, die von den Hochschulen bislang nicht oder kaum wahrgenommen wurde. Die Studierenden des BA PHM können also insofern als ›nicht-traditionell‹ bezeichnet werden, als die Hochschulen sie bislang eher ignorieren und in ihren traditionellen Angeboten, Zugangsordnungen und Strukturen von einem Studierenden-Typus ausgehen, der sich hinsichtlich Biographie, Lebenslage, Lebensalter etc. in aller Regel deutlich von ihnen unterscheidet. Allerdings wird die Bezeichnung ›nicht-traditionelle‹ Studierende aus nachvollziehbaren Gründen auch kritisiert. So machen beispielsweise Fanny Isensee und Andrä Wolter in ihrer international vergleichenden Untersuchung darauf aufmerksam, dass »gelegentlich […] jede Abweichung vom ›Normalstudierenden‹ oder der studentischen ›Normalbiographie‹ zum Merkmal von ›nicht-traditionell‹ wird – in der Spannweite von First-Generation-Students, internationalen Studierenden, Studierenden mit Migrationshintergrund, Studierenden mit Behinderung/gesundheitlicher Beeinträchtigung, Teilzeit- und Fernstudierenden oder Studierenden mit beruflicher Qualifikation« (Isensee/Wolter 2017, S. 14).
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Zudem führt diese weite Begriffsfassung nach Isensee und Wolter »zu einer statistischen Überschätzung des Grades an struktureller Offenheit im deutschen Hochschulsystem, weil kumuliert mehr als die Hälfte aller Studierenden in eine dieser Kategorien fällt, aber fast jede einzelne dieser Gruppen (mit Ausnahme der international Studierenden) stark unterrepräsentiert ist. Auch die Förderinstrumente – finanziell oder studienorganisatorisch – unterscheiden sich zwischen den Gruppen erheblich« (ebd.).
Es ist deutlich, dass die Bezeichnung ›nicht-traditionell‹ für geflüchtete und migrierte Studierende mit einer akademischen Biographie und beruflichen Ausbildung nicht umfassend greift. Trotzdem handelt es sich um eine Studierendengruppe, deren Bedarfe aufgrund ihrer Migrationsgeschichte und ihres Aufenthaltsstatus, ihrer beruflichen Aspirationen und Bildungsbiografien, ihrer Lebenslagen sowie der Erfahrungen von Nicht-Anerkennung in Deutschland sich signifikant sowohl von einem traditionellen Studierenden-Typus als auch von den definierten ›nicht-traditionellen‹ Studierenden unterscheidet. 3.2
›International Studierende‹
In den administrativen Bereichen von Hochschulen werden Bewerber*innen und Studierende, die denen des BA PHM ähneln, in aller Regel der letztgenannten Kategorie, den sog. ›international Studierenden‹, zugeordnet. Dies ist auch an unserer Universität der Fall. Der Hinweis auf ›international‹ passt zu den Internationalisierungsbemühungen an vielen Hochschulen und suggeriert Modernität, Vernetzung, Weltgewandtheit und vor allem Mobilität, obwohl diese positiven Konnotationen eine negative Rückseite haben, wenn es um die mit Internationalität meist nicht gemeinte und oft eher zurückgewiesene Mobilität von Menschen aus Armuts- und Krisenregionen geht (vgl. Lutz 2009, S. 8ff.). Die Zuordnung selbst folgt der Logik des Erwerbs der Hochschulzulassung (HZB) aus dem jeweiligen Herkunftsland. Dieses Kriterium beeinflusst viele Aspekte des weiteren Verfahrens, von der Bewerbung über die Immatrikulation bis hin zu den universitären Angeboten während des Studiums. So werden Studienbewerber*innen z.B. wichtige Informationen, vor allem Entscheidungen wie die Zulassung ausschließlich online zugestellt, da die (irrtümliche) Annahme vorliegt, dass sie sich noch im Ausland aufhalten und über keine bundesdeutsche Postadresse verfügen. Auch bekommen sie mit der Immatrikulation oft Einladungen sowie Informationen, die explizit für Studierende ausgelegt sind, die tatsächlich erst zum Studienbeginn nach Deutschland einreisen und sich orientieren wollen. Studierende des BA PHM
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unterscheiden sich von den herkömmlich ›international Studierenden‹ im Durchschnitt aber deutlich in Bezug auf Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnisse, Studienmotivation, Studienerwartungen und Studienwirklichkeit, Lebensalter, Familienstatus (nicht selten mit Kindern), Lebensverhältnisse und Berufserfahrungen. 3.3
Statistische Daten zu Studierenden im Vergleich
Allerdings handelt es sich weder bei den ›international Studierenden‹ noch bei den Studierenden des BA PHM um eine homogene Gruppe, und beide Begriffe – ›nicht-traditionelle‹ Studierende und ›international‹ Studierende – haben deutliche Schwächen. Trotzdem lohnt es sich, die durchschnittlichen Unterschiede einiger ›Teilgruppen‹ aus dem BA PHM (von 2006 bis heute) mit ›international Studierenden‹ zu vergleichen; stets wird eine spezifische Unterschiedlichkeit deutlich, wobei diese dann jeweils umso stärker auch im Verhältnis zum Durchschnitt der Studierenden gilt, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben. 34 Prozent der Studierenden des BA PHM haben Fluchterfahrungen. Dabei ist der Anteil von elf Prozent im Jahr 2006 auf 67 Prozent im Jahr 2017/18 gestiegen. Aktuell liegt der Anteil bei 62 Prozent. Die Entscheidung von Geflüchteten, das eigene Land zu verlassen, erfolgt auf anderer, meist besonders dringlicher und bedrohlicher Grundlage, wobei das ›Zielland‹ mit der entsprechenden Sprache oft noch nicht bekannt ist; und wenn in Bezug auf ein ganz bestimmtes ›Zielland‹ konkrete Hoffnungen und Erwartungen bereits vorliegen, haben die Geflüchteten nur selten eine Möglichkeit, die geforderte Studiensprache schon im Herkunftsland zu erlernen, auch deshalb, weil die jeweiligen Herkunftsländer von Krieg, Bürgerkrieg, politischer/religiöser Verfolgung und/oder Zerstörung von Infrastruktur gezeichnet sind. Häufig handelt es sich bei den Studierenden des BA PHM aber auch um Migrierte, die nicht im Kontext von Flucht und Verfolgung nach Deutschland gekommen sind. Einige leben seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland und haben die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten. Andere bekamen diese sehr schnell zugesprochen, weil sie als Aussiedler*innen anerkannt worden sind. Die Studierenden des BA PHM seit 2006, sind deutlich älter (83 Prozent sind zwischen 31 und 50 Jahre alt) als der Durchschnitt15 sowohl der ›international
15 Gemäß den Ergebnissen der Studieneingangsbefragung BA 2018/19 an der Universität Oldenburg geben 92 Prozent der Studierenden ein Alter von unter 18 bis 26 Jahren an; am Institut für Pädagogik beträgt dieser Anteil 79 Prozent (vgl. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg).
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Studierenden‹ als auch der Studierenden (ohne und mit sog. ›Migrationshintergrund‹), die in Deutschland ihre Hochschulzugangsberechtigung erworben haben; sie haben nicht selten bereits eine eigene Familie gegründet und sind Mütter und Väter geworden, die sich um ihre Kinder sorgen. Es handelt sich also oft um Personen, die in einem anderen ›Abschnitt‹ ihres Lebens stehen (vgl. Hertlein 2019, S. 61). Vergleichen wir einige statistische Merkmale der Studierenden des BA PHM mit Statistiken zu sog. ›Bildungsausländer*innen‹16, die zum großen Teil in Deutschland auch ›internationale Studierende‹ sind (vgl. Bildungsbericht 2018, S. 342), zeigen sich weitere interessante Unterschiede: Im Gegensatz zu zwei Dritteln der ›Bildungsausländer*innen‹, die aus Ländern mit hohem bzw. gehobenem Pro-Kopf-Einkommen zum Studium nach Deutschland kommen, ist etwas mehr als die Hälfte der Studierenden des BA PHM aus Drittstaaten migriert, die ein mittleres bzw. geringes Pro-Kopf-Einkommen aufweisen (vgl. Apolinarski/ Brandt 2018, S. 6). Zudem korreliert die Anerkennung der Hochschulzugangsberechtigung in bestimmter Weise mit der Herkunftsregion und dem Pro-Kopf-Einkommen. So weisen ›Bildungsausländer*innen‹ aus Osteuropa mit 66 Prozent (im BA PHM 27,5 Prozent) und Ostasien mit 63 Prozent die geringste Zufriedenheit mit der Anerkennung der universitären Vorbildung auf, während ›Bildungsausländer*innen‹ aus West-Europa (74 Prozent) den höchsten Zufriedenheitsgrad zeigen (vgl. ebd., S. 20). Lediglich zweieinhalb Prozent der Bewerber*innen des BA PHM kommen aus West-Europa. Im Vergleich zu Studienbewerber*innen aus Europa müssen Studienbewerber*innen aus Afrika (im BA PHM 25 Prozent), Lateinamerika (im BA PHM 10 Prozent) und Asien (im BA PHM 35 Prozent) deutlich häufiger eine Feststellungsprüfung17 absolvieren. Mehr als zwei Drittel der
16 Sog. ›Bildungsausländer*innen‹ sind ausländische Studierende, die zum Zwecke des Studiums nach Deutschland gekommen sind; sog. ›Bildungsinländer*innen‹ sind Studierende »mit einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland oder an einer deutschen Schule im Ausland erworben haben« (Meinhardt/Zittlau 2009, S. 45f.). Zu dieser letzten Gruppe können ebenfalls Studierende gehören, die Ausländer*innen sind, eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen oder eingebürgert sind. 17 Das Bestehen der Feststellungsprüfung berechtigt ausländische Studienbewerber*innen, deren Schulabschlusszeugnisse nicht als gleichwertig mit dem deutschen Abitur angesehen werden, zu einem Studium an einer deutschen Universität oder Hochschule. Meist wird, um die Feststellungsprüfung erfolgreich zu bestehen, zuvor ein einjähriges Studienkolleg besucht (vgl. Leibniz Universität Hannover, Niedersächsisches Studienkolleg). Dazu ausführlicher unten, 4.3 Numerus clausus.
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›Bildungsausländer*innen‹ kommen aus Ländern, für die die Lissabon-Konvention18 zur gegenseitigen Anerkennung von Studienabschlüssen und -leistungen keine Geltung hat (vgl. ebd., S. 18). Von den vierzig Herkunftsstaaten, aus denen die Studierenden des BA PHM kommen, zählen ebenfalls 62,5 Prozent zu diesen Ländern. Alle Studierenden des BA PHM eint, dass sie in (sozial-)pädagogischen Arbeitsbereichen bereits tätig waren und/oder dies anstreben und sich mit dem Studium in diesem Bereich weiter qualifizieren wollen. Ihr Interesse an der Aufnahme eines Pädagogikstudiums unterscheidet sie von ›international Studierenden‹, da »vor allem Studierende aus einkommensschwachen Ländern anteilig häufiger ingenieurwissenschaftliche (42 Prozent) sowie mathematische bzw. naturwissenschaftliche Fächer (26 Prozent)« belegen (ebd., S. 25). Von den Studierenden, die an ihre akademischen Studienleistungen und -abschlüsse aus den Herkunftsländern anschließen, aber ihre bisherige Fachdisziplin wechseln, beginnt ein Teil das Pädagogikstudium aus den folgenden Gründen: • Sie weisen Studienleistungen und -abschlüsse vor, die nicht Pädagogik/Erzie-
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hungswissenschaften umfassen, sind aber in Deutschland (teilweise jahrelang) Tätigkeiten in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern nachgegangen. Sie haben für das Fach des bereits begonnenen Studiums im Herkunftsland ein Studierendenvisum oder einen Studienplatz in einem Studienfach ohne Numerus clausus erhalten, jedoch Interesse am Fach Pädagogik. Sie haben im Herkunftsland Pädagogik/Erziehungswissenschaften/Soziale Arbeit o.Ä. studieren wollen, konnten diesen Studienwunsch aber aufgrund fehlender Angebote nicht realisieren und haben ein fachfremdes Studium aufgenommen. Sie können mit dem von der KMK anerkannten akademischen Abschluss in Deutschland keine Berufstätigkeit ausüben. Sie erhalten keine Anerkennung ihrer akademischen Abschlüsse aus dem Herkunftsland für den Zugang zu reglementierten Berufen (z.B. Lehrer*innen, Erzieher*innen).
18 Die Lissabon-Erklärung basiert auf dem Gesetz zum Übereinkommen vom 11. April 1997 zur wechselseitigen Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich. Zusätzlich zu den Mitgliedsländern der EU haben aktuell 54 Länder die Erklärung ratifiziert, u.a. die Länder des Europarats, aber auch Australien, Kanada, Israel und die USA (vgl. Europarat 2019). Länder wie z.B. Afghanistan, Irak, Iran, Kolumbien, Kongo, Nigeria, Marokko, Syrien oder Venezuela gehören nicht dazu.
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• Sie haben ein Bildungssystem durchlaufen, welches es z.B. nach einem natur-
wissenschaftlichen Abitur nicht ermöglicht, die Fachrichtung zu wechseln und ein erziehungswissenschaftliches Studium aufzunehmen. • Sie haben die Erfahrung gemacht, dass das Studium der Pädagogik/Erziehungswissenschaften/Soziale Arbeit gesellschaftlich nicht hoch angesehen ist und/oder kaum angemessene Positionen auf dem Arbeitsmarkt des Herkunftslandes verspricht. • Sie haben dem Studienwunsch der Eltern entsprochen und deshalb im Herkunftsland nicht Pädagogik/Erziehungswissenschaften/Soziale Arbeit gewählt.
4. Z UGANG UND Z ULASSUNG Wir haben versucht, im Kontext der rechtlichen Möglichkeiten eine Zugangs- und Zulassungsordnung zu schaffen, die es den adressierten Studienbewerber*innen ermöglicht, ihre Bildungs- und Berufsbiographien weiter zu entwickeln und dabei einen in Deutschland anerkannten Universitätsabschluss zu erwerben, der ihnen auch eine günstigere Positionierung auf dem Arbeitsmarkt bietet. Unsere Perspektive bei der Entwicklung der Zugangs- und Zulassungsordnung wurde von dem Bestreben getragen, einerseits ressourcenorientierte Anerkennungsmarker zu installieren und andererseits eine angemessene und realisierbare Studienqualität anzustreben. Gleichzeitig mussten wir mit der Zugangs- und Zulassungsordnung sicherstellen, dass diejenigen Bewerber*innen Zugang zum Studiengang bekommen, für die er konstruiert und eingerichtet wurde. Letzteres haben wir u.a. dadurch erreicht, dass die Zugangs- und Zulassungsordnung von den Bewerber*innen fremdsprachliche Kenntnisse in einer Sprache verlangt, die hinsichtlich aktueller Migrationsprozesse relevant ist (also z.B. Arabisch, Kurdisch, Persisch, Albanisch, Russisch, Türkisch). Diese Kenntnisse müssen mindestens auf dem Niveau C2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens liegen, das einem sog. ›muttersprachlichen‹ Niveau recht nahe kommt. Damit werden multilinguale Sprachkompetenzen anerkannt. Als Nachweis genügt eine Hochschulzugangsberechtigung oder ein abgeschlossenes Studium im Herkunftsland der jeweiligen Landessprache. In zwei Modulen des BA PHM wird auf diese (aus deutscher Perspektive) fremdsprachlichen Kenntnisse in besonderer Weise zurückgegriffen: Sie sind notwendig, um dort internationale Vergleiche (von Bildungs- und Sozialsystemen und von Bildungs- und Sozialpolitik) durchführen zu können. Zudem sind diese fremdsprachlichen Kenntnisse auch für das berufliche Handlungsfeld in einer Migrationsgesellschaft, die zumindest im Alltag vieler Menschen auch ›multilingual‹ ist, überaus wertvoll und wichtig.
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Im Folgenden werden wir einige weitere Merkmale zentraler Zugangsregelungen vorstellen und diskutieren, die den Studiengang für die adressierten Bewerber*innen in besonderer Weise attraktiv machen: a) Die erleichterte Möglichkeit des fachlichen Umstiegs von einem nicht-erzie-
hungswissenschaftlichen bzw. nicht-bildungswissenschaftlichen Studium (also z.B. Soziologie, Germanistik, Jura, Journalistik) auf ein Pädagogik-Studium. b) Die Aufwertung einer fachgebundenen zu einer allgemeinen Hochschulreife. c) Die Überwindung der Zugangshürde Numerus clausus, die bei den üblichen BA-Studiengängen in Pädagogik/Erziehungswissenschaften meist vorhanden ist. d) Der Versuch, eine relativ überschaubare Zeitperspektive für weitere Schritte in der eigenen Bildungs- und Berufsbiographie anzubieten. 4.1
Fachlicher Umstieg
Dadurch, dass in der Zugangs- und Zulassungsordnung für den BA PHM neben den nachzuweisenden Studienleistungen, die im engeren Sinne der Pädagogik bzw. den Erziehungswissenschaften oder der Sozialen Arbeit zuzurechnen sind, auch zu 40 Prozent Studienleistungen anerkannt werden, die zu recht verschiedenen Studiengängen passen (s.o., Fußnote 14), ist in Kombination mit der Weiterbildung Kontaktstudium oder einem Gasthörstudium, das sich auf (sozial-)pädagogische Themen/Inhalte konzentriert, ein fachlicher Umstieg möglich. Die Leistungen aus der Weiterbildung bzw. dem Gasthörstudium stellen dann die fehlenden 60 Prozent dar, die aus dem Bereich der Pädagogik bzw. den Erziehungswissenschaften oder der Sozialen Arbeit nachgewiesen werden müssen. Wie wir feststellen können, wird ein solcher fachlicher Umstieg immer wichtiger.19 Studierende, die beispielsweise im Herkunftsland Jura oder Journalistik studiert haben, können nicht in ihren Beruf zurück. Jedoch können sie ihre juristischen oder journalistisch-recherchierenden Fähigkeiten mit den Inhalten/Themen 19 Sukzessiv hat sich der Anteil der Studierenden im BA PHM, die im Herkunftsland bereits ein Studium in den Bereichen Lehramt und Erziehungswissenschaften/Pädagogik/Sozialer Arbeit absolviert haben, im Zeitraum von 2006 bis 2018 von 77 Prozent auf 47 Prozent reduziert. Dementsprechend erhöhte sich die Anzahl der Bewerber*innen, die einen fachlich-disziplinären ›Umstieg‹ wagten und über universitäre Qualifikationen aus Disziplinen wie der Psychologie oder den Sozial-, Sprach-, Politik-, Literatur-, Rechts-, Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften, in Einzelfällen auch der Pharmazie und der Journalistik verfügten.
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des Pädagogikstudiums kombinieren und innerhalb von drei Jahren (ein Jahr Weiterbildung Kontaktstudium und zwei Jahre BA-Studium) einen Bachelorabschluss erreichen. 4.2
Zugang mit fachgebundener Hochschulreife
In Niedersachsen ist es in aller Regel nur mit einer allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung möglich, sich für das Studium an einer Universität zu bewerben. Mit der Zugangs- und Zulassungsordnung zum BA PHM ist es für Studienbewerber*innen, die über eine fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung verfügen, aber die Weiterbildung Kontaktstudium (oder ein vergleichbares Format) erfolgreich absolviert haben, möglich, den Nachweis über die erforderlichen Vorkenntnisse zu führen und sich die Module der Weiterbildung Kontaktstudium für die Bewerbung zum Studiengang anrechnen zu lassen. Damit erfolgt gleichzeitig die Aufwertung von einer fachbezogenen zu einer allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung. 4.3
Numerus clausus
Für die Feststellung einer gültigen Hochschulzugangsberechtigung sind – wie bereits erwähnt (s.o., Fußnote 17) – das Abitur oder ein vergleichbarer Schulabschluss relevant, teilweise in Verbindung mit einer universitären Vorprüfung und/oder einem begonnenen oder erfolgreich absolvierten Studium, je nach Herkunftsland. Diese Feststellung ist ein komplexer Vorgang. Umrechnungen werden notwendig, da es sich in den jeweiligen Ländern um recht unterschiedliche Bildungssysteme mit unterschiedlichen Notensystemen handelt. Selbst wenn Bewerber*innen ein Bachelorstudium oder gar ein Masterstudium bereits abgeschlossen haben, erfolgt (durch uni-assist e.V. oder die jeweilige Hochschule) die Berechnung der Note zur Zulassung in einen BA-Studiengang in Deutschland auf Grundlage des Abiturs (oder vergleichbar). Dies führt bei den Bewerber*innen gelinde gesagt zu Irritationen und kann tatsächlich darin resultieren, dass eine Hochschulzugangsberechtigung – trotz BA- oder MA-Abschluss – nicht bestätigt wird. Dies ist dann der Fall, wenn die Abiturnote nach der Umrechnung (wie beispielsweise
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bei Zeugnissen aus Syrien20) unter 60 oder, je nach Studienwunsch, unter 70 Prozent21 liegt. Auch in Verbindung mit einem oder zwei Studienjahren im Herkunftsland wird dann keine Hochschulzugangsberechtigung bestätigt und somit der Abschluss einem deutschen Realschulabschluss gleichgestellt. Um zu einem Pädagogikstudium zugelassen zu werden, ist in aller Regel ein sehr guter bis guter Notendurchschnitt Voraussetzung. Auffällig ist jedoch, dass nur ein geringer Teil der Bewerber*innen nach der Notenumrechnung eine Note im Bereich 1,0 bis 1,9 ausweist. Mit einer Note der Hochschulzugangsberechtigung oberhalb dieses Bereichs ist eine Bewerbung für einen Studienplatz im Fach Pädagogik gegenwärtig meist aussichtslos. In den Fällen, in denen Bewerber*innen beispielsweise eine zwölfjährige Schulbildung vorweisen, keine Dokumente haben oder die vorhandenen nicht in das Kategoriensystem von uni-assist e.V. passen, wird die Note der Hochschulzugangsberechtigung mit 9,9 angegeben, mit dem Ergebnis, dass eine erfolgreiche Bewerbung für ein Studium in zulassungsbeschränkten Fächern ausgeschlossen ist. In unseren bisherigen Zulassungsverfahren für den BA PHM erhalten bei Vorliegen der weiteren Zugangsvoraussetzungen Bewerber*innen mit diesem ›Umrechnungsergebnis‹ eine Zulassung. Dies liegt zum einen daran, dass (bislang) noch keine Zulassungsbeschränkung festgestellt werden musste, zum anderen gibt es in der Zugangs- und Zulassungsordnung selbst im Falle einer Zulassungsbeschränkung22 neben der Note ein Bonierungssystem, mit dessen Hilfe Punkte für besondere Eignung (etwa Berufserfahrungen oder studiengangsrelevante Auslandserfahrungen) vergeben werden können (vgl. § 4 Auswahlverfahren/Auswahlkriterien der Zugangs-/Zulassungsordnung).
20 Auch bei Sekundarabschlusszeugnissen beispielsweise aus Ägypten, Afghanistan, Ghana, dem Iran oder Ruanda muss eine bestimmte Punkt- bzw. Prozentzahl und Fächerkombination, teilweise in Verbindung mit einem ein- oder zweijährigen begonnenen Studium, vorliegen, um als Abitur in Deutschland anerkannt zu werden, auch wenn dieser Sekundarabschluss im Herkunftsland zum Studium berechtigt. 21 100 Prozent entspricht der Note sehr gut (1,0), 60 Prozent der Note 3,3 und 55 Prozent entspricht der Note 3,7. Gemäß Modifizierter Bayerischer Formel (Formel zur Umrechnung im Ausland erworbener Noten in das deutsche Notensystem) entspricht ein Abitur mit 59 Prozent einer Note von 3,46 (https://uol.de/anrechnung/umrechnung-auslaendischer-noten/). 22 Zu einer Zulassungsbeschränkung kommt es dann, wenn es mehr Bewerber*innen gibt, die die formalen Voraussetzungen erfüllen, als Studienplätze vorhanden sind.
Globale Bildungsbiographien
4.4
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Zeitperspektive
Die Zulassung zum Studium begegnet wenigstens zum Teil der rechtlichen und symbolischen Diskreditierung der bereits erbrachten Studien- und Berufsleistungen mit einer Form von Anerkennung, indem in der Zugangs- und Zulassungsordnung zum BA PHM insgesamt zwei Semester als bereits erbrachte ›Vorleistungen‹ gewürdigt werden. Dies ermöglicht den Studienbeginn ab dem 3. Fachsemester und somit ein verkürztes Studium. Es ist wichtig, dass Akademiker*innen mit Flucht- und Migrationserfahrungen bei der Fortsetzung ihrer Bildungsbiographie keine Zeit verlieren und unter Bedingungen der beschriebenen spezifischen Lebenssituationen (s.o., 3. Zu den Studierenden) erweist sich jede ›Beschleunigung‹ als günstig. Die Bildungswissenschaftler*innen um Arnd-Michael Nohl konstatieren, dass gerade geflüchtete Hochqualifizierte »ihr im Herkunftsland ursprünglich erworbenes Wissen und Können aufgrund der langfristigen deprivativen Transition zunächst kaum auf dem deutschen Arbeitsmarkt verwerten dürfen und später auch nicht mehr können« (Nohl et al. 2010, S. 76). All diese beschriebenen Merkmale der Zugangs- und Zulassungsordnung bieten den adressierten Bewerber*innen, je nach vorliegenden Bedarfen und Voraussetzungen, unterschiedliche Vorteile und zeichnen den Studiengang in je besonderer Weise aus.
5. S ERVICESTELLE
UNI - ASSIST E .V.
Wie in der Einleitung angekündigt, folgen jetzt drei Textabschnitte, in denen wir vor allem solche Voraussetzungen und Entwicklungen beschreiben, die überaus problematisch sind und die Zukunft unseres zweistufigen Angebots gefährden. Wir beginnen mit der Servicestelle uni-assist e.V. Als Reaktion auf das steigende Interesse von Studienbewerber*innen aus dem Ausland am Studienort Deutschland und die damit verbundene Notwendigkeit der Begutachtung ausländischer Dokumente sowie im Zuge von personellen Ressourceneinsparungen wurde die Servicestelle uni-assist e.V. 2003 in Berlin gegründet. Im Jahr 2018 hat uni-assist e.V. ca. 300.000 Bewerbungen bearbeitet. Für das Bewerbungsverfahren und die Überprüfung der Gleichwertigkeit der Hochschulzugangsberechtigung internationaler Bewerber*innen beauftragt mittlerweile fast
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jede zweite Hochschule in Deutschland uni-assist e.V., so auch die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.23 Hauptziel soll eine administrative Prüfung internationaler Studienbewerbungen sein, die effizient und einfach ist. Allerdings ist der Versuch, mit einem standardisierten Verfahren auf die Komplexität internationaler Dokumente und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studiengänge in Deutschland zu reagieren, ein Widerspruch in sich. 5.1
Zur Praxis des Verfahrens
Als eine Serviceeinrichtung hat uni-assist e.V. eigentlich nur eine vorbereitende und beratende Funktion. Die Entscheidung über die Vergabe des Studienplatzes liegt bei der jeweiligen Hochschule selbst: »Es handelt sich um eine formale Prüfung der Unterlagen, die inhaltliche Bewertung und Zulassung zum Studium erfolgt durch die Hochschulen« (DAAD/DZH, 2017, S. 8). In der Praxis der Bewerbungsverfahren kommt es jedoch vor, dass von diesem Grundsatz kein Gebrauch gemacht wird und im Fall von Nachfragen zur jeweiligen Entscheidung auf die Beurteilung von uni-assist e.V. verwiesen wird, da dort die Expertise vorhanden sei. Das Bewerbungsverfahren verläuft über ein Online-Portal im Internet und setzt neben einer guten Internet-Verbindung eine umfangreiche technische Ausstattung (Laptop, Scanner, Drucker) voraus, um die erforderlichen Dokumente versenden zu können. Beim Ausfüllen der Datenmaske entstehen unvermeidbar auch Fehler, die im weiteren Verfahren teilweise kaum mehr zu beheben sind. Wenn z.B. eine Universität nicht als solche bezeichnet wurde bzw. das Pendant im deutschen Bildungssystem so nicht vorkommt, kann ggf. die falsche Benennung/Übersetzung über die Studienplatzvergabe entscheiden. Sobald das Verfahren begonnen hat, folgt in Teilen ein Verschieben von Verantwortlichkeiten. Es entsteht sozusagen ein System von organisierter institutioneller Nicht-Zuständigkeit: Bei Nachfragen der Bewerber*innen bspw. hinsichtlich der Bewertung betreffender Dokumente verweist uni-assist e.V. auf die Entscheidungshoheit der Hochschule und die Hochschule verweist an uni-assist e.V. zurück. Die geteilte Zuständigkeit zwischen uni-assist e.V. und der einzelnen Hochschule (und dort dem Immatrikulationsamt, dem fachlich zuständigen Zulassungsausschuss für den jeweiligen Studiengang, dem Büro für internationale Studierende und der Studienfachberatung) führt zu umständlichen, extrem zeitintensiven Mehrfachberatungen. Die Immatrikulationsämter selbst verfügen in der Regel weder über das Personal noch die Expertise für fachgerechte Entscheidungen. Diese wurde sozusagen an uni-assist e.V. ›outgesourct‹, aber viele Anfragen von 23 Uni-assist e.V. arbeitet für über 180 Hochschulen und Universitäten in Deutschland.
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Studieninteressierten werden gleichwohl an das überlastete Personal an den Hochschulen gerichtet. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass Nachfragen bei uniassist e.V. entweder gar nicht (wenn z.B. E-Mails durch uni-assist e.V. nicht beantwortet werden) oder nur unter zeitlichem Höchstaufwand für die Nachzufragenden zu realisieren sind. Dadurch entsteht erneut hoher Beratungsbedarf für alle Beteiligten. Festzustellen ist ebenfalls, dass es schon bei Registrierungen durch Namensgleichheiten zu Fehlern kommt bzw. die Bewerbung in dem Online-Portal gar nicht erst angelegt werden kann. Wenn die Bewerbung erfolgreich in das System gespeist und bezahlt wurde,24 folgen nicht selten Standardbriefe, versehen mit Textbausteinen in perfektem Beamtendeutsch oder in Englisch, welches aber meist nicht die Sprache der sich Bewerbenden ist. Die Bewerber*innen lesen Informationen von uni-assist e.V. wie: »If you pass this exam, you may apply to a bachelor course (or a comparable undergraduate course of study) in your subject area (›Fachrichtung‹). In some Studienkollegs, you may take the ›Feststellungsprüfung‹ without having attended the Studienkolleg (›externe Feststellungsprüfung‹). In that scenario, you prepare for the exam yourself« (http://www.uniassist.de).
Diese Informationspraxis erfordert erneut Beratung und Dekodierung des Geschriebenen. Widersprüchliche Beurteilungen und Informationen begleiten das Verfahren für Bewerber*innen desselben Studiengangs und eine strukturelle Hürde ist in der langen Bearbeitungszeit zu sehen, die uni-assist e.V. mit vier bis sechs Wochen angibt, die tatsächlich aber in vielen Fällen über zwei Monate beträgt. Haben Bewerber*innen ihre Unterlagen in das Portal geladen und es stellt sich heraus, dass beispielsweise eine einzelne Beglaubigung bei teilweise fünfzigseitigen Dokumenten fehlt, erhalten die Bewerber*innen die Information, dass das betreffende Papier nachzureichen sei. Diese Schreiben werden leider mitunter auch nach dem Bewerbungstermin versandt, mit dem Effekt, dass die Bewerber*innen das fehlende Dokument im Vertrauen auf Bearbeitung schnellstmöglich versuchen nachzureichen, um anschließend von der Universität mitgeteilt zu bekommen, dass die Papiere nicht termingerecht eingegangen und deshalb weder Zugang noch Zulassung möglich seien. 24 Das Bewerbungsverfahren ist für die allermeisten nicht unentgeltlich; für die erstmalige Bewerbung wird ein Bearbeitungsentgelt in Höhe von 75 Euro fällig, für jede weitere 30 Euro. Für Studienbewerber*innen, die z.B. eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25, Abs. 1 oder 2 AufenthaltG. (subsidiärer Schutz) haben, übernehmen z.Zt. die Hochschulen die Kosten.
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In Gesprächen mit Kolleg*innen aller Statusgruppen an der Universität wurde ausnahmslos von großen Schwierigkeiten, Überforderung bis hin zur Unmöglichkeit der Überwindung dieser Hürden beim Anlegen der Bewerbung gesprochen. Unterstützer*innen aus der Zivilgesellschaft sowie Vertreter*innen institutioneller Einrichtungen (Jobcenter) berichten gleichermaßen von einem unverhältnismäßig hohen Bewerbungsaufwand und fordern von der Universität Unterstützung ein, die diese aus zeitlichen und personellen Gründen nicht oder nur unter größten Anstrengungen und zu Lasten anderer Aufgaben anbietet.25 5.2
Nochmal: Feststellungsprüfung und Studienkolleg
Wie soeben dargestellt, wird in vielen Entscheidungen von uni-assist e.V. auch auf Feststellungsprüfungen und Studienkollegs verwiesen. Überproportional viele Bewerber*innen aus Drittstaaten erhalten eine solche Auflage der Feststellungsprüfung. Diese findet in Niedersachsen am Studienkolleg in Hannover statt. Es gibt nur begrenzt Plätze, und da sich die Bewerber*innen auf ein Studium der Pädagogik bewerben, passen die naturwissenschaftlich orientierten Aufnahmeprüfungen und Lehrinhalte nicht zum angestrebten Studium und sind demnach völlig ungeeignet. Zu der Situation, dass die Bewerber*innen sich den Besuch, zeitlich wie finanziell, leisten können müssen, kommt hinzu, dass Bewerber*innen mit Sozialleistungen gemäß ALG II wenig bis keine Unterstützung für die Fortsetzung ihrer Bildungs- und Berufsbiographien erfahren. Es erfolgt keine Freistellung durch das Jobcenter für den Besuch des Studienkollegs, und zur Sicherung ihres Aufenthalts unterliegen die Bewerber*innen der Pflicht einer Berufstätigkeit oder müssen dafür zur Verfügung stehen.26 5.3
Irritationen: Ablehnungsentscheidungen und ihre Begründungen
Immer wieder empfinden die Bewerber*innen (und ggfs. ihre Unterstützer*innen), aber auch wir als Studiengangsverantwortliche, Ablehnungsentscheidungen
25 In unserer Weiterbildung Kontaktstudium bieten wir eine entsprechende Unterstützung bei der Vorbereitung der Bewerbung und der Eingabe der Daten in das Portal von uniassist e.V. an. 26 Auch das Konzept des Studienkollegs orientiert sich an den Bedarfen sog. ›international Studierender‹ (s.o.).
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von uni-assist e.V., die bedauerlicherweise von der Universität übernommen werden, nicht nur als nicht nachvollziehbar, sondern auch als überaus irritierend. Wir wollen hier nur einige wenige ›Falltypen‹ nennen: • Es geht z.B. um eine Bewerbung aus Syrien, in der zwar ein in Bürgerkriegs-
zeiten nach 2011 erworbenes Abitur mit der Note 59 Prozent (entspricht nach Umrechnung einer deutschen Note 3,46)27 und ein begonnenes oder gar ein abgeschlossenes Studium nachgewiesen wurde, all dies zusammen jedoch nicht als Hochschulzulassung galt und infolgedessen keine weitere Bearbeitung erfolgte. • Es geht z.B. um eine Bewerbung, in der – trotz der Vorlage einer fachgebundenen Hochschulzugangsberechtigung und des Nachweises eines erfolgreichen Abschlusses eines Bachelorstudienganges im Herkunftsland – die Nicht-Akkreditierung des dortigen Studiengangs zu einer Ablehnungsentscheidung führte, obwohl zu der Zeit, in der studiert worden war, Akkreditierungen von Studiengängen in dem betreffenden Land gar nicht vorgenommen wurden. Die betreffende Person studiert mittlerweile an einer anderen Universität. • Es geht z.B. um eine Bewerbung, bei der zunächst (bei der ersten Bewerbung) durch uni-asssist e.V. eine zweifelsfreie Hochschulzulassung attestiert wurde, aufgrund persönlicher Umstände allerdings noch keine Immatrikulation erfolgte und bei der (zweiten) Bewerbung dann im Folgejahr mit denselben Bewerbungsunterlagen das Prüfverfahren zur Hochschulzulassung durch uni-assist e.V. plötzlich negativ ausfiel und keine Zulassung möglich war. • Es geht z.B. um eine Bewerbung, bei der durch uni-assist e.V. mitgeteilt wurde, dass das »angegebene Studienfach […] an der gewünschten Hochschule gar nicht oder nicht mit dem angegebenen Abschluss oder nicht zum gewünschten Fachsemester studiert werden« kann. Die Bewerber*innen sollten sich »bei der Hochschule über das aktuelle Studienangebot« informieren und uni-assist e.V. »bis zum Ende der Bewerbungsfrist einen zulässigen Studienwunsch mit[teilen]«. Dies war mehr als verwirrend, war doch das gewünschte Studienfach bei der Bewerbung richtig angegeben worden und kann es an unserer Universität auch studiert werden. Im nächsten Absatz wurde dann jedoch – und die Verwirrung steigerte sich nochmals – zusätzlich darauf hingewiesen, dass »das gewünschte Studienfach […] mit dem 3. Fachsemester« beginnt und »[e]ine Weiterleitung für das Studienkolleg […] hier nicht möglich [ist].« Auf Intervention der Studiengangsverantwortlichen wurde die Bewerbung noch einmal überprüft. Als Begründung für die erneute Ablehnung wurde nun angeführt, dass für
27 S.o. Fußnote 21.
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die Erteilung der Hochschulzulassungsberechtigung das Studienkolleg (Feststellungsprüfung) besucht werden müsse. Die Möglichkeit ist jedoch für den Studiengang nicht vorgesehen, weil sich dieser grundsätzlich an Bewerber*innen richtet, die bereits studiert haben und denen zwei Semester angerechnet werden. Der Besuch des Studienkollegs wiederum muss vor Aufnahme eines Studiums in Deutschland erfolgen. Somit kann die Person nicht im dritten Fachsemester zugelassen werden, welches aber das erste mögliche Fachsemester für den BA PHM ist. Mittlerweile studiert die betreffende Person an einer anderen Universität, ohne vorab das Studienkolleg besucht zu haben. • Es geht z.B. um eine Bewerbung, bei der der Anspruch auf das sog. Plausibilitätsverfahren (bei fehlenden Dokumenten28) verweigert wurde. Dabei handelte es sich um eine Person, der nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Asylstatus zuerkannt worden war und die nach Ablauf der gesetzlichen Frist dann die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten hatte. Die Bewerbung wurde von uni-assist e.V. aus dem Anwendungsbereich des KMK-Beschlusses von 2015 herausgenommen, da die betreffende Person – so die Begründung – jetzt deutsch und kein Flüchtling mehr sei. Auch wenn uni-assist e.V. konstatiert, dass es sich bei den ›besonders schwierigen‹ oder ›fehlerhaft‹ bearbeiteten Fällen nur um Einzelfälle handele und es wenig Beschwerden gebe, muss bedacht werden, dass die Bewerber*innen – sozialisiert in anderen Schul-, Universitäts- und Verwaltungs- und Rechtssystemen – oft wenig bis gar keinen Gebrauch von offiziellen Beschwerden machen. Was hätten sie auch davon? Bis das Verfahren anläuft, ist das Bewerbungsverfahren beendet und das Semester hat bereits begonnen.
28 Wenn aufgrund von Flucht, als Folge politischer Benachteiligung oder durch Zerstörungen in Folge von (Bürger-)Kriegen Dokumente nicht vorgelegt werden können und so unverschuldet eine Beweisschwierigkeit oder Beweisnot entsteht, dann ist nach einem KMK-Beschluss vom 03.12.2015 ein sog. Plausibilitätsverfahren vorgesehen. In drei Schritten geht es dabei a) um die Feststellung der persönlichen Voraussetzungen, b) um die Plausibilisierung der Bildungsbiographie bezogen auf den Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung im Heimatland und c) um ein geeignetes Verfahren zur Validierung der Studierfähigkeit als Nachweis der bestehenden Hochschulzugangsberechtigung.
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DEUTSCHE
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S PRACHE
Sprachprüfungsniveaus und Zugangsvoraussetzungen
Für den Zugang zum Studium im BA PHM müssen die Bewerber*innen ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vorweisen. Dazu beziehen wir uns zunächst auf den sog. Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER), der u.a. die Sprachprüfungsniveaus in Europa vergleichbar machen soll. Diese Sprachprüfungsniveaus werden mit Niveaustufen markiert, und zwar in aufsteigender Buchstaben- und Zahlenfolge, nämlich A1, A2, B1, B2, C1 und C2. Das ›elementarste‹ Niveau wird in dieser Reihe durch A1 angezeigt, das ›höchste‹ durch C2. Im Rahmen unserer Weiterbildung Kontaktstudium wird ein Sprachkurs angeboten, der auf das Sprachprüfungsniveau B2 vorbereitet. Um einen Eindruck davon zu bekommen, was dies bedeutet, ist es hilfreich, sich die erläuternden Beschreibungen zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen anzuschauen. Diese gehen bei denjenigen, die die Sprachprüfung B2 erfolgreich absolvieren, von einer selbstständigen Sprachverwendung aus, die folgendermaßen beschrieben wird: »Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abstrakten Themen verstehen; versteht im eigenen Spezialgebiet auch Fachdiskussionen. Kann sich so spontan und fließend verständigen, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist. Kann sich zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken, einen Standpunkt zu einer aktuellen Frage erläutern und die Vorund Nachteile verschiedener Möglichkeiten angeben« (Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen des Europarates; hier zitiert nach Goethe-Institut 2017, S. 35).
Basierend auf jahrelanger Erfahrung mit unseren Weiterbildungs- und Studienangeboten verlangen wir zum einen für den Zugang zum BA PHM Sprachkenntnisse vergleichbar mit dem Sprachprüfungsniveau C1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens, also der nächsten Stufe nach B2. Zum anderen gibt es aber für Bewerber*innen, die das Absolvieren dieses Sprachprüfungsniveaus bei der Einschreibung noch nicht vorweisen können, die Möglichkeit, zunächst mit einem B2-Sprachprüfungsniveau immatrikuliert zu werden, um dann bis zum Ende des
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ersten Studienjahres den Nachweis einer erfolgreichen Sprachprüfung C1 zu erbringen.29 Die sprachlichen Kompetenzen, die die Absolvent*innen dieser Sprachprüfung nachweisen, werden von den Autor*innen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens als fachkundige Sprachkenntnisse gekennzeichnet, ein Sprachniveau, das »die Bewältigung komplexerer kommunikativer Aufgaben in Beruf und Studium ermöglicht« (ebd., S. 34): »Kann ein breites Spektrum anspruchsvoller, längerer Texte verstehen und auch implizite Bedeutungen erfassen. Kann sich spontan und fließend ausdrücken, ohne öfter deutlich erkennbar nach Worten suchen zu müssen. Kann die Sprache im gesellschaftlichen und beruflichen Leben oder in Ausbildung und Studium wirksam und flexibel gebrauchen. Kann sich klar, strukturiert und ausführlich zu komplexen Sachverhalten äußern und dabei verschiedene Mittel zur Textverknüpfung angemessen verwenden« (ebd., S. 33).
Nun orientieren wir uns mit den Sprachprüfungsniveaus B2 und C1 an den Zertifikaten, die von den Goethe-Instituten sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen Ländern der Welt angeboten werden und auf allgemeinsprachliche Kenntnisse ausgerichtet sind. Die Goethe-Institute beschreiben dieses GoetheZertifikat C1 als eine Deutschprüfung, die bei erfolgreichem Absolvieren »ein weit fortgeschrittenes Sprachniveau [nachweist] und […] der fünften Stufe (C1) auf der sechsstufigen Kompetenzskala des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) [entspricht]« (https://www.goethe.de/de/spr/kup/ prf/prf/gb2. html). Eine jüngere Befragung (Stand 2018) von Universitäten und Hochschulen zeigt, dass in Deutschland »insgesamt 168 Universitäten und (Fach-)Hochschulen« das Goethe-Zertifikat C1 als Zugangsvoraussetzung anerkennen, »das sind knapp 40 Prozent aller deutschen Hochschulen« (https://www.goethe.de/resour ces/files/pdf133/goethe-zertifikate-anerkennung_gesamt1. pdf). Darunter sind für unsere Weiterbildungsstandorte Bremen, Hannover und Frankfurt a.M. so wichtige Universitäten wie Bremen, Hamburg, Lüneburg oder Mannheim und (Fach-) Hochschulen wie Dortmund, Freiburg, Mainz, München oder Köln. Auch für den Zugang zum BA PHM sind wir mit der Implementierung des Studiengangs ab dem WiSe 2017/18 in das regelmäßige Studienangebot der Universität (also nach dem Projektstatus, den der Studiengang zwischen 2006 und 2017 innehatte) und der damit verbundenen Akkreditierung davon ausgegangen, spätestens nach einem
29 In begründeten Einzelfällen wurde eine Verlängerung von einem weiteren Semester zur Erbringung des Nachweises gewährt.
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Studienjahr30 den Nachweis eines Goethe-C1-Zertifikates (oder vergleichbar)31 von den Studierenden zu verlangen. Allerdings hatte unser Immatrikulationsamt hier andere Vorstellungen (dazu später mehr). Hochschulen und Universitäten halten auch eigene Sprachkurse vor und führen eigene Sprachprüfungen durch. Diese richten sich an ›international Studierende‹ (s.o.). Die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber (DSH) wurde anknüpfend an frühere Verfahren32 als ein eigenes System der Sprachprüfungsniveaus eingeführt, dessen ›niveaubezogene Abstufungen‹ sich jedoch durch Noten in Prozentform ausdrücken. So verweist ein DSH2-Zeugnis in diesem System darauf, dass die Note 67 bis 81 Prozent erreicht wurde; dieses Zeugnis ist an vielen Hochschulen und Universitäten eine Voraussetzung zum Studium (vgl. http://dsh.de/externe-dsh-pruefungen; zuletzt geöffnet am 26.03.2019). Leider gibt es – anders als bei den Goethe-Zertifikaten – keine genaue Zuordnung der Stufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens zu den Stufen der DSH. Zudem sind die verbreiteten Informationen verwirrend und widersprüchlich und die Diskussion der Expert*innen zur Vergleichbarkeit der Anforderungen und zur Sinnhaftigkeit eines bestimmten Sprachprüfungsniveaus kommt zu sehr unterschiedlichen, ja teilweise sogar gegensätzlichen Ergebnissen (vgl. u.a. Althaus 2018). 6.2
Zu den Realitäten des Erlernens der Sprache Deutsch vor dem Studium
Das Erlernen einer Fremdsprache ist ein komplexer und von vielen Faktoren beeinflusster Prozess. Individuelle Lernvoraussetzungen, also Bildungserfahrungen und Bildungsstatus im Herkunftsland und auch vorheriger Fremdspracherwerb sowie die bei allen Bewerber*innen zum BA PHM vorhandene Mehrsprachigkeit können die je eigene sprachliche Entwicklung in der deutschen Sprache beeinflussen. Zudem bestimmen Motivation, Lerngelegenheiten und Lerneffizienz das Erlernen einer neuen Sprache mit. Neben individuellen und biographischen Faktoren sind Elemente von Bedeutung, die mit Sprachstrukturen und Unterschieden zwischen den Sprachen sowie mit der Qualität von Lernräumen zu tun haben. Darüber
30 Gekoppelt mit der Möglichkeit, das Studium zunächst auch mit B2 zu beginnen. 31 Vergleichbare Sprachprüfungen: •
TestDaF: mind. 15 Punkte insgesamt und in allen vier Prüfungsteilen mindestens 3 Punkte
•
telc Deutsch C1
32 Davor hieß das System Prüfung zum Nachweis deutscher Sprachkenntnisse (PNDS).
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hinaus spielen im Möglichkeitsraum des Fremdsprachenlernens auch soziale, strukturelle, institutionelle und politische Zusammenhänge eine bedeutsame Rolle. Dieser Komplexität können wir hier nicht gerecht werden. Allerdings wollen wir zumindest einige Faktoren, die für die Bewerber*innen zum BA PHM wichtig sein können, skizzieren. So haben Geflüchtete – wir haben dies bereits angedeutet (s.o., 3.3 Statistische Daten zu Studierenden im Vergleich) – oft andere Zugänge zum Erlernen der deutschen Sprache als sog. ›international Studierende‹. Einige (je nachdem, wann sie nach Deutschland eingereist sind) durften bis zur Klärung des Aufenthaltsstatus keine Sprachkurse besuchen, dies konnte Jahre dauern. In dieser Zeit, so berichten Studierende, haben sie sich mit Hilfe von Online-Programmen, Apps, Fernsehen, Zeitschriften und der Kommunikation mit Muttersprachler*innen oft eigenständig Deutsch beigebracht. Andere, je nach Aufenthaltsstatus, wurden vom Jobcenter aufgefordert, im Zuge der verpflichtenden Integrationskurse seit 2005 an Sprachkursen teilzunehmen, diese waren jedoch auf das Erreichen der Sprachprüfungsniveaustufe B1 beschränkt. Erst seit 2016 wurden auch Sprachkurse möglich, mit deren Hilfe das Sprachprüfungsniveau B2 erreicht werden konnte. Allerdings ist die Praxis des Spracherwerbs durch weitere Erschwernisse gekennzeichnet: Wenn Sprachlernende beispielsweise im ALG-II-Bezug sind, entfällt der gesetzliche Anspruch ab dem B2-Niveau. Das Jobcenter entscheidet über die Teilnahme am jeweiligen Sprachkurs, und bei Personen, die älter als 30 Jahre sind, wird die Teilnahme an einem solchen Sprachkurs erfahrungsgemäß nicht genehmigt. Bundesweit fehlten 2016 zudem laut Frank-Jürgen Weise (BAMF) Sprachkursangebote im Bereich von mehr als 200.000 Plätzen. Genaue Zahlen sind nicht zu verifizieren (Zeit Online 2016). Darüber hinaus gibt es auch zu wenig ausgebildete DaF/ DaZ-Lehrer*innen. Geflüchtete aus bestimmten Ländern – Syrien, Eritrea, Iran und Irak – werden seit 2015 bei der Vergabe von Integrations-/Sprachkursen auf Veranlassung des BAMF eher bevorzugt (vgl. Anlage 1 zum Trägerrundschreiben 06/15), andere – wie etwa Geflüchtete aus Afghanistan – eher behindert. Weiterhin werden C1-Sprachkurse im ländlichen Raum in Deutschland kaum oder gar nicht angeboten und der Zugang zu den DSH-Sprachkursen ist Bewerber*innen, die nicht schon eine Studienplatzzusage haben oder Teilnehmer*in an einem Orientierungsjahr o.Ä. sind, in der Regel nicht möglich; u.a. deshalb, weil die Kursplatzkapazität begrenzt ist und exklusiv für ›international Studierende‹ vorgehalten wird. In der Fachliteratur wird darauf hingewiesen, dass Sprachtests auch einen hochgradig sozialen Charakter haben (vgl. Abel 2010, S. 203) und die »Konsequenzen von Tests […] mitunter schwerwiegend sein (können), wenn es um Selektion und z.B. um den Zugang zu Jobs, zu Ausbildungsmöglichkeiten, um die Einwanderung
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in Staaten, den Erhalt der Staatsbürgerschaft etc. geht, d.h. also um den Zugang zu wertvollen, bisweilen raren und umkämpften Ressourcen und Gütern« (ebd., S. 204).
6.3
Ausgangsüberlegungen bei der Gestaltung von Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf die Sprache Deutsch
Im Wissen um solche sozialen, strukturellen, institutionellen und politischen Faktoren, die die Möglichkeitsräume beim Erlernen der deutschen Sprache mit beeinflussen, haben wir versucht, unsere Konzeption des BA PHM mitsamt den notwendigen sprachlichen Zugangsvoraussetzungen zu gestalten. Zunächst bewerten wir die Bedeutung der jeweiligen Herkunftssprachen hoch und schätzen sie als wichtige Ressourcen ein. Wie bereits deutlich wurde (s.o., 4. Zugang und Zulassung) verlangen wir Kenntnisse einer Herkunftssprache auf dem Niveau C2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens. Grundsätzlich gehen wird davon aus, dass Akademiker*innen mit Flucht- und Migrationserfahrungen – wie bereits deutlich wurde – bei der Fortsetzung ihrer Bildungsbiographie keine Zeit ›verlieren‹ sollten. Forschungen zeigen, dass es in Deutschland (u.a. durch bürokratische Hürden, lange Bearbeitungszeiten in Behörden, zu wenig Sprachkurse, fehlende passgenaue Anschlüsse etc.) hohe kumulierte Zeitverluste gibt (vgl. Nohl et al. 2010). Ein spezieller Sprachkurs in der Fremdsprache Deutsch ›kostet‹ Zeit, meist wird für die Vorbereitung auf die Sprachprüfung C1 – ausgehend von B2 – von einem Jahr ausgegangen. Wir haben uns deshalb für ein integriertes System entschieden, auch deshalb, weil wir davon ausgehen, dass es günstig ist, wenn es alltägliche, unmittelbar notwendige Sprachanlässe gibt. Außerdem liegt nach unserer Erfahrung bei den fachlich vorgebildeten und erwachsenen Sprechlernenden ein besonderes Lerninteresse vor, das auf spezifische akademische Inhalte und Themen zielt. Im Studiengang BA PHM ist Sprachlernen eng mit fachlichem Lernen verbunden. Beide Prozesse verweisen aufeinander. Die Studierenden des BA PHM befinden sich von Beginn an in einer Lernumgebung, in der sie in wissenschaftlichen Kontexten mit Deutsch als Fachsprache umgehen und diese anwenden. Aufgrund der Heterogenität der Studierendenkohorten ist es erforderlich, in der deutschen Sprache zu kommunizieren, dies sowohl in den spezifisch für die Studierendenkohorte des BA PHM reservierten Modulen als auch in den Modulen, die für alle BA-Studierenden des Faches geöffnet sind (s.o., 2. Struktur und Aufbau des Studiums). Zudem bezieht sich sowohl Sprachlernen als auch fachliches Lernen auf die je eigene berufliche/professionelle Zukunft, kann auf anderen vielfältigen Lernerfahrungen in unterschiedlichen Ländern aufbauen und hat auch motivational bei Geflüchteten und Migrierten mit
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akademischer Bildungsbiographie eine besondere Bedeutung. Die Studierenden des BA PHM können zudem von einer vielschichtigen Kommunikation und Interaktion mit den Lehrenden profitieren, von studiums-, aber auch berufsbezogenen Netzwerken (u.a. in den sozialen Medien), die sich in den letzten Jahren gebildet haben, von Kontakten zu Absolvent*innen, von zusätzlichen Angeboten innerhalb und außerhalb der Universität. Wenn wir für zwei Semester die reine Präsenzzeit in den Lehrveranstaltungen des BA PHM mit den DSH-Sprachkursen des Sprachenzentrums an unserer Universität vergleichen, dann kommen wir auf ein Verhältnis von 357 zu 240 Unterrichtsstunden (zu je 45 Minuten). Insgesamt ist im BA PHM in diesem Zeitraum (ohne das Praktikum einzurechnen) ein Workload von 1.530 Zeitstunden (zu je 60 Minuten) veranschlagt, vorgesehen für die Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur, die Produktion eigener deutschsprachiger Texte, die Vorbereitung auf eigene deutschsprachige Präsentationen etc. Im Gesamt der Unterrichtsstunden (für zwei Semester) sind 42 für einen Sprachunterricht im engeren Sinne festgelegt. In diesem spezifischen Modul Wissenschaftssprache Deutsch (s.o., 2. Struktur und Aufbau des Studiums) nehmen die Studierenden u.a. Bezug auf die parallel stattfindenden Module und befassen sich z.B. mit sprachlichen Aspekten ausgewählter Texte, die in den Lehrveranstaltungen von besonderer Bedeutung sind. Die Orientierung an den oben genannten Goethe-Zertifikaten erwies sich als Anspruch in Bezug auf die erforderlichen Deutschkenntnisse (Goethe-Zertifikat C1 oder vergleichbare Zertifikate) zum erfolgreichen Abschluss im BA PHM jedenfalls nach all unseren Erfahrungen als ›passgenau‹ und in Bezug auf die Hürde, u.U. von B2 auf C1 auch noch nach der Immatrikulation zu kommen, als noch einigermaßen bewältig- und zumutbar. Jedenfalls konnten in den vergangenen fünf Studiendurchgängen seit 2006 bis auf eine Person alle Studierenden diese Auflage erfüllen. 6.4
Auseinandersetzungen im Kontext von ›Sprache‹
Sprachnachweise für ›international Studierende‹ waren bis in die 1990er Jahre kaum ein Thema in Deutschland. Es gab Kursanschlussprüfungen mit Ergebnissen »bestanden« oder »nicht-bestanden«. Zusammenhänge zwischen Sprachwissen und studienrelevanten Sprachkompetenzen wurden implizit als selbstverständlich angenommen. Mittlerweile sind Sprachnachweise jedoch zum Gegenstand (hochschul-)öffentlicher Diskussionen (vgl. Althaus 2018, S. 80f.) geworden. Seit 2015 wurden Deutsch-Sprachzertifikate sukzessive ausdifferenziert (z.B. C1-Hochschule, B2 für den Beruf, B2 für die Schule) und werden vielfach deutlich höhere Anforderungen an die sprachlichen Zugangsvoraussetzungen gestellt. Auch die
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Carl von Ossietzky Universität Oldenburg orientiert sich bei den jeweils hochschulüblichen Bestimmungen für den Zugang zu den Studiengängen an Sprachprüfungen wie der DSH, der TestDaf u. v., verlangt dort bei der TestDaF ein Ergebnis von 4 x TDN 433 – und unterscheidet sich damit von den ›Nachbarstandorten‹ Bremen, die insgesamt auch 16 Punkte verlangen, jedoch in allen vier Prüfungsteilen mindestens 3 Punkte voraussetzen (vgl. Universität Bremen 2019) und Hamburg, die mindestens 15 Punkte verlangen, bei dem drei Teilprüfungen mindestens mit Niveau 4 und eine Teilprüfung mindestens mit Niveau 3 bestanden sein müssen (vgl. Universität Hamburg 2019). Die Anforderungen für den Zugang in den BA PHM haben wir mit dem Goethe-Zertifikat C1 (oder vergleichbar) ›niedriger‹ konzipiert (s.o., Fußnote 31). Wir folgen hier der KMK-Rahmenordnung,34 die vorsieht, dass die »sprachliche Studierfähigkeit bei Aufnahme des Studiums je nach Studienzweck« (KMK 2015, S. 3) spezifisch festgelegt werden kann. Die in der KMK-Rahmenordnung beschriebene Möglichkeit, »geringere sprachliche Eingangsvoraussetzungen« (ebd.) vorzusehen, können mit der Auflage verbunden werden, »studienbegleitend weiterführende Sprachkurse zu absolvieren und nachzuweisen« (ebd.). Dies haben wir getan, in dem wir das Modul Wissenschaftssprache Deutsch in der Studienstruktur des BA PHM verankert haben (s.o., 2. Struktur und Aufbau des Studiums). Seit der BA-Studiengang nicht mehr in Projektform durchgeführt wird, sondern als strukturell verankertes Angebot der Universität gilt, gibt es allerdings eine lebhafte Diskussion sowohl innerhalb der Fakultät als auch zwischen Fakultät, Zulassungsausschuss, Sprachenzentrum, Immatrikulationsamt und Präsidium zur Frage nach den Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf die Fremdsprache Deutsch. 33 Die Carl von Ossietzky Universität verlangt von ›international‹ Studierenden in ihren allgemeinen Bestimmungen Deutschkenntnisse für die Aufnahme des Fachstudiums, die durch das erfolgreiche Absolvieren einer der folgenden Sprachprüfungen nachzuweisen sind: •
Die DSH: Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (Stufe 2)
•
TestDaF: Test – Deutsch als Fremdsprache (mit Niveau 4 in allen vier Bereichen)
•
Feststellungsprüfung am Studienkolleg (Prüfungsteil Deutsch)
•
DSD II: Deutsches Sprachdiplom der Kultusministerkonferenz II
•
Goethe-Zertifikat C2: Großes Deutsches Sprachdiplom [ehemals: Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP), Kleines Deutsches Sprachdiplom (KDS) und Großes Deutsches Sprachdiplom (GDS)]
•
telc Deutsch C1 Hochschule: Zeugnis über die bestandene Prüfung.
34 Rahmenordnung über Deutsche Sprachprüfungen für das Studium an deutschen Hochschulen (RO-DT) (Beschluss der HRK vom 08.06.2004 und der KMK vom 25.06.2004 i.d.F. der HRK vom 10.11.2015 und der KMK vom 12.11.2015).
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Aktuell haben wir die Situation, dass die C1-Sprachnachweise, die die Studierenden einreichen und die noch vor wenigen Jahren für das Studium ausreichend waren, nicht mehr anerkannt werden. In der Folge müssen Studierende dann Nachweise zu DSH2, C2 oder C1-Hochschule erbringen.35 Dies erscheint uns nicht angemessen und erhöht den Aufwand für die Studierenden immens, da sie, um das Sprachprüfungsniveau zu erreichen, in vielen Fällen die kostenintensiven, außeruniversitären Prüfungen mehrfach ablegen, sich entsprechend ›passend‹ zur jeweiligen Prüfung auf diese vorbereiten, parallel aber weiterhin versuchen, sich auf das Studium zu konzentrieren.36 Es erscheint uns selbstverständlich, dass die Universität und die Wissenschaften zur Erfassung, Beschreibung, Analyse und Erklärung überaus komplexer Phänomene und Prozesse auf sprachliche Fähigkeiten und Strukturen angewiesen sind, die es ermöglichen, genau dies zu tun und hohe Komplexität in einer differenzierenden und präzisen Weise nicht nur zu ›durchdringen‹ und ›aufzuschlüsseln‹, sondern dabei auch die jeweiligen Kontexte, Begriffe, Methodologien/Methoden und Erkenntnisse in einer Wissenschaftssprache zu reflektieren und argumentativ zu begründen. Gleichzeitig gilt es jedoch, die Spezifik sowohl der Fachdisziplin als auch des jeweiligen professionell-beruflichen Handelns zu berücksichtigen. Pädagogik und Soziale Arbeit werden aus gutem Grund oft als Handlungswissenschaften bezeichnet, da das Verhältnis von Theorieentwicklung, empirischer Forschung und professioneller Praxis hier in besonderer Weise gefasst ist. So gibt es von der Wissenschaftsseite aus einen engen Bezug zu einer Profession und Berufspraxis, die aber nicht in einer bloßen Anwendung, Umsetzung oder Handlungsanleitung einer wissenschaftlichen Theorie mündet, sondern einerseits durch das Bemühen um wechselseitige ›Befragung‹ von Theorie, Forschung und Praxis und andererseits durch eine reflexive Handlungskompetenz gekennzeichnet ist, bei der Theorien oft eher als (selbst-)kritische Fragen verstanden werden. 35 »Die Zahl internationaler Studierender, die ein Ergebnis auf dem Niveau C1.2 und höher mitbringen, ist wesentlich geringer als gemeinhin angenommen. Seit seinem Beginn, im Jahr 2001, wurde der TestDaF bis Ende 2016 mehr als 300.000 Mal abgelegt, ein repräsentatives Sample also. Lediglich 2,7 % von allen erreichten das höchste Niveau mit 4 x TDN 5, also C1.2 […]. 26,4 % von allen Teilnehmenden erreichten die Stufenkombination von TDN 4 […]« (Althaus 2018, S. 93). 36 Unserer Beobachtung nach bedeutet das erfolgreiche Absolvieren dieser Sprachprüfungen mit ›höheren‹ Anforderungen oft nicht, dass die jeweiligen Studierenden tatsächlich auf einem ›höheren‹ Niveau Deutsch verstehen, sprechen und schreiben. Leider sind sie nicht selten lediglich besser in der Lage, mit der Spezifik der jeweiligen Prüfungsanforderung umzugehen.
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Wissenschaftliche Sprache benötigt hier in besonderer Weise Übersetzungsleistungen, da die Professionellen in Pädagogik und Sozialer Arbeit darauf angewiesen sind, von den jeweiligen Adressat*innen in ihren Lebenslagen und Lebenswelten verstanden zu werden. Und umgekehrt müssen Professionelle in Pädagogik und Sozialer Arbeit in der Lage sein, Adressat*innen zu verstehen, also z.B. auch deren Jugend-, Familien- und Umgebungssprachen. Dabei geht es bei solchen Übersetzungen noch in keiner Weise um ›Fremdsprachen‹, so wie sie im Allgemeinen vorgestellt werden. Dies kommt in multilingualen Kontexten gewissermaßen noch hinzu, stellt – von der Verstehensseite her – eine besondere Kompetenz dar, wobei es auch hier dann jeweils eine Art Intersektionalität zwischen Herkunftssprachen mit den jeweiligen Jugend-, Familien- und Umgebungssprachen gibt. Es ist also günstig, wenn Professionelle in Pädagogik und Sozialer Arbeit – pointiert gesagt – Erfahrungen in und Kenntnisse z.B. von ›Arbeiter*innen‹- und ›Milieu‹-Sprachen haben, und es ist besonders günstig, wenn sich dies mit Erfahrungen in und Kenntnissen von verschiedenen Herkunftssprachen einer Migrationsgesellschaft verbindet. Ein nur dreijähriges Bildungsangebot, das sowohl eine praxisbezogene beruflich-professionelle Ausbildung als auch wissenschaftliche Reflexionsfähigkeit zum Ziel hat, wie das Bachelorstudium PHM mit den ›Vorleistungen‹, die die Studierenden durch ihre Schulbildung und Studium im Herkunftsland und das Absolvieren der Weiterbildung Kontaktstudium (oder vergleichbar) nachweisen, wird hier stets Kompromisse hinsichtlich des zu erreichenden Niveaus der einzelnen Kompetenzbereiche machen müssen. Gleiches gilt auch für andere Bachelorstudiengänge, die auf Handlungsfelder in den Bereichen von Pädagogik und Sozialer Arbeit vorbereiten. Leider wird dies in der Debatte zur Frage nach den Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf die Fremdsprache Deutsch viel zu wenig berücksichtigt. Und die Argumente, die zur ›Verteidigung‹ von sprachlichen Niveaus benutzt werden, sind nicht immer sachlich angemessen. Wir wurden auf professoraler Ebene auch schon mit der Bemerkung zurechtgewiesen, dass in einem Studiengang an der Universität schließlich keine Soziale Arbeit betrieben werden könne, hier gehe es um Wissenschaft. Mitunter haben wir zudem den Eindruck, dass die Wissenschaftssprache Deutsch und ihr behauptetes ›Niveau‹ auch ein Distinktionsmerkmal ist und die Öffnung der Universität als eine symbolische Bedrohung von Bildungsbiographien deutscher akademisch-bürgerlicher Schichten wahrgenommen wird.
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6.5
Wie weiter?
Wir sind uns nicht sicher, wie es in Bezug auf die sprachlichen Anforderungen für den Zugang zum BA PHM weitergehen wird. Das Modell, welches von nicht wenigen an unserer Universität bevorzugt wird, scheint eher ein einjähriger Sprachkurs als ›Vorleistung‹ und die Orientierung an Sprachprüfungsnachweisen wie DSH2, C2 oder C1-Hochschule zu sein. Wir halten dies für überaus kontraproduktiv und sehen den Studiengang, so wie er sich bisher im Großen und Ganzen bewährt hat, gefährdet. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass kein perfektes Modell möglich ist, das allen verschiedenen Faktoren auf individuellen, motivationalen, sprachlichen, sozialen, institutionellen und zeitlichen Ebenen gerecht wird. Grundsätzlich müssen wir – und alle in die Angebote involvierten Personen und Abteilungen – mit relativierenden Zielen und Kompromissen umgehen können, nach dem Motto ›so gut es geht‹ und ›so weit wie möglich‹. Dies erscheint uns jedenfalls besser, als nichts zu tun und in der Unverantwortlichkeit zu verharren oder die Zugangsvoraussetzungen so zu erhöhen, dass weder die Intention des Studiengangs erhalten werden kann noch die bislang Adressierten erreicht werden können. Dennoch gibt es zweifellos Verbesserungsmöglichkeiten, auch bei unserem zweistufigen Modell. So kann es durchaus sinnvoll sein, mehr in explizites Sprachlernen zu investieren. Wir könnten uns z.B. vorstellen • eine Erhöhung des Workloads im Modul Wissenschaftliche Fachsprache
Deutsch (von bislang 12 KP auf 24 KP), mit einer Konzentration in den ersten beiden Studiensemestern; • die zusätzliche Einrichtung eines sechswöchigen (gebührenfreien) Intensivsprachkurses vor Studienbeginn als ›Vorleistung‹, verschränkt und anknüpfend an die Weiterbildung Kontaktstudium; • die Einrichtung von Schreibwerkstätten für alle BA-Studierenden, die freiwillig und auf Empfehlung besucht werden können; • bei Studienbeginn mit einem B2-Sprachnachweis die Empfehlung, bis zum Erlangen des C1-Sprachnachweises das Studium in Teilzeit (mit 50 Prozent) zu beginnen und dies mit zusätzlichen (gebührenfreien) Sprachmodulen zu flankieren. All dies wird zusätzliches Geld, zusätzliches Personal und zusätzliche Ressourcen erfordern und birgt je nach Modell und Ausgangssituation Vorteile wie Nachteile (z.B. kein Bafög im Teilzeitstudium), wobei Vorteile wie die Verbindung von fachlichem und sprachlichem Lernen, der Zugang zum niedersächsischen Semesterticket und der Studierendenstatus überwiegen dürften.
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7. R ASSISMUS /B ESONDERUNG Bei rassistischem Othering37 geht es um gesellschaftliche Prozesse, die meist eine Vorgeschichte haben. Durch die Wirkung dominierender Strukturen, Diskurse und Praktiken werden Menschen zu Anderen gemacht. Diese spezifische Besonderung ist mit der sozialen Konstruktion von ›Großgruppen‹, ungleich verteilter Macht und in aller Regel mit einer Problematisierung verbunden. Das ›Problematische‹ wird aus der Perspektive der Dominanz mit Eigenheiten, die auf ›Rasse‹ oder ›Kultur‹ verweisen, ›vernäht‹, wobei die Eigenheiten im Modus scheinbarer Erklärung behauptet werden. Es entsteht eine Asymmetrie zwischen den so konstruierten Anderen und der Position, von der aus Othering-Prozesse initiiert, vorangetrieben und/oder reproduziert werden. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Anderen vorgestellt und markiert und damit auf einer ›Vorderbühne‹ platziert werden, während die konstruierende Position auf der ›Hinterbühne‹ gewissermaßen unsichtbar und/oder unthematisiert bleibt.38 Es wird auch eine Kommunikation auf ›Augenhöhe‹ – von Gleich zu Gleich – verweigert und ausgeschlossen; schließlich – so die kommunikationsregulierende Vorstellung – sind die Anderen doch aus biologischen oder kulturellen Gründen anders und letztlich ›Marionetten‹ ihrer Biologie und Kultur. Nun ergeben sich allerdings auch Prozesse von Besonderung, wenn auf rassistisches Othering und/oder Verhältnisse sozialer Ungleichheit/Benachteiligung reagiert und versucht wird, Gegenwirkungen zu entfalten. Als prominente Beispiele können kompensatorische Maßnahmen, sogenannte positive Diskriminierungen und Quotenregelungen genannt werden. Stets werden hier die jeweils Adressierten beschrieben und Gründe benannt, die die jeweiligen Aktivitäten rechtfertigen. Wichtig wäre hierbei stets, auf Gruppenkonstruktionen bezogene Vereigenschaftungen und Defizitzuschreibungen zu überwinden und deutlich zu machen, dass die Mängel auf der Seite der dominierenden Strukturen, Diskurse und Praktiken liegen, die in ihren Wirkungen nicht nur unzureichend und ungerecht sind, sondern auch stigmatisierend und ausgrenzend wirken, und deshalb Veränderungen im Allgemeinen notwendig sind. Dennoch ist es, selbst wenn dies vehement versucht wird, kaum vermeidbar, dass sich (auch) bestimmte Vorstellungen über
37 Zum Begriff Rassismus vgl. Leiprecht. 38 Wir benutzen diese Begriffe in vorsichtiger Analogie zu Ervin Goffman (2003, S. 217ff.), ohne dass wir dessen Theoriekonzept vollständig übernehmen. Unser Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf Fremdzuschreibungen, und hier verorten wir uns eher bei den Theoriekonzepten von Stuart Hall (1997).
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Adressierte herausbilden, die in einem Verhältnis zum rassistischen Othering stehen. Dies reicht von ›Gegenbildern‹, die vielleicht Bewunderung hervorrufen, über Opferfiguren, die bemitleidet werden, bis hin zu collageähnlichen Fiktionen, auf deren Grundlage geglaubt wird, noch in der rassistischsten Zuschreibung ein ›Körnchen Wahrheit‹ zu entdecken. In all diesen Fällen handelt es sich jedenfalls um Einstellungen, die einen Umgang auf Augenhöhe, Gleichwertigkeit und Symmetrie verhindern. Die Auseinandersetzung ist also nicht zu Ende, wenn Maßnahmen oder Regelungen installiert sind, die Gegenwirkungen zu Verhältnissen sozialer Ungleichheit/Benachteiligung entfalten sollen, sondern eigentlich beginnt die verändernde Arbeit erst jetzt so richtig, und hoffentlich gemeinsam mit den jeweils direkt Betroffenen, die sich nun in einer stärkeren Position befinden sollten. Auch unser eigener Versuch, die Universität zu ›öffnen‹ und Zugangsbarrieren abzubauen, bekommt mit solchen Widersprüchlichkeiten zu tun. Ein besonderer Studiengang ist nun mal darauf angewiesen, zu benennen, für welche Studierenden er weshalb konzipiert ist; und dafür ist auf verschiedenen Ebenen bei den Verantwortlichen in Politik (Parteien, Parlament, Ministerien) und Universität (Präsidium, Dekanat, Fakultät, Institut, Fachschaft) Überzeugungsarbeit zu leisten, müssen Studienstrukturen entwickelt, Personal bereitgestellt und (Prüfungs-/Zugangs-)Ordnungen erstellt werden, und schließlich müssen potenzielle Studierende informiert und muss für den Studiengang geworben werden. Obwohl wir stets mit Nachdruck auf die Defizite des Allgemeinen hingewiesen haben – also z.B. auf Arbeitsämter/Jobcenter, die bei Migrierten und Geflüchteten deren akademische Bildungsbiographie ignorieren; auf Hochschulen, die Zugänge verhindern; auf Fachdisziplinen, die bestimmte ›Gruppen‹ nicht als Teil der scientific community sehen –, ließ sich nicht vermeiden, immer wieder auch diejenigen in zusammenfassender Weise zu benennen und zu beschreiben, deren Nachteile bei der Fortsetzung ihrer Bildungsbiographie durch unsere Angebote zumindest zum Teil ausgeglichen werden sollten. Dabei haben wir auch hier versucht, stets so zu formulieren, dass individualisierende Defizitzuschreibungen und Vereigenschaftungen vermieden und die strukturellen Zusammenhänge und Zumutungen deutlich werden, mit denen Menschen konfrontiert sind. Ob uns dies gelungen ist? Ob dies erfolgreich war? Die Reaktionen allein an unserer Universität lassen uns immer wieder daran zweifeln. Auf der einen Seite bekommen wir sehr viel Zuspruch und erfahren sehr viel Unterstützung, die mit hohem persönlichem Einsatz und Engagement verbunden ist. Auf der anderen Seite erleben wir nicht selten eine Praxis, die scheinbar unverrückbare Negativzuschreibungen reproduziert und verallgemeinert, gepaart mit einem hohen Maß an Unbeholfenheit. Offenbar sind die dominierenden Diskurse und Praktiken so stark und so weit verbreitet und ist das dabei transportierte soziale ›Wissen‹ so selbstverständlich, dass wir nicht sicher
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sein können, wie unsere eigenen Texte und Informationen, und schon gar nicht, wie unsere Projekte der migrationsgesellschaftlichen Öffnung gelesen und interpretiert werden. Nun ist Rassismus und Nicht-Anerkennung für die Teilnehmenden an unseren universitären Angeboten leider eine Erfahrung, die gewissermaßen allgemeiner ist und nicht nur auf den universitären Kontext beschränkt ist, eher das Gegenteil ist der Fall. Berichtet wird hierüber meist aber eher zögerlich und mit großer Zurückhaltung. In den Interviews zu unserem bereits erwähnten Dokumentarfilm (vgl. Leiprecht/Willems 2017) finden sich Schilderungen in einem Spektrum, das von der Konfrontation mit verbreiteten Stereotypen über Erlebnisse, die mit deutlicher Abwertung und Zugehörigkeitsverweigerung einhergehen, bis hin zur Erfahrung gewaltvoller Übergriffe reicht. So erzählt Marina Baumbach, eine ehemalige Teilnehmerin an der Weiterbildung Kontaktstudium und dann Studierende an der Universität: »Ja, zum Beispiel, okay, die russischen Frauen, die haben nicht so viel im Kopf, sondern sie möchten mit Männern die Zeit verbringen und fertig. Also die Kleidung auch: ›Ja, komisch, kommst Du aus Russland, aber Du trägst also nicht so Minirock‹. Und es ist sehr selten, dass zum Beispiel auf einer Party mich jemand fragt: ›Was trinkst Du?‹ Ja, sofort kommt: ›Wodka. Du kommst doch aus Russland? Wie? Du trinkst keinen Wodka? Also das geht gar nicht, also dann bist Du doch keine Russin.‹«
Blaise Pokos, ein ehemaliger Teilnehmer am und – nach erfolgreichem Studium – späterer Dozent im Kontaktstudium und zugleich Leiter einer Jugendhilfeeinrichtung, beschreibt seine Erfahrungen folgendermaßen: »Also, man geht immer davon aus, dass jemand, der eine dunkle Hautfarbe hat, ’ne schwarze Hautfarbe hat, nicht unbedingt so eine angesehene Position besetzen kann. Teilweise gehe ich mit meinen Mitarbeitern zu einem Termin und die Leute, die uns empfangen, gehen davon aus, dass ich nicht der Chef bin, ja, sondern meine Mitarbeiter sind es.«
Oder: »Mein Sohn kam nach Hause und war wirklich verzweifelt und redet mit mir und sagte: »Papa, sag mal, Du kommst aus dem Kongo und ich nicht.« Ich sagte »Ja.« »Aber warum meinte meine Lehrerin, dass ich aus dem Kongo komme? Wir sollten so ein Projekt machen, so eine Weltmappe und jeder sollte anpinnen, woher er kommt, und ich habe Deutschland angepinnt und die Lehrerin meinte: ›Nein, Du kommst aus dem Kongo.‹«
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Thomas Safari, ein anderer Teilnehmer am Kontaktstudium und späterer Absolvent im BA PHM, berichtet von seiner ersten Zeit als Geflüchteter in Deutschland: »Dann sollte ich zum Arzt gehen, und das war in der Stadt und ich wollte einen Weg dahin finden, aber ich musste jemanden fragen. Erstmal habe ich die Kinder, die zur Schule gingen, gefragt, und die haben auf meinem Zettel gesehen, aber die wussten nicht, wo das war. Danach habe ich ein paar ältere Leute getroffen. Ich habe auf meinen Zettel gezeigt und auf Englisch gefragt, und dann … haben die meinen Zettel zerrissen.«
Solche Erfahrungen, die eher auf interaktiver Ebene stattfinden, werden als irritierend, ignorant, niederschmetternd, erniedrigend und verletzend erlebt; in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich allerdings kaum von Erfahrungen, die auf Effekte eher strukturell-institutioneller Ebene hinweisen und mit (formaler) Nicht-Anerkennung verbunden sind. Noch mal Blaise Pokos: »Als ich meine Aufenthaltserlaubnis bekommen habe und dann erzählt habe, ich habe einen Bachelorabschluss in Philosophie und Theologie aus dem Kongo, da wurde gesagt, das ist hier nichts, das ist wie ein Hobby. Das war meine erste Erfahrung mit einer Nicht-Anerkennung, fast wie eine Erniedrigung und Du bist gar nichts.«
Und noch mal Marina Baumbach: »Mein Diplom, ja habe ich also mehrere Male gehört. Ja, okay, das ist schön, das hast Du in Russland gemacht, aber jetzt sind wir in Deutschland, also kannst Du vergessen. Das fühlt sich nicht so schön an. Also, ich glaube, genau das macht die Menschen kaputt. […] Seitdem ich in Deutschland bin, also die erste Zeit habe ich wirklich eine Krise gekriegt, dass ich gar nichts mit meinem Diplom anfangen kann, und ich dachte, wie, mein Leben ist zu Ende.«
Hier findet nicht nur Verletzung, Entwertung und Verkennung statt, sondern es wird zugleich auch die Zukunft bedroht, indem der Eindruck erzeugt wird, als könne die jeweilige akademische Bildungsbiographie nicht fortgeführt werden – was allerdings leider für viele Migrierte und Geflüchtete, die im Herkunftsland ein Studium begonnen und abgeschlossen haben, tatsächlich auch so ist. Die Erfahrung, diese Biographie – gegen alle Widerstände – dann doch fortsetzen zu können, wirkt oft erleichternd, macht Hoffnung, gibt Perspektive, vermittelt Anerkennung. In den Worten von Thomas Safari:
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»Ja, und dann plötzlich an Uni zu sitzen und das … das kann ich nicht gut beschreiben, aber es war für mich … wie eine Hoffnung, also zu sagen, okay, man kann jetzt noch weiter studieren. Ja, und man wird als gebildeter Mensch in Deutschland behandelt.«
Leider ist aber auch die Universität kein ganz anderer Ort. Manchmal sind Studierende, bei denen deutlich ist, dass sie sehr gut deutsch sprechen, irritiert darüber, im Seminar des Öfteren und mit Nachdruck von Dozent*innen gefragt zu werden: »Haben Sie das auch verstanden?« Vermutlich war die Frage fürsorglich und gut gemeint. Deutlicher ist es, wenn an anderen Instituten unserer Universität durch Kolleg*innen von einem umfänglichen Scheitern der Studierenden des BA PHM aufgrund unzureichender Sprachkompetenzen gesprochen wird, wobei doch faktisch genau das Gegenteil der Fall ist: Bislang hat nur eine einzige Studierende in all den Jahren eine erforderliche Sprachprüfung nicht bestanden. Allerdings wird die ›Phantasie des Scheiterns‹ als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung durchaus auch Realität werden können: wenn im Kontext einer restriktiven Umsetzung der Anforderungen an die Deutschkenntnisse für den Studienzugang sich die Anzahl derer erhöht, die an dieser Praxis dann tatsächlich scheitern. Als Konsequenz wird auch die Studienabbruchquote steigen. Für die Studierenden, aber auch für die Lehrenden im Studiengang äußerst unangenehm sind Verdächtigungen, die uns über den ›kollegialen Flurfunk‹ erreichen: Kommt es hier zu Bevorzugungen bei Prüfungen, werden Qualifikationsarbeiten zu nachlässig und mit zu großer Milde begutachtet? Doch auch unter den Studierenden sind die Erfahrungen mitunter betrüblich: »Schon wieder so viele Ausländer!«, war von Kommiliton*innen in Lehrveranstaltungen zu hören, und einer der Studierenden des BA PHM berichtet: »Die Plätze neben mir bleiben immer frei.« Yasemin Karakaşoğlu, Erziehungswissenschaftlerin und mehrere Jahre auch Prodekanin und Konrektorin an unserer Nachbaruniversität Bremen, machte bei einer Tagung in Oldenburg vor Kurzem deutlich, wie wichtig Kritik und Sensibilität gegenüber Diskriminierung auch an der Universität ist, gerade in Zeiten, in denen rassistische Äußerungen zunehmend salonfähig werden und das Autoritäre und Nationale immer mehr Gehör findet. Dabei mache es gerade der Habitus an der Universität schwierig, Diskriminierungserfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Beobachten lasse sich oft eine reflexhafte Abwehr und Verleugnung, die mit einem zu geringen Wissen über die Formen und Effekte von vermutlich oft auch unbeabsichtigter, nicht selten auch subtiler Einteilung, Zuschreibung und Wertung einhergehe. Auf den verschiedensten Ebenen – der Beratung beim Zugang zur Hochschule, den Mitarbeitenden untereinander, den Lehrenden gegenüber Studierenden, in den Gremien, den Leitungsstrukturen – in der Regel fehle es an einer
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Reflexion der eigenen Involviertheit und des Umgangs damit: »Wir haben viel Unbeholfenheit.« Wir können dieser Einschätzung zweifellos zustimmen. Günstig scheint es uns hier zu sein, dass es ein kennzeichnendes Element der Angebotsstruktur beider Studiengänge – des BA PHM und des BA Pädagogik – ist, dass Systeme und Differenzordnungen wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Altersdiskriminierung und Ableism/Bodyism als explizite Themen in den Modulen einen wichtigen Platz einnehmen. Auf diese Weise lässt sich ein (selbst-)kritisches und auf Wissenschaft bezogenes Reflexionspotenzial aufbauen, das alle angeht. Zentral ist dabei, zu vermitteln, dass eine besondere Aufmerksamkeit für solche Systeme und Differenzordnungen und für deren Funktionen und Mechanismen zu den Kernelementen professionellen Reflektierens und Handelns in der Sozialen Arbeit bzw. Pädagogik gehört: Professionelle in Ausbildung sind auf die Entwicklung eines entsprechenden Sets an Wissen, Reflexionspotenzialen, Fertigkeiten/Fähigkeiten und Haltungen angewiesen. Solche Themen und Inhalte sollten jedoch nicht nur in speziell dafür vorgesehenen Lehrveranstaltungen vorkommen und dort in einer vertieften Weise diskutiert werden. Aus und mit diesen Themen und Inhalten ergeben sich auch Querschnittsaufgaben, die im Prinzip für alle Lehrveranstaltungen gelten. Eine solche professionelle Ausbildung dürfte vor allem dann gute Gelingenschancen haben, wenn in den Lehrveranstaltungen insgesamt respektvolle, wertschätzende und Vertrauen fördernde Umgangsweisen ›gelebt‹ werden, gepaart mit der Unterstützung von Empathie, einem Zuhörenkönnen bei Beiträgen von Studierenden und einer Sensibilität für Vulnerabilität. Dabei müssen wir uns als Lehrende verdeutlichen, dass wir oft nicht nur über einen ›Gegenstand‹ sprechen, sondern die direkt Betroffenen des ›Gegenstandes‹ im selben Raum sitzen und an biographische und aktuelle Erfahrungen erinnert werden. Man spricht hier also auch ›über Menschen‹, wobei diese mit den Thematisierungen möglicherweise schmerzhafte Erlebnisse, die mit Angst, Trauer und Scham besetzt sind, verbinden. Erfahrungen, über die sich wiederum nicht so leicht reden lässt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit einer Lehrveranstaltung, aber auch – ohne ein vertieftes Vertrauensverhältnis – kaum in einer Sprechstunde.39 Hochschullehrende wissen oft nicht, mit wem sie sprechen, wenn sie über etwas sprechen. Es ist deshalb sinnvoll, zu versuchen, Lehrgegenstände stets 39 Geschützte Räume außerhalb der Lehrveranstaltungen sind hier wichtig, in denen Aussprache und Erfahrungsaustausch unter Betroffenen mit ähnlichen Erfahrungen einfacher möglich werden und auf deren Grundlage eine unterstützte Rückmeldung leichter gelingen kann. Auch ist es hilfreich, unter den Lehrenden geeignete Vertrauenspersonen kenntlich zu machen, die besondere Sprechstunden einrichten.
Globale Bildungsbiographien
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so zu präsentieren, zu untersuchen, zu erörtern und zu diskutieren, als ob direkt davon Betroffene anwesend seien.
8. N ACHMACHEN UND P ROBLEME
ÜBERWINDEN
Es dürfte deutlich geworden sein, dass wir als Autor*innen nahe an dem Thema sind, zu dem wir schreiben. Wir formulieren aus einer ›Innensicht‹ heraus, die genaue und detaillierte Beschreibungen möglich macht. Dies ist vorteilhaft, wird aber vor allem dort schwierig, wo es um die Beschreibung problematischer Prozesse geht. So wissen wir, dass das zweistufige Modell in Oldenburg nicht realisiert worden wäre, wenn nicht viele Akteur*innen ein erhebliches Maß an Zeit und Arbeitskraft investiert hätten. Dies ist zu würdigen. Trotzdem kommen wir um Kritik nicht herum. Nicht allen Akteur*innen werden wir damit gerecht. Eine Absicherung und Weiterentwicklung der Angebote ist jedoch nur mit Hilfe einer kritischen Perspektive möglich. Seit der Transformation von einem projektförmig finanzierten Studiengang in ein regelhaftes Angebot ist die Aufmerksamkeit innerhalb der Universität signifikant gestiegen. Dies ist zweifellos positiv. Die Position im ›Scheinwerferlicht‹ zeigt aber auch die ›Baustellen‹, offenbart z.B., • dass Diversität an der Universität nicht mit Harmonie verwechselt werden
sollte, • dass neue Konflikte entstehen, • dass sich ein berechtigter Anspruch auf Partizipation innerhalb des Systems ar-
tikuliert, • dass das sich neu Entwickelnde mit strukturellen Veränderungen und personellen Erweiterungen unterstützt werden muss, • dass auf heterogene Bedarfe sinnvollerweise nicht mit einem besonders stringenten und gleichförmigen Verwaltungshandeln reagiert werden sollte, sondern im Gegenteil Flexibilität und Augenmaß im Einzelfall verlangt sind. Insgesamt gehen wir davon aus, dass die Probleme bewältigbar sind und dass sich dies nicht nur lohnt, sondern angesichts der Geflüchteten und Migrierten, die ihre akademische Bildungsbiographie fortsetzen und erweitern wollen, eine Notwendigkeit ist. Wir appellieren jedenfalls an all unsere Leser*innen, die an Hochschulen und Universitäten arbeiten, in ihren jeweiligen Fächern und Fachbereichen bzw. Fakultäten zu prüfen, ob und in welcher Weise ›vor Ort‹ ähnliche Angebote eingerichtet werden könnten. Dafür stellen wir unsere eigenen Erfahrungen und
220 | Hertlein & Leiprecht
Erkenntnisse zur Verfügung. Wichtige Unterlagen (u.a. auch die Zulassungs- und Zugangsordnung, die Prüfungsordnung, der Studienverlaufsplan) sind ja ohnehin öffentlich zugänglich. In diesem besonderen Ausnahmefall sagen wir als Wissenschaftler*innen sogar: Plagiate, aber sehr gerne.
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Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen Intersektionale Trans*verbündetenschaft für gleiche Teilhabe an Hochschulen1 R ENÉ _ R AIN H ORNSTEIN
Abstract: Wie können Hochschulen für trans- und intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Menschen inklusiv gestaltet werden? In diesem Artikel werden Geschlechtsnormen als normativer Hintergrund der Hochschule diskutiert und grundlegende Begriffe im Kontext von Trans*diskriminierung und geschlechtlicher Vielfalt eingeführt und in Bezug zum Hochschulkontext gesetzt. Formen institutioneller Trans*diskriminierung werden diskutiert und intersektionale Perspektiven auf Gleichstellungsarbeit an Hochschulen aufgezeigt. „Verbündetenschaft“ wird als individuelles Handlungskonzept sowie als institutionelle Aufgabe eingeführt und auf Trans*verbündetenschaft hin konkretisiert. Es werden verschiedene institutionelle Diskriminierungskontexte an der Hochschule aus Trans*perspektive erläutert; im Mittelpunkt stehen dabei Themen wie Benennungen, die Rechtslage, zweigeschlechtliche Architektur wie Toiletten und trans*gerechte Lehre und Forschung. Anschließend werden Empfehlungen für Best Practices an Hochschulen sowohl genannt als auch aus intersektionaler Perspektive kritisiert und Perspektiven kritischer Trans*politik in diesem institutionellen Umfeld formuliert.
1
Ich danke meinen kollegialen Aktivist*innen für ihre Anregungen und ihre Unterstützung. Namentlich nennen möchte ich die im deutschsprachigen Raum tätige AG trans*emanzipatorische Hochschulpolitik und ihre Berliner Regionalgruppe sowie Kai* Brust, Katharina Krämer, Joris A. Gregor, RyLee Hühne und Nadja Schnetzler.
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Keywords: trans*, inter*, nicht-binär, Hochschule, Antidiskriminierung, Gleichstellung, Diversity, Verbündetenschaft, TIN-klusion (Inklusion von trans*, inter* und nicht-binären Menschen)
1. E INLEITUNG 1.1
Überblick über den Artikel
Dieser Artikel ist die Materialisierung von Jahren des alleine und mit anderen Gegen-Mauern-Rennens, um ein Bild von Ahmed (2012) für die Arbeit von Diversity Practitioners zu verwenden. Ich versuche mit diesem Artikel Wissen über den Kampf gegen Trans*diskriminierung an Hochschulen zugänglich zu machen, das ich aus wissenschaftlichen, aktivistischen sowie wissenschaftlich-aktivistischen Quellen beziehe und das sich an denjenigen Stellen aus meinen eigenen Überlegungen speist, an denen ich auf keinen anderen Grundlagen als meinem eigenen Denken aufbauen konnte. Meine Perspektive ist von meiner eigenen Positionalität geprägt: Ich habe keine Intersexualisierungserfahrungen gemacht, halte mich also ohne medizinischen Nachweis über meinen Inter*-Status für eine endosexuelle (also nicht-intergeschlechtliche) Person. Nichtsdestotrotz versuche ich, die Anliegen von intergeschlechtlichen Menschen und Organisationen in Bezug auf den Kontext Hochschule mitzudenken und mitzunennen. Ich mache als weiße Person keine Rassismuserfahrungen und versuche hier auch auf Wissensbildungen von People of Color Bezug zu nehmen. Gleichzeitig merke ich, dass der Diskurs über Trans*diskriminierung an Hochschulen implizit weiß und rassistisch strukturiert ist – zu oft meint »Trans*person« eigentlich eine weiße Trans*person. Seit 2013 setze ich mich aktivistisch für Trans*anliegen ein und bewege mich im öffentlichen und politischen Diskurs als nicht-binäre Person, also als ein Mensch, der sich weder weiblich noch männlich identifiziert. Sicherlich werde ich noch auf anderen Ebenen privilegiert, habe aber nur für diese drei Ebenen zu reflektieren begonnen, wie sie mich beim Schreiben des Artikels geprägt haben. In diesem Artikel werde ich im ersten Kapitel auf Geschlechtsnormen als normativen Hintergrund der Hochschule eingehen und grundlegende Begriffe im Kontext von Trans*diskriminierung und geschlechtlicher Vielfalt einführen und in Bezug zum Hochschulkontext setzen. Auf institutionelle Trans*diskriminierung und intersektionale Perspektiven auf Gleichstellungsarbeit an Hochschulen gehe ich anschließend ein.
Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen
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Im zweiten Kapitel führe ich Verbündetenschaft als individuelles Handlungskonzept sowie als institutionelle Aufgabe ein, wobei ich mich stark auf meine eigene Forschung zu Trans*verbündetenschaft stütze. Verschiedene institutionelle Diskriminierungskontexte erläutere ich aus Trans*perspektive für den Hochschulkontext im dritten Kapitel, dazu gehören beispielsweise Themen wie Benennungen, die Rechtslage, zweigeschlechtliche Architektur wie Toiletten und trans*gerechte Lehre und Forschung. Empfehlungen für Best Practices an Hochschulen werden im vierten Kapitel sowohl genannt als auch gleichzeitig aus intersektionaler Perspektive kritisiert, wobei Dean Spades Ansatz für kritische Trans*politik auf Hochschulen bezogen wird. Im fünften und letzten Kapitel fasse ich zentrale Aspekte zusammen und gebe einen hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft. 1.2
Geschlechtsnormen als normativer Hintergrund der Hochschule »Wenn Dinge institutionalisiert werden, verschwinden sie im Hintergrund. X zu institutionalisieren bedeutet, dass x zur Routine oder so alltäglich wird, dass x Teil des Hintergrunds für diejenigen wird, die Teil einer Institution sind« (Ahmed 2012, S. 21, Übersetzung R.H.2)
Die deutsche Gesellschaft und Kultur sind von den Annahmen durchwirkt, dass jeder Mensch von Geburt an ein ohne Schwierigkeiten binär bestimmbares körperliches Geschlecht hat, dass jede Person eine dauerhafte und sich nicht verändernde Geschlechtsidentität hat, dass es nur zwei Geschlechter gibt und Menschen sich nicht zwischen oder jenseits dieser zwei kulturell bekannteren Geschlechter bewegen können und dass alle Menschen über sexuelles Begehren verfügen, und zwar ausschließlich für das andere von zwei Geschlechtern. Hochschulen sind hier keine Ausnahmen. Diese Annahmen werden unter anderem unter Begriffen wie heterosexuelle Matrix (Butler 1990), Cis-, Zwei- und Kategorialgenderung (hornscheidt 2012) oder binärem Genderdiskurs und verpflichtender Heterogeschlechtlichkeit
2
Im englischsprachigen Originalzitat: »When things become institutionalized, they recede. To institutionalize x is for x to become routine or ordinary such that x becomes part of the background for those who are part of an institution«, Ahmed 2012, S. 21.
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(Nicolazzo 2017, Übersetzung R.H.3) diskutiert. Ich möchte in diesem Artikel eine Argumentation von Z Nicolazzo (2017, S. 108) aufgreifen, die sich auf die zweigeschlechtliche Cisnorm bezieht. Diese Norm beinhaltet, dass sich Personen ein Leben lang mit dem einen von zwei der bekannteren Geschlechter identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde. Diese zweigeschlechtliche Cisnorm ist Teil des von Ahmed benannten institutionalisierten Hintergrundes an der Hochschule. Für Trans*menschen, also Personen, »die sich ihrem zugewiesenen […] Geschlecht nicht oder nur eingeschränkt zugehörig fühlen« (Meyer 2015b, S. 202), rückt dieser Hintergrund brutal in den Vordergrund, wenn sie sich mit ihren von den Personendokumenten abweichenden Wünschen bezüglich Vornamen, geschlechtsbezogener Anrede und eingetragenem Geschlecht an der Hochschule zu erkennen geben und die Hochschule auf diese Wünsche nicht eingeht. Der Oberbegriff Trans*menschen umfasst sowohl binäre Transidentitäten (also Personen, die sich ausschließlich als Männer oder Frauen fühlen) als auch nicht-binäre Transidentitäten (vgl. Franzen & Sauer 2010, S. 7; für weitere Begrifflichkeiten in diesem Themenfeld siehe auch Hornstein 2017b, S. 12ff.). Als nicht-binär oder nonbinär bezeichnen sich Menschen, die sich der »Zweiteilung« von Geschlecht entziehen (Hübscher 2016a). Sie sehen »sich nicht in den Kategorien ›Frau‹ oder ›Mann‹ repräsentiert« (Absatz 1). Es handelt sich bei dem Wort »nicht-binär« um einen Oberbegriff für verschiedene nicht-binäre Geschlechtsidentitäten, denen gemein ist, dass sich eine Person »nicht in das herkömmliche, streng zweigeteilte Geschlechtersystem einordnen kann oder will« (Hübscher 2016b, Absatz 4). Die oben beschriebene Situation kann auch für intergeschlechtliche Menschen eintreten, die »in einem Körper geboren [sind], der den normativen Vorstellungen von männlich/Mann und weiblich/Frau nicht entspricht« (IVIM/OII Deutschland 2018). Dies passiert, wenn sie mit Wünschen bezüglich Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität oder ihres Namens an ihre Hochschule herantreten, diese aber von ihren Personendokumenten abweichen. Es ist wichtig festzuhalten, dass intergeschlechtliche Menschen sich als binär oder als nicht-binär identifizieren können: »Inter*Menschen können, wie alle Menschen, eine männliche, weibliche, trans* oder nicht-binäre Identität haben« (IVIM/OII Deutschland 2018). Ein zentraler Aspekt ist hier, dass das körperlich zugeordnete Geschlecht nicht mit der Geschlechtsidentität verknüpft sein muss. Eine Person, die einem binären körperlichen Geschlecht zugeordnet wurde, kann sich mit dem anderen binären Geschlecht oder einem nicht-binären Geschlecht bzw. keinem Geschlecht identifizieren. Ebenso kann eine intergeschlechtliche 3
Originalzitat: »gender binary discourse und compulsory heterogenderism«, Nicolazzo 2017, S. 5.
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Person, die bei der Geburt nicht-binären bzw. intergeschlechtlichen Geschlechtskategorien zugeordnet wurde, sich binär oder nicht-binär identifizieren. In diesem Kontext äußert die US-amerikanische Organisation intergeschlechtlicher Menschen OII USA (o.J.) den Wunsch nach einer Koalitionsbildung, und zwar explizit mit nicht-binären Trans*personen. OII USA betont, dass »intergeschlechtliche Menschen dasselbe Spektrum von Geschlechtsidentitäten aufweisen wie nicht-intergeschlechtliche Menschen, was bedeutet, dass manche von uns nicht-binäre Geschlechtsidentitäten haben, die mit unseren Körpern übereinstimmen« (OII USA, o.J., Absatz 1, Übersetzung R.H.;4 vgl. Hornstein 2017b, S. 19).
Binäre wie nicht-binäre trans- und intergeschlechtliche Menschen werden also sowohl in der gesamten Gesellschaft als auch an der Hochschule immer wieder mit diesen starken Normen konfrontiert. Für andere Menschen besteht eine alltägliche, strukturell angelegte Konfrontation mit diesen Normen nicht, nämlich einerseits für cisgeschlechtliche Menschen, also Nicht-Trans*menschen (vgl. für eine Begriffsgeschichte Enke, 2012, S. 20), andererseits für Menschen, die nicht intergeschlechtlich sind (Begriffe für nicht intergeschlechtlich sind endosexuell bzw. dyadisch; vgl. für einen kurzen begriffsgeschichtlichen Überblick Hornstein 2017b, S. 19). Für cisgeschlechtliche und endosexuelle Menschen werden diese Normen als institutionalisierter Hintergrund der Hochschule entwahrnehmbar gemacht (vgl. hornscheidt 2012) und sind somit Teil eines normalisierten, unsichtbaren Alltags. 1.3
Kultur der Cisgeschlechtlichkeit und institutionelle Trans*diskriminierung
Es ist wichtig, verschiedene Ebenen dieser cisnormativen Unterdrückung zu unterscheiden. Nicolazzo (2017, S. 32) zitiert die Definition von Hardiman und Jackson (2007, S. 39), nach der Unterdrückung ein
4
Originalzitat: »interex [sic, R.H.] people have the same range of gender identities as non-intersex people, which means that some of us have nonbinary gender identities which match our bodies«, OII USA, o. J., Absatz 1.
230 | Hornstein »verschränktes Mehrebenensystem ist, das soziale Macht zum Nutzen der Mitglieder privilegierter Gruppen konsolidiert und […] aus drei Ebenen besteht: (a) individuell, (b) institutionell und (c) sozial/kulturell« (Übersetzung R.H.5).
Auf individueller Ebene wird Trans*diskriminierung in Diskriminierungshandlungen von Person zu Person ausgeübt. Institutionen trans*diskriminieren vor allem durch Abläufe und Richtlinien, zum Beispiel über Verwaltungsvorschriften, die es erschweren, den eigenen Geschlechtseintrag in Personendokumenten zu ändern (vgl. Nicolazzo, S. 32). Auf kultureller bzw. struktureller Ebene gibt es eine Sammlung von »Werten, die Institutionen und Individuen binden, was Lebensphilosophien, Definitionen von gut und schlecht, Schönheit, Gesundheit, Abweichung, Krankheit und Perspektiven auf Zeit beinhaltet« (Hardiman und Jackson 2007, S. 40, zitiert nach Nicolazzo 2017, S. 32, Übersetzung R.H.6).
Diese kulturelle bzw. strukturelle Ebene wirkt sich laut Nicolazzo auch auf den »Ethos der Trans*exklusion« der Institution aus (2017, S. 140). Die cisnormative, trans*diskriminierende Kultur der deutschen Gesellschaft äußert sich also in ihren Institutionen und deren Ethos, wie zum Beispiel in der Institution Hochschule. Studien zur Trans*diskriminierung (vgl. Hornstein 2017, S. 28ff.) machen deutlich, dass Trans*menschen im Vergleich zu Schwulen, Lesben und Bisexuellen dreimal so häufig von Hassverbrechen betroffen sind (Turner, Whittle und Combs 2009, zitiert nach Franzen & Sauer 2010, S. 58). Strukturelle Diskriminierung von Trans*menschen in Deutschland findet auf juristischer Ebene statt, wenn es Trans*menschen »aufgrund ihres Trans*Status […] nicht möglich ist, ihren Namen oder ihren Geschlechtseintrag zu ändern, und ihnen dadurch die rechtliche Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität fehlt« (ebd., S. 27).
5
Originalzitat: »an interlocking, multileveled system that consolidates social power to the benefit of members of privileged groups and … consists of three levels: (a) individual, (b) institutional, and (c) social/cultural«.
6
Originalzitat: »values that bind institutions and individuals, [including] philosophies of life, definitions of good and evil, beauty, health, deviance, sickness, and perspectives on time, just to name a few«.
Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen
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Dies gilt für nicht-binäre Trans*menschen, für die nur beschränkte und hürdenreiche rechtliche Anerkennungsmöglichkeiten über das Personenstandsgesetz bereitstehen, ebenso wie für alle Trans*menschen, die sich den demütigenden, belastenden und kostspieligen Prozeduren, die das deutsche Transsexuellengesetz vorsieht, nicht aussetzen wollen. Des Weiteren wird durch die standardisierte medizinische Diagnostik und Behandlung von Trans*menschen strukturelle Diskriminierung ausgeübt. Franzen und Sauer (2010) beziehen sich auf Rauchfleisch (2007, zitiert nach Franzen & Sauer 2010, S. 29), der »die Zuweisung eines Krankheitsstatus« durch die Diagnose Transsexualität und die »daraus resultierende Einschränkung der Autonomie von Trans*Personen«, indem sie abhängig von »Gutachter_innen und anderen Instanzen« gemacht werden, als Diskriminierung benennt. Die Konfrontation mit dem Gesundheitsversorgungssystem ist für viele Trans*menschen »mit psychischen Belastungen verbunden« (Meyer 2015b, S. 206). Die Fremdbestimmung, die mit der gegenwärtigen Hilfestruktur zwangsweise verbunden ist, führt zu einem »Leiden am Hilfesystem« (ebd.) anstelle einer bestärkenden Unterstützung bei der geschlechtlichen Selbstbestimmung. Meyer (2015a, S. 75-77) zeichnet die »strategische Psychopathologisierung« von Trans*personen in Deutschland nach und stellt einen »Vereindeutigungsdruck« fest. Sowohl die Studie von Fuchs, Ghattas, Reinert und Widmann (2012) als auch die Untersuchung von LesMigraS (2012, S. 23) kommen zu dem Schluss, dass für Menschen, die »von ihrem Umfeld als geschlechtlich uneindeutig wahrgenommen« werden, ein »erhöhtes Risiko« besteht, »diskriminiert und benachteiligt zu werden« (Fuchs et al. 2012, S. 13). Darüber hinaus sind Trans*menschen auch »überdurchschnittlichen gesundheitlichen Belastungen« ausgesetzt (Franzen & Sauer 2010, S. 51ff.), werden im Bildungssystem benachteiligt (S. 54f.), erleben Diskriminierungen und Gewalt im Bereich Wohnen (S. 55) und machen Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung im sozialen Bereich (dies umfasst das soziale Umfeld, Familie, öffentliche Räume, Freizeit und Sport sowie soziale Einrichtungen, S. 56f.). Trans*menschen ohne deutschen Pass und insbesondere ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland werden große Hindernisse in den Weg gelegt, wenn sie medizinisch oder juristisch transitionieren wollen (S. 60).
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1.4
Verschränkungen berücksichtigen: Intersektionale Gleichstellungspolitik wagen
Verschärft und komplexisiert wird diese Thematik noch durch die Berücksichtigung weiterer Diskriminierungsdimensionen, die mit Trans*diskriminierung verwoben sind. Saadat-Lendle (2012, S. 8) stellt fest, dass »die Interessen, Bedürfnisse und Probleme mehrfachzugehöriger Menschen gleichgeschlechtlicher Lebensweise bzw. Trans*Menschen« kaum »öffentliche Aufmerksamkeit« erhalten. Es fehle an einem Verständnis der »Vielfalt an gleichgeschlechtlichen und trans* Lebensweisen und Mehrfach-Diskriminierungserfahrungen« (S. 7), was sich zum Beispiel darin äußere, dass rassistische Diskriminierung, Diskriminierung aufgrund von Behinderung/Beeinträchtigung (Ableismus) oder aufgrund des sozialen Status oder der sozialen Herkunft (Klassismus) »selten mit Erfahrungen von Gewalt und Diskriminierung von Menschen mit gleichgeschlechtlichen und Trans*Lebensweisen in Verbindung gebracht« werden (ebd.). In diesem größeren Kontext finden sich Trans*- und intergeschlechtliche Menschen an Hochschulen wieder, die zwar als selbstverwaltete Institutionen die gestalterische Freiheit haben, antidiskriminatorische Maßnahmen zu ergreifen, aber diese kaum nutzen. So hat beispielsweise Natasha A. Kelly detaillierte Vorschläge für die Humboldt-Universität Berlin dazu vorgelegt, wie eine intersektionale Gleichstellungspolitik an Hochschulen aussehen kann (Kelly 2014b). Sie fordert die Einrichtung einer horizontalen Gleichstellungsstruktur, an deren Spitze nicht eine Zentrale Gleichstellungs- bzw. Frauenbeauftragte steht (dies bezeichnet sie als »vertikalen Ansatz«, Kelly 2014a, S. 104), sondern eine Stabsstelle, die aus einer Reihe von zentralen Beauftragten bzw. eigenen Stellen für verschiedene Diskriminierungsbereiche besteht, inklusive z.B. einer zentralen Rassismusbeauftragten (ebd., S. 107) bzw. einer Stelle für antirassistische Arbeit. Der horizontale Ansatz berücksichtigt, dass »bestimmte Diskriminierungen gleichermaßen schutzwürdig sind, sich überschneiden oder ganz spezifische Formen annehmen können« (ebd., S. 104). Dies steht im krassen Gegensatz zur gegenwärtigen Antidiskriminierungsstruktur an deutschen Hochschulen, die »keinen umfassenden Diskriminierungsschutz für alle Menschen, die von Diskriminierungen betroffen sind,« bietet (ebd., S. 104). Für die zentrale Rassismusbeauftragte stellt Kelly fest, dass sie sowohl über »hinreichendes Fachwissen« (ebd., S. 103) als auch über »das notwendige Erfahrungswissen« (Kelly 2014a, S. 103) verfügen müsse. Es wäre also widersinnig, wenn eine weiße Frau diese Stelle besetzen würde, weil ihr das Erfahrungswissen rassistischer Diskriminierung fehlen würde.
Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen
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Ähnliche Analysen wie die Kellys zu der problematischen Organisation der Gleichstellungsstrukturen der Hochschulen in Bezug auf Rassismus fehlen bisher zum Thema Trans*feindlichkeit im deutschen Kontext. Ich stelle jedoch die These auf, dass die gegenwärtige Struktur der Gleichstellungspolitik an Hochschulen die Bedürfnisse und Interessen von trans- und intergeschlechtlichen Menschen weder eindimensional adressiert noch der Verschränkung von mehreren Diskriminierungsformen allgemein gerecht wird. Das Anliegen des vorliegenden Artikels ist es deshalb, im Sinne eines Impulses für interessierte Leser*innen eine intersektionale Praxis der Unterstützung, der Gleichstellung und des Empowerments von trans- und intergeschlechtlichen Menschen an Hochschulen zu skizzieren und ein erstes Verständnis von Problemfeldern zu schaffen, mit denen trans- und intergeschlechtliche Menschen an Hochschulen alltäglich umgehen müssen. Im folgenden zweiten Kapitel erläutere ich Verbündetenschaft als individuelles Handlungskonzept und als institutionelle Aufgabe. Anschließend gehe ich im dritten Kapitel auf verschiedene spezifische institutionelle Trans*diskriminierungskontexte an Hochschulen ein. Im vierten Kapitel nenne ich Best Practices und intersektionale Kritiken am Best-Practice-Konzept und schließe im fünften Kapitel mit zusammenfassenden Betrachtungen.
2. V ERBÜNDETENSCHAFT ALS INDIVIDUELLES H ANDLUNGSKONZEPT UND ALS INSTITUTIONELLE A UFGABE Zur Unterstützung von diskriminierten Gruppen hat Anne Bishop (2015) theoretische Grundlagen für ein Konzept der Verbündetenschaft geschaffen. Ihr zufolge sind Verbündete »Menschen, die unverdiente Privilegien erkennen, also solche, die ihnen aufgrund von gesellschaftlichen Mustern der Ungerechtigkeit zugewiesen werden, und die Verantwortung dafür übernehmen, diese Muster zu ändern« (Bishop o.J., Übersetzung R.H. 7).
Aus dieser theoretischen Perspektive auf Verbündetenschaft bzw. Allyship werden Menschen durch gesellschaftliche Muster der Ungerechtigkeit Privilegien zuteil, die sie vor Diskriminierung schützen und die unverdient sind.
7
Originalzitat: »Allies are people who recognize the unearned privilege they receive from society’s patterns of injustice and take responsibility for changing these patterns.«
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Dabei werden diese Privilegien entlang der Positionierung der jeweiligen Person in Bezug auf die verschiedenen Diskriminierungsdimensionen verteilt. Zum Beispiel werde ich (also R.H.) durch Rassismus privilegiert und durch Trans*feindlichkeit diskriminiert. Ich strebe dementsprechend also danach, in Bezug auf Rassismus als weiße Person mit Schwarzen Menschen und People of Color verbündet zu handeln. Gleichzeitig wünsche ich mir als Trans*person verbündetes Handeln von cisgeschlechtlichen Menschen. Bishop (2015, S. 45ff.) geht davon aus, dass Menschen durch ihr Aufwachsen in dieser Gesellschaft diskriminierende bzw. unterdrückende Inhalte (wie Stereotypen, Klischees etc.) internalisieren. Jeder Mensch steht unabhängig von den eigenen Positionierungen in Bezug auf Privilegierungen und Diskriminierungen vor der Herausforderung, sich selbst von dieser verinnerlichten Unterdrückung zu befreien (S. 91f.). Für Bishop (2015) ist die Voraussetzung dazu, Verbündete*r zu werden, aktiv an dem eigenen Befreiungs- und Emanzipationsprozess zu arbeiten (S. 92). Die Arbeit von Verbündeten lässt sich meiner Einteilung nach drei Bereichen zuordnen: erstens der Arbeit von Verbündeten an sich selbst und dem eigenen Wissen und Verhalten, zweitens dem Umgang von Verbündeten mit anderen privilegierten Menschen, Gruppen und Institutionen und drittens dem Umgang von Verbündeten mit unterdrückten Menschen. Eine ausführliche Übersicht hierzu findet sich in Hornstein (2017b, S. 33-41); an ihr orientiert sich das vorliegende Kapitel. Verbündetenschaft ist also ein individuelles Handlungskonzept, mit dem Menschen Verantwortung für ihre Privilegien übernehmen können. Kritisch an der Rezeption von Verbündetenschaft wird gesehen, dass es als ein zu sehr individualisiertes Konzept verstanden werde, welches in der Rezeption teilweise sogar als statische Identität interpretiert wird (Bishop 2015, S. 103; vgl. auch Hornstein 2017b, S. 39ff.). Bishop (2015) betont, dass Allyship keine Identität sei, um Schuld zu erleichtern, sondern dass es sich um einen kollektiven Prozess der Verantwortungsübernahme für Privilegierung handele,8 der von denen geführt werde, die Zielscheibe dieser Form von Unterdrückung sind (Bishop 2015, S. 103). Dies müsse eine starke Verwurzelung in einer strukturellen Analyse von Unterdrückung beinhalten (ebd.). Bishop stellt ihren Überlegungen zu Verbündetenschaft mit Menschen (2015) auch Überlegungen zur Beendigung von Unterdrückung in
8
Originalzitat: »a collective process of taking responsibility for privilege«.
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Institutionen (2005) zur Seite, die sie als komplementär zur Allyship versteht. Verbündetenschaft beinhaltet immer eine systemische Perspektive, die darauf gerichtet ist, strukturelle Unterdrückung langfristig zu beenden.9 Zentrale Aspekte von Trans*verbündetenschaft aus meiner Interviewstudie (Hornstein 2017b, S. 83ff.) beinhalten eine akzeptierende, unterstützende Grundhaltung gegenüber Trans*menschen mit Respekt, Akzeptanz, Verständnis und Rücksichtnahme. Ferner waren positive Emotionen in Bezug auf Trans*menschen thematisch: Von mir interviewte Trans*menschen wünschten sich, dass Menschen in ihrer Umgebung positive Erinnerungen im Kontakt mit Trans*menschen schaffen. Sie wünschten sich von Verbündeten, dass sie keine Angst vor oder um Trans*menschen haben und keine Aufregung wegen Ihnen oder Besorgnis um sie empfinden. Auf der Ebene von Wissen und Denken über Transidentität wünschten Trans*personen sich von Verbündeten ein offenes, ganzheitliches und umfassendes Denken über Trans*menschen ohne Stereotypen und ohne Reduktion auf den Körper (Hornstein 2017b, S. 84). Sie eignen sich Wissen über Transidentität auf trans*freundliche, nicht ausnutzende Weise an und hinterfragen normatives Wissen über Geschlecht und anderes vermeintlich Selbstverständliches. Verbündete sollen mit ihren Privilegien reflektiert umgehen und diese für Trans*menschen einsetzen. Transidentität ist ein Bestandteil des Alltags, und ein adäquater Umgang mit ihr bedarf der Entwicklung eines entsprechenden Bewusstseins für Trans*diskriminierung. Von Verbündeten wünschten sich die Interviewten, dass sie verstehen, dass Namen, Pronomen, Geschlechtsidentität und Aussehen bei einem Menschen voneinander unabhängig sind und nicht in einem linearen Zusammenhang stehen müssen. Verbündete sollen ein differenziertes Verständnis von Transition entwickeln und Wissen und Bewusstsein zu verschiedenen weiteren Diskriminierungsformen neben Trans*diskriminierung (z.B. Rassismus oder Sexismus) entwickeln. Trans*verbündetenschaft schließt auf Verhaltensebene selbstverständlich Gewalt gegenüber und Diskriminierung von Trans*menschen aus. Schockierend ist, dass die von mir interviewten Trans*menschen sich von Menschen in ihrer Umgebung wünschten, keine Gewalt und Diskriminierung zu erleiden (Hornstein
9
Über Verbündetenschaft mit Trans*menschen sind im deutschsprachigen Raum die Monographie »Begegnungen auf der Trans*fläche« vom kollektiv sternchen & steine (2012) sowie eine Reihe von Texten im Kontext von Trans*beratung erschienen (Fritz 2013; Günther 2015; Meyer 2015a, 2015b; Netzwerk Trans*-Inter*-Sektionalität 2014; pro familia Bundesverband 2016). Ich selbst habe hierzu eine Interviewstudie mit Trans*menschen durchgeführt (Hornstein 2017b).
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2017b, S. 85). Die Interviewten wünschten sich positive und harmonische Interaktionen mit dem Umfeld sowie Beteiligung, Nähe und Verbundenheit. Verbündete sollen im Gespräch gut zuhören können, offen für Kritik sein und unbefriedigende Antworten akzeptieren können. Als aktive GesprächspartnerInnen sollen Verbündete ihre eigene Neugierde kontrollieren und das eigene Vorstellungsvermögen für ein angemessenes Gesprächsverhalten einsetzen. Bestimmte Fragen, die in die persönliche Sphäre eindringen, wie z.B. Fragen zu Identität, Körper, Intimsphäre oder gar Genitalien und Sexualität haben in alltäglichen Begegnungen nichts zu suchen und können ausschließlich in einem vertrauten Verhältnis ausgetauscht werden, sonst sind sie übergriffig. Manche Interviewten wollten zum Beispiel nicht direkt auf ihre Transidentität angesprochen werden, sondern wünschten sich, dass die Umgebung wartet, bis sie das Thema selbst ansprechen. Es gab den Wunsch, andere Themen außer Transidentität anzusprechen und keine unangenehmen, zu viele oder zu intime Nachfragen zu stellen. Zugleich können die Begegnungen mit Cisverbündeten ein Entwicklungs- oder Lernpotenzial insofern in sich bergen, als sie das allgemeine, nicht auf die persönliche Sphäre bezogene Wissen über den Umgang mit Trans*menschen vertiefen. Grundsätzlich geht es allerdings darum, Gesprächspartner*innen nicht auf ihre Transidentität zu reduzieren. Nachfragen nach bestimmten Themen waren in Ordnung: Wünsche an Verbündete waren, interessengeleitet zu fragen, Verständnisnachfragen zu stellen und danach zu fragen, was sich Trans*menschen bezüglich des Umgangs und der Gesprächsthemen wünschen. Von manchen Interviewten wurde der Wunsch geäußert, nur das Notwendigste über die Transidentität de*r Gesprächspartner*in zu kommunizieren und, wenn es unbedingt sein muss, brennende Nachfragen auf respektvolle und nicht auf die Transidentität reduzierende Weise zu stellen. Wenn bereits Vertrauen in der Beziehung besteht, sind Nachfragen zur Transidentität auch in Ordnung. Den Interviewten war es wichtig, dass Menschen in der Umgebung keine Fremdbeschreibungen, Unterstellungen oder Zuschreibungen vornehmen und keine ungefragten Bewertungen abgeben. Es wurde sich von Verbündeten gewünscht, dass sie Verantwortung für ihr eigenes diskriminierendes Handeln übernehmen, wenn es auftritt, und sich angemessen dafür entschuldigen. Verbündete sollen Unterstützung auf individualisierte Weise geben und bestärken, wozu gehört, nachzufragen, was die Trans*person an Unterstützung braucht. In Diskriminierungssituationen (verbaler oder körperlicher Art) hat eine Intervention und gegebenenfalls Schutz eine wichtige Bedeutung. Es ist wichtig, dass Verbündete realisieren, dass die Definitionshoheit über ihren Verbündetenstatus nicht bei ihnen selbst liegt, sondern nur die Trans*menschen in ihrer Umgebung
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beurteilen können, inwiefern oder ob sie verbündet handeln. Es handelt sich dabei um ein Engagement, das nicht mit Erwartungen an Belohnungen von Trans*menschen für unterstützendes Verhalten einhergeht (und sei es schlicht Lob), sondern in ein grundsätzliches Interesse an intersektional verstandener Antidiskriminierungsarbeit für Veränderungen der Welt eingebettet ist. Die vorangegangenen Überlegungen beziehen sich insbesondere auf die zwischenmenschliche Ebene von Trans*verbündetenschaft. Im folgenden Teil soll es nun darum gehen, strukturelle Diskriminierungen von Trans*menschen im Hochschulkontext aufzuzeigen. Die Frage nach Verbündetenschaft stellt sich hier dann auf neue Weise: Welche Handlungsmöglichkeiten stehen Institutionen und Hochschulangehörigen zur Verfügung, um etwas an diesen systemisch bedingten Diskriminierungsquellen zu ändern?
3. H OCHSCHULEN AUS T RANS * PERSPEKTIVE : I NSTITUTIONELLE D ISKRIMINIERUNGSKONTEXTE An die Überlegungen zu Trans*verbündetenschaft im zweiten Kapitel anknüpfend soll im folgenden dritten Kapitel auf verschiedene Aspekte des Hochschullebens in ihrer Diskriminierungsrelevanz für Trans*menschen eingegangen werden, wobei das Ziel immer darin besteht, konkrete Perspektiven für verbündetes Handeln aufzuzeigen. Trans*exklusion im Bildungssystem bis zur Hochschule und auf dem Arbeitsmarkt spielen vor einem Hochschulstudium oder einer Tätigkeit an der Hochschule eine zentrale Rolle (Abschnitt 3.1). Die Frage nach der Betroffenheit von Trans*diskriminierung ist gemeinsam zu diskutieren mit der Problematisierung von Trans*definitionen und dem Drang nach dem Zählen von Trans*menschen (3.2). In Abschnitt 3.3 werden Probleme bei der selbstbestimmten Benennung von Trans*menschen an Hochschulen aufgezeigt, und in Abschnitt 3.4 werden rechtliche Grundlagen für Zeugnisse und Hochschulbescheinigungen dargestellt. Auf Abwehrargumentationen in Bezug auf die informationstechnischen Infrastrukturen der Hochschulen wird in Abschnitt 3.5 eingegangen. Toiletten als Beispiel für Zweigeschlechtlichkeit in Architektur und Raumbenennungen werden in Abschnitt 3.6 unter Gesichtspunkten der Trans*inklusion diskutiert, während der Hochschulsport in seiner binären Organisation in Abschnitt 3.7 erörtert wird. Zum Perspektivwechsel will Abschnitt 3.8 anregen, in dem deutlich gemacht wird, dass Trans*menschen an Hochschulen kein Problem sind, das gemanagt werden müsste, sondern dass sie Menschen sind, die dem
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Problem Trans*diskriminierung trotzen. Kapitel 3 wird mit Abschnitt 3.10 abgeschlossen, in dem Anregungen für eine trans*gerechte Lehre und Forschung gegeben werden. 3.1
Trans*menschen und Zugang zu Hochschulen – Trans*exklusion im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt
Zuallererst stellt sich die Frage nach dem Zugang von Trans*menschen zu Hochschulen: Nach Diskriminierungserfahrungen in Kindergarten und Schule ist überhaupt fraglich, ob Trans*personen sich trotz der ihnen in den Weg gelegten Hürden die notwendigen Bildungsabschlüsse erarbeiten können, um Zugang zu einem Hochschulstudium zu erlangen. Die Kultur der Trans*exklusion, die alle Bildungsinstitutionen durchzieht, wirkt bereits sehr früh (vgl. Sauer und Meyer 2016) und trägt dazu bei, dass Trans*menschen im Bildungssektor und auf dem Arbeitsmarkt massiven Diskriminierungen ausgesetzt sind (vgl. Beemyn 2012; Franzen & Sauer 2010; Frohn & Meinhold 2017; Senatsverwaltung für Arbeit, Integration, Frauen – LADS Berlin o.J.). Damit Hochschulen inklusiver für LSBTIQ-Studierende werden können, fordert Park, bereits an Schulen Mobbing und LSBTIQ-bezogene Belästigung zu bekämpfen (2016, S. 34), unter anderem mithilfe einer Gesetzgebung, die sich auf die Sicherheit der Schüler*innen vor Mobbing und Belästigung bezieht und dabei explizit transgeschlechtliche Schüler*innen berücksichtigt (ebd.). Manche Trans*menschen entscheiden sich während des Studiums für eine Transition und sind dann mit den hochschuleigenen Hürden konfrontiert, in ihrer Geschlechtsidentität anerkannt zu werden. Hier besteht die Gefahr, das Hochschulstudium gar nicht abzuschließen, sondern aufgrund der erlebten Diskriminierungen das Studium abzubrechen. Dies ist dann mit einer erhöhten Armutsgefährdung verbunden (vgl. Beemyn 2012), die natürlich potenziert ist, wenn das Bildungssystem durch transitionsbezogene Diskriminierungen bereits im Schulalter verlassen wird. Wenn dann Trans*menschen ihr Hochschulstudium abschließen, sind sie einer erhöhten Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt (Franzen & Sauer 2010; Frohn & Meinhold 2017). Laut dem Berliner Projekt Trans* in Arbeit (Senatsverwaltung für Arbeit, Integration, Frauen – LADS Berlin o.J.) arbeiten viele Trans*personen unter ihrer Qualifikation (ebd., S. 6), haben nur 25-30 % der Trans*menschen eine Vollzeitbeschäftigung (S. 16), verdient fast die Hälfte der berufstätigen Trans*personen weniger als 25.000€ im Jahr (S. 8) und erleben 1330 % der Trans*menschen Diskriminierung im Bewerbungsverfahren (S. 10).
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3.2
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Wer ist von Trans*diskriminierung betroffen? Trans*menschen zu zählen löst das Problem nicht »Wen betrifft Trans*diskriminierung eigentlich? Ist es ein gravierendes Problem? Wenn es viele Hochschulangehörige betrifft, muss es wichtig sein. Wie kann die Anzahl an Trans*menschen an einer Institution erhoben werden?«
Möglicherweise sind dies Fragen, die sich um Gleichstellung und Antidiskriminierung an Hochschulen bemühte Akteur*innen stellen, wenn sie sich mit Trans*diskriminierung auseinandersetzen. Ein verbreiteter Gedanke ist, dass ein Problem von hoher Bedeutung ist, wenn viele Menschen davon betroffen sind. An diesem Gedanken möchte ich hier zwei Aspekte hinterfragen: Erstens ist ein zentraler Punkt von Antidiskriminierungsgesetzgebung, dass sie sich nicht an Zahlenverhältnissen orientiert, sondern eine Angleichung der Teilhaberechte einer marginalisierten Gruppe an den Mainstream unabhängig von ihrer Größe vorgibt (vgl. AGG sowie UN- und EU-Gesetzgebung in Hinblick auf geschlechtliche Gleichstellung). Das bedeutet, die Stärkung von Trans*rechten an Hochschulen ist nicht zu aufwändig, selbst wenn sie nur eine Trans*person an einer Hochschule mit 10.000 Hochschulangehörigen betreffen sollte. Zweitens möchte ich die Frage der Betroffenheit durchdenken. Eine mögliche Antwort auf die Frage, wer von Trans*diskriminierung betroffen ist, könnte lauten: »Trans*menschen oder die, die dafür gehalten werden« (vgl. Pohlkamp 2014). Sie sind sicherlich in erheblichem Maße negativ von Trans*diskriminierung betroffen. Die rigiden Geschlechtsnormen, die unsere Gesellschaft durchziehen, berühren jedoch alle Menschen. Cisgeschlechtliche Menschen sind in positiver Weise von Trans*diskriminierung betroffen, denn sie profitieren von ihr, z.B. dadurch, dass sie keine Barrieren an ihrer Bildungsteilhabe in ihren Weg gestellt bekommen. Ein zentrales Argument von Nicolazzo lautet deswegen, dass trans*verbündet handeln wollende Akteur*innen im Hochschulkontext realisieren und kommunizieren sollten, dass alle Menschen von binären Geschlechtsnormen beeinflusst werden (2017, S. 143). Nicolazzo schlussfolgert hieraus, dass die Arbeit, sich gegen Trans*diskriminierung einzusetzen, von cisgeschlechtlichen Hochschulangehörigen geleistet werden sollte, denn der negative Effekt von binären Geschlechtsnormen sollte nicht hauptsächlich von denjenigen bekämpft werden, die am stärksten unter ihnen leiden (also Trans*- und Inter*menschen), sondern von denen, die gleichzeitig von
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ihnen (positiv) betroffen sind und durch sie privilegiert werden (Nicolazzo 2017, S. 143). Die Privilegierung durch Cisnormativität geht einerseits mit materiellen und gesundheitlichen Vorteilen einher (zur u.a. ökonomischen und gesundheitlichen Diskriminierung von Trans*menschen siehe Abschnitt 3.1 und Franzen und Sauer 2010) und beinhaltet andererseits meinen eigenen Überlegungen zufolge eine Reihe von psychologischen Nachteilen. Die Forschung zu psychologischen Folgen von Cisidentität steckt noch in den Anfängen, jedoch ist in Analogisierung mit Forschung zu weißer Identitätsentwicklung (Helms 1990; Kivel o.J.; Kivel 2017) anzunehmen, dass Cispersonen über einen Mangel an Empathie gegenüber Trans*menschen, ein verzerrtes Selbstbild (als neutral und unbetroffen von Geschlechtsnormen) sowie eine geringere Flexibilität in der Integration von Persönlichkeitsanteilen verfügen, die nicht mit binären Geschlechtsrollen konform sind. Wenn sich vor allem Cismenschen gegen die cisnormative Hochschulstruktur und -kultur einsetzen und die Bürde des Kampfes gegen Trans*diskriminierung mit Trans*hochschulangehörigen teilen, entsteht für Trans*menschen an Hochschulen ein u.a. energetischer Freiraum, sich auf die eigene Tätigkeit an der Hochschule zu konzentrieren und sich um Selbstsorge angesichts alltäglicher Trans*diskriminierung am Hochschulort zu kümmern. Zentral an dieser Überlegung ist für Nicolazzo, dass sich Cismenschen in ihrem Einsatz gegen Cisnormativität an den »Narrativen, Erfahrungen und Bedürfnissen von Trans*studierenden« (2017, S. 143, Übersetzung R.H.10) orientieren. Auch Bishop (2015, S. 103) argumentiert, dass der Kampf gegen Unterdrückung von den Unterdrückten angeführt werden müsse und dass sich Verbündete an ihren Vorgaben orientieren sollen. Kommen wir noch einmal zu der Frage zurück, wen Trans*diskriminierung betrifft und wie gravierend das Problem an Hochschulen ist: Alle Hochschulangehörigen und die gesamte Kultur einer Hochschule sind davon betroffen. Welche Notwendigkeit besteht jetzt noch, Trans*menschen an Hochschulen zu zählen? Ein Argument für die Erhebung von Zahlen immatrikulierter Trans*menschen ist sicherlich, den Verlauf des Studiums und gegebenenfalls Studienabbrüche von Trans*studierenden dokumentieren zu können, wie dies gegenwärtig ja bereits in Bezug auf die binären Geschlechtskategorien weiblich und männlich getan wird. Hierbei ist zu beachten, dass Geschlechtsidentitäten nicht statisch sind und sich diese über die Zeit ändern können. Das heißt, bei der Erhebung und Interpretation von punktuell erhobenen Statistiken muss berücksichtigt werden, dass sie nur 10 Originalzitat: »However, recognizing how gender mediated everyone’s lives at CU [City University; R.H.] serves the purpose of continually calling people back to the narratives, experiences and needs of trans* students«.
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Zeitpunkte abbilden und Verläufe mit Änderungen der geschlechtlichen Selbstbezeichnungen nur unter bestimmten Voraussetzungen abgebildet werden können. Es bestehen jedoch auch schwerwiegende Bedenken gegen die zahlenmäßige Erfassung von Trans*menschen an Hochschulen. Die Informationen über die eigene Transitionsgeschichte und über die eigene Geschlechtsidentität sind etwas sehr Privates und die entsprechenden Personen haben prinzipiell Anspruch auf Vertraulichkeit und Schutz. Keine Trans*person sollte dazu gezwungen sein, ihren Trans*status offenzulegen (vgl. das sogenannte »Offenbarungsverbot« in § 5 des deutschen Transsexuellengesetzes). Es besteht die berechtigte Sorge, bei einem Trans*outing gegenüber der Hochschulverwaltung möglicherweise Diskriminierungen ausgesetzt zu werden. Nicolazzo warnt des Weiteren davor, dass für das Zählen von Trans*menschen auch eine für die Hochschule allgemein gültige Definition von Transidentität zugrunde gelegt werden müsste (2017, S. 22). Es gibt erheblich voneinander abweichende Definitionen von Transidentität sowohl im wissenschaftlichen wie auch im trans*aktivistischen Diskursfeld. Park (2016, S. 35) unterstreicht, dass ein Verständnis der Vielfalt von Transidentitäten unumgänglich ist, um die Hochschule transinklusiv zu gestalten. Nicolazzo verweist auf Strykers Definition von »transsexuellen Menschen« als Individuen, die »einen starken Wunsch verspüren, ihre geschlechtliche Morphologie zu ändern, um vollständig als dauerhaftes Vollzeitmitglied des anderen Geschlechtes zu leben als dasjenige, das ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde« (Stryker, 2008, S. 18, Übersetzung R.H.11, zitiert nach Nicolazzo, 2017, S. 22). Dieser binär orientierten Definition stellt Stryker (und dem folgend auch Nicolazzo) die Definition von »transgender« gegenüber, welche »jedwede und alle Variationen von Geschlechternormen und Geschlechtserwartungen« repräsentiert (Stryker 2008, S. 19, Übersetzung R.H.,12 zitiert nach Nicolazzo 2017, S. 22). Nicolazzo verweist in diesem Kontext darauf, dass die Frage, wer als »trans* genug« gilt, erheblich umstritten ist und »möglicherweise schädliche rassifizierte, klassisierende und körper-normierende Annahmen« in eng gefassten Trans*definitionen enthalten sind (2017, S. 143, Übersetzung R.H.;13 unter Verweis auf Catalano 2015b und Spade 2010). Dementsprechend ist das Zählen von Trans*menschen für Nicolazzo »nicht nur ein Prozess erzwungener Kategorisierung, sondern 11 Originalzitat: »who have a strong desire to change their sexual morphology in order to live entirely as permanent, full-time members of the [sex] other than the one they were assigned at birth«. 12 Originalzitat: »any and all variation from gender norms and expectations«. 13 Originalzitat: »potentially deleterious raced, classed, and able-bodied assumptions about what it means to be trans* enough to count in the first place«.
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auch eine Nahelegung von geschlechtlicher Regulation und Gewalt« (2017, S. 22, Übersetzung R.H.14). Hochschulen sollten also keine einheitliche Definition von trans* festlegen, sondern immer die Möglichkeit der Selbstidentifikation als Trans*person für die Hochschulangehörigen offenlassen. Die Hochschulen sind gut beraten, wenn sie bei der Datenerfassung den Sinn und Zweck der Datenerfassung angeben und es für die beteiligten Trans*menschen die Möglichkeit gibt, die Information über dieses Datum zu verweigern. Es ist auch abhängig vom Klima an der Hochschule, inwiefern Trans*menschen bereit sind, sich einerseits an der Gestaltung der Erfassung von Geschlecht zu beteiligen sowie andererseits entsprechende Fragebögen auszufüllen.15 Nicolazzo & Marine (2015) haben demonstriert, dass es keinen verlässlichen Weg gibt, zu quantifizieren, wie viele Trans*studierende an einer Hochschule sind, und entlarven die Frage nach den Zahlenverhältnissen als eine rhetorische Figur, die nahelegen will, dass Trans*menschen seltene Merkwürdigkeiten seien und angeblich keine Gruppe darstellten, die es wert ist, dass ihr Zeit, Aufmerksamkeit oder Ressourcen gewidmet werden (vgl. Nicolazzo 2017, S. 22). An dieser Stelle ist es wichtig, zwischen der zahlenmäßigen Erfassung von Trans*menschen an Hochschulen und der Erfassung nicht-binärer Personen zu unterscheiden. Keine Trans*person sollte gezwungen werden, ihren Trans*status offenzulegen, und ihr sollte die Möglichkeit belassen werden, sich (gemäß einer etwaigen binären Geschlechtsidentität) als weiblich oder männlich an der Hochschule registrieren zu lassen. Gleichzeitig sollte die Möglichkeit für alle nichtbinären (also inter- wie transgeschlechtlichen) Menschen bestehen, in ihrer nichtbinären Identität anerkannt zu werden. Das bedeutet, auch bei der Registrierung an der Hochschule nicht in eine binäre Geschlechtskategorie gezwungen zu werden. Unter Abschnitt 3.5 wird auf aktuelle juristische Entwicklungen und technische Aspekte zu dieser Frage eingegangen. 3.3
Vornamen, Anrede, Pronomen, Titel: Trans*menschen sollten ihre Benennungen selbst bestimmen
Für Hochschulangehörige, die im Verlauf ihrer Zeit an der Hochschule ihren Vornamen sowie die dazugehörige Anrede und Pronomen ändern möchten, stellt sich die Frage nach der Umsetzbarkeit dieser Änderungswünsche an der Hochschule.
14 Originalzitat: »Counting trans* people is not only a process of forced categorization but also an insinuation of gender policing and violence«. 15 Vielen Dank an Lucyna Darowska für Hinweise hierzu.
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Das juristische Verfahren der Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz (TSG) ist hürdenreich, kostspielig, gesundheitlich belastend und demütigend (vgl. Bundesverband Trans* 2016). Insbesondere für Menschen, die sich neu mit dem Thema Geschlechtsidentität und ihren eigenen Wünschen hierzu auseinandersetzen, kann es eine überfordernde und belastende Situation sein, sich diesem juristischen Verfahren auszusetzen. Deshalb sollte die Hochschule ihren Angehörigen die Möglichkeit geben, den gewünschten Vornamen sowie die entsprechenden Anrede- und Pronomenwünsche eigenständig in einem niedrigschwelligen Verfahren an die aktuelle Geschlechtsidentität anzupassen, auch ohne dass eine juristische Namens- oder Personenstandsänderung vorliegt. Eine rechtliche Einschätzung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016) zur »Verwendung des Namens von trans*Studierenden an Hochschulen unabhängig von einer amtlichen Namensänderung« stellt fest: »In internen Angelegenheiten kann die Hochschule ohne rechtliche Bedenken den selbst gewählten Namen einer trans*Person anstelle des amtlichen Vornamens verwenden« (ebd., S. 1). Die Hochschule kann »Handlungs- und Ausführungsvorschriften hinsichtlich der Ansprache von trans* Studierenden entsprechend derer empfundenen Geschlechtsidentität erlassen,« denn »[g]esetzliche Vorschriften, die einem solchen Vorgehen entgegenstehen, sind nicht ersichtlich« (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016, S. 2). Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterstreicht, dass eine »trans*Person grundsätzlich befugt [ist], auch vor bzw. ohne gerichtliche Namensänderung unter dem selbst gewählten Namen aufzutreten und sich mit diesem Namen anreden zu lassen« (ebd., S. 2). Ein beispielhaftes Formular für eine Änderung des auf dem Campus gültigen Namens hat Beemyn (o.J., vgl. auch The Stonewall Center o.J.) für die University of Massachusetts, Amherst, USA erstellt. Mittlerweile ist die TU Darmstadt diesem Beispiel gefolgt und hat ein ähnliches Formular angelegt, bei dem auch die Möglichkeit besteht, die (ggf. nicht-binäre) Geschlechtsidentität in einem Freifeld selbst zu benennen (AStA TU Darmstadt, 2018).
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3.4
Zur Rechtslage: Zeugnisse und Hochschulbescheinigungen dürfen trans*respektvoll ausgestellt werden
Die rechtliche Situation ist eindeutig: »Werden Hochschulbescheinigungen in den Rechtsverkehr gebracht, kommt es also nicht unmittelbar auf den Vornamen oder eine Geschlechtszugehörigkeit, sondern auf die Identifizierung der Person an. Entscheidend ist demnach, dass die Identität des_der Namensträgers_in zweifelsfrei feststeht« (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016, S. 5).
Hochschulen können also Zeugnisse oder Bescheinigungen wie Immatrikulationsausweise auf den gewünschten Vornamen einer Person ausstellen, unabhängig davon, ob dieser Vorname der juristisch eingetragene Vorname ist oder nicht. Aus »strafrechtlicher Sicht spricht […] nichts dagegen, Hochschulbescheinigungen auf Wunsch von trans*Studierenden auf deren gewählten Namen auszustellen«, denn die »Voraussetzungen der in Betracht kommenden Straftatbestände Urkundenfälschung (§ 267 StGB), Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB) und Betrug (§ 263 StGB) sind nicht erfüllt« (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016, S. 3).
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes führt aus (2016, S. 4): »Rechtserheblich in einem Zeugnis sind die erbrachten Leistungen, gegebenenfalls weitere Bewertungen und die Tatsache, dass die Leistungen dem_der Zeugnisinhaber_in zuzuordnen sind. Ähnliches gilt bei Studierendenausweisen: Hier ist rechtserheblich, dass der_die Inhaber_in der Bescheinigung tatsächlich an der Hochschule immatrikuliert ist. In beiden Fällen sind der Vorname und die Geschlechtszugehörigkeit unerheblich. Die Bescheinigungen dienen nicht dem Beweis, dass der angegebene Name auch der gesetzlich geführte Name ist.« Stattdessen ist festzuhalten: »Berechtigungsausweise der Hochschule dienen in der Regel der Identifizierung der_des Inhabers_in als immatrikulierter_m Student_in. Auch Zeugnisse dienen der Identifizierung der_des Inhabers_in als die Person, die die bescheinigte Leistung erbracht hat« (ebd., S. 5; vgl. auch Augstein 2013).
In der Praxis lässt sich beobachten, dass den Hochschulen diese juristische Situation nicht klar ist und sie sich vielfach weigern, den Wünschen nach Anerkennung des Vornamens auch ohne juristische Änderung nachzukommen. Häufig werden die oben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes dekonstruierten, unzulässigen Gegenargumente des Betrugs oder der Urkundenfälschung angeführt. Es
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scheint der Fall zu sein, dass es eine in den Rechtsabteilungen der Hochschulen gefühlte Rechtsrealität gibt, nach der Trans*menschen kein Recht auf Anerkennung ihrer Namen oder ihrer Identität haben. Dies steht oft im Widerspruch zu Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und anderer deutscher Gerichte, die Trans*menschen in den letzten Jahren weitreichende Rechte zugestanden haben (und das Transsexuellengesetz in vielen Teilen für verfassungswidrig erklärt haben, vgl. Bundesverband Trans*, 2016). Hier scheint die Kultur der Cisnormativität verbunden mit mangelndem juristischem Fachwissen in einer massiven Hürde für die Anerkennung von Trans*menschen zu kulminieren. Ein aktuelles Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2019/16 vom 10.10.2017) stellt klar, dass die geschlechtliche Identität aller Menschen vom Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) geschützt ist (1. Leitsatz des Urteils). Das Gericht stellt auch klar, dass der im Grundgesetz festgehaltene Satz »Niemand darf wegen seines Geschlechtes […] benachteiligt oder bevorzugt werden« (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG), so zu verstehen ist, dass »nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Menschen, die sich diesen beiden Kategorien in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zuordnen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts« geschützt werden (Absatz 56 des Urteils 1 BvR 2019/16 vom 10.10.2017).
Das Gericht stellt fest: »Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch« (Absatz 59 des Urteils 1 BvR 2019/16).
Es ordnet diese nicht-binären Menschen als »Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen« ein (ebd.) und bezieht sie in den grundgesetzlichen Diskriminierungsschutz mit ein. Auch die Regelungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter müssen jetzt so ausgelegt werden, dass es nicht nur um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern geht, sondern auch Menschen, die sich nicht den Kategorien weiblich oder männlich zuordnen, bei Maßnahmen zur Förderung der Gleichberechtigung Berücksichtigung finden (vgl. Absatz 60 des Urteils 1 BvR 2019/16). Daraus schlussfolgere ich, dass das Bundesverfassungsgericht meine in Abschnitt 3.4 angeführten Überlegungen zu einer Inter*- und Trans*-Inklusivität der Hochschulgleichstellungsstrukturen unterstützt.
246 | Hornstein
Im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Deutsche Bundestag eine Novelle des Personenstandsgesetzes (PStG) verabschiedet, in dessen Rahmen es seit dem 21.12.2018 unter bestimmten Bedingungen möglich ist, den dritten positiv benannten Geschlechtseintrag »divers« zu erhalten. Dies gilt zusätzlich zu der Möglichkeit eines leer gelassenen Geschlechtseintrags, die für Neugeborene bereits seit der Personenstandsgesetzesreform von 2013 und für Erwachsene seit dem Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 11. Mai 2017 bestand. In der Praxis ist zu beobachten, dass Hochschulen (oder andere gesellschaftliche Akteur*innen wie z.B. Banken oder Krankenkassen) ihre Datensysteme nicht auf Kategorien jenseits von weiblich und männlich umgestellt haben, obschon dies spätestens seit dem Beschluss des Oberlandesgerichts Celle von 2017 der rechtlichen Lage entsprechen würde (siehe unten, Abschnitt 3.5). Der Beitrag, den mit inter- und transgeschlechtlichen Menschen verbündet handeln wollende Personen in Bezug auf ihre juristische Situation an Hochschulen leisten können, ist, auf die verfassungsgerichtlich benannten Rechte sowie auf die Änderung des Personenstandsgesetzes zum 21.12.2018 aufmerksam zu machen und in Hochschulverwaltungen und -rechtsabteilungen dieses Wissen zirkulieren zu lassen, um der Kultur der Cisnormativität und dem Mangel an juristischem Fachwissen entgegenzuwirken. 3.5
»Das können wir technisch nicht umsetzen.« Die Informationstechnik muss den Menschen dienen, nicht umgekehrt
Ein verbreitetes Argument gegen die Einführung erweiterter Optionen der geschlechtlichen Selbstpositionierung, der Änderung von Vornamen und der Angabe von Pronomenwünschen in administrativen Datenbanken der Hochschulen ist ihre technische (Nicht-)Machbarkeit. Nach aktuell bundesweit geltendem Hochschulstatistikgesetz (HStatG) sind die Hochschulen verpflichtet, das Geschlecht von Prüfungsteilnehmenden, Studierenden, Promovierenden und Exmatrikulierten zu erheben. Durch die Änderungen des Personenstandsgesetzes (PStG) von 2013 ist das Feld für den Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde frei zu lassen, wenn ein Kind »weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden« kann (§ 22, Abs. 3 PStG). Diese Möglichkeit galt laut sich anschließend ergebender deutscher Rechtsprechung auch für erwachsene intergeschlechtliche Menschen (Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 22. Juni 2016, Az. XII ZB 52/15) sowie für erwachsene nicht-binäre Menschen ohne biologischen Nachweis von Intergeschlechtlichkeit (Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 11. Mai 2017; Az. 17 W 5/17).
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Im bereits angeführten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2019/16 vom 10.10.2017) wurde die erwähnte Regelung des Personenstandsgesetzes, d.h. die zwangsweise Leerlassung des Geschlechtseintrags bei Menschen, die nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können, jedoch ausgesetzt und die Gesetzgebenden wurden aufgefordert, bis 31.12.2018 entweder eine dritte positiv benannte Eintragungsoption zu schaffen oder die personenstandsrechtliche Erfassung von Geschlecht ganz zu unterlassen. Diese Vorgabe ist seitens des Deutschen Bundestags, wie oben erwähnt, durch eine Reform des Personenstandsgesetzes umgesetzt worden, das seit dem 21.12.2018 die dritte, positive benannte Option »divers« vorsieht. Im angeführten Gerichtsbeschluss wird auch der bürokratische und finanzielle Aufwand, der damit verbunden sein kann, eine dritte positive Geschlechtseintragungsmöglichkeit einzuführen, adressiert. Das Gericht betont: »Zwar müssten die formalen und technischen Voraussetzungen zur Erfassung eines weiteren Geschlechts zunächst geschaffen werden. Gegenüber der Grundrechtsbeeinträchtigung, die es bedeutet, in der eigenen geschlechtlichen Identität durch das Recht ignoriert zu werden, wäre der durch die Ermöglichung einer einheitlichen dritten Bezeichnung verursachte Mehraufwand aber hinzunehmen« (Absatz 52 des Urteils 1 BvR 2019/16).
Diese Ausführungen beziehen sich auf das Personenstandsgesetz und den Aufwand für die Gesetzgebenden, eine dritte positive Geschlechtseintragungsmöglichkeit zu schaffen. Sie lassen sich aber auch auf die Ebene der Hochschulverwaltung anwenden: Demnach ist das Recht auf Anerkennung und Schutz der geschlechtlichen Identität nicht-binärer Menschen höher zu werten als der bürokratische und finanzielle Aufwand für Hochschulverwaltungen, die formalen und technischen Voraussetzung zu ihrer Anerkennung zu schaffen. Gemäß dieser Argumentation, aber auch in Folge der aktuellen Anpassung des Personenstandsgesetzes sind Hochschulen nun dazu aufgefordert, ihre administrativen Datenbanken an die Möglichkeit eines dritten Geschlechtseintrags ihrer Hochschulangehörigen anzupassen. Die Hochschulen können diese Anpassungsnotwendigkeit als Anlass nutzen, gemäß der Rechtseinschätzung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016, S. 2) »Handlungs- und Ausführungsvorschriften hinsichtlich der Ansprache von trans* Studierenden entsprechend derer empfundenen Geschlechtsidentität [zu] erlassen«. Das heißt, gleichzeitig mit einer Aktualisierung der Datenbanken hinsichtlich des dritten Geschlechtseintrags »divers« können auch Anrede- und Pronomenwünsche von Hochschulangehörigen erfragt werden.
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Es muss klargestellt werden, dass ein ernsthaftes, an Gleichstellung, Gleichbehandlung und Antidiskriminierung orientiertes Diversity-Konzept mit Kosten verbunden ist. Die Hochschulen stellen Diversity als ihr Markenzeichen heraus, demzufolge ist zu erwarten, dass strukturelle Maßnahmen im entsprechenden Umfang durchgeführt werden.16 3.6
Zweigeschlechtlichkeit in Architektur und Raumbenennungen: Toiletten
Die Kultur der ausschließlichen Zweigeschlechtlichkeit schreibt sich auch in die Gestaltung und Benennung von Räumen ein. Dies zeigt sich sehr deutlich in der dreigeteilten Kennzeichnung von öffentlichen Toiletten, wonach zwischen sogenannten »Behindertentoiletten«, »Frauentoiletten« und »Männertoiletten« unterschieden wird. Hierbei wird die binäre Geschlechtszuschreibung und die räumliche Geschlechtertrennung implizit nur Menschen zugestanden, die keine rollstuhlgerechten Toiletten benötigen. In Abgrenzung der sogenannten »Behindertentoiletten« zu »Frauen-« und »Männertoiletten« wird Menschen, die behindert werden, ihre »Geschlechtszugehörigkeit/-identität und gleichsam jegliche Sexualität abgesprochen« (AG trans*emanzipatorische Hochschulpolitik, 2015a). Inter- wie transgeschlechtliche Menschen, die sich nicht-binär identifizieren, werden durch die binäre Benennung gezwungen, sich für eine der beiden geschlechtsspezifischen Toiletten zu entscheiden, auch wenn das ihrer nicht-binären Identität zuwiderläuft. Durch das Betreten eines binärgeschlechtlich gekennzeichneten Raumes müssen sie sich selbst geschlechtlich binär zwangsverorten. Dieses Selbstmisgendern ist schmerzhaft und es werden große Schwierigkeiten in Kauf genommen, dies zu vermeiden. Es scheint auf binärgeschlechtlichen Toiletten die Übereinkunft zu herrschen, dass alle Personen, die diese aufsuchen, in ihrem geschlechtlichen Selbstausdruck Stereotypen des beschilderten Geschlechts möglichst nahe kommen sollen. Hier ist der Begriff des »passing« hilfreich, der vom kollektiv sternchen & steine (2012) als »von außenstehenden Menschen als dem Identitätsgeschlecht zugehörig wahrgenommen werden« (S. 120) definiert wird. Personen, die nicht als eindeutig weiblich oder männlich durchgehen bzw. passen17, sind Irritationen, Anfeindungen oder Gewalt ausgesetzt (vgl. Cavanagh,
16 Ich danke Lucyna Darowska für Anmerkungen zu diesem Punkt. 17 Hier wird die in Trans*kontexten wichtige Begrifflichkeit des »Passings« (zu deutsch etwa: durchgehen als) verwendet. Passing wird vom kollektiv sternchen & steine (2012) als »von außenstehenden Menschen als dem Identitätsgeschlecht zugehörig wahrgenommen werden« (S. 120) definiert. Wenn eine Person ein schlechtes Passing hat, dann
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2010). Diese Problematik erstreckt sich auf alle Personen, die dem herkömmlichen Geschlechterbild nicht entsprechen – unabhängig von ihrer binären oder nicht-binären, inter- oder transgeschlechtlichen Identität. Das heißt, auch cisgeschlechtliche Personen können hier in negativer Weise betroffen sein. Die cisnormative Idee, dass Genitalien dauerhaft und unabänderlich die Geschlechtsidentität bestimmen, lässt sich gut an der Toilettenbeschilderung ablesen, wenn davon ausgegangen wird, dass die Beschilderung mit Annahmen über körperliche Anatomie und die darauf bezogene Einrichtung der Toiletten einhergeht. Die AG trans*emanzipatorische Hochschulpolitik (2015b) schlägt unter anderem vor, Toiletten nicht nach Geschlecht, sondern nach den dort verrichtbaren Körperfunktionen zu benennen. So können Schilder angebracht werden wie »WCs zum Sitzen« und »WCs zum Stehen und Sitzen« oder es kann gleich mit Piktogrammen von Sitztoiletten und Urinalen gearbeitet werden. In Kenntnis der Lebensrealitäten von inter- und transgeschlechtlichen Menschen ist die Annahme nicht mehr haltbar, dass Frauen nur im Sitzen urinieren und Männer nur im Stehen. Daraus folgt auch, dass jede Toilette mit Mülleimern für Hygieneartikel ausgestattet werden sollte, nicht nur die Frauen™toilette.18 Die AG trans*emanzipatorische Hochschulpolitik (2015b) macht darauf aufmerksam, dass besonders von diesen rigiden Geschlechtsüberwachungsmechanismen (auch »gender policing« genannt) betroffene »Menschen den Tag über möglichst wenig trinken/essen«, um einer diskriminierenden Situation auf der Toilette zu entgehen. Dies kann mit Konzentrationsschwächen und sonstigen körperlichen Schäden einhergehen (für einen Überblick über damit einhergehenden gesundheitliche Schäden siehe Cavanagh 2010). Für Menschen, die bei der Benutzung von Toiletten die Assistenz von möglicherweise verschiedengeschlechtlichen Begleitpersonen in Anspruch nehmen müssen, sowie für Eltern mit verschiedengeschlechtlichen kleinen Kindern wäre die Bezeichnung von Toiletten nach Funktionen und nicht nach Geschlecht ebenfalls eine Erleichterung. Es bleibt mit den Worten der AG trans*emanzipatorische Hochschulpolitik (2015a) festzuhalten: bedeutet dies, dass sie als etwas anderes durchgeht bzw. passt, als das sie sich identifiziert. Das wesentliche Element von Passing ist das Leseergebnis bei anderen Personen bzw. ihre Zuschreibungen und damit die (Nicht-)Übereinstimmung des zugeschriebenen Geschlechts mit dem Identitätsgeschlecht der eingelesenen Person. 18 Um auf den cisgeschlechtlichen, binären Konstruktionscharakter der »Frauen«toilette mit seinen anatomischen und auf den geschlechtlichen Selbstausdruck bezogenen Annahmen aufmerksam zu machen, wurde hier das hochgestellte Trademark-Zeichen (™) verwendet.
250 | Hornstein »Die momentane Situation, wie in Deutschland öffentliche Toiletten gekennzeichnet sind, entspricht nicht den Bedürfnissen vieler Menschen dieser Gesellschaft und schafft weitreichend diskriminierende Räume, in denen sich Menschen unwohl und ausgeschlossen fühlen müssen.«
Gegenwärtig trägt diese Situation dazu bei, dass Trans*- und Inter*menschen weniger an öffentlichen Räumen und Veranstaltungen, die auf binäre Toiletten zurückgreifen, teilhaben. Dies muss zumindest an Hochschulen nicht so bleiben: Sie können bestehende Toiletten umetikettieren und beim Bau neuer Toiletten darauf achten, anstelle zweier großer Gruppentoilettenräume eher viele einzeln abschließbare, geschlechtlich nicht gekennzeichnete Toiletten zu bauen. 3.7
Binärer Hochschulsport: Zweigeschlechtlich getrennte Sportteams, Duschen, Umkleiden und Sportkleidung
Auch für Duschen und Umkleiden in Einrichtungen des Hochschulsports besteht diese cisnormative, zweigeschlechtliche Drucksituation, möglichst binär passen19 zu müssen. Hier gibt es bereits Hochschulen in Nordamerika, die geschlechtlich nicht gekennzeichnete Einzelduschen eingerichtet haben (Pomerleau, 2012). An die räumliche Vergeschlechtlichung der Sportzentren angeknüpft ist die soziale Vergeschlechtlichung von Sportteams. Beemyn und Rankin fordern ein, dass es Hochschulsportler*innen grundsätzlich ermöglicht wird, in demjenigen Sportteam mitzuspielen, das mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt, unabhängig davon, ob sie Hormone nehmen oder wie ihr juristisch dokumentiertes Geschlecht lautet (2016, S. 28). Bei zweigeschlechtlich getrennten Sportteams stellt sich unter anderem die Frage, ob und inwiefern inter- und transgeschlechtliche Menschen an nach zwei Geschlechtern getrennten Sportteams gemäß ihrer Geschlechtsidentität teilnehmen können. Dies wird für nicht-binäre Personen sicherlich eingeschränkt bis gar nicht möglich sein. Genau wie im gesamtgesellschaftlichen Kontext auch steht der Hochschulsport vor der Herausforderung, sich mit seinen geschlechtlichen Normsetzungen auseinanderzusetzen, um nicht Menschen mit gesellschaftlich weniger anerkannten Geschlechtsidentitäten vom Sport auszuschließen. Die Konzipierung eines geschlechtergerechten Sports könnte an Hochschulen unter Einbezug von Trans*menschen sowie deren Selbstorganisationen, Konzepten, Anregungen und Reflexionen erfolgen.
19 Siehe Fußnote 17 zum Begriff des »Passings«
Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen
3.8
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Trans*menschen an Hochschulen sind kein Problem, sondern sie trotzen dem Problem Trans*diskriminierung
Marine (2011a) hält »transgender Studierende nicht für ein Problem, das gelöst werden muss« (S. 1182; zitiert nach Nicolazzo, 2016, S. 16, Übersetzung R.H.20). Stattdessen verstehen sowohl Marine (2011a) als auch Nicolazzo (2016) Trans*studierende als widerstandsfähige Individuen, die in der Lage sind, Unterstützungsgemeinschaften aufzubauen und den geschlechtsnormierten kulturellen Kontext der Hochschule zu ›navigieren‹, sich also darin zurechtzufinden (Nicolazzo, 2016, S. 16). Das Problem sind nicht die Trans*menschen an Hochschulen, sondern das Ethos der Trans*exklusion, das die Hochschule durchzieht. Es ist wichtig, Trans*hochschulangehörige als resiliente Personen mit Handlungsmacht zu begreifen, die Trans*unterdrückung begegnen können. Sie sollten nicht als Opfer verstanden werden, denen wichtige Fähigkeiten oder Fertigkeiten fehlen oder die gesellschaftlichen Erwartungen nachgeben müssen, um sich an der Hochschule entfalten zu können (Nicolazzo, 2016, S. 41). Nicolazzo nutzt Theoriebildungen zum Resilienzbegriff, um diesen Perspektivwechsel im Denken über Trans*diskriminierung an Hochschulen zu unterstützen. Hiernach wird Resilienz in Verbindung mit Kinship gedacht. Dieser Begriff wird gemeinhin mit »Familie« oder »Verwandtschaft« übersetzt, lässt sich im vorliegenden Kontext aber eher als »Community« bzw. »Gemeinschaft« fassen. Nicolazzo versteht Resilienz als Handlung und Praxis, die nicht in Isolation, sondern in Verbundenheit mit anderen Menschen (aus)geübt wird – also in eine Gemeinschaft (Kinship) eingebettet. Es ist keine statische Eigenschaft von Individuen, sondern eine Strategie, um (im vorliegenden Fall) individuelle Manifestationen von Trans*unterdrückung zu überwinden (2016, S. 88). Resilienz als Praxis zu verstehen, zielt darauf ab, herauszufinden, wo und mit welchen Menschen (unter anderem Trans*verbündeten) Trans*hochschulangehörige erfolgreich sein können und am besten durch die cisnormative Hochschullandschaft navigieren können (ebd., S. 89). Diese Perspektive hat den Vorteil, Trans*menschen nicht als pathologisch krank zu verstehen, die sich in bestimmten Kontexten nicht in der Lage fühlen, Resilienz zu praktizieren (ebd., S. 90). Die Umgebung eines Menschen und nicht ein etwaiger Charakterfehler einer Person wird hier als Quelle dieser Begrenzung der eigenen Resilienzausübung verstanden (ebd.). Nicolazzo macht darauf aufmerksam, dass ein möglicherweise in Hochschulverwaltungen verbreitetes Verständnis von Resilienz, das sich nur auf den Abschluss des Studiums fokussiert, verkürzt ist und den Mikroaggressionen, der
20 Originalzitat: »transgender students are not a problem to be solved.«
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Trans*unterdrückung und dem Minderheitenstress nicht gerecht wird, denen Trans*hochschulangehörige ausgesetzt sind. Nicolazzo (2016, S. 42) listet wenige Forschungsarbeiten zu diesen Phänomenen auf und unterstreicht gleichzeitig den Mangel an Forschung über die Lebensrealitäten von Trans*hochschulangehörigen. Resilienz sollte mit Stieglitz (2010) für den Bereich von Pubertät und jungem Erwachsenenalter im Sinne von Leistungen in Karriereentwicklung, Glück, Beziehungen und körperlichem Wohlbefinden im Angesicht von Risikofaktoren verstanden werden (zitiert nach Nicolazzo 2016, S. 42, Übersetzung R.H.21). Hochschulverwaltungen dürften mit einem derart aufgestellten Resilienzbegriff zu trans*inklusiveren Schlussfolgerungen kommen, was ihre Arbeit zur Unterstützung von transgeschlechtlichen Studierenden angeht. 3.9
Trans*gerechte Lehre und Forschung
Beemyn und Rankin (2016) unterstreichen die Wichtigkeit eines zweigleisigen Ansatzes für einen »trans-inclusive classroom«: Einerseits muss eine Umgebung geschaffen werden, in der sich Trans*student*innen unterstützt und willkommen fühlen, und andererseits müssen cisgeschlechtliche StudentInnen über die Erfahrungen von Trans*menschen aufgeklärt werden (S. 25). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass cisgeschlechtliche StudentInnen wissen, wie sie trans*verbündet handeln können; daher muss dieses Wissensdefizit ausgeglichen werden. Lehrende sollten zudem gleichzeitig über grundsätzliches Wissen über die Wirkungsweise von Diskriminierung in der Lehrsituation sowie über spezifisches Wissen über Trans*diskriminierung verfügen. Es ist hier sinnvoll, sich das Ziel zu setzen, »einen Raum zu ermöglichen, in dem die unweigerlich auftretenden Reproduktionen von Machtverhältnissen thematisiert und bearbeitet werden können, damit alle ihren Lernprozess fortsetzen können«, wie Goel es in einem Text über »die (Un-)Möglichkeiten der Vermeidung von Diskriminierung« postuliert (Goel 2016, S. 42).
Dies diskutiert Goel unter Verwendung des Begriffs der »Fehlerfreundlichkeit«. Grundlegende Reflexionen über die Wirkungsweise von Diskriminierungen in der Vorbereitung, Durchführung und Evaluierung von Lehrveranstaltungen sind hilf-
21 Originalizitat: »In adolescence and young adulthood, resilience may be reflected by achievement in career development, happiness, relationships, and physical well-being in the presence of risk factors.«
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reich, um die eigene Lehre diskriminierungskritisch durchzuführen (vgl. Geschäftsstelle des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin 2016, S. 56-72). Trans*spezifische Sensibilität und didaktische Methoden seitens der Lehrenden ermöglichen Trans*student*innen die Teilhabe am Unterrichtsgeschehen. Lehrende sollten ihren Student*innen niemals ein Geschlecht zuschreiben oder davon ausgehen, dass sie es kennen würden, bis ihre Student*innen es ihnen genannt haben (Beemyn & Rankin 2016, S. 25). Genauso sollten Vornamen und Wunschpronomen (also wie Lehrende über Student*innen in der dritten Person sprechen) nicht als bekannt vorausgesetzt, sondern erfragt werden – insbesondere in der aktuellen strukturell angelegten Situation, in der nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Wunschnamen und -anreden bereits in den Hochschulsystemen eingetragen sind. Es besteht die Möglichkeit, Student*innen zu Beginn einer Lehrveranstaltung zu bitten, diese Präferenzen gegenüber der Lehrperson schriftlich mitzuteilen oder sie gegebenenfalls nach geeigneten Vorbereitungsmaßnahmen im Rahmen einer Vorstellungsrunde mit Namen- und Pronomenangaben den anderen Teilnehmer*innen einer Lehrveranstaltung zu nennen. Dies erfordert jedoch Wissensgrundlagen bei allen Studierenden, die erst vermittelt werden sollten, bevor eine derartige Runde durchgeführt wird. Solche Namens- und Pronomensrunden setzen noch ungeoutete Trans*student*innen in Zugzwang zu entscheiden, ob sie sich in einer Lehrveranstaltung als trans* zu erkennen geben wollen, während sie gleichzeitig bereits geouteten Trans*student*innen die Möglichkeit geben, in ihrer Identität wahrnehmbar und respektvoll angesprochen zu werden (ebd.). Wichtig ist, zu berücksichtigen, dass alte, unerwünschte Namen von Student*innen nicht durch administrative Abläufe offengelegt, sondern diese Abläufe so umgestaltet werden, dass Trans*student*innen nicht fürchten müssen, dass ihre alten Namen bekannt werden.22 Lehrende können cisgeschlechtlichen StudentInnen, die noch nichts bzw. nur wenig über Trans*lebensrealitäten wissen, wesentliche Fakten hierüber beibringen und modellhaft aufzeigen, wie ein trans*verbündetes Verhalten aussehen kann. Beemyn und Rankin (2016) besprechen aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen, welche die Vorteile von »teaching trans« (S. 26) aufzeigen. Hierzu gehören insbesondere die Verbesserung von Einstellungen gegenüber Trans*menschen und die Fähigkeit, restriktive Geschlechtsnormen zu erkennen (ebd.). Drabinski (2011) kritisiert das »special guest« Modell, in dem Trans*menschen als besonderer Bestandteil des Lehrplanes hervorgehoben werden und nur für eine Sitzung Thema werden oder gar selbst als Gäste in die Lehrveranstaltungen kommen, 22 Dieses unkonsensuelle Bekanntmachen alter Namen wird auch als »Deadnaming« bezeichnet.
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aber Trans*themen und -perspektiven sonst nicht in die Lehrplanung mit einbezogen werden. Beemyn und Rankin (2016) fordern hier, dass sich alle akademischen Disziplinen an »genderkomplexer Bildung« (Rands 2009) beteiligen, was bedeutet, dass sie die Existenz und die Erfahrungen von Trans*menschen anerkennen. Wichtig ist, dass Lehrende sich klar darüber sind, wie sie mit Widerstand und Ablehnung seitens ihrer Student*innen umgehen, wenn im Unterricht strukturelle Diskriminierung im Allgemeinen oder Trans*diskriminierung im Konkreten thematisiert wird. Hierzu kann es sinnvoll sein, sich über die eigenen Ziele und die eigene Rolle als Lehrkraft Gedanken zu machen (vgl. Hornstein 2016). Zur respektvollen und diskriminierungskritischen Forschung zu LSBTIQThemen23 im Allgemeinen und mit trans- und intergeschlechtlichen Personen im Speziellen gibt es zwar Empfehlungen (z.B. für die Psychologie Clarke, Ellis, Peel & Riggs 2010, S. 52-78), allerdings sind diese häufig wenig bekannt, so dass bedauerlicherweise immer noch schädliche, repathologisierende und stereotypisierende Forschungsansätze reproduziert werden. Hier ist eine grundsätzliche Änderung der Forschungskultur notwendig. In Anlehnung an Park (2016) schlage ich vor, zu erheben, wie viele Lehrveranstaltungen an deutschen Hochschulen Trans*themen beinhalten, und dies auch spezifisch für sexualwissenschaftliche und geschlechtsbezogene Studiengänge zu untersuchen. Park fordert, dass trans*relevante Lehrveranstaltungen als selbstverständliche Bestandteile der Hochschulcurricula etabliert werden und dass sie auch für LGBT Studies Pflichtbestandteil werden sollten (2016, S. 38). Park problematisiert das für die USA geltende eklatante Missverhältnis von trans- zu cisgeschlechtlichen Lehrpersonen, die trans*bezogene Lehrveranstaltungen anbieten, und fragt rhetorisch, was wäre, wenn nur Männer Frauen- und Geschlechterforschung unterrichten würden (2016, S. 39). »Transgendering the faculty« ist dementsprechend ein Ziel, das Park explizit formuliert und dem ich mich für den deutschsprachigen Kontext nur anschließen kann. Solange transidente24 Lehrkräfte nur in den unteren Rängen der akademischen Hierarchie unterrichten, wird die Kultur der Cisnormativität an Hochschulen ungebrochen bleiben.
23 Also zu lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Themen. 24 Also transgeschlechtliche Lehrkräfte.
Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen
4. B EST P RACTICES UND AN H OCHSCHULEN
KRITISCHE
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T RANS * POLITIK
Es scheint, als sei die Sammlung von Best Practices in einem Feld wie Trans*diskriminierung an Hochschulen selbst eine Best Practice (Nicolazzo 2017, S. 140). Dabei sind Best Practices ambivalent zu beurteilen. Sie können einerseits eine erste Landkarte darstellen, um sich in einem Feld zu orientieren und bestimmte Barrieren (z.B. für ein trans*diskriminierungsarmes Studium) zu identifizieren und aus dem Weg zu räumen. Andererseits können Best Practices die Wahrnehmung verengen und suggerieren, dass mit ihrer Etablierung die Arbeit gegen Trans*diskriminierung getan sei und die Institution nun diskriminierungsfrei und trans*inklusiv sei: Ahmed spricht davon, dass Best Practices eine Art sind, die Institution neu zu verpacken und neu zu arrangieren, so dass sie ihre beste Seite nach außen kehrt (2012, S. 107). Nicolazzo empfiehlt, die Implementierung von Best Practices als ersten Schritt, keinesfalls aber als Fernziel zu sehen (2017, S. 142). In Wertschätzung des Orienterungspotenzials von Best Practices gebe ich hier einige Hinweise auf Sammlungen von Best Practices für trans*gerechte Hochschulen und stelle im Anschluss einen alternativen Ansatz zu Best Practices von Dean Spade vor, den Nicolazzo auch im Hochschulkontext empfiehlt. 4.1
Best Practices für trans*gerechte Hochschulen
Die AG trans*emanzipatorische Hochschulpolitik und die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (kurz dgti) haben eine Sammlung von Benachteiligungen von Inter*- und Trans*personen an Hochschulen aufgestellt und Empfehlungen ausgesprochen, wie diese beseitigt werden können, insbesondere mit einem Fokus auf Prozeduren zur Anerkennung von Wunschnamen und -pronomen (2017). Das in den USA tätige Consortium of Higher Education LGBT Resource Professionals hat Empfehlungen für die Unterstützung von Trans*student*innen herausgegeben (2014) und ein eigenes Set von Empfehlungen für die Unterstützung von queeren und Trans*student*innen of color erstellt (2016). Darüberhinaus hat die ebenfalls US-basierte Organisation Campus Pride eine Vielzahl an Ressourcen für das Eintreten für Trans*menschen an Hochschulen zusammengetragen (2018). Beemyn publiziert viele Artikel zu diesem Thema (Beemyn/Stonewall Center o.J.) und hat gemeinsam mit Rankin (2016) einen kurzen Überblick über trans*unterstützende Hochschulrichtlinien erstellt.
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Park (2016) sieht vier Elemente in dem Projekt des »Transgendering the Academy«.25 Auf der Grundlage eines breiten Verständnisses der Vielfalt von Transidentitäten (S. 35) sollen Hochschulen 1. Richtlinien erlassen, die explizit die Diskriminierung in Bezug auf Ge-
schlechtsidentität und Geschlechtsausdruck verbieten und von Trans*menschen auch juristisch einklagbar sind; 2. Lehrpläne, Studiengänge und akademische Programme erstellen, welche die Erforschung von Transgender in der Hochschule verankern; 3. den Einzug von Trans*menschen in den akademischen Lehrkörper voranbringen und 4. eine institutionelle Service-Infrastruktur schaffen, die transgeschlechtliche Student*innen, Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen adressiert. Bei Beemyn (2012) stieß ich auf die Idee, zu Beginn eines trans*inklusiven Veränderungsprozesses an einer Hochschule eine Arbeitsgruppe oder ein Komitee zu gründen, das aus verschiedenen Akteur*innen zusammengesetzt ist. Diese haben entweder durch ihre Position an der Hochschule ein Interesse an Trans*inklusion (z.B. Gleichstellungsbeauftragte, Hochschulleitungsmitglieder, die zu Studium und Lehre oder zu Diversität arbeiten) oder sind durch ihre eigene Identität und ggf. Aktivismusgeschichte daran interessiert (z.B. trans*aktivistische Gruppen oder Einzelpersonen, Institutionen der Studierendenschaft). Das Komitee sollte sich dann einen Zeitrahmen setzen, innerhalb dessen es arbeiten will, und in diesem dann selbst gesteckte Ziele anvisieren, z.B. einen Abschlussbericht mit Empfehlungen für den Hochschulsenat, die Hochschulleitung oder hochschuleigene Gleichstellungsstrukturen. 4.2
Dean Spades Trickle-up-Ansatz für kritische Trans*politik an den Hochschulen
Nicolazzo betont, dass ein zentraler Gedanke im Kampf gegen Trans*diskriminierung ist, dass sie uns alle betrifft (2016, S. 137). Jeder Mensch ist von ihr berührt, Geschlecht als Unterdrückungskategorie reguliert unser aller Leben und wir haben alle ein Interesse daran, Trans*unterdrückung zu bekämpfen (ebd.). Darum will
25 Bereits vor der Veröffentlichung von Parks Artikel habe ich im Juni 2015 einen Vortrag zum Thema »Der getrans*te Elfenbeinturm – Was kennzeichnet eine trans*gerechte Hochschule?« gehalten. Die Institution Akademie zu trans*en, scheint ein gemeinsames Anliegen und eine naheliegende sprachliche Konstruktion zu sein.
Trans*diskriminierung an Hochschulen abbauen
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Nicolazzo keine Liste von Dingen anbieten, die es einfach zu tun gäbe und die impliziert, dass Trans*unterdrückung einfach zu verstehen und zu zähmen sei. Stattdessen will Nicolazzo klar machen, dass Trans*diskriminierung in uns drinnen ist und uns alle in ihrem Griff hat (ebd.) Wenn Trans*diskriminierung als etwas derart Komplexes begriffen wird, liegt es nahe, Dean Spades Ansatz von kritischer Trans*politik zu folgen (Spade 2015). Spade zufolge hilft uns kritische Trans*politik dabei, zu untersuchen, wie die Normen, die Bedingungen von Ungleichheit und Gewalt produzieren, aus multiplen, verwobenen Orten erwachsen; und kritische Trans*politik hilft uns auch dabei, Möglichkeiten des Widerstands als ähnlich verstreut zu erkennen (S. 3, zit. nach Nicolazzo 2016, S. 138, Übersetzung R.H.26). Nicolazzo folgert mit Spade daraus, dass eine Reihe von Interventionen und neuen Arten, über Trans*diskriminierung nachzudenken, erforderlich sind, die ähnlich verstreut und vielfältig sind (S. 138). Spade lehnt einen Trickle-down-Ansatz ab, dem zufolge für einen relativ privilegierten Teil einer benachteiligten Gruppe (z.B. weiße, nicht-behinderte Trans*menschen der Mittelschicht und mit deutscher Staatsangehörigkeit) zuerst Rechte erkämpft werden sollten und diese dann nach unten durchsickern würden. Stattdessen propagiert Spade einen Trickle-up-Ansatz, dem zufolge wir daran arbeiten sollten, Rechte für diejenigen Menschen zu erstreiten, die am stärksten marginalisiert werden und die die stärksten Bedrohungen erleben (Nicolazzo 2016, S. 138). Für gleichstellungsorientierte Professionelle im Hochschulkontext bedeutet das, die Aufmerksamkeit insbesondere den Leben, Erfahrungen und Bedarfen von Trans*menschen of color, geflüchteten Trans*menschen, in Armut oder wohnungslos lebenden Trans*menschen und Trans*menschen mit Behinderungen zu widmen (Nicolazzo 2016, S. 146f.). Gleichzeitig rät Nicolazzo Trans*menschen, die an Hochschulen studieren, lehren oder anderweitig arbeiten, nicht auf trans*emanzipatorisch arbeitende Professionelle an Hochschulen zu warten, sondern stattdessen Koalitionen und Partner*innenschaften miteinander einzugehen, um Unterstützungsgemeinschaften zu schaffen und Selbstvertrauen und Sicherheit innerhalb der Gruppe zu erreichen (S. 146, Übersetzung R.H.27).
26 Originalzitat: »helps us investigate how the norms that produce conditions of disparity and violence emerge from multiple, interwoven locations, and recognize possibilities for resistance as similarly dispersed«. 27 Originalzitat: »trans* students, faculty, and staff should seek partnerships and coalitions with and among each other to create communities of support and promote self-efficacy and intragroup safety«.
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5. S CHLUSS : M IT OFFENEM D ENKEN UND LIEBENDEN H ERZEN GEGEN T RANS * DISKRIMINIERUNG Hochschulen sind Teil der gesellschaftlichen Kultur der Cisgeschlechtlichkeit. Trans*diskriminierung als eine Unterdrückungsform von vielen durchwirkt diese Institutionen in ihren organisatorischen Abläufen, in Lehrpraxis und -inhalten, in der Forschung, in der technischen Infrastruktur, in dort stattfindenden Freizeitund Sportaktivitäten und in ihrer Gleichstellungsarbeit. Gleichzeitig sind wir als Individuen von Trans*diskriminierung durchwirkt. Dennoch ist ein Handeln in diesem Unterdrückungskontext möglich. Trans*menschen an der Hochschule möchte ich ermutigen, sich in Gruppen zusammenzuschließen und füreinander da zu sein, gemeinsam zu kämpfen und für sich zu sorgen. Verbündete rufe ich dazu auf, ihre Privilegien einzusetzen, ihren eigenen Handlungsspielraum zu analysieren und sich im Rahmen ihrer Tätigkeiten an der Hochschule für Trans*menschen einzusetzen. Dabei müssen Verschränkungen von Machtverhältnissen berücksichtigt werden. Verbündetenschaft beinhaltet Wissen über spezifische Trans*diskriminierungsbereiche genauso wie über allgemeine Mechanismen von Unterdrückung und ihre Auswirkungen im konkreten Hochschulalltag. Es ist sinnvoll, mit Widerständen gegen Veränderungen und gegen die Thematisierung von Trans*diskriminierung zu rechnen und – wo angemessen – bewusst mit diesen Widerständen zu arbeiten. Es gibt Empfehlungen und Best Practices für Maßnahmen für eine trans*inklusive Hochschule. Gleichzeitig müssen aber die Folgen dieser Maßnahmen sorgfältig geprüft werden, insbesondere in ihren Auswirkungen auf besonders marginalisierte Trans*menschen an Hochschulen. Es reicht nicht, das eigene gegen Trans*diskriminierung gerichtete Handeln nur am Maßstab des Erreichens dieser Empfehlungen zu messen. Stattdessen muss Trans*diskriminierung immer als komplexer und umfassender verstanden werden, als es die Perspektive auf Einzelmaßnahmen suggeriert. Wie auch immer die Empfehlungen für Veränderungen lauten, diese sollten unter Beteiligung und Führung von Trans*menschen umgesetzt werden. Wie übermächtig Trans*diskriminierung auch wirken mag, ich wünsche uns allen, dass wir im Kampf dagegen ein offenes Denken und ein liebendes Herz behalten und unsere geteilte Menschlichkeit ehren.
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Neue Wege: Anforderungen an Hochschulen im Umgang mit trans* Studierenden A LEX S TERN
Abstract: Das deutsche Hochschulsystem ist auf Studierende der beiden juristisch anerkannten Geschlechter ›weiblich‹ und ›männlich‹ eingerichtet. Angesichts des wachsenden Empowerments binär- und nicht binärgeschlechtlicher trans* Personen und gesetzlicher Neuerungen sehen sich Hochschulen vor Anforderungen gestellt, die höchst unterschiedliche Bereiche ihrer Struktur betreffen: Von baulichen bis zu sprachlichen Anpassungen sind Veränderungen notwendig, um Personen ungeachtet ihrer Geschlechtsidentität Hochschulbildung zugänglich zu machen. Der Artikel befasst sich nach einer kurzen Einführung zu Trans*geschlechtlichkeit damit, welche Veränderungen aus Sicht von trans* Studierenden notwendig sind. Dabei wird am Beispiel zweier Hochschulen nachvollzogen, wie sich die Studiensituation trans* Studierender derzeit gestaltet und welche Verbesserungsmaßnahmen von den Studierenden und den Hochschulen und ihren Mitarbeiter*innen vorgeschlagen oder bereits umgesetzt werden. Anhand der Beispiele kann untersucht werden, welche Strategien zum Abbau von Barrieren im Sinne der Studierenden sind. Abschließend werden allgemeinere Voraussetzungen, die eine Anerkennung trans* Studierender durch die Hochschulen erleichtern, vorgestellt.
Keywords: Trans*, Studium, Hochschule, Geschlecht, Verantwortung, Recht, Diversität, Gleichstellung, Diskriminierungsschutz, Gewalt
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E INLEITUNG »Y. Stern? Ist Frau Y. Stern hier? ... nicht? Gut, dann ist ein Platz mehr frei.« Der Dozent streicht den Namen, unter dem ich auf der Teilnehmer*innenliste des Seminars stehe, energisch aus. Das Seminar muss ich belegen und bin deshalb auf den Platz darin angewiesen. Aber der Vorname, mit dem ich im Teilnehmer*innenverzeichnis stehe, weist mir eindeutig ein Geschlecht zu, das nicht meines ist. Dem mich andere Menschen auch nicht zuordnen würden. Es ist die erste Semesterwoche in meinem neuen Studiengang. Ich möchte nicht, dass meine neuen Kommiliton*innen auf diesem Wege erfahren, dass ich trans* bin. Der Platz wird vorerst an eine andere Person vergeben.
Die meisten trans* Studierenden werden solche oder vergleichbare Erfahrungen in ihrem Studium gemacht haben: Situationen, in denen die Möglichkeit zur Teilnahme am Studium an die Bereitschaft gebunden ist, von und vor anderen Menschen als trans* geoutet zu werden. Situationen, in denen sie sich zwischen dem Schutz ihrer Privatsphäre und möglicherweise auch dem Schutz ihrer sozialen Eingebundenheit einerseits und andererseits der Inanspruchnahme der Angebote, die von ihren Kommiliton*innen genutzt werden, entscheiden müssen. Hochschulen sind in Deutschland in der Regel darauf ausgelegt, Studierende aufzunehmen und zu lehren, die sich entweder dem Geschlecht ›weiblich‹ oder dem Geschlecht ›männlich‹ zuordnen und für die diese Zuordnung zu dem Geschlecht passt, das in ihren Identifikationsdokumenten und ihren Abiturzeugnissen angegeben ist. Diese Orientierung an den Binärgeschlechtern ›weiblich‹ oder ›männlich‹ und an dem Geschlecht, das den Studierenden bei ihrer Geburt zugewiesen wurde, ist hochproblematisch für viele Studierende: für die Studierenden nämlich, deren Geschlechtsidentität weder mit ›männlich‹ noch mit ›weiblich‹ passend bezeichnet werden kann, und für alle Studierenden, deren eingetragenes Geschlecht nicht mit ihrem tatsächlichen Identitätsgeschlecht übereinstimmt. Die oben erwähnte Begebenheit hat sich im Jahr 2014 zugetragen, zu einem Zeitpunkt also, als durch die Änderung des Personenstandsgesetzes (PStG) nach § 22 (3) bereits die Auslassung oder spätere Streichung des Geschlechtseintrags für Personen, die körperlich nicht eindeutig als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zu
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etikettieren sind, rechtens gewesen ist; 33 Jahre nachdem das sogenannte »Transsexuellengesetz« (TSG) in Kraft getreten ist, das die Änderung des Personenstands von »männlich« zu »weiblich« bzw. »weiblich« zu »männlich« und des Vornamens einer Person erlaubt. Allerdings ist das nur unter äußerst restriktiven Bedingungen möglich, die in ihrer Verwobenheit mit der medizinischen Definition von Trans* als psychischer Störung de facto dazu führen, dass Menschen passende Identifikationspapiere nicht ab dem Moment erhalten, ab dem sie die für sie passende Geschlechtsidentität auch in der Öffentlichkeit einnehmen. Auch 2014 können Hochschulen davon ausgehen, dass sie Studierende haben, deren Geschlechtseintrag im Personalausweis nicht zutreffend »männlich« oder »weiblich« lautet. Entsprechende Maßnahmen zur Öffnung des eigenen Studienangebots haben viele Hochschulen bis heute nicht ergriffen. Wenn von Studierenden, die trans* sind, die Rede ist, muss zunächst definiert werden, welche Studierenden mit dem Begriff trans* erfasst werden. Als Ergänzung folgt eine kurze Zusammenfassung, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse derzeit zur Lebens- und Studiensituation von trans* Personen in Deutschland vorliegen. Danach wird beschrieben, welche konkreten Probleme von trans* Studierenden zweier deutscher Hochschulen im Studienalltag benannt worden sind und welche Lösungsstrategien zur Verfügung stehen, um Personen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität ein Hochschulstudium zu ermöglichen. Es wird darauf eingegangen, wie die Hochschulen auf die Vorschläge reagiert haben, die ihnen von trans* Studierenden und ihren Kommiliton*innen unterbreitet worden sind, und welche alternativen Reaktionmöglichkeiten es gäbe. Im Anschluss wird ein Resümee gezogen, ehe auf notwendige grundsätzliche Veränderungen im Umgang deutscher Hochschulen mit Geschlecht eingegangen wird.
T RANS * – E IN B EGRIFF FÜR VIELE M ENSCHEN Der Begriff Trans*, angelehnt an das lateinische Wort trans mit der Bedeutung jenseits (von), ist im Zusammenhang mit Geschlechtsidentitäten mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen und wird immer wieder kontrovers diskutiert. Die Menschen, die sich unter dem Begriff Trans* verorten, bilden die gesamte Heterogenität der Gesellschaft ab und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentitäten. In diesem Beitrag steht der Begriff Trans* immer dann für Geschlechtsidentitäten, wenn diese von den geschlechtlichen Zuordnungen abweichen, die den Personen bei ihrer Geburt zugewiesen worden sind. Vorausgesetzt ist außerdem, dass diese Personen sich dem Begriff Trans* im weitesten Sinne zuordnen möchten.
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Äquivalent dazu sind mit den Begriffen trans* Personen oder trans* Studierenden Menschen gemeint, deren Geschlechtsidentität von der abweicht, die für sie bei ihrer Geburt als zugewiesenes Geschlecht in ihre Geburtsurkunde eingetragen worden ist. Die hier verwendete Bedeutung des Trans*-Begriffs bzw. des Begriffs trans* Personen schließt folglich eine Vielzahl von Geschlechtsidentitäten und Personen mit ein: Erstens werden mit dem Asterisk (*) als Platzhalter für mögliche Endungen des Begriffs unterschiedliche, explizit so benannte Geschlechtskategorien wie z.B. Transidentität oder Transgender eingeschlossen. Als transident oder transgender bezeichnen sich in der Regel Menschen, deren zugewiesenes Geschlecht eins der Binärgeschlechter gewesen ist und deren Identitätsgeschlecht ungefähr dem anderen Binärgeschlecht entspricht. Bezogen auf den offiziellen Wechsel der sozialen Geschlechtsidentität bezeichnen sich manche transidenten Menschen beispielsweise als Mann-zu-Frau (MzF) oder als Frau-zu-Mann (FzM). Zweitens sind mit dem Trans*-Begriff auch Menschen bzw. ihre Geschlechtsidentitäten gefasst, die in ihrer jeweiligen Bezeichnung nicht die Silbe »trans-« aufweisen. Dazu zählen beispielsweise Non Binary Gender als nicht-binäre (d.h. nicht den Binärgeschlechtern zuzuordnende) Geschlechtsidentitäten. Ebenso sind agender Personen gemeint, für die Geschlecht kein Teil ihrer Identität ist oder genderfluide Menschen, deren Geschlechtsidentität sich immer wieder ändert. In seiner Verwendung bezeichnet der Begriff Trans* also sowohl Geschlechtsidentitäten, die mit den Binärgeschlechtern ›weiblich‹ oder ›männlich‹ beschrieben werden können, als auch Geschlechtsidentitäten, die jenseits dieser Dichotomie liegen. Der Begriff Trans* ist explizit nicht an körperliche Konstitutionen gebunden: Menschen aus der gesamten Variationsbreite der möglichen Kombinationen von körperlichen Eigenschaften können trans* sein. Als Gegenbegriff zu trans* wird in diesem Beitrag cis verwendet: Lateinisch diesseits bedeutend, sind mit cis alle Personen gemeint, deren zugewiesenes Geschlecht mit ihrem Identitätsgeschlecht übereinstimmt. Dieser Gegenbegriff ist erstens notwendig, um das Othering von trans* Personen zu beenden, das sich durch die Praxis etabliert hat, immer ausschließlich trans* Personen als besonders zu markieren, indem ihre Geschlechtsidentitäten mit einem Sonderwort (trans*) erweitert werden. Der Gegenbegriff ist zweitens sinnvoll, weil relevant sein kann, wer mit der Bezeichnung ›Frau‹ bzw. ›Mann‹ alles gemeint ist. Mit der Bezeichnung ›Frauen‹ können etwa sowohl Frauen gemeint sein, die ursprünglich nicht den Personenstand ›weiblich‹ zugewiesen bekommen haben (trans* Frauen), als auch Frauen, deren ursprünglicher Geschlechtseintrag ›weiblich‹ von den Frauen
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selbst als passend betrachtet wird (cis Frauen). Wenn ausschließlich cis Personen gemeint sind, wird im Artikel darauf hingewiesen. Geschlecht als soziale Kategorie kann für trans* Personen auf unterschiedliche Weise Bedeutung im Alltag und entsprechend im Hochschulalltag besitzen, je nachdem, ob die trans* Person sich einem der Binärgeschlechter zuordnet (z.B. trans* Männer) oder nicht (z.B. genderfluide trans* Personen). In diesen Fällen wird explizit zwischen binären und nicht binären trans* Personen unterschieden. Wo sich der Beitrag auf die Frage nach einem freiwilligen Coming-out oder einem unfreiwilligen Fremdouting bezieht, muss bedacht werden, dass die Frage, ob überhaupt die Möglichkeit zu einem Verzicht auf ein Outing besteht, von unterschiedlichen Faktoren abhängen kann. Unter anderem können das die persönlichen Vorlieben der Person, die Frage, ob ihre Geschlechtsidentität mit binär oder nichtbinär am besten beschrieben ist, ihre finanziellen Ressourcen, die Leistungen durch ihre Krankenversicherung und ihre Mitmenschen sein.
D ATEN ZUR E RWERBS - UND B ILDUNGSSITUATION VON TRANS * P ERSONEN IN DER B UNDESREPUBLIK Daten zur Lebenssituation von trans* Personen werden häufig gemeinsam mit Daten zu den Lebenssituationen von cis Personen lesbischen, schwulen oder bisexuellen Begehrens erhoben (vgl. z.B. FRA 2013, Frohn/Meinhold/Schmidt 2017). Dabei zeigt sich regelmäßig, dass trans* Personen im Vergleich zu den befragten schwulen, lesbischen oder bisexuellen cis Personen seltener Anerkennung erfahren (vgl. Frohn/Meinhold/Schmidt 2017: 6f.). Stattdessen erleben trans* Personen deutlich häufiger persönliche Diskriminierung (vgl. Frohn/Meinhold/Schmidt 2017, FRA 2013: 10). Hier wird als einer von zwei Schwerpunkten die berufliche Beschäftigung genannt (vgl. FRA 2013: 10). Negative Kommentare oder negatives Verhalten wegen der eigenen Geschlechtsidentität haben innerhalb der fünf Jahre vor der Befragung die Hälfte der deutschen Befragten am Arbeitsplatz erlebt (vgl. ebd.: 35). Franzen/Sauer (2010) haben in einer Sekundäranalyse herausgearbeitet, dass trans* Personen aufgrund ihrer Trans*geschlechtlichkeit einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt erleben. Maßgeblich seien dabei neben Hürden wie der Verweigerung von Arbeitsvermittlungen vorrangig eine Nichtübereinstimmung von (Ausweis-)Dokumenten und gelebtem Geschlecht, die neben langen Wartezeiten bei Personenstandsänderungen auch durch den teilweise vollständig fehlenden Zugang zu Änderungsverfahren begründet ist (vgl. Franzen/Sauer 2010: 34ff.).
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Viele trans* Personen in Beschäftigungsverhältnissen verschweigen ihre Trans*geschlechtlichkeit aus Angst um den Arbeitsplatz, andere werden wegen ihrer Trans*geschlechtlichkeit benachteiligt, ihnen wird gekündigt oder sie geben ihren Arbeitsplatz bei einer Personenstandsänderung und/oder im Zuge körperlicher Angleichungen auf, um der Kündigung zuvorzukommen (vgl. ebd.: 36ff.). Diese Ergebnisse decken sich mit denjenigen von Frohn/Meinhold/Schmidt (2017), die bei genauer Abfrage von Benachteiligungserfahrungen unter anderem trans*spezifische Items wie die Verweigerung, die passende Toiletten nutzen zu dürfen (26 %), mitberücksichtigen (vgl. ebd.: 54). Versuchen Arbeitgeber*innen trans* Personen durch Maßnahmen wie beispielsweise Antidiskriminierungsrichtlinien zu schützen oder mit Diversity-Trainings die Anerkennung von Vielfalt unter den Mitarbeiter*innen zu fördern, können trans* Personen häufiger offen am Arbeitsplatz mit ihrer Geschlechtsidentität umgehen (vgl. ebd.: 45). Trans* Personen geben zu rund 88 % an, überzeugt zu sein, dass Arbeitgeber*innen von Offenheit gegenüber trans* Personen profitierten (vgl. ebd.: 61). Trans* Personen sind im Vergleich zu cis Personen deutlich häufiger arbeitslos oder selbstständig tätig, fallen durch geringe Einkommen auf und berichten von schlechteren Karrierechancen (vgl. Franzen/Sauer 2010: 36ff.). Ein geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit oder prekäre berufliche Situationen sind für die Lebenssituation von trans* Personen unter anderem auch in Hinblick auf das Risiko, Gewalt zu erleben, relevant: Bei den Ergebnissen der FRA fällt auf, dass viele trans* Personen nicht einmalig, sondern wiederholt Gewalt erleben und besonders Personen ohne oder mit geringem Einkommen von Gewalt betroffen sind (vgl. FRA 2014: 53ff.). Die Analysen des TvT research project (2017), in dessen Rahmen weltweit Morde an trans* Personen gesammelt werden, zeigen, dass viele der Ermordeten unter unsicheren Arbeitsbedingungen (Straße, alleine) in der Sexarbeit tätig waren (vgl. Fedorko/Berredo 2017: 18). Doch nicht nur prekäre Arbeitssituationen beeinflussen für trans* Personen das Risiko, Gewalt zu erleben: »Violence in trans and gender-diverse people frequently overlaps with other axes of oppression prevalent in society, such as racism, sexism, xenophobia, and anti-sex worker sentiment and discrimination.« (Ebd.) Dieses Ergebnis deckt sich mit der Feststellung von Franzen/Sauer (2010), die die besondere Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen von trans* People of Color, alters- oder bildungsspezifische Benachteiligung, Sexismus und begehrensbezogene Diskriminierung in bisherigen Forschungsergebnissen abbilden und feststellen, dass ein Desiderat an intersektional orientierten Daten zur Situation von trans* Personen besteht (Franzen/Sauer 2010: 47f.).
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Für den Bildungssektor geben in der Erhebung der FRA 27 % der befragten trans* Personen aus Deutschland an, Diskriminierung in der Rolle als Schüler*in, Student*in oder Elternteil erfahren zu haben (vgl. FRA 2014: 37). Die Atmosphäre an den Schulen wird nur von 28 % als positiv gegenüber LGBT*-Personen erlebt. Die Erhebung der FRA zeigt auch, dass trans* Personen häufiger als die befragten cis Personen Opfer von sexualisierter, (anderer) körperlicher Gewalt oder Androhungen von Gewalt werden (vgl. ebd.: 53ff.). Für Deutschland geben 8 % der befragten trans* Personen an, in den letzten 12 Monaten sexualisierte/körperliche Gewalt oder entsprechende Androhungen erlebt zu haben (vgl. ebd.). In 11 % der jeweils als am schwersten betrachteten Übergriffe werden von den Befragten (international) Mitglieder der eigenen Schule oder Hochschule angegeben (vgl. ebd.: 58f.). Belästigung ohne Androhung von Gewalt haben von den deutschen Teilnehmer*innen 26 % im Jahr vor der Befragung erlebt. Unter den Teilnehmenden insgesamt geben 16 % an, die schwerste Belästigung sei von Mitschüler*innen oder Kommilitonen ausgegangen (vgl. ebd.: 65ff.). Für die Situation von trans* Studierenden an deutschen Hochschulen liegen kaum empirische Daten vor. Eine Befragung unter Mitarbeitenden und Studierenden zum Diskriminierungserleben an der Universität Bielefeld zeigt, dass nichtbinäre trans* Personen häufiger als binärgeschlechtliche Umfrageteilnehmer*innen Diskriminierung erleben oder beobachten (vgl. Berghan/Preuß/Dubbert 2016: 17). Vereinzelt werden Schwierigkeiten mit der Binarität von etwa Toiletten oder Umkleidekabinen benannt (vgl. ebd.: 37f.). Anhand der konkreten Erfahrungen, die unter trans* Studierenden unterschiedlicher Hochschulen (vgl. Beispielfälle) ausgetauscht werden, kann konstatiert werden, dass ein dringender Bedarf an gezielter Forschung zur Situation von trans* Personen an deutschen Hochschulen besteht.
Z WEI H OCHSCHULEN
UND EINE
A RBEITSGRUPPE
Bei den für diesen Artikel untersuchten Hochschulen handelt es sich um zwei staatliche Hochschulen in Nordrhein-Westfalen. Beide Hochschulen bieten eine heterogene Auswahl von Studienfächern aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen an und beschränken sich nicht etwa nur auf technische, sozialwissenschaftliche oder musische Studiengänge. An beiden Hochschulen sind mehr als 10.000 Studierende eingeschrieben, wobei Hochschule B im Vergleich mit Hochschule A mehr als doppelt so hohe Studierendenzahlen aufweist. Im Jahr 2016 wurde nach bereits bestehender Zusammenarbeit in anderen hochschulübergreifenden Projekten von einer rund 15 Personen umfassenden
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Gruppe Studierender eine Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Situation von trans* Studierenden ins Leben gerufen. Unter den Mitgliedern befinden sich sowohl sich als nicht-binär als auch sich als binär verortende trans* Personen. Ebenso sind cis-geschlechtliche Studierende Mitglieder, die sich in der studentischen oder hochschulischen Gleichstellungsarbeit oder in studentischen Referaten für die Vertretung von LGBT*I-Interessen einsetzen oder aus privaten Gründen die Gleichstellung von trans* Personen unterstützen. Inzwischen sind auch einzelne Lehrende Mitglieder der Arbeitsgruppe geworden. Von technischen über naturwissenschaftliche bis zu sozialwissenschaftlichen Disziplinen sind unterschiedliche Studienfächer in der Arbeitsgruppe vertreten. Unter den Mitgliedern sind Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie mit und ohne Behinderung. Die Gruppe trifft sich in regelmäßigen Abständen. Im Verlauf des ersten Jahres erstellt sie ein Konzept, in das das gebündelte Erfahrungswissen der Mitglieder zu strukturellen und interpersonellen Diskriminierungserfahrungen von trans* Personen und aus bisherigen Aktivitäten zur Verbesserung der Situation an den Hochschulen sowie die Ergebnisse überregionalen Engagements einfließen. Während und nach der Fertigstellung des Konzepts werden Akteur*innen an den beiden Hochschulen identifiziert, die an der Behebung der einzelnen Schwierigkeiten für trans* Studierende mitwirken können. Die Arbeitsgruppe beginnt, diese Akteur*innen – einzelne Personen, Dezernate oder Einrichtungen für Studierende – auf das Thema ›Trans*‹ anzusprechen, und bietet Informationen und Lösungsvorschläge für bestehende Barrieren an.
I DENTIFIZIERTE S CHWIERIGKEITEN Der Studienalltag setzt sich für Studierende aus unterschiedlichen Komponenten zusammen: Bauliche Faktoren beziehen sich auf die Hochschule als Gelände, Ansammlung von Bauwerken und Räumen (Bibliotheken, Veranstaltungsräumen, Funktionsräumen usw.) von je nach Studienfach und weiteren Voraussetzungen (z.B. rollstuhlgerechte Zugänge oder Lautsprecheranlagen) unterschiedlicher Nutzbarkeit und Relevanz für die jeweilige Person. Strukturelle Faktoren beschreiben die organisatorischen Aspekte des Studienalltags, die von der Immatrikulation an der Hochschule bis zum Datenmanagement der Studierenden und letztlich bis zur Exmatrikulation die Verwaltung der Studierenden als Hochschulmitglieder betreffen. Interpersonelle Faktoren schließlich sind diejenigen, die den Kontakt mit Kommiliton*innen, Lehrenden und anderen Mitarbeitenden der Hochschule betreffen: Wie gehen die Hochschulangehörigen miteinander um? Zusätzlich sind
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hier Angebote für Studierende auf Organisationsebene wie beispielsweise Beratungsangebote mit erfasst, die sich auf den direkten Kontakt Studierender zu Hochschulmitarbeiter*innen beziehen. Nachfolgend werden die unterschiedlichen Faktoren hinsichtlich bestehender Schwierigkeiten für trans* Studierende beleuchtet. Dabei wird jeweils vorgestellt, wie sich die derzeitige Situation für die Studierenden an den Beispielhochschulen gestaltet.
B AULICHE F AKTOREN Bauliche Faktoren werden dann für trans* Studierende aufgrund ihres Geschlechts relevant, wenn Räume explizit für Männer oder Frauen zur Verfügung stehen und nur für cis Personen ausgestattet sind und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten nicht berücksichtigt werden. Ein Beispiel hierfür sind Umkleidekabinen und Duschen, wenn die Hochschulen über eigene Sportanlagen verfügen oder regionale Anlagen mitbenutzen können. Eine weitere Schwierigkeit für trans* Personen, so auch für trans* Studierende, die in den letzten Jahren mehrfach für aufgeregte Schlagzeilen (vgl. z.B. MüllerVogg 2017) gesorgt hat, ist das Angebot einer ausreichenden Anzahl von benutzbaren Toiletten. Dabei bemisst sich die Nutzbarkeit nicht ausschließlich – wie für WCs für cis Personen zutreffend – an der Sauberkeit der Räume. Trans* Studierende müssen außerdem die Gelegenheit haben, ein WC zu finden, das explizit für (auch nicht-binärgeschlechtliche) trans* Personen gedacht und entsprechend ausgewiesen ist: Zum einen sind Toiletten, die nur cis Frauen oder cis Männern zugedacht sind, häufig nicht für trans* Personen nutzbar. Das ist beispielsweise der Fall, wenn auf Herrentoiletten keine Mülleimer in den Kabinen vorhanden sind, weil den Verantwortlichen nicht denkbar erscheint, dass auch (und nicht nur) trans*männliche Personen gelegentlich Hygienematerialien entsorgen möchten. Zum anderen sind binärgeschlechtlich angelegte WCs für trans* Studierende keine hinreichend geschützten Orte zum kurzen Aufenthalt: Trans*weibliche und nicht-binärgeschlechtliche Menschen machen häufig die Erfahrung, auf WCs mit der Aufschrift »Frauen« als unwillkommene Eindringlinge angesehen zu werden, denen Männlichkeit zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung wird gelegentlich um den Vorwurf von Exhibitionismus oder Voyeurismus ergänzt, den trans* Personen also sexualisierte Übergriffigkeit unterstellt. Eingedenk der Tatsache, dass trans* Personen im Vergleich mit cis Personen häufiger Erfahrungen mit (sexualisierter) Gewalt oder Androhung derselben haben machen müssen (s.o.), wird vor-
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stellbar, wie unangenehm solche Vorwürfe sind. Umgekehrt besteht in für ›Männer‹ vorgesehenen WC-Räumen das Risiko, verbale oder körperliche Übergriffe zu erleben, wenn aufgrund von Vandalismus kein Sichtschutz in Kabinen mehr gegeben ist. Zudem sind zuzüglich zum bereits erwähnten Problem fehlender Abfalleimer und Hygienebeutel die entsprechenden Toiletten häufig so verunreinigt, dass sie für Personen unbenutzbar sind, die sich hinsetzen müssen. Nicht-binären trans* Personen stehen häufig gar keine Toiletten zur Verfügung. Ihnen bleibt dann die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen sozialen Risiko, verbunden mit dem Wissen, dass ihre Bildungsstätte sie nicht hinreichend respektiert, um der Erfüllung basaler körperlicher Bedürfnisse Rechnung zu tragen. Eine besondere Statusgruppe stellen trans* Personen mit körperlichen Behinderungen dar: WCs für Menschen besonders mit Gehbehinderungen sind häufig – als ›rollstuhlgerecht‹ deklariert – nicht gegendert. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass rollstuhlgerechte WCs regelhaft nicht in einer so großen Anzahl zur Verfügung stehen, dass eine Aufteilung für unterschiedliche Nutzer*innengruppen als lohnend erachtet würde. Während der Verzicht auf das binärgeschlechtliche Zuweisen an und für sich positiv zu sehen wäre, ist er im Kontext von körperlicher Behinderung kritisch zu sehen. Der andere, gesellschaftlich etablierte Grund, bei rollstuhlgerechten WCs auf die Zuweisung eines Nutzer*innengeschlechts zu verzichten, besteht in der überkommenen Auffassung, Menschen mit körperlichen Behinderungen seien quasi ›geschlechtslose‹ Wesen. Behinderung vernichte jede Geschlechtsidentität und mache jedes Sexualleben überflüssig (vgl. Köbsell 2010). Aus diesem Grund kann das Nicht-Gendern rollstuhlgerechter WCs nicht als fortschrittlich, sondern muss als rückschrittlich interpretiert werden. Sollten rollstuhlgerechte WCs auch für trans* Personen da sein, müsste, um eine Äquivalenz zu anderen WCs herzustellen, das rollstuhlgerechte WC vorrangig mit »All Gender«, »Alle Geschlechter« oder »Trans*« und einem zusätzlichen Hinweis auf die Rollstuhlgerechtigkeit gekennzeichnet werden. Bei einer solchen Lösung muss allen Beteiligten bewusst sein, dass sie nur als Übergangslösung tauglich ist. Eine langfristige Umbenennung ausschließlich rollstuhlgerechter WCs würde bedeuten, neben den binärgeschlechtlich angebotenen WCs für (nicht auf Rollstühle angewiesene) Fußgänger*innen sozusagen ›Kollektiv-WCs für marginalisierte Gruppen‹ zu etablieren. Rollstuhlgerechte WCs sind zum Schutz vor Vandalismus und Verunreinigung zudem häufig nur mit einem Euro-Schlüssel erreichbar, der ausschließlich an nachweislich bezugsberechtigte Personen vergeben wird (vgl. CBF Darmstadt
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2017). Auch deshalb ist eine formale Öffnung der rollstuhlgerechten Toilettenanlagen durch eine entsprechende Beschilderung für trans* Personen ohne körperliche Behinderung nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Die naheliegendsten Strategien, für trans* Studierende den Zugang zu Umkleidekabinen, Duschen und vor allem WC-Anlagen sicherzustellen, bestünden in gegebenenfalls kostenintensiven baulichen Veränderungen. Alternativ können stattdessen auch bereits vorhandene Anlagen zu »All Gender«-, »Alle Geschlechter«- oder »Trans*«-beschilderten WCs umdeklariert werden. Die Anforderungen sind die gleichen, wie sie auch an WC-Anlagen für ›Männer‹ bzw. ›Frauen‹ zu stellen sind: die Möglichkeit, einen Sichtschutz in Form einer Kabine zu wählen und sich hinzusetzen, sowie vorhandene Abfalleimer in den Kabinen (zu weiteren Optionen s. Hornstein in diesem Band).
B EISPIELFÄLLE An beiden Hochschulen gibt es jeweils an einer Stelle ein »Trans*«- oder nicht gegendertes WC-Angebot mit wenigen Kabinen. Die beiden Angebote sind wahlweise durch händische Ergänzung der Beschilderung oder das (möglicherweise absichtliche) Vergessen selbiger zu »All Gender«-WCs geworden. Sie sind weder zentral noch offensichtlich gelegen. Trans* Studierende sind folglich darauf angewiesen, von Kommiliton*innen auf die Existenz des jeweiligen Angebotes hingewiesen zu werden. In Hochschule A sind zusätzlich die rollstuhlgerechten WCs ohne Euroschlüssel zugänglich. In Hochschule B sind die rollstuhlgerechten WCs entweder in binärgeschlechtlich ausgewiesene, größere WC-Anlagen inkludiert oder nur mit dem Euroschlüssel zugänglich. An beiden Hochschulen werden die Baudezernate von den Studierenden auf die Problematik angesprochen. Dabei wird die Notwendigkeit entsprechender WCs betont und vorher ausgesuchte WC-Anlagen werden je nach Lage in den Gebäuden zur Neudeklaration als »All Gender«-WC vorgeschlagen. In der Hochschule A reagiert die erste Ansprechperson interessiert. Bis zu einer längerfristigen Lösung schlägt sie vor, die offen zugänglichen rollstuhlgerechten WCs explizit als auch für trans* Studierende nutzbare WCs umzudeklarieren. Hochschule B verweist stattdessen auf die vorhandene Anlage und erklärt, nur eine weitere Anlage mit wenigen Kabinen umdeklarieren zu können. Als Begründung dafür nennt sie baurechtliche Vorgaben: Gemäß der Sonderbauverordnung NRW (SoBauVO, in anderen Ländern Versammlungsstättenverordnung) muss in
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Hochschulen eine Mindestanzahl im gesetzlichen Sinne vorhandener, nämlich binärgeschlechtlich deklarierter WCs zur Verfügung stehen. Da Hochschule B zum Teil ältere Gebäude nutzt, bestehe hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits solcher Mangel, dass ein Umbenennen juristisch vorhandener WCs in nicht-binärgeschlechtliche und damit juristisch inexistente Anlagen nicht möglich sei. Eine Lösung kann an dieser Stelle sein, WC-Anlagen trotz der rechtlichen Festschreibung von WCs als entweder für ›Männer‹ oder für ›Frauen‹ gedacht umzubenennen: Wenn bereits jetzt Personen ohne Geschlechtseintrag und ab dem 31.12.2018 auch Personen mit einem positiven dritten Geschlechtseintrag1 wie ihre Mitmenschen studieren können, kann konstatiert werden: Die Festschreibung von nur binärgeschlechtlichen WCs als aus juristischer Sicht existenten Anlagen ist antiquiert. Eine noch niedrigschwelligere Änderung wäre die Neubezeichnung von Anlagen als für »Frauen und Trans*/Inter*« oder »Männer und Trans*/Inter*« gedacht, um die juristische Existenz zu erhalten. Voraussichtlich werden sich die Versammlungsstättenordnungen allerdings in den nächsten Jahren ändern, wenn sie an die juristische Existenz einer dritten Option angepasst werden. Hochschulen könnten vorausschauend bereits jetzt in Anspruch nehmen, die Zuweisung von WCs auch um solche zu ergänzen, die explizit nicht-binärgeschlechtlich sind.
1
Vorläufig wird die Wahl eines dritten positiven Geschlechtseintrags neben dem Wunsch der Antragstellenden formal von körperlich nicht eindeutig als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zu deklarierenden Eigenschaften abhängig gemacht (vgl. BVerfG 2017, PStG). Diese Option ist folglich für inter* Personen gedacht. Möglicherweise ist sie auch für trans* Personen nutzbar. In seiner aktuellen Version ist die Anpassungsmöglichkeit über das Personenstandsgesetz allerdings – ungeachtet ihrer praktischen Anwendungsspielräume – absichtsvoll trans* exkludierend konstruiert. Eine Öffnung der Hochschulen für Studierende, die anderen als den Binärgeschlechtern zugehören, eine vereinfachte Anpassung von Dateneintragungen und gezielte Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung auf interpersoneller Ebene nützt sowohl trans* als auch inter* Studierenden. Zudem ist zu bedenken, dass Personen auch beiden Gruppen angehören können. Aktivist*innen aus den beiden, sich gelegentlich überschneidenden Bereichen verfolgen teilweise (ähnlich der Heterogenität innerhalb der Gruppen, die sich dem Trans*-Begriff zuordnen könnten) vor dem Hintergrund unterschiedlicher, historisch gewachsener Lebensbedingungen für trans* und inter* Personen in der Bundesrepublik verschiedene Ziele. Nichtsdestotrotz kann vieles, das vorrangig unter Trans*bzw. Inter*-Gesichtspunkten erreicht wird, jeweils auch Menschen dienen, die sich ausschließlich dem jeweils anderen Begriff zuordnen – und vieles, das erreicht wird, allen Menschen, wie beispielsweise eine reflektierte Verwendung des Geschlechterbegriffs.
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Ebenso sollten sie Umkleidekabinen zur Verfügung stellen, die für trans* Studierende nutzbar sind.
S TRUKTURELLE F AKTOREN Unter den Faktoren, die vorrangig auf der Ebene der Verwaltung einer Hochschule wirken, lässt sich der Übersichtlichkeit halber trennen zwischen dem hochschulinternen Umgang mit trans* Studierenden und denjenigen Faktoren, die außerhalb der Hochschule wirkungsmächtig werden. Dabei geht es vorrangig um das die Studierendendaten betreffende Datenmanagement der Hochschule (vgl. Hornstein in diesem Band). Studierende werden von den Hochschulen in einer oder mehreren Datenbanken erfasst: Je nachdem, ob Studierendenverzeichnis, Nutzungsverzeichnis der Bibliothek(en), Zugang zu hochschuleigenen Rechnern und WLAN, Rechnungssystemen wie der elektronischen Bezahlung von Mensa- oder Kopiergebühren, das Semesterticket für den Öffentlichen Nahverkehr, Veranstaltungsverzeichnis, Prüfungsverzeichnis und Online-Lernplattformen an dieselben oder unterschiedliche Accounts in unterschiedlichen EDV-(Sub-)Systemen gebunden sind, können für eine Person diverse Nutzungskonten aufgrund ihrer Einschreibung bestehen. In der Regel werden Studierende in all diesen Systemen mit Vor- und Nachnamen, Matrikelnummer, ggf. Semesterzahl und Studiengang und meistens ihrem eingetragenen Geschlecht erfasst. Über die Sinnhaftigkeit der Geschlechtszuordnung lässt sich streiten: In Nordrhein-Westfalen finden sich z.B. auf manchen Ländertickets zur ÖPNV-Nutzung, die den Studierenden zur Verfügung gestellt werden, binärgeschlechtliche Einträge.
H OCHSCHULINTERNE A USWIRKUNGEN Die (in der Regel binär-)geschlechtliche Zuordnung der Studierenden wirkt sich auf die Wahrnehmung dieser Studierenden durch Kommiliton*innen und Hochschulmitarbeiter*innen aus: Im Hochschulalltag werden vor Kommiliton*innen Ausweise zur Literaturausleihe oder in der Mensa genutzt. Der Studierendenausweis kann bei gemeinsamen Aktivitäten vorgezeigt werden, wenn Preisnachlässe für Student*innen angeboten werden, und die Ticketkontrolle im ÖPNV kann stattfinden, wenn Studierende gemeinsam unterwegs sind. Bei allen diesen Gelegenheiten können für trans* Studierende unangenehme Situationen entstehen, wenn ihr Ausweis von
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Kommiliton*innen gesehen wird. Trans* Studierende können durch ihre hochschulbezogenen Ausweise geoutet werden, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, die Ausweise schnell und ohne hohe bürokratische Hürden an ihr tatsächliches Geschlecht anpassen zu lassen. Wenn trans* Studierende aus bestimmten Gründen dringend vermeiden müssen, von bzw. vor Kommiliton*innen als trans*geschlechtlich geoutet zu werden, bleibt ihnen an dieser Stelle nur der soziale Rückzug. Im Kontext von Lehrveranstaltungen bestehen durch Teilnehmer*innenverzeichnisse und Online-Lernangebote, deren Zugangsdaten häufig ebenso wie EMail-Adressen der Hochschule aus den Einschreibungsdaten übernommen werden, für trans* Studierende Hürden: Die Eintragung in Teilnehmer*innenverzeichnisse und die Teilnahme an online zu bearbeitenden Lehrinhalten ist häufig obligatorisch für Studierende, um Leistungspunkte verbucht zu bekommen. Teilnehmer*innenverzeichnisse werden von Lehrenden allerdings häufig genutzt, um Teilnehmer*innenlisten der Studierenden anzufertigen, die entweder laut verlesen oder offen ausgelegt oder herumgereicht werden, damit Studierende sich für Referatstermine oder Ähnliches eintragen können. Zudem werden bisweilen Ergebnisse von Klausuren oder Zuordnungen der Studierenden zu Praktikumsveranstaltungen mit abgedruckten Namen aus dem Teilnehmer*innenverzeichnis ausgehängt. Sind veranstaltungsinterne E-Mails an die im Teilnehmer*innenverzeichnis elektronisch hinterlegten E-Mail-Adressen gebunden, erreichen solche E-Mails gegebenenfalls all die trans* Studierenden nicht, die sich ein alternatives E-MailKonto erstellt haben. Das geschieht dann, wenn sie nicht die Gelegenheit geboten bekommen, ihre im Verzeichnis angegebene E-Mail-Adresse zeitnah zu ändern. Neben der hohen Wahrscheinlichkeit, dass trans* Studierende auch hier einem unfreiwilligen Outing vor Kommiliton*innen als trans*geschlechtlich ausgesetzt sind, können ihnen Veranstaltungsteilnahmen verweigert werden. Zudem können sie aus Rundmails ausgeschlossen werden, wenn sie nicht bereit sind, die Hochschuladresse zu verwenden. Gelegentlich können die Adressen selbst abgeändert werden. Solange in diesen Fällen trotzdem der Name der Studierenden als Absender*in hinterlegt ist, hilft die Änderungsmöglichkeit trans* Studierenden allerdings nicht.
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Z WISCHEN S PRACHE
INTERNER UND EXTERNER
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W IRKUNG :
Ein hochschulinterner Bezugspunkt zu Geschlecht mit direkten Auswirkungen auf den äußeren Eindruck der Hochschule sind die Regelungen zur Verwendung von geschlechtersensibler Schriftsprache: Kommunizieren die Hochschulen so, dass trans* Personen als Hochschulmitglieder, Studieninteressierte oder Ehemalige auf der Website der Hochschule mitberücksichtigt und angesprochen werden? Richten sich Bekanntmachungen, Aufforderungen und Stellenausschreibungen tatsächlich an die gesamte Zielgruppe? Oder wird sich sprachlich ausschließlich an »Studentinnen und Studenten« oder gar nur an »Studenten« gerichtet und allenfalls in einer Fußnote darauf verwiesen, dass Personen aller Geschlechter oder (nur) auch weibliche Personen mitgemeint seien? Sprache ist als Mittel der Bewusstseinsbildung und des Ein- oder Ausschlusses von Menschen nicht zu unterschätzen. George Orwell legt in seiner Dystopie »1984« einem Sprachwissenschaftler folgende Sätze in den Mund: »Zum Schluß werden wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht haben, da es keine mehr Worte gibt, in denen man sie ausdrücken könnte. […] Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewußtseins immer kleiner und kleiner werden.« (Orwell 1983: 50) Wenn trans* Personen nie gemeinsam mit cis Personen im Sprachgebrauch auftauchen und wenn niemand die Begriffe kennt und nutzt, die trans* Personen für sich reklamieren, sind sie im geteilten Wissen dieser sozialen Wirklichkeit als trans* Personen nicht existent (vgl. Berger/Luckmann 2004). Allenfalls existieren sie als Personen, denen zugeschrieben wird, cis zu sein. Die deutsche Sprache kann im Vergleich zu anderen Sprachen wie etwa dem Englischen stark zwischen Geschlechtern differenzieren, etwa dann, wenn es um Tätigkeitszuweisungen an Personen geht. Sie bietet gleichzeitig aber auch eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit oder über Personen ohne Geschlechtszuweisung zu kommunizieren: Von der Nutzung von Partizipkonstruktionen (›Studierende‹) bis zur Verwendung von Gender_Gap (›Student_innen‹) oder Asterisk (Student*innen) lassen sich in aller Regel Mittel und Wege finden, Personen aller Geschlechter anzusprechen. Gelegentlich wird gegen die Verwendung besonders des Gender_Gaps als eines ›konstruierten‹ schriftsprachlichen Elements und gegen die Verwendung von Partizipkonstruktionen als grammatikalisch in dieser Nutzungsform nicht korrekte Norm argumentiert. Diese Argumente lassen sich mit dem Hinweis darauf widerlegen, dass Sprachen und Grammatiken sich grundsätzlich verändern und den Bedingungen anpassen müssen, unter denen sie verwendet werden. Zudem sind die
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meisten Akademiker*innen in der Lage, sich eines fachspezifischen Soziolekts zu bedienen, den Fachfremde kaum oder gar nicht verstehen (vgl. Honer 1999). Aus diesem Grunde sollten gerade Akademiker*innen die bisweilen getätigte Aussage, geschlechtersensible Sprache bedeute eine nicht zu bewältigende Verkomplizierung des Sprachgebrauchs, nicht teilen: Sie dürften geübt in der Adaption neuer Bestandteile von Sprache sein, werden in ihren jeweiligen Fachgebieten doch fortwährend Neologismen zur Bezeichnung neuer Diskussionsgegenstände geschaffen. Wenn Hochschulen sich darum bemühen, einen geschlechtersensiblen Sprachstil sowohl in ihrer internen als auch in ihrer öffentlichen Kommunikation zu etablieren, kann der Grad der Reflexion, mit der Mitarbeitende und Studierende (Schrift-)Sprache verwenden, wachsen. Eine solche Reflexion dürfte im Sinne all derer sein, denen an einer Pflege des sprachlichen Niveaus an Hochschulen gelegen ist. Hochschulen können über die strukturelle Ebene Mitarbeitende und Studierende aktiv dabei unterstützen, geschlechtersensible (Schrift-)Sprache zu verwenden (vgl. Hornstein in diesem Band). Das kann und sollte beispielsweise geschehen, indem Hochschulen ihre Online-Auftritte entsprechend anpassen. Eine weitere Hilfestellung kann die Bereitstellung von Formulierungshilfen oder -leitfäden sein, die zum freien Download an hinreichend prominenter Stelle angeboten werden. Dass die gelegentlich geäußerte Aussage übertriebener Emotionalisierung mit einer Erwartungshaltung einher geht, die sogar von Personen, die gewöhnlich das Privileg einer für sie passenden Ansprache genießen, selbst nicht erfüllt wird, kann als bewiesen betrachtet werden: Die Universität Leipzig verabschiedete 2013 eine im generischen Femininum gehaltene Grundordnung, in der in einer Fußnote darauf verwiesen wurde, dass Männer jeweils mitgemeint seien und ihre Amts- und Funktionsbezeichnungen in männlicher Form führen könnten (vgl. Universität Leipzig 2013: 1). In der Folge erreichten sowohl die Rektorin der Universität als auch den Gleichstellungsbeauftragten teilweise empörte Reaktionen – aber auch verängstigte von Männern, die befürchteten, in Zukunft ihre Amtsbezeichnungen mit falscher Geschlechtsbezeichnung führen zu müssen (vgl. Hentsch 2014). Eine unpassende Ansprache wird offenkundig von den wenigsten Menschen geschätzt. An der Universität Leipzig geht es um eine einzelne Ordnung. Die mitgemeinte Männlichkeit wird in der Fußnote als bekanntermaßen existent markiert. Für viele trans* Personen ist eine falsche Anrede in Kombination mit einer falschen Vornamensnennung alltäglich. Für nicht-binäre trans* Personen ist es eine alltägliche Erfahrung, weder in der (Schrift-)Sprache noch im Bewusstsein ihrer Gesprächspartner*innen als Personen mit einer Berechtigung zu einer korrekten Anrede zu existieren. Trans*geschlechtlichkeiten werden häufig nicht einmal einem anderen
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Geschlecht untergeordnet, wie es bei der Wahl eines generisch verwendeten Geschlechts anderen Geschlechtern per Fußnote geschieht. Sie bleiben vollständig unsichtbar. Bei aller Gegenargumentation gegen die oben aufgeführten Vorbehalte gegenüber geschlechtersensibler Sprache muss Folgendes bedacht werden: Das grundsätzliche Argument für die Anpassung von (Schrift-)Sprache bleibt, dass die Personen angesprochen werden, die tatsächlich gemeint sind, nämlich beispielsweise alle Personen, die an der Hochschule (oder Fakultät) studieren, dort angestellt sind oder lehren (vgl. Hornstein in diesem Band).
H OCHSCHULEXTERNE A USWIRKUNGEN Ebenso haben die Geschlechtseintragungen auf struktureller Ebene Auswirkungen auf weitere Lebensbereiche der Studierenden: Neben der bereits erwähnten, unnötigen Geschlechtszuweisung auf Semestertickets müssen Studierende je nach Lebenssituation unterschiedlichen Organisationen und Personen Studienbescheinigungen aushändigen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen orientieren sich wie die meisten Hochschulen am Personalausweis einer Person und die Einreichung kann in der Regel ohne persönlichen Kontakt geschehen. Trans* Studierende können über die Verwendung eines Ergänzungsausweises (vgl. dgti 2017) bei der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses erreichen, dass der von ihnen gewählte Vorname und das für sie passende Geschlecht innerhalb des beruflichen Umfeldes verwendet werden. Diese Studierenden können bei der Einreichung ihrer Studienbescheinigung ebenso in Erklärungsnot geraten wie Studierende, die den Nachweis persönlich im BAföG-Amt, bei Kreditinstituten wie der KfW oder ihren Vermieter*innen einreichen müssen. Wenn trans* Studierende aus Sicht der jeweiligen Mitarbeiter*innen nicht dem Geschlecht entsprechen, das auf der Studienbescheinigung angegeben ist, kann neben Nachfragen, die in der Regel ein Outing als trans*geschlechtlich für die Studierenden bedeuten, auch der Vorwurf geäußert werden, nicht Besitzer*in der eingereichten Bescheinigung zu sein. Auf persönlicher Ebene kann es für trans* Studierende eine immense Belastung darstellen, sich (in der Regel mehrmals täglich) mit unzutreffendem Namen in verschiedene Online-Angebote der Hochschule einzuloggen. Es kann des Weiteren ein wiederkehrendes Ärgernis sein, Post von der Hochschule fortwährend auf den falschen Namen und mit einer falschen Geschlechtszuweisung zugestellt zu bekommen. Folglich ist es von großer Bedeutung für die Studiensituation von trans* Personen, wie auf struktureller Ebene über den Umgang mit ihnen entschieden wird.
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Zukünftige Lebenssituationen trans* Studierender sind vor allem im Zusammenhang mit Zeugnissen von Belang: Viele trans* Studierende können oder wollen keine formale Änderung nach dem TSG oder dem PStG vornehmen lassen, die eine nachträgliche Anpassung von Zeugnissen ermöglichen. Wie bereits angemerkt worden ist, werden trans* Personen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt (s.o.). Arbeitgeber*innen können über eingehende Bewerbungen mit namentlich und geschlechtlich nicht stimmigen Zeugnissen bereits vorselektieren und damit der trans* Person die Gelegenheit nehmen, im persönlichen Bewerbungsgespräch zu überzeugen und eventuelle Differenzen wie z.B. zwischen Sozialversicherungseintrag und Zeugnis zu einem selbstgewählten Zeitpunkt anzusprechen. Wenn Hochschulen Wert auf eine über das Studium hinausreichende Anbindung ihrer Absolvent*innen an die Organisation legen und diese Anbindung etwa im Zuge von festlichen Veranstaltungen zur Zeugnisübergabe initiieren wollen, ist auch hier die direkte Ausstellung von Zeugnissen auf den für die von trans* Studierenden selbstgewählten Namen sinnvoll: Trans* Studierende werden an entsprechenden Veranstaltungen nicht teilnehmen, wenn die formale Überreichung des Zeugnisses unter der Nutzung falscher Vornamen und Pronomen stattfindet.
B EISPIELFÄLLE Beide Hochschulen sind von Studierenden gefragt worden, ob sie über feste Regelungen zum Umgang mit Vornamens- und Geschlechtseintragungen von Studierenden und zu möglichen Änderungen beider Einträge verfügen. Für Hochschule A stellte sich heraus, dass es keine derartigen Regelungen gibt. Die Hochschule informierte sich beim zuständigen Landesamt, ob gesetzliche Regelungen auf Landesebene vorlägen. Der Umgang mit trans* Studierenden sei, wie vom Landesamt festgestellt, individuell auf Hochschulebene zu regeln. Die Studierenden und die Hochschulverwaltung bleiben zu diesem Thema miteinander in Kontakt. Das von Hochschule A angefragte Landesamt weist darauf hin, dass Studierende sich darüber im Klaren sein müssten, dass auf den gewählten Vornamen ausgestellte Dokumente beim Gebrauch außerhalb der Hochschule zu Schwierigkeiten führen könnten. Zudem wird an Studierende beider Hochschulen vonseiten einzelner Verwaltungsmitarbeiter*innen die Sorge herangetragen, dass der Tatbestand der Urkundenfälschung erfüllt sein könnte, wenn die Hochschule Abschlusszeugnisse und ähnliche Dokumente auf den selbstgewählten Namen der Studierenden ausstelle.
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Personen können nach einer Personenstandsänderung nach dem TSG oder dem Personenstandsgesetz eine Neuausstellung ihrer Zeugnisdokumente fordern (vgl. Empfehlung der HRK 2016). Die Hochschulrektorenkonferenz hat die Empfehlung ausgesprochen, neu ausgestellte Zeugnisse in solchen Fällen auf das Datum der ehemaligen Erstausstellung zurückzudatieren, um trans* Personen ein Outing aufgrund von Nachfragen zu einer sichtbaren Neuausstellung zu ersparen (vgl. ebd.). Solche Änderungen können je nach Auslastung der Aussteller*innen längere Wartezeiten bedeuten, in jedem Falle aber zusätzlichen Arbeitsaufwand für alle Beteiligten. Es wäre also bereits in Hinblick auf den möglichen späteren Arbeitsaufwand sinnvoll, trans* Studierenden ihre Abschlussdokumente direkt auf den selbstgewählten Namen und das passende Geschlecht auszustellen. Eine formale Personenstandsänderung stellt für viele trans* Studierende keine Option dar (s.u.). Deshalb sollte durch die Hochschulen ermöglicht werden, dass auch diese trans* Personen nicht bereits mit der Einsendung von Bewerbungsunterlagen aufgrund von Vorurteilen vorselektiert werden können. Trans* Personen sollten selbst entscheiden können, zu welchem Zeitpunkt sie – wenn überhaupt – anderen Menschen gegenüber ihre Trans*geschlechtlichkeit thematisieren. Hochschulen müssen entgegen den geäußerten Sorgen nicht die Befürchtung haben, bei der Verwendung der für die Studierenden passenden Daten gegenüber Dritten wegen einer möglichen Urkundenfälschung belangt zu werden: Wie von Augstein (2013) ausgeführt, sind bei der Ausstellung von Abschlusszeugnissen oder anderen Nachweisen auf den gewählten Namen und das passende Geschlecht einer Person weder der Tatbestand der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) noch der der Falschbeurkundung (§§ 271 und 348 StGB) erfüllt. Zur Erfüllung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung müsste die Hochschule über die ausstellende Person täuschen oder eine andere als die ausstellende Person nachträglich Änderungen an der Urkunde vornehmen (vgl. Augstein 2013: 2). Für die Straftaten im Zusammenhang mit Falschbeurkundung müsste es sich bei den Urkunden bzw. Zeugnissen um Urkunden handeln, die erstens öffentlich sind. Zweitens müssen sich die (hier: vermeintlich) falschen Angaben auf rechtserhebliche Tatsachen beziehen und drittens muss die Falschbeurkundung den mit der Urkunde zu beweisenden Aspekt des Dokuments betreffen (vgl. ebd.: 3f.). Wenn Hochschulen Semesterbescheinigungen oder Abschlussurkunden ausstellen oder Studierendendaten für Semestertickets an Dritte (Verkehrsverbünde) weiterleiten, täuschen sie nicht darüber, dass die Hochschulen bzw. die einzelnen Angestellten die Aussteller*innen sind. Semesterbescheinigungen, Semestertickets und Abschlusszeugnisse sind keine öffentlichen Urkunden, die von allen eingesehen werden können und dürfen. Rechtserhebliche Tatsachen und die zu beweisenden Aspekte der Dokumente beziehen sich jeweils darauf, dass eine Person
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studiert oder ein bestimmtes Studium mit bestimmten Leistungen zu einem Abschluss gebracht hat. Vorname und Personenstand sind dabei nicht erheblich. Eine spätere Überprüfung der Abschlussleistungen ist auch bei einer Ausstellung der Dokumente auf den richtigen Vornamen und das passende Geschlecht möglich: Über die Kombination von Nachname, Fakultät, Studiendauer und Abschlussnote sowie dem Thema ihrer Abschlussarbeiten bleiben die Studierenden nachträglich identifizierbar. An Hochschule B gilt die – nicht offen (etwa auf der Website) – kommunizierte Regel, dass Studierende eine Änderung ihres Namens und ihres Personenstands erwirken können. Allerdings steht ihnen diese Möglichkeit nur offen, wenn sie den Nachweis erbringen können, dass für sie beim zuständigen Amtsgericht ein Verfahren nach dem TSG eröffnet worden ist. Die Löschung des Geschlechtseintrages sei an Hochschule B in einem Teil der EDV-Systeme möglich, werde aber nur vorgenommen, wenn Studierende belegen könnten, auf körperlicher Ebene keinem Binärgeschlecht zugeordnet zu werden. Ein positiver nicht-binärer Geschlechtseintrag stehe derzeit nicht zur Verfügung. Für nicht binäre trans* Studierende ist die bloße Löschung daher nur möglich, wenn sie die Bedingungen für inter*geschlechtliche Studierende erfüllen. Für Mitarbeitende (und somit auch für trans* Studierende, die für die Hochschule arbeiten) bietet die Hochschule B die Löschung des Personenstands im Verzeichnis der Mitarbeitenden an. Allerdings besteht auch hier nur die Möglichkeit einer Löschung anstelle eines positiven Eintrags – und die betreffenden Mitarbeitenden werden von E-Mails, die über geschlechtsspezifische Verteiler für Männer oder Frauen weitergeleitet werden, pauschal nicht mehr erreicht. Sollten sich trans*- oder inter*geschlechtliche Studierende z.B. auf Hochschulebene gegen Sexismus engagieren, würden sie von allen E-Mails speziell an Mitarbeiterinnen nicht mehr erreicht. Hier wären drei Veränderungen sinnvoll: Die Hochschule B könnte erstens einen positiven dritten Personenstand anbieten. Dieser könnte z.B. ›trans*/inter*‹ lauten, ›inter*/divers‹ (wie von der Person vorgeschlagen, die erfolgreich das Recht auf ein drittes Geschlecht durchgesetzt hat, vgl. Dritte Option 2017). Zweitens könnte die Hochschule diese Möglichkeit auch nicht-binären trans* Studierenden auf Wunsch anbieten, die nicht an der Hochschule tätig sind. Drittens sollte sie sicherstellen, dass die betreffenden Personen nicht von Verteilern ausgeschlossen werden. Die sicherlich einfachste Lösung wäre hier, alle diejenigen, die die dritte Option gewählt haben, sowohl in die Verteiler für Männer als auch für Frauen mit einzubinden. Den Personen dürfte zuzutrauen sein, selbst zu selektieren, welche binärgeschlechtlich zugeordneten Nachrichten ihre jeweiligen Tätigkeiten betreffen.
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Der empfohlene Umgang mit trans*- und inter*geschlechtlichen Studierenden der Hochschule B ist diskriminierend und weder mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte Studierender noch der Lebensrealität vieler trans* Studierender vereinbar. Die Forderung nach dem Beleg eines eröffneten Verfahrens nach dem TSG ist aus drei Gründen als deplatziert zu betrachten: Erstens steht eine Personenstandsänderung nach dem TSG ausschließlich trans* Personen offen, die sich binärgeschlechtlich verorten. Nicht-binäre trans* Personen haben derzeit keine Möglichkeit, ihren Personenstand und ihren Namen behördlich angleichen zu lassen. Ausgenommen ist hier der Weg über das PStG, falls sie vorher eine binäre Personenstandsänderung und einzelne körperliche Angleichungen haben vornehmen lassen (vgl. Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle 2017, AZ 17 W 5/17). Von nicht-binären trans* Personen zu erwarten, dass dieser Weg inklusive der Nachteile des TSG (s.u.) und gegebenenfalls nicht erwünschter körperlicher Eingriffe gewählt wird, ist unverhältnismäßig. Zweitens sind Verfahren nach dem TSG explizit nicht-öffentlich. Beteiligte des Verfahrens sind ausschließlich die Antragstellenden oder ihre gesetzlichen Vertreter*innen sowie das zuständige Amtsgericht (§ 3 TSG). Die Entscheidung für ein Verfahren nach dem TSG ist eine Entscheidung, die im Zuge der Begutachtungen nach § 4 Absatz 3 TSG unter anderem erfordert, dass Personen sich einer psychiatrischen Diagnostik aussetzen. Im Zuge dieser Diagnostik muss ihnen nach aktuellem Stand der Rechtslage die Diagnose F 64.0 ›Transsexualismus‹ gegeben werden. Menschen, die geringe Chancen haben, diese Diagnose einer psychischen Störung zu erhalten, sehen in der Regel von Anträgen auf Personenstandsänderung ab. Mit der Forderung nach einem Nachweis über ein eröffnetes Verfahren nach dem TSG verlangt Hochschule B damit folglich implizit, dass Studierende Details zu einer bei ihnen diagnostizierbaren Störung preisgeben. Nach § 3 Absatz 9 des Bundesdatenschutzgesetzes (BSDG) unterliegen Daten zu Erkrankungen einem besonderen Schutz. Die Hochschule kann nicht pauschal davon ausgehen, dass mit ihrer Nachweisforderung die schutzwürdigen Interessen der Studierenden nach den § 3 Absatz 9 (2) und § 28 BSDG überwogen werden. Solange Verfahren nach dem TSG an den Nachweis einer psychiatrischen Störung gebunden sind, sollten Hochschulen entsprechende Verfahren nicht zur Grundlage ihres Umgangs mit Studierenden machen. Mit dem gleichen Hinweis lässt sich annehmen, dass die Forderung nach medizinischen Nachweisen zur Streichung eines Geschlechtseintrags die Privatsphäre Studierender verletzt. Im Übrigen bliebe zu fragen, mit welcher Fachkenntnis Verwaltungsangestellte humangenetischen oder medizinischen Befunden begegnen und welche direkte Wirkung der Chromosomensatz einer Person nach Ansicht der Hochschule B auf das
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Studium hat. Zudem ist festgestellt worden, dass auf Bundesebene ein positiver dritter Geschlechtseintrag gefunden werden muss. Eine einfache ›Lücke‹ ist zukünftig nicht mehr ausreichend. Drittens verfehlt die Bindung einer Anpassung von Vorname und Geschlechtseintrag an ein eröffnetes Verfahren nach dem TSG die Bedarfe der Studierenden: Verfahren zur Personenstandsänderung sind kostspielig und können mehr als 4000 € zuzüglich der Gebühren für die Änderung von Ausweisdokumenten kosten. Studierende haben die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe im Rahmen des Verfahrens zu beantragen. Allerdings gelten dabei ähnliche Grundsätze wie bei BAföGLeistungen: Nicht alle Personen, die dieser Förderung bedürfen, sind überhaupt in der Lage, einen derartigen Antrag zu stellen, oder sind bezugsberechtigt. Bei jüngeren trans* Studierenden kann ein Gericht je nach Sensibilität für die Thematik noch auf die Einstandspflicht der Eltern verweisen, was für die Studierenden je nach familiärer Situation erhebliche psychosoziale Schäden zur Folge haben kann. Internationale Studierende und andere Studierende, deren Staatsangehörigkeit nicht den Voraussetzungen des § 1 Absatz 1 (3) des TSG genügt (vgl. Hamm 2016: 12), haben keine Möglichkeit, ein Verfahren zu eröffnen. Wenn deutsche Hochschulen eine Internationalisierung oder die Förderung derselben anstreben, sollten sie dieses Umstandes gewahr sein. Derzeit sind für Verfahren nach dem TSG trotz einer Streichung der zwangsweisen Auflösung von Ehen, der nachgewiesenen, dauerhaften Zeugungsunfähigkeit (Kastration) und umfassender operativer Behandlungen nach § 8 Absatz 3 und 4 nach wie vor restriktive Verfahrensregelungen gültig. Mit der verpflichtenden psychiatrischen Begutachtung nach § 4 Absatz 3 müssen sich trans* Personen Situationen aussetzen, in denen sie ihnen unbekannten Personen Fragen beantworten müssen, die aufgrund der Vermengung sexuellen Begehrens und geschlechtlicher Identität regelhaft die Intimsphäre der begutachteten Personen verletzen. Eine leitlinienkonforme Diagnostik setzt bereits bei trans* Jugendlichen die »Exploration sexueller Erfahrungen, Präferenz in Phantasie und Verhalten [sowie von] Masturbationsphantasien« voraus (AWMF 2013: 3). Die für die Gutachten erforderliche Konformität mit den stereotypen Anforderungen der diagnostischen Leitlinien ist in der Regel am ehesten dann zu erreichen, wenn die trans* Personen eine ausreichende medizinische Vorbildung aufweisen, um sich vor den Verfahren mit den Anforderungen vertraut machen zu können, und ist damit nicht unabhängig von Bildungschancen. Haben trans* Personen bestimmte Behinderungen oder chronische Erkrankungen (besonders im psychiatrischen Bereich), können diese gemäß den Leitlinien als Ausschlusskriterien für die erforderliche Diagnose interpretiert werden (vgl. ebd.: 2f., 5, MDS
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2009: 9). Die Leitlinie zur Begutachtung Erwachsener wurde von Sexualwissenschaftler*innen als nicht mehr zeitgemäß erkannt (vgl. Nieder/Briken/ Richter-Appelt 2013) und soll ersetzt werden (vgl. AWMF 2012). Bis zur Fertigstellung und Implementierung der Neufassung müssen erwachsene trans* Personen allerdings weiterhin den inzwischen 20 Jahre alten Standards der vorherigen Leitlinie (vgl. ebd.) entsprechen. Trans* Personen müssen zudem bereit sein, die formale Diagnose einer psychischen Störung (F64.0 Transsexualismus gem. ICD-10) in Kauf zu nehmen, was ihnen im späteren Lebensverlauf bei der Zulassung zu bestimmten Ausbildungen oder Berufsfeldern zum Nachteil gereichen kann. Des Weiteren wird in Deutschland zwar rein rechtlich kein Wunsch nach massiven körperlichen Eingriffen mehr gefordert, in der psychiatrischen Diagnostik – deren Ergebnis für das Änderungsverfahren derzeit entscheidend ist – aber vorausgesetzt. Da die Stellungnahmen der Gutachter*innen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts haben, sind trans* Personen in der Regel nicht in der Position, sich gegen derartige Druckausübung oder weiterreichende Übergriffe zur Wehr zu setzen (vgl. Hoenes 2014: 57f.). Auch binäre trans* Personen haben daher gewichtige Gründe, sich gegen ein Verfahren nach dem TSG zu entscheiden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Anforderungen der Hochschule B unangemessen sind und für eine Änderung des Vornamens und eine Änderung oder Streichung des Geschlechtseintrags für trans* Studierende nur in Ausnahmefällen nutzbar sein dürften. Wie der Hochschule A vom Landesministerium mitgeteilt, steht es Hochschulen frei, einen eigenen Umgang mit Vornamens- und Geschlechtseintragungen Studierender zu wählen. Wenn Hochschulen als Voraussetzung einer Änderung von Vornamen und Änderung oder Streichung von Geschlechtseinträgen von den Studierenden Nachweise verlangen, sollten sie sich auf die Forderung nach dem Ergänzungsausweis der dgti beschränken und den Nachweis von laufenden Verfahren nach dem TSG oder dem PStG lediglich als mögliche Alternativen anbieten. Der Ergänzungsausweis ist nicht an pathologisierende medizinische Diagnostik und binärgeschlechtliche Zuordnung gebunden, sondern wird auf vorhandenen Bedarf hin ausgestellt. Als Ausweis trägt er die gleiche Identifikationsnummer wie der Personalausweis, verfügt über den selbstgewählten Vornamen der trans* Person, ein Lichtbild und ggf. einen Geschlechtseintrag. Er ist vom Bundesministerium des Inneren anerkannt (vgl. BMI 2016). Wenn bestimmte EDV-Systeme einer Hochschule aktuell keine Eintragung eines dritten Geschlechtseintrags erlauben, wäre es sinnvoller, die IT an die Bedarfe der Studierenden anzupassen, statt eine Anpassung der Studierenden an die IT zu erwarten. Sowohl Hochschule A als auch Hochschule B bieten Studiengänge aus
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dem Informatikbereich an. Die Entwicklung wenig aufwändiger Anpassungsstrategien an nicht-binäre Geschlechtseinträge dürfte eine zukunftsträchtige Aufgabe sein, für die an beiden Hochschulen das notwendige Fachwissen vorhanden ist. Einfache, d.h. nicht an eine juristische Personenstandsänderung gebundene Möglichkeiten zur hochschulinternen Korrektur von Vornamen im EDV-System sind derzeit an Hochschule B ebenso wenig möglich wie an Hochschule A. Beide Hochschulen unterhalten Online-Lernsysteme, in denen Studierende sich nur austauschen können, wenn sie in Kauf nehmen, dass Kommiliton*innen ihre eingetragenen Namen einsehen können. Für den Austausch von Informationen mit inhaltlichem Bezug zu einer Veranstaltung unter Studierenden ist irrelevant, welchen Vornamen Personen nutzen. Es gibt keinen Grund, Studierenden nicht die Möglichkeit zu bieten, die in ihren Accounts angezeigten Vornamen anzupassen. Solange die Accounts selbst an Matrikelnummern gebunden sind, bliebe für die Hochschulen selbst dann, wenn auch der Nachname geändert werden könnte, nachvollziehbar, um wen es sich jeweils handelt.2 Dass Studierende von der Hochschule ausgestellte Dokumente hochschulextern zum Nachweis ihres Studierendenstatus oder eines Abschlusses vorlegen müssen und dabei möglicherweise in Erklärungsnot geraten, wenn diese Dokumente nicht dem Personalausweis entsprechen, ist zwar zutreffend. Hier handelt es sich im Gegensatz zum oben erwähnten Problem der an den Personalausweis gebundenen Nachweise aber um ein Risiko, das trans* Studierende einkalkulieren können und für das sie sich selbst entschieden haben. Die Ausstellung von Abschlusszeugnissen muss in der Regel durch die Studierenden beantragt werden. Es sollte möglich sein, trans* Studierende bei diesem Antrag die Wahl treffen zu lassen, ob das Abschlusszeugnis auf den in der Hochschule genutzten Vornamen oder den auf dem Personalausweis abgedruckten ausgestellt werden soll. Hochschulen müssen Studierende nicht vor Entscheidungen schützen, die die Studierenden in Kenntnis ihrer eigenen Lebensumstände selbst am besten treffen können. Zudem kommen Nachfragen und diskriminierende Äußerungen deutlich seltener vor, wenn vorgelegte Nachweise nicht in extremer Diskrepanz zum Aussehen einer Person stehen, zumal dann, wenn eine Hochschule den betreffenden Geschlechtseintrag oder eine Auslassung nachweislich anerkennt. 2
Eine solche Option käme auch Studierenden zugute, die aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit auf die Verwendung von Alias angewiesen sind. Hochschulen bieten intern selten die Möglichkeiten, die etwa Meldeämter Bürger*innen in Form von Auskunftssperren auf Antrag zugestehen. Eine Abänderung wenigstens der Vornamen könnte auch dieser Gruppe Studierender den Austausch mit Kommiliton*innen auf Lernplattformen erleichtern.
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Im Umgang mit (Schrift-)Sprache bieten die Allgemeinen Studierenden-Ausschüsse (AStA) der Hochschulen Formulierungshilfen an, in Hochschule A derzeit noch auf Anfrage, der AStA der Hochschule B hat entsprechende Hinweise und Erläuterungen auf die eigene Website gesetzt. Von Hochschulseite aus finden sich auf den Seiten der zentralen Gleichstellung von Hochschule B ebenfalls Formulierungshilfen. Die eigene Website der zentralen Gleichstellung ist in weiten Teilen sprachlich allerdings ausschließlich binärgeschlechtlich strukturiert. Wiederholte Nachfragen an trans* Studierende zur Existenz von Formulierungshilfen lassen darauf schließen, dass Hochschule A entsprechende Informationen überhaupt und Hochschule B sie an prominenterer Stelle platzieren sollte. Vorläufig sind die Websites beider Hochschulen nur anteilig geschlechtersensibel formuliert. Trans* findet nur auf verlinkten Websites, die von studentischen Hochschulgruppen und -ausschüssen betreut werden, explizit Erwähnung. Weder auf den Seiten der zentralen Gleichstellungen noch im Zusammenhang mit Diversity werden trans* Studierende außerhalb einzelner Veranstaltungsarchive als existent erwähnt oder adressiert. Von Studierenden auf dieses Informationsdefizit angesprochen, verweist Hochschule A auf den AStA und dessen Website. Die Gleichstellung der Hochschule B verspricht, das Thema zu diskutieren. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes stellt in einer rechtlichen Einschätzung fest: »Festzuhalten bleibt, dass für die Hochschule grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken dagegen bestehen, bei trans*Studierenden [sic!] vollumfänglich deren selbst gewählten, (noch) nicht amtlich geänderten Vornamen zu verwenden« (ADS 2016: 6). Ganz im Gegenteil spricht sowohl aus rechtlicher Sicht in Hinblick auf den Schutz der Daten der Studierenden als auch aus praktischer Sicht vieles dafür, trans* Studierenden ein Studium unter dem passenden Personenstand und Namen zu ermöglichen. Mit der Anerkennung der Geschlechtsidentitäten trans* Studierender und einer offenen Positionierung in ihren Internetauftritten könnten Hochschulen aktiv der Diskriminierung von trans* Personen sowohl innerhalb auch außerhalb der Hochschule vorbeugen und ein Zeichen gegen Intoleranz setzen.
I NHALTE
VON
L EHRVERANSTALTUNGEN
Trans* ist ein Thema, das viele unterschiedliche Studiengänge auch unabhängig von den Geschlechtern der Studierenden betrifft: Die meisten Hochschulen bieten Studiengänge an, die unter anderem auf die vollständige oder teilweise Qualifikation von Personen zu professioneller Arbeit im psychosozialen, erzieherischen oder medizinischen Bereich ausgelegt sind. Diese Studierenden sollten im späteren,
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hochschulexternen Ausbildungsverlauf und Berufsalltag in der Lage sein, mit und an Kindern und Erwachsenen professionelle Arbeit zu leisten. Wie die Schwierigkeiten, die gelegentlich im Umgang mit EDV-Systemen entstehen, und die, die aufgrund der mangelhaften Datenlage zu trans* Personen gegeben sind, deutlich machen, kann Geschlechtsidentität auch für vorrangig datenverarbeitungs- und forschungsorientierte Studiengänge von späterem inhaltlichem Interesse sein. Mindestens dort, wo Geschlechtsidentität ein wahlweise inhaltlicher, die Klient*innen selektierender oder die Arbeitsstrukturen beeinflussender Faktor im späteren Berufsalltag sein kann, sollten Studierende sich bereits vor der Aufnahme praktischer Tätigkeiten mit ihm auseinandergesetzt haben. Trans* kann hier erstens als Teilthema einen Zugang bieten, der dem reflexiven Umgang mit vermeintlich sicherem Allgemeinwissen und der eigenen gesellschaftlichen Position förderlich ist: »Such a project [trans curriculum, Anm. A.S.] would not simply contribute to visibility of and sensibilization toward people whose experiences do not conform to our limited understanding of sex-gender, but would serve to broader these understandings and question stereotypes that affect everyone.« (DePalma 2017: 306)
Zweitens sollte Trans* als (Bündelung von) Geschlechtskategorie(n) besonders auch deshalb thematisiert werden, weil Trans* in diversen Feldern praktischer Arbeit für die jetzt Studierenden zu Herausforderungen führen kann, für die ihre späteren Arbeitgeber*innen möglicherweise – wie viele Hochschulen – noch keine oder nur unzureichend standardisierte Vorgehensweisen entwickelt haben. Professionelle können sich vor Fragen wie diese gestellt sehen: Wie können Mitarbeiter*innen im Jugendamt reagieren, wenn in einer Familie erhebliche Konflikte um den Umgang mit der Trans*geschlechtlichkeit eines Kindes entstanden sind? Wie kann professionell verfahren werden, wenn das Thema im Zuge familiärer Problemlagen instrumentalisiert wird? Wie kann die Lehrkraft ein trans*geschlechtliches Kind im Klassenbuch führen? Wie kann ein Vorgehen im Sinne des Kindes zwischen Schulleitung, Eltern und Klassenlehrer*in gut abgestimmt werden? Welche Form therapeutischer Begleitung ist sinnvoll, wenn Klient*innen in der psychotherapeutischen Praxis Trans* thematisieren? Wie kann die Unterstützung von Klient*innen im Kontakt mit anderen Akteur*innen der gesundheitlichen Versorgung (z.B. dem MDK) ablaufen? Welche professionellen Anforderungen entstehen, wenn Klient*innen eine Personenstandsänderung anstreben? Wie kann die Fachberatungsstelle zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen reagieren, wenn ein nicht-binärer Mensch um Beratung bittet?
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Welcher Gruppe können die Sexualpädagog*innen den jugendlichen trans* Menschen am besten zuordnen, der mit der Schulklasse gekommen ist? Wie bringt eine Station Patient*innen unter, die eine körperliche Angleichung vorgenommen haben, deren juristischer Personenstand aber (noch) nicht passend ist? Welche Besonderheiten müssen beachtet werden, wenn die gesundheitliche Versorgung von trans* Personen mit einem bestimmten Personenstand verbunden ist (z.B. falsche Referenzbereiche im Labor, Indikation von Medikamenten)? Wenn Professionelle sich bereits vor konkreten Anlässen mit der Frage auseinandergesetzt haben, was ein professioneller Umgang auch mit trans* Personen erfordert und beinhaltet, können sie mit entstehenden Herausforderungen souveräner umgehen und eher sicherstellen, dass ihren Klient*innen bzw. Patient*innen kein Nachteil aus ihrer Geschlechtsidentität entsteht. Die Auseinandersetzung mit Geschlecht kann nicht nur eine Vorbereitung auf die berufliche Praxis darstellen, sondern bedeutet, wie Rendtorff (2017) konstatiert, auch eine Auseinandersetzung mit Stereotypen: Wo sie erkannt werden können und hinterfragbar sind, wo die ihnen innewohnenden Vereinfachungen nicht vorbehaltlos akzeptiert werden, sondern »Konfliktreiches und Widersprüchliches, Unabgeschlossenes und unabschließbare Offenheit sehr grundsätzlich wertgeschätzt werden« (Rendtorff 2017: 27), kann der Kreativität Raum geboten werden, derer Wissenschaft bedarf (vgl. auch Hornstein in diesem Band).
B EISPIELFÄLLE Sowohl Hochschule A als auch Hochschule B bieten Studiengänge an, die auf die vollständige oder anteilige Ausbildung Professioneller ausgelegt sind. In den Vorlesungsverzeichnissen beider Hochschulen finden sich für das Wintersemester 2017/2018 keine Veranstaltungen, die im Titel explizit Trans* benennen. Eine (Hochschule A) bzw. drei (Hochschule B) Veranstaltungen beziehen sich dem Titel nach auf die Queer Theory oder Geschlecht als Konstruktion, womit relativ sicher davon auszugehen ist, dass sie sich inhaltlich auf mehr als zwei Geschlechter beziehen. Bisherige Erfahrungen von Studierenden beider Hochschulen spiegeln wider, dass sonstige geschlechtsbezogene Titelzusätze in Veranstaltungen häufig lediglich bedeuten, dass sich das Seminar thematisch explizit auf Weiblichkeit bezieht. Der Bezug zu trans* Personen oder wenigstens trans*weiblichen Personen wird nach Erfahrung der Studierenden häufig mit dem Verweis auf die mangelhafte Datenlage nicht einmal auf Rückfrage hergestellt und beibehalten.
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Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass in bestimmten Bereichen an Hochschule B von einzelnen Lehrenden Trans*geschlechtlichkeit immer wieder eingedacht und in Seminaren unterschiedlicher thematischer Richtungen mit aufgegriffen wird. Besonders befürworten die trans* Studierenden der Hochschulen, die miteinander in Austausch stehen, dass von diesen Lehrenden oft trans* Personen eingeladen werden, die sich selbst zum Thema äußern. Die bisherigen Rückmeldungen von Studierenden der Seminare, in denen die Lehrenden trans* Personen solche Themenslots eingeräumt haben, sind mehrheitlich ausgesprochen positiv. Diese Entwicklung ist definitiv als Verbesserung zu betrachten, kann aber nicht ausreichen: An den Hochschulen kann unter anderem mit den späteren Berufszielen des Lehramts, der Sozialen Arbeit oder der Psychotherapie studiert werden. Unter anderem für die entsprechenden Studiengänge wäre es dringend notwendig, Trans*geschlechtlichkeit als regulären Teil des Curriculums zu begreifen und in den Grundlagenveranstaltungen zu thematisieren. Derzeit ist es dem persönlichen Interesse der Studierenden und dem Engagement einzelner Lehrender überlassen, ob eine Auseinandersetzung mit der Thematik im Studium erfolgt. Eine spätere Konfrontation mit der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten im beruflichen Rahmen wird allerdings nicht vom persönlichen Interesse der jetzt Studierenden abhängig sein. Die Rückmeldungen der Studierenden aus den Seminaren, in denen Trans* thematisiert worden ist, unterstreichen diese Überlegung: Häufig sind die Studierenden angesichts der Relevanz, die das Thema in ihren späteren Berufsfeldern haben kann, und angesichts seiner Komplexität erstaunt, dass es in den Grundlagenveranstaltungen kaum Erwähnung findet.
I NTERPERSONELLE F AKTOREN Trans* Studierende können die Erfahrung machen, dass Mitarbeiter*innen aus Technik und Verwaltung oder der Lehre sowie die Kommiliton*innen sich für die Belange der Studierenden einsetzen und mit ihnen gemeinsam Lösungen für Probleme wie die oben genannten entwickeln. Im Folgenden sollen unter anderem solche interpersonellen Faktoren mit besonderem Bezug auf die Lehre näher beleuchtet werden. Die Bedeutung von Lehrenden und Kommiliton*innen für ein erfolgreiches Studium muss nicht besonders betont werden: Von den Lehrenden ist abhängig, ob Studierende Leistungsnachweise für erbrachte Leistungen erhalten, und damit, ob die Studierenden ihren Abschluss machen können. Lehrende sind zusätzlich
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auf sozialer Ebene diejenigen, die die Veranstaltungen strukturieren und – in unterschiedlichem Ausmaß – deren Inhalt festlegen. Über beides nehmen sie Einfluss darauf, ob und in welchem Umfang Studierende miteinander im Veranstaltungsrahmen mindestens kommunizieren müssen. In der Regel ist ein guter Kontakt zu wenigstens einigen Kommiliton*innen im Studium unabdingbar. Studierende werden erstens während des Studiums Leistungen in Gruppenarbeit erstellen und zu diesem Zweck mit anderen zusammenarbeiten müssen. Zweitens treffen sich Studierende des gleichen Studiengangs und der gleichen Kohorte durch die zunehmende Modularisierung von Studiengängen in Deutschland meist über Jahre immer wieder in Lehrveranstaltungen. Je nach Studiengang kann das den Großteil der an der Hochschule verbrachten Zeit betreffen. Trans* Studierende können beispielsweise die Erfahrung machen, dass Lehrende die Existenz von trans* Personen (und trans* Studierenden in ihren Veranstaltungen) weder pathologisieren noch negieren, sondern sie gleichberechtigt mit Personen anderer Geschlechter behandeln. Kommiliton*innen können ihnen mit Offenheit begegnen und auf sozialer Ebene defizitäre Regelungen der Hochschule ausgleichen, indem sie die richtigen Namen der Studierenden verwenden (vgl. Hornstein in diesem Band). Zu Kommiliton*innen können sich außerdem von Respekt getragene Freundschaften entwickeln. Damit kann die Hochschule für trans* Studierende, die in ihren Herkunftsfamilien oder früheren Milieus Ablehnung oder Gewalt aufgrund ihrer Trans*geschlechtlichkeit erfahren haben, zu einem sicheren Raum werden. Umgekehrt können Lehrende durch diskriminierende Äußerungen oder beständiges Outing trans* Studierenden den Besuch von Lehrveranstaltungen erschweren oder unmöglich machen. Wenn die Studierenden erleben, dass ihre Kommiliton*innen sich im Zweifelsfall nicht parteilich zeigen, sondern z.B. auf beleidigende Witze der Lehrenden mit Gelächter und auf ein Outing mit Ausgrenzung reagieren, werden sie die Lehrveranstaltung künftig nicht mehr besuchen. In dem Moment, in dem eine Person von der Trans*geschlechtlichkeit einer nicht geouteten anderen Person Kenntnis erlangt, entsteht durch das Ungleichgewicht der möglicherweise diskreditierenden Informationen, die die Personen voneinander besitzen, ein Machtungleichgewicht (vgl. Goffman 1975). Wenn nicht geoutete trans* Studierende dank eines mangelhaften hochschulischen Datenmanagements ausgerechnet ihren Lehrenden als trans* bekannt werden, wird dieses Machtungleichgewicht verstärkt: Die Lehrenden sind diejenigen, die die Studierenden nicht nur vor den Kommiliton*innen outen könnten, sondern auch die, die zur Vergabe von Noten und der Anerkennung von Leistungsnachweisen berechtigt sind.
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Gehen Lehrende mit ihrem Wissen verantwortungsvoll um, kann das technische Versagen der Hochschule an dieser Stelle ausgeglichen werden. Haben Lehrende allerdings Vorurteile gegenüber trans*geschlechtlichen Menschen, kann die Situation für Studierende bedeuten, dass sie die Lehrenden um jeden Preis zufriedenstellen müssen, um einem Outing vor den Kommiliton*innen zu entgehen. Wenn es sich bei den Lehrveranstaltungen, die durch die Lehrenden angeboten werden, um Pflichtveranstaltungen handelt, können Studierende den Veranstaltungen unter Umständen nicht fernbleiben. Je nach Ausgestaltung der Lehre durch die Lehrenden kann zusätzlich dem namentlichen Aufrufen durch die Lehrenden nicht ausgewichen werden. Die doppelte Abhängigkeit über den Leistungsnachweis einer- und die Sicherung der sozialen Integration andererseits kann für trans* Studierende immensen Stress bedeuten: Jede Woche von Neuem befürchten zu müssen, dass die Kommiliton*innen erfahren, dass eine Person trans* ist, heißt für die Person, ihr eigenes Verhalten permanent auf eine ›unauffällige‹ Geschlechtsperformance hin kontrollieren zu müssen und gleichzeitig zu hoffen, dass die Lehrenden sich keinen Fehler erlauben. Ebenso unangenehm ist allerdings eine Situation, in der Studierende in einem Seminar permanent – in der Regel also wöchentlich – falsch angesprochen werden: Bereits wiederholt falsch angesprochen zu werden ist eine schmerzhafte Erfahrung für trans* Personen. In den meisten Fällen verlangt es Menschen viel Mut ab, erstmals anzugeben, dass sie anders als ihrem Ausweisdokument entsprechend angesprochen werden möchten. Wenn der Zurückweisung durch die Hochschule, die dazu führt, dass Lehrende überhaupt Kenntnis über unpassende Ausweisnamen erhalten, eine Missachtung durch Lehrende folgt, können trans* Studierende sich fragen, ob sie überhaupt an der Hochschule erwünscht seien. Lehrende können ihre Studierenden auf den Sinn geschlechtersensibler Schriftsprache hinweisen, umgekehrt aber auch die Annahme von schriftlichen Leistungen verweigern, die mit Gender_Gap verfasst sind. Sie können trans* Studierende durch beiläufige oder explizite Erwähnung von mehr als zwei Geschlechtern und klaren Positionierungen gegen LGBT*I-feindliche Äußerungen in Lehrveranstaltungen schützen. Umgekehrt können sie selbst durch trans*abwertende Äußerungen dafür sorgen, dass trans* Personen, möchten sie widersprechen, das Risiko eines Outings wegen der gesteigerten Aufmerksamkeit seitens der Kommiliton*innen eingehen. Oder die trans* Studierenden nehmen schweigend zur Kenntnis, dass Personen wie ihnen in dieser Lehrveranstaltung nicht mit Wertschätzung begegnet werden wird. Kommiliton*innen können sich in Fällen absichtsvoller Falschanrede entweder für die trans* Person einsetzen oder darauf warten, dass die Lehre von einer Diskussion unterbrochen wird, und wahlweise ihren Unmut äußern, wenn es zu
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der erwarteten Unterbrechung kommt (zur Bedeutung von Verbündetenschaft s. Hornstein in diesem Band). Andernfalls können sie zu dem Schluss kommen, dass die Falschanrede ›nicht so schlimm‹ sei. Kommiliton*innen können trans* Studierende einfach als Personen annehmen und respektieren. Wenn Verunsicherung gegenüber trans* Personen besteht, können Studierende den trans* Studierenden aber auch mit Ausgrenzung begegnen. Was häufig ebenfalls geschieht, ist, dass die trans* Studierenden sich mit Fragen konfrontiert sehen, die hilfreich sein können, wie etwa die Frage, wie sie gerne angesprochen werden, oder unangenehm, wie die Fragen, die trans* Personen wohl häufiger als cis Personen gestellt werden.
E XKURS : F RAGEN Es gibt Fragen, denen trans* Personen vorzugsweise bei unfreiwilligen Outings im Alltag häufig begegnen: Fragen nach dem ›echten Namen‹ (womit die Fragenden sich auf den bei der Geburt erhaltenen Namen beziehen), sofern dessen Nennung nicht der Auslöser für das Outing gewesen ist, sind für trans* Personen unschön. Solche Fragen vermitteln den Eindruck, der selbstgewählte Name sei für das Gegenüber kein ›echter‹. Wirklich beschämend sind allerdings Fragen nach den primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen der trans* Personen. In unserer Gesellschaft ist es weder üblich noch höflich, vollständig oder weitgehend unbekannten Personen im (halb)öffentlichen Raum wie etwa einem Hochschulflur, in der Warteschlange der Mensa oder mitten im Seminar Fragen zu ihren Genitalien zu stellen. Selbiges gilt für Fragen nach dem Sexualleben. Ebenso unhöflich ist es, anderen Personen ausgiebig auf den Ausschnitt oder zwischen die Beine zu starren. Derartiges Verhalten ist übergriffig und bedeutet eine Sexualisierung und Degradierung anderer Menschen zu Objekten (des eigenen/öffentlichen Interesses). Es herrscht inzwischen (leider nur) weitgehend Einigkeit darüber, dass derartiges Verhalten gegenüber cis Frauen sexistisch und verwerflich ist. Trans* Personen machen häufig die Erfahrung, dass Fragen und Blicke dieser Art ihnen gegenüber nicht außerhalb der Grenzen guten Benehmens liegen: Ist es zu einem Outing gekommen oder hat die trans* Person gar nicht erst die Möglichkeit, unauffällig als cis Person durchzugehen, scheinen andere Menschen in ihrer Neugier zu vergessen, dass auch trans* Personen eine schützenswerte Intimsphäre haben. Verweigern trans* Personen verärgert die Antwort, verweist das Gegenüber häufig empört darauf, »man werde ja wohl noch fragen dürfen«. So nachvollziehbar die Neugier anderer auf bisher unbekannte Geschlechtsidentitäten und mögliche körperliche Angleichungen sein mag, so wünschenswert
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wäre, dass entsprechende Fragen eines Tages ebenso wie sexistische Verhaltensweisen gegenüber cis Frauen oder rassistische Fragen an People of Color flächendeckend geächtet werden.
B EISPIELFÄLLE An beiden Hochschulen haben trans* Studierende bereits sämtliche positive und negative Erfahrungen gemacht, die hier Erwähnung gefunden haben. Die Studierenden haben z.B. erlebt, auf dem Campus von ihnen vollkommen Unbekannten oder direkt nach einem Seminar auf dem Flur von Kommiliton*innen zu ihren körperlichen Eigenschaften oder sexuellen Vorlieben befragt zu werden. Anfeindungen und (sexualisierte) Abwertungen einerseits und Unterstützung andererseits sind erlebt worden. Es gibt Erfahrungen von unterstützender Positionierung (vgl. Hornstein in diesem Band) durch Kommiliton*innen bei diskriminierenden Äußerungen durch Lehrende ebenso wie Erfahrungen aus Seminaren, in denen trans* Studierende seitens der Kommiliton*innen systematisch ausgegrenzt worden sind. Auch im Umgang mit Lehrenden variieren die Erlebnisse stark. Manche Lehrenden bemühen sich, eine trans*freundliche Position deutlich zu machen. In solchen Fällen wird oft erlebt, wie einzelne Kommiliton*innen sich über die »politische Korrektheit« aufregen. Die trans* Personen können sich dann allerdings sicher sein, bei offenen Anfeindungen Unterstützung durch die Lehrenden zu erhalten. Viele Lehrende gehen auf die Bitten der Studierenden ein, sie mit dem passenden Namen und entsprechender Anrede anzusprechen. Andere machen allerdings deutlich, dass sie solchen Bitten nicht entsprechen werden: Trans* Studierende sind zum Teil bereits von Lehrenden aufgefordert worden, den Personalausweis-Namen laut vor dem versammelten Seminar zu nennen. In solchen Situationen werden Studierende nicht nur als trans* geoutet, sondern müssen zusätzlich Auskünfte geben, die für sie unangenehm und für niemanden zweckdienlich sind. Lehrende können die Personen ebenso gut nach dem Seminar ansprechen und nachfragen, unter welchem Namen sie im Verzeichnis geführt werden. In anderen Fällen wurden die Teilnehmer*innenlisten ohne Änderung laut vorgelesen, obwohl um alternative Lösungen wie das Vorlesen des passenden Namens gebeten worden ist. Lehrende haben, so sie nicht verbeamtet sind, im Zuge ihrer Einstellung förmlich zugesichert, das Gesetz über die Verpflichtung nicht verbeamteter Personen zu achten (nach § 1 desselben). Unter anderem haben sie zugestimmt, Privatge-
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heimnisse nicht zu verletzen (§ 203 StGB). Auch wenn Studierende beider Hochschulen durch Lernplattformen, in denen sie die Eintragung unter unpassendem Namen vor einer Personenstandsänderung nicht vermeiden können, ihren Kommiliton*innen gegenüber geoutet werden, bleibt zu bedenken: Sobald in einer Veranstaltung keine Lernplattform genutzt wird, können Lehrende nicht davon ausgehen, dass bereits ein Outing stattgefunden hat. Wenn Studierende sie also über die eigenen Lebensumstände aufklären und darum bitten, ein vermeidbares Outing zu unterlassen, könnten Lehrende sich auf ihre förmliche Verpflichtung berufen und davon absehen, Privatgeheimnisse (die Namen Studierender sind keine öffentlich zugängliche Information, s.o.) preiszugeben. Wenn die Namen aus den Studierendenverzeichnissen der EDV direkt für das Veranstaltungsverzeichnis übernommen werden, können sich Studierende, die z.B. Übungen oder Tutorien übernehmen, entweder erklären oder unpassende Ansprachen akzeptieren. Während Hochschule B je nach fakultätsinternen Regelungen Angestellten die Möglichkeit bietet, Einträge anzupassen, stoßen trans* Studierende mit entsprechenden Anliegen in Hochschule A auf Desinteresse. Die häufigste Erfahrung bezüglich des Umgangs mit Trans*thematiken seitens der Lehrenden dürfte wohl sein, dass Studierende Lehrenden – und gelegentlich Studierenden – dabei zuhören, wie Letztere sich negativ über trans* Personen äußern. In der Regel dient in solchen Fällen die Schreibweise mit Gender_Gap als Anlass. Wie bereits erwähnt, verändert sich die Situation zumindest in einzelnen Studiengängen beider Hochschulen allerdings zum Besseren: Eine langsam wachsende Zahl Lehrender hat bemerkt, dass es sinnvoll ist, von mehr als zwei Geschlechtern auszugehen und das auch zu erwähnen. Es wäre vermessen, Lehrenden, die Studierende outen, Gender_Gaps verbieten oder sich über Trans*geschlechtlichkeit abwertend äußern, pauschal schlechte Absichten zu unterstellen. Ähnlich werden Studierende sich nicht alle als absichtsvoll ausgrenzend wahrnehmen, die ihre Kommiliton*innen wegen deren Trans*geschlechtlichkeit ausgrenzen, ihnen beschämende Fragen stellen oder ihnen das Einstehen für eine korrekte Ansprache verübeln. Vielmehr zeigt sich hier eine Problematik, aus der respektloses Verhalten resultieren kann: Die meisten Menschen sind kaum über geschlechtliche Vielfalt informiert und haben sich mit der Rolle, die ihre Geschlechtsidentität in ihrem eigenen Leben für sie spielt, noch wenig beschäftigt. Andere Studierende verhalten sich häufig, wenn sie sich selbstständig oder über den Kontakt zu trans* Studierenden zur Thematik informiert haben, solidarisch mit den trans* Studierenden gegenüber Personen, die ihre Kommiliton*innen ausgrenzen. Ebenso parteilich äußern sich Studierende und Lehrende mehrheitlich, sobald sie über den Status quo der jeweiligen Hochschule im Umgang
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mit trans* Personen und dessen Konsequenzen für die Studierenden informiert sind.
E IN G EDANKEN -
ODER
K RISENEXPERIMENT
Wenn Menschen sich die Zeit nehmen, sich bestimmte Szenarien vorzustellen, oder sie den Mut aufbringen, bestimmte Szenarien tatsächlich auszuprobieren, wird ihnen in der Regel schnell bewusst, dass es keine ›überflüssige Sonderleistung‹ ist, wenn trans* Personen um bestimmte Anpassungen bitten. Ein Experiment für cis Personen kann z.B. folgendermaßen aussehen: • Stellen Sie sich 24 Stunden lang bei jeder Gelegenheit, zu der Sie mit
»Frau …« oder »Herr …« angesprochen werden oder zu der jemand über Sie als »sie« bzw. »er« spricht, vor, die andere Person habe die für Sie unpassende Anrede oder einen unpassend geschlechtszuweisenden Vornamen verwendet. Wenn Sie sich den Versuch zutrauen, erleben Sie das Ganze praktisch und lassen Sie sich konsequent (auch vor anderen Dritten und besonders in Sitzungen oder Lehrveranstaltungen) einen Tag lang von Ihren Mitarbeiter*innen und Freund*innen falsch ansprechen. • Stellen Sie sich 24 Stunden lang bei jeder Gelegenheit, zu der Sie ein geschlechtszuweisendes Dokument oder eine Karte mit oder ohne Foto vorlegen müssen, vor, Sie müssten jetzt erklären, weshalb auf dem Dokument die Geschlechtsidentität eingetragen ist, die dort direkt oder aus Ihrem Vornamen ablesbar ist. • Stellen Sie sich 24 Stunden lang bei jedem Besuch des WC in Ihrer Hochschule vor, Sie müssten dasjenige nehmen, das Sie in der Regel nicht benutzen – inklusive fehlender Mülleimer, verunreinigter WC-Brillen, Löcher in den Wänden oder alternativ der feindseligen oder verunsicherten Blicke aller anderen gerade Anwesenden. Wenn Ihre Hochschule über einzelne, nicht gegenderte WCs verfügt, machen Sie sich einen Tag lang die Mühe, tatsächlich jedes Mal ausschließlich diese WCs aufzusuchen. Wenn Menschen diese (Gedanken-)Experimente für den vorgeschlagenen Zeitraum durchführen, können sie oft einige Schlussfolgerungen treffen: 1. Es ist verunsichernd zu erleben, dass andere Personen sich offenkundig über die falsche Anrede oder den unpassenden Namen austauschen und beginnen, neugierig den Körper der Experimentierenden in Augenschein zu nehmen.
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2. Nach einigen Szenen voller verwirrter Blicke verursacht jede Situation, in der neue Personen dazukommen und die Experimentierenden sich der Tatsache bewusst sind, dass sie gleich vermutlich falsch angesprochen werden und bei weiteren Personen Irritationen auslösen, Stress. Die Experimentierenden werden sich schlechter auf die Gesprächsinhalte und ihre Arbeit konzentrieren können. 3. Es ist zeitaufwendig und anstrengend, sich fortwährend erklären zu müssen oder immer wahlweise bis zu den benutzbaren WCs gehen zu müssen. 4. Die wenigsten Menschen werden sich solchen Verhältnissen aus Langeweile aussetzen. Trans* Studierende entwickeln im Laufe der Zeit häufig Strategien oder ein verblüffendes Maß an Sarkasmus, um mit diesen Effekten umzugehen. Nichtsdestotrotz können die Situationen belastend bleiben. Im Gegensatz zu dem (Gedanken-) Experiment gibt es solche Situationen auch nach 24 Stunden immer wieder, solange die Studierenden an der Hochschule verbleiben und die Hochschule die notwendigen Anpassungen nicht vornimmt. Für trans* Studierende haben erzwungene Outings, der wiederkehrende Zwang, sich zu erklären, um nicht für unhöflich erklärt zu werden, und die weiten Wege zu Toilettenanlagen noch weitere Folgen: Die Pausen zwischen Lehrveranstaltungen können nicht mit den Kommiliton*innen verbracht werden, wenn weit entfernte Orte aufgesucht werden müssen. Das Sich-Erklären gegenüber neuen Mitgliedern der Peer Group, gegenüber Personen, die im Rahmen studentischer Nebenbeschäftigung angetroffen werden oder, wenn ein Outing vermieden werden soll, gegenüber neuen Lehrenden ist anstrengend, denn es ist nie klar, wie das Gegenüber reagiert. Dass sozialer Stress in Lernsituationen sich auf die Lern- und Leistungsfähigkeit von Personen in der Regel negativ auswirkt, kann als hinreichend bewiesen gelten (vgl. z.B. Frohn/Meinhold/Schmidt 2017). Das gilt auch für das Studium. Trans* Personen können je nach Ressourcen, wie z.B. unterstützenden Einzelpersonen oder Gruppen, Selbstsicherheit und Geduld gegenüber Rückfragen und verständnislosen Reaktionen, mit dem alltäglichen Stress in wenig trans*offenen Hochschulen gut oder weniger gut umgehen. Ein weiterer, den Umgang mit Stressoren beeinflussender Faktor kann das Wissen um bildungspolitische Versäumnisse sein, das dazu führen kann, das Gegenüber vorrangig als uninformiert und nicht als absichtsvoll verletzend zu betrachten. Während manche trans* Studierenden in ihren jeweiligen Lebenssituationen über die Ressourcen verfügen, sich gegen Beleidigungen oder Übergriffe zu wehren, ist es für andere trans* Studierende phasenweise eine Herausforderung, trotz
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gegebenenfalls entwickelter Sozialphobien oder Depressionen überhaupt noch die Hochschule aufzusuchen. Wenn trans* Studierende parallel zum Studium erwerbstätig und/oder (allein-)erziehend sind, zusätzlich zum alltäglichen Auskommen das Geld für eine Personenstandsänderung ansparen müssen oder in zermürbende Diskussionen mit ihrer Krankenkasse verwickelt sind, sind die Ressourcen für eine weitere Auseinandersetzung oder sorgfältige Erklärungen bisweilen nicht mehr vorhanden. Wenn aufgrund von problematischen Umständen, die durch Unverständnis oder Desinteresse von Akteur*innen auf der Verwaltungsebene oder in der Lehre entstehen, der Zugang zu Lehrveranstaltungen und der ersten wissenschaftlichen Nebenbeschäftigung für trans* Personen erschwert ist, darf nicht von den trans* Personen erwartet werden, dass sie diese Defizite seitens der Hochschule ausgleichen oder das Studium abbrechen müssen. Eine solche Haltung, auf den Umgang mit cis Personen übertragen, würde bedeuten, Sexismen auf allen Ebenen der Hochschule zu dulden und Studentinnen mitzuteilen, sie müssten sich eben damit arrangieren und andernfalls die Hochschule verlassen. In Bezug auf interpersonelle Diskriminierung wird außerdem deutlich, dass die jeweiligen Mitarbeitenden oder Studierenden häufig nicht nur abwertende Einstellungen gegenüber trans* Personen haben: Die Abwertung von trans* Personen oder ihren Forderungen bezieht sich selten ausschließlich auf die Kategorie Geschlecht. Häufig sind die Äußerungen, von denen Studierende berichten, mit Nennung von vermeintlichen Zusammenhängen und der Abwertung von Personen über andere soziale Kategorien verbunden: Trans* Personen werden auch als junge Menschen abgewertet, die modische Allüren pflegen, oder als nicht heterosexuell begehrend, als Anhänger*innen eines nicht näher definierten Feminismus (womit in der Regel die Abwertung [trans*]weiblicher Bemühungen um Gleichberechtigung einhergeht), als Verräter*innen an bestimmten politischen und/oder religiösen Werten3 oder als psychisch krank. Die Pathologisierung von Trans* als Zustand psychischer Krankheit ist falsch und wird auf europäischer Ebene verurteilt (vgl. EU-Parlament 2011). Ebenso verwerflich und besorgniserregend ist es allerdings, wenn Personen psychische Krankheit heranziehen, um zu belegen, warum die Anliegen anderer Menschen nicht ernst zu nehmen seien. Den Ergebnissen des 21. Sozialberichts folgend, leiden rund 5 % der Studierenden unter einer studienerschwerenden psychischen Er-
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Besonders an Hochschule B zeigt die Erfahrung Studierender, dass die Verknüpfung von politischen und religiösen Ansichten zum nicht näher definierten Begriff einer Leitkultur als Rechtfertigung für diskriminierende Aussagen oder diskriminierendes Verhalten oft auf keinen Widerspruch bei anderen Anwesenden stößt.
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krankung (Middendorff et al. 2017: 36ff.). Zugleich sind die von diesen Erkrankungen betroffenen Studierenden aber auch diejenigen unter den studienbeeinträchtigten Studierenden, die am häufigsten negative Erfahrungen machen, wenn sie ihre Erkrankung Lehrenden oder Kommiliton*innen gegenüber thematisieren (vgl. Deutsches Studentenwerk 2012: 234). Es kann daher von Hochschulseite aus nicht genügen, nur mit Bezug auf eine soziale Kategorie (z.B. wie in diesem Beitrag Geschlecht) Sensibilisierungsarbeit zu leisten, sich gegen Diskriminierung zu positionieren und Ansprechpartner*innen bei Schwierigkeiten zu stellen. Hochschulen müssen, auch wenn Studierende je nach Gruppenzugehörigkeiten unterschiedlicher Anpassungen bedürfen, in Bezug auf interpersonelle Aspekte des Studiums bedenken, dass Diskriminierung selten nur auf ein Merkmal abzielt. Wenn bei Verbesserungsmaßnahmen der Studiensituation von Anfang an Intersektionalitätsaspekte mitbedacht werden, können bestimmte Maßnahmen sich für unterschiedliche Studierendenkreise als äußerst hilfreich erweisen (zu Trickle-up- im Gegensatz zu Trickle-down-Aktivismus s. Hornstein in diesem Band). Im Bereich der Verwaltung wäre hier auf die oben genannte Möglichkeit zur Wahl von Alias in Online-Lernangeboten zu verweisen, die auch Studierenden mit erhöhtem Schutzbedarf zugutekäme. Zudem kann so vermieden werden, dass marginalisierte Gruppen dort, wo zwischen den Mitgliedschaften keine Überschneidungen bestehen, miteinander in Konkurrenz um Ressourcen in der Antidiskriminierungsarbeit treten müssen. Im Bereich der Sensibilisierungsarbeit kann ein Bewusstsein für die Heterogenität der Studierenden bei Mitarbeiter*innen und Studierenden geschaffen werden, über das der Anschein einer Norm im Gegensatz zu einzelnen Abweichenden und damit ein Othering einzelner Gruppen vermieden werden kann.
Z USTÄNDIGKEIT Für die Schwierigkeiten auf struktureller (räumlicher wie organisatorischer) Ebene, vor denen sich trans* Studierende der Hochschulen A und B wiederfinden, haben Studierende Lösungsvorschläge erarbeitet, die sie mehrheitlich klaren Adressat*innen zukommen lassen konnten: Für die Betreuung der Webauftritte der Hochschulen, bauliche Themen und Verwaltungsabläufe sind in der Hochschulorganisation Zuständige identifizierbar. Geht es um den interpersonellen Umgang miteinander, fällt bezüglich der Anliegen trans* Studierender auf, dass unklar ist, an wen sich diese Studierenden überhaupt wenden können: Wie erwähnt, sind die einzigen Beratungs- und Informationsangebote, die Trans* explizit erwähnen, studentisch organisierte Angebote.
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Zu einem respektvollen Umgang miteinander haben die Hochschulen allgemeines Material entwickelt: Hochschule B hat beispielsweise vor über einem Jahrzehnt interne Regeln für ein entsprechendes Miteinander entwickelt, die unter anderem beinhalten, geschlechtsneutral zu formulieren oder beide Binärgeschlechter anzusprechen. Diese Regeln könnten möglicherweise einer Überarbeitung unterzogen werden. Ebenso hat Hochschule B Richtlinien zum Umgang mit sexualisierten Übergriffen und Abwertungen, die sich fast ausschließlich, besonders im Bereich der Unterstützungsangebote, auf die Binärgeschlechter beziehen. Die weniger formalisierten Hinweise von Hochschule A sind hingegen derart geschlechtsneutral gehalten, dass sie auch trans* Personen adressieren. Derartige Materialien sollten dort, wo sie bereits vorliegen, einer Überarbeitung unterzogen werden. Zuständig wäre hier allerdings voraussichtlich auch die Gleichstellung, die derzeit noch mit der Diskussion der Thematik befasst ist. Wichtiger als Materialien sind allerdings bei Fällen erlebter Diskriminierung oder Gewalt, als Vermittler*innen in Konfliktfällen mit Lehrenden oder bei verwaltungsbezogenen Problemen für trans* Studierende Ansprechpartner*innen, die auch aufgrund ihres Wissens um Geschlecht geeignet sind: Wer problematischem Verhalten ausgesetzt war oder ist, ist unter Umständen nicht in einer Situation, in der eine Vermittlung von Grundlageninformationen zu Trans* gut vorgenommen werden kann. Zudem müssen hochschulinterne Regelungen zum Umgang mit trans* Studierenden dort, wo sie bestehen, den Beratenden bekannt sein, und die Beratenden müssen dort, wo keine Regelungen bestehen, gleichwohl sinnvolle Vorgehensweisen entwickeln. Die Hochschulen verweisen bei Gewalterfahrungen neben studentischen Angeboten auf die Gleichstellungen, das jeweils vorhandene hochschulische allgemeine Beratungsangebot für Studierende sowie (teil-)externe Angebote, die sich fast ausschließlich an Frauen richten. Dass in mindestens einem Fall ein (teil-) externes Angebot im Gegensatz zu den meisten mädchen- und frauenspezifischen Fachberatungen auch trans* Frauen offensteht, ist der betreffenden Hochschulwebsite nicht zu entnehmen. Die allgemeinen Beratungsstellen für Studierende haben in der Regel von sich aus kein Wissen zu Trans* vorzuweisen. Das bedeutet für Unterstützung suchende trans* Personen, dass sie sich ein weiteres Mal gegenüber Unbekannten outen müssen, ohne einschätzen zu können, ob ihre Ansprechperson trans* Personen möglicherweise ablehnend gegenübersteht. Ebenso ist für trans* Studierende unklar, ob ihre Ansprechpartner*innen überhaupt wissen, welche Handlungsmöglichkeiten den Studierenden offenstehen. Bedauerlicherweise ist davon auszugehen, dass ein Beratungsangebot, das sich mit der Thematik nicht auskennt, keine
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adäquaten Ratschläge geben kann. Die betreffende Beratung von Hochschule A erkennt hier vorläufig auf Anfrage keinen Bedarf, sondern verweist die Studierenden bei Schwierigkeiten an die Verwaltung oder studentische Organisationen. Handelt es sich um Schwierigkeiten mit eben dieser Verwaltung, finden die Studierenden keine Unterstützung. Das allgemeine Beratungsangebot von Hochschule B hat nach mehreren Anfragen um Unterstützung im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen trans* Studierender beschlossen, sich erstens aktiv zum Thema zu informieren. Zweitens soll das eigene Beratungsangebot um die Thematik ergänzt werden, wobei ein Mensch aus der Beratungsstelle eine besondere Zuständigkeit für geschlechtsbezogene Beratung bekommen soll. Die zentralen Gleichstellungen beider Hochschulen wären aus der Sicht vieler trans* Studierender diejenigen unter den von der Hochschule (und nicht den Studierenden) organisierten Angebote, die bevorzugten Ansprechpartnerinnen: Zum einen beziehen sich viele der Schwierigkeiten, etwa im Umgang mit der Verwaltung und besonders den Regelungen zur Anpassung der EDV, auf die Strukturebene der Hochschulen. Die zentralen Gleichstellungen wären hier – im Gegensatz zu den dezentralen Gleichstellungsbeauftragten der einzelnen Fakultäten oder Studiengänge – die naheliegenden Ansprechpartnerinnen. Zum anderen ziehen trans* Studierende aus der Bezeichnung der zentralen Gleichstellungen als Gleichstellungen den Schluss, dass diejenigen, die für die Gleichstellung der Geschlechter auf Strukturebene in der Hochschule zuständig sind, auch für trans* Studierende zuständig sind. Die zentralen Gleichstellungen beider Hochschulen interessieren sich für die Situation trans* Studierender an den jeweiligen Hochschulen. Sie laden jeweils einmal trans* Studierende ein, um einen Überblick zu Trans* und zur Studiensituation von trans* Personen zu erhalten. Bei den beiden Veranstaltungen sind jeweils auch dezentrale Gleichstellungsbeauftragte anwesend. Nach den Veranstaltungen besteht größeres Verständnis dafür, dass deutliche Verbesserungsbedarfe in der Situation trans* Studierender beider Hochschulen bestehen. Die zentrale Gleichstellungsbeauftragte von Hochschule A sichert den Studierenden ihrer Hochschule ihre Unterstützung bei der nächsten Bitte um bauliche Veränderungen zu. Die zentrale Gleichstellung von Hochschule B thematisiert im Rahmen der Veranstaltung allerdings auch eine Problematik, mit der alle zentralen Gleichstellungen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen einen Umgang finden müssen: Nach dem Landesgleichstellungsgesetz (LGG) sind die Gleichstellungsbeauftragten explizit für die Gleichstellung von Frauen und Männern bzw. den Abbau der Benachteiligung von Frauen zuständig. Auch die differenzierte Beschreibung der Aufgaben der Gleichstellungsbeauftragten nach § 17 LGG bezieht sich auf Binär-
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geschlechter. Angesichts der Tatsache, dass bereits seit 2013 Personen ohne eingetragenen Personenstand in der Bundesrepublik leben, muss hier das Bundesland dafür kritisiert werden, seine Gesetzgebung nicht entsprechend angepasst zu haben, um die geschlechtliche Gleichstellung aller Personen gesetzlich zu verankern. Die Gleichstellungsbeauftragten der Hochschulen müssen und können abwägen, in welcher Weise sie innerhalb der Hochschulen ihre Aufgaben verstehen. Bei der Berufung auf das Landesrecht können sie, wie derzeit bei der zentralen Gleichstellung in Hochschule B der Fall, die Zuständigkeit für trans* Studierende ohne weiblichen Personenstandseintrag zurückweisen. Die nach Landesrecht gegebene Zuständigkeit für trans* Studierende mit weiblichem Personenstandseintrag bedeutet allerdings auch, dass trans* Männer ohne erfolgte Personenstandsänderung und nicht binäre trans* Personen mit weiblichem Eintrag unter Berufung auf das LGG Unterstützung durch die Gleichstellungen der Hochschulen einfordern können. Wenn Gleichstellungen zentraler oder dezentraler Art sich am LGG orientieren, dessen derzeitige Formulierung sich auf juristisch festgeschriebene Binärgeschlechter bezieht, müssen sie konsequenterweise auch Menschen die Leistungen nach § 17 LGG anbieten, die aus juristischer Sicht weiblich, tatsächlich aber (trans*)männlich bzw. nicht binär sind. Damit fallen die Belange vieler trans* Studierender sehr wohl in die Zuständigkeit der hochschulischen Gleichstellungen. Gleichstellungsbeauftragte sollten sich dieser Tatsache bewusst sein: Auch wenn unklar ist, welches Ausmaß von Unterstützung z.B. bei einer streng am binär formulierten Landesrecht orientierten Beratung nach § 17 (2) LGG zu erwarten ist, müssen Gleichstellungsbeauftragte sie auch für trans* Personen anbieten. Allerdings ist anzunehmen, dass Menschen, die entgegen dem Personenstandseintrag nicht weiblich sind, ebenso wie trans* Frauen keine Unterstützung bei Gleichstellungsbeauftragten und deren Mitarbeiter*innen suchen werden: Wenn nicht explizit benannt ist, für wen die Angebote gelten (Menschen mit weiblichem juristischem Personenstand, weibliche Menschen ungeachtet ihres Personenstandes, ausschließlich cis weibliche Menschen mit entsprechendem Personenstand?), dürften nicht-binäre, trans* männliche Personen ohne und trans* weibliche Personen mit Personenstandsänderung je nach ihren bisherigen Erfahrungen mit binärgeschlechtlichen Unterstützungsangeboten eher abweisende Reaktionen befürchten. Die Gleichstellungen einer Hochschule sollten daher – wie die zentrale Gleichstellung der Hochschule B – erstens innerhalb des Mitarbeiter*innenstabes diskutieren, an wen sich ihr Angebot richten soll und wie sie das LGG verstehen. Zweitens sollten sie offen kenntlich machen, zu welchem Ergebnis sie gelangt sind.
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Das LGG bezieht sich ausschließlich auf die Binarität von Männern und Frauen. Es verbietet den Gleichstellungen nicht, ihren Aufgabenbereich auf trans* Personen zu erweitern, da trans* Personen vorläufig im LGG keinerlei Benennung erfahren. Das alternative Verständnis des eigenen Aufgabenbereichs, nämlich die Zuständigkeit für Fragen der Gleichstellung aller inklusive nicht-binärer Geschlechter, könnte unter Berufung auf die Gesetzgebung auf Bundesebene erfolgen. Hier kann jedoch die naheliegendste Möglichkeit im Bereich des Schutzes vor Diskriminierung nicht genutzt werden: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auf Bundesebene untersagt zwar die Benachteiligung von Personen aufgrund ihres Geschlechts ohne Bezugnahme darauf, ob eine explizite Eintragung besteht oder nicht, und ohne die Festschreibung auf juristisch weibliche Personen. Allerdings schützt das AGG Studierende an staatlichen Hochschulen nicht – unter seinen Schutz fallen lediglich an der Hochschule Beschäftigte (vgl. Czock/Donges/Heinzelmann 2012).4 Nicht an den Mitarbeitendenstatus oder Binärgeschlechter gebunden ist allerdings Artikel 3 (3) des Grundgesetzes: »Niemand darf wegen seines Geschlechts […] bevorzugt oder benachteiligt werden.« Auch wenn Artikel 3 (2) bezüglich der staatlichen Leistungen zur Aufhebung bestehender Mängel an Gleichberechtigung binärgeschlechtlich gebunden ist, ist durch Artikel 3 (1) und 3 (3) die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz festgeschrieben. Nach der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (AZ 1 BvR 2019/16) wird die Geschlechtsidentität zusätzlich über das allgemeinen Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 4
In der von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) 2012 herausgegebenen Expertise wird Trans* der Kategorie »Sexuelle Identität« anstelle von »Geschlecht« zugeordnet. Diese Praxis muss problematisiert werden: Die psychiatrische, pathologisierende Sichtweise, die Trans* grundsätzlich in den Zusammenhang mit sexuellem Begehren, genitalen Körpermerkmalen und – in Verbindung mit dem TSG – Reproduktionsverboten bringt (vgl. Hoenes 2014), erhält das Narrativ aufrecht, Trans* sei vorrangig eine Angelegenheit körperlichen Begehrens. Sobald eine Differenzierung zwischen Geschlecht und sexuellem Begehren, wie das AGG sie vornimmt, vorliegt, dürfen Trans* und Inter* nicht mit Begehrensformen als LGBT*I-Themenkomplex der gleichen Kategorie zugeordnet werden. Sonst wird negiert, dass sowohl trans* als auch inter* Personen auch aufgrund ihrer Begehrensweisen diskriminiert werden können, wenn bzw. weil sie mit der Norm heterosexuellen Begehrens brechen. Eine der Stärken des AGG ist die Berücksichtigung von mehrdimensionaler Diskriminierung. Diese steht inter* und trans* Personen allerdings nur offen, wenn z.B. die Diskriminierung von lesbischen trans* Frauen als eigene Form von Diskriminierung im Vergleich zu der von lesbischen cis Frauen oder trans* Frauen verstanden wird.
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2 [1] GG) in Verbindung mit dem Recht auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 [1] GG) geschützt. Kocher/Porsche (2015) empfehlen, Maßnahmen gegen sexualisierte Diskriminierung an Hochschulen symmetrisch (alle Geschlechter adressierend) zu gestalten und Konflikten mit Landeshochschulgesetzen durch eine Ausdifferenzierung von Aufgaben wie etwa der Schaffung einer speziell für sexualisierte Gewalt zuständigen Person zu begegnen (vgl. Kocher/Porsche 2015: 51f.). Alternativ könnten unter Berufung auf das Grundgesetz und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zentrale wie dezentrale Gleichstellungen ihren Aufgabenbereich auch auf trans* Studierende ausweiten. Daraus ergäbe sich der Vorteil, dass Ansprechpartner*innen für trans* Studierende auch über Vorfälle von sexualisierter Gewalt hinaus vorhanden wären. Einzelne dezentrale Gleichstellungen an Hochschule B machen gegenüber trans* Studierenden deutlich, dass sie sich auch als für die Belange dieser Studierenden zuständig betrachten. Diese Gleichstellungen sollten ihre Offenheit nach Möglichkeit sichtbar für trans* Studierende machen. Während beide Hochschulen ihre Websites nicht trans*inkludierend gestaltet haben (s.o.), fallen einzelne Fakultäten, deren Gleichstellungen sich gegenüber trans* Studierenden offen zeigen, positiv durch Websites mit geschlechtersensibler Sprache auf. Dass die Belange von trans* und inter* Studierenden auch formal im Rahmen der Gleichstellung angesiedelt werden können, zeigt die Universität Hamburg: Trans* und inter* Personen werden explizit in der Gleichstellungsrichtlinie der Hochschule benannt und es wird festgelegt, Maßnahmen gegen die Diskriminierung beider Gruppen zu ergreifen (vgl. Präsident der Universität Hamburg 2016: 12). An den beiden Beispielhochschulen ergibt sich auf der zentralen Strukturebene derzeit die Situation, dass niemand explizit für trans*spezifische Angelegenheiten zuständig ist. Daraus resultieren Abläufe, bei denen an der Position der Hochschule Interessierte mit allgemeinen oder trans* Studierende mit spezifischen Anfragen, die sich an die zentralen Gleichstellungen oder andere Akteur*innen auf Strukturebene wenden, regelmäßig an Studierende verwiesen werden. Diese Studierenden können die anfragenden Personen über den Status quo aufklären, selbst aber nur in Ausnahmefällen auf die Strukturebene einwirken, um die einzelnen trans* Studierenden in ihren Belangen zu unterstützen. Hochschulen sollten Ansprechpartner*innen auf Strukturebene für trans* Studierende und trans*spezifische Angelegenheiten bestimmen. Dies kann durch eine formale Erweiterung des Aufgabenbereichs der zentralen und dezentralen Gleichstellungen geschehen. Die dauerhafte Zuweisung von Trans*angelegenheiten in den Aufgabenbereich von allgemeinen Diversity-Beauftragten der Hochschulen ist dagegen eher
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problematisch: Eine solche Zuweisung verschleiert die Dimensionen sozialer Machtverhältnisse, die sich über die Achse der Kategorie › Geschlecht‹ entfalten. Eine solche Zuständigkeit bei paralleler Existenz von Gleichstellungsbeauftragten erschwert die Anerkennung von Trans* als (Bündelung von) Geschlechtsidentität(en) und baut Wertigkeiten zwischen Cis und Trans* verstärkt auf, indem der Eindruck erweckt wird, nur für (Cis-)Binärgeschlechter sei eine Gleichstellung anzustreben. Solche Modelle von Gleichstellung beziehen sich zudem häufig auf eine bestimmte – privilegierte – Vorstellung homogener Weiblichkeit (vgl. Darowska in diesem Band). Als eine Übergangslösung und zur Stärkung trans*spezifischer Belange kann sich eine Zuständigkeit von DiversityBeauftragten durch deren strukturelle Position allerdings als wirkungsvoll und unterstützend erweisen (zu intersektionalitätssensiblen Modellen s. Hornstein in diesem Band).
H ILFREICHE V ORAUSSETZUNGEN Wie sich anhand der beiden Beispielhochschulen gezeigt hat, bestehen für trans* Studierende derzeit eine Vielzahl von Barrieren im Studium, die sowohl auf strukturelle als auch auf interpersonelle Faktoren zurückzuführen sind. Ein schrittweiser Abbau dieser Barrieren ist möglich. Der Verlauf entsprechender Bemühungen von trans* Studierenden, unterstützenden Kommiliton*innen und einzelnen Lehrenden an den beiden Beispielhochschulen über die letzten anderthalb Jahre ermöglicht nicht nur eine genauere Identifikation von Barrieren und eine Darstellung möglicher Lösungen. Eine Untersuchung der Abläufe verdeutlicht auch, welche Voraussetzungen notwendig oder förderlich sind, um trans*offene Hochschulen zu schaffen: 1. Interesse an einer Durchführbarkeit des Studiums für alle Studierenden einschließlich trans* Studierender seitens der Hochschule auf der Ebene von Organisation und Verwaltung. Ein Großteil der bestehenden Barrieren ist nur zu beseitigen, wenn eine Hochschule auf struktureller Ebene zum Wandel und zur Anpassung an eine auch geschlechtlich heterogene Studierendenschaft motiviert ist. Unter anderen im Zuge einer von Salzbrunn (2014) beobachteten »Verschiebung von Antidiskriminierungspolitik […] zugunsten einer Management-Perspektive zur Optimierung von Output«, die »von bestmöglicher wissenschaftlicher Innovation als Ziel aus[geht], welches durch das Nutzen der vielfältigen Potentiale erreicht werden soll« (Salzbrunn 2014: 122), haben die meisten Hochschulen inzwischen begonnen, sich mit
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Diversität zu beschäftigen. Eine stärker an Gewinn als an sozialer Gerechtigkeit orientierte Perspektive ist diskussionswürdig, wenn in ihrem Zuge die von Salzbrunn (vgl. ebd.) beobachtete Essenzialisierung sozial konstruierter Kategorien stattfindet (vgl. Darowska in diesem Band). Wenn eine gleichberechtigte Studienmöglichkeit für trans* Studierende erreicht werden soll, muss den Hochschulen bewusst sein, dass Geschlecht keine unabänderliche persönliche Eigenschaft darstellt, sondern ein soziales Kategoriensystem beschreibt. Geschlecht lässt sich in seiner Relevanz für soziale Abläufe weder, wie spätestens an den möglichen Zuständigkeiten nach dem LGG deutlich wird, einfach definieren noch, wie die Mängel des TSG zeigen, biologisieren. Zum anderen ist eine Gewinnorientierung in Bezug auf die Vielfalt von Hochschulangehörigen schwierig, wenn dadurch bestimmte Dimensionen von Heterogenität außer Sicht geraten, die auf den ersten Blick keine Verbesserung wissenschaftlichen Outputs zur Folge haben. Die Vorteile, die das bewusste Ansprechen von trans* Studierenden und die Beschäftigung mit Trans* für eine Hochschule bedeuten, liegen nicht unbedingt auf der Hand. Hochschulen müssen hier die Bereitschaft zu einem zweiten Blick zeigen. Dann wird sichtbar, dass ein offener Umgang mit Trans* in verschiedener Hinsicht vorteilhaft für alle Hochschulmitglieder ist: Wenn innerhalb von Hochschulen gefördert wird, vermeintlich sichere ›Tatsachen‹ wie binäre Geschlechtskategorien zu hinterfragen, kann die allgemeine Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Wissen wachsen, die für die wissenschaftliche Arbeit unabdingbar ist. Trans* kann, wie DePalma (2017) feststellt, neue Perspektiven auf Wandel und Transformation ermöglichen. Wo kreative Lösungen zur Verwendung von (Schrift-)Sprache gefordert sind, können sprachliche Ausdrucksfähigkeiten und die Routine in der Aneignung neuer Begrifflichkeiten verbessert werden. Ein sorgfältiger Umgang mit personenbezogenen Daten sollte flächendeckend wissenschaftlicher Standard sein. Im Zusammenhang mit den Studierendendaten von trans* Studierenden können entsprechende Standards auch auf Organisationsebene etabliert werden. 2. Trans* Studierende sind bereit, ihre Hochschulen über Verbesserungsbedarfe und Anpassungsmöglichkeiten zu informieren, mit ihnen in Austausch zu treten oder gegebenenfalls andere trans* Personen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Damit Hochschulen in der Lage sind, Verbesserungen im Sinne der Studierenden vorzunehmen, müssen trans* Studierende bereit sein, die Hochschulen über ihre Bedarfe in Kenntnis zu setzen. Je nach Ressourcen kann dies über das Ansprechen der für einzelne strukturelle Bereiche zuständigen Mitarbeiter*innen geschehen.
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Alternativ können Barrieren mit der Bitte um Weiterleitung einzelnen Vertrauenspersonen benannt werden (etwa bei der Beschreibung von Konsequenzen für die studierende Person gegenüber Mitarbeitenden, die eine Änderung des Vornamens verweigern). Zur strukturierten Informationsvermittlung, etwa im Rahmen von Vorträgen, müssen trans* Studierende zudem die Bereitschaft zeigen, sich mit Personen in einen Dialog zu begeben, die noch kaum Kenntnis um Problemlagen haben, sofern keine Verbündeten aus Sicht der trans* Personen vermitteln sollten. Dazu müssen erstens häufig komplexe Entstehungsbedingungen von Barrieren so aufbereitet werden, dass sie auch ohne besonderes Hintergrundwissen nachvollziehbar werden. Zweitens müssen zu einer solchen Informationsvermittlung trans* Studierende bereit sein, sich vor den Zuhörenden als trans* zu outen. Drittens müssen trans* Studierende sich im Klaren sein, dass sie sich im Austausch mit Personen, die sich erstmals mit dem Thema auseinandersetzen, möglicherweise Fragen und Äußerungen aussetzen, die (unbeabsichtigt) verletzend oder herabwürdigend sind. 3. Hochschulen zeigen die Bereitschaft, sich zum Thema Trans* im Allgemeinen und zu entsprechendem Verbesserungsbedarf aus Sicht ihrer Studierenden zu informieren. Wie die Erfahrungen an Hochschule A und Hochschule B sowohl bei der Informationsvermittlung an Studierende und Lehrende als auch an strukturelle Funktionsträger*innen gezeigt haben, besteht häufig ein Informationsdefizit zum Thema Trans*. Dieses Defizit ist weder verwunderlich noch den Personen zuzuschreiben, die es betrifft, sondern ein Resultat bisheriger Bildungspolitik. Es kann ausgeglichen werden, indem Trans* als Thema ein fester Platz zugesprochen wird. Im Sinne des Ziels, dass trans* Studierende ohne Barrieren studieren können, muss die Hochschule bereit sein, sich mit Trans* und vor allem den Bedarfen ihrer Studierenden auseinanderzusetzen. Eine Informationssuche und Veränderung von Angeboten ohne Einbeziehung trans* Studierender führt zu gut gemeinten, aber in der Praxis ausgrenzenden Regelungen, wie etwa die Streichung des Geschlechtseintrags im elektronischen Verzeichnis der Hochschule B zeigt. Es ist außerdem davon auszugehen, dass sich z.B. die Zuständigen der Hochschule B der massiven Probleme, die im Zusammenhang mit dem TSG in seiner derzeitigen Form bestehen, nicht bewusst sind und deshalb die Hochschule eine für die Studierenden nur in Ausnahmefällen nutzbare Regelung zur Vornamens- und Personenstandsänderung innerhalb der Hochschule erlassen hat. Besonders im Zusammenhang mit dem TSG entstehen schnell Komplikationen, die nur dann nachvollziehbar sind, wenn Personen über die besonderen Hintergründe und Anwendungskriterien des TSG in der Praxis informiert worden sind.
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Sind Hochschulen dazu bereit, sich von den trans* Studierenden darüber Auskunft geben zu lassen, welche Regelungen nicht und welche tatsächlich nutzbar sind, kann vermieden werden, dass es zu Unregelmäßigkeiten im Kontakt der Studierenden und den Funktionsträger*innen und überflüssigem Arbeitsaufwand für die Hochschulen kommt. In der Regel sind trans* Studierende bereit, Funktionsträger*innen mit den notwendigen Hintergrundinformationen zu versorgen, um die Hinweise auf Verbesserungsbedarf nachvollziehbar zu machen. 4. Trans* Studierende können sich untereinander und mit Unterstützer*innen austauschen. Um überhaupt mit den jeweiligen Funktionsträger*innen der Hochschule ins Gespräch zu kommen, bedarf es in der Regel vermittelnder Personen. Diese Rolle können z.B. Mitglieder von Allgemeinen Studierendenausschüssen (AStA), studentische Mitarbeiter*innen zentraler oder dezentraler Gleichstellungen oder Referate erfüllen. Ebenso können Lehrende mit Kontakten zu bestimmten strukturellen Funktionsträger*innen der Hochschule oder strukturelle Funktionsträger*innen den Kontakt zu Kolleg*innen herstellen (zu Verbündetenschaft vgl. Hornstein in diesem Band). Eine Vernetzung von trans* Studierenden ist sinnvoll, um bestimmte Barrieren gemeinsam benennen zu können und nicht als Einzelperson den Dialog mit einer großen Organisation suchen zu müssen. Außerdem können trans* Studierende, die bereits einige Semester an einer Hochschule verbracht haben, ihren an Semesterzahl jüngeren Kommiliton*innen in der Regel Auskunft über den besten Umgang mit bestimmten Barrieren erteilen. Der Kontakt trans* Studierender untereinander ist außerdem hilfreich, wenn an den Hochschulen noch keine Ansprechpartner*innen zum Umgang mit Diskriminierungserfahrungen zur Verfügung stehen. Zusätzlich ist eine hochschulübergreifende Vernetzung von trans* Studierenden und ihren Unterstützer*innen sinnvoll, um sich gegenseitig über Lösungsansätze bei Problemen zu informieren, Empowerment Raum zu bieten und auf lokaler, (über)regionaler und Bundesebene auf dem aktuellen Stand zu rechtlichen Veränderungen und Aktionen zu bleiben. Eine aktuelle Möglichkeit zur bundesweiten Vernetzung bietet etwa die »Arbeitsgemeinschaft trans*emanzipatorische Hochschulpolitik« (2017). Eine strukturelle Voraussetzung für die hochschulinterne und die hochschulübergreifende Vernetzung sind Studienbedingungen, die studentisches Engagement erlauben.
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5. Die Hochschulen achten auf Transparenz bezüglich der Regelungen zum Umgang mit trans* Studierenden und zeigen Bereitschaft, die Belange trans* Studierender zu berücksichtigen. Die anderthalbjährige Beobachtung von Hochschule A, Hochschule B und den bisherigen Anstrengungen der Studierenden, Lehrenden und Funktionsträger*innen hat gezeigt, dass viele Informationen nur auf Nachfrage zu erhalten waren. Teilweise kennen Funktionsträger*innen die Regelungen weniger gut als die Studierenden. Teilweise werden Informationen, die Weisungen zum Umgang mit trans* Studierenden betreffen, nur durch Zufall weitergegeben und erreichen dadurch die Studierenden. Eine Recherche zum Umgang weiterer Hochschulen mit trans* Studierenden zeigt, dass es flächendeckend unüblich ist, bestehende Regelungen transparent zu machen, selbst wenn trans* Studierende einer Hochschule die Abläufe bereits erfragt haben. Für trans* Studierende, die bisher nicht mit anderen in Kontakt gekommen sind, muss deutlich sein, dass sie kein Einzelfall sind. Wenn Regelungen bestehen, haben Studierende ein Recht darauf, über diese Regelungen und damit ihre eigenen Rechte gegenüber der Hochschule nicht erst durch Nachfragen oder durch Zufall in Kenntnis gesetzt zu werden. Wo Hochschulen oder einzelne Funktionsträger*innen oder Dezernate beschließen, dass sie sich nicht für einen Abbau struktureller Barrieren im Studium zuständig sehen, sollte diese Haltung offen vertreten werden. Nur wenn Mitarbeiter*innen einer Hochschule deutlich machen, ob sie geeignete Ansprechpartner*innen sind, können trans* Studierende daraus Konsequenzen ziehen. Zudem ist es notwendig, dass bei der Abstimmung und Umsetzung von Veränderungen auf Hochschulebene übliche, massive zeitliche Verzögerungen, die durch die Organisationsstruktur entstehen können, gegenüber trans* Studierenden von Anfang an benannt werden. Trans* Studierende müssen entscheiden können, welche Ressourcen sie in Änderungsprozesse investieren, deren Ergebnisse ihnen in ihrem eigenen Studium möglicherweise nicht mehr zugutekommen. 6. Hochschulen sind bereit, Maßnahmen gegen die Diskriminierung von (trans*) Studierenden zu ergreifen, und erkennen (trans*) Studierende als (mündige) Studierende ihrer Hochschule an. Hochschulen sollten bereit sein, nach innen und nach außen zu vertreten, dass trans* Studierende das gleiche Recht auf ein nicht durch hochschulinterne, strukturelle Barrieren erschwertes Studium genießen wie cis männliche oder cis weibliche Studierende. Neben Maßnahmen zur Förderung von Diversität im Sinne eines an Vorteilen für die Organisation orientierten Diversity Managements tragen Hochschulen
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Verantwortung: Wie Hartmann (2017) ausführt, stellt die Anerkennung (nicht nur) geschlechtlicher Vielfalt und ein aktiver Einsatz gegen Diskriminierungen »Bildungsziele dar, die im Sinne einer humanistisch aufgeklärten Bildung überfällig und im Sinne eines demokratischen Lernens dringend geboten sind.« (Hartmann 2017:32) Gegenüber den Studierenden tragen die Mitarbeiter*innen, deren direkte Arbeitgeberin die Hochschule darstellt, die Verantwortung, die mit Machtungleichgewichten in Lehr-Lern-Verhältnissen einhergeht. Die meisten Hochschulen haben dementsprechend Maßnahmen zu einem respektvollen, nicht diskriminierenden Umgang ihrer Mitglieder im Allgemeinen ergriffen, die sich nicht nur auf die Mitarbeitenden beziehen. Wo diese Maßnahmen Geschlecht(er) erwähnen, müssen trans* Studierende bzw. muss Trans* explizit mitgenannt werden. Das ist notwendig, weil erstens die Trans* betreffenden Formen von Diskriminierung durch die starke, in stigmatisierenden gesellschaftlichen Narrativen tradierte Verknüpfung mit Körperlichkeit, (Geistes-)Krankheit und (nicht normgerechter) Sexualität häufig sexualisierende oder pathologisierende Komponenten enthalten (vgl. Hoenes 2014). Zweitens muss den besonderen Facetten von Abwertung und Bloßstellung Rechnung getragen werden, denen trans* Studierende im Gegensatz zu cis Studierenden ausgesetzt sein können: Eine Übernahme von Verantwortung ist nicht nur dann notwendig, wenn in der Hochschule Studierende (sexualisierte) Übergriffe oder sonstige interpersonelle Abwertung erleben. Sie ist auch dann notwendig, wenn durch Organisationsmitglieder persönliche Daten und damit Lebensumstände ungebeten der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Ebenso wie für cis Personen müssen Ansprechpartner*innen zur Verfügung stehen. Die Verantwortung für den Umgang mit Studierenden durch Hochschulmitarbeiter*innen muss deutlich auf der Seite der Hochschule liegen. Studierende können sich lediglich gegenseitig unterstützen. Die Hochschule hat als Arbeitgeberin deutlich andere Möglichkeiten, Maßnahmen zur Sensibilisierung, Konfliktlösung oder Unterstützung der Studierenden zu ergreifen. Derartige Maßnahmen müssen in allen Bereichen und in Bezug auf alle Merkmale, bezüglich derer Studierende an Hochschulen diskriminiert werden, ergriffen werden. Trans* Studierende können ebenso wie andere Studierende von Mehrfachdiskriminierung betroffen sein (vgl. Hornstein in diesem Band). Es gibt trans* Studierende mit und trans* Studierende ohne Behinderung, trans* Studierende mit und trans* Studierende ohne Religionszugehörigkeit. Manche trans* Studierenden machen regelmäßig Erfahrungen mit rassistischen oder fremdenfeindlichen Diskriminierungen. Ebenso gibt es trans* Studierende, die aufgrund ihres Alters oder ihrer finanziellen Situation Ausgrenzung erleben.
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Der aktive Einsatz von Hochschulen gegen Diskriminierung unter Aufwendung zeitlicher, finanzieller und personeller Ressourcen darf sich – auch wenn in diesem Artikel vorwiegend Geschlecht behandelt wird – niemals nur auf einzelne soziale Kategorien beschränken: Wenn eine Hochschule unter Berufung auf soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit gegen die Benachteiligung Studierender und Mitarbeitender wegen einer bestimmten sozialen Kategorie eintritt, muss sie konsequenterweise auch gegen andere Dimensionen sozialer Ungerechtigkeit eintreten. Zuletzt gehört zu einer Haltung, die die Chance auf ein gleichberechtigtes Studium nicht vom Geschlecht einer Person abhängig macht, auch die Erkenntnis, dass Studierende mündige Personen sind. Entscheidungen darüber, mit welchem Geschlecht sie am treffendsten einzutragen sind, welcher Vorname und welche Anrede korrekt sind und welche entsprechenden Einträge in Abschlussdokumenten in ihrem weiteren Lebensverlauf für sie am sinnvollsten sind, können nicht nur am besten, sondern ausschließlich die Studierenden selbst treffen. Dort, wo die Gesetzeslage die Hochschulen an bestimmte Vorgehensweisen bindet, muss sie angewandt werden. Wo den Hochschulen die genaue Auslegung überlassen bleibt, da vorläufig weder ein Gebot noch ein Verbot zur Berücksichtigung einer durch das Verfassungsgericht anerkannten dritten Option besteht, können die Hochschulen deutlich machen, dass sie geltendes Recht im Sinne des Grundgesetzes und ihrer Studierenden anzuwenden bereit sind. Vor allem aber haben Hochschulen die Freiheit, Entscheidungen über den Umgang mit trans* Studierenden zu treffen, ohne sich psychiatrischen Leitlinien und deren Niederschlag in der Anwendungspraxis des TSG zu unterwerfen: Hochschulen können stattdessen durch eigene Regelungen ohne Bindung an das TSG die Würde ihrer Studierenden im und über das Studium hinaus zu wahren helfen.
N EUE W EGE ? Bei der Anerkennung trans* Studierender handelt es sich nicht eigentlich um einen neuen Weg. Es handelt sich um einen Weg, der seit der Zulassung von cis Frauen zum Hochschulstudium beschritten wird: die Abkehr von dem Gedanken, die Inanspruchnahme von Hochschulbildung und die Nutzung der entsprechenden Räume sei an die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht geknüpft. Ebenso wenig ist neu, dass Studierende sich an Hochschulen für eine Anerkennung der Belange bestimmter Gruppen einsetzen. »Bereits seit einigen Jahrzehnten gibt es unter der Studierendenschaft ein starkes Bewusstsein für bestimmte Formen
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der Vielfalt, die besondere Ausdrucksformen und -räume [...] benötigen.« (Salzbrunn 2014: 121) Dieses Bewusstsein um die Heterogenität der Studierenden erreicht immer wieder die strukturellen Ebenen von Hochschulen und kann dort Neuerungen anstoßen, die sich positiv auf den Hochschulalltag der Student*innen auswirken. Trans* Studierende und ihre Unterstützer*innen machen inzwischen – wie an den Hochschulen A und B – gelegentlich die Erfahrung, dass Funktionsträger*innen, Lehrende oder andere Mitarbeitende ihrer Hochschulen bereit sind, sich über die strukturellen und interpersonellen Bedingungen zu informieren, die notwendig sind, um trans* Personen ein Studium unter Bedingungen zu ermöglichen, die denen ihrer Kommiliton*innen ähneln. Damit werden erste Schritte gemacht, Hochschulbildung ohne Benachteiligung für trans* Personen zugänglich zu machen. Die einzelnen Akteur*innen der Hochschulen, die Interesse an der Situation trans* Studierender zeigen, müssen diese Informationen und die Kontakte zu den trans* Studierenden in der Folge aktiv nutzen, um sich für die Studierenden einzusetzen (vgl. Hornstein in diesem Band). Andernfalls stagniert der Öffnungsprozess wie an den Hochschulen A und B, wo bestimmte Schwierigkeiten seit teilweise mehr als einem halben Jahr in den zuständigen Dezernaten bekannt sind, aber weder Entwürfe der trans* Studierenden adaptiert noch alternative Verbesserungsmöglichkeiten präsentiert werden. Wenn z.B. strukturelle Funktionsträger*innen von Hochschulen darüber informiert werden, dass bestimmte Gruppen Studierender wiederholt Diskriminierungserfahrungen auch durch Mitarbeiter*innen machen, sollten die Informierten sich dringend dafür einsetzen, dass diese Studierenden offen ausgewiesene Ansprechpartner*innen außerhalb der Studierendenschaft bekommen. Veränderungen können aufgrund der unterschiedlichen Organisationsbereiche, die für sie zuständig sind, nicht alle gleich schnell und unkompliziert umgesetzt werden. Hochschulen können allerdings deutlich machen, dass sie zu einer Öffnung in allen Bereichen bereit sind und die Studierenden über den jeweiligen Stand im Veränderungsprozess informieren. Wie sich an den durch die trans* Studierenden identifizierten Barrieren zeigt, reichen einzelne Veränderungen nicht, um die Studiensituation für trans* Studierende an die ihrer Mitstudierenden anzugleichen. Die Anpassung ausschließlich einiger weniger Bereiche birgt zudem das Risiko, zu dem von Rendtorff (2017) beschriebenen Effekt der Stärkung von Konventionen durch kleine, gelegentliche Zugeständnisse, also zu einer Art Beschwichtigungspolitik zu führen. Stattdessen bedarf es der Bereitschaft, Geschlecht als Kategorie und seine Relevanz für die Studiensituation und die Studieninhalte einer kritischen Untersuchung zu unterziehen.
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Im Selbstverständnis vieler Hochschulen spielen demokratische Werte und die Wertschätzung von Vielfalt eine Rolle. Hochschulen können und müssen diesem Selbstverständnis entsprechen und sich in den eigenen Räumen für soziale Gerechtigkeit und gegen die Ungleichbehandlung von Personen einsetzen. Ein konsequenter Einsatz für eine diskriminierungsfreie Hochschule erfordert die Berücksichtigung möglichst aller unterschiedlichen sozialen Kategoriensysteme, innerhalb derer Personen Benachteiligung erfahren. Der Dialog mit trans* Studierenden und die Veränderung der eigenen Strukturen, hin zu einer Anerkennung trans* Studierender und einem Eintreten gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung, ist unabdingbar, wenn Hochschulen geschlechtliche Gleichberechtigung erreichen wollen. Hochschulen können nicht nur in den eigenen Räumen aktiv gegen Diskriminierung und für die Anerkennung von (geschlechtlicher) Vielfalt eintreten: In Bezug auf trans* Studierende genießen Hochschulen zusätzlich die Freiheit, über die Entwicklung eigener Regelungen der strukturellen Diskriminierung auf rechtlicher Ebene entgegenzutreten und ihre Studierenden damit über die Grenzen der Hochschule hinaus vor demütigenden Situationen zu schützen. Hochschulen haben in vielen unterschiedlichen Belangen die Freiheit und damit einhergehend die Verantwortung, sich für Demokratie und Vielfalt einzusetzen. Die umfassende Anerkennung trans* Studierender ist einer davon.
A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS ADS AGG AStA AWMF AZ BAföG BMBF BMI BSDG BVT* dgti EU FRA GG
Antidiskriminierungsstelle des Bundes Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Allgemeiner Studierendenausschuss Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften Aktenzeichen Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium des Innern Bundesdatenschutzgesetz Bundesverband Trans* Deutsche Gesellschaft für Transidentät und Intersexualität e.V. Europäische Union European Union Agency for Fundamental Rights Grundgesetz
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HRK ICD-10 KfW LGBT*I LGG MDK MDS SBauVO StGB TSG TvT
Hochschulrektorenkonferenz International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision Kreditanstalt für Wiederaufbau Lesbian, Gay, Bisexual, Trans* and Inter Landesgleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. PstG Personenstandsgesetz Sonderbauverordnung Strafgesetzbuch Transsexuellengesetz Transrespect versus Transphobia
L ITERATUR AGG – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610) geändert worden ist. ADS – Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016): Verwendung des gewählten Namens von trans*Studierenden an Hochschulen unabhängig von einer amtlichen Namensänderung. Rechtliche Einschätzung. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Allex, Anne (Hg.): Stop Trans*-Pathologisierung. Berliner Positionen zur Internationalen Kampagne. 3. erw. Aufl., Neu-Ulm: AG SPAK Bücher. AWMF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2012): Geschlechtsdysphorie: Diagnostik, Beratung und Behandlung, AWMF-Register Nr. 138/001, angemeldetes Leitlinienverfahren, www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/138-001.html AWMF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2013): Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter (F64), AWMF-Register Nr. 028/014, Klasse S1, https://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/028-014l_S1_St%C3%B6rungen_Geschlechtside ntit%C3%A4t_2013-08_01.pdf Arbeitsgemeinschaft trans*emanzipatorische Hochschulpolitik (2017): Website, www.ag-trans- hopo.org/
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Can ›epistemic silence‹ be decolonised? Diversity, Menschenrechte, Feminismen L UCYNA D AROWSKA
Der Beitrag knüpft an die Idee der Dekolonialisierung der Wissensproduktion an und beschäftigt sich mit der Frage der ›epistemischen‹ Gewalt, die von Wissenschaft ausgeht, worunter Schweigen über gewaltförmige Aspekte anerkannter Theorien, die für die Praxis grundlegend sind, verstanden wird. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Nichtthematisierung der asymmetrisch ausgerichteten globalen wirtschafts-politischen Strukturen, die im Beitrag dargestellt werden, zur Naturalisierung des kolonialähnlichen Machtgefälles zwischen dem ›Globalen Süden‹ und dem ›Globalen Norden‹ beiträgt. Darüber hinaus wird die an Marx orientierte Analyseperspektive der globalen sozialen Ungerechtigkeit ebenso kritisch auf ihr Gewaltpotential, das eine andere ›koloniale‹ Ordnung hervorbrachte, hinterfragt. Es wird gezeigt, dass aufgrund der in Marx’ Theorie angelegten Widersprüche und Problematiken die Kernpunkte seiner Theorie entweder gewaltförmig sind oder kein ausreichendes emanzipatorisches Instrumentarium für ein Streben nach globaler Gerechtigkeit bieten. In diesem Kontext werden im Weiteren einige Aspekte der marxistischen Strömung innerhalb der feministischen Theorie analysiert. An mehreren Stellen wird die theoretische Diskussion mit der Praxis der Hochschulen in Verbindung gebracht. Postuliert wird eine die einzelnen ›scientific communities‹ übergreifende Forschung.
Keywords: Epistemologie, Dekolonialisierung, globale Verhältnisse, Marktdogmatik, Menschenrechte, Marxismus, Feminismus, Diversity
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E INLEITUNG Analysen der Gewalt, die vom Wissen ausgeht, das an den Hochschulen, in der Gesellschaft oder in diversen Communities entsteht und zirkuliert, erscheinen schon beim ersten Blick auf die Geschichte notwendig. Theorien und Erkenntnisse über die Welt und über soziale Ordnungen lieferten in vielen Fällen Anlässe und Begründungen für Verbrechen, Genozide, Eroberung, Ausbeutung und Zerstörung.1 Aufgrund des Eingebundenseins aller Menschen, einschließlich der Wissenschaftler*innen, in ihre biografischen Zusammenhänge und in ein begrenztes, oft gleichförmiges Umfeld (vgl. Kuhn 1970) ist das Wissen, das produziert wird, immer schon von diesen Kontexten beeinflusst. So entstehen kollektive Gewissheiten, aber auch kollektives Schweigen, wie z.B. im Deutschland der 1950er und 1960er Jahre in Bezug auf die NS-Verbrechen. Kritik, die anstrebt, diese Gewissheiten zu hinterfragen und Perspektiven zu entwickeln, die das Bestehende, Vertraute und Bekannte überschreiten,2 kann mit Walter Mignolo (2011) »epistemic disobedience« genannt werden. Methodologie und Reflexion sind Instrumente, die ›falsches‹ Wissen und seine Gewaltförmigkeit abschwächen können, dennoch, wie (auch) dieser Beitrag zeigen wird, garantieren sie keine ›wahren‹ Aussagen (vgl. Kuhn 1970). Sie können, allerdings nur begrenzt, zur Reduktion von »epistemic violence« (Spivak 1990) beitragen. Die Verantwortung der Intellektuellen,3 an dieser Stelle verstanden als Verantwortung für das Gewaltpotential des jeweils produzierten Wissens, erscheint im Kontext der Reflexion der in der Wissenschaft produzierten Gewalt als ein kaum einlösbarer Anspruch. Anhand dreier miteinander zusammenhängender Themenkomplexe, die im Weiteren erläutert werden und an der Schnittstelle von Dekolonialisierung und Diversity angesiedelt sind, setzt sich der Beitrag mit epistemischer Gewalt auseinander, die hier als Schweigen4 über die Produktion von gewaltförmigen Wissensordnungen dargestellt wird.
1
Beispiele sind: Kolonialismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, beide Weltkriege.
2
Ich danke Heinrich Brinkmann, Dieter Eißel, Adolf Hampel, Margrit Kaufmann, Rudolf Leiprecht und Peter Schmidt für die kritischen Kommentare zu diesem Text.
3
Auf die Verantwortung des »organischen Intellektuellen« weisen sowohl Antonio Gramsci (Gramsci 1926 2007) als auch Karl Marx (vgl. Bayertz 2018: 228ff.) hin. Mein Verständnis dieses Begriffs ist jedoch ein anderes, wie im Beitrag gezeigt wird.
4
Kollektives Schweigen über bestimmte Ereignisse und Prozesse, die als nicht relevant konnotiert werden, kann als Effekt der Verdrängung, Vermeidung, Abwehr oder Manipulation verstanden werden. Das ›Schweigen‹, eine Leerstelle in den rezipierten Wissensbeständen, ist Anlass für weitere oder neue Unterdrückungsformen, da das soziale und politische Handeln auf das zirkulierende Wissen zurückgreift.
Diversity, Menschenrechte, Feminismen
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Unter Epistemologie ist üblicherweise Theorie der Wissenschaft zu verstehen. In diesem Beitrag wird die Theorie der Wissensproduktion insofern hinterfragt, als Leerstellen in der Wissensproduktion gezeigt werden. Damit wird die Theorie der Wissenschaft mittelbar angesprochen, denn es ist zu fragen, wie es dazu kommt, dass die Regeln der Wissenschaftlichkeit diese Leerstellen zulassen. Nicht jedoch die Wissenschaftstheorie im eigentlichen Sinne und nicht die Methodologie stehen hier im Vordergrund, sondern die Untersuchung des schließenden Charakters des in kulturellen Zirkeln hergestellten Wissens. Dies wird an drei miteinander verschränkten Beispielen gezeigt. Dabei wird angenommen, dass das wissenschaftlich hergestellte Wissen die politische Praxis, zu der auch die Policy der Hochschulen zählt, beeinflusst. Somit wird diese Policy im Beitrag auch an mehreren Stellen angesprochen. Diversity wird im Folgenden nicht als Praxis der (beliebigen) Vielfalt verstanden. Vielmehr wird hier dem Diversity-Begriff ein eigenständiger empirisch verankerter, normativ begründeter Theorieansatz zugewiesen. Der Ansatz ist von einem Streben nach Chancengleichheit und Reduktion von Diskriminierung marginalisierter Gruppen geleitet. Für diese Analyse sind die Menschenrechte zentral, allen voran: das Recht auf Leben, individuelle Freiheit, Meinungsfreiheit und adäquate Lebensbedingungen sowie Schutz der Würde. Die globalen Zustände, die in den Machtasymmetrien den kolonialen Verhältnissen ähneln und so diese fortsetzen, werden kurz im ersten Teil des Beitrags veranschaulicht, denn kritische Wissensproduktion zu globaler Wirtschaft fehlt an deutschen Universitäten. Eine Auseinandersetzung mit Wissensbeständen, die in anderen Communities in Deutschland und im transnationalen Kontext erstrangig sind, findet an den Hochschulen (in Deutschland) nicht ausreichend statt. Die Leerstellen, die ich im Beitrag umreiße, betreffen darüber hinaus den ›Marxismus‹ als die für die Kritik dieser Zustände (da, wo sie vorgebracht wird) oft eingesetzte analytisch-theoretische Perspektive. Diese wird im zweiten Teil erläutert. Der Blick auf Weltverhältnisse und deren marxistische Interpretationen überkreuzt sich mit feministischen Theorien der Ungleichheit. Frauen stellen eine von der globalen Arbeitsteilung am stärksten betroffene ›Gruppe‹ dar und ein Teil der feministischen Forschung nimmt auf Marx’ Theorie Bezug. Im dritten Teil des Beitrags wird dieser theoretisch-analytische Bezug diskutiert. Seit etwa Mitte der 1980er Jahre werden Feminismen und Gendervielfalt in der ›westlichen‹ Forschung sichtbarer (z.B. Lenz 2004). Die Einsicht, dass soziale Schichtung und die globalen politisch-ökonomischen Asymmetrien Marginalisierungen produzieren, dass Behinderung, sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität, Alter und Religion Anlässe für Ausgrenzungen sind, setzt sich in der Theorie durch. Die Perspektive weißer Europäer*innen, in der das Subjekt der Emanzipation entlang der
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Differenzlinie ›Geschlecht‹ überwiegend weiße Frauen der Mittelschicht repräsentierte, differenziert sich aus. Der Transfer von intersektionalen Ansätzen sowie Trans* und Queer-Theorien in die Hochschulpolicy erscheint jedoch zögerlich. Das unklare Verhältnis zwischen bestehenden Gleichstellungsstellen und Diversity scheint dabei eine ungünstige Wirkung zu entfalten (vgl. Klein 2012; Darowska/Salas-Poblete 2019 sowie die Beiträge von René_ Rain Hornstein und Alex Stern in diesem Band). Die zentralen Thesen des Beitrags sind: Eine kritische Wirtschaftswissenschaft ist rar und stattdessen findet eine Reproduktion des als neutral ausgegebenen Wissens statt. Transnational in bestimmten Communities diskutierte kritische Analysen der globalen asymmetrischen Verhältnisse werden nicht ausreichend einbezogen. Diese Wissensproduktion legitimiert gravierende Ausbeutung und Unfreiheit5 eines Teils der Menschheit, wobei Frauen auf besonders drastische Weise betroffen sind. Die durchgehend seit ihrem Entstehen für die Kritik der Ausbeutung, auch in Teilen der feministischen Forschung, eingesetzte Analyseperspektive – der Marxismus – stellt ein nur sehr eingeschränkt emanzipatorisches Instrumentarium dar. Die von Marx entwickelte Theorie ist in einigen (analytischen) Teilen wesentlich und treffend, in anderen theoretischen Elementen entweder falsch oder unzweckmäßig und bietet keinen theoretisch und empirisch begründbaren Ausweg aus der Situation. Sie ist deshalb als Analyseperspektive nicht förderlich. Es gilt, diese Stagnation zu überwinden.
1. D AS VERBORGENE ÖKONOMISCHE W ISSEN – ›S CHWEIGEN ‹ ALS M ACHTINSTRUMENT ? Ausgehend von der Frage nach der Wissensproduktion an den deutschen Universitäten werden in diesem Abschnitt die globalen politischen und ökonomischen Verhältnisse aus einer kritischen, dekolonialisierenden Perspektive in ihrem Grundriss6 beleuchtet.7 Dabei bleibt eine genaue Erforschung der Mechanismen dieser machtvollen lückenhaften Wissensproduktion8 – und, damit verschränkt,
5
Auf den Freiheitsbegriff als relativen Begriff gehe ich später ein.
6
Im Rahmen dieses Beitrags können lediglich die groben Linien der ökonomisch-politischen Asymmetrie im ›Nord-Süd‹-Verhältnis skizziert werden.
7
Ich danke David Bender für seine kritischen Anmerkungen zu diesem Teil meines Beitrags.
8
Zu Recht bescheinigt Markus Holzinger (2019) der kritischen postkolonial ausgerichteten Soziologie eine umfangreiche Literaturbasis. Dennoch stellt sich die Frage nach
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lückenhafter allgemeiner Bildung über das Wissenschaftssystem hinaus – weiterer Forschung vorbehalten. Jedoch werden im letzten Teil des Beitrags die grundsätzlichen Probleme der Wissensgenerierung kurz diskutiert und einige Vorschläge gemacht, wie ihnen zu begegnen wäre.9 Dem folgenden deskriptiv-analytischen Teil liegt die Annahme zugrunde, dass die hier dargestellten Wissensbestände nicht zum Mainstream der Lehre und Forschung gehören (u.a.: Hartmann 2016; Lessenich 2016; Ziai 2016: 13), folglich ist das Wissen eher ein verborgenes. Die Tatsache, dass der Radius der Diffusion der Erkenntnisse kritischer Analysen globaler Wirtschaftsverhältnisse äußerst klein ist, hat weitreichende Folgen, z.B. wird damit ein Rahmen für die Entwicklung von Internationalisierungs- und DiversityStrategien oder für die Migrationsdiskurse konturiert. Die globalen ökonomischen Verflechtungen sind durch eine extreme Asymmetrie zwischen Wohlstand und Armut gekennzeichnet, und dieses Verhältnis wird durch seine dauerhafte Stabilität naturalisiert. Einen maßgeblichen Beitrag zu diesen Differenzverhältnissen leistet die Politik durch die Bereitstellung von rechtlichen10 und wirtschaftlichen Regulativen (Lessenich 2016; Ziegler 2015; Anghie 2006; Randeria 2003). Basieren Internationalisierungsstrategien an den Hochschulen, die sich als Teil von Diversity-Strategien verstehen, auf dem Differenzprinzip ›Leistung‹, wird die durch den Zugang zu individuellen ökonomischen Ressourcen, Bildungssystemen, Ausstattung der Bildungsinstitutionen etc. bedingte Chancengleichheit eingeschränkt und somit der Hochschulzugang in Deutschland für Bildungssubjekte aus Ländern des ›globalen Südens‹ nach dem Kriterium der ›sozialen Schicht‹ strukturiert. Im Folgenden gehe ich in einigen Punkten auf die (verborgenen) globalen ökonomischen Verflechtungen ein.
der Diffusion der Erkenntnisse dieser Forschung in die Bildungssysteme und in öffentliche Diskurse sowie die Frage nach der diesbezüglichen relativen Immunität der Wirtschaftswissenschaft. 9
Diese Vorschläge sind keineswegs neu; es scheint jedoch sinnvoll, sie in diesem Kontext erneut zum Thema zu machen.
10 Antony Anghie (2006) weist z.B. nach, dass das in Europa konzipierte internationale Recht von Beginn an auf die Ausschöpfung von Ressourcen in den nicht-europäischen Ländern ausgerichtet war (vgl. Anghie 2006). In Fortsetzung dieser Argumentation kann die Bereitstellung von rechtlichen Regulativen für ökonomisches Ungleichgewicht, die in diesem Beitrag thematisiert wird, als Kontinuität (neo)kolonialer Machtverhältnisse gesehen werden.
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Die Standpunkte zu der These von der Fortsetzung des Kolonialismus in der globalen Wirtschaftsordnung variieren (vgl. Ziai 2012).11 Die Positionierung resultiert, so die Annahme, u.a. aus der Bestimmung der Kernelemente des Kolonialismus. Im Kontext dieses Beitrags ist in erster Linie die Sichtbarmachung des global verfügbaren Wissens, das ›auf unerklärliche Weise‹ in Europa verborgen bleibt, das zentrale Anliegen. Wie kommt es dazu, dass – in einem durch explosionsartige Ausdifferenzierung von Kommunikation und einen nie dagewesenen Zugang zur Bildung gekennzeichneten Zeitalter – die verstörenden Mechanismen der globalen Verhältnisse hinter dem Schleier des fairen Wettbewerbs unthematisiert bleiben und nicht den Kern insbesondere der wirtschaftswissenschaftlichen (aber auch der politik-, sozial- und bildungswissenschaftlichen) Forschung und Lehre darstellen? Treffend kommentiert der Soziologe Stephan Lessenich: »Es geht um den Einblick in Zusammenhänge, die Einsicht in Abhängigkeiten, in globale Beziehungsstrukturen und Wechselwirkungen. … Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des ›Fortschritts‹, … um die Abwehr des Wissens um ebendiese Doppelgeschichte, um deren Verdrängung aus unserem Bewusstsein, um ihre Tilgung aus den gesellschaftlichen Erzählungen individuellen und kollektiven ›Erfolgs‹ (Lessenich 2016: 17).
Der o.g. Frage nach den Strukturprinzipien der ›Tilgung‹ von Wissensbeständen wird im Beitrag nicht nachgegangen, vielmehr werden einige Mechanismen der Ungleichmachung veranschaulicht, die in vieler Hinsicht von den USA und der EU – und diese ist hier v.a. relevant – gesteuert werden. Die Befreiung aus der kolonialen Herrschaft gab Anlass zu Erwartungen einer souveränen künftigen Position (Tandon 2016)12 der bis dahin unterjochten, ausgebeuteten Länder und ihrer erniedrigten, oft brutaler Gewalt ausgesetzten Völker
11 Zum Teil unterscheiden sich die Mechanismen der Globalisierung von den Mechanismen territorialer Expansion im kolonialen Zeitalter, in mehreren Punkten weisen sie jedoch eine auffallende Nähe zu ihnen auf. 12 Die ökonomische Entwicklung in den 1960er und 1970er Jahren ließ diese Erwartungen zu. Zum einen verzeichnen die Ökonomien der Länder des ›Globalen Südens‹, die in den 1980er und 1990er ihre Märkte geöffnet haben, ein signifikant verlangsamtes Wachstum gegenüber den 1960er und 1970er Jahren. Zum anderen hat sich die Kluft zwischen den reichen und armen Ländern zwischen 1960 und 2016 etwa verdreifacht (vgl. Field 2018: 96ff.). Ansätze zur Errichtung einer Freihandelszone afrikanischer Staaten und zur Reduktion der Exportabhängigkeit (vgl. Tandon 2016: 46ff.), wie sie (noch) 2010 auf der Konferenz der Afrikanischen Union in Kigali von Monique Nsanz-
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(vgl. Tandon 2016). Mit der Etablierung einer neuen marktdogmatischen Ordnung, deren entscheidende Momente der Washington Consensus13 sowie die Bildung supranationaler Organisationen: des IWF (IMF)14, der Weltbank15 und der WTO16 waren (Wolff 2014; Ziai 201617; Tandon 2016; vgl. auch Chimni 2004), hat eine neue Vorteilssicherung stattgefunden.18 Ein von hegemonialen Bestrebungen gekennzeichneter Wettbewerb seitens der ›westlichen‹ Welt, in der die abanwa (ruandische Ministerin für Handel und Industrie) oder Erastus Mwencha (stellvertretender Vorsitzender der Kommission der Afrikanischen Union) initiiert wurden, konnten jahrelang nicht in maßgeblichem Umfang durchgesetzt werden. Am 7. Juli 2019 verabschiedeten 54 Staaten der Afrikanischen Union das AfCFTA – African Continental Free Trade Agreement (vgl. z.B. Dörries 2019). 13 1989 erstellte der amerikanische Ökonom und damalige IWF-Berater John Williamson eine Liste von zehn »›grundlegend übereinstimmenden Prinzipien‹« als Bedingungen für die Kreditvergabe der IWF. Der Konsens wurde zwischen den Akteuren, nämlich »›dem politischen Washington, führenden Mitgliedern der amerikanischen Regierung, dem technokratischen Washington der Finanzinstitutionen, den Wirtschaftsagenturen der US-Regierung, der US-Zentralbank Federal Reserve und den Washingtoner Think Tanks‹« (Wolff 2014: 47) festgelegt, d.h. die Homogenität der ökonomischen Kultur bzw. Perspektive, aus der dieser Konsens hervorgeht, springt ins Auge. 14 Internationaler Währungsfonds / International Monetary Fund. 15 Wie im Fall des Washington Consensus wird auf die homogene Kultur der Weltbank hingewiesen: »Like any institution, the World Bank has its own self-reinforcing culture and its codes which set the limits on what can be reasonably believed and discussed if one hopes to be taken seriously and remain a member of the group. […] Put in the same place several hundred people who have been trained in the same schools to think in the same way, recruit them precisely because they have excelled in this training […] and the probable cultural outcome will be – at least among the economists – monolithic and fundamentalist« (Miller-Adams 1999: 28f., zit. nach George und Sabelli 1994: 102; vgl. auch Chimni 2004). 16 World Trade Organisation. 17 Ziai (2016: 33ff.) zeichnet ein differenzierteres Bild des IWF, indem er auf die Transformationsprozesse eingeht sowie die (am Widerstand der USA gescheiterte) Initiative zu dem Staatsinsolvenzverfahren SDRM (Sovereign Debt Restructuring Mechanism) würdigt. Ziai macht ebenso deutlich, dass das Verhältnis zwischen dem IWF und einzelnen Staaten sich ausdifferenziert, wie z.B. im Fall Argentinien und Brasilien seit den 1980er Jahren. 18 Damit wird nicht behauptet, dass die genannten Strukturen die einzige Ursache des asymmetrischen globalen Verhältnisses sind. Vielmehr werden diese gewichtigen Faktoren hier genannt, die unmittelbar im Einfluss der europäischen Staaten liegen.
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USA und die EU eine zentrale Rolle spielen, konstituierte einen politisch-rechtlichen Rahmen,19 der die Souveränität der Staaten des ›globalen Südens‹20 weitergehend beschneidet (vgl. Tandon 2016; Ziai 2012), als dies aufgrund der Etablierung supranationaler Institutionen wie z.B. der UN und der EU grundsätzlich geschieht bzw. normalerweise der Fall wäre (Benhabib 2016; 2011; Sassen 2015). Das Abhängigkeitsverhältnis resultiert vielerorts in der Zerstörung von lokalen bäuerlichen Existenzen,21 Betrieben sowie der Umwelt; Menschen wird der Zugang zu Ressourcen, auch zu kollektiven Ressourcen wie Land (Randeria 2003; Lessenich 2016) und Wasser (Barlow 2014) versperrt. Die zentralen Säulen dieser politischen und ökonomischen Ausrichtung sind die durch die WTO durchgesetzte Liberalisierung des Handels (Tandon 2016; Ziai 2016; Konicz 2017; Wolff 2014)
19 Thilo Bode (2018: 31), Leiter des Foodwatch, spricht von einem »industriell-politischen Komplex«. Seine Recherchen zeigen eine intensive, noch nie dagewesene personelle, zeitlich versetzte Verflechtung der Funktionen von Konzernmanagement (Vorständen, Manager*innen, Berater*innen) und politischen Entscheider*innen, die gemeinsam Regeln hervorbringen und so »den ungerechten Status quo […] schützen und fortschreiben« (Bode 2018:31). Dieser »›Drehtüren‹-Mechanismus« besteht im Wesentlichen darin, dass hochrangige Politiker*innen nach ihrer Regierungszeit in verantwortungsvolle Positionen in den Konzernen wechseln oder umgekehrt von der Wirtschaft kommend in der Politik ihre Tätigkeit fortsetzen, aber er bezeichnet auch andere Mechanismen, wie z.B. den Einbezug der Wirtschaftsvertreter*innen in die Konzipierung von Regulierungen und Gesetzen. Diese Praxis resultiert in einer neuen Qualität des Lobbyismus, der »strategisch und aggressiv gesellschaftliche Strukturen bearbeitet, um die Konformität von Konzerninteressen und Gemeinwohlinteressen zur allgemeinakzeptierten Erzählung zu machen …« (Bode 2018: 42). Jacob Field zeichnet denselben Mechanismus exemplarisch an den Funktionen von George Osborne (GB), Emmanuel Macron (Frankreich) und John Key (Neuseeland) sowie am Beispiel des finanziellen Engagements des Finanzsektors im Vorfeld der US-Wahlen 2015-16 in Höhe von 2,8 Milliarden US Dollar nach (vgl. Field 2018: 87). 20 Mit dieser Bezeichnung folge ich Yash Tandon, der diesen Begriff neben anderen verwendet. Obschon der Begriff sehr unterschiedliche Länder symbolisch zusammenfasst, wird für die Zwecke der Analyse der Machtstrukturen ein Sammelbegriff benötigt. Dabei orientiere ich mich an den Angaben der OECD von 2017: https://www.tirol.gv. at/fileadmin/themen/tirol-europa/welt-ins-gleichgewicht/downloads/EZA/Liste_der_ Laender_des_Globalen_Suedens.pdf (Zugriff am 1.6.2019). 21 Dabei stellen kleine landwirtschaftliche Betriebe sowie Subsistenzwirtschaft in den Ländern des ›globalen Südens‹ eine Existenzgrundlage für einen großen Teil der Bevölkerung dar.
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sowie die Bindung der Kreditvergabe des IWF und der Weltbank 22 an die Erfüllung von ökonomischen und politischen Bedingungen, von denen die wichtigsten sind: weitgehende Reduktion von Einfuhrzöllen und radikale Kürzung der Staatsausgaben (vgl. Wolff 2014; Stiglitz/Charlton 2007; Pogge 2008; Konicz 2017; Sassen 2015; Tandon 2016), die u.a. in Kürzungen der Staatsausgaben für Bildung und Gesundheit, in der Abschaffung der staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel und Treibstoff und in der Senkung der Reallöhne resultierten (vgl. z.B. Wolff 2014: 33ff.). Im Weiteren wäre zu nennen: Unterordnung der Lebensmittelproduktion unter liberale Handelsgesetze (ohne Zustimmung der Länder des ›globalen Südens‹), womit die Patentierung von Saatgut und Pflanzen, z.B. für die Produktion von Medikamenten, einhergeht (vgl. Pogge 2008; Randeria 2003; Tandon 2016), ferner undemokratische Strukturen der WTO (vgl. Singer 2004; Chang 2011; auch Charnovitz 200423), die die Interessen der westlichen Staaten schützen und durchsetzen, wie z.B. extensive Subventionierung der Landwirtschaft im Westen trotz des Subventionierungsverbots (Tandon 2016; Randeria 2003). »Farmers are subsidised and protected by the governments of rich countries, where less then two per cent of the workforce is employed in agriculture. This protection shuts out goods produced by farmers of developing countries24, where agriculture supports the livelihoods 22 Ziai (2016: 35) weist allerdings auf eine empirische Untersuchung hin, die nachgewiesen hat, dass viele der Auflagen der Weltbank entweder nur teilweise oder gar nicht erfüllt wurden. 23 Steve Charnovitz (2004), der frühere Direktor des Global Environment and Trade Study (GETS), zeigt, dass eine Wandlung der WTO-Strukturen, Praktiken und Entscheidungen in Richtung auf mehr Transparenz und Legitimität unter Einbezug kosmopolitischer Elemente stattfindet, die spätestens seit den Protesten der Öffentlichkeit und NGOs während der WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999 eingesetzt hat. Der Wirtschaftswissenschaftler Yash Tandon (2016) berichtet dagegen von asymmetrischen Machtstrukturen und intransparenten Regeln, die stets zugunsten des Nordens geändert werden, vom Einsatz »hochentwickelter Waffen«, worunter er »technische Argumente, juristische Tricks und Täuschungsmanöver, ideologische und politische Waffen …« versteht. »Die USA und die Europäische Union verändern ständig die Regeln der WTO« (Tandon 2016: 90). 24 Dem im Zitat enthaltenen Begriff »developing countries« wird im Kontext des Beitrags nur bedingt zugestimmt. Diese fest verankerte begriffliche Unterscheidung zwischen den entwickelten und sich entwickelnden Staaten ist insofern nicht adäquat, als alle Staaten sich auf mehreren Ebenen (weiter)entwickeln. Es ist darüber hinaus eine in diesem Begriff suggerierte lineare Entwicklung zu einem hier kritisierten westlichen Modell als Vorbild und Ziel zu reflektieren. Das normative Ziel müsste sein, innovative
332 | Darowska of most of the world’s poor people. Intellectual property rules protect the rights of patent holders in the rich countries, but do little to transfer the technology to the underdeveloped industries in the poor countries. We are in the bizarre position of giving the developing world some $ 100 bn25 in aid every year, but costing them three times as much in protectionist trade policies26« (Stiglitz27 2007: v).
Das in den internationale Handels- und Investitionsschutzabkommen vorgesehene, neu eingeführte Instrument der ›internationalen privaten Schiedsgerichte‹ ermöglicht darüber hinaus, dass internationale Konzerne ihre Macht wie nie zuvor einsetzen und weiter ausbauen können. Die Klausel ermächtigt die internationalen Konzerne, Schadenersatzklagen in Milliardenhöhe gegen die Nationalstaaten zu erheben, wenn diese nach dem Abschluss von Investitionsabkommen z.B. Umweltauflagen verordnen oder die Investitionszeit verkürzen (Bode 2018). Die Liste der Elemente asymmetrischer Machtverteilung kann noch erweitert werden (Ziegler 2015, Lessenich 2016; Sassen 2015), z.B. um den Mangel an Respekt vor den Menschenrechten bzw. um den Mangel an rechtlichem Schutz der Menschenrechte in Hinblick auf Produktionsbedingungen der global agierenden Konzerne, um fehlende Regulierungen für ›gerechte‹ Löhne28 ebenso wie fehlende wirksame Verbote des Abbaus von Mineralien, Metallen und Erzen in Konfliktgebieten (Beispiel: Coltan für Mobiltelefone in Kongo) (vgl. Feldt et al. 2016). Extrem niedrige Preise für Rohstoffe, die im ›globalen Süden‹ gewonnen werden, wie Kakao, Kaffee, Tee, Baumwolle etc., sind ein weiterer Beitrag zum ökonomischen und politischen Machtgefälle. Wege für eine menschen- und umweltgerechte Entwicklung in allen Teilen der Welt zu finden. Außerdem kann Entwicklung nicht auf einen ökonomischen Begriff reduziert werden. 25 Vgl. auch Hickel 2018: 397. 26 Bezogen auf die Relation zwischen der EU und den afrikanischen Ländern sieht diese Bilanz folgendermaßen aus: Bei der Berücksichtigung der Ausgaben der sog. Entwicklungshilfe beträgt der gesamte negative Saldo seit den 1980er Jahren in den Zahlungsströmen zwischen der EU und Afrika 26,5 Milliarden US-Dollar zulasten afrikanischer Länder (Hickel 2018: 11; Sommavilla 2018: 23f.). 27 Ehemaliger Chefökonom der Weltbank, der 2000 von seiner Funktion zurückgetreten ist und 2001 mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. 28 Welche Löhne gerecht sind, ist eine Diskussionsfrage. Wenn allerdings Aushandlungen z.B. aufgrund von Unterbindung der Gewerkschaftsbildung gar nicht möglich sind, stellt sich die Situation wesentlich drastischer dar als in den etablierten westlichen Demokratien.
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Die marktdogmatischen Konditionen der Kreditvergabe des IWF und der Weltbank unter dem Stichwort ›Strukturanpassungsprogramme‹ wie auch die seit 1999 von betroffenen Ländern geforderten Poverty Reduction Strategy Papers29 wurden als Good Governance medienwirksam kommuniziert (vgl. z.B. Wolff 2014: 95ff.). Beispiele wie China, Russland, Indien, Brasilien und Südkorea30 zeigen dagegen, dass eine graduelle und an die spezifischen Strukturen des jeweiligen Landes abgestimmte Anpassung der Liberalisierung der Wirtschaft mit Beibehaltung selbstbestimmter Schutzzölle und Subventionen die minimale Forderung wäre, um einen Zusammenbruch der Funktionsfähigkeit der Ökonomie und der politischen Strukturen, wie z.B. im Fall der Krisen in mehreren lateinamerikanischen Ländern31 Ende der 1970er und in den 1980er Jahren (vgl. Wolff 2014: 39; Stiglitz/ Charlton 2007: 20ff.), zu vermeiden. »The weakness of the evidence in favour of a direct relationship between trade liberalization and economic growth has not prevented some economists from pursuing free trade at full throttle« (Stiglitz/Charlton 2007: 33).
Ein Beispiel expliziter Vormachtstellung der EU sind die Economic Partnership Agreements (EPA) mit mehreren afrikanischen Ländern, die die Öffnung ihrer Märkte für die EU-Importe erwirkten32 (Konicz 2017; Tandon 2016). Der Wirtschaftswissenschaftler Yash Tandon kommentiert: 29 Während Wolff (2014: 94ff.) in den Poverty Reduction Strategy Papers (im Rahmen der Initiative Poverty Reduction and Growth Facility) eine Täuschung der Öffentlichkeit bzgl. der Verantwortung für die Armutsursachen und eine Fortsetzung derselben Maßnahmen sieht, die die Armut gefestigt und nicht gemildert haben, betont Ziai (2016) die Bedeutung der Reform der Strukturanpassungsprogramme, indem die Ausrichtung der Politik in den 1990er Jahren auf die Armutsbekämpfung in Form von Poverty Reduction and Growth Facility (PRGF) fokussierte. 30 Diese Entwicklung kann jedoch für Südkorea bis zur sog. ›Asienkrise‹ 1997 geltend gemacht werden. 31 Stiglitz/Charlton (2007: 20ff.) entwickeln eine im Kontext der orthodoxen Theorieansätze alternative Erklärung dieser Krisen und führen sie im Wesentlichen auf die Offenheit der Märkte in den Ländern Lateinamerikas zurück, die weitgehend offener für die ausländischen Investitionen waren als die Märkte der asiatischen Länder, die das ausländische Kapital viel strikter kontrollierten. 32 2014 wurden die Abkommen von den Staaten der Ecowas (Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten) und den Staaten der SDAC (Southern African Development Community) – u.a. von Angola, Südafrika und Namibia – unterzeichnet. Als Reaktion auf die bis zum 1.9.2016 andauernde Weigerung Kenias, das Abkommen zu
334 | Darowska »Im Falle Afrikas hat die Europäische Kommission alle Mittel eingesetzt, die ihr zu Gebote stehen, um die Länder zum Unterzeichnen von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPAs) zu zwingen« (Tandon 2016: 37).
Seit 2018 setzen die USA Einfuhrzölle als wirtschaftliches und politisches Druckmittel gegenüber der EU und China sowie seit 2019 gegenüber Mexiko ein. Diese Politik zeigt, welchen Stellenwert die Einfuhrzölle für ein Land haben. Sind entsprechende Wirtschaftsstrukturen, die die Verluste bei deren Abschaffung abfedern, nicht vorhanden und werden große Anteile des BIP aus den Einfuhrzöllen generiert, sind die Folgen drastisch. Dieser allerdings einseitig an der Machtachse ausgerichtete ›Handelskrieg‹ spielt sich seit vielen Jahren im Verborgenen auf unbeachteten Schauplätzen ab; seine Relevanz wird in Deutschland und anderen EULändern von der kritischen Öffentlichkeit kaum thematisiert oder medienwirksam diskutiert.33 Zu diesen nationalen bzw. supranationalen Bündnisinteressen positionieren sich die Universitäten auf vielfache Weise. Indem sie einerseits eine formell neutrale (politische) Stellung einnehmen und zugleich ihre Politik auf den globalen Wettbewerb ausrichten, handeln sie (politisch) nicht neutral. Beispiele wie die Mobilisierung der Universitäten in der sogenannten Flüchtlingskrise, die zu einer großen Zahl solidarischer Hilfsaktionen führte, zeigen Spielräume auf, die auch in Hinblick auf globale Gerechtigkeit nutzbar wären. Die Öffnung 34 der Hochschulen für die geflüchteten Studierenden, Studieninteressierten und Forschenden wurde jedoch zuvor durch die Entscheidung der Bundesregierung, die Grenzregime zu flexibilisieren, sowie durch entsprechende Aufforderungen der Ministerien, einen erleichterten Zugang zu Hochschulen für geflüchtete Menschen zu ermöglichen,35
unterzeichnen, wurden dem Land von der EU Strafzölle beim Einfuhr seiner Produkte in europäische Länder auferlegt (vgl. Konicz 2017). 33 Massive Proteste der Öffentlichkeit in den EU-Staaten erwirkten die Aussetzung des Freihandelsabkommens zwischen den USA und den EU-Staaten (TTIP – Transatlantic Trade and Investment Partnership). Dagegen umhüllt die EPAs ein Schweigen in der europäischen Öffentlichkeit. 34 Damit ist eine allgemeine Bereitschaft gemeint, sich grundsätzlich mit der Ermöglichung des Studierens und Forschens für bis dahin an den Hochschulen nicht präsente Gruppen auseinanderzusetzen. 35 So ist z.B. trotz einer radikalen Wende in der Regierungspolitik auf der Webseite des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (noch) zu lesen: »Bildung und Forschung kennen keine Grenzen. Deshalb unterstützen das Mi-
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›legitimiert‹. Der Tod von etwa 23.000 Flüchtlingen beim Versuch, die EU-Grenzen zwischen 2005 und 2015 zu überqueren (Jones 2016: 10), 36 war bis zu dieser kurzzeitigen Flexibilisierung der Grenzregime kaum ein Diskussionsthema an den Universitäten in Deutschland. Hier geht es nicht um ein kontroverses wissenschaftliches Thema, sondern um ein menschlich-moralisches und politisches Versagen der Staaten und Gesellschaften der europäischen Länder, die Menschen massenweise vor ihren Grenzen sterben lassen. Ein anderes Beispiel für das politische Engagement ist eine klare Missbilligung der politischen Verfolgung und die Unterstützung von Wissenschaftler*innen in der Türkei und anderen Regimen durch die Hochschulen.37 Der Grundsatz politischer Neutralität in Hinblick auf die Durchsetzung der Menschenrechte, zu denen nicht nur Schutz vor politischer Verfolgung, sondern auch explizit Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen gehört, ist somit nicht überzeugend. Vielmehr leisten die Hochschulen durch ihre mangelnde Auseinandersetzung und fehlende kritische Positionierung einen Beitrag zur bestehenden politisch-wirtschaftlichen Ordnung, die vielerorts Menschen in Armut, Flucht und Migration treibt. Der Wettbewerb untereinander erlangt einen hohen Stellenwert, ein aktiver und wesentlicher Beitrag zur globalen Gerechtigkeit bleibt hingegen aus. Dabei bekennen sich die EU und Deutschland ausdrücklich zu den universalen Menschenrechten und somit auch zum Art. 25 (1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der das Recht auf adäquate Lebensbedingungen sichert: »Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.«
nisterium und die NRW-Hochschulen Flüchtlinge, die in Nordrhein-Westfalen studieren möchten« (https://www.mkw.nrw/studium/informieren/informationen-fuer-fluecht linge-die-in-nrw-studieren-moechten/) (Zugriff am 7.8.2018). 36 Laut dem Bericht des UNHCR »Desperate Journeys« (2018) starben im Zeitraum 2015–2018 14.281 Menschen im Meer bei dem Versuch, die EU über das Mittelmeer zu erreichen, und 427 entlang der Landgrenzen (https://www.unhcr.org/desperatejour neys) (Zugriff am 22.3.2019). 37 Gemeint sind die Bemühungen der Hochschulen, einzelne Wissenschaftler*innen durch Beratung, Interventionen und Stipendien zu unterstützen, sowie hochschulübergreifende Initiativen wie die Philipp Schwarz-Initiative »Scholars at risk«.
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Sowie zum Art. 28: »Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.«
Wenn sich Diversity an globaler Chancengleichheit und Gerechtigkeit orientiert, dann müssten mehrere Fragen in der weiteren Forschung und einer wissenschaftlich geleiteten Praxis berücksichtigt werden. Exemplarisch gehe ich auf drei Punkte ein: Es geht z.B. um intensives Vorantreiben der Forschung zu globaler Gerechtigkeit und einer an Menschenrechten orientierten Wirtschaft sowie zu Migration. Das Recht auf Leben, Freiheit, Meinungsfreiheit, der Schutz der Würde und adäquate Lebensbedingungen sind dabei zentral. Hierzu sind theoretische Ansätze ebenso relevant wie Forschungen zur realen Implementierung der Grundrechte. Auf der Ebene der Hochschulpolicy wären die Internationalisierungsstrategien nach ihrem Beitrag zu einer globalen sozial gerechteren Welt zu befragen, 38 konkret: Welche Maßnahmen ergreifen die Hochschulen im Rahmen von Diversity, damit der Zugang zu westlichen Universitäten allen sozialen Schichten weltweit offensteht; aufgrund von rechtlichen Voraussetzungen der Visa-Vergabe in Deutschland, zu denen ein Nachweis von Finanzierungsvoraussetzungen 39 gehört, 38 Selbstverständlich gibt es viele, u.a. vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderte Kooperationen zwischen deutschen Hochschulen und Hochschulen in den Ländern des ›globalen Südens‹. Die Frage, die jedoch in diesem Beitrag nicht abschließend beantwortet werden kann, ist, wer zu diesen Programmen Zugang erlangt. Wer setzt sich in den konkurrenzbasierten selektiven Mechanismen im Rahmen der Kooperationen durch; wie stellt sich dieser Mechanismus in einer Diversity-Perspektive dar, die die kolonialen und nachkolonialen Verhältnisse, etwa die oben geschilderten ökonomischen Verhältnisse und die schicht- und genderspezifischen Bildungsvoraussetzungen in den jeweiligen Ländern berücksichtigt? Die Beantwortung dieser Frage wäre für die weitere Forschung zu Diversity relevant. 39 Im Aufenthaltsrecht ist als Voraussetzung für die Vergabe eines Studienvisums an deutschen Universitäten ein Nachweis von etwa 750 Euro Unterhaltsgeld monatlich (neben einem raren Stipendiennachweis), meist in Form eines Sperrkontos, festgelegt und wird streng überprüft. Ein Zugang zum BAföG ist nur in Ausnahmefällen, z.B. für geflüchtete Asylbewerber*innen mit einem bestimmten Status, möglich. Ein Vergleich des kaufkraftbereinigten jährlichen BIP pro Kopf – Eritrea: 1.581 USD, Ghana: 4.729 USD, Deutschland: 50.425 USD (Zahlen v. 2017, IWF 2018) – macht deutlich, welche gesellschaftlichen sozialen Schichten in vielen Ländern (individuellen) formalen Zugang zu deutschen Universitäten erlangen können.
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ist der individuelle Zugang zurzeit in Bezug auf Länder des ›globalen Südens‹ den ökonomischen Eliten vorbehalten. In Bezug auf Forschungskooperationen wäre u.a. die Patentierung von indigenen Ressourcen (z.B. Heilpflanzen) und des indigenen Wissens durch westliche Firmen abzulehnen sowie die Überprüfung von Unternehmen nach Maßgabe der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte als Mindeststandards zu fordern.40
2. »E PISTEMIC DISOBEDIENCE « 41 – M ARXISMUS -K RITIK ALS ZWEITES M OMENT DER D EKOLONIALISIERUNG In Hinblick auf die Voraussetzungen der Wissensproduktion wäre zu fragen, welche kulturellen, sozialpsychologischen und politischen Mechanismen ihre Wirkungsmacht entfalten, so dass die hier beschriebenen globalen Verhältnisse ein Nischenthema sind. Benötigt wird eine breitere wissenschaftsbasierte Diskussion mit dem Zweck, gerechtere ökonomische und politische Machtstrukturen zu schaffen. Ziel ist ein Leben ohne Existenzbedrohung in Freiheit und Würde für alle. Anstöße für postkoloniale Perspektiven, die sich der Kritik der vergangenen und gegenwärtigen globalen Zustände annehmen, gehen von verschiedenen Disziplinen aus, u.a. Politikwissenschaft (vgl. Ziai 2016) und Soziologie (vgl. Reuter/Villa 2010; Holzinger 2019). Welche theoretischen Bezüge stehen hier zur Verfügung? Das komplexe theoretische Werkzeug für die Analysen der von Encarnación Gutiérrez Rodríguez (2003: 19) genannten Gegenstände der postkolonialen For-
40 Deutsche Version: Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (2014), hg. von der Geschäftsstelle Deutsches Global Compact Netzwerk (DGCN), c/o Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Berlin. 41 Walter Mignolos Begriff »epistemic disobedience« (2011), den ich an dieser Stelle zitiere und den ich als Leitmotiv dieses Aufsatzes verwende, ist breiter als der von mir hier angewandte. Mignolo versteht unter epistemischem Ungehorsam einen Ausstieg aus den westlichen Denktraditionen: »›De-linking‹ is then necessary because there is no way out of the coloniality of power from within Western (Greek and Latin) categories of thought. Consequently de-linking implies epistemic disobedience rather then the constant search for ›newness‹« (Mignolo 2011: 45; vgl. auch Broeck 2012). Mein Ansatz diskutiert kritisch die etablierten Epistemologien, ohne die im ›Westen‹ entstandenen Konzepte zu verwerfen.
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schungsperspektive – »Kolonialismus, Imperialismus und nachkoloniale Gesellschaftszustände« – setzt sich, so Gutiérrez Rodríguez, aus drei Säulen zusammen: Marxismus42, Poststrukturalismus und Feminismus (2003: 19). Sicherlich ist das eine enge Auslegung des Postkolonialismus, der für unterschiedliche Strömungen steht, allerdings nehmen etliche Theoretiker*innen tatsächlich Bezug auf den Marxismus (vgl. Habermann 2012). Einen analytischen Gewinn für eine Perspektive, die Aspekte der diversen vergangenen kolonialen und gegenwärtigen kolonialähnlichen Verhältnisse untersucht, sehe ich (mit Walter Mignolo) in einer Entbindung von festgelegten epistemischen (Dreier)konstellationen und verwende den von Mignolo geprägten Begriff »decolonisation«43. Im folgenden Abschnitt diskutiere ich die Problematik des Rückgriffs auf Marx’ Theorie44 als Forschungsperspektive zur Analyse gegenwärtiger globaler Verhältnisse.
42 Gutiérrez Rodríguez (2003: 19) spezifiziert an dieser Stelle den Theoriebezug und nennt die marxistische Kolonialismus- und Imperialismustheorie. Die Imperialismustheorie, die im eigentlichen Sinne von Lenin entwickelt wurde (Marx wurde im Rahmen des Postkolonialismus vorgeworfen, wenig zur Analyse des Imperialismus beigetragen zu haben, vgl. z.B. Habermann 2012), ist ein Bestandteil des Konstrukts ›MarxismusLeninismus‹. Da an vielen Stellen der Marxismus als eine der zentralen theoretischen Grundlagen der postkolonialen Theorie behandelt wird, gehe ich im Folgenden nicht auf Lenins Imperialismustheorie, sondern auf die Kernpunkte der von Marx entwickelten Theorie ein. Diese werden in der postkolonialen Rezeption nicht ausreichend kritisch hinterfragt und konstituieren m.E. Leerstellen, die in diesem Beitrag genannt werden. 43 Damit ist eine analytisch-theoretische Ausrichtung der Kritik des Kolonialismus und nachkolonialer globaler Verhältnisse signalisiert, die sich nicht marxistischer Theorie bedient. 44 Marxismus ist ein sehr unklarer Begriff (vgl. z.B. Bealey 1999; Morina 2017), umso wichtiger wäre seine Präzisierung in der Anwendung. In diesem Beitrag wird nicht jegliche, auch grundsätzliche Kritik am kapitalistischen System unter Marxismus subsumiert. Unter ›Marxismus‹ verstehe ich nicht nur einzelne durchaus treffend ausgearbeitete Aspekte von Marx’ eigener umfangreicher Theorie und auch nicht die von Marx abgelehnten zahlreichen theoretischen Ansätze des (sog. Utopischen und demokratischen) Sozialismus, sondern die umfassende Theorie von Marx (vgl. Kołakowski 2006b, 1981a; Bayertz 2018) in ihren Kernpunkten und Hauptargumentationslinien, insbesondere Marx’ Analyse des Kapitalismus und des Übergangs zum Sozialismus, seine Geschichts- und Sozialphilosophie, den Historischen Materialismus; dabei berücksichtige ich sowohl seine analytischen als auch seine eher aktivistisch-politischen Genres. Ich beziehe mich auf Marx selbst und mit Einschränkungen auf Engels (sowie
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Der wesentliche Bezugspunkt ist Marx’ Analyse der ökonomischen Verhältnisse, die mit geschichts- und gesellschaftstheoretischen sowie sozialontogenetischen Theoriedimensionen verschränkt ist. In der Reproduktion des seit dem 19. Jahrhundert bestehenden epistemischen Dualismus zwischen den liberalen marktdogmatischen und marxistischen Denktraditionen westeuropäischer Universitäten sehe ich ein Stagnationsmoment.45 Dabei erarbeitete Marx (zum Teil mit Engels) einige beachtenswerte Theorieansätze; einige zentrale Thesen sind dagegen fehlerhaft, aus einer epistemologischen Perspektive nicht begründbar und für eine an Menschenrechten orientierte politische Emanzipation bedrohlich. 46 Würde man Marx’ Argumentationen modifizieren, hier stimme ich mit Leszek Kołakowski47 sporadisch auf Lenin, denn seine Theorie wird hier in der bekannt gewordenen Verschmelzung Marxismus-Leninismus genannt). In dieser Konnotation kann es sich auch nicht um den sog. ›Post-Marxismus‹ handeln, wie ihn z.B. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelt haben (vgl. Nash 2002); deshalb werde ich auf deren Konzepte, v.a. den Hegemoniebegriff, nicht eingehen. Im Kontext von feministischen Theorien werde ich im nächsten Teil kurz die Polemik zwischen Judith Butler und Nancy Fraser diskutieren und dabei Butlers Materialismusbegriff ansprechen. Nahe liegt der Bezug auf Antonio Gramsci, dies würde jedoch eines separaten Aufsatzes bedürfen. Meine Reflexionsperspektive ist ›decolonial‹ und postsozialistisch inspiriert. 45 Die Stagnation manifestiert sich z.B. darin, dass sich seit Marx’ Analysen und Zukunftspostulaten um die wissenschaftlich begründeten Vorschläge zu einer sozial gerechteren Wirtschaftsorganisation keine Diskurse mit breiter Wirkung entfaltet haben. Marx’ theoretischer Beitrag endet mit dem Moment der Abschaffung der bestehenden Ökonomie sowie der rechtlichen und politischen Grundannahmen der ›bürgerlichen‹ Demokratie. Die Implikationen werden in diesem Beitrag diskutiert. Die zahlreichen soziologischen Replikationen der etablierten Klassentheorie tragen nicht viel zur Lösung des Problems der Ausbeutung bei. 46 Dazu genauer im Abschnitt 2.1. 47 Leszek Kołakowski (1927-2009) war einer der in Osteuropa am intensivsten rezipierten Philosoph*innen der Gegenwart und einer der bedeutendsten neueren Theoretiker*innen des Marxismus. Ausführlich bearbeitete er die Übereinstimmungen und Differenzen zwischen zahlreichen sozialistischen Strömungen. Aufgrund seiner Kritik des Regimes in Polen und seiner Forderung einer Revision des Marxismus als real praktizierter Staatslehre, insbesondere seiner Forderung der Meinungsfreiheit, wurde er 1966 aus der Partei ausgeschlossen. 1968 verlor er seine Professur an der Universität Warschau und verließ infolgedessen Polen; er lehrte später in Oxford, UK (vgl. z.B. Kołakowski 1981a, 1981b). Seine Analysen marxistischer Theorie gehören zu den umfangreichsten. Mit großem politischem Engagement unterstützte er den Sturz der kommunistischen Diktatur in Polen.
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(2006b: 366) überein, könnte im strengen Sinne nicht mehr von Marx’ Theorie gesprochen werden. Insofern stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht Marx’ Analysen einen Ausweg aus den gewaltvollen globalen ökonomisch-politischen Verflechtungen bieten. Es wird öfter zwischen der von Marx und Engels (u.U. auch Lenin) ausgearbeiteten Theorie des Kapitalismus und Kommunismus und deren anschließender praktisch-politischer Umsetzung unterschieden, die vom Missbrauch48 der theoretischen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen gekennzeichnet gewesen sei. Eine Reihe von Kritiker*innen, v.a. diejenigen, die die Analysen von Marx und Engels und deren theoretische Implikationen für dringend reformbedürftig hielten,49 haben dieser These widersprochen und in der Theorie selbst gravierende Probleme nachgewiesen (vgl. Kołakowski 2006a, 2006b; Popper 1957; Keuth 2005; Bealey 1999; McLeish 1993).50 Im folgenden Abschnitt gehe ich auf dem Hintergrund der o.g. Frage nach dem zukunftsweisenden Gehalt von Marx’ Theorie kurz auf einige dieser Probleme ein. 2.1
Die Materialität der Diktatur
Marx und Engels haben in dem von ihnen 1848 51 veröffentlichten »Manifest der Kommunistischen Partei« (und an mehreren anderen Stellen) das Proletariat zur »herrschenden Klasse« (Marx/Engels 1848 2018b: 86) ernannt, das durch einen gewaltsamen Umsturz, »vermittels despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht
48 Z.B. schreibt Louis Althusser (in einem der zwischen1960 und 1964 verfassten Texte) von der »Überwindung der ›missbräuchlichen‹ Formen, die sie die Diktatur des Proletariats in der UdSSR angenommen hatte« (Althusser 1965 2017: 304). 49 Z.B. wurden verschiedene Entwürfe eines demokratischen Sozialismus entwickelt. Der demokratische Sozialismus wurde von Marx und später seinen Nachfolgern, den Marxisten im engeren Sinne, entschieden abgelehnt. Die Grundsätze von Marx’ Theorie wurden von den Anarchisten, allen voran Michail Alexandrowitsch Bakunin, scharf kritisiert. Sklaventum und Despotismus wurden als Konsequenz einer auf seinen Ideen aufbauenden gesellschaftlichen Ordnung prognostiziert (vgl. Kołakowski 2006b: 366). 50 Adam Michnik (2000) weist darauf hin, dass es in Polen insbesondere die Arbeiter*innen waren (also diejenigen, die bei Marx das Subjekt der Revolution darstellen), die nach mehreren Versuchen den Kommunismus als Unterdrückungssystem gestürzt haben. 51 Vom Dezember 1847 bis Januar 1848 verfasst, im März 1848 veröffentlicht.
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und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse«, »gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt«52 (Marx/Engels 1848 2018b: 85f.). Marx hat die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats in einem Brief an Joseph Weydemeyer (1852 1973a: 508) erklärt und in der »Kritik des Gothaer Parteiprogramms« (1875) bekräftigt, dass die Zeit zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft »nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur53 des Proletariats« (Marx 1875 2018d: 637). Beide haben in der Theorie die »politische Gewalt« in die Hände der Arbeiterklasse und der »Kommunisten« (Marx/Engels 1848 1969: 474) gelegt, wissend, dass »[d]ie politische Gewalt im eigentlichen Sinne … die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern ist« (Marx/Engels 1848 1969: 482). Die Zerschlagung der besitzbasierten Produktionsverhältnisse sowie der bürgerlichen Instrumente der Stabilisierung des Systems54 waren dabei zentrale strategische Momente55 (vgl. Marx/Engels 1848 1969). Diese theoretische Verankerung der Diktatur einer Klasse im politischen Programm hatte materielle Implikationen. Sie legte konzeptionelle Grundlagen für 52 Vorgesehen war, dass mit der Aufhebung der besitzbasierten Produktionsverhältnisse »die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine des Proletariats eigene Herrschaft als Klasse« aufgehoben würden (Marx/Engels 1848 2018b: 86). 53 Die Tatsache, dass die Diktatur als Übergang zum Sozialismus vorgesehen war, weist auf ein weiteres Problem der Theorie hin, siehe unten Abschnitt 2.3 und 2.4. 54 Solche stabilisierenden Elemente sind: Recht, (repräsentative) ›bürgerliche‹ Demokratie (vgl. Marx 1875 2018d: 637; Marx 1871 2018c: 599ff.), Privateigentum, individuelle ›bürgerliche‹ Freiheit, die auf der Annahme antagonistischer Interessen beruht, Menschenrechte (vgl. Kołakowski 2006a, 2006b: 358ff.; Marx/Engels 1848 2018b: 78ff.; Marx 1875 2018d). 55 Grundsätzlich sollten jedoch spezifische Bedingungen eines Landes über die Form des Kampfes entscheiden. Als Ausnahme für einen nicht revolutionären Weg nannte Marx z.B. England, »wo man durch friedliche Agitation rascher und sicherer den Zweck erreicht« (Marx 1871 1973b: 641). Die Aussage verweist allerdings auf eine ungelöste Spannung innerhalb der Theorie, da die Prognose des britischen Journalisten, der vermutete, »daß die erhoffte Lösung, welcher Art sie auch sein mag, in unserem Lande ohne die gewaltsamen Mittel der Revolution erreicht werden wird«, in demselben Interview auf Marx’ ambivalente Replik stieß: »Ich bin in dieser Hinsicht nicht so optimistisch wie Sie …. Seien Sie gewiß, sobald sie die englische Bourgeoisie in Fragen, die sie für lebenswichtig hält, in der Minderheit sein wird, werden wir uns einem neuen Krieg der Sklavenhalter gegenübersehen« (Marx 1871 1973b: 643). Ich danke Dieter Eißel für diesen Hinweis.
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ein Gewaltregime, mit dem diktaturimmanent Terror, Gewaltdynamik und Unterdrückung freier Meinungsäußerung sowie weiterer demokratischer Grundfreiheiten einhergingen. Wissenschaft, Medien und gesellschaftstheoretischer Diskurs werden in einer Diktatur von der herrschenden Gruppe kontrolliert. Auf der analytischen Ebene seiner Theorie des Historischen Materialismus56 siedelte Marx seine Kernthese der linearen Geschichtsentwicklung an. Die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit, die in einen Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten, stellt dabei den Motor der revolutionären Umwälzung 57 dar – so seine Analyse und Prognose zugleich. Im Unterschied zu diesem analytischen Ansatz konzipiert Marx die Diktatur als politische und aktivistische Maßnahme. Mit dem Ruf nach der Diktatur wird ein Widerspruch gelöst: Eine Revolution, die durch gezieltes menschliches Handeln herbeigeführt wird und hierdurch den, nach Marx’ Theorie, ohnehin zwangsläufigen Gang der Geschichte beschleunigt, hat mit massiver Gegenrevolution und einem Revisionismus zu rechnen. Dieser in der Theorie antizipierte historische Widerstand wird mit Hilfe der Diktatur überwunden. Eine Diktatur dieser Art ist allerdings nicht nur ein theoretisches Konzept, sie ist höchst materiell, was bedeutet, dass Millionen von Menschen für die Realisierung eines politischen Programms, das zum Teil in spekulativen Annahmen58 gründete, verfolgt, an Leib und Seele gefoltert und ermordet wurden. Die ›sozialistische Diktatur‹ beginnt nicht mit Stalin, sie ist in der Theorie angelegt.
56 Unter Historischem Materialismus wird die durch Marx aufgestellte, auf die materiellen Produktionsbedingungen bezogene historische Gesetzmäßigkeit verstanden. Dabei unterliegt der Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften einer bestimmten Dynamik: Mit der durch den technischen Fortschritt und die Steigerung der Erfahrungen, Fähigkeiten, Kenntnisse der arbeitenden Bevölkerung bedingten Entwicklung der Produktivkräfte (vgl. Bayertz 2018:188ff.) entwickelt sich ein Spannungsverhältnis zu den Produktionsverhältnissen. Das Anwachsen der ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen entlädt sich schließlich in revolutionären Verhältnissen (vgl. Bealey 1999; McLeish 1993). 57 Über lange Zeit andauernde gravierende Veränderungen oder abrupte Revolution (vgl. Bayertz 2018: 197ff.). 58 Siehe ausführlichere Argumentation im weiteren Verlauf des Beitrags.
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2.2
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Gesellschaftliche Homogenisierung und Gewaltenmonismus
Die Überwindung gesellschaftlicher Spaltung kann als zweiter zentraler Theoriestrang in Marx’ Argumentation identifiziert werden (vgl. Kołakowski 2006b; 1981a). Für Marx war die durch privaten Besitz der Produktionsmittel, Lohnarbeit und Arbeitsteilung verursachte Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen ein zentrales zu beseitigendes Moment. Lohnarbeit und damit einhergehende Spaltung der Gesellschaft resultierten in der Entfremdung.59 Das vorrangige Postulat war, die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft, in der Individuen ihre egoistischen Interessen verfolgen, von der politischen Gesellschaft zu überwinden. Es ging um »das Verhältnis des politischen Staates zu seinen Voraussetzungen, mögen dies nun materielle Elemente sein, wie das Privateigentum etc., oder geistige, wie Bildung, Religion« (Marx 1843 2018a: 519), es ging um »den Widerstreit zwischen dem allgemeinen Interesse und dem Privatinteresse, die Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft« (Marx 1843 2018a: 519). Die Einheit der Gesellschaft60 galt Marx als eine wesentliche Bedingung für die Befreiung der Menschheit und für die Konstituierung einer politischen Gesellschaft ohne Antagonismus der Interessen zwischen den Individuen und zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. Kołakowski 2006b, 2006a; Keuth 2005). »Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen …« (Marx 1843 2018a: 517f.). »Allerdings: In Zeiten, wo der politische Staat als politischer Staat gewaltsam aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geboren wird, wo die menschliche
59 Der Begriff Entfremdung bezeichnet mehrere Folgen der Produktion unter den Bedingungen des Privateigentums der Produktionsmittel und der Arbeitsteilung, u.a.: Entfremdung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, Entfremdung der Menschen untereinander sowie Entfremdung des Menschen von seiner Gattung. Zum Begriff der Entfremdung vgl. Israel, Joachim (1972). 60 »Charakteristisch für die rätedemokratische Organisation der revolutionären Direktdemokratie ist … die Aufhebung aller Strukturen und Verfahren, die der angestrebten Homogenisierung der Gesellschaft entgegenstehen, z.B. der Organisierung von Sonderinteressen in Parteien und Verbänden …. Gesellschaftliche Homogenisierung und Gewaltenmonismus sind Trumpf; Pluralisierung, Gewaltenteilung oder Gewaltenbalance hingegen sind verpönt« (Schmidt 1997: 112).
344 | Darowska Selbstbefreiung unter der Form der politischen Selbstbefreiung sich zu vollziehen strebt, kann und muß der Staat bis zur Aufhebung der Religion,61 bis zur Vernichtung der Religion fortgehen, aber nur so, wie er zur Aufhebung des Privateigentums, zum Maximum, zur Konfiskation, zur progressiven Steuer, wie er zur Aufhebung des Lebens, zur Guillotine fortgeht« (Marx 1843 2018a: 520).
Die Einheitsgesellschaft vereint das individuelle mit dem kollektiven Bewusstsein sowie die individuellen mit den kollektiven Bedürfnissen. Die zivile und politische Gesellschaft sind eins. Es gibt keine Trennung der Legislative von der Exekutive, bzw. die Notwendigkeit einer Legislative ist aufgrund von übereinstimmenden Interessen, Zielen und Bedürfnissen der Gesellschaft und ihrer Individuen überhaupt nicht mehr gegeben. Das Recht als Mittel der Mediation und Grenzsetzung der Freiheit des Einzelnen ist überflüssig, alle tragen zum kollektiven Wohl bei, es gibt keine Entfremdung. Der technologische Fortschritt ermöglicht es, dass die notwendige Arbeit kontinuierlich reduziert wird. Mit der Abschaffung der Klassenantagonismen lösen sich auch die Antagonismen zwischen den Nationen auf (vgl. Kołakowski 2006b, 1981a). Das Subjekt, so meine Interpretation, ist Teil des holistisch-naturhaft geformten, total mit sich selbst übereinstimmenden politischen Gemeinwesens. Die Idee der ›homogenen‹ Gesellschaft und der politische Monismus sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern spekulative und widersprüchliche Zukunftsprojektionen. Spekulativ ist die Annahme, dass das diesseitige kollektive Wohl im kollektiven Besitz der Produktionsmittel gründet, einer Entität, die (quasi naturhaft) kollektive Wünsche und Bedürfnisse homogenisiert und harmonisiert. Rätedemokratie basiert also nicht auf grundsätzlichen Interessenkonflikten von Gruppen und Individuen. Die in Marx’ Analyse dieses Übergangs zum Sozialismus zentrale These von der Unerlässlichkeit der fortgeschrittenen Entwicklung 61 Mit der Interpretation Marti-Branders (2018: 83) hinsichtlich der Forderung Marx’ nach Menschen- und Bürgerrechten für Juden stimme ich nur insofern überein, als Marx die von Bruno Bauer entwickelte Argumentation nicht teilt. Marx hält die aufgeworfene Frage der Emanzipation der Juden für eine in einen größeren politischen Komplex eingebettete Frage und zeigt, dass der Staat, der die Religion in die Privatsphäre der bürgerlichen Gesellschaft verlagert, kein emanzipierter Staat sei. Marx macht deutlich, dass die Frage falsch gestellt sei, denn es handele sich nicht wirklich um die Frage der Emanzipation einer Religionsgemeinschaft, sondern um eine wahre politische Emanzipation des Menschen: »Der Konflikt, in welchem sich der Mensch als Bekenner einer besondern Religion mit seinem Staatsbürgertum, mit den andern Menschen als Gliedern des Gemeinwesens befindet, reduziert sich auf die weltliche Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft« (Marx 1843 2018a: 518).
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der kapitalistischen gewaltbasierten Produktionsverhältnisse62 für den Sozialismus ist eine nicht ausreichend tief ausgearbeitete Leerstelle. Der auf Ausbeutung basierende Kapitalismus hat, laut Marx, die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit ›ermöglicht‹.63 Marx setzt voraus, dass die Verinnerlichung der unter Zwang erzeugten kapitalistischen Arbeitsmoral, obwohl sie das Sediment einer Epoche ist, quasi als anthropologische Konstante im Sozialismus fortdauert64 und in Verbindung mit den Rationalisierungsprozessen, die den Arbeitstag verkürzen,65 die Effekte des Kapitalismus, insbesondere die Erzeugung des Wohlstands, perpetuiert – eine weitere spekulative Annahme. Der kapitalistisch erzeugte Mensch werde so in ein sozialistisches Kollektiv übergehen, seine unter dem massiven Zwang herausgebildete Produktivkraft beibehalten und der politischen Einheitsgesellschaft, in der es keine egoistischen, nach eigenem Vorteil handelnden Individuen mehr gibt, zur Verfügung stellen. Hier wandelt sich der Begriff des Politischen von einer revolutionären Austragung der antagonistischen Klasseninteressen hin zu einer Partizipation am gemeinsamen Vorhaben. Marx arbeitet dabei mit zwei entgegengesetzten anthropologischen Konzepten – einem gegenwärtigen egoistischen Individuum (sein Gegenteil ist ein unterworfenes Individuum, 62 Die Gewalt der Produktionsverhältnisse wird u.a. durch Eigentum an Produktionsmitteln und damit einhergehende Bedrohung durch Arbeitslosigkeit erzeugt, wodurch wiederum ein Zwang zur Entwicklung jener Fähigkeiten entsteht, die im Arbeitsprozess eingesetzt werden. 63 Damit sind u.a. die Fähigkeiten der Proletarier*innen, technischer Fortschritt, Arbeitsorganisation, Wissenschaft etc. gemeint. »Die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewußt die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform« (MEGA II/15: Das Kapital, Bd. 3 1894: 255f., in: MEGA online http://telota.bbaw.de/mega/ [Zugriff am 22.3.2019]; Bayertz 2018: 224). 64 »… die allgemeine Arbeitsamkeit durch die strenge Disziplin des Capitals, wodurch die sich folgenden Geschlechter durchgegangen sind, entwickelt ist als allgemeiner Besitz des neuen Geschlechts« (Grundrisse, II,1.1 1857/58: 241, in: MEGA online: http://telota.bbaw.de/mega/ [Zugriff am 22.3.2019]; Bayertz 2018: 230). 65 »… Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit, die das Capital in seiner unbeschränkten Bereicherungssucht und den Bedingungen, worin es sie allein realisiren kann beständig voranpeitscht, soweit gediehen ist, daß der Besitz und die Erhaltung des allgemeinen Reichthums einerseits nur eine geringe Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft erfordert und die arbeitende Gesellschaft sich wissenschaftlich zu dem Process ihrer fortschreitenden Reproduction, ihrer Reproduction in stets größerer Fülle verhält« (Grundrisse, II,1.1 1857/58: 241, in: MEGA online: http://telota.bbaw.de/mega/ [Zugriff am 22.3.2019]; Bayertz 2018: 230).
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dessen Egoismus nicht von Relevanz ist) und einem künftigen (ausschließlich) sozial und kollektiv orientierten politischen Menschen. Da der Egoismus (zugleich) Voraussetzung und Produkt der Produktionsverhältnisse, im Sinne der Bereicherung, nicht so sehr der Arbeitsmotivation, ist, erlischt er im Sozialismus, denn die Arbeitsmotivation im Sozialismus gründet im Verständnis des Gemeinwohls – eine weitere spekulative, wissenschaftlich nicht begründete und fehlerhafte Schlussfolgerung. Spekulativ ist somit erstens die Annahme des Übergangs der unter den »peitschenden« kapitalistischen Verhältnissen erzeugten Fähigkeiten der Arbeitskräfte in deren »Besitz«, als verinnerlichte anthropologische Konstante, als verinnerlichte Herrschaft, die unter den veränderten Bedingungen unverändert bleibe und die Funktionsfähigkeit der sozialistischen Produktion sichere. Zweitens ist spekulativ die entgegengesetzte Annahme der grundsätzlichen Verkehrung der anthropologischen Eigenschaften unter dem Einfluss der veränderten kollektivierten Eigentums- und Produktionsverhältnisse, die etwa so lautet: Sobald Menschen in auf kollektivem Besitz basierenden Verhältnissen produzieren, werden sie selbst im kollektiven Interesse, nicht egoistisch, sondern auf Konsens ausgerichtet handeln. 2.3
(Menschen-)Rechte
Marx war mit den Details der praktischen Anwendung seiner Vision nicht befasst, denn entsprechend dem materialistischen Paradigma lagen die Veränderungen im materiellen Bereich. Diese Annahme ließ die theoretische Konzipierung der konkreten Anwendung im »Überbau«, zu dem die Theorie gehörte, überflüssig werden. Umso problematischer war es, dass so gravierende und gewaltvolle Eingriffe in einigen wenigen, jedoch sehr klaren theoretischen Eckpunkten der geschichtsphilosophischen, sozialgeschichtlichen und politischen Ansätze skizziert und polemisch massiv verteidigt wurden. Die auf Individuen bezogenen Menschenrechte waren, so Marx, ein Instrument zum Erhalt und zur Verfestigung der bürgerlichen Gesellschaft. In der Kritik der Menschenrechte bezog sich Marx auf die »›Déclaration des droits de l’homme et du citoyen‹«, wie sie in der »radikalsten Konstitution« 1793 (Marx 1843 2018a: 528) oder in der »Deklaration der Menschenrechte« von 1791 (vgl. Marx 1843 2018a: 531) in Frankreich verankert wurde. Menschenrechte, d.h. individuelle Freiheit, Privateigentum, Gleichheit und Sicherheit verkörperten für Marx die Rechte des bürgerlichen Individuums, eines von anderen getrennten Individuums als »isolierter, auf sich zurückgezogener Monade« (Marx 1843 2018a: 529). So basierte das Menschenrecht auf Freiheit »nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser
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Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums« (Marx 1843 2018a: 529). Das Menschenrecht auf Privateigentum sei die »praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit …. Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkürlich à son gré), ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes« (Marx 1843 2018a: 529). Ziel war jedoch ein »Staatsbürgertum«, ein »politisches Gemeinwesen« (Marx 1843 2018a: 531), zusammengesetzt aus citoyens, zwischen denen alle Barrieren aus egoistischen Privatinteressen niedergerissen sind (vgl. Marx 1843 2018a: 531), eine »Verwirklichung« jedes Menschen »im andern Menschen« stattfindet (Marx 1843 2018a: 529) und politische Freiheit »nur in der Gemeinschaft mit anderen ausgeübt werden kann« (Marx 1843 2018a: 526), als Freiheit zur Teilnahme am politischen Gemeinwesen, am Staatswesen. »Die politische Revolution ist die Revolution der bürgerlichen Gesellschaft« (Marx 1843 2018a: 532). »Die politische Emanzipation war zugleich die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik«66 (Marx 1843 2018a: 534).
Marx’ Argumentation bezüglich des Verhältnisses zwischen den Menschenrechten und machtpolitischen Kategorien kann in Relation zur Analyse der globalen Verhältnisse im ersten Kapitel dieses Beitrags gesetzt werden. Die Menschenrechte bieten in der Tat keinen ausreichenden Schutz67 vor Ausbeutung, Unfreiheit, nicht einmal vor Hunger und Tod. Der ideelle Konsens hinsichtlich der Gleichheit der Individuen (Art. 1 der ARMR68) spiegelt sich nicht in den realen
66 Die Politik wird hier in Marx’ Auffassung auf die Rolle einer Wächterin der Privatinteressen reduziert: »Noch rätselhafter wird die Tatsache, wenn wir sehen, daß das Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, daß also der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt … wird« (Marx 1843 2018a: 531). 67 Ich danke Maxi Steinbrück für ihre kritische Rückmeldung zu diesem Teil meines Beitrags. 68 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
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globalen Verhältnissen wider, die, wie gezeigt, von einer extremen Chancenungleichheit geprägt sind. Dem ursprünglichen antiken Begriff der Rechte 69 bei Aristoteles70 liegt allerdings der Begriff der Gerechtigkeit zugrunde. Der Begriff der Gerechtigkeit, der als Rechtsbegriff im aristotelischen Sinne geltend gemacht werden kann, findet insbesondere auf der übernationalen Ebene keine Anwendung. Ebenso versagt auf dieser Ebene die Realisierung bestimmter einzelner Menschenrechte, u.a. Schutz der Würde, Gleichheit der Menschen, Recht auf Leben, Recht auf materielle Ausstattung in Form angemessener Lebensbedingungen, Recht auf Bildung, Recht auf eine nationale und internationale Ordnung, die die Realisierung der Menschenrechte ermöglicht. Die Weigerung der internationalen Gemeinschaft, kollektive Verantwortung als Adressat der Menschenrechte zu übernehmen, die Aufrechterhaltung des Prinzips der Zuständigkeit der Nationalstaaten und somit die Bindung der Menschenrechte an Bürger*innenrechte kann als komplementärer Teil der Konstruktion der aktuellen wirtschaftlichen Weltordnung interpretiert werden.71 Der Rechtsbegriff bei Aristoteles ist durch das Konzept der ausgleichenden und proportionalen Gerechtigkeit72 begründet. »Das Recht, das einer hat, ist das Seine als gleicher Anteil; der Anspruch des einzelnen ist der ihm nach der Gerechtigkeit zugewiesene Anteil, der ihm gemäß den Regeln der gleichen Verteilung gebührt« (Menke 2018: 44; vgl. Aristoteles 2017). Ebenso übernimmt das römische Recht das Konzept des Rechts, das in der Gerechtigkeit gründet. Allerdings 69 Für die Zwecke dieser kurzen Passage wird zwischen den Begriffen »Rechte« und »Menschenrechte« nicht scharf differenziert. Grundsätzlich gilt, dass Menschenrechte in der Verfassung einzelner Staaten sowie seitens der UN und der EU als »positivrechtliche Regelungen« (Menke et al. 2007: 25) implementiert und ausdifferenziert wurden. 70 Marx orientierte sich in mehrerer Hinsicht an Aristoteles. 71 Der theoretische Diskurs um die Konzipierung von globalen Strukturen, die eine Übernahme der kollektiven Verantwortung für die Reduktion der globalen Armut (momentan leben ca. 2,5 Milliarden Menschen in extremer Armut) oder für die 70 Mio. »displaced people« bewirken, wird zwar seit mehreren Jahren geführt (vgl. u.a. Benhabib 2011, 2016; Pogge 2008; Archibugi/Held 2011). Auf der Ebene der politics sind jedoch keine Schritte wahrnehmbar, die über die nationalstaatlich basierte UN-Struktur hinausgehen würden. 72 Die einzelnen Arten von Gerechtigkeit, die Aristoteles im fünften Buch der Nikomachischen Ethik diskutiert, können hier nicht im Detail dargestellt werden. Grundsätzlich gilt, dass die proportionale Gerechtigkeit sich auf die Verteilung (Distribution) von Gütern bezieht, während die ausgleichende Gerechtigkeit auf einen Ausgleich zwischen dem, der zu viel, und dem, der zu wenig hat, abzielt.
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abstrahiert es von der Sittlichkeit und stellt eine Verbindung zwischen dem Gleichheitsgrundsatz – gerechten Anteil an der Sache – und »der abstrakten Tatsache, ein freier römischer Bürger zu sein« (Menke 2018: 47) her. So besteht die Gerechtigkeit – das Verhältnis der Gleichheit zwischen den Bürgern – nun in der Anerkennung der Gleichheit als Person und Eigentümer. Der Gebrauch dieses Rechts fällt jedoch in den privaten Bereich. Das Recht, wie Menke anknüpfend an Michel Villey (La formation de la pensée juridique moderne) ausführt, erstreckt sich nicht auf die Domäne des (privaten) Eigentums, die sich durch natürliche, vorrechtliche Macht auszeichnet. Der »rechtliche Status und die außerrechtliche Macht der Person sind strikt voneinander getrennt« (Menke 2018: 49). ›»Das Recht zieht die Grenzen der Domänen, aber das, was auf jeder der Domänen geschieht, die Beziehungen des Eigentümers zu seiner Domäne, die ihm zuteil geworden ist, geht es nichts an. Die absolute Macht, die der römische Herr über seine Sache ausübt, fällt überhaupt nicht ins Recht; sie ist das Schweigen, bildet die Lücken des Rechts«‹ (Valley, zit. nach Menke 2018: 48f.).
Das Subjekt ist ein Rechtssubjekt als Bürger, frei und den Rechtsbeziehungen verpflichtet. Es ist zugleich ein privates mit Macht ausgestattetes Subjekt, auf das das Recht keinen Zugriff hat. Menke zeigt, wie sich dieses Verständnis in der Neuzeit ändert, indem das Recht mit dem, was als vorrechtlich galt, zusammenfällt. Das Recht als »gerechter Anteil an einer Sache« (Menke 2018: 48) wird zum Recht als »Macht zum … Gebrauch der Sache« (Menke 2018: 51). In der Neuzeit verändert sich darüber hinaus der Status der Menschenrechte. Die in der Philosophie entwickelte Idee der Menschenrechte erlangt im 17. und 18 Jahrhundert »rechtliche Positivität«. Die bürgerlichen Revolutionen verändern den Anspruch in einen ›faktischen‹ Zustand. »Sie erklären die Menschenrechte als oder zu Bürgerrechten, zu geltendem Recht« (Menke et al. 2007: 13). Allerdings werden erstens von den Menschen- und Bürgerrechten Frauen, Juden, Schwarze und Proletarier*innen ausgeschlossen (vgl. Menke et al. 2007: 13); zweitens wird der private Besitz unter den rechtlichen Schutz des Staates gestellt. Die Menschenrechte sind, so könnte mit Marx argumentiert werden, weit davon entfernt, »die faktischen Unterschiede aufzuheben« (Menke 2018: 9f.): »Vor allem konstatieren wir die Tatsache, dass die sogenannten Menschenrechte, die droits de l’homme im Unterschied von den droits du citoyen, nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen« (Marx 1843 2018a: 528).
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Darin sieht Marx die negative Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft vom Politischen, das er nicht in Kategorien der individuellen Rechte, sondern als kollektive politische Einheit versteht. Marx entwickelt dagegen ein holistisches Gegenkonzept des Gemeinwesens und des citoyen, der nicht ein Rechts-, sondern ein politisches Subjekt ist; die zivile Gesellschaft, die er in der Gegenwart mit bürgerlicher Gesellschaft gleichsetzt, ist künftig nicht vom Politischen getrennt und weder individuelle Freiheit noch Besitz sind rechtlich geschützt; die Freiheit ist die Partizipationsfreiheit aller; politische Interessenkonflikte dürften nach der Abschaffung der Klassen keine maßgebliche Relevanz erlangen. Marx’ Kritik an der Legalisierung der faktischen Ungleichheit ist treffend. Seine Lösung – das Politische vom (liberalen) Recht zu ›befreien‹ – ist falsch und insbesondere in der Verknüpfung mit seinen anderen oben besprochenen Theorieelementen fatal. Marx hat zwar »die freie Entwicklung eines jeden als die Bedingung für die freie Entwicklung aller« in einer als »Assoziation« der Individuen konzipierten Gesellschaft propagiert (Marx/Engels 1848 2018b: 86).73 Diese Freiheit (wie auch die Rätedemokratie) aktualisiert sich jedoch erst nach der Aufhebung der bestehenden eigentumsbasierten Produktionsverhältnisse. Dieser Akt sollte die Auflösung der Klassen, samt deren widerstreitenden Interessen, herbeiführen. Die Abschaffung der Existenzbedingung der Klassen, also des privaten Eigentums der Produktionsmittel, führe zum einen bei kollektiver Verfügung über die Produktionsmittel und auf dem Hintergrund der erreichten Entwicklung der Produktivkräfte zur Freisetzung von Zeit- und Kraftkapazitäten für freie Entfaltung. Dem Gedanken über die individuelle Entfaltung liegt zum anderen die Annahme der durch die Auflösung der Klassen bedingten Aufhebung von Voraussetzungen für Macht und Herrschaft zugrunde. Diese Annahmen sind spekulativ und haben sich als fehlerhaft erwiesen. Nach dem »Umstülpen« (Bayertz 2018: 222) der Herrschaftsverhältnisse bildete sich eine neue Klassenstruktur heraus, die auf den Privilegien des Zugangs zur (Staats-)Macht mit ihren repressiven Instrumenten basierte (vgl. Kuroń/Modzelewski 196574). Aus geschichtlicher Perspektive ist 73 Ich danke Dieter Eißel für diesen Hinweis. 74 Der 1965 von Jacek Kuroń und Karol Modzelewski in Polen verfasste Text »Ein offener Brief an die Partei«, ein kritisches Dokument, an dem ursprünglich mehrere Personen gearbeitet haben, enthielt eine Kritik des Systems des realen Sozialismus aus der Perspektive der Theorie von Marx und Engels. Die Kritik bezog sich nicht auf den Sozialismus als solchen, sondern auf die entstandene Partei-Oligarchie, die zugleich den Staat repräsentierte und sich de facto im Besitz der Produktionsmittel befand. Die Forderung der Demokratie beschränkte sich auf die Arbeiter-Demokratie: »Przemysł w naszym kraju jest własnością państwa, a państwo to wąska grupa dygnitarzy partyjnopaństwowych […]. Jako zbiorowy dysponent narzędzi produkcji, pracy i produktu, a co
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empirisch nachweisbar, dass sich (Klassen-)Herrschaft nicht zwingend nur in der zivilen Gesellschaft auf der Basis des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln herausbildet, sondern ebenso im politischen Staats- und Parteiapparat auf der Grundlage des Zugangs zur repressiven Macht, die das politische Bewusstsein kontrolliert und den (neuen) Herrschenden Privilegien und somit Reichtum sichert.75 Nach der Abschaffung der alten Klassenstruktur hat sich die Herrschaft keineswegs aufgelöst, sondern verwandelte sich z.B. in den osteuropäischen Staaten in eine neue ›proletarische‹ Herrschaft, die erst durch eine erneute Revolution in eine freiere Gesellschaft überging. Freiheit hat bei Marx, neben der auf dem Interessenkonsens basierenden Partizipationsfreiheit, eine bestimmte (materialistische) Bedeutung: »[D]as wahre Reich der Freiheit« ist »die menschliche Kraftentwicklung«, die sich »als Selbstzweck gilt« und auf dem »Reich der Nothwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann« (MEGA II,15 1894: 795; Bayertz 2018: 205). Dieser Freiheitsbegriff ist nicht als individuelles Menschenrecht zu verstehen, denn weder Menschenrechte noch Rechte sind bei Marx bedeutsame Theoriekonzepte. Im Gegenteil, diese sind in seinem Gesellschaftskonzept nicht vorgesehen, da die entwickelte »Productivkraft aller Individuen« jenen »wirklichen Reichthum sichert«, (MEGA II,1.2 1857/58: 584), der die (vorgestellte) Übereinstimmung des Individuums mit dem Kollektiv ermöglicht. So bedeutet für Marx der Freiheitsbegriff, der an mehrere Voraussetzungen geknüpft ist, einerseits politische Partizipation, andererseits individuelle und kollektive Entwicklung, nicht jedoch individuelle Freiheit im Sinne der Menschenrechte. Das unveräußerliche Recht des Menschen, frei zu sein und nach seiner Glückseligkeit zu streben, das in der Virginia Bill of Rights76 verankert wurde, bildet keinen Ausgangspunkt für Marx’ Freiheitskonzept. Mit seinem Begriff der be-
za tym idzie wyzyskiwacz siły roboczej - są klasą panującą« (»Die Industrie in unserem Land ist im Besitz des Staates, und der Staat ist eine schmale Gruppe von staatsparteilichen hohen Würdenträgern […] Als kollektiver Eigentümer der Produktionsmittel, der Arbeit und des Arbeitsprodukts und, infolgedessen, als Ausbeuter der Arbeitskraft – sind sie die Herrschaftsklasse«; eigene Übersetzung). Sie forderten eine proletarische Demokratie und wurden zu drei bzw. dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (https://nowahistoria.interia.pl/aktualnosci/news-list-otwarty-do-partii-kuronia-i-mod zelewskiego,nId,2571159) (Zugriff am 1.6.2019). 75 Dies kann auch an dem im ersten Teil gezeigten, auf der Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik basierenden Lobbyismus nachverfolgt werden. 76 Zur gleichen Zeit beruhte die Wirtschaft in den Südstaaten auf der Arbeit der versklavten Menschen.
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stimmten vordefinierten Freiheit als politischer Partizipation und als Kraftentwicklung liegt Marx weit entfernt von Kants77 auf das Individuum zentriertem, offenem und prozessualem politischem Freiheitsbegriff, der sich »gegen jede Form von Bevormundung seitens eines Dritten, wer dies auch sei« wendet. Kants Freiheitsbegriff als »politischer Kampfbegriff« (Kienzle 1991: 174) grenzt sich nicht nur gegen andere Individuen, sondern ebenso gegen den Staat ab: »So hat auch der Staat kein Recht, seinen Bürgern zu sagen, worin ihr Glück besteht und wie es zu erreichen ist« (Kienzle 1991: 174). Politische Freiheit realisiert sich bei Kant im Subjekt: »Freiheit — es versteht sich: politische Freiheit — genießt ein Individuum nach Kant genau dann, wenn es ›seine Wohlfahrth nach seinen Begriffen suchen kann und auch nicht einmal als Mittel zum Zweck seiner eigenen Glückseligkeit von andern und nach derer ihren Begriffen gebraucht werden kann sondern blos nach dem seinigen‹« (Vorarbeiten zum Gemeinspruch, AA XXIII, S. 129, zit. nach Kienzle 1991: 298).
Mit Leszek Kołakowski behaupte ich allerdings, dass das individuelle Recht auf (Entscheidungs-)Freiheit »tot« ist (Kołakowski 2006a: 337), wenn das Subjekt nicht über die Möglichkeiten der Realisierung seiner Entscheidungen verfügt bzw. – so meine Ergänzung – bestimmte Optionen in seinem Handlungshorizont aufgrund seiner sozialen Lage nicht einmal als Idee erscheinen können. Daraus folgt jedoch nicht, dass dem Individuum sein Recht auf nicht vordefinierte Freiheit, somit seine Subjektivität, entzogen werden soll. Vielmehr ist die individuelle Freiheit auf der Basis der demokratisch und rechtsstaatlich gesetzten Grenzen nicht nur in der zivilen, sondern ebenso in der wirtschaftlichen und politischen Sphäre zu denken und von den Voraussetzungen ihrer Realisierung, d.h. von sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit und dem Recht auf gleiche politische Partizipation nicht zu trennen. 2.4
Theorie-Praxis-Verhältnis
Wie kommt es, dass Marx, der die einzig wirkliche gesellschaftliche und geschichtliche Veränderung in der »Basis«, in der Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit (die in einen Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten)
77 Zu rassistischen Konstruktionen bei Kant, Hegel und anderen Gelehrten siehe Analysen von Maureen Maisha Eggers und Peggy Piesche in: Eggers et al. 2009.
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verortete und sich mit der Theoretisierung78 des Überbaus (Staat, Recht, Wissenschaft, Kultur, Bewusstsein etc.) programmatisch nicht beschäftigte, dennoch eine komplexe Theorie entwickelt und einen diktatorischen Staat und die Einheitsgesellschaft fordert? Marx’ Absetzung von den Junghegelianern und der von ihm entwickelte Historische Materialismus führen ihn zu der Annahme, dass nicht die Intellektuellen mit ihrer Kritik, sondern das Proletariat79 das entscheidende Subjekt der gesellschaftlichen Veränderungen sei (vgl. Bayertz 2018: 232). Das Konzept des »organischen Intellektuellen« klärt ein wenig diesen Widerspruch. Er hat sich »als revolutionärer Theoretiker … als ›Organ‹ der wirklichen Bewegung zu verstehen und zu wirken«; die Theorie kann »die objektiven und die subjektiven Voraussetzungen für den Erfolg der (revolutionären) Praxis« ermitteln (Bayertz 2018: 228f.). Darüber hinaus wies Marx dem menschlichen Handeln die Rolle der »Hebamme« zu, die in das »Naturgesetz«, »das ökonomische Bewegungsgesetz« eingreift (Bayertz 2018: 241ff.). Was tun aber die Intellektuellen, wenn es keine »wirkliche Bewegung« gibt? Und muss nicht der*die Intellektuelle auch auf die Problematiken bestimmter Arten von Revolution hinweisen? Der Glaube an die Entdeckung einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit scheint sich hier als hinderlich für ein kritisches Hinterfragen der eigenen Theorieelemente erwiesen zu haben. Marx’ Forderungen haben sich in der Umsetzung als verheerend erwiesen. Das Werk, eine Einheitsgesellschaft herbeizuführen, oblag der am stärksten dehumanisierten und zugleich der entsprechend dem Historischen Materialismus fortschrittlichsten Klasse (vgl. Kołakowski 2006b: 361ff.). Da der Arbeiterklasse das revolutionäre Bewusstsein jedoch fehlte, war zuerst von Marx und Engels eine Avantgarde für die Aufklärung des Proletariats80 vorgesehen (vgl. Kołakowski 78 Theorie gehört nach Marx zum »Überbau«; sie wird somit erstens von der »Basis« bestimmt und ist zweitens für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit, die allein für die geschichtliche Entwicklung maßgeblich sind, unbedeutend. 79 Die Wahl des revolutionären Subjekts kommentiert Bayertz folgendermaßen: »Dieser Eindruck hatte eher spekulative als empirische Gründe; und sicher hat das Proletariat auch in der Folgezeit die an es gerichteten Erwartungen zu keinem Zeitpunkt erfüllt« (Bayertz 2018: 231). 80 »Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus. Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat« (Marx/Engels 1848 1969: 474).
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2006b: 360; Marx/Engels 1848 1969: 474ff.). Unklar ist, wie eigentlich die Avantgarde, insbesondere die beiden bürgerlichen Theoretiker Marx und Engels, zu ihrem Bewusstsein gelangt ist. Wenn einerseits die materiellen Lebensbedingungen das Bewusstsein bestimmen, andererseits die Arbeiter*innen nicht in der Lage waren, das revolutionäre Bewusstsein von sich aus zu entwickeln, und gerade den Angehörigen der bürgerlichen Schicht die Aufgabe zufiel, die Revolution theoretisch zu konzipieren, was bedeutete das für das Konzept des Klassenbewusstseins? Konsequent übernahm diese avantgardistische Rolle, die den Kommunisten81 zugesprochen wurde, auf Betreiben Lenins82 die Partei. Da es nur zwei Arten des Bewusstseins bei den Individuen gab: das bürgerliche (Kołakowski 2006b: 360ff.), »verzerrte« (Bayertz 2018: 176ff.) und das revolutionäre (Kołakowski 2006b: 360ff.), war die Annahme eines vorerst (noch) bürgerlichen Bewusstseins bei den Arbeiter*innen wie auch in der gesamten Gesellschaft folgerichtig.83 Widerspruch gegen die Parteimeinung offenbarte somit bürgerliche Denktraditionen. Wie kann zwischen dem bürgerlichen Bewusstsein und der Kritik der Fehlkonzepte unterschieden werden? Lenin verdrängte die Opposition, ließ die ›Menschewiki‹ und ›Sozialrevolutionäre‹ mit Hilfe von Tscheka (politische Geheimpolizei) verhaften und etablierte ab Frühjahr 1922 ein Einparteisystem (vgl.
81 »Sie die Kommunistische Partei in Deutschland unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, … damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt« (Marx/Engels 1848 2018b: 87). 82 Dietrich Beyrau zeichnet treffend die Kontinuität zwischen dem Kommunistischen Manifest und Lenins praktischer Umsetzung der Grundsätze des Marxismus: »In zahllosen Polemiken hatte er ein Konzept revolutionärer Strategie entwickelt, die von der Militanz des Kommunistischen Manifests ebenso beflügelt war wie von der der frühen russischen Narodniki. Lenin formulierte das Konzept der Partei als Organisation von Berufsrevolutionären, später als Kader bezeichnet. Es ging hierbei sowohl um die Schlagkräftigkeit einer revolutionären Partei unter repressiven Bedingungen als auch darum, die Partei von ›Abweichungen‹ und von jener ›Kleinbürgerlichkeit‹ freizuhalten, die Lenin an den westlichen Sozialisten so sehr verachtete« (Beyrau 2001: 16). 83 »Die phantastische Schilderung der zukünftigen Gesellschaft durch diejenigen, die die Gesellschaft auf friedlichem Wege verändern wollen; »die Systeme St-Simons, Fouriers, Owens usw.«, vgl. 489 entspringt in einer Zeit, wo das Proletariat noch höchst unentwickelt ist, also selbst noch phantastisch seine eigene Stellung auffaßt …« (Marx/Engels 1848 1969: 490).
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Johnstone 1997; auch Hildermeier 1989).84 Mit der Erschießung von aufständischen Arbeitern der Putilow-Werke (1919) und Matrosen von Kronstadt,85 mit der Verfolgung von Wissenschaftler*innen und Studierenden und der Übertragung der Zuständigkeit für die Genehmigung von wissenschaftlichen Kongressen 86 an die Geheimpolizei wurde die Diktatur praktisch eingeleitet;87 so dass Lenin selbst feststellte, dass »there were no further constructive ideas« (Keuth 2005: 234). Mit der Legitimierung der Diktatur in Theorie und Praxis wurden die Weichen gestellt für eines der gewaltsamsten Terror-Regime der Geschichte, dem Millionen Menschenleben zu Opfer fielen. Dies haben viele damals überzeugte Kommunist*innen in den 1930er Jahren, spätestens nach den Schauprozessen 1936-38, erkannt. Freier Gedankenaustausch und der ursprünglich rege Diskurs zahlreicher Theoretiker*innen des Sozialismus (Rosa Luxemburg88, Clara Zetkin, Karl Liebknecht, August Bebel, Eduard Bernstein, Victor Adler, Otto Rühle etc.) wurden für Jahrzehnte erstickt. Die nach dem Hitler-Stalin-Pakt (1939) begonnene und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Zustimmung der Alliierten vollzogene imperiale
84 Rosa Luxemburg warnte schon 1904 in »Organizational Questions of the Russian Democracy« vor Lenins Zentralismus. Sie schrieb, »that any successful revolution that used this strategy would develop into a communist dictatorship« (http://spartacus-educ ational.com/RUSlenin.htm; Section Social Democratic Labour Party; Zugriff am 9.9.2018). Allerdings waren die theoretischen Grundlagen für diesen Zentralismus schon bei Marx festgeschrieben. Gewaltbasierte Revolution ohne Diktatur muss mit Revisionismus rechnen, Diktatur und Demokratie sind gegensätzliche Konzepte. 85 Der Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921, die die bolschewistische Diktatur nicht anerkannten und auf der Herrschaft der Räte beharrten, »galt Lenin als Einfallstor für ›kleinbürgerliche‹ Stimmungen und Interessen, die gnadenlos zu bekämpfen waren« (Beyrau 2001: 21). 86 Die Wissenschaft sollte nach Engels philosophisch aufgeklärt werden, damit sie nicht empiristischen Blödsinn produziere (vgl. Kołakowski 2006b: 364). Das stalinistische Regime praktizierte diese Forderung in der Verfolgung der Wissenschaftler*innen und Unterordnung der Wissenschaft unter die ›Wahrheit‹ des Parteidiktats. 87 Insgesamt wird die Zahl der Opfer des Bürgerkrieges, einschließlich der Hungersnöte und Exekutionen, auf 7-14 Mio. Menschen geschätzt (http://spartacus-educational.com/RUSlenin.htm; Section »The Russion Civil War«; Zugriff am 9.9.2018). 88 Sicherlich verhinderte der brutale Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 ebenso die Fortsetzung der Diskurse.
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Expansion der Sowjetunion u.a. in mehreren osteuropäischen Ländern 89 mündete in eine Fremdherrschaft, die sich mit den kommunistischen Eliten der einzelnen Staaten90 die Macht teilte. Die Gesellschaften dieser Staaten waren für Jahrzehnte Verfolgung, Terror und Unterdrückung ausgesetzt (vgl. z.B. Bernacki et al. 2019). Die formal freien Staaten waren samt der Partei,91 der Regierung, der Bürokratie, des Militärs und der Geheimpolizei von der Sowjetunion kontrolliert, die Opposition wurde verfolgt, (überwiegend) von Arbeiter*innen initiierten Aufstände92 wurden niedergeschlagen, Tausende Menschen im Zuge politischer Säuberungen hingerichtet. Diese Art Kolonisierung der osteuropäischen Staaten hätte ein Gegenstand der Theorie der postkolonialen Verhältnisse sein können.93 Allerdings blieben einige Theoretiker*innen, insbesondere in Westeuropa, wie z.B. der in diesem Beitrag zitierte Louis Althusser, trotz dieser dramatischen Ausmaße von Gewalt Mitglieder der kommunistischen Parteien und hielten fest an der Aufrichtigkeit des revolutionären Klassenkampfes und der geschichtlich-politischen Notwendigkeit der ›Leichenberge‹.94 Marx kann für diese nicht verantwortlich gemacht werden, für
89 Damit ist nicht ausgeklammert, dass in den osteuropäischen Ländern eine ähnlich intensive Auseinandersetzung mit sozialistischen Ideen und ›Marxismus‹ wie in Deutschland und anderen europäischen Staaten stattfand. Diese wurde jedoch mit der sowjetischen Expansion unter Zustimmung der westlichen »Siegermächte« beendet. 90 Die Regime der einzelnen Staaten unterschieden sich zwar untereinander und in Hinblick auf verschiedene Perioden der imperialen Besatzung, dennoch waren die Grundmechanismen der Unterdrückung vergleichbar. 91 Die Tatsache der Existenz von mehreren Parteien kann nicht als demokratische Freiheit ausgelegt werden. Alle Parteien waren der offiziellen Auslegung des ›Marxismus‹ verpflichtet. 92 1953 in Ostdeutschland (ehem. DDR), 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1970, 1980 und 1989 in Polen. 93 Zur differenzierten Analyse in Bezug auf Polen siehe Mayblin et al. 2016. 94 Exemplarisch können diese Positionen an den Texten der 1965 von Althusser publizierten Essay-Sammlung nachverfolgt werden, wie die folgende Stelle veranschaulicht: »In der Tat war seit jeher das Ende der Ausbeutung das Ziel des revolutionären Kampfes und damit die Befreiung des Menschen. Aber in seiner ersten historischen Phase musste er, wie Marx es vorhersah, die Form des Klassenkampfes annehmen. Der revolutionäre Humanismus konnte dann nur ein ›Klassenhumanismus‹, der ›proletarische Humanismus‹ sein. Ende der Ausbeutung des Menschen hieß Ende der Klassenausbeutung. Befreiung des Menschen hieß Befreiung der Arbeiterklasse, und zwar durch die Diktatur des Proletariats. Über mehr als vierzig Jahre hinweg, durch ungeheure Kämpfe hin-
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seine Theorie schon. Insofern kann mit Marx’ eigenem Konzept des (»verzerrten«) Bewusstseins, das auch dieser Text zum Thema macht, gefragt werden, inwiefern seine Lebensbedingungen als Bourgeois und Intellektueller es ihm möglich gemacht haben, seine Theorie vom »wirklichen Lebensprozess« zu »emanzipieren« und »ins Blaue hinein zu theoretisieren« (Bayertz 2018: 177). 95 Die entscheidende Frage ist nun, worin die Relevanz von Marx’ Theorieansätzen für postkoloniale Verhältnisse besteht. Die Macht der Eigentümer der Produktionsmittel und materielle sowie politische Ungleichheit und Ungerechtigkeit waren zu Marx’ Zeit schon in der sozialistischen Bewegung grundlegende Themen. Marx’ (widersprüchliche) Abgrenzung vom Idealismus ist in eine einseitige Spekulation gemündet, in der die Produktivkräfte der (materiellen) Arbeit der Nexus sind, nach dessen Maßstab alles Entscheidende geschieht. Marx’ Übergang vom Idealismus zum Materialismus (in der Abgrenzung von Hegel, den Junghegelianern und dem naturalistisch orientierten klassischen Materialismus) brachte eine sinnvolle Stärkung der Aufmerksamkeit auf leibliche menschliche Existenz und die Analyse der Produktionsverhältnisse hervor. Dass dem Faktor der Produktionsverhältnisse eine Ursprungsmacht zugewiesen wurde, von der aus alle gesellschaftlichen Verhältnisse einschließlich der denkenden Tätigkeit, Politik, partizipatorischen Freiheit, Bildung etc. strukturiert werden, und dabei Recht, Menschenrechte, Gerechtigkeit, individuelle Freiheit keine Relevanz haben, hat ungelöste Widersprüche produziert. Die Analytik dieser Ursprungsmacht selbst war gravierend unterbelichtet: Der detaillierten empirischen Erschließung ihrer Dynamik im Kapitalismus stand ein statisches Konzept des Zukünftigen, voll von unbegründeten Annahmen, gegenüber; das theoretisch verabsolutierte bürgerliche Individuum mit seinen egoistischen Motiven wurde von einem ideellen, solidarischen Zukunftsmenschen abgelöst.
durch, hat sich in der UdSSR der ›sozialistische Humanismus‹ in Begriffen der Klassendiktatur ausgedrückt, bevor er sich in Begriffen der Freiheit der Person ausdrückte« (Althusser 1965 2017: 280f.). Althusser schreibt zwar von »missbräuchlichen Formen«, die die Diktatur des Proletariats angenommen habe, von »Untaten«, die man »noch nicht endgültig überwunden« habe (Althusser 1965 2017: 304). Diese Passagen lesen sich allerdings eher als abstrakte Unebenheiten im Kontext geschichtlicher Notwendigkeit denn als eine Auseinandersetzung mit dem materiellen Leiden von Millionen eingekerkerten, verschwundenen, misshandelten, politisch verfolgten, umgebrachten, psychisch gebrochenen, zum Schweigen gezwungenen Menschen, deren sich die ›sozialistische Diktatur‹ nach eigenem Ermessen annahm. 95 Bayertz bezieht sich an dieser Stelle nicht auf Marx selbst, sondern auf sein Konzept des gesellschaftlichen Bewusstseins, das durch materielle Verhältnisse bestimmt wird.
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Eine epistemische Gewalt postkolonialer Theorie, die im ›Marxismus‹ gründet, besteht in ihrem Bezug auf gewaltförmige marxistische Theorieelemente und darüber hinaus im Schweigen über ihre Gewaltförmigkeit. Die Distanzierung Mignolos vom Poststrukturalismus96 (Postmodernity insgesamt, auch Frankfurter Schule) geht mit seiner Distanzierung vom Marxismus einher. Mignolos Einschätzung der Funktion des Marxismus in der westlichen Epistemologie als stabilisierendes Element des Systems ist plausibel: »In this panorama, Marxism would continue as the opposition necessary in order to maintain the system« (Mignolo 2011: 51). Mit Mignolo wäre, über den Dualismus97 hinaus, eine Imagination demokratischer Koexistenz diverser Gruppen zu denken, die Verfahren entwickeln, eine Zukunft ohne koloniale98 Herrschaft zu gestalten. Zentral sind dabei die Menschenwürde und die Weigerung, Menschenleben, aber auch persönliche Freiheit (Mignolo 2011: 47) zur Disposition zu stellen. Der Gewalt, die von der Legitimierung der liberalen Ansprüche und von der Marktdogmatik ausgeht, muss – so meine Forderung – eine Entwicklung von Rechtsgrundlagen, die alle Menschenrechte global realisierbar machen – vorrangig das Recht auf Leben, Menschenwürde, Freiheit, Meinungsfreiheit und angemessene Lebensbedingungen –, entgegengesetzt werden. Das nationale Recht muss an den Menschenrechten, die für alle gelten, ausgerichtet werden. Ein Ziel ist es, hierfür die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen.
96 »Postcoloniality (post-colonial theory or critique) was born in the trap of (post) modernity. It is from there that Michel Foucault, Jacques Lacan, and Jacques Derrida have been the points of support for post-colonial critique (Said, Bhabha, Spivak). Decolonial thinking, on the contrary, builds from other palenques« (Mignolo 2011: 52). Auch bzgl. des Poststrukturalismus geht es mir jedoch nicht um die Ablehnung einer Denkrichtung, sondern eher um eine Auseinandersetzung mit bestimmten Positionierungen. 97 Bei Mignolo handelt es sich sogar um eine Triade: Liberalismus, Christentum, Marxismus: »What I wish to say is ›that other world‹ that we begin to imagine cannot merely be liberal, Christian or Marxist …« (Mignolo 2011: 51). 98 Mit Mignolos Ansicht, dass Armut und AIDS Facetten des Kolonialismus darstellen, stimme ich überein.
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3. D IVERSE F EMINISMEN
IM H OCHSCHULKONTEXT – THEORETISCHE UND PRAKTISCHE K ONTROVERSEN
Die epistemologischen Werkzeuge analytischer Zugänge zu den globalen gewaltsamen ökonomischen und politischen Strukturen sind im Kontext der Konzipierung einer dekolonial ausgerichteten Forschung zu Diversity darüber hinaus herausgefordert, das Verhältnis zwischen den Feminismen und Diversity zu diskutieren. Gender ist neben ›race‹, ›ethnicity‹, ›class‹ und ›disability‹ eine der zentralen Differenzlinien der globalen ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Wie wird diese Erkenntnis in den institutionellen Praxen der Hochschulen berücksichtigt? Die Relation zwischen den Feminismen und Diversity bildet in der Theorie und im organisationalen Kontext an den Hochschulen ein Spannungsverhältnis. An den meisten staatlichen Hochschulen sind Gleichstellungspolitiken auf dem Hintergrund des heteronormativen Geschlechtermodells etabliert. Diversity, die meist die sogenannten neoliberalen, also an die Marktdogmatik angepassten Umwälzungen an Hochschulen symbolisiert, ist für den institutionellen, aus den emanzipatorischen Bewegungen hervorgegangenen Feminismus nicht selten eine Bedrohung. In der Tat kann ein Feminismus, der von einer Gemeinsamkeit der essentiellen Interessen aller Frauen ausgeht, durch die Ausdifferenzierung der Standpunkte und emanzipatorische Artikulationen im Kontext spezifischer historischer und gegenwärtiger Diskriminierungspraktiken an Eindeutigkeit und kollektiver Durchsetzungskraft verlieren.99 Die Herstellung einer gemeinsamen Basis im Kontext der als neoliberal bezeichneten Wissenschaft wird z.B. in Chandra Talpade Mohantys (2013, 2003) Beiträgen postuliert. Die herkömmlichen Interpretationen ihres Textes »Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses« (1984), der die unterschiedlichen Unterdrückungserfahrungen von Frauen anhand der Differenzlinien ›gender‹, ›race‹, ›class‹ analysiert, kritisiert die Autorin als Fehlinterpretationen. Sie ignorierten das zentrale Paradigma – die Kritik des ›Neoliberalismus‹ – in ihrem Text, also den tiefen Kontext der »materialist emphasis« und somit die Solidarität, »›the common context of struggle‹« (Mohanty 2013: 977).
99 Das Nachlassen der Sichtbarkeit der westeuropäischen Frauenbewegung im Vergleich mit den 1970er Jahren ist nicht gleichzusetzen mit dem Nachlassen der Wirksamkeit der Feminismen und müsste genauer diskutiert werden. Ein Teil der Forderungen wurde in der EU-Gesetzgebung festgeschrieben, ein Teil ist institutionelle Praxis in den (west)europäischen Ländern geworden. Vollständige Gleichstellung der Geschlechter bleibt nach wie vor aus.
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3.1
Konzeptionelle Kontroversen: Materielle und kulturelle Diskriminierungsursprünge
Auch die aktuellen Debatten innerhalb des linken politischen Spektrums sind von Versuchen geleitet, die Einheit auf der Grundlage der ›materialistischen‹ Analyseperspektive wiederherzustellen. Im Folgenden gehe ich auf diese Forderung und eine damit einhergehende Kontroverse ein. Judith Butler wirft den linken Politiken vor, sich von dem genuinen materialistischen, marxistischen Projekt entfernt zu haben, »failing to address questions of economic equity and redistribution, and failing as well to situate culture in terms of a systematic understanding of social and economic modes of production« (Butler 1997: 265). Exemplarisch übt Butler Kritik an Nancy Frasers Analyse der Ursachen von Diskriminierungsformen gegen Menschen, die die duale Gendernorm und die heteronormative sexuelle Orientierungen zurückweisen. Sie wendet sich gegen Frasers Verortung dieser Unterdrückungsmotive in der Sphäre der Kultur, denn sie blende den ökonomischen Ursprung der sozialen Benachteiligung aus. Diese »Verschiebung« von der Sphäre der Ökonomie hin zum Bereich der Kultur sieht sie im Kontext einer neuen Tendenz innerhalb der Linken, die Kultur von der Ökonomie zu trennen und der Kultur eine sekundäre Rolle zuzuschreiben. Butler geht von der Einheitlichkeit der Realität aus. Dabei sei die Ökonomie ursächlich für alle Unterdrückungsformen. Sexualität »must be understood as part of that mode of production« (Butler 1997: 273). Butler erinnert an die Kämpfe der Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren, die anstrebten, »the sphere of sexual reproduction as part of the material conditions of life, a proper and constitutive feature of political economy« zu sehen (Butler 1997: 272). Die analytische Trennung, die Fraser in »Justice Interruptus: Critical Reflections on the ›Postsocialist‹ Condition« (1997) vornimmt, kritisiert Butler als nicht genug durchdacht im Hinblick auf die Widersprüche. Denn Fraser identifiziere einerseits Gender als Grundprinzip der Strukturierung der politischen Ökonomie, frage aber nicht zugleich, wie »political economy is circumscribed by sexual regulation« (Butler 1997: 273). Butler argumentiert, dass die Kämpfe für Anerkennung nicht-heteronormativer Formen der Sexualität nicht verstanden werden können, ohne dass die Verbindung der Heteronormativität zur materiellen Reproduktion der Sachen und Menschen berücksichtigt wird. Marx’ Materialismus gilt Butler als Ausgangspunkt der Kritik. Sie verweist darüber hinaus auf Engels, der in »The Origin of the Family, Private Property, and the State« 1884100 von einem
100 Original: Friedrich Engels (1884): »Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats«.
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materialistischen Standpunkt aus diese beiden Reproduktionsformen als historische Determinanten nennt (Butler 1997: 271). Neben der für die Arbeitsteilung in der Sphäre der Produktion entscheidenden Rolle der heterosexuellen Norm können laut Butler auch materielle Unterdrückungsformen der nicht-heteronormativen Sexualität in der Reproduktionssphäre nachgewiesen werden. Als Beispiel dient Butler die mangelnde formale Anerkennung der Partnerschaft nicht-heteronormativer Partner*innen in Steuer- und Eigentumsgesetzen, die grundsätzlich auf die heteronormative Familienform (»holy family«) ausgerichtet sind (Butler 1997: 273). Dies werde insbesondere beim Tod der mit HIV oder AIDS lebenden Partner*innen relevant oder betreffe etwa die finanzielle Belastung der mit HIV oder AIDS lebenden Menschen durch das auf Profit ausgerichtete Gesundheitssystem. Butler zufolge manifestieren sich hier klassenähnliche Verhältnisse. Butlers Argumentation folgt Marx’ These von der primären Bedeutung der materiellen Verhältnisse für alle anderen Dimensionen der sozialen Realität, auch wenn sich Butler auf die Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen der »Basis« und dem »Überbau« bei Althusser bezieht (Butler 1997: 268). Die kausale Richtung der Konstrukte – die Abhängigkeit aller Diskriminierungsformen von der Ökonomie – vermag bei Butler ebenso wenig zu überzeugen wie bei Marx. Marx verstand unter materiellen Verhältnissen weit mehr als Ökonomie oder Materie, eher die durch menschliches Handeln geschaffenen Verhältnisse (deren Produkt Menschen letztendlich sind) (vgl. Bayertz 2018: 127). Bayertz dazu: »So ›materiell‹ bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse auch sein mögen, sie sind nicht Natur, sondern Kultur« (Bayertz 2018: 128). Bayertz weist auf den Widerspruch in Marx’ funktionaler Bestimmung des kausalen Verhältnisses der Basis zum Überbau hin. Er macht deutlich, dass Marx hätte zugeben müssen, dass »›Eigentum‹ als eine soziale Institution zu definieren ist, die durch Staat, Recht, Ideologie garantiert wird« (Bayertz 2018: 160); er hätte also ebenso eine Bestimmung der Basis durch den Überbau, also eine Verzahnung der beiden Konstrukte theoretisieren müssen. Dadurch wäre ihm allerdings die Basis-Überbau-Metapher »durcheinander geraten« (Bayertz 2018: 160). In der Folge wäre aber – so meine These – auch die scharfe Profilierung des Materialismus als Gegensatz des Idealismus verloren gegangen. Es stimmt, dass für ein reibungsloses Funktionieren des Kapitalismus die (heteronormative) Familie mit ihrer arbeitsteiligen Struktur für die menschliche Reproduktion wichtig war und ist. Nicht bestritten werden kann allerdings die Dynamik des kapitalistischen Systems hinsichtlich der Anpassung an die von ihm selbst produzierten Verhältnisse. So könnte bezweifelt werden, dass für den heutigen Kapitalismus Familie bedeutender ist als ein durch die Familie und Kinder nicht ›belastetes‹, grenzenlos einsatzfähiges Individuum. Und genau diese Formation ist selbst ein Effekt der fortgeschrittenen kapitalistischen
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Verhältnisse. Industriekapitalismus benötigte – ein weiterer Punkt, der bei Butler unberücksichtigt bleibt – für die Produktionsarbeit männliche und weibliche Individuen, konnte jedoch auf das kulturelle Muster sozialer Schlechterstellung der Frauen zurückgreifen, um den Lohn zu ihren Ungunsten zu differenzieren. Ebenso gelingt es heute, insbesondere in den westeuropäischen Ländern101 den gender pay gap aufrechtzuerhalten, ungeachtet dessen, ob Frauen in Familien, Partnerschaften oder als Singles leben. Darüber hinaus wäre es prinzipiell dem Kapital gleich, welcher Nationalität die eingesetzten Arbeitskräfte angehören;102 bei einer globalen ›Überbevölkerung‹ droht eher kein grundsätzlicher Mangel an Arbeitskräften. Allerdings verhindert der Nationalismus der Nationalstaaten eine Intensivierung der Arbeitsmigration. Die menschliche Reproduktion ist für die Sicherstellung der Produktivkräfte der Arbeit von Bedeutung, Rationalisierungsprozesse reduzieren jedoch stets diesen Bedarf. Andere, nicht auf dem Eigentum an Produktionsmitteln basierende Wirtschaftsformen benötigen ebenso ›menschliche Reproduktion‹. In präkapitalistischen bäuerlichen Produktionsformen war eine große Anzahl von Kindern in den Familien für die Bewältigung der landwirtschaftlichen Arbeit ein zentrales existentielles Erfordernis. Butler verwendet einen Materialismusbegriff, der sich zum einen auf die (kapitalistische) ökonomische Produktion und Distribution bezieht, zum anderen auf die Körperlichkeit (u.a. die physischen und psychischen Leiden der Individuen) sowie die materiellen Lebensbedingungen. Die von ihr genannten Diskriminierungsformen im Bereich der Distribution von Ressourcen haben in Marx’ Konzept ihren Ursprung in der als Überbau bezeichneten Sphäre, der die rechtlichen Regulierungen und Gesetze, die Politik und der Staat zugerechnet werden. Wenn Butler diese als von der Sphäre der Produktionsverhältnisse abhängige Größen konzi-
101 Die formale Gleichstellung der Frauen, die am gender pay gap und an der Vollbeschäftigung von Frauen und Männern etc. abgelesen werden kann, ist in den osteuropäischen Ländern wesentlich weiter fortgeschritten (vgl. Eurostat Database: https:// ec.europa.eu/eurostat/data/database) (Zugriff am 22.3.2019). 102 So forderte beispielsweise die FDP (Freie Demokratische Partei) in Deutschland als die liberalste und zum Teil marktdogmatisch ausgerichtete Partei einen erleichterten Zugang von ausländischen Arbeitnehmer*innen zum Arbeitsmarkt in Deutschland, was eingeschränkt realisiert wurde. Diese Forderungen standen im Kontext der nationalen wirtschaftlichen Interessen, allerdings stießen sie auf Vorbehalte bei der national-konservativ orientierten CDU/CSU (Christlich-Demokratische und ChristlichSoziale Union) oder gar der AfD (Alternative für Deutschland); für die zuletzt genannten Parteien steht ein kulturell homogenes und stereotypes Konzept der Nation im Vordergrund.
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piert, folgt sie Marx’ Kausalitätsschema und geht nicht von einer Einheit der Sphären der Kultur und Ökonomie (die sie postuliert 103), sondern entweder von einer kausalen Bedingtheit (der zweiten durch die erste) oder von einem ökonomischen Holismus aus. Letzterer bedeutet, dass alle Verhältnisse schließlich materielle (oder ökonomische) Verhältnisse sind. Da Butler zwischen materiell und ökonomisch nicht scharf unterscheidet und die psychischen Phänomene einschließt, kann gefragt werden, was hier eigentlich erklärt wird. Dass die Leiden der Menschen insofern materiell sind, als sie real existieren, ist nicht weniger ›wahr‹, als dass die kulturellen Phänomene für die Menschen real existieren, ihr Handeln beeinflussen und äußerst gewaltvoll sein können. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel macht die Menschen nicht auf ›natürliche‹ Weise für ihre diversen Lebensformen offener. Für analytische Zwecke sowie für die Konzipierung wirksamer Strategien bietet die Berücksichtigung kultureller Phänomene (in ihrer Intersektionalität), zu denen die neuen sozialen Bewegungen104 ebenso wie Medienund wissenschaftliche Diskurse, Bildung, Kunst und Religion – z.B. die entschiedene Position der katholischen Kirche gegen LGTB+ 105 – gehören, einen effektiven Zugang. Der holistische ökonomische Ansatz ›verschenkt‹ unbegründet diese theoretische Perspektive106 und produziert eine Verengung der Komplexität sozialer Verhältnisse. So verbindet z.B. Gloria Anzaldúa zu Recht die Analyse von politisch-ökonomischen Kontexten mit dem Kulturbegriff, »jenem, der kollektive Identitäten, meist als ethnische Zugehörigkeiten begriffen, meint und jenem, der auf allge-
103 Butler verweist auf die Forschung, die nachgewiesen hat, dass die konzeptionelle Trennung der kulturellen Sphäre von der ökonomischen ein Effekt der kapitalistischen Produktionsweise sei (Butler 1997: 274). 104 Die neuen sozialen Bewegungen sind der Ausgangspunkt von Butlers Argumentation. 105 Interessante Initiativen entstehen in den Kommunen großer Städte wie z.B. die von dem Präsidenten der Stadt Warschau Rafal Trzaskowski unterzeichnete »Deklaration Warschauer Kommunalpolitik zur Unterstützung der community LGBT+« (Deklaracja, Warszawska Polityka Miejska na Rzecz Spolecznosci LGBT+), die dreizehn konkrete Erziehungs-, Sicherheits-, Monitoring-, Schutz-, Arbeitsmarkt- und kulturelle Maßnahmen enthält, um eine Gleichstellungs- und Gleichbehandlungspolitik und kulturelle Offenheit zu erreichen sowie ›hate crime‹ und ›hate speech‹ zu bekämpfen (vgl. Gazeta Wyborcza, 16./17.3.2019, S. 17). 106 Problemlos könnte angenommen werden, dass alle Verhältnisse kulturell bedingt sind, einschließlich des Eigentums an Produktionsmitteln, der Ausbeutung, der Profitmaximierung etc.
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meine, individuell wie kollektiv reproduzierte Deutungsmuster und Interpretationsweisen abzielt« (Kastner 2016: 284). Als lesbische Chicana beschreibt Anzaldúa ihre individuellen Kämpfe gegen die Gewalt der dominanten Paradigmen in ihrer indigenen Herkunftskultur (in der Frauen wie sie sich mit großer Anstrengung ›agency‹ für die Distanzierung und Befreiung erkämpfen müssen), in der Gesellschaft in Mexiko und in der akademischen Welt des New England College (USA) (vgl. 36ff.). »For the lesbian of color, the ultimate rebellion she can make against her native culture is through her sexual behavior. She goes against two moral prohibitions: sexuality and homosexuality. Being lesbian and raised Catholic, indoctrinated as straight, I made the choice to be queer (for some it is genetically inherent). It’s an interesting path, one that continually slips in and out of the white, the Catholic, the Mexican, the indigenous, the instincts. … My Chicana identity is grounded in the Indian woman’s history of resistance« (Anzaldúa 2007: 41ff.).
Anzaldúa bezieht ihre persönlichen Erfahrungen in die Wissenschaft ein und transformiert die Wissenschaft in die Praxis. Die Erkenntnis der bedeutenden Funktion einer kollektiven Solidarisierung unter den Bedingungen ausgrenzenden Normativität, denen in den US-amerikanischen Universitäten Geschlechtsidentitäten und sexuelle Praktiken ausgesetzt sind, bildet ihren Ausgangspunkt. Die emanzipatorische Intervention manifestiert sich z.B. in der Bereitstellung von Räumen der Solidarität (vgl. Anzaldúa 2007: 41f.). 3.2
Diversity und Feminismen
Aus der Sicht Diversity-skeptischer Positionen in der kritischen Wissenschaft wird Diversity-Praxis derzeit eher zurückgewiesen, ohne dass diese Praxis mit komplexer, kritischer Theorie verzahnt wäre. Wie einige andere feministische Theoretikerinnen sieht Chandra Talpade Mohanty in den offiziösen Diversity-Diskursen der Universitäten eine Abwendung von den Realitäten der »gender and racial injustice« und eine Schwächung der »sustainability of radical feminist and critical race projects in the academy« (Mohanty 2013: 974). Diese würden durch Politiken »of marketing one’s identity« ersetzt und neutralisiert (Mohanty 2013: 974; vgl. auch Thornton 2003; Castro Varela 2010; Gutiérrez Rodríguez 2011; Ahmed 2007). Der Kritik an Diversity als einem, vereinfachend gesagt, die Marktdogmatik bedienenden Konzept wie auch der Kritik an einer gewissen Entpolitisierung des Feminismus kann sicherlich zugestimmt werden, da sich aktuell Diversity im
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Hochschulkontext in vieler Hinsicht als eine Politik der Vielfalt und Differenz gibt (vgl. z.B. Ahmed 2007; Darowska/Salas-Poblete 2019). Dennoch ist hier eine analytische und begriffliche Differenzierung notwendig. Im Folgenden gehe ich auf drei Punkte ein. Erstens war der ›westliche‹ Feminismus vor der Einbeziehung der Kritik weißer Dominanz und vor der Konzeptualisierung der Intersektionalität innerhalb der feministischen Theorie alles andere als ein »critical race project« (Mohanty 2013: 974) und setzte sich in den westlichen Universitäten überwiegend auf der Grundlage eines homogenisierten ›Frau‹-Begriffs mit männlicher Dominanz auseinander (vgl. Lenz 2004). Mohantys Aufsatz »Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses« (1984) war ein Meilenstein für die Einsicht in die Uneinheitlichkeit der Unterdrückungsformen. Zweitens kann, wie dieser Beitrag zeigt, die »materialist emphasis« (Mohanty 2013: 977), verstanden als Theorie des ökonomischen Ursprungs aller Diskriminierungspraktiken, nicht als einheitliches Paradigma betrachtet werden. Drittens ist es ebenso wichtig, die Verknüpfung der Wissenschaft mit der Praxis der Hochschulen stärker zu fokussieren. Wissenschaftler*innen sind in westlichen Akademien, im Unterschied zu vielen Universitäten in diktatorischen Systemen, ›frei‹ in ihrer Forschung, und es liegt an ihnen, eine emanzipatorische, an Gerechtigkeit orientierte Diversity-Perspektive in die Praxis zu transferieren, ökonomisch-politische Verhältnisse, ihre ausgrenzenden Logiken sowie kulturelle Formen der Gewalt theoretisch zu erfassen und praktisch-strategisch anzugehen. Praktiker*innen sind, wie Sara Ahmed (2007) in ihrer empirischen Untersuchung veranschaulicht, an die institutionelle Hierarchie gebunden. Diese setzt ihren Bemühungen um eine an ›equality‹ orientierte Diversity enge Grenzen, zumal gegenwärtige Hochschulkonzepte in der Tat in mehrerer Hinsicht marktdogmatisch ausgerichtet sind. Wissenschaftler*innen können in eigenen Communities über diese Praxis schreiben, sie können aber auch sich in die Praxis einmischen und die Konzepte mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse mitgestalten. Wünschenswert wären nicht nur starke Positionierungen, die sich in radikaler, zuweilen die Komplexität reduzierender Kritik am Kapitalismus üben, sondern auch solche, die Projekte entwerfen, die diese ökonomische, soziale und kulturelle Ordnung unter den Aspekten von Gerechtigkeit, Egalität und Anerkennung transformieren. Sowohl Diversity als auch Intersektionalität werden in unterschiedlichen Kontexten angewandt. Die konzeptuellen Grundlagen gingen aus der Kritik der Schwarzen Feministinnen der Bürger*innenrechtsbewegung, People und Frauen of Color, deutschen Schwarzen Feministinnen hervor, die die Überkreuzung von gesellschaftlichen und globalen Ausschlusspraktiken entlang der Konstrukte
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›race‹, ›sex‹, ›class‹ in die feministischen Debatten einführten (vgl. Eggers et al. 2009; Piesche 2012; Gutiérrez Rodríguez 2011). Diversity wird aber auch von den mit Management befassten Akteur*innen der Hochschulen,107 die sich im Wettbewerb sehen, angewandt. Ob und wie die begriffliche Verankerung in historischen und aktuellen, einerseits auf exkludierende Differenzlinien, andererseits auf Menschenrechte fokussierenden Diversity-Diskursen stattfindet, korreliert mit Mehrheitsverhältnissen, Personalpolitiken und Wissensproduktion. Der Begriff ›Identitätspolitik‹ (siehe auch Mohanty 2013, 2003, oben), der in diesem Kontext kritisch diskutiert wird, kann für minorisierte Gruppen von großer Bedeutung sein, ist jedoch als Begriff im Kontext von Repräsentationspolitiken unzureichend, da er den zweiten Teil des Anliegens nicht erfasst. Identitätsmerkmale, die Anlass zur Diskriminierung bieten, werden berücksichtigt, um Gerechtigkeitspolitiken, und zwar sowohl Anerkennungs- als auch Ressourcengerechtigkeit durchzusetzen. Abbau von Barrieren für alle minorisierten, intersektionell von Privilegien und Ressourcen ganz oder teilweise ausgeschlossenen Subjekte zu realisieren, ist das Anliegen von Diversity. 3.3
Institutionelle Architekturen
Die sozialen emanzipatorischen Bewegungen, die zum Teil wie die Studenten*innenbewegung der 1970er Jahre von den Universitäten ausgingen, haben die Hochschulen weitgehend geöffnet und demokratisiert. Die an der Marktdogmatik orientierte Politik – so eine weitere These dieses Beitrags – verengt diese Räume wieder, ohne sie gänzlich zu schließen. Institutionelle Diversity strebt nach einem Mehr hinsichtlich der Öffnung für Inhalte und Personal sowie hinsichtlich der Demokratisierung. Ihre globale Verankerung könnte in diesem Sinne in einer lokalen und globalen kulturellen Diversifizierung resultieren, indem die institutionellen Praktiken und die Praxis der Wissenschaft sowohl die vielfältigen Modernisierungsprozesse als auch den begründeten Widerstand gegen bestimmte Politiken der ›Modernisierung‹ einbeziehen. Dies beinhaltet auch den Widerstand gegen die von Anzaldúa kritisierten kollektiv reproduzierten Deutungsmuster, von denen, wie in diesem Beitrag gezeigt, auch postkoloniale Kritik und marxistischer Feminismus nicht frei sind.
107 Ebenso müssen die Management-Strategien an den Hochschulen als diverse Praktiken betrachtet werden, die jenseits der institutionellen Regime von einzelnen bildungsbiografisch entwickelten und erfahrungsbasierten Perspektiven der Manager*innen und Praktiker*innen abhängen (dazu auch Sara Ahmed 2007).
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Mit der Verankerung von deliberativer Demokratie im Hochschulkontext wäre die Chance eröffnet, »eine der wichtigsten Richtungen des gegenwärtigen politischen Denkens« (Simova 2015: 183) in der Praxis stark zu machen. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem prozessualen Charakter, d.h. »auf Beratschlagung, Überlegung, Diskussion, Diskurs, Debatte und Erörterung im Vorfeld gemeinsamer Entscheidungen« (Barišić 2015: 13). Deliberative Demokratie würde im Verhältnis zum gegenwärtigen zentralistischen institutionellen Regime an den Universitäten, das die Organe der Selbstverwaltung – Senate und zum Teil auch die Fakultätsräte – schwächt (vgl. Kleimann 2016) und die »Dekanate, Rektorate und Präsidien als Organe der hierarchischen Selbststeuerung«108 stärkt (Kleimann 2016: 22), in gewissem Sinne eine Umkehrung des politischen Trends bedeuten. Der Beschleunigung, Hierarchisierung, Normierung und Perspektivenverengung,109 die sich als Effekt der marktdogmatischen Veränderungen der globalen Märkte (und mit ihnen der national agierenden, in die globalen Konkurrenzkontexte eingebetteten Hochschulen) vollzogen hat, steht somit ein anderes Konzept gegenüber (vgl. auch Darowska/Salas-Poblete 2019). Dieses Konzept müsste allerdings mit globaler, sozialer Gerechtigkeit als Zielsetzung verknüpft werden und als solches Dekolonialisierung und kritische Auseinandersetzung mit der Epistemologie fordern, insbesondere bezüglich der gravierenden Unterbelichtung oder Ausblendung der kolonialen Vergangenheit, der globalen Chancenungleichheit und der globalen sozialen und genderbezogenen Ungerechtigkeit sowie bezüglich der theoretischen Instrumente zu deren Analyse. Demokratisierung der Bildungsinstitutionen im tertiären Bereich verspricht, allerdings nur bedingt, weniger Wissensselektion. Welches der Konzepte – Hierarchisierung versus Demokratisierung – als modern bezeichnet werden kann, ist eine Frage der Perspektivität, die sich im Kontext des Diskurses um ›decolonisation of modernity‹ (u.a. Mignolo 2011; Brunner 2016) in besonderer Schärfe stellt.
F AZIT Wenn die Theorie der Erkenntnis die Voraussetzungen von Wissensbeständen und Wissensproduktion untersucht, dann ist ihr Thema auch die Wissensproduktion an
108 Auch New Public Management genannt. 109 Im Fokus dieser Perspektivenverengung liegen ökonomischer Status und nationale Zugehörigkeit sowie eine ethnische, bildungs- und behinderungsbezogene strukturelle Schließung.
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deutschen Universitäten. Welches Wissen, das in andere Bereiche der Hochschulen, in Medien, Bildungssysteme und gesellschaftliche Diskurse diffundiert, gegenwärtig erzeugt wird und welche Annahmen seiner Generierung zugrunde liegen, ist die übergeordnete Frage. Für eine Diversity-Strategie, die Ausschlüsse in ihren historischen Kontinuitäten identifiziert, um eine in jeder Hinsicht nicht-diskriminierende und an Gerechtigkeit orientierte Politik zu realisieren, stellt sich die Relevanz des Wissens, auf das sie dabei zurückgreift, als zentral dar. Im Beitrag ging es um Dekolonialisierung des Wissens, womit eine kritische Befragung der etablierten Wissensbestände und der ›westlichen‹ erkenntnistheoretischen Denktraditionen in drei thematischen Bereichen unternommen wurde. Die Ausführungen zeigen, dass diese Denktraditionen zum Teil einseitiges Wissen produzieren. Die global drastisch ungleichen, an Marktdogmatik ausgerichteten Zustände werden in der Wirtschaftswissenschaft (zum Teil auch den Sozialwissenschaften) (Hartmann 2016; Ziai 2016; Lessenich, 2016) und in den Hochschulpolicies eher selten hinterfragt und auf Kontinuitäten kolonialer Machtasymmetrien untersucht. Die postkoloniale Wissenschaft, die dies tut und dazu auffordert, steht wiederum in der Kontinuität marxistischer Forschungsperspektiven, womit sie sich dem Verdacht aussetzt, eine zum Teil fehlerhafte und gewaltförmige Theorie undifferenziert als Analyse- und Zukunftsperspektive anzuwenden und andere (nicht-westliche) Kolonialismen, die aus ihr hervorgingen, zu ignorieren. Dekolonialisierung des Wissens bedeutet in diesem Kontext kritische Auseinandersetzung mit dieser Wissensproduktion und ihren Grundlagen in Hinblick auf das globale Verhältnis Nord-Süd und West-Ost sowie eine institutionelle Praxis, die auf diese Wissensformationen zurückgreift. Sowohl das epistemische Schweigen über die globalen Zustände (und somit deren Neutralisierung als ›naturhaft‹ ökonomisch und nichtpolitisch) als auch Bezüge zu totalitären politischen Theorieelementen wurden im Beitrag kritisch hinterfragt. Zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Forschung zu Diversity und zu ihrem Theorie-Praxis-Verhältnis gehört der Blick auf die Differenzlinien, auf die die diskriminierenden Praktiken Bezug nehmen. In der Diversity-Praxis an den Hochschulen in Deutschland erhielt aufgrund der historischen Entwicklung die Differenzlinie ›Gender‹ im binären Geschlechterverständnis eine besondere Aufmerksamkeit. Allerdings ist Gender-politics, die sich nicht in ihren ausdifferenzierten Formen versteht, eine diskriminierende und homogenisierende Zuschreibung. In dem Sinne ist Diversity den Feminismen und der Gender-Thematik inhärent, oder Feminismen in ihren Dynamiken sind Bestandteile von Diversity, zu der ebenso Geschlechtervielfalt gehört. Die Thematisierung rassistischer Diskriminierung in Hochschulpolicies, die im Kontext der
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hier skizzierten Leerstellen der Wissensproduktion gesehen werden kann, steht gegenwärtig noch in den Anfängen.110 Die exemplarisch dargelegten, Diversity im Kern berührenden diskursiven Un-Thematisierungen und ihre epistemischen Perspektiven können in den Kontext des in der westlichen Wissenschaftstradition seit mehreren Jahrzehnten diskutierten Problems der Objektivität der Wissenschaft gestellt werden. »We cannot prove theories and we cannot disprove them either« (Lakatos 1970: 100); dass Wissenschaft ›situated knowledge‹ produziert (Harraway 1995, vgl. auch Clarke 2011, Kuhn 1970: 11), wurde ebenfalls bereits überzeugend dargelegt. Das mit der Aufklärung (vgl. Kant 1974, 1999; vgl. auch Darowska 2012) in die Funktionsweise der Vernunft gelegte Vertrauen kann aus der heutigen Perspektive als naiv und illusorisch, gewissermaßen als widerlegt betrachtet werden. Es ist Thomas Kuhn (1970, vgl. auch 1969) zuzustimmen, wenn er psychologisch argumentiert und davon spricht, dass sich mit der wechselnden Vorherrschaft wissenschaftlicher Communities auch Normen und Paradigmen, d.h. Zugänge zu wissenschaftlicher Erkenntnis wandeln (vgl. auch Lakatos 1970). Allerdings ist damit die Frage nach einem Modus der Produktion wissenschaftlichen Wissens, der nicht nur (vorhandene) Erkenntnisse stets reproduziert und nicht zugleich die theoretische Basis für neue Gewaltformen schafft, nicht beantwortet. Das von Imre Lakatos (1970) herausgehobene (logische) Denken111 stellt ein zentrales Instrument der über die ›westliche‹ Tradition hinausgehenden Wissensproduktion dar. Das Problem der ›Objektivität‹ liegt jedoch genau in den von Lakatos und Kuhn thematisierten vorbestimmten Regeln der Communities und ihren unterschiedlichen Perspektiven. Das logische Denken kann im Wesentlichen innerhalb eines Paradigmas Inkonsistenzen kritisch hinterfragen. Es stößt an Grenzen, insoweit ihm ein Wissen, das im Rahmen anderer Paradigmen, an anderen Orten, basierend auf einem anderen kulturellen Vorwissen erzeugt worden ist, ›unzugänglich‹ bleibt. Das stets partielle Wissen ist, wie im Beitrag gezeigt, in traditionelle globale rassistische und diskriminierende Strukturen und politische Machtverhältnisse eingebettet und kann sich selbst nur schwer überprüfen. Es braucht Kommunikation mit anderen Wissensbeständen und Paradigmen, außerhalb seiner selbst, insbesondere da, wo die Wissensproduktion ihren Ausgangspunkt in kollektiven Erfahrungen nimmt. Die Forderung dieses Beitrags ist daher die einer epistemologischen Öffnung, einer Stärkung der epistemologischen Basis einer an globaler 110 Siehe dazu den Beitrag von Nathalie Schlenzka und Rainer Stocker in diesem Band. 111 Ob zwecks Abgrenzung von ›kritischer Reflexivität‹ oder ›logischem Denken‹ die Rede ist, ändert nichts an der Tatsache, dass es um den Einsatz der Vernunft bzw. des Denkens geht, das anstrebt, konsistente Aussagen zu schaffen bzw. Aussagen auf Konsistenz zu überprüfen.
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Gerechtigkeit orientierten Diversity, einer Flexibilisierung der Grenzziehungen zwischen den paradigmatisch konsolidierten wissenschaftlichen Communities. Nicht Marx’ Theorie – hier ein weiteres Fazit – ist die Lösung für das Problem der globalen neokolonialen Verhältnisse, sondern eine kritische, die Grenzen von Communities überschreitende kollektive Auseinandersetzung mit der wachsenden Macht der transnationalen Konzerne und derjenigen politischen Institutionen, die für sie gleichsam die Weichen stellen. Grundsätzlich bieten Demokratien Instrumente, die für eine Transformation der globalen sozialen Verhältnisse in gerechtere Strukturen eingesetzt werden können (vgl. auch Dörre 2019: 33). Die repräsentative Form basiert auf hierarchischen, autoritären Modellen der (Eigen-)Interessenvertretung und suggeriert eine Entlastung von der Verantwortung für ›andere‹. Die Veränderung bedarf deshalb einer breiten ethisch-politischen Solidarisierung, um entsprechenden politischen kollektiven Druck zu erzeugen. Die Berücksichtigung der Entwicklungen in den osteuropäischen ›sozialistischen‹ Diktaturen zeigt, dass es erstens eines globalen, relationalen, vielschichtigen, dynamischen (zeitlich veränderbaren), aus Privilegierung und Unterprivilegierung zusammengesetzten ›Klassenbegriffs‹ bedarf. Zweitens verschiebt sie den Fokus von der in der Abschaffung des Eigentums an Produktionsmitteln verorteten Zielsetzung in eine Richtung, die an der Frage orientiert ist, wieso Privilegierung – ökonomische, status-, bildungsbedingte, machtbasierte, normkonforme etc., die oftmals mit Unterprivilegierung in anderen Dimensionen einhergeht – die politisch wirksame Solidarisierung mit Unterprivilegierung (der Menschen und der Natur) verhindert. Grundsätzlich bedarf es umfassender Forschung zu Bedingungen gerechterer Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsformen und wirksamer politischer Teilhabe von unterprivilegierten ›Klassen‹ und ›Gruppen‹. Walter Mignolo (2011) hat die Notwendigkeit erläutert, das Wissen und seine Produktion zu dezentralisieren und von der westlichen Moderne zu »de-linken«. Dieser hier vorgelegte Beitrag plädiert für eine solche Dezentralisierung in Vernetzung sowie für eine kritische Auseinandersetzung mit den ›westlichen‹ Denktraditionen, und zwar in Prozessen des Austausches über die Gewissheiten der wissenschaftlichen Zirkel und über die Grenzen der Weltregionen hinaus. Communities ent-grenzende Dezentralisierung in Form von Deliberationen in der Wissenschaft, Hochschule und globalen Welt als Prozessen gemeinsamer Analyse und Suche nach Wegen zu besserer Bildung und gerechterer Welt, aber auch »epistemic disobedience«, die im Gedanken der Dezentralisierung vorausgesetzt ist, bilden hier den Horizont für Diversity-Design. Bessere Bildung bedeutet nicht Relativierung, sondern Herausbildung kritischer Perspektiven auf globale Realitäten, die deren Komplexität nicht unterschätzen und nicht eindämmen. Die Hochschulen tragen maßgeblich zur Gestaltung der globalen Ordnung bei und sind somit
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herausgefordert, ihre policies an Menschenrechten auszurichten. Die Orientierung an Menschenrechten und globaler sozialer Gerechtigkeit müsste das Kernprinzip der Internationalisierung sein. Hierzu ist weitere Forschung erstens zu Mechanismen und Voraussetzungen der Wissensproduktion, zweitens zu historisch basierter theoretischer Konzipierung von globaler sozialer Gerechtigkeit, drittens zur Implementierung von Gerechtigkeit an Hochschulen im Kontext der Wissensproduktion und viertens zur Demokratisierung von Bildungsinstitutionen (siehe dazu auch den Beitrag von Ayla Satilmis in diesem Band) notwendig. Demokratisierung der Bildungsinstitutionen im Sinne der deliberativen Demokratie, die gerechtigkeitsorientiert ist, ist eine Chance, die hier diskutierten unsichtbaren Wissensbestandteile für die institutionelle Praxis relevanter zu machen.
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Autor*innen
Darowska, Lucyna Dr. rer. soc., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik und Mitglied des Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, insbesondere im Kontext kritischer Analysen von globaler sozialer Gerechtigkeit, Transkulturalität, Diversity, Gender und biografisch-analytische Perspektiven auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Kontakt: [email protected] Ehret, Rebekka Dr., Dozentin und Projektverantwortliche in der Forschung am Institut Soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern, Departement Soziale Arbeit. Die promovierte Ethnologin und Sprachwissenschaftlerin arbeitete vor ihrer Anstellung in Luzern an der Universität Basel mit Forschungsschwerpunkt Kreolisierung (Sierra Leone) und Migration (Europa). Ihre Arbeitsgebiete umfassen die Themen Migration, transkulturelle Kommunikation und Konfliktbearbeitung, Diversity und Intersektionalität, Gender. Sie ist Vorstandsmitglied DTPPP e.V. Kontakt: [email protected] Ghaderi, Cinur Prof. Dr., lehrt Psychologie im Fachbereich Soziale Arbeit an der Ev. Hochschule Bochum RWL. Prorektorin für Forschung, Transfer und Internationales. Als promovierte Soziologin und psychologische Psychotherapeutin war sie zuvor im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge in Düsseldorf tätig. Vorstand DTPPP e.V. Arbeitsschwerpunkte: Psychosoziale Arbeit mit Geflüchteten, Psychotraumatologie, Transkulturelle Psychotherapie, Internationale Soziale Arbeit (Fokus Kurdistan Region Irak), (politische) Identität, Gender, Diversity. Kontakt: [email protected]
380 | Diversity an der Universität
Hertlein, Andrea Dipl.-Ing. und Dipl.-Päd., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik und Mitglied des Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Kontakt: [email protected] Hornstein, René_ Rain Dipl.-Psych., promoviert an der Technischen Universität Braunschweig in Kooperation mit der Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin. Hornstein forscht und lehrt an der Schnittstelle zwischen Psychologie und Trans Studies, z.B. zu Trans*verbündetenschaft, internalisierter Trans*feindlichkeit, Trans*community-Empowerment und LSBTIQ-inklusiver Therapie und Beratung. Hornstein engagiert sich für trans*-inter*-nicht-binär-inklusive Hochschulen und wünscht sich keine binären Pronomen. Kontakt: [email protected] Kaufmann, Margrit E. Dr. phil., Ethnologie und Kulturwissenschaft, arbeitet als Bremen Senior Researcher am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft im Fachbereich 9 der Universität Bremen. Als Wissenschaftliche Expertin für Diversity, Intersektionalität und Forschendes Lernen berät und begleitet sie die Diversity-Prozesse an der Universität Bremen und darüber hinaus. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Intersectional Critical Diversity Studies, Gender und Postcolonial Studies, Migrations-, Organisationskultur- und Hochschulforschungen. Kontakt: [email protected] Leiprecht, Rudolf Dr., Dipl.-Päd., Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Diversity Education am Institut für Pädagogik und Mitglied des Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Dort Leiter der Arbeitsstelle Rassismus, Fundamentalismus, Gewalt: Analyse, Prävention, Forschung und Beratung für pädagogische Arbeitsfelder (ARFG). Kontakt: [email protected] Richter, Caroline Dr., arbeitet als Postdoc am Institut Arbeit & Qualifikation der Universität Duisburg-Essen und an der Professur für Qualitative Methoden der Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Sie habilitiert zum Thema »Digitalisierung im Feld Sozialer Leistungen aus Perspektiven von Arbeit und Organisation«. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen u.a. auf Diversität, Diversity und Teilhabe im Zusammenhang mit dem Merkmal Behinderung. Kontakt: [email protected] Satilmis, Ayla, Diplom-Politikwissenschaftlerin mit Lehr- und Forschungserfahrungen an den Universitäten Marburg (1999-2005) und Bremen (seit 2006). Als
Autor*innen
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Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin seit 2011 verantwortlich für das fächerübergreifende Programm „e n t e r s c i e n c e“ (Fokus auf Verbesserung der Partizipationschancen von strukturell benachteiligten Studierenden). Arbeitsund Interessensschwerpunkte: Soziale Ungleichheitsforschung, Diskriminierung im Hochschulkontext, Heterogenität in Bildungs- und Arbeitsprozessen, Hochschulöffnung, Diversitätssensible Lehr-Lern-Konzepte. Kontakt: [email protected] Schlenzka, Nathalie, Referentin im Referat »Forschung und Grundsatzangelegenheiten«, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Tätigkeitsschwerpunkte u.a. Diskriminierungsforschung im Bereich Arbeitsleben und Bildungsbereich. Kontakt: [email protected] Stern, Alex, wiss. Mitarbeiter an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG3 Epidemiologie & International Public Health an der Universität Bielefeld. Seine Themenschwerpunkte sind Diversität in der Gesundheitsversorgung, gesundheitsbezogene Marginalisierung und der Umgang mit Gewalterfahrungen. Mit der Offenheit von Bildungsangeboten gegenüber trans* Personen befasst er sich seit seinem eigenen Studium. Kontakt: [email protected]. Stocker, Rainer, Referent im Referat »Forschung und Grundsatzangelegenheiten«, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Tätigkeitsschwerpunkte u.a. Erhebung von Antidiskriminierungdaten und Gleichstellungsdaten. Kontakt: [email protected]
Pädagogik Anselm Böhmer
Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1
Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)
Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0
Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)
Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart., 13 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering
Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven 2017, 304 S., kart., 5 SW-Abbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-3053-8
Markus Deimann
Open Education Auf dem Weg zu einer offenen Hochschulbildung Januar 2019, 260 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4496-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4496-2
Stefan Thomas, Madeleine Sauer, Ingmar Zalewski
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete Ihre Lebenssituationen und Perspektiven in Deutschland 2018, 254 S., kart., 26 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4384-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4384-2
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