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German Pages 362 Year 2019
Juliane Engel, Mareike Gebhardt, Kay Kirchmann (Hg.) Zeitlichkeit und Materialität
Präsenz und implizites Wissen | Band 4
Die Reihe wird herausgegeben von Christoph Ernst und Heike Paul.
Juliane Engel (Dr. phil.) ist akademische Rätin a.Z. und arbeitet am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Mareike Gebhardt (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Kay Kirchmann (Prof. Dr. phil.) ist Lehrstuhlinhaber für Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Juliane Engel, Mareike Gebhardt, Kay Kirchmann (Hg.)
Zeitlichkeit und Materialität Interdisziplinäre Perspektiven auf Theorien und Phänomene der Präsenz
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft
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Inhalt Zeitlichkeit und Materialität. Interdisziplinäre Perspektiven auf Theorien und Phänomene der Präsenz Mareike Gebhardt und Juliane Engel | 9
I. E rscheinungsformen von Z eitlichkeit (De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit. Wahrnehmung – Optimierung – Erzählung Mareike Gebhardt und Kay Kirchmann | 19
Ereignis und Präsenz | 29 Paradoxe Präsenzen. Fest-Zeiten und/im Live-Fernsehen Kay Kirchmann | 29 Die Katastrophe als ›vergangenes Jetzt‹. Mediale Temporalisierungen, Konstruktionen und Konvergenzen in der Ereignis(re)präsentation des Livetickers Anna Zeitler | 51 Zeiten der Angst? Temporale und emotionale Logiken medialer Performativität des Populismus am Beispiel des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes 2016 Laura Vorberg | 72
Aushandlungen von Präsenz | 95 Meine Zeit. Unsere Zeit. Äußere Zeit. Zeitlichkeit und Paarzeit in Nicht-Präsenz-Paarbeziehungen Marie-Kristin Döbler | 95
»Wenn einer eine Reise tut…« Die soziale Praxis der Reise als beispielhafter Kristallisationspunkt der Multimodalität der Grundkonstante Zeit Yasemin Yilmaz | 113 Breaking Bad Versuch über die Veränderung Thomas Khurana | 129 Zeit und Ewigkeit. Eschatologische Konstruktion von Zeitlichkeit Simon Layer | 158
Präsenz und Ritual | 169 Präsenz als Wiederholung Christoph Wulf | 169 Die sakrale Zeit des Hier und Jetzt. Deutung und somatische Herstellung von Gegenwärtigkeit in der rezenten deutschen Yogaszene Laura von Ostrowski | 179
II. P räsenz , R epräsentationen und P räsentifikationen Diskurse der (Nicht-)Präsenz. Artikulationen – Materialitäten – Fremdheiten Juliane Engel | 195
Präsenz und Artikulation | 205 Vermittlung und Anwesenheit: Wo ist der Mensch? Eine medienanthropologische Überlegung Lorenz Engell | 205 Konfiguration und Präsenz. Essayistische Filmästhetik und die Unverfügbarkeit von Erinnerung in Rithy Panhs L’Image manquante Elke Möller | 223
Tales of the Bodiless. Überlegungen zu einem Konzept der Ko-Absenz Isa Wortelkamp | 246 Verwandlung und Rausch. Archaik, Ekstasetechniken und Ritual zwischen Kult und Symbol Hans Ulrich Reck | 262
Präsenz der Dinge | 269 Die Angst bannen. Fotografie und die Materialität des Fetischs am Beispiel von One Hour Photo Nicole Wiedenmann | 269 Das Rätsel der Unmittelbarkeit. Zur Konstitution von Präsenzerfahrungen Aida Bosch | 295
Präsenz des Fremden | 313 Reading Other-wise. Ein Entwurf zum Umgang mit den Präsenzen des Fremden in der Literatur Florian Tatschner | 313 »Remember Wounded Knee«. Strategische Re-Appropriationen stereotyper Repräsentationen Amerikanischer Ureinwohner im politischen Poster Carmen Brosig | 333
Autorinnen und Autoren | 355
Z eitlichkeit und M aterialität. I nterdisziplinäre P erspek tiven auf Theorien und P hänomene der P r äsenz Mareike Gebhardt und Juliane Engel Theorien der Präsenz und des impliziten Wissens legen in ihrem Zusammenspiel soziale und kulturelle Phänomene in ihrer zeitlichen Struktur und materiellen Beschaffenheit bloß: Wie werden zeitliche Ordnungen zu sozialen und kulturellen Mustern oder Materialitäten? Und welche Materialitäten konstituieren soziale und kulturelle Präsenzen? Wie stehen Zeitlichkeit und Materialität also zueinander und was macht sie für die kultur- und sozialwissenschaftliche Empirie wie auch Theoriebildung besonders relevant? Diese Fragen diskutiert der interdisziplinär angelegte Band in zwei Sektionen, die sich mit Erscheinungsformen von Zeitlichkeit und Diskursen der (Nicht-)Präsenz materialitätsbezogen auseinandersetzen. Zeitlichkeit und Präsenz verschränken jeweils »schweigende Dimensionen« (Polanyi 2009 [1966]) sozialer und kultureller Praktiken mit einerseits versprachlichten Formen der Kommunikation, der Diskursivierung, oder auch der Narrativierung sowie andererseits mit materiellen Präsentifizierungen. So müssen beispielsweise Zeit und Präsenz, wollen sie intersubjektiv nachvollzogen werden können, versprachlicht oder vergegenständlicht werden. Allerdings manifestieren sie sich nicht in einem existentiellen Sinne in einem Objekt, einem Zeichen oder in einer Aussage. Vielmehr quasi-konkretisieren sich Zeit und Präsenz in (materialen) Repräsentationen und symbolischen Formen: eine Taschenuhr, ein Ziffernblatt, ein Uhrzeiger, eine Sonnenuhr sind z.B. in einem existentiellen Sinne nicht die Zeit, sondern stellen Zeit dar: fungieren als deren Platzhalter, Stellvertreter*innen und Repräsentationen. Im meist schweigend vollzogenen Übergang von ›objektiver‹ und vom sozialen und kulturellen Geschehen unabhängiger Zeit in wahrgenommene oder dargestellte Zeitlichkeit vollziehen Individuen und Kollektive eine Übersetzungsleistung, die oftmals kultur- und gruppenspezifische Charakteristika aufweist und sich der Universalisierung widersetzt – sei dies die US-amerikanische Messung der Zeit im Zwölf-Stunden-System durch die Unterscheidung zwischen ante meridiem und post meridiem oder die militärische Zeitansage achtzehnhundert. Zeit kann in eben diesem Übersetzungsverhältnis zwischen Implizitem und Expli-
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zitem auch performativ materialisiert und präsentifiziert werden: In Riten, in Tänzen, in der Sequentialität zeitbasierter Medien und Künste. Aus einer anderen Perspektive betrachtet: Auch die Widerständigkeit gegenüber einer Universalisierung – schließlich variiert Zeitempfinden kultur- und gruppenspezifisch – teilen sich performative Muster und materielle Kulturen mit temporalen Strukturen; sie können meist nur durch eine kontextuelle Einbettung einseh-, versteh- und lesbar – kurz: intelligibel – werden. Wobei die Widerständigkeit der Performativität einen doppelten Charakter annehmen kann: Performativität kann sich nicht nur der Universalisierung widersetzen – wie die Zeit/lichkeit –, sie kann diesen Widerstand auch sozial, kulturell und politisch umsetzen und dadurch auf Missstände und Schieflagen aufmerksam machen: Sie präsentifizieren. Wenn eine Gruppe oder eine Person die Erwartungshaltung einer Gesellschaft an eine bestimmte Handlungsform desavouiert und damit die Handlung disloziert und mit der sozialisierten Erwartungshaltung bricht, kann sie kritisch auf die sowohl stummen wie auch unsichtbaren Mechanismen von Marginalisierung und Diskriminierung verweisen und diese aus der Latenz1 in die Präsenz heben – verstanden als Gegenwart, Gegenwärtigkeit und awareness. Wie z.B. die Diskurse und Praktiken der Französischen Revolution gezeigt haben, stellen gerade politische Umbruchsituationen auf jene radikale Form der Vergegenwärtigung ab, die als »absolutes Präsens« (Bohrer 1994) kollektiv erlebbar werden soll. Die Verschränkung von Präsens und Präsenz als zeitliche und räumliche Kategorien, die an materiale bzw. körperliche Repräsentationen gebunden bleiben, finden sich auch in Judith Butlers (2007 [1990]: 21ff.) Schriften zur Konstruktion von Geschlecht; so z.B. in Gender Trouble, wenn sie die Konzepte disruption und deferral entwickelt: Mit ihnen legt sie das politische und soziokulturelle Protest- und Veränderungspotential einer Politik der »performativen Subversion« (Butler 2007 [1990]: 175) frei. Hier sieht man bereits wie die Kategorie des Raumes (disruption) mit der der Zeit (deferral) im Kontext sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung zu Präsenz/Präsens verschränkt wird: Performativität bleibt auf räumliche Darstellung und auf zeitliche Rhythmisierung angewiesen, um politisch bzw. soziokulturell wirksam zu werden. Performativität stellt sich demnach aktiv und über Verkörperungen her – wobei sich dies sowohl sehr leise als auch sehr laut vollziehen kann. Praktiken des Schweigens können daher nicht passivisch verstanden werden, wie Protestpraktiken wie lip sewing, Hungerstreik oder öffentliche Selbstverbrennung beweisen (Bargu 2014; vgl. hierzu auch Quashie 2012). In ihrer körperlichen Vehemenz materialisieren sie vielmehr eine spezifische Form von Protest und 1 | Zu einer umfassenden und differenzierten Auseinandersetzung mit dem Begriff der Latenz aus verschiedenen disziplinären Perspektiven vgl. Stefanie Diekmann/Thomas Khurana 2007.
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(nicht-)präsentifizieren dabei zugleich Ungerechtigkeit und Ungleichheit in drastischen Formen, womit sie diese jedoch sichtbar machen können.2 Im Zuge des affective turn und des new materialism rücken jedoch auch die Konstitutionsbedingungen von Sinnlichkeitsregimen und ein vermeintlich ›banales Reich der Dinge‹ in den Vordergrund der Forschung und Kritik. Daher werden für eine affekttheoretisch informierte Sozial- und Kulturwissenschaft, die sich für die materielle Kultur des Protests interessiert,3 neben den hör- und sehbaren Momenten des Widerstands auch die Gerüche, Geschmäcker und Dinge des Protests wirksam; so z.B. der Geruch verbrannten Fleisches bei Selbstverbrennung, der Geruch des Blutes bei lip sewing oder die Pflastersteine palästinensischen Protests. Indem Performativität als Präsenz auch ›ohne Stimme und Sprache‹ auskommen kann, erweitert sie den Referenzrahmen der Wahrnehmung auch über das Akustische und Visuelle hinaus und eröffnet einen Wahrnehmungsraum für das Haptische, Olfaktorische und Geschmackliche. Damit desavouieren Praktiken des Protests die Sinnlichkeitsregime hegemonialer Ordnungen, die über euro-/ethnozentrische Mechanismen die Sinne bzw. die sinnliche Wahrnehmung hierarchisieren und Wirkungsweisen der Un/Sichtbarkeit privilegieren. Protest kann also nicht nur phonozentrische Traditionen brechen, in denen Protest nur in Form von Sprechhandeln vorgetragen werden kann, da man gehört werden muss, um politisch wirksam werden zu können. Protest als verkörperte Präsenz kann auch eine hegemoniale »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2008: 25f.) in Frage stellen. Im Gegensatz zu Arendts (2007: 218ff.) klassischem Ansatz der vita activa, in dem Handeln und Sprechen sich wechselseitig verstärken müssen, um politisch zu werden, kann sich Handeln demnach als schweigende, jedoch mit allen anderen Sinnen wahrnehmbare Performanz vom Sprechakt lösen und sich als eigenständige soziale, politische und kulturelle Praxis etablieren. Performativität muss daher nicht in einem Sprechakt aufgehen, um ›verstanden‹ werden zu können.4 Vielmehr kann die Aussetzung von Sprache in Kontexten hegemonialer Propositionalität subversiv gewendet werden – auch die ›Belästigung‹ der sinnlichen Normativität und Normalität über Gestank oder als ekelhaft empfundene Gerüche und Haptik kann die sinnliche und sinnhafte 2 | Zu einer vielgestaltigen Aufarbeitung des spannungsreichen Verhältnisses von Diskurs und Materialität aus feministischer Perspektive vgl. die Publikation Material turn: Feministische Perspektiven auf Materialität und Materialismus, hg. Volk et al. (2017). 3 | Vgl. Ahmed, The Cultural Politics of Emotion (2004), Seigworth/Gregg, The Affect Theory Reader (2009), Berlant, Cruel Optimism (2011) und Bennett, Vibrant Matter: A Political Ecology of Things (2009). 4 | Eine gegenteilige Position nimmt z.B. Jürgen Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns ein; so z.B. auf S. 114 oder auch S. 148 des ersten Bandes Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung.
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Ordnung subversiv durchbrechen. Auch schweigendes Handeln und entnormalisierte Sinnwahrnehmung kann politisch, sozial und kulturell lesbar werden, bleibt jedoch auf die Einbettung in einen Kontext angewiesen. Performativität ist also aktivisch zu denken: Sie widersetzt sich Automatismen und Habitualisierungen, was sie einerseits prekär und verletzlich macht, anderseits entkommt sie dadurch rigiden Steuerungsmaßnahmen und rigorosen Handlungsanweisungen, was sie als kulturelle und soziale Praxis des Protests präsent und wirksam werden lässt. Hierin liegt dann auch ihr subversives Potential, das Judith Butler (2007 [1990]: 200) am Ende von Gender Trouble als »Parodie« begrifflich fasst: Wird Protest performativ vorgetragen, können gängige Konventionen hinterfragt und herausgefordert werden – ohne deren Konstruktion an sich zu diskreditieren.5 Im Gegensatz zu streng propositionalen oder verbalkommunikativen Ansätzen der Sozial- und Kulturwissenschaften kommt Performativität als Präsenz auch ohne Stimme und Sprache aus, kann jedoch auf den Körper – seine Haptik, seinen Geruch und seinen Geschmack – nicht verzichten. Dabei ist der Körper sowohl das Medium, in dem sich Protest inszeniert, als auch der Aus- und Abdruck bestimmter Herrschaftsverhältnisse (Geschlecht, Hautfarbe, dis/ability). In dieser Ambivalenz liegt dann auch das präsentifizierte Protestpotential des Körpers begründet: Indem er beides – Herrschaft und Emanzipation – wortwörtlich verkörpert, kann er mit aller Vehemenz auf beide Möglichkeiten rekurrieren. Als Medium des Protests kann die Präsenz des Körpers die hermetische Ordnung des Gesellschaftlichen – die Aufteilung des Sinnlichen – unterbrechen, rupturieren und fragmentieren: Seine starren Verteilungsmuster sichtbar machen und kommunizieren, wenngleich nicht immer in Sprache übersetzt.6 Rancière (2008) attestiert verkörperlichten Praktiken des Widerstands ein revolutionäres Potential, das bestehende 5 | Zur Diskussion von »Politiken des Performativen« siehe Gerald Posselts Beitrag im Sammelband Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren, der von Gerald Posselt, Tatjana Schönwälder-Kuntze und Sergei Seitz editiert wurde (transcript 2018). 6 | Dazu auch Alexis Shotwell (2012: xviiif-xxi), die in ihrem Buch Knowing Otherwise auf einen weit gefassten Begriff der Blockade – als materielle, aber auch als psychische oder gruppendynamische Figur (»blockage«) – zurückgreift, um das Protestpotential – sie selbst spricht von »transformation« – von Schweigen darzustellen. Insbesondere in Situationen, in denen die Erwartungshaltung auf verbale Kommunikation gerichtet erscheint, kann Schweigen irritieren und dadurch Protestpotential freisetzen. Allerdings darf man sich nicht in der Analyse der Form verlieren, will man die Fallstricke der Isomorphie-These innerhalb der Protest- und Populismusforschung vermeiden (zur Kritik vgl. Gebhardt 2018: 29, 35); eine ausschließliche Konzentration auf die Form könnte schließlich so divergente Phänomene wie den schweigenden Abendspaziergang PEGIDAs, eine Schweigeminute anlässlich eines School Shootings, die Selbstverbrennung
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Verhältnisse nicht nur subvertiert und fragmentiert, sondern alternative sinnliche Ordnungen stiften kann. Protest, der in Form von Parodie, Pastiche oder Burlesque inszeniert und verkörpert wird, eröffnet schließlich neue und experimentelle Perspektiven auf die Präsenz des Politischen und gibt daher auch Anlass zur Hoffnung auf Veränderung, die präfigurativ im Hier und Jetzt erscheint. Diese Formen des Protests haben darüber hinaus ein starkes Element der Ermächtigung – im Sinne eines empowerment – inne, das präsentisch und kollektiv hergestellt werden kann.7 Performativität und Zeitlichkeit teilen sich also eine gewisse Widerständigkeit gegen Universalisierung wie auch eine kultur- und kontextspezifische Lesbarkeit. So betont Butler in ihren Schriften Precarious Life (2004) und Frames of War (2016 [2009]), die nach 9/11 entstanden sind, dass performative Verkörperungen auch das Potential haben, jenseits von Kultur- und Kontextspezifik (neue) solidarische Kollektivkörper (Körper im Plural) bzw. verkörperlichte Formen des Miteinander-Seins in Erscheinung treten zu lassen. In den Kämpfen dieser Körper um Wahrnehmbarkeit und Anerkennungsfähigkeit (recognizability) sieht Butler ein Gemeinsames und Geteiltes aufscheinen, das sie mit dem Begriff der Vulnerabilität markiert. Diese Verletztbarkeit beschreibt ein radikales Ausgesetzt-Sein, eine Ek-statse, eine Exponiertheit, die Lebewesen – auch nicht-menschliche – miteinander verbindet.8 Schließlich bleiben Performativität wie auch Zeitlichkeit eng verbunden mit räumlichen Konzepten: Performativität hat nicht nur eine temporale Struktur – sei diese präsentisch, archivisch, oder auch teleologisch – vielmehr drückt sie sich, wie Zeit selbst, in räumlichen Motiven aus. Handeln benötigt als politischen Akt oder auch stumme Protestmärsche Geflüchteter miteinander in eins fallen lassen. 7 | Als Beispiele könnte man hier Slutwalks nennen, die über eine karikatureske Darstellung vermeintlich promiskuitiver Sexualität – kurze Röcke, High Heels, starkes Makeup – nicht nur Praktiken des slut shaming und die Verherrlichung einer rape culture hinterfragen, sondern darüber hinaus die Misogynie, die Homo- und Transphobie (insbesondere gegenüber trans-Frauen*) patriarchaler Skripte offenlegen (Mendes 2015). 8 | So fragt Butler (2004: 19f.; 2016 [2009]: 38f.) in beiden Sammelbänden nach den normativen Rahmungen (frames), die festlegen, um wen soziale Gefüge öffentlich trauern (dürfen) – und um wen nicht. Butler diskutiert über den Neologismus grievability diese sozialen Normen und Konventionen des Trauerns anhand verschiedener Minderheiten, die durch die Raster des Trauerns fallen und deren Tode ungenannt und damit auch ›unanerkannt‹ bleiben, wie z.B. Personen, die während der ersten HIV-Epidemie an AIDS starben; Palästinenserinnen, die bei israelischen Angriffen ums Leben kommen; Personen der Zivilbevölkerung, die bei den US-Militärinterventionen im Irak und in Afghanistan getötet wurden; queere Personen, die den Attentaten am 11. September zum Opfer fielen.
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einen Raum, viel mehr als dass es Sprache braucht. Handeln benötigt eine räumliche Sichtbarkeit, um (sinnlich) wahrgenommen werden zu können – und Zeit bedarf der räumlichen Darstellung (als Linie, als Pfeil, als Kreis), um sicht- und damit wahrnehmbar zu werden. Wie diese Verschränkung von Zeitlichkeit, Sichtbarkeit, Performativität sowie Materialität interdisziplinär analysiert und bearbeitet werden kann, zeigen die Beiträge dieses Bandes.
Literatur Ahmed, Sara (2004): The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University Press. Arendt, Hannah (2007 [1958/60]): Vita activa. Oder Vom tätigen Leben, München: Piper. Bargu, Banu (2014): Starve and Immolate. The Politics of Human Weapons, New York, NY: Columbia University Press. Bennett, Jane (2009): Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham, NC: Duke University Press. Berlant, Lauren (2011): Cruel Optimism, Durham, NC: Duke University Press. Bohrer, Karl-Heinz (1994): Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2004): »Violence, Mourning, Politics«, in: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London/New York, NY: Verso, S. 19-49. Butler, Judith (2007 [1990]): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York, NY/London: Routledge. Butler, Judith (2016 [2009]): »Survivability, Vulnerability, Affect«, in: Frames of War. When is Life Grievable? London/New York, NY: Verso, S. 33-62 Diekmann, Stefanie/Khurana, Thomas (Hg.) (2007): Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff, Berlin: Kadmos. Gebhardt, Mareike (2018): »Zwischen Repräsentation und (Real-)Präsenz. Populistische Intervalle und demokratische Temporalstrukturen aus politiktheoretischer Perspektive«, in: diskurs 3, S. 21-45. Habermas, Jürgen (1995 [1981]): Die Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1 Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mendes, Kaitlynn (2015): SlutWalk. Feminism, Activism and Media, Basingstoke/New York, NY: Palgrave Macmillan. Polanyi, Michael (2009 [1966]): The Tacit Dimension, Chicago, IL: Chicago University Press. Posselt, Gerald (2018): »Politiken des Performativen. Butlers Theorie politischer Performativität«, in: Gerald Posselt/Tatjana Schönwälder-Kuntze/ Sergei Seitz (Hg.), Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren, Bielefeld: transcript 2018.
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Quashie, Kevin (2012): The Sovereignty of Quiet: Beyond Resistance in Black Culture, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press. Rancière, Jacques (2008): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. von Maria Muhle. Berlin: b_books. Seigworth, Gregory J./Gregg, Melissa (2009): The Affect Theory Reader, Durham, NC: Duke University Press. Shotwell, Alexis (2012): Knowing Otherwise. Race, Gender, and Implicit Understanding, University Park, PA: Pennsylvania State University Press. Volk, Kathrina/Löw, Christine/Leicht, Imke/Meisterhans, Nadja (Hg.) (2017): Material turn: Feministische Perspektiven auf Materialität und Materialismus, Leverkusen/Opladen: Verlag Barbara Budrich.
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Danksagung Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind Resultat mehrerer Veranstaltungen des DFG-Graduiertenkollegs 1718 »Präsenz und implizites Wissen« an der FAU Erlangen-Nürnberg, vor allem der Abschlusskonferenz, die unter dem Titel »(De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit: Wahrnehmung – Optimierung – Erzählung« vom 13.-15. Oktober 2016 an der FAU Erlangen-Nürnberg stattfand. Die Beiträge des ersten Teils »Erscheinungsformen von Zeitlichkeit« dokumentieren diese Veranstaltung. An dieser Stelle möchten wir uns bei den Gästen für die provokanten Vorträge ebenso bedanken, wie für ihre instruktiven Beiträge zu den Diskussionen des Graduiertenkollegs. Ebenfalls bedanken möchten wir uns bei den Promovierenden des Graduiertenkollegs, die im Rahmen der Konferenz ihre Forschung einem größeren Publikum zugänglich gemacht und das interkulturelle Forschungsparadigma des GRK mit transdisziplinärer Lebendigkeit erfüllt haben. Zu danken haben wir auch dem Organisationsteam der Tagung; insbesondere Gerd Sebald, der als Koordinator die Tagung nicht nur geplant, sondern auch inhaltlich maßgeblich mitgestaltet hat. Schließlich möchten wir uns noch bei den Studierenden des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg bedanken, die uns während der Tagung ihre Installationen zum Thema Zeit zur Verfügung stellten. Die Beiträge des zweiten Teils »Präsenz, Repräsentationen und Präsentifikationen« sind im Kontext einer Vortragsreihe und diverser Einzelveranstaltungen (Methoden und Theorie-Workshops) des Kollegs entstanden. Den Beitragenden sei für die erkenntnisreichen Diskussionen und weiterführenden Perspektiven ihrer ganz unterschiedlichen Zugänge noch einmal sehr herzlich gedankt. Schließlich möchten wir uns noch bei Sebastian Schneider für das wertvolle und akribische Lektorat sowie bei Susen Faulhaber, Annemarie Heuermann und Sophia Stiftinger für ihre engagierte und sachkundige Unterstützung der Publikation bedanken. Juliane Engel, Mareike Gebhardt, Kay Kirchmann
I. Erscheinungsformen von Zeitlichkeit
(D e -)K onstruk tionen von Z eitlichkeit. W ahrnehmung – O p timierung – E rz ählung Mareike Gebhardt und Kay Kirchmann Zeitlichkeit ist eine der grundsätzlichen und meist implizit bleibenden Dimensionen soziokultureller Ordnungen und Prozesse. Zeit strukturiert sich meist von der Gegenwart aus, in der Vergangenes erinnert und Zukünftiges erwartet wird. Philosophische, kultur- und sozialwissenschaftliche Theorien der Zeit fokussieren in ihrer Vielheit auf die Zeitkonstitution im subjektiven Bewusstsein, auf zeitliche Muster innerhalb von Subjektivierungsprozessen oder auf kollektive und affektiv stimulierte Wahrnehmungen von Zeitlichkeit, wie z.B. Durkheims (2007) in der Religionssoziologie entwickelter Begriff der Efferveszenz unterstreicht: Im Moment rauschhaften Zugegenseins eines Kollektivs wird der Vollzug der Zeit kaum wahrgenommen, sodass Zeit entweder schneller zu vergehen scheint, oder sich ins Unendliche erstreckt bzw. in einem absoluten Sinne auf das Hier und Jetzt gerichtet erscheint. In verschiedenen klassischen Zeittheorien, die mehrheitlich aus einer eurozentrischen Perspektive auf Zeit reflektieren, bestimmt sich Zeit von der subjektiven oder sozialen Gegenwart her, in der sich eine pragmatische Synchronisierung der unterschiedlichen Zeitebenen vollzieht (Elias 1984). Dabei ist die zeitliche Ek-stase der Gegenwart konstruiert – sei es als »specious present« bei William James (1893), als retentionale und protentional erweiterte Gegenwart in der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins Edmund Husserls (1985), als punktförmige Differenz bei Niklas Luhmann (1984) oder als »erstreckte« Gegenwart bei Helga Nowotny (1993), die in ihrer Studie zu Eigenzeit die Entstehungsbedingungen und Strukturierungen des Zeitgefühls in den Blick nimmt. Dabei wird auch die Frage nach der Geschichtsschreibung virulent, wenn Zeit als narrative und historiografische Struktur gedacht wird: Geschichte und Erzählungen finden in einer gewissen Zeit statt, bedürfen einer gewissen Zeit, um erzählt/berichtet zu werden und konstruieren schließlich Zeitlichkeitsmuster und -modi. Hier müssen machttheoretische Fragen gestellt werden, die die Autorität wie die Legitimität der Erzähler*innen und Geschichtsschreiber*innen herausfordern – denn: Nur in bestimmten Rahmen kommen bestimmte Erzähler*innen und Historiograf*innen zu Wort und werden gehört.
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Die Fragen nach denen, die schweigen, die zum Schweigen gebracht werden, deren Stimmen im Nichts verhallen, sind damit auch Teil einer kritischen Analyse von Zeitlichkeit, da Zeitrechnung nicht ohne politische Implikationen gedacht werden kann. So zeigt Gayatri Chakravorty Spivak (1988) im Kontext postkolonialer Theoriebildung auf, wie marginalisierte Gruppen – sie spricht von »Subalternen« – innerhalb komplexer hegemonialer Settings »nicht sprechen können«, da ihre Stimmen nicht gehört werden. Auch Edward Said (1979) und Frantz Fanon (2004 [1963]) haben in ihren Schriften kritisiert, dass Geschichtsschreibung immer schon von einem hegemonialen Standpunkt aus erzählt und fixiert wird – dabei wird das ›Andere‹ konstruiert: als Exotismus glorifiziert, als Unschuld viktimisiert oder als Bedrohung kriminalisiert. Postkoloniale Analysen von Zeitlichkeitsmodi und Geschichtsschreibungsmustern zeigen die Geschichten, die Erzählungen und die Historiografien dieser ›Anderen‹ auf: geben ihnen eine Stimme, beschreiben Strategien der Subversion und lassen kontra-hegemoniale Entwürfe von Gesellschaft, Politik und Kultur ›zu Wort kommen‹. Rezente Kultur- und Sozialtheorien der Zeit/lichkeit, insbesondere diejenigen, die sich aus einem post-phänomenologischen bzw. poststrukturalistischen Denken speisen, entwerfen alternative Zeitlichkeiten zu klassischen, meist eurozentrisch geprägten Zeittheorien. Sie brechen mit dem Regime des Chrono-Logischen, wenn in ihnen das teleologisches Modell Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft kollabiert. Stattdessen wird die Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft in Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Jetztzeit (1980) nicht als Zielgerichtetheit verstanden, sondern als Ankunft und/ oder Ereignis konzipiert (Derrida 1992, 2006; Agamben 2006). Neben Derridas (2013 [1983]) Kritik an der »Metaphysik der Präsenz« kann für solche Zeitlichkeitstheorien Isabell Loreys (2014) politische Theorie der »präsentischen Demokratie« als exemplarisch gelten. In ihren an Benjamin und Derrida anknüpfenden Theoretisierungen von soziopolitischen Protest- und Widerstandsbewegungen resümiert Lorey (2014: 85, Hervorh. MG), dass Kämpfe in der ›Jetztzeit‹ statt[finden], […] deswegen aber nicht unberührt von der Vergangenheit [sind]. Die Jetztzeit ist gerade keine Zeitlichkeit, die selbstidentisch bei sich bleibt, als unmittelbare Präsenz, als Authentizität von Köper und Affekt oder als reine Befindlichkeit. Sie ist konstruktive Zeitlichkeit, in der die Splitter der Geschichte neu zusammengesetzt werden, in der Geschichte unentwegt entsteht. Jetztzeit ist schöpferischer Mittelpunkt, kein Übergang des Vergangenen in die Zukunft.
Aus einer poststrukturalistischen Perspektive erörtert Lorey also Präsenz als soziopolitisches Konstrukt, in dem Raum und Zeit gerade nicht rauschhaft ineinanderfallen und als Authentizität stilisiert werden. Vielmehr wird Gegenwart nicht nur als Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft gedacht.
(De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit
Sie wird fragmentarisch zusammengesetzt, weshalb die Temporalstruktur ›Gegenwart‹ eine spezifische Präsenz produziert, die eine identitäre Ko-Präsenz von Raum, Zeit und Gemeinschaft unterläuft. Damit widersteht die (De-) Konstruktion von Präsenz im soziopolitischen Raum phantasmagorischen Vorstellungen des Ethnonationalen, die das ›Völkische‹ als unmittelbare Einheit imaginieren. In politischen Theorien der Zeitlichkeit, die an Benjamin und Derrida anknüpfen und neben Lorey auch von Judith Butler (2015)1 vorgelegt wurden, entwickeln sich kollektive wie auch subjektive Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster sowie Handlungskoordinierungen, die geradlinige Zeitlichkeitsmuster unterlaufen, sabotieren und hinterfragen. Damit erscheint das Verhältnis von Raum, Zeit und Gemeinschaft als Disruption und Dissonanz statt als Einheit und Homogenität. Hier klingt bereits das kritische Potential zur Analyse soziopolitischer Phänomene an, die eine Reiteration von Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Vergemeinschaftung entwickeln kann (Gebhardt 2019). Die Sektion Erscheinungsformen von Zeitlichkeit des vorliegenden Bandes widmet sich diesen verschiedenen Reiterationen und fokussiert insbesondere auf drei Themenbereiche, in denen Zeitlichkeitskonstruktionen und kollektive, individuelle und/oder systemische Verhaltens- und Handlungsmuster aus verschiedenen disziplinären und interdisziplinären Blickwinkeln betrachtet werden und an performative Akte in sozialen, politischen, kulturellen, medialen und/oder literarischen Räumen rückgebunden werden. Diese thematischen Bereiche konzentrieren sich auf subjektive bzw. kollektive Wahrnehmungen von Zeitlichkeit, zielgerichtete bzw. ökonomisierte Optimierung der Zeit und schließlich die Erzählung verschiedener Zeit/lichkeiten. Dabei wird in allen drei Bereichen deutlich, dass Zeitlichkeit und Geschichtsschreibung immer auch materiale Formen annehmen kann, wie z.B. Monumente und Sehenswürdigkeiten, die man während einer Urlaubsreise besichtigt, oder ein Schmuckstück, das seit Generationen innerhalb einer Familie tradiert wird und das man einem geliebten Menschen schenkt. Hinsichtlich der Wahrnehmung von Zeitlichkeit gilt es zu untersuchen, wie Vorgänge, Verfahren, Veränderungen, Ereignisse oder auch Stillstand in ihrer Temporalstruktur subjektiv und kollektiv konstruiert und perzipiert werden. Die subjektive bzw. kollektive Kapazität an Aufmerksamkeit ist aber sowohl von der Anzahl und Komplexität der Gegenstände, auf die sich konzentriert wird, als auch von der Geschwindigkeit und dem zeitlichen Rahmen, in der bzw. in dem Dinge aufgefasst werden können, begrenzt. Was als Erscheinung andauernd Aufmerksamkeit fordert, wird für die Wahrnehmung letztlich unscheinbar: Gewohnheit, so schon Walter Benjamin in der Ibizenkischen Folge, 1 | Wobei Butler ihren Fokus auf eine Auseinandersetzung mit Arendts politischer Theorie und Derridas Kritik an der Metaphysik der Präsenz legt.
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steht im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, die in ihrer Selektivität die Wahrnehmung des Gegenwärtigen präfiguriert. Hier scheinen bereits die Verbindungslinien zwischen der Wahrnehmung und der Optimierung von Zeit/lichkeit auf, die zum zweiten Modus, in dem Zeit/lichkeit (de-)konstruiert wird, überleiten. In einer weiteren Annäherung an das Verhältnis von Zeit/lichkeit und Performativität kann beobachtet werden, wie der Zeitlichkeitsmodus ›Gegenwart‹ als Handlungszeit unter der Ägide eines neoliberalen Zeitregimes unter den Druck der – auch und gerade medientechnologisch induzierten – (Selbst-)Optimierung gerät: Verwertungsund Nutzungsstrategien, Prozesse des Zeitmanagements und der temporalen Budgetierung führen schließlich zu einer Nichtung von Präsenz zugunsten rasanten Fortschritts. Solchen Praktiken der effizienten Zeitgestaltung stehen ästhetische und philosophische Strategien der Streckung von Gegenwart, der Verlangsamung und Zeitverschwendung sowie der Orientierung an alinearen, diskontinuierlichen, nicht-westlichen Zeitkonzepten entgegen, die als Einspruch in die jüngste Ökonomisierung der Aufmerksamkeit fungieren. Dabei lässt sich Aufmerksamkeit als eine für Individuen und Gruppen knappe und kostspielige (zeiträumliche) Ressource begreifen, die konstitutiv für die Konstruktion von Präsenz ist und seit dem 19. Jahrhundert als Ideal subjektiver Selbstgewissheit gefasst wird.2 In rezenten Reiterationen von Optimierungsmotiven stehen insbesondere neoliberale Leistungsimperative und quasi-esoterische Selbstverwirklichungsnarrative im Vordergrund, die es aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive zu hinterfragen gilt. Zeitgenössische Phänomene wie Home Office oder betriebliche Retreats verbinden beide Motive zu einem Narrativ von Selbstverwirklichung durch Leistung und laden diese zusätzlich mit Freiheitsund Sozialitätsmotiven auf: Die Firmenleitung ›lädt‹ die Belegschaft zu einem gemeinsamen Wochenende mit ländlicher Erholung und ›action‹ in Hochseilgärten und beim Canyoning ein, um die soziale Kohäsion der Belegschaft ebenso zu optimieren wie die Leistungsbereitschaft, die nach einem Wochenende, an dem man seine ›Batterien‹ wieder aufladen konnte, gesteigert sein wird. Soziale Figuren, insbesondere höherer Bildungsmilieus, wie der urbane, junge, gut ausgebildete freelancer, der mal eben im Café um die Ecke, Macha Soja Latte schlürfend, seinen ersten deal landet, oder die junge Akademikerin, die unter der Rhetorik von Gestaltungsfreiheit für ein bestimmtes Stundenkontingent entlohnt wird, das sie jedoch meist überschreitet, ohne dafür eine Kompensation zu erhalten, sind paradigmatisch für eine neoliberale Rhetorik und ein gouvernementales Regime, in der und durch das unbeding2 | In kulturvergleichender Perspektive wäre darüber hinaus zu fragen, wie in divergenten Zeitvorstellungen (linear vs. zirkular) Ereignis und Wiederkehr Aufmerksamkeit lenken.
(De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit
te Leistungsbereitschaft und Selbstverwirklichung zu einem Motiv der Freiheit amalgamiert werden. Die spätkapitalistische Auflösung von traditionellen Arbeitszeitrhythmen, von klar getrennten Phasen von Arbeit und Freizeit, und fixen räumlichen Verortungen, wie Privatbereich und öffentlichem Raum, erhält dann eine problematische Grundierung, wenn Selbstverwirklichung in Selbstausbeutung umschlägt. Die für den Neoliberalismus so selbstverständlich gewordenen Figuren der Selbstausbeutung zeitigen dann auch den Aufstieg psychosozialer Erschöpfungsphänomene wie burn out (Ehrenberg 2015). So unterschiedlich diese Phänomene der (Selbst-)Optimierungslogik lebensweltlich in Erscheinung treten, so eint sie, dass sie mehrheitlich »psychopolitischen« Dispositiven unterliegen (Han 20143), die durch Beschleunigungs(Rosa 2005), Verbesserungs- und Selbstverwirklichungsnarrative hergestellt und stabilisiert werden. Schließlich knüpft dies, drittens, an die Erzählung von Zeit an: Hier ist zu fragen, wie Zeit narrativ erzeugt und dargestellt wird; wie Narrative und Narrationen Zeitlichkeit hervorbringen, verzerren oder auch entstellen können und wie Zeit/lichkeit performativ, sprachlich oder auch ›schweigend‹ de/konstruiert werden kann. Ob als ewige Wiederkunft (Nietzsche 2002), radikaler Neuanfang (Arendt 2007) oder rasender Stillstand (Virilio 1992), Zeitlichkeit kann narrativ gedehnt, gestreckt, verlängert, verkürzt oder statisch gehalten werden. Narrationen und Narrative changieren, oszillieren und flirren zwischen diesen verschiedenen spatio-temporalen Zuständen. In den Momenten, in denen sie erzählt werden, produzieren Geschichten Präsenz – doch nicht im Sinne einer identitätslogischen Metaphysik der Präsenz, sondern im Sinne einer fragmentarischen Vergegenwärtigung von Vergangenem, einer kritischen Konfrontation mit der Gegenwart oder einer kommenden Zukunft. Damit wehrt sich eine Erzählung gegen ein identitäres Ineinanderfallen von Raum und Zeit: In ihr und durch sie wird Vergangenheit nicht ›eins zu eins‹ in die Gegenwart übersetzt und in die Zukunft geleitet, vielmehr erfolgt eine narrative Selektion dessen, was Hannah Arendt (2012: 258) die »Denkbruchstücke« der Tradition genannt hat. Darüber hinaus (re-) präsentiert eine Erzählung auch die Gegenwart nicht so ›wie sie wirklich ist‹, stattdessen wählt die Erzählung auch hier aus und (de-)konstruiert Zeit/lichkeit. Letztlich skizziert eine Erzählung auch nur eine Möglichkeit von vielen und verweist daher auf ihre radikale Kontingenz. In jeder Geschichte, verstanden als story, die fragmentarisch erzählt wird, manifestiert sich ein Widerstand 3 | Han (2014: 9f., 33-39) erweitert Foucaults Arbeiten zur Biopolitik um ein psychischen Moment: Neoliberale Machtsysteme ergreifen nicht nur den Körper des Subjekts, sondern auch seine Psyche. So transformiert sich das liberale Sub-jekt in ein neoliberales Pro-jekt, das unter der Illusion völliger (Gestaltungs-)Freiheit das System immer wieder reproduziert.
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gegen Prozesse der Reifikation wie der Totalisierung – Narrative sind immer schon Versatzstücke, sie enthalten immer schon ›Reste‹, ›Unreinheiten‹ und Uneigentlichkeiten, die Derrida (2013 [1983]: 113f., 116) als »Spur« bezeichnete. Erzählungen können jedoch auch in Latenz verharren, als Sedimentationen in die Tiefenschichten des Erinnerns abgleiten und dort auf Bergung warten, oder als implizites Wissen gegenwärtiges Handeln prägen und leiten – oder: für immer verloren sein. Daher besteht die Aufgabe des Narrativen sowohl darin, die ›Kostbarkeiten‹ der Tradition für Gegenwart und Zukunft zu bewahren als auch die Vergangenheit hinter sich und eine neue Geschichte anheben zu lassen (Arendt 2007, 2012) und dadurch Hoffnungsfunken auf radikale Veränderung zu zünden (Butler 2015). Dabei kann es jedoch nur einen radikalen Neuanfang, keinen absoluten Nullpunkt geben. Damit dient die Erzählung auch der Herstellung und Bewältigung flüchtiger Präsenz, ohne Geschichte/n zu reifizieren: Indem sie die Vergangenheit in die Jetztzeit hebt, wird Vergangenes (de-)konstruktiv vergegenwärtigt und für die Zukunft sinn- und identitätsstiftend genauso in Biografien eingespeist wie in das kollektive Gedächtnis. Die Erzählung kann jedoch auch Subjektpositionen fixieren oder einen (repressiven oder regressiven) Status Quo affirmieren. Sie kann über narrativ erzeugte und stabilisierte symbolische Ordnungen Zugehörigkeitsgefühle generieren: Aus dem kritischen Gedanken der Konservierung von Geschichte/n, um Vergangenes nicht vergessen oder verdrängen zu können, kann allzu leicht ein unreflektierter Konservatismus werden, der ausschließlich in die Vergangenheit blickt, um sie als Goldenes Zeitalter zu mystifizieren und ihren Verlust politisch zu instrumentalisieren. Dieses Temporalmuster eint z.B. die verschiedenen ethnonationalistischen, sexistischen und rassistischen Populismen der Gegenwart von Donald Trump über die AfD, Sverigedemokraterna, FPÖ und Front National bis hin zu transnationalen Bewegungen des ›Völkischen‹ wie Die Identitären.4 Nur über stete Reflexion an den (hegemonialen) Zeitlichkeitskonstruktionen kann erzählte Zeit daher hinterfragen und hin4 | Zu regressiv-restaurativen Narrativen, die die Vergangenheit glorifizieren, legt Arlie Russel Hochschild (2016) die instruktive Studie Strangers in Their Own Land vor, in der sie soziopolitische Verhaltensweisen und Wahlmuster der US-amerikanischen Rechten untersucht. In der über fünf Jahre durchgeführten Studie, die mit Donald Trumps Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten endet, beschreibt Hochschild ein narratives Muster, das sie »the deep story« (135-151) nennt: Dieses Narrativ, das sich als ›wahr‹ anfühlt (Hochschild 2016: 16), setzt sich insbesondere zusammen aus Gefühlen des (vermeintlichen oder wahrgenommenen) ökonomischen Statusverlusts, der kulturellen Marginalisierung und des demografischen ›Niedergangs‹ der vormals privilegierten ›weißen‹ Klassen der USA (Hochschild 2016: 221). Hinter diesen Phänomenen, so argumentiert Hochschild (2016: 146ff.), verbergen sich wertkonservative, rassistische und/oder anti-queerfeministische Überzeugungen.
(De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit
terfragt werden. Nur in einer kritischen Haltung können Narrationen und Narrative ihre Wirkmacht im Sinne einer Intervention entfalten. Wenn eine amorphe Vielheit über narrative Kohäsion zu einer Gemeinschaft transformiert wird, die kritisch in die Öffentlichkeit stößt, produziert dies transversale Assemblagen, die das praktizieren, was Isabell Lorey (2012, 2014) »präsentische Demokratie« nennt: Statt die politischen Praxen […] in die komplementäre Demokratieform zur repräsentativen Demokratie, in die direkte Demokratie einzuschreiben, möchte ich eine Sichtweise eröffnen, mit der die reale, die präsentische Demokratie als ein epistemischer und politischer Exodus aus der hegemonialen juridischen Binarität der Demokratie verstanden werden kann. […] Formen von Demokratie lassen sich unter anderem deshalb als präsentisch bezeichnen, weil sie so lange andauern, solange sie praktiziert werden. Wird Demokratie praktiziert, kann sie nicht delegiert werden, sie überdauert nicht die Absenz der Teilnehmenden durch Repräsentation. Daraus ist nicht umgekehrt der Schluss zu ziehen, dass bei präsentischen demokratischen Praxen alle Teilnehmenden physisch an einem Ort sein müssen. (Lorey 2012: o.A.)
In Loreys politiktheoretischen Analysen von Handlungsmacht hallen so auch Hannah Arendts »Denkbruchstücke« wider, die einer kritischen Historiografie zur Verfügung stehen, die notwendig fragmentarisch bleiben muss, will sie nicht totalitär werden. Dabei bezieht sich nicht nur Lorey auf Benjamins historiografische Untersuchungen zu Zeit, sondern auch Arendts politische Theorie nimmt zeiträumliche Motive auf, die sie einer versierten Lektüre und den persönlichen Gesprächen mit Walter Benjamin verdankt. In ihrer berühmten Hommage an Walter Benjamin in Menschen in finsteren Zeiten schreibt Arendt: Dies Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit den ›Denkbruchstücken‹, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leitet, ist die Überzeugung, dass zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationspunkt ist; dass in der ›Meereshut‹ […] neue, kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten. Der sie an den Tag bringt, als ›Denkbruchstücke‹, als Fragmente oder auch als die immerwährenden ›Urphänomene‹. (Arendt 2012: 258)
Indem die Erzählung kritisch und fragmentarisch auf Vergangenheit und Gegenwart reflektiert, entscheidet sie sich für eine alineare und bruchstück-
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hafte Des-/Orientierung an der Zukunft, deren Unvorhersehbarkeit in gewisser Weise über narrative Sicherheit stabilisiert wird – doch nicht um den Preis einer Reifikation. Narrationen stabilisieren und legitimieren so nicht nur Handlungen im Hier und Jetzt, sondern generieren eine Vielzahl paralleler Erzählungen und eröffnen so eine Multiperspektivität, die der »postmodernen Kondition« (Lyotard 2009) Rechnung trägt.
Über die Beiträge dieser Sektion Unter den Schlagworten der Wahrnehmung, der Optimierung und der Erzählung fokussiert diese Sektion also auf verschiedene (De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit, in denen Zeit im Modus radikaler Beschleunigung gedacht und erlebt wird, in präsentischen Formen des Stillstands, der Dehnung und Vergegenwärtigung diskutiert oder auch in narrativen Formen und Mustern gedeutet wird. Das Kapitel Ereignis und Präsenz eröffnet Kay Kirchmann mit einem Beitrag zu Paradoxe Präsenzen. Festzeiten und/im Live-Fernsehen. Die hier vorgenommenen Theoretisierungen der außeralltäglichen Zeitlichkeitsformen des Fests eröffnen inspirierende Zugänge zu ihrer allgemeinen Struktur. Kirchmann bestimmt sie als paradoxe Gleichzeitigkeit einander eigentlich ausschließender Zeitkonzepte und diskutiert sie hiernach im Hinblick auf Bedingungen ihrer medialen Repräsentation. Die hohe Affinität des klassischen Live-Fernsehens zur Übertragung von Festen wird dabei als Effekt gleichfalls paradoxer Zeitstrukturen des Mediums selbst einsichtig. Anna Zeitler schließt hieran an und unternimmt eine ebenfalls medienwissenschaftliche Reflexion auf die (Re-)Präsentation von Katastrophenereignissen, die sie anhand der Temporalisierungsstrategien des Livetickers untersucht. Im Anschluss daran analysiert Laura Vorberg unter dem Titel Zeiten der Angst? aus einer medienwissenschaftlich-amerikanistischen Perspektive die emotionalen Logiken und die mediale Performativität populistischer Strategien im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016. Unterschiedliche Aushandlungen von Präsenz werden im zweiten Kapitel aus verschiedenen disziplinären Perspektiven ausgeleuchtet. Zunächst untersucht Marie-Kristin Döbler aus einer wissenssoziologischen Perspektive individuelle und kollektive Zeitlichkeit(svorstellung)en von Paaren in Nicht-Präsenz-Beziehungen; damit präsentiert sie in Teilen Ergebnisse einer narrativen Interviewreihe mit Paaren in Fernbeziehungen. Als nächstes stellt Yasemin Yilmaz den tourist gaze als Kulminationspunkt der Raum- und Zeitvorstellung der sozialen Praxis der touristischen Reise vor und erörtert diesen im Anschluss an die Raumtheorien Michel Foucaults und Marc Augés. Danach nimmt Thomas Khurana die Motive der Erzählung, der Optimierung sowie
(De-)Konstruktionen von Zeitlichkeit
der Wahrnehmung auf, wenn er in seinem Beitrag die Geschichte von Walter White aus der US-Serie Breaking Bad unter dem Dispositiv der Veränderung philosophisch in den Blick nimmt. Schließlich endet die Diskussion des zweiten Kapitels mit Simon Layers theologischer Untersuchung des christlichen Ewigkeitsmotivs und seiner eschatologischen Temporalität. Im dritten und letzten Kapitel der ersten Sektion – Präsenz und Ritual – reflektiert Christoph Wulf die Diskussion zum Zusammenhang von Präsenzphänomenen und Zeitstrukturen. So kann in kulturanthropologischer Perspektivierung gezeigt werden, wie bedeutsam rituelle und ritualisierte Wiederholungen für die Hervorbringung von symbolhaften Bedeutungen in sozialen Konfigurationen sind. Laura von Ostrowski beschließt die Sektion mit einer Untersuchung der somatischen Materialisierung von Präsenz in der Yoga-Praxis und der religiösen Erfahrung als Teil/Effekt von Körperpraktiken, die als kulturspezifische Disziplinierungstechniken oder, mit Foucault, Disziplinierungstechnologien zu beschreiben sind.
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Ereignis und Präsenz Par adoxe P r äsenzen . F est-Z eiten und/im L ive -F ernsehen Kay Kirchmann Beginnen wir mit zwei Bildquellen, um uns den im Titel angesprochen Paradoxien der Präsenz bei Festen anzunähern: Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 1996 in Atlanta kam es zu einer bemerkenswerten Verschränkung der antiken und der neuzeitlichen Olympiaden in Gestalt von Schattenprojektionen, auf denen die Posen von Sportlern nachgestellt wurden, wie man sie z.B. von antiken Vasen kennt. Nun mag es gute sportpolitische Gründe für diese klare Reminiszenz ans Altertum gegeben haben, hatte das IOC doch nicht, wie allgemein erwartet worden war, die Spiele zum 100jährigen Jubiläum an den Erstaustragungsort Athen, sondern an die ›Coca-ColaMetropole‹ Atlanta in Georgia vergeben (Kulling 2008). Und Rückbezüge auf das antike Vorbild waren und sind auch bei anderen Eröffnungsfeiern durchaus fester Bestandteil des Repertoires. Die Inszenierung von Atlanta ist aber insofern besonders interessant, weil die Hommage hier nun just in Gestalt eines Mediums materialisiert wurde, das gemeinhin als Ursprung sowohl der ikonischen wie der performativen Künste gilt: dem Schattenbild bzw. dem Schattenspiel (Beck 1986; Stoichita 1999; Wiedenmann 2014). Gerade im hier gewählten Bildausschnitt (Abb. 1) überlagern sich mythischer Ursprung, die Zeiten der Antike und – am oberen Bildrand zu erkennen – die der urbanen Moderne zu einem Moment paradoxer Gleichzeitigkeit.
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Abb. 1: Schattenspiel bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 1996 in Atlanta
© https://www.wsbtv.com/sports/olympics/ atlantas-olympic-opening-ceremony/22779940
Es wird zu zeigen sein, dass genau dies konstitutiv für die Zeitstruktur des Festes allgemein ist und wie sich diese Überschreibung mehrerer Präsenzen in einem Bild idealtypisch mit der Figuration des klassischen Live-Fernsehens amalgamiert, das natürlich die olympische Eröffnungsfeier weltweit live übertragen hat wie auch – im kleineren Maßstab des Regionalfernsehens – jenes Fest, dem unser zweites Bildbeispiel entnommen ist: Im Rahmen der Jubiläumsfeiern zum 350jährigen Bestehen des Passauer Doms kam es in 2018 jeden Freitagabend unter dem Titel ›Eine Symphonie aus Licht und Klang‹ zu einer mehrminütigen Videoprojektion auf die Fassade des Doms, in der in Form einer virtuellen Zeitreise die Passauer Domgeschichte visualisiert wurde: Unter rhythmischen Trommelschlägen erscheinen auf der Domfassade riesige Steinmetz-Zeichen. Dann leuchten Jahreszahlen auf, von 2018 zurück bis 450, als die erste Kirche auf Passauer Boden entstand. Schließlich geben in der monumentalen Videoprojektion zwölf Szenen in 17 Minuten die wichtigsten Stationen der Passauer Domgeschichte chronologisch wieder. Durchwegs aus animierten Einzelbildern ist die Zeitreise gestaltet. Sie verfolgt den Bau einer romanischen Basilika ab 985, die Grundsteinlegung eines gotischen Domchores 1407, den Niedergang des alten Dombaus 1662 und das Werden des barocken Doms. (Blachnik 2018)
Paradoxe Präsenzen
Neben der weltlichen Baugeschichte wurde in den Bildfolgen aber auch die Heilsgeschichte »von der Taufe über die Eucharistie bis zur himmlischen Gottesschau eingeflochten« (Blachnik 2018). Das Schlussbild projizierte dann Bilder des Deckenfreskos aus der Vierungskuppel auf die Außenmauern des barocken Doms (Abb. 2). Abb. 2: Lichtprojektion auf die Fassade des Passauer Doms, 2018
© Dionys Asenkerschbaumer, https://www.bistum-passau.de/aktuellemeldungen/27/4/2018/%E2%80%93-symphonie-aus-licht-und-klang%E2%80%93
Die Überlagerung der Zeitschichten korrespondiert hier also mit einer Umstülpung des räumlichen Verhältnisses von Innen und Außen, wie Gilles Deleuze (2000) dies unter dem Konzept der ›Falte‹ bezeichnenderweise als konstitutiv für die Philosophie und die Ästhetik des Barocks deklariert hat. In-
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versionen, Überschreibungen, geschichtete Räume und Zeiten – all dies führt zu paradoxen Präsenzen, die jedoch im Fest nicht nur als nicht störend empfunden werden, sondern die im Gegenteil unmittelbar ins Funktionszentrum des Festes als einer ›cultural performance‹ (MacAloon 1984) führen.
Das Fest als ›Moratorium des Alltags‹ Einer inzwischen schon kanonischen Definition des Philosophen Odo Marquardt (1994: 60) zufolge, muss das Fest in seiner Funktion als »Moratorium des Alltags« begriffen werden, mithin als befristete Unterbrechung, als vorübergehende Absehung von den gesellschaftlichen Zwängen und Routinen, die das Arbeits- und Sozialverhalten der Gesellschaftsmitglieder ansonsten bestimmen. Auch Jan Assmann (1991: 18) unterscheidet zwischen zwei Zeiten, in denen Menschen kulturell und sozial interagieren, wobei er den Alltag durch die »Institutionen der Gleichzeitigkeit«1 bestimmt sieht, also durch ein hohes Maß an Synchronisation der Handlungsabläufe. Demgegenüber attestiert er dem Fest, durch »Institutionen der Ungleichzeitigkeit« (Assmann 1991: 19) konstituiert zu werden. Man kann dies in gewisser Weise auch als die horizontale Gegenwärtigkeit gleichzeitig Handelnder (Alltag) gegenüber der vertikalen Anordnung in Gestalt einer diachronen Schichtung von Zeithorizonten verstehen, in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft permanent oszillieren (Fest). Steht somit eine spezifische temporale Logik gleichsam metonymisch für das Fest überhaupt, so differenziert sich das Phänomen noch in vielfacher Hinsicht in konkreten Praktiken und Erfahrungen von Zeitlichkeit aus. Assmann (1991: 25) weist – wenig überraschend – v.a. auf das zentrale Moment der Kommemoration im Festgeschehen hin: »Es ist der sich erinnernde Mensch, der in ›zwei Zeiten‹ lebende, der zweidimensionale Mensch, der Feste feiert. Und es ist die ›andere Zeit‹, die im Fest vergegenwärtigt, d.h. zur Gegenwart gemacht wird«. Es wird im Weiteren zu fragen sein, worin diese ›Andersartigkeit‹ der im Fest zelebrierten und erlebten Zeit konkret besteht. Führen wir uns zunächst aber vor Augen, dass das Fest noch in anderer Hinsicht temporal bestimmt ist: So nennt der Ethnologe Klaus-Peter Köpping (1997: 1048) »Periodizität und Liminalität« als seine weiteren Konstituenten. Insofern das Fest als »existentielle Kategorie des Gesellschaftlichen« (Hugger 1987: 10) fungiert, in dem »sich eine Gemeinschaft lebensbejahend Bedeutung in besonderen äußeren Formen [vergegenwärtigt]« (Deile 2004: 7), liegt seine periodische Wiederaufnahme ja auch nahe. Gerade die zyklische Wiederkehr von Festen, seien sie nun religiöser, politischer, jahreszeitlicher, sozialer oder biographischer Natur, stellt nicht nur ihre kollektive Planbarkeit sicher, sondern 1 | Hervorhebungen in Zitaten sind grundsätzlich der zitierten Quelle entnommen, sofern nicht ausdrücklich anders angemerkt.
Paradoxe Präsenzen
generiert und kanalisiert auch eine konkrete Erwartungshaltung auf ein vorab fixiertes Datum hin, welche die Alltagswirklichkeit zu transzendieren hilft. Matthias Warstat (2005: 102) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Feste insofern einerseits in die »Routinen der Alltagszeit eingebettet [sind], indem sie sich regelmäßig wiederholen; andererseits ermöglichen Feste auch in zeitlicher Hinsicht eine Transgression, weil sie eine eigene Zeit konstituieren, die die jeweils eingespielte Zeitgestaltung unterbricht«. Sichert die Periodizität des Festes sozusagen auf der Außenseite der gesellschaftlichen Planung den dann in der gemeinsamen Zelebration generierten »kulturelle[n] Sinn« (Assmann 1991: 24), so entspricht dem auf der Innenseite der konkreten Festinszenierung die in den sakralen wie profanen Ritualen des Festes erfahrbar gemachte Bedeutungsstiftung in der iterativen Ausübung einstudierter Abläufe. Jan Assmann schlägt daher vor, die angesprochene Paradoxie – Einlassung in die Chronizität des Kalendarischen einerseits, Durchbrechung der temporalen Ordnung andererseits – in der je unterschiedlichen Funktionalität von Routine und Ritual aufzulösen: Der Entgegensetzung von ›Fest‹ und ›Routine‹ mag man entgegenhalten, dass ja auch das Fest auf Wiederholbarkeit angelegt ist. Einmalige Feste sind […] ›ein Widerspruch in sich selbst‹.Wenn Feste ein Gemeinschaftsbewusstsein inszenieren, dann impliziert das Wiederholbarkeit. Wiederholbarkeit aber setzt Routinisierung voraus. Der Widerspruch lässt sich lösen, wenn man zwischen ›Routinen‹ und ›Riten‹ unterscheidet. Routinen sind Handlungs-Schematisierungen zum Zwecke der Wiederholbarkeit und Entlastung. Sie orientieren sich am Handlungsziel und haben keinen anderen Sinn als dessen Erfüllung. […] Riten dagegen sind Handlungs-Schematisierungen im Hinblick auf einen Sinn, den sie im Vollzug selbst zur Darstellung bringen. Sie verweisen gerade durch die Strenge der ›Deckungsgleichheit‹ der Wiederholung auf die Bedeutung der Handlung. […] Die Riten beruhen auf einer Art von Wiederholbarkeit, die nicht als Entlastung, sondern als Bedeutung zu verstehen ist: Sie bringt die zyklische Zeit zur Erscheinung. (Assmann 1991: 16f.)
Sorgen Wiederholung und Ritualisierung einerseits für die Stabilisierung des Festgeschehens, so gehört zu der konstitutiven Abgrenzung zum Alltagsgeschehen andererseits unabdingbar das Moment des Rauschhaften2, der Überschreitung, des Exzesses: Da Feste liminale Zeiträume darstellen, werden in diesen auch Verhaltensweisen erlaubt und sogar als erforderlich angesehen, die normalerweise tabuisiert sind, also Ex-
2 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hans Ulrich Reck in diesem Band.
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Kay Kirchmann zesse verschiedener Art zugelassen […] in Analogie zu liminalen Perioden in Initiationsund anderen Ritualen […]. (Köpping 1997: 1049)
Köpping bezieht sich hier auf die berühmten Liminalitätsstudien des Ethnologen Victor W. Turner (1964, 1998), denen zufolge Riten einen Schwellenzustand kreieren sollen, der den temporären Ausstieg aus der und den anschließenden Wiedereinstieg in die soziale Ordnung sowohl symbolisch als auch auf der Ebene der körperlichen Empfindungen (z.B. durch Rauschmittelgaben) befestigen soll. Ebendies bestimmt auch die Rahmung des Festes durch Phasen der Vor- und Nachbereitung: Exzesse werden genau wie liminale Rituale in einem Rahmen gebändigt: Der Zeremonialismus und die Form der Etikette gehören daher genauso zum Fest wie Vorbereitungen verschiedener Art […] Teil liminaler Rituale sind. (Köpping 1997: 1049)
Wie schon auf der temporalen Ebene stoßen wir auch hier auf eine paradoxe Struktur, wobei beide Ebenen eng miteinander verwoben sind: Jedoch bleibt alles Exzessive immer in einem Rahmen, der einerseits durch die zeitliche Begrenztheit des Festes vorgegeben ist – obwohl, und das ist das Paradoxe, das Fest inhaltlich einer Nicht-Zeit entspricht –, und zum anderen durch die Zeremonialisierung der inszenierten Darstellung ebenso vorgegeben wird, wobei im zweiten Fall das Paradoxe in der Ausagierung des Nicht-Zeremoniellen, des Exzesses, liegt. (Köpping 1997: 1049)
Indem das Rituelle immer durch das Zeremonielle bestimmt wird, durch eine geregelte (und zumeist tradierte) äußere Form, wie sie auch bei unseren beiden Bildbeispielen überdeutlich wird, bleiben Formalisierung und Auflösung, Disziplinierung und Transgression in einem fragilen Wechselspiel miteinander verwoben: Theatralische Darstellung selbst kann in diesem Sinne als formalisierter und dramatisch gebändigter Exzess verstanden werden, denn Darstellung des Exzesses bedeutet bereits Distanzierung […], jedoch besteht beim Ausagieren immer das Risiko der Grenzverwischung: Zuschauer werden zu Spielern, und beide können real und metaphorisch […] vom Exzess mitgerissen werden […]. Das Gleichgewicht zwischen überschwänglicher Teilnahme am Exzess und distanzierend inszeniertem Zeremonialismus ist nicht immer leicht einzuhalten […]. (Köpping 1997: 1049f.) 3
3 | Zum jederzeit möglichen Umschlag in die Katastrophe vgl. auch den Beitrag von Anna Zeitler in diesem Band.
Paradoxe Präsenzen
Bezieht sich Köpping in seinen Ausführungen zum Exzess ersichtlich auf das Verhalten der am Fest Teilnehmenden und ihre physische Einbindung in die Dialektik von Rahmung und Überschreitung, so ist das Fest aber noch in anderen Hinsichten von einer konstitutiven Verausgabung, einem exzessiven Rausch der »Verschwendung« (Hugger 1987: 14), einer »inszenierte[n] Fülle« (Assmann 1991: 15) gekennzeichnet, die wiederum im bewussten Kontrast zur alltäglichen Affektkontrolle und »Knappheit« (Assmann 1991: 14) steht. Dies betrifft sowohl die Opulenz der angebotenen Speisen und Getränke, die Fülle der sinnlichen Erscheinungen (Licht, Musik, Gerüche etc.) als auch die Pracht des Dekors. Auch die gesteigerte Erfahrung der leiblichen Ko-Präsenz (Fischer-Lichte 2004) von (vielen) Feiernden und Akteuren führt zu einem Erleben des »Reichtum[s] sozialer Beziehungen und Werte« (Hugger 1987: 19), das bis in Figurationen ekstatischer Teilhabe und imaginierter Verschmelzung mit der Festmenge hinüberführen kann. Damit ist zugleich aber eine inhärente Strukturlogik der permanenten Steigerung und Überbietung bei der zyklischen Wiederkehr von Festen gesetzt: Das nächste Fest muss noch opulenter, noch teurer, noch größer, noch rauschhafter werden, noch mehr Gäste anziehen. Die Verausgabung wird seriell und führt in the long run asymptotisch an die Grenze des Mach- und Finanzierbaren, wie es ja gerade anhand von Sportgroßereignissen wie Olympischen Spielen bereits seit längerem ansichtig wird. Wenn Mangel, Knappheit und ein starr reglementiertes Alltagsleben die Voraussetzungen sind, unter denen sich die Phänomenalität des Fests erst kompensatorisch entfalten kann, so erscheint mit den modernen Lebensbedingungen (zumindest in der westlichen Hemisphäre) diese Dialektik nachhaltig ausgesetzt. Entsprechend wird gerade aus der Perspektive einer historischen Festforschung (Hugger 1987) darauf verwiesen, dass ebendieses »sozio-kulturelle System ein anderes geworden« (Hugger 1987: 17), ja, dass die konstitutive Differenz zu einem auf vielen Ebenen als entbehrungsreich erlebten Alltag implodiert ist (Assmann 1991: 27). Ob daher »das Fest der Moderne ein schwacher Abglanz des eigentlichen Festes [ist]« (Hugger 1987: 14), ob es gar »laisiert« (Hugger 1987: 15) wurde, ob »in den modernen und postmodernen Gesellschaften […] inzwischen eine gewisse Auszehrung des Fest-Begriffs zu konstatieren« (Warstat 2005: 103) sein soll – die mit derartigen Befunden ausgerufene ›Krise des Festes‹ rekurriert zum einen verständlicherweise auf die historische Erfahrung der Instrumentalisierung des Festes durch totalitäre Ideologien im 20. Jahrhundert (Warstat 2005: 103). Zum anderen schreibt sich in diese Diagnosen aber auch die Trauer um den Verlust der ›Einheit‹, der ›großen Gemeinschaft‹ der früheren Festkulturen ein: Das neue Fest ist nicht mehr Ausdruck einer geschlossenen Gesellschaft, sondern eher einer Massenkultur […]. Da diese Feste keiner sozialen Notwendigkeit im alten Sinne
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Kay Kirchmann entsprechen, bekommen sie den Charakter des Experimentellen, im Sinne auch des Abwägens […]. Sie haben einen optionalen Charakter, indem ihre Zielsetzung und das Zielpublikum frei gewählt werden können. Sie sind aber nicht mehr Ausdruck und Bestätigung der ›totalen‹ Gemeinschaft wie früher. (Hugger 1987: 17)
Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Warstat (2005: 103): Rausch, Exzess und Vergemeinschaftung finden heute in spezialisierten, technisierten und meist kommerziellen Veranstaltungen statt (Clubs, Sportereignisse, Popkonzerte etc.), die mit dem Fest-Begriff nicht treffend beschrieben sind. Tendenziell hat der FestBegriff eine private, auf Familie und Freundeskreis reduzierte Konnotation entwickelt, während Massenveranstaltungen wie die Love Parade oder Rosenmontagszüge eher unspezifisch als events bezeichnet werden.
Für Lars Deile (2004: 14) hingegen verdankt sich die Klage über »den Bedeutungsverlust, die Sinnlosigkeit moderner Feste« schlicht einer kategorialen Verwechslung von ›Fest‹ und ›Feier‹: Die Gegenwart ist zwar von einer gewissen Unfähigkeit zu Feiern gekennzeichnet, nicht aber von einer Unfähigkeit zum Fest. Es ist ein Zeichen der Postmoderne, dass sich das Fest anders entäußert als in der Idealform der bürgerlichen Moderne, der Feier. (Deile 2004: 14)
Vergleichbar argumentieren auch Sandra Rühr und Eva Wattolik (2017: 11): In der Zwischenzeit hat sich […] das, was man gemeinhin als Fest bezeichnet, in vielfältigen Varianten ausdifferenziert und die Grenze zum Alltag durchbrochen. Ausgehend von diesem Befund kann einerseits die Frage gestellt werden, ob moderne Ausprägungen des Fests, wie die Party, die Show oder das Event, noch identitätsstiftend oder gesellschaftsstabilisierend wirken wollen [Hervorhebung KK]. Andererseits wäre zu überlegen, ob die zahlreichen Festformen nicht auch dazu dienen, eine zunehmend ausdifferenzierte Gesellschaft anzusprechen und deren Ordnungen zu bestätigen.
Mit dem zuvor Gesagten sollen keineswegs die in der historischen Festforschung gut dokumentierten Ablösungen, Verwerfungen und Differenzierungen z.B. zwischen einer archaischen, einer bürgerlichen oder einer ruralen, zwischen einer protestantisch-asketischen und einer karnevalesken Festkultur als solche in Abrede gestellt werden. Jedoch wird man einer strukturellen Besonderheit des Festes nicht gerecht, wenn man den Übergang von sakralen zu profanen Festen als radikalen Paradigmenwechsel (Hugger 1987: 15) begreift – nämlich der paradoxen Ko-Präsenz verschiedener, einander eigentlich ausschließender Zeitordnungen im Festgeschehen.
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Die ›andere Zeit‹ des Fests Es war schon verschiedentlich die Rede von der Zeit des Festes als einer ›anderen‹ oder gar einer ›Nicht-Zeit‹. Und wir hatten bereits auf die immanenten Zeitlichkeits-Phänomene wie Liminalität, Periodizität, Überschreitung etc. aufmerksam gemacht, die für das Fest konstitutiv sind. Jedoch greift das Temporale in einem noch sehr umfassenderen Sinne auf die Struktur des Festes aus. Köpping spricht daher von einer grundsätzlich paradox verfassten Zeitlichkeit des Festes: Das Fest ist eigentlich als ein kalendarischer Hiatus zur Trennung der normalen Zeit des Schaffens und Arbeitens und Perioden der Ruhe und des Kultur angelegt, scheidet also das Gewöhnliche vom Außerordentlichen, das Profane vom Heiligen. Andererseits ist das Fest genau diejenige Zeit, die außerhalb von Chronologie, Historizität und Periodisierung liegt, oder noch betonter, Festzeit ist diejenige Zeit, die der normalen Zeit erst ihre Legitimation, ihre Begründung und Heiligung gibt, indem sie Taten der Ur- oder Nicht-Zeit (illud tempus als ›ewig dauernd‹ oder ›ohne Dauer‹ verstanden), oder mythisch gesprochen, auf die Schöpfung erinnernd, reflektierend und wiederholend rekurriert. Festzeit ist insofern liminale Zeit, als sie sowohl Geschichtlichkeit durch Periodisierung und die Zeiteinheiten differenzierbar macht, dadurch aber selbst eigentlich außerhalb der Zeit und vor der Zeit angesiedelt bleibt. […] [I]n der Festzeit bricht die Nicht-Zeit, die U-Chronie, in die Geschichtlichkeit ein. (Köpping 1997: 1048f.)
Eine analoge Denkfigur findet sich bei Assmann (1991: 26): Die Feste, die ›die Normalzeit an die Urzeit zurückbinden‹, geben ›Ur-Kunde über den Sinn des Ganzen‹. Im Fest erinnert sich der Mensch seiner Zugehörigkeit zu einem umfassenden ›Ganzen‹, das den Charakter sowohl des Sozialen als auch des Heiligen hat. Der entscheidende Punkt ist der Zwang zur Begehung. Die ›andere Zeit‹ existiert nur in der festlichen Begehung. Das Fest ›verweist‹ nicht auf die mythische Urzeit, sie [sic!] inszeniert sie und holt sie ins Präsens hinein.
Und auch Alois Ecker macht auf die immanent »paradoxe[n] Strukturen in Festkulturen«, gerade im Hinblick auf ihre Temporalität aufmerksam: Nicht nur im Ritual der Feste und in der Zeremonie lag ein Aspekt der Aufhebung von realen gesellschaftlichen Ungleichheiten und Machtverhältnissen. Auch das zeitlich wiederkehrende Ereignis (›Alle Jahre wieder …‹; Wiederholung im Jahresrhythmus; Wiederholung in magischen oder mythologischen Zyklen) tat seine Wirkung: Bezogen auf das uns heute geläufige Verständnis von Zeit und historischem Wandel entlang eines linear fortlaufenden Kalenders suggeriert die zyklische Struktur von Zeit die Aufhebung
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Kay Kirchmann des Wandels. Sie trägt damit zur Enthistorisierung von konkreter menschlicher Erfahrung bei […]. (Ecker o.J., o.P.)
Sowohl implizit wie – bei Köpping – explizit rekurrieren diese Befunde auf die berühmten Studien des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade (1957: 40) zur ›profanen‹ und ›heiligen‹ Zeit. Eliade weist darauf hin, dass die heilige Zeit sich der Logik des Chronologischen entzieht, sich in ihrer Substanz weder verändert noch erschöpft, sodass sie reversibel, ja »unendlich oft wiederholbar« ist. Und der Ort einer solchen »Wiedervergegenwärtigung« (Eliade 1957: 40) der Schöpfungs- oder Ur-Zeit ist eben das Fest: Mit jedem periodischen Fest kehrt man zurück zu derselben heiligen Zeit, die sich in dem Fest des Vorjahrs oder in dem Fest vor einem Jahrhundert manifestiert hat. […] [M] an findet in dem Fest zurück zur ersten Erscheinung der heiligen Zeit, wie sie sich ab origine, in ille tempore erfüllt hat.« (Eliade 1957: 40)
Das (religiöse) Fest dient in seiner Rückkehr zum Ursprung einer periodischen Erneuerung, einer »Wieder-Geburt« (Eliade 1957: 42) der es zelebrierenden Gemeinschaft. Die Riten, genauer: die Re-Inszenierungen eines wie auch immer definierten Ursprungsmoments, stellen dabei sicher, dass das Fest »eine Gedächtnisfeier, ein Sich-Erinnern« (Eliade 1957: 60) wird. Auch Assmann hebt die zentrale Bedeutung der »zeremoniellen Kommunikation« für die Kommemoration eines gemeinsamen Anfangspunktes hervor: Damit ist das Fest als Urform des kulturellen Gedächtnisses bestimmt. Es ist der sich erinnernde, der in ›zwei Zeiten‹ lebende Mensch, der zweidimensionale Mensch, der Feste feiert. Und es ist die ›andere Zeit‹, die im Fest vergegenwärtigt, d.h. zur Gegenwart gemacht wird. (Assmann 1991: 25)
Eliade (1957: 41f.) selbst trennt zwischen der ›profanen Dauer‹ und der im Fest reaktualisierten ›heiligen Zeit‹ und weitet dabei die Basisdifferenz zwischen Alltag und Fest zugleich auf die Dichotomie zwischen religiösen und nichtreligiösen Gruppierungen aus. Zudem grenzt er sein Verständnis einer im Grunde archaisch gedachten mythischen Festkultur von den Zeitkonzepten der großen monotheistischen Religionen ab (Eliade 1957: 65ff.). Andererseits deutet er aber an, dass gerade bei Konstruktionsriten und Neujahrsfesten das Sakrale ins Profane hinüberreicht (Eliade 1994: 89f.), die Dichotomie also doch weniger fundamental ist, als er selbst es theorieimmanent eigentlich voraussetzt. Nun wäre es freilich unsinnig, wollte man behaupten, dass in heutigen Festen die Reaktualisierung von Gründungs- oder Ursprungsmomenten mit den gleichen Glaubensgewissheiten vollzogen würde wie im sakralen Fest archaischer Kulturen. Darum geht es aber auch nicht: Entscheidender ist, dass
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im Fest auch der Moderne und Postmoderne sich immer wieder solche rituellen Vergegenwärtigungen eines kollektiv memorierten Ausgangspunktes finden, sei es in Gestalt von Nationalfeiertagen, Einweihungsriten, Eröffnungszeremonien – immer wieder rekurriert das Fest auf das, was die es zelebrierende Gemeinschaft als geteilten Ausgangspunkt versteht und in der rituellen Wiederholung affirmiert. Mehr noch: In Abgrenzung von einer als Schisma gedachten Gegenüberstellung von profaner und sakraler Zeit, von Kosmogonie und Geschichte, Mythos und Chronologie scheint mir ein konstitutives Merkmal noch des heutigen Festes darin zu bestehen, dass es diese eigentlich inkompatiblen Zeitkonzepte zu einer idealtypischen Ko-Präsenz und damit auch zu einer symbolischen Neutralisierung ihres jeweiligen Geltungsanspruches führt. Im Fest sind Mythos und Geschichtlichkeit, Ursprung und Gegenwart, sakraler Schöpfungsmoment und profaner Gründungsakt gleichermaßen präsent. Das Fest wäre insofern ein hervorgehobener Ort und Zeit-Raum, als diese paradoxen Präsenzen nur dort und dann (vorübergehend) möglich sind und zugleich betont ausgestellt, also präsentifiziert werden. Darin läge zugleich seine konstitutive Differenz zum Alltag, der eine solche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus naheliegenden Gründen als dysfunktional abweisen muss. Und genau darin erweist sich die Fest-Zeit als eine ›andere‹ Zeit. Die eingangs aufgeführten Bildbeispiele zeigen diese Verschlungenheit der Zeiten paradigmatisch auf: So wie bei jeder Olympiade wurde auch bei der Eröffnungsfeier in Atlanta sowohl den antiken als auch den neuzeitlichen Vorgängerzeremonien Tribut gezollt und im Schattenbild antiker Kämpfer mit der hochtechnisierten Gegenwart der aktuellen Eröffnungsfeier synthetisiert. Auch die Lichtbild-Projektionen am Passauer Dom rekurrieren auf diverse Ursprungszeiten, wie sie in den einschlägigen Jahreszahlen aufgerufen werden, verbinden diese Historizität jedoch mit den sakralen Ereignissen der Heilsgeschichte, bis sie im Schlussbild der Verkündigungsszene eine weitere ›Wieder-Geburt‹ (hier typologisch verstanden als Erneuerung des Schöpfungsversprechens des Alten Testaments im Neuen Testament) zelebrieren. So wie auf der spatialen Ebene Innen und Außen invertiert werden, so werden auf der temporalen Ebene geschichtliche und religiöse Zeit miteinander verwoben – paradoxe Präsenzen in jeder Hinsicht. Und die in ihnen vergegenwärtigten ›heiligen‹ Ursprungszeiten sind ganz im Sinne Eliades überdies ›unendlich oft wiederholbar‹ – jeden Freitag in Passau, alle vier Jahre bei Olympischen Eröffnungszeremonien.
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Das Fest und seine Medien Wie wir schon sehen konnten, wird in der Festforschung immer wieder die zentrale Bedeutung des Rituals betont: Die leibliche Ko-Präsenz der Feiernden überschneidet sich in der Re-Inszenierung sinnstiftender Ursprungsfigurationen mit derjenigen der Akteure und führt zu einem gesteigerten Erleben körperlicher Präsenz. Paradigmatisch für eine solche stark an der Performativität des Rituellen und Zeremoniellen orientierte Forschungsperspektive sei noch einmal Assmann angeführt, der dem Fest attestiert, es sei »auf konkrete Verkörperung und aktuelle Inszenierung angewiesen. Es existiert in der Form gelebter und inszenierter Erinnerung« (Assmann 1991: 25). Die Fokussierung des Performativ-Theatralen im Fest hat sich fraglos als eine fruchtbare Heuristik und Methodik erweisen, jedoch gerät darüber zuweilen eine nicht minder wichtige Komponente aus dem Blick – die Medialität des Festes. Auf der Grundlage eines funktionalistischen Medienbegriffs kann man zunächst sogar das Fest insgesamt als »Medium oder ›Ort‹ kultureller Erinnerung« oder noch allgemeiner als Medium der »Gemeinschaftsbildung« (Assmann 1991: 13) verstehen. Entsprechend fragt auch Klaus Krüger (2009: 108) dezidiert nach der Medialität […] von Festen als einer ihnen zugrunde liegenden und inhärenten Struktur und als einer in ihnen vermittelten Koexistenz heterogener Vorstellungen und Referenzen, Sinnbezüge[n] und Imaginarien, Materialitäten und Performanzen.
Ließe sich dieser Zusammenhang durchaus sogar noch weiter fassen, etwa mit dem Konzept des Dispositivs im Sinne von Andrea D. Bührmann und Werner Schneider (2008: 32f.), das »gesellschaftliche Praxis, die sozialen Beziehungen zwischen Menschen, ihren Umgang mit den sie umgebenden ›Dingen‹ sowie ihre damit jeweils verbundenen (Selbst-)Erfahrungen« (siehe auch Rühr/Wattolik 2017: 12) gleichermaßen umfasst, so kann die Materialität des Medialen im Fest aber nicht vollständig unberücksichtigt bleiben. Sowohl unsere Bildbeispiele als auch das weiter oben zur opulenten Sinnlichkeit des Fests Ausgeführte verdeutlichen doch bereits, dass in einem sehr viel konkreteren und zugleich umfassenderen Sinne Medien immer schon genuiner Bestandteil von Festen sind. An anderer Stelle habe ich daher vorgeschlagen, die am Fest beteiligten Medien wie folgt auszudifferenzieren: 1. ›in situ-Medien‹: unmittelbar in das Festgeschehen integrierte Medien (Architektur, Bühnen, Skulpturen, Ausstattung wie Fahnen und Tafeln etc.), 2. ›Überlieferungsmedien‹/Quellen: Medien zur Bewahrung, Aufzeichnung, Tradierung des Fests (Texte jedweder Art, Bilder, Zeichnungen, Filmaufnahmen, Fotografien etc.),
Paradoxe Präsenzen 3. ›Übertragungsmedien‹: Echtzeitmedien, die live (oder zeitversetzt ausgestrahlt) vom Festgeschehen berichten (Fernsehen, Radio, Internet-Streams etc.) als auch 4. ›immaterielle Medien‹: Medien ohne Aufzeichnungs-/Bewahrungscharakter, […] nicht technisch (Stimme, Körper, Geste etc.), respektive deren Zusammenspiel in der Konstruktion einer das einzelne Fest organisierenden Wahrnehmungs(an)ordnung, also einer dispositiven Struktur. (Kirchmann 2017: 9). 4
Geht man von der konstitutiven Prägekraft des Medialen auf die durch Medien (mit)gestalteten kulturellen Formen aus, so muss dem Medialen eine weit über den Status der bloßen (technischen) ›Zutat‹ hinausgehende Relevanz für die Struktur des Festes zugesprochen werden, wie auch Krüger betont: [W]as den Prozessen kultureller und gesellschaftlicher Sinnkonstitution letztlich zugrunde liegt, […] [ist] ihre mediale Dimension und Verfasstheit, sei es im Hinblick auf ihre materiellen, physischen und körperlichen oder auf ihre kognitiven und symbolischen Aspekte, auf ihre anthropologischen oder performativen, ihre ästhetischen oder ihre zeichenhafte Aspekte […], [und] dass sie ihren Status also nicht anders als in Abhängigkeit von medialen Präsenzeffekten zu generieren scheinen. […] Da Medien diese Wirksamkeit nicht nur hervorbringen, sondern sie im Zuge dieser Hervorbringung immer zugleich auch ausstellen, ist Präsenz also nicht als eine einfach gegebene zu erfahren, sondern als eine, die sich in ihren Effekten zugleich auch selbst präsentiert. (Krüger 2009: 106)
Auch hierfür können unsere beiden Bildquellen als Beleg herangezogen werden: Ihr je spezifischer Umgang mit Licht (Schattenbild, Projektion) führt zu einer ausgestellten Präsenz ihres medialen Effekts, lenkt den Blick auf die jeweiligen Hervorbringungsformen des Festlichen im und durch das Medium. Dergestalt verkoppelt sich Präsenz im Sinne eines sinnlich wahrnehmbaren »Produkt[s] medialer Wirksamkeit« bzw. »dem medial bestimmten Effekt ihrer Erfahrbarkeit und Sichtbarkeit« (Krüger 2009: 106) mit den oben beschriebenen Phänomenen der Vergegenwärtigung. Auch hier treten Repräsentation bzw. Präsentifikation verschiedener Zeiten (Sinn) und ausgestellter ›medialer Präsenzeffekt‹ (Sinnlichkeit) nicht in ein Ausschlussverhältnis, sondern ergänzen einander in einer Figuration der (im doppelten Wortsinne) Ko-Präsenz.
4 | Diese Überlegungen sind in dem Sammelband Medien im Fest – Feste im Medium (Rühr/Wattolik 2017) erschienen, der Ergebnisse einer lang jährigen interdisziplinären Forschungsarbeit am Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrum (IMZ) der FAU Erlangen-Nürnberg dokumentiert.
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Die Feste des Fernsehens Wenden wir nun den Blick von den ›in-situ-Medien‹ zu den ›Übertragungsmedien‹ und deren Einfluss auf das Fest. Rühr und Wattolik denken beide Medientypen diesbezüglich in eins, nämlich im Hinblick auf ihre spezifischen Koppelungs- und Rückkoppelungseffekte für bzw. auf das Fest: Wie wirkt sich nun die Integration von Medien in das Festgeschehen auf die Interaktionsmöglichkeiten innerhalb der Festgemeinschaft aus und wie verändert sich wiederum das Festhandeln, wenn Medien zu dessen Übertragung oder Speicherung genutzt und neue Adressatenkreise erreicht und angesprochen werden? Konzepte der ›Unmittelbarkeit‹, ›Gemeinschaft‹ und ›Ko-Präsenz‹ müssen bei der Koppelung von ›Medium‹ und ›Fest‹ neu gedacht werden, da technische Medien dazu beitragen können, Teilhabe ohne ›Unmittelbarkeit‹ zu erlauben. (Rühr/Wattolik 2017: 12)
Wenn wir diesen Zusammenhängen nun anhand des klassischen5 Live-Fernsehens nachgehen wollen, so deshalb, weil zwischen Fest und Live-Fernsehen vielfältige Strukturanalogien bestehen, welche die wechselseitige Faszination und Attraktivität füreinander plausibel machen; bekanntlich war die erste weltweite Live-Übertragung die Krönung Elisabeths II. im Jahre 1953 (Hallenberger/Schanze 2000: 14). Die Forschungslage zum Thema Liveness allgemein und zum Live-Fernsehen speziell ist längst ausufernd,6 sodass ich mich im Folgenden v.a. auf diese strukturellen Affinitäten beschränken werde, die sich im Kern – nach dem zuvor Ausgeführten wenig überraschend – als temporal begründet erweisen. Der hohe Anteil von vorproduzierten Sendungen, die als Aufzeichnungen ausgestrahlt werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Live-Sendung »gegen das Prinzip des Repertoires, der Konserve, die den Programmfluss garantiert, [steht] [und dadurch] zum besonderen und außergewöhnlich quotenträchtigen Bestandteil des Fernsehprogramms« (Hallenberger/Schanze 2000: 14) avanciert. In einer ersten Binnendifferenzierung 7 kann man dabei zwischen Live-Ereignissen unterscheiden, die als Stö5 | Damit ist das Live-Fernsehen nach Einführung der Magnetaufzeichnung (MAZ) in den 1950ern und vor seiner gegenwärtigen Diffusion in Online-Mediatheken und Streaming-Diensten gemeint (vgl. Gesellschaft für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 2017). 6 | Vgl. exemplarisch die Positionen in Hallenberger/Schanze 2000 sowie den Beitrag von Anna Zeitler im vorliegenden Band. 7 | Es wird im Weiteren nicht unterschieden zwischen externen Festen, also solchen, die nicht vom Medium selbst angesetzt werden, und internen, wie z.B. den großen TVShows, Jubiläumssendungen, dem Eurovision Song Contest oder vergleichbaren Formaten. Dies ist darin begründet, dass der Einfluss des Mediums auf das Festgeschehen
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rung (z.B. Katastrophen, Anschläge) und solchen, die als symbolische Auf hebung (Fest, Show) des normalen Programmablaufs figurieren: Bezugspunkt televisueller Ereignisformen ist dabei jene (vorerst vage) Figur eines herausragenden, singulären, besonderen Geschehnisablaufes, die zunächst einmal dem landläufigen Verständnis des Ereignishaften durchaus entspricht. Jedoch ist eine absolute Definition von ›Ereignis‹ bekanntlich nicht möglich. Vielmehr erweist sich die Kategorie als hochgradig relativ, bleibt sie dialektisch rückgebunden an eine Figuration des ›Normalen‹, zu der sie sich dann als das Herausragende, Singuläre, Abweichende erst setzen kann. […] Die Occasionalität des Fernseh-Ereignisses generiert sich als zeitliche und performative Singularität erst und allein vor dem Hintergrund televisueller Ereignisnivellierung als der dominanten Temporalstruktur dieses Mediums. (Kirchmann 2000: 92)
Ähnlich argumentieren auch Daniel Dayan und Elihu Katz (2002: 428) in ihrer Analyse des Live-Fernsehens: »Medienereignisse sind ein Beispiel für diese Dimension der Unterbrechung. Sie setzen alle anderen Sendungen ab, bringen die Uhr des Fernsehens zum Stillstand und können, wenn sie selbst auf Sendung sind, nicht unterbrochen werden. Ihre performance gehört einer ›heiligen‹ Zeit an.« Das Live-Ereignis ist also gleichsam das ›Moratorium‹ des Fernseh-Alltags, ablesbar v.a. daran, dass für es die rigiden Schematismen der TV-Programmierung – also die konstitutive zeitliche Binnenorganisation des Mediums – ausgesetzt werden: Laufende Sendungen werden unterbrochen, Sondersendungen werden spontan ins Programm integriert (bei der Störung), fest installierte Programmplätze werden verschoben, die eigentliche vorgesehene Sendedauer z.T. exorbitant ausgedehnt (beim Fest).8 Beiden Figurationen des Ereignisses, der katastrophischen wie der rituellen, ist also gemein, dass sie als Einspruch gegen den Hegemonieanspruch der operationalen Zeitordnung wirken und in der Aussetzung linearer Zeitlichkeit ein Moment des StatischInstantanen artikulieren, das als symbolische ›Befreiung‹ von sozialer Zeit verstanden und zelebriert werden kann. (Kirchmann 2000: 94f.)
auch bei externen Festen derart groß ist, dass die Differenz nicht mehr klar zu ziehen ist (Dayan/Katz 2002: 414f., 450). 8 | Diesbezüglich legendär war bekanntlich die von Thomas Gottschalk moderierte ZDF-Show Wetten dass…?, die z.T. über eine Stunde länger dauerte als vorgesehen, obwohl danach mit dem Heute-Journal und dem Aktuellen Sportstudio zwei weitere LiveFormate warteten. Letztere durften ihre Sendezeit jedoch nicht überziehen, weil ihnen – anders als Wetten dass…? als tägliches bzw. wöchentliches Format der Status des Alltäglichen zukam.
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Während jedoch die Störung schlicht nicht disponierbar ist, weil sie als »Abweichung, als Unfall, Katastrophe, Eruption naturaler wie sozialer Provenienz« (Kirchmann 2000: 94) emergiert, fügt sich »das Fest als vorübergehende Aufhebung der linear-operationalen Zeitordnung, aber als eine sozial verabredete und terminierte, insofern eben vorab geplante Entität« (Kirchmann 2000: 93) dem Planungsbedarf des Mediums in idealer Weise. Entsprechend kennt die Live-Übertragung des Fests ihrerseits auch etablierte Formen der Liminalität (Dayan/Katz 2002: 445), der Rahmung, und zwar in Gestalt von Vorberichterstattungen und der Nachbereitung des festlichen Anlasses. Dayan und Katz (2002: 442) ordnen diese Formate der Peripherie des eigentlichen Ereignisses zu, die dem Fernsehpublikum bei der Vorbereitung »der liturgischen Unterbrechung der Alltagsgeschäfte« helfen und es anschließend wieder ins Alltagsleben hinüberführen – televisuelle rites de passage. Wie beim Fest selbst ist die Rückkehr in den Alltag nicht zuletzt durch den Wiedereintritt in eine geregelte, ›profane‹ Zeit gekennzeichnet, hier nun in Form der Wiedererrichtung der normalen Programmstruktur und ihrer Zeitschemata. Auch die Periodizität des Festes wird vom Live-Fernsehen immer schon mit abgebildet, indem auf der Kommentarebene permanente Rückverweise auf schon übertragene und Ausblicke auf noch kommende Festanlässe gegeben werden. (So z.B. wenn bei königlichen Hochzeiten auf frühere Zeremonien verwiesen wird und die Ereignisse miteinander verglichen und kontextualisiert werden). Wenngleich die Live-Übertragung eines Fests den Programmfluss aussetzt, kann und will das Medium nicht vollständig seiner dominanten Strukturkomponente – nämlich: Serialität – entsagen. Periodizität des Festes und serielle Logik des Mediums lassen sich vielmehr ideal aufeinander beziehen. Dies gilt jedoch auch im Hinblick auf das weiter oben dargestellte Prinzip der Überbietung: Andreas Sudmann (2017) attestiert dem Fernsehen generell einen Hang zur ›seriellen Überbietung‹ und ›exponierten Steigerung‹, wie er in der Strukturlogik der Fernsehserie im engeren Sinne metonymisch ansichtig wird. Analog zum Steigerungszwang des Festes gilt auch hier: Die nächste Live-Sendung muss technisch noch aufwändiger und ausgefeilter, noch opulenter und exzessiver werden. Dayan und Katz » (2002: 414) sprechen hinsichtlich der zeremoniellen Dimension des Fernseh-Fests von der Kreation eines »hybriden Rituals, in welchem das Fernsehen die »performance der Organisatoren mit seiner eigenen performance [überlagert]« (Dayan/Katz 2002: 413). Zu diesen rituellen Elementen gehören z.B. spezielle Logos und musikalische Ouvertüren der Sendung, die Kreation eigener Rollen (Studiomoderator, der Außenreporter vor Ort, Experten für das Ereignis etc.), die Wahrung eines würdevoll-angemessenen Tonfalls auf der Kommentarebene und die zusätzliche Überhöhung des übertragenen Fests durch ein eigenes Narrativ, das dem Publikum die Bedeutung des Fests vermittelt und zugleich Interpretationen des Gesehenen zur Verfügung
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stellt (Dayan/Katz 2002: 420ff.). Die quasi-sakrale Aura, mit der die Rituale des Fernsehens das Fest umgeben, erklärt sich aus der unverbrüchlichen »Loyalität gegenüber dem Ereignis« (Dayan/Katz 2002: 416). Die per se sinnstiftende Funktion des Fests darf zu keinem Moment in Frage gestellt, sondern muss vielmehr unentwegt befestigt und verstärkt werden, weshalb jedwede Form einer kritischen Berichterstattung (zumindest für die Dauer der LiveÜbertragung) verpönt ist. Da die ›heilige Zeit‹ des Fests nicht unterbrochen werden darf, installiert sich das Fernsehen gleichsam als ›Bodyguard‹, der »die Stimmung streng vor jeder Störung beschützt« (Dayan/Katz 2002: 428). Natürlich ist das Fest seinerseits, nicht zuletzt wegen des ihm innewohnenden Exzesses, weder davor gefeit urplötzlich in die Katastrophe umzuschlagen, noch ist es immun gegen Störungen wie den Auftritt politischer Aktivisten, den Platzsturm von Flitzern und ähnlichen Phänomenen, wie es sie in der Geschichte des Live-Fernsehens immer wieder gegeben hat. Doch reagiert das Fernsehen auf solche Interventionen mit einem dezidierten ›Wegschauen‹, indem die Kamera von der Störung wegschwenkt, in gewisser Weise die Augen des Publikums vor dem ›unerhörten Zwischenfall verschließt‹. Was die weiter oben aufgeworfene Frage nach der Veränderung der Festgemeinschaft und der Teilhabe am Festgeschehen durch die Live-Übertragung angeht, so haben Dayan und Katz (2002: 413) in ihrer Untersuchung eine ganze Reihe von Strategien identifiziert, die sich das Medium zunutze macht, »um die Zuschauerinnen und Zuschauer für die ihnen vorenthaltene Teilhabe zu entschädigen«: Dazu zählen die Homogenisierung des Blicks auf das Geschehen durch die nur dem Fernsehpublikum zugängliche Kameraperspektive, die Wahl von Detailaufnahmen, das Aufzeichnen der Reaktionen der Festgemeinschaft auf das Geschehen u.v.a.m. »Statt dem Betrachter Äquivalente der zeremoniellen Erfahrung anzubieten, bietet es [das Fernsehen, KK] die ›Erfahrung, nicht dort gewesen zu sein‹« (Dayan/Katz 2002: 441) – und zwar wohlgemerkt im Sinne eines surplus. Gerade die zunächst störende räumliche Distanz zum Festgeschehen selbst wird dergestalt umgedreht zu einem ›Mehr an Teilhabe‹, das als Privileg des Fernsehpublikums inszeniert wird. Götz Großklaus (2004: 18) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich bei der Live-Übertragung aufgrund der medialen Multiplikation auf den TV-Schirmen der Welt […] ein ganz unbestimmter Raum öffnet, der nichts mehr mit dem Lokal-Raum des Geschehens zu tun hat: ein virtueller Raum, in dem eine virtuelle Masse zeitgleich dem entfernten Event beiwohnen kann. […] Es ist eine Masse, die sich nicht mehr im Raum, sondern in der Zeit versammelt, genauer an einer bestimmten Zeitstelle, eben jener, an der das beobachtete Massen-Event ›real‹ stattfindet.
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Und in Anlehnung an Niklas Luhmann verweist er darauf, dass »die Masse vor dem Bild-Schirm folgerichtig in die Position eines Beobachters von Beobachtern (Beobachtungen) kommt«, ohne sich dessen immer bewusst zu werden, sondern »sich illusionär […] als ›Beobachter erster Ordnung‹« (Großklaus 2004: 19) wähnt. Auch auf dieser Ebene entwickelt das Fernsehen spezifische Strategien, um das Paradoxon der ›virtuellen Teilhabe‹ zu kaschieren, das Schisma zwischen »global zerstreuten Massen vs. lokal verdichteten Massen« (Großklaus 2004: 23) zu nivellieren. Eine Strategie besteht in der Inszenierung dessen, was Dayan und Katz (2002: 438) das »Ansteckungsmodell« nennen. Die (begeistert-ekstatische) Teilhabe am lokalen Festgeschehen ›springt‹ quasi über die Übertragungswege hinweg ›über‹ auf die dispersen Fernsehpublika, die wiederum vom Fernsehen im Zustand der erfolgreichen ›Ansteckung‹ gezeigt werden, womit zugleich eine weitere Beobachtungsebene eingezogen wird: Wir als Fernsehpublikum beobachten andere Publika beim Fernsehen, die ihrerseits das lokale Festpublikum beobachten. Und die ›Ansteckung‹ manifestiert sich in der Aufhebung der räumlichen und ontologischen Distanz in Gestalt von Mitfiebern, Mitleiden, Fähnchen schwenken etc. (Dayan/Katz 2002: 438f.). Diese komplexe Wahrnehmungsanordnung, die ostentativ betont, dass die emotionale Teilhabe am Festgeschehen sehr wohl über und durch das Fernsehen möglich ist, liegt z.B. dem Konzept des public viewing zugrunde, das vom Fernsehen wiederum in die Privathaushalte rückübertragen wird: Wir beobachten über das Fernsehen Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen, die eine Fernsehübertragung z.B. eines Sportgroßereignisses und dessen lokale Akteure und Zuschauer beobachten und mit diesen ›mitfeiern‹. Hier zeigt sich auch noch einmal die von Krüger weiter oben angesprochene reflexive Dimension der medialen Präsenzerzeugung: Das Fernsehen stellt seine eigenen Mechanismen zur Produktion von Präsenzeffekten in einer potentiell endlosen Schleife von unterschiedlichen Beobachtungsniveaus aus und produziert gerade darin eine neue Form von Ko-Präsenz, die ihre technische Bedingtheit letztlich transzendiert. Wie weit diese Feedbackschleifen gehen können, zeigt die 1994 u.a. von ARTE koproduzierte TV-Dokumentation The Final Kick von Andi Rogenhagen und Alberto Signetto. Anlässlich des Endspiels der Fußball-WM 1994 zwischen Brasilien und Italien drehten die Filmemacher an insgesamt 40 Standorten weltweit und filmten die vor den Bildschirmen versammelten Publika und deren Reaktionen auf das Spiel: in einem tschechischen Kloster, in einem Harem in Kamerun, in einer Fabrikhalle, in Privathaushalten – wo auch immer sich die jeweiligen Zuschauerkollektive zu einer virtuellen globalen Festgemeinschaft verschalteten. Obwohl das Endspiel als das ereignisärmste in der Geschichte des Wettbewerbs gilt – nach 120 Minuten Spielzeit hatten sich beide defensivstarke Teams nicht eine einzige Torchance erspielt, sodass ein Elfmeterschießen die Entscheidung bringen musste – betont die Dokumenta-
Paradoxe Präsenzen
tion die erfolgreiche ›Ansteckung‹ und damit die ›echte‹ Teilhabe immer wieder in Gesten des Feierns und Leidens und in eruptiven Emotionen vor den Bildschirmen – wie bei jedem Fest sind auch hier die Übergänge zwischen Zuschauenden und Agierenden fließend. Die eigene Liminalität dieses Fernseh-Fests wird ausführlich gewürdigt, indem Szenen der Vorbereitung auf das Ereignis (z.B. die Ausrichtung der Antenne) ebenso präsentiert werden wie das abschließende Ausschalten der Fernseher und das Verlassen der diversen Örtlichkeiten – die virtuelle Festgemeinschaft löst sich langsam wieder auf. Bleibt abschließend noch zu fragen, wie sich das Fernsehen zu den oben untersuchten paradoxen Präsenzen des Fests verhält. Es ist evident, dass die Live-Übertragung die entsprechenden Inszenierungen, Rituale und medialen Effekte im doppelten Wortsinne ›aufnimmt‹. Zugleich aber – wir hatten dies schon am Beispiel der Serialität sehen können – ergänzt und unterfüttert es diese mit seinen eigenen temporalen Logiken. Die Soziologin Irene Neverla (1992: 59) hat in einer bemerkenswerten Untersuchung das »Fernsehen als soziale[n] Zeitgeber« definiert, dessen sehr unterschiedliche Nutzung durch die Zuschauer direkt auf die Vielfalt der im Fernsehprogramm aktualisierten Zeitstrukturen zurückzuführen sind. Das Medium bietet sowohl für instantane, endlose wie periodische Rezeption entsprechende Formate an, die sich optimal mit den jeweiligen Zeitbudgets der Nutzer verzahnen lassen, wie Neverla im empirischen Teil ihrer Studie belegt. Im Einzelnen unterscheidet sie in der »immerwährenden Präsenz und Kontinuität« (Neverla 1992: 62) des Fernsehens zwischen Occasionalität, Zyklizität, Aktualität, Endlos- und Nullzeit, die sich in der »Laborzeit« (Neverla 1992: 59) des Mediums überlagern, während die Programmstruktur als Ganzes der linear-abstrakten Zeit verpflichtet bleibt. Sie resümiert: Das Fernsehen […] ist Symptom und Komponente der Temporalstruktur unserer Gesellschaft mit ihrer linear-abstrakten Zeit, komplementär durchmischt von Elementen der occasionalen und zyklischen Zeit. Fernsehen widerspiegelt diese plurale Temporalstruktur einerseits in der linear-abstrakten Kontinuität seines Programmangebots, in der Gleichzeitigkeit seines Aktualitätsbegriffs und im Geschwindigkeitsrausch seiner Bilder; andererseits in den zyklischen und occasionellen Elementen seines Programmschemas und seiner Programmgenres. (Neverla 1992: 74)
Es ist also gewissermaßen die hohe temporale Flexibilität und Vielschichtigkeit des Fernsehens, die sich auf der Innenseite des Programms wie auf der Außenseite des Nutzungsverhaltens gleichermaßen abbildet. Neverla bezieht sich in ihren Ausführungen ersichtlich auf die Makroebene des Mediums, doch lassen sich die von ihr konstatierten pluralen Temporalstukturen natürlich auch auf der Mesoebene der Live-Formate wiederfinden. Denn der scheinbar eindimensionale Ereignisfluss der Live-Übertragung ist ja seinerseits
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durchsetzt von gegenläufigen Elementen: Wiederholungen einzelner Szenen, Rückblicken, seriellen Bestandteilen, instantanen Verdichtungen, permanenten Aktualisierungen, Zeitlupensequenzen etc. Auch die Zeitlichkeitsstrukturen der Live-Übertragung sind mithin so paradoxal verfasst wie die des Festes, auch hier kommt es zur gleichzeitigen Anwesenheit von einander im Alltag gewöhnlich ausschließenden Zeitlichkeitsformen. Und so begegnen und ergänzen sich Zeremonie und Live-Medium im Fernseh-Fest eben in idealer Weise in der temporären Hervorbringung einer ›anderen‹ Zeit.
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Die Katastrophe als ›vergangenes Jet zt‹
D ie K atastrophe als › vergangenes J e t z t‹. M ediale Tempor alisierungen , K onstruk tionen und K onvergenzen in der E reignis (re) pr äsentation des L ive tickers Anna Zeitler
Zukunftsvisionen Als unter dem Titel The Policeman’s Beard Is Half Constructed Mitte der 1980er Jahre die erste rein computerbasiert verfasste Kurzgeschichte der Welt erscheint, drängen sich unter anderem der Wochenzeitung Die Zeit offenbar essentielle Fragen nach der Zukunft des Digitalen und Automatisierten und der Bedeutung des Computers für Kultur und Gesellschaft auf. Kommt bald aller Sinn »aus der Maschine?«, so fragt man sich dort, und muss der vor dem täglichen Sog der Sensationen kapitulierende Medienschaffende seine Handlungsmacht in Kürze endgültig an Denkmaschinen abtreten? Das feuilletonistische Gedankenspiel wird fortgesponnen: Praktisch wäre doch ein Sensationsautomat, der nicht nur Recherche und Informationsbeschaffung, sondern auch zeitgleich die Produktion des Ereignisses selbst vorweg- und übernähme. Die mediale Berichterstattung über Ereignisse ließe sich so praktisch automatisieren: »Je nach Weltlage laden wir das Programm Innen- oder Außenpolitik, rufen die Routen ›Bonn/Kanzlerpanne‹ oder ›Arbeitslose/Unfähigkeit der Regierung‹ auf«; schließlich sei ein Ereignis »ja schon heute kein Ereignis mehr, sondern allenfalls eine Chiffre, ein Informations-Bit aus der ›zweiten Welt‹, der Medienwelt eben« (Horx 1985). Im selben Atemzug allerdings wird Entwarnung gegeben: Auch das Programm Racter ändere nichts an der Tatsache, dass die letzte Sinngebung, die letzte Verantwortungsinstanz immer noch beim einzig wirklich denkfähigen Akteur in diesem Szenario läge, der/m mitnichten entmündigten Leser*in nämlich. Was 1984 noch als zukunfts- und seelenloses Konzept eines automatisierten Ereignis-Expertensystems gelesen werden möchte, sieht sich heute in einem Gegenwartsschock (Rushkoff 2014) bewahrheitet und medienskeptischtechnikdeterministisch als Status Quo einer digitalen Permanenz (Ball 2014) ausbuchstabiert. Vor der Folie eines allgegenwärtigen Aktualitätsparadigmas und vermeintlich unumgänglichen Beschleunigungsimperativs wird dieser Befund in der Fluchtlinie des bevorstehenden Untergangs einer ihrer natürlichen Zeitzyklen mittlerweile vollständig beraubten Gesellschaft narrativiert und bevorzugt den jeweils aktuellsten Auswüchsen der sozialen Netzwerke zugeschrieben. Dass solchen und anderen, ähnlich reduktionistischen Gegenwartsdiagnosen und monokausalen Verkürzungen freilich kritisch zu begegnen ist, muss an dieser Stelle sicherlich nicht ausgeführt werden. Unter der
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Prämisse aber, dass das Mediale zwingend notwendige Bedingung wie Möglichkeit kollektiver Zeiterfahrung und Zeitwahrnehmung ist, lassen sie sich indes medienreflexiv wenden und ermöglichen es so, die Begleit- und Folgeerscheinungen dieses postulierten (digitalen) Beschleunigungskollaps mit essentiellen medientheoretischen Implikationen sowie der grundsätzlichen Funktionslogik medienästhetischer Formbildung und -gebung zu verschalten und einer gegenstandsorientierten Analyse zugänglich zu machen. Aus zwei Gründen respektive aufgrund zweier wesentlicher Strukturmerkmale werden diese Interdependenzen im hybriden Format des Livetickers als Nachrichtenstrom besonders virulent, und beide scheinen ante litteram schon in obiger Zukunftsvision der Zeit auf: Zum einen ist er auf rein formaler Ebene in den Sphären des (Social) Web verortet und basiert dort auf Strategien der Partizipation, Interaktion und Multiselektivität/-optionalität, setzt sich strukturimmanent allerdings gleichzeitig, und das ist weniger als Widerspruch denn als grundsätzliche Funktionsbedingung des Internets an sich zu verstehen, aus unterschiedlichen althergebrachten medialen Formaten zusammen. Zum anderen lässt sich dieses Puzzle- oder Mosaikprinzip auch an und in seiner Generierung von konkreten Inhalten beobachten, wenn aus einem Ereignis einzelne Versatzstücke hervorgehoben werden, um dann im Sinne eines modular aufgebauten digital storytelling wieder zu einem Gesamtnarrativ rückgebunden zu werden. Der Liveticker reagiert auf Ereignisse und (deren) ›Fremdzeit‹, er produziert – oder eher: konstruiert – selbige aber auch gleichermaßen und schafft damit etwas, das als Medienereignis unter den Vorzeichen medialer ›Eigenzeit‹ verstanden werden kann. Nun trifft dies selbstredend auf im Grunde alle anderen Medien der Übertragung in derselben Logik zu – vom Flugblatt über das Radio bis hin zum Fernsehen ist diese konstruktivistische Komponente der Ereignis(re-)präsentation dem Medialen per se eingeschrieben. Doch es ist gerade der Liveticker, der dabei ein in sich höchst paradoxes Temporalisierungs- und Narrativierungskonzept zeitigt, das formal wie inhaltlich im Zusammenspiel von Reduktion auf der einen und Erweiterung auf der anderen Seite als Paradebeispiel eines Konvergenzphänomens ausbuchstabiert werden kann. Dabei nimmt seine inhärente Zeitlichkeit vor allem unter dem Aspekt von ›Liveness‹ – oder eher: dem Versprechen oder Eindruck von ›Liveness‹ – eine konstitutive Rolle ein. Der Liveticker kann mithin an den unscharfen Grenzen zwischen Fragment und Kontinuum, Punkt und Fluss, Dauer und Moment sowie Permanenz und Flüchtigkeit ausgemacht und als paradoxes Phänomen zwischen ›rasendem Stillstand‘‘9 (Virilio 1992: 126f.) und fixiertem Jetzt begriffen werden. Von ähn-
9 | Diese Wendung ist der (kultur-)kritischen Dromologietheorie und dem gleichnamigen Essay Virilios (1990) entlehnt, der die Beschleunigung im und auf dem Bildschirm
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licher innerer Paradoxie ist, wie noch zu konkretisieren sein wird, auch die Katastrophe als solche, und auch deshalb treten die Spezifika des Livetickers bei disruptiven Ereignissen besonders sichtbar zutage. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Versuch, den grundsätzlichen Zusammenhang von Medien und Zeit, der Katastrophe als (Medien-) Ereignis und der elementaren Funktionslogik des Livetickers in den Sphären des Netzwerks anhand konkreter Beispiele fassbar(er) zu machen, und als Vorschlag, die daraus resultierenden heterogenen Temporalisierungen, Konstruktionsleistungen und Konvergenzerscheinungen unter den zeitlichen Modi Eigenzeit und geteilte Zeit, Pausen und Leerstellen sowie Anfang und Ende als besondere Konstruktionsleistungen und Alleinstellungsmerkmale dieses medialen Formats zu begreifen.
Medien-Zeit und Zeit-Räume Der Dualismus von kulturpessimistisch bis dystopisch gefärbter Kritik an der Beschleunigung auf der einen Seite und unbeirrbarem Fortschrittsoptimismus auf der anderen ist beileibe nicht erst der vielzitierten ›digitalisierten Gegenwart‹ eingeschrieben, wie schon ein kürzester kursorischer Blick in die wissenschaftliche wie auch allgemeingesellschaftliche Diskursgeschichte zeigt (u.a. Beck 1994). Vor immer wieder neue Fragen stellen uns indes die konkreten medienwissenschaftlichen Implikationen, an die er untrennbar geknüpft ist. So postuliert McLuhan (1967: 11) bekanntermaßen bereits 1964 das Globale Dorf, in dem elektronische Medien in einem Zeitalter der Information und Kommunikation ebenso unmittelbar wie konstant ein umfassendes Feld interagierender Ereignisse etablieren und jeder/m Willigen aktive Partizipation ermöglichen. Virilios (1992: 126ff.) in den 1970ern entworfenes Theoriegebäude der Dromologie entfaltet die Zeitdiagnose eines technisch bedingt übermächtigen Geschwindigkeitsparadigmas, und auch Flusser (1995: 119ff.) prognostiziert seinerzeit die baldige Omnipräsenz eines rasanten netzartig strukturierten und interaktiven Dialogs in und durch Medien. Wesentlich pejorativer spricht schließlich Baudrillard (1994: 21) gar von einer ›Besessenheit von der Echtzeit‹, in der es darum ginge, Dauer auszumerzen – konkreter: man wolle »[…] die aufgeschobene Zeit, die Entferntheit des Ereignisses auslöschen, sein Ende durch die Freisetzung der linearen Zeit vorwegnehmen und die Dinge beinahe schon erfassen, bevor sie stattgefunden haben.« So heterogen sich all diese Theorien und Theoretiker*innen in anderen Kontexten auch zueinander verhalten mögen, so auffällig gemein ist in ihnen
einem ›wachkomatösen‹, statischen und entmachteten Rezeptionsmodus vor dem Bildschirm entgegenstellt.
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die zentrale These ablesbar, dass Zeit bzw. Zeiterfahrung, hier unter der Figuration der zunehmenden Geschwindigkeit, und Medien, hier mit Fokus auf Medientechnologien, nicht etwa nur punktuell aufeinander verweisen oder zufällige Schnittmengen bilden, sondern jeweils konstituierend zusammenfallen und notwendig aufeinander angewiesen sind. Daraus folgen zwei grundlegende Thesen: Erstens ist Zeit nicht etwa als objektivierbare, absolute Größe, sondern dezidiert als medial erzeugtes Konstrukt und damit auch als abstrakt bleibende, elementare Komponente ›des Medialen‹ selbst zu begreifen. Zweitens gestaltet sich die Beziehung zwischen Medium und gesellschaftlicher, sozialer wie individueller Zeiterfahrung nie monokausal oder -direktional, sondern stets rekursiv (Nowzad 2011: 20f.). Die medialen und temporalen Interferenzen wirken dabei prinzipiell auf drei unterschiedlichen und doch nicht klar voneinander trennbaren Ebenen: Erstens fungieren Medien als Zeit-Vermittler, wenn sich beispielsweise die Eigenzeit von Ereignissen und Geschehnissen in ihnen entfalten können und sie diese erfahr- und erfassbar machen (Vermittlungsebene). Zweitens wirken sie als sozialer Taktgeber und rhythmisieren individuelle wie intersubjektive Alltagszeit auf Makro- und Mikroebene (Strukturierungsebene). Und drittens modifizieren sie gegebene Zeit(lichkeit)en und produzieren etwas, das sich als ›Eigenzeit‹ fassen lässt, indem sie bekannte Wahrnehmungsmuster unterminieren wie auch forcieren und neue Zeitlich(keit)en etablieren (Inszenierungsebene). Medien operieren an der Schnittstelle von Zeit und Gedächtnis10 und können als Kommunikationsmedien in Form »symbolische[r] Zeitaneigungsapparaturen« (Kirchmann 1998: 106) wirksam werden. ›Medienzeit‹ lässt sich demnach im Feld der Einholung von Vergangenheit und Zukunft im Moment der Vergegenwärtigung zwischen Aktualität und Virtualität verorten und ist dabei an verschiedene Praktiken und Prozesse, wie beispielsweise Aufzeichnen, Aktualisieren, Speichern oder Reaktualisieren (Großklaus 2000: 45) geknüpft. Sie dient der Wiederholung und Verfestigung bereits eingeführter, etablierter, aber auch unbekannter Wahrnehmungsräume, die der gewohnten Vorstellung von Zeit(lichkeit) widerlaufen und geronnene Erfahrungswerte neu justieren können. Definiert man Zeit mit Augustinus (2000: 35) als nur in der Gegenwart mögliche Größe11 und den »Augenschein der Wahrnehmung« als »Gegenwart
10 | Der für die Analyse notwendige, aber sehr komplexe Zusammenhang zwischen Medien und kollektivem Gedächtnis und Erinnerungskulturen kann im begrenzten Rahmen dieser Untersuchung nur erwähnt, nicht aber erschöpfend dargestellt werden. Zur Weiterführung sei exemplarisch auf Erll/Nünning (2004) verwiesen. 11 | Augustinus spricht dabei von drei Zeiten, die allesamt aus der Gegenwart heraus gedacht werden müssen: »Es gibt Gegenwart von Vergangenem: nämlich Erinnerung,
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des Gegenwärtigen« (Großklaus 2004: 153), so scheint sich das gerade in ›Ereignismedien‹ am deutlichsten zu kristallisieren. Zum einen steht in deren Praktiken der konstanten Vergegenwärtigung das Hier und Jetzt form- und ausschlaggebend im Zentrum. Zum anderen bedienen sie sich vergangener Ereignisse, die aus der Latenz des kollektiven Gedächtnisses gehoben und reaktualisiert werden, und verweisen mit Prognosen über zeitnahe Entwicklungen wie auch langfristige Auswirkungen auf zukünftige Ereignisse. Ob Flugschrift oder Fernsehen, Medien kontextualisieren und rahmen Ereignisse also sowohl pro- wie auch retrospektiv. Geschehnisse und Ereignisse, sprich: Qualitäten der Gegenwart werden in immer kürzeren Abständen narrativiert, in (latente) Speicher verschoben und archiviert, können aber im Medienzeitfenster späterer Gegenwart erneut erscheinen, und zwar gegen die »Bruchstelle von Erscheinen und Verschwinden, von Aufleuchten und Erlöschen hinweg« (Großklaus 2000: 47f.). Medien verleihen Ereignissen, so ließe sich resümieren, einen zeitlichen (Sinn-)Rahmen und bleiben dabei immer der Gegenwart verhaftet, in der die Tagesbilder der Nachrichten-Sendungen und die Augenblicks-Bilder der live-Übertragungen auf dieselbe Weise wie Bilder des Vergangenen im Replay oder im Zitat aus dem Speicher – und genauso wie neuerdings Bilder des Zukünftigen in einer Wetter-Simulation: immer nämlich übersetzt in die herrschende Zeitform des Präsens [aufscheinen]. (Großklaus 2004: 178)
Nun können an dieser Stelle selbstredend nicht alle Aspekte von Medien-Zeit in toto dargestellt werden, weshalb sich, wie bereits angedeutet, eine gegenstandsorientierte Engführung auf die Aspekte Liveness als »spezifische Organisation von Gleichzeitigkeit« (Engell 2012: 150) empfiehlt. Jedem Live-Medium und jedem als live markierten Übertragungsakt – Lorenz Engell (1996: 135) spricht von einem »technisch bedingte[n] Proprium der elektronisch-instantanen Medien« seit der Erfindung der Telegrafie – ist das Streben nach einer vollständigen Überwindung und Nivellierung räumlicher und zeitlicher Distanzen zwischen Ereignis und Vermittlung konstituierend inne. Liveness versteht sich damit im rein medientechnologischen Sinne als verlustlose, direkte und mittelbare Übertragung, in der die »Zeit von Ereignis, Aufnahme, Übertragung, Botschaft und Betrachtung […] quasi-identisch« (Großklaus 2004: 177) ist. Seinen Fluchtpunkt findet dieser Zweck in absoluter Simultanität bzw. Synchronität und (virtueller) Kopräsenz, oder eher: wenigstens in deren Illusion und – gerinnt doch jede Präsenzerfahrung eines Mo-
Gegenwart von Gegenwärtigem: nämlich Anschauung, Gegenwart von Zukünftigem: nämlich Erwartung« (Augustinus 2000: 35 [Confessiones XI]).
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ments nahtlos zu Vergangenheit, zu Erinnerung – mit Einschränkung durch verlustig gehende Gegenwärtigkeit. Diese (Minimal-)Differenz kann allerdings wieder eingeholt und neu gerahmt werden, was u.a. im exzessiven Gebrauch von Liveness-Markierungen resultiert. In Ergänzung dazu kann Aktualität als Gradmesser dieser in ihrer Absolutheit letztlich unmöglichen Abstandsnivellierung konturiert werden. Diese ist allerdings nur relational, an jeweilige technische Möglichkeiten und Grenzen gebunden und als nicht notwendigerweise zeitlich abhängiges Möglichwerden bestimmbar: Auch ein vergangenes Ereignis kann ungeachtet seines zeitlichen Abstands zur Gegenwart (wieder) aktuell und doch asynchron vermittelt werden. Eines sind Ereignisse zeitlich gesehen aber in jedem Fall: okkasional, d.h., in ihrem Auftreten einmalig, herausgehoben und besonders (Beck 1994: 321) – und mitunter auch periodisch bzw. zyklisch im Sinne einer wiederkehrenden Aktualität, wie es beispielsweise bei rituellen Festen der Fall ist. Auf den zum Schlagwort avancierten und meist synonym zur Liveness gebrauchten Begriff der ›Echtzeit‹ bzw. ›real time‹ wird notabene im Folgenden bewusst verzichtet, denn: Im tatsächlichen Zentrum der Vermittlung steht nicht notwendigerweise eine ›reale‹ Simultanität im Sinne zeitlichen Zusammenfalls, vielmehr geht es um den Eindruck von Simultanität und folglich die Frage, wie im Liveticker Liveness hergestellt und konstruiert wird. Das heißt, Liveness, Aktualität und ähnliche im Folgenden zu verhandelnde temporale Phänomene, die in Bezug auf den Liveticker zeitigen, sind nicht als ontologische Größen, sondern als mediale und relationale Strategien zu verstehen. ›Realzeit‹ hingegen suggeriert eine qualitativ erkennbare, ›authentische‹ Ebene von Zeit, die sich, wenn überhaupt, besser und trennschärfer in den obig eingeführten Begrifflichkeiten fassen lässt, und kann der tieferliegenden Differenzhaftigkeit von mittel- und unmittelbarer, unvermittelter und vermittelter Zeit und Zeiterfahrung nicht hinlänglich gerecht werden.
Ausnahmezeit – Konjunktur der Katastrophe Nachrichtenlagen kommen und gehen, immer schneller, immer heftiger, im Rhythmus unserer Fressattacken. Charlie Hebdo, Griechenland, Germanwings, Flüchtlinge, Anschläge in Paris, Übergriffe in Köln, Anschläge in Brüssel. Das, was wir da fressen, hat einen Namen: information nuggets. Was nicht nur zufällig nach Fast Food klingt. Wir konsumieren Details, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Der Liveticker garantiert permanenten Nachschub. Das ist das Seltsame an unserem Konsum: der exzessive Hunger nach Einzelheiten. (Dachsel 2006)
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2006 – und damit über dreißig Jahre nach den Überlegungen zu The Policeman’s Beard Is Half Constructed – widmet sich Die Zeit erneut dem kulturpessimistischen Narrativ eines rasanten Informationsexzesses. In dieser Schnittmenge zwischen technikdeterministischen Alarm-Diskursen und der Medien-Zeit inhärenten strukturellen Aporien lässt sich beispielhaft der Kreis zur Katastrophe als Ereignis schließen: Mit Doane (2006: 102) als »ultimative[s] Drama des Momenthaften« definiert, entwirft die Katastrophe den Horizont eines konstanten Traumas und einer »Explosivität der Gegenwart«. Als »unerwartete Diskontinuität in einem ansonsten stabilen System« (Doane 2006: 102) offenbart die Katastrophe gleichzeitig die strukturellen Bedingungen der medialen Sichtbarkeitsvehikel, in die sie sich einschreibt. Ihre diskontinuierliche, augenblickorientierte Beschaffenheit prallt in der medialen Verhandlung auf ein Kontinuum des Informationsflusses und stört diesen ebenso gewollt, wie sie sich ihm, ist er erst einmal neu organisiert, in Form einer renormalisierten Störung letztlich wieder unterordnet. Im Liveticker des Internets wie auch in der Sondersendung des Fernsehens treffen Singularität und Transitorik eines Ereignisses auf die wiederholbare und wiederholte, fixe Struktur des formalen Rahmens in den das Ereignis überführt wird. Solche und ähnliche Normalisierungsstrategien dienen der Bewältigung dieser Ausnahme und der Störungsnivellierung: Sie ermöglichen es dem Medium, Ungleichmäßigkeiten zu nivellieren und dem ›Immer Gleichen‹, dem Standardisierenden und Rahmenden das ›Andere‹, das Momenthafte und Flüchtige entgegenzustellen. Dass jedes Ereignis von einer gewissen Kontingenz geprägt ist, der das übertragende Medium begegnen muss und der es v.a. durch Einhängen in bestimmte formale und narrative Rahmungen beikommt, gilt freilich für alle Typen von Medienereignissen. Auf disruptive Ereignisse trifft dies aber noch ungleich stärker zu, sind diese doch aller inhärenten Erwartbarkeit der Katastrophe zum Trotz schon von Vornherein von einem paradoxen Nimbus der Ausnahme und der Störung umgeben, der beispielsweise dem Fest fehlt bzw. erst zukommen muss. Das heißt: Auf Makroebene ist das Katastrophenereignis als solches erwartbar und sind entsprechende Rahmungsstandards bereits vorhanden; auf Mikroebene gestaltet sich sein tatsächlicher Verlauf indes hochgradig zufällig.
Vom Telegramm zu Twitter Mit dem Telegrafen bzw. dem späteren Fernschreiber wurzelt der heutige Liveticker in einem analogen Medium, das schon im späten 18. Jahrhundert als Medium der Schnelligkeit diskursiviert und vor der Folie gegenwärtiger Innovationen in der Verkehrstechnologie gelesen wird (Nachreiner 2014: 392). Dem rhythmischen Geräusch dieser frühen Signalübermittlung verdankt der Ticker seinen Namen, und auch, wenn seine Genealogie nicht mehr unbedingt
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hörbar12 ist, so hat sich am grundlegenden Prinzip doch wenig gewandelt: Im Zentrum steht die elektronische Übermittlung von Informationen unter Einbezug eines konventionalisierten, kodierten Zeichenrepertoires, und dies möglichst unmittelbar und zeitnah. Auch der Telegraf des 19. Jahrhunderts und mehr noch der nachfolgende Fernschreiber operieren also, sind sie in ihrer Informationsvermittlung doch der Nivellierung zeitlicher und räumlicher Distanzen verschrieben, in ersten Strukturanalogien zu dem, was sich heute als Liveness bezeichnen lässt. Seine bevorzugte Wirkungsstätte findet der Liveticker im Anschluss lange Zeit hauptsächlich in der Sport-, v.a. der Fußballübertragung; spätestens mit dem Siegeszug sozialer Medien vergrößert sich sein Einsatzbereich massiv und medienübergreifend. Heute findet er sich unter verschiedensten Namen versammelt in sämtlichen Ereignissparten, insbesondere aber in der Katastrophenberichterstattung wieder. Die an dieser Stelle notwendige Unterscheidung von News-/Nachrichtenticker und Liveticker lässt sich ebenfalls auf der Basis ihrer zeitlichen Bedingtheiten treffen. Während die Logik des Newstickers darauf basiert, kontinuierlich auf diejenigen Informationen zu ›warten‹, die eine Schlagzeile wert sind – Stichwort Monitoring und Latenz – und diese dann per Feed zu vermitteln, entsteht der Liveticker erst mit dem singulären, herausragenden Ereignis. Der Newsticker ist als beständig präsentes Format auf Makroebene kontinuierlich strukturiert und auf Dauer ausgelegt. Der Liveticker hingegen dient zwar der Ein- und Rückbindung von Diskontinuitäten zu linearen Narrativen, ist in sich selbst aber ein in Erscheinen und Gebrauch zeitlich limitiertes Instrument. Bei beiden Formaten muss ganz grundlegend folgender Dualismus mitgedacht werden: Auf der einen Seite begegnet man der in die Funktionslogik des Internets übersetzte und transformierte, grundsätzlich aber flexible Formgebung klassischer Massenmedien – deren Webpräsenzen –, zusätzlich aber ergeben sich dann in und aus der spezifischen Funktionslogik des Internets hervorgegangene und an dessen Struktur gebundene, immanente Phänomene, deren Kombination und Hybridität gleichermaßen strukturelle Voraussetzung wie Alleinstellungsmerkmal sind. Im Liveticker fällt zudem die Kontingenz des Inhalts mit einer Standardisierung der Form zusammen. Das heißt: Das Prinzip der Zerteilung und Wiederzusammensetzung, mithin die Fragmentierung als solche, kann dabei seit jeher als Prinzip des Medialen und gängige Praxis der Weltaneignung verstanden werden. Nicht nur deshalb muss die Leitfrage an dieser Stelle nicht etwa lauten, ob der Liveticker durch diese Struktur geprägt ist, sondern wie er sie operationalisiert; schließlich liegt, so die These, der ›Mehrwert‹ des On-
12 | Wohl aber sichtbar – etwa im Einsatz der im Telegramm typischen Rahmung durch Stopp-Pluszeichen als spezifisches Stilmittel der Eilmeldung.
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line-Livetickers ja gerade darin, dass er, bedingt durch die dem Netz inhärente Funktionslogik, verschiedene Inhalte und Praktiken so verbindet, wie es keiner anderen medialen Anordnung in toto möglich ist. Mit Hauser (2008: 1), der den Liveticker in seinen Untersuchungen als »schriftlich-grafische Simultanerzählung« definiert, lässt sich in dieser medienevolutionistischen Entwicklung zwischen Konvergenz als Annäherung, Konvergenz als Verschmelzung und Konvergenz als Adaption unterscheiden, wobei der Liveticker mit seinen multimodalen Affordanzen am stärksten als Verschmelzung an sich differenter medialer Formen, Inhalte und Funktionen verstanden werden kann (Hauser 2006: 209ff.). Der Liveticker ist modular strukturiert, d.h. seine »autonom rezipierbaren Module, die auf dem Prinzip Detail auf Nachfrage basieren, greifen auf verschiedene semiotische Ressourcen zurück und bringen jeweils einen anderen Aspekt des Gesamtereignisses zur Darstellung« (Hauser 2006: 209). Im Konglomerat von Tweets, Fotos, Videos, interaktiven Karten und Verlinkungen scheinen hier Elemente des ›traditionellen Fernsehens‹ als Livestream mit der automatisierten Feed-Struktur der Webpräsenz und extern generierten Inhalten wie getwitterten Videos oder Augenzeugenberichten zusammenzufallen.13
Temporalisierungstrategien und Phänomenbereiche Auf Basis dieser grundsätzlichen Überlegungen kann eine für die Analyse konkreter Beispiele fruchtbare Arbeitsdefinition des mit und in den Inhalten und Formen des Livetickers auf bereiteten Katastrophenereignisses entwickelt werden. Demnach lässt sich ›Live-Katastrophe‹ an den Schnittstellen von Fragment und Kontinuum, Punkt und Fluss, Dauer und Moment, Permanenz und Flüchtigkeit lesbar machen. Sie ist von sowohl okkasionalen wie auch periodischen und zyklischen Strukturen geprägt, denen der Liveticker durch Praktiken der Singularisierung und Wiederholung Rechnung trägt. Dabei unterliegt er einem stetigen Aktualitäts- und Aktualisierungszwang und erhebt Anspruch auf Simultanität und Synchronität im Sinne einer Gleichzeitigkeit, dem er in der Nachträglichkeit nur quasi-simultan (Hauser 2008: 2) beikom-
13 | Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es inzwischen zur gängigen Praxis geworden ist, das Katastrophennarrativ durch Storyteller-Tools wie ScribbleLive oder Storify aufbereiten zu lassen. Diese Tools automatisieren den Live-Feed, implementieren die Inhalte von Nutzerbeteiligung und Social-Media-Schnittstellen innerhalb relativ fest vorgegebener Präsentationsrahmen. Damit lässt sich von einer (zumindest partiellen) Automatisierung der Selektion und Chronologisierung nach bestimmten Algorithmen sprechen, die aus Platzgründen hier aber nur bedingt berücksichtigt werden können.
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men kann. Schließlich – und dieser Punkt unterscheidet den Liveticker und dessen Katastrophenverhandlung noch einmal dezidiert vom traditionellen Fernsehen und dem kontinuierlichen, ›passiv‹ rezipierbaren Informationsfluss – ermöglicht er eine diachrone Rezeption in temporaler Eigenregie. Dies muss als Angebot der Selektion und Modifikation verstanden werden, das sich wohlgemerkt sowohl anpassen als auch in Gänze ablehnen lässt, folglich vorrangig als optionales Mehr neben der synchronen Rezeption figuriert. Wie bereits entfaltet, forciert die Beschleunigung medialer Prozesse die Schrumpfung und Dehnung der Gegenwart als »medialer Schauplatz aller Zeiten« (Großklaus 2004: 165). Diese theoretische Funktionslogik offenbart sich auch in den konkreten Praktiken, Formen und Inhalten des Livetickers, die sich ebenfalls in Strategien der Ausweitung oder der Reduktion differenzieren lassen. In die Kategorie der Erweiterungsstrategien fällt beispielsweise das Phänomen der Übermarkierung. Mittels statischer Markierungen wie mehrfach platzierte live-Logos oder breaking-news-Schriftzüge, aber auch anhand dynamischer Elemente wie Laufschriften und Kriechtiteln stellt der Liveticker sein Streben nach Liveness in Bild wie Text fast bis zur semantischen Entwertung überdeutlich aus. Auch in Paratexten wie beispielsweise dem +++-Marker oder durch den Einsatz spezifischer ›Alarmfarben‹ und Symbolbilder manifestieren sich solche Markierungsexzesse, die den Ausnahmezustand bereits auf rein formaler Ebene anhand konventionalisierter visueller Schemata signalisieren und im Horizont einer spezifischen Erwartungshaltung etablieren. Abbildung 1 macht dies beispielhaft sichtbar: Auf der Onlinepräsenz der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet finden sich im Kontext des Anschlags im April 2017 nicht weniger als fünf Live-Markierungen in Textform, die zusätzlich formal, unter anderem durch die Farbsetzung, forciert werden.
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Abb. 1: Übermarkierung von Liveness (aftonbladet.de)
Die Tendenz, temporäre Leerstellen durch Informationsloops auszumerzen, kann auf formaler Ebene ebenfalls als Strategie der Ausweitung begriffen werden, wenn immer und immer wieder dieselben Informationen – meist die klassischen W-Fragen der Nachrichtenwerttheorie – wiederholt und verfestigt werden. Inhaltlich lässt sich dies insofern auch der Reduzierung zurechnen, da relevanter von unwichtigem Content unterschieden und in Ad-Hoc-Selektion hierarchisiert wird, bis sich ein ›Substrat des Ereignisses‹ ausbilden lässt. Hier ist es gerade die Katastrophe, die sich am deutlichsten in Wiederholungsmustern Ausdruck verschafft. Dies liegt im prinzipiellen medialen Bestreben und Balanceakt begründet, den ›Bild- und Informationsschock‹ gleicherma-
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ßen auszukosten wie rituell zu ›heilen‹ (Doane 2006; Großklaus 2004; Mellenkamp 1990). Als Form von Reduzierung durch Chronometrie und Linearität wiederum können die standardisierten formalen Rahmungen des Livetickers verstanden werden. Das heißt unter anderem: Die einzelnen Module sind mit einer möglichst exakten Zeitangabe versehen; auch nachträglich eingepflegte Updates und Korrekturen werden zeitlich genau belegt. Auch die Rezeptions- bzw. Leserichtung ist recht strikt reglementiert: Sie entwickelt sich zwar addierenddynamisch, verläuft dabei aber linear von oben nach unten, und bleibt, auch wenn die Nutzer*innen diese Richtung ggf. umkehren können, in chronologischer Hinsicht nur linear lesbar. Überhaupt ist es gerade das Element der Schrift, das hier als ›Zeitgerade‹ das Prinzip der linearen Anordnung verkörpert und den »Tumult der Gleichzeitigkeit« (Großklaus 2004: 152) restriktiv zu ordnen scheint.
Eigenzeit | geteilte Zeit Der Impetus, virtuelle Kopräsenz herzustellen oder zumindest zu suggerieren, schlägt sich im Liveticker in Inhalt und Form gleichermaßen nieder und kann dabei in sich durchaus widersprüchliche zeitliche Ebenen vereinen. Dabei muss die zeitliche Konstruktionsleistung des Livetickers seiner Bezeichnung zum Trotz immer als eine asymptotische begriffen werden. Er nähert sich dem Live-Geschehen an, kann aber immer nur in distinkter zeitlicher Minimaldifferenz operieren, d.h. sich dem Jetztpunkt nur unter den zeitlichen Transformationsverlusten der Narrativierung nähern; die einzige Ausnahme bildet hier, und auch das ist bekanntermaßen streitbar, das Modul des eingebundenen Livestreams; doch auch hier gilt: Erzählzeit ungleich erzählte Zeit, Sendezeit ungleich gesendeter Zeit. Diese Kluft gilt es folglich zu überbrücken, indem ausgewählte Jetztpunkte in Form von Handlungszeit ausgedehnt und diese segmentierten Momente chronologisch organisiert, re-synthetisiert und kontextualisiert werden. Die daran geknüpfte zeitliche Unzulänglichkeit ist mitnichten als Makel ausgestellt, vielmehr wird Liveness als auch in ihrer Nachträglichkeit noch als fassbares und fruchtbares Element operationalisiert. Damit stellt der Liveticker seine temporale Abhängigkeit vor allem ex post als Alleinstellungsmerkmal und Zugewinn im Sinne einer ›Story als Chronik‹ aus, was im Paradoxon einer immer schon vergangenen Vergegenwärtigung resultiert (Abb. 2 und Abb. 3) und mitunter kuriose Auswüchse in Form scheinbar widersprüchlicher zeitliche Verschränkungen annimmt.
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Abb. 2: Minutenprotokoll (sz.de)
Abb. 3: Nachlesen im Liveblog (tagesschau.de)
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So berichtet beispielsweise die Süddeutsche Zeitung ex post über eine Pressekonferenz anlässlich des Loveparade-Unglücks, auf der NRW-Innenminister Jäger einen vorläufigen Sicherheitsbericht vorlegt – präsentiert diese Informationen aber nicht in Fließtextform, sondern nachträglich und damit künstlich fragmentiert in Minutenangaben. Freilich sind die prinzipiellen Analogien zwischen Liveticker und Fernsehen mehr als augenscheinlich. Sowohl die Liveberichterstattung des Fernsehens als auch die des Livetickers strukturiert und manipuliert Zeit(abschnitte): Zeit wird vertieft, verlangsamt, verdoppelt, pointiert, gedehnt oder stillgelegt. Der entscheidende Unterschied liegt in der Art und Weise, wie sich diese unterschiedlichen Zeitmodi manifestieren und gleichzeitig (re-)produzieren. Denn: Im und am Liveticker ergeben sich im Zusammenspiel von Affordanz auf Seiten der Produzent*innen und Aneignung auf Seiten der Nutzer*innen unterschiedliche Zeitlichkeiten ein- und desselben (Medien-)Ereignisses, die durch seine Binnenstrukturierung in hypertextuelle, multimodale und interaktive ›Darstellungsformen‹ bedingt sind (Hauser 2010: 207). Das mediale Ereignis der Katastrophe konstituiert sich damit weniger in den einzelnen Inhalten und Modulen des Livetickers selbst, sondern scheint vielmehr in deren (Re-)Kombination sowie An- und Umordnung auf. In weiterführenden Untersuchungen könnte es sich als zielführend erweisen, eine Unterscheidung zwischen plot und story zugrunde zu legen: Der Liveticker gäbe demnach den plot vor, wie etwa durch chronometrische Markierungen oder lineare Reihung auf formaler oder Hierarchisierungs- und Selektionspraktiken auf inhaltlicher Ebene. Die story des Ereignisses bilden jedoch die Rezipient*innen – freilich in vorgegebenen und nicht zu unterschätzenden Grenzen und Rahmungen – selbst, und damit kann auch die zeitliche Erfahrung und Erfassung des Katastrophenereignisses mitunter erheblich differieren und in einer gewissen temporalen Eigenregie resultieren: So besteht in den Livetickermodulen der Tagesschau beispielsweise die Möglichkeit, per Klick die Prozesse ›automatisches Laden aktivieren‹ und ›neue Inhalte laden‹ entweder in Gang zu setzen oder bewusst aussetzen zu lassen.
Pausen und Leerstellen Im Gegensatz zum Fernsehen, das ›nicht nichts‹ zu senden vermag, wäre es dem Liveticker auf rein struktureller Ebene insofern möglich, sich selbst auszusetzen, als er das zeitliche Intervall zwischen seinen einzelnen Bausteinen theoretisch beliebig dehnen kann, sollte in diesem Zeitfenster nichts signifikant Neues in Erscheinung treten. Genau das aber vermeidet er freilich tunlichst, ganz im Sinne des ihn beherrschenden Aktualitätszwanges. Vielmehr werden Leerstellen wie Zwangspausen nivelliert, mit neu generierten Modulen oder durch Strategien der nachträglichen Ergänzung, Korrektur oder Aktuali-
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sierung und in stetigen Informationsloops gefüllt und auf die Ebene evidenzstiftender (Selbst-)Reflexion gehoben: ›Was wir wissen – was wir nicht wissen‹ ist in diesem Kontext eine beliebte und häufig eingesetzte Phrase, die zwar einerseits auf einen unvollständigen Informationsstand verweist, dem andererseits aber auch gleichzeitig den eigenen Aktualitäts- und Aktualisierungsimpetus entgegenstellt. Auf SpiegelOnline gerät diese Praxis anlässlich des Anschlags auf den BVBBus im April 2017 beinahe zum rhetorischen Negativexzess (Abb. 4): Zu den Hintergründen sei »noch nichts öffentlich bekannt«, die Echtheit des Bekennerschreibens ist »noch nicht geklärt«, wie die Denotationen ausgelöst wurden, »konnte noch nicht ermittelt werden«; abschließend steht die Bitte, von Spekulationen Abstand zu nehmen. Die vermeintliche Informationsleere gerät dabei zur intendierten Authentifizierungsstrategie, die eine ebenso unverfälschte wie aktuelle Informationslage zu suggerieren versucht. Abb. 4: Ausgestelltes Informationsvakuum (spon.de)
Wie im Kontext der Selektionsstrategien schon angerissen wurde, oszilliert der Liveticker prinzipiell zwischen Informationsvakuum und Wissensüberschuss. Dies führt zu Strategien der nachträglichen Ergänzung, aber auch zu Dauererwartung und Nicht-Information bzw. Informationsvakuum oder Überinformation. Im Extremfall wird ein Ticker zu einem teils absurd nichtig scheinenden Ereignis initiiert – eine Praxis, die ebenfalls dem stetigen Aktualisierungszwang erwächst, wie paradigmatisch das berühmte Beispiel der um-
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gefallenen und verstorbenen Giraffenkuh Tamu zu zeigen vermag, die zum Social-Media-Überraschungshit avancierte (Abb. 5). Abb. 5: Liveticker zum Tod der Dortmunder Giraffe – selbstreflexiver Verweis (ruhrnachrichten.de)
Anfang/en und Ende/n Beschäftigt man sich mit der Zeitlichkeit des Livetickers, müssen selbstredend auch sein Anfang und mehr noch sein Ende in den Blick rücken. Wie im Vorlauf bereits als generelles mediales Strukturmerkmal entfaltet, kontextualisiert und rahmt auch der Liveticker Ereignisse sowohl pro- wie auch retrospektiv: Personen, Räume, Ereignisse, sprich: Gegenwart, werden in immer kürzeren Abständen archiviert und in einen latenten Speicher verschoben, können aber »im Medienzeitfenster späterer Gegenwart wieder erscheinen«, und zwar gegen die »Bruchstelle von Erscheinen und Verschwinden, von Aufleuchten und Erlöschen hinweg« (Großklaus 2000: 47f.). Diese Strategie findet sich häufig in der Etablierung des Livetickers bei Einbruch der Katastrophe als Breaking News-Inhalt wieder. So verweist der zweite Baustein des TagesschauLivetickers zu den Anschlägen auf Charlie Hebdo im Januar 2015 auf analoge Geschehnisse in der Vergangenheit (Abb. 6) und gewährleistet damit eine Kontextualisierung des Ereignisses in einem bestimmten semantischen Rahmen, der zeitlich gesehen verengt oder erweitert werden kann.
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Abb. 6: Retrospektive Rahmung (tagesschau.de)
Rein formal manifestiert sich der Anfang eines Livetickers meist in Breaking News-Bannern oder als visuell überdeutlich markiertes Sonderelement wie beispielsweise der Kriechtitel; die Bandbreite reicht von Zusammenfassungen und Darlegungen der W-Fragen bis hin zur Einbindung erster ›Tatort‹-Fotos, und alle verfüg- und einsetzbaren Informationssplitter formieren sich zu einem ersten News-Mosaik. Während sich die televisuelle Live-Katastrophe auf Ebene der apparativ-technologisch bedingten Aneignung mehr oder weniger einfach ›herbeischalten‹ lässt und ihr Narrativ von diesem Moment an zumindest perzeptiv gesehen ›passiv‹ fließen kann und (s)eine Rezeptionsgeschwindigkeit vorgibt, muss der Liveticker erneut vor dem Hintergrund einer multimodalen, ›aktiven‹ Aneignung verstanden werden, die in nahezu beliebiger Geschwindigkeit erfolgen kann. Jede Erzählung findet irgendwann zu einem Ende – »wenn vielleicht auch nur ein imaginiertes, befürchtetes, erhofftes« (Schachtner 2016: 39). Dies gilt nicht weniger für das Narrativ des Livetickers. Welches Ende seine erzählten Inhalte – sprich: die Entwicklungen des Katastrophenereignisses – nehmen, bleibt notwendigerweise vorerst kontingent. So stark die Katastrophe auch
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von einer abrupten Exposition, einem unsicheren Verlauf und einem offenen Ende geprägt ist, ihre Einschreibung in den Liveticker vollzieht sich in dieser Hinsicht aber vergleichsweise reglementiert und restriktiv strukturiert. Der Liveticker stellt sein eigenes Ende, seinen ›Sendeschluss‹ deutlich aus und verwirklicht dies in immer gleichen, standardisierten und normalisierenden Schablonen, wie in den Abbildungen 7 und 8 exemplarisch sichtbar wird. Konkret heißt das: Er liefert Zusammenfassungen (»Der Tag des Grauens zum Nachlesen«), verweist auf sein weiteres eigenes Vorgehen (»Wir beenden den Liveticker zu dem Anschlag und informieren Sie weiter aktuell in den gewohnten Formaten«) und bietet Anschlusskommunikation qua Querverlink (»Alternativ finden Sie hier alle Informationen über das Ende des Attentäters [!]«). Abb. 7: Ende des Livetickers I (n-tv.de)
Der Schlusspunkt im Liveticker weist damit als bewusste Setzung immer auch sowohl über sich selbst hinaus als auch auf sich selbst zurück. In ihm buchstabiert das Format die eigenen medialen Potentiale, aber auch Grenzen aus, führt Alleinstellungsmerkmale vor und reflektiert wie legitimiert eigene Funktionsweisen und -bedingungen.
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Abb. 8: Ende des Livetickers II (tagespiegel.de)
Schlussbemerkung In der vorliegenden Untersuchung wurden Katastrophe als Diskontinuität und Einbruch in die Gegenwart und der Liveticker als Instrument der Kompensation, das diese Diskontinuität durch Narrativierung auszugleichen sucht, begriffen. Die Differenz zum Fernsehen ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass der Liveticker das Ereignis in Form multimodaler, multiselektiver, multioptionaler kurativer Netzgeschichten verdichtet. So kommt es ebenso sehr zu einer Demontage wie auch zu einer Stabilisierung televisueller Temporalstrukturen und Dynamiken im System Liveticker. Wie die Livesendung, deren maßgebliche Funktion mit Umberto Eco darin verstanden werden kann, die Erzeugung einer »sinnvollen, kohärenten Abfolge aus an sich selbst bedeutungs- bzw. beziehungslosem, ungeformten Ereignis- oder Bildmaterial« (Engell 2012: 156) wahrnehmbar zu machen, und vor dieser Folie wird der Liveticker als asymptotisches, fragmentarisches Simultannarrativ lesbar. Dieses Simultannarrativ wird an den Schnittstellen zwischen Singularität und Wiederholung, Erinnerung und Erwartung, Dehnung und Verdichtung, Flüchtigkeit und Fixierung greif bar und trägt dazu bei, das Katastrophenereignis als paradigmatisches Kondensat und dystopischen Fluchtpunkt verschiedener Gegenwarts- und Mediendiskurse zu etablieren. Damit kann es als potentielles Analyseobjekt der Erfassung verschiedenster medialer Konzeptionierungen von Zeit(lichkeit) dienen und Rückschlüsse auf (selbst-)reflexive Prozesse ermöglichen.
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Laura Vorberg
Z eiten der A ngst ? Tempor ale und emotionale L ogiken medialer P erformativität des P opulismus am B eispiel des US- amerik anischen P r äsidentschaf tswahlk ampfes 2016 Laura Vorberg Man muß vermuten, daß solche Prämissen, die stets die Diskontinuität gegenüber der Kontinuität betonen, verunsichernd wirken. Man kann sich vorstellen, daß dadurch Forderungen nach der Sicherung vor und Teilhabe an Veränderungen, also Ängste und Ansprüche zugleich stimuliert werden. Für das politische und das wirtschaftliche System der Gesellschaft mag es dann […] immer schwieriger werden, sich mit den Erwartungen der Bevölkerung abzustimmen. Niklas Luhmann über mögliche Effekte der massenmedialen Präferenz von Konfliktschemata (2009: 38).
Einleitung – Gesellschaft der Angst »Fear is in the air, and fear is surging« (Ball 2016: 2). Mit diesem Befund beginnt der Artikel Donald Trump and the Politics of Fear des Magazins The Atlantic vom 2. September 2016. Das politische und emotionale Klima der zutiefst gespaltenen Nation, da sind sich die Redaktionen der US-amerikanischen Presse zu diesem Zeitpunkt weitgehend einig, ist im Wahlkampfjahr 2016 nicht länger eines der Hoffnung, sondern eines der Angst. Das Rennen um das amerikanische Präsidentschaftsamt steht Anfang September mit den in den folgenden Wochen veranstalteten TV-Debatten unmittelbar vor dem medialen Höhepunkt. Von der Begeisterung und hoffnungsvollen Auf bruchsstimmung vergangener Präsidentschaftswahlkämpfe, z.B. der Yes, we can!-Euphorie der Obama-Ära, ist in der massenmedialen Berichterstattung dieser Tage indes nichts zu beobachten. Auf Seiten der Liberalen herrscht ob der Kandidatur des politisch unbewanderten Unternehmers Donald J. Trump für die Republikanische Partei zwar noch allgemeine (und verfrühte) Siegesgewissheit, doch sind nichtsdestotrotz unterschiedliche Angstdiskurse dank Trump in den tagtäglichen Wahlkampfnachrichten über Wochen und Monate dauerhaft präsent. Während sich in liberalen Medien Artikel über Trumps populistische, mit Globalisierungsängsten konservativer Bevölkerungsteile operierende Rhetorik häufen, macht die demokratische Kandidatin Hillary Clinton ihrerseits Zukunftsängste zu einem zentralen Thema ihres Wahlkampfes und warnt beispielsweise in TV-Werbespots vor der Legitimation rassistischer Gewalt
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und skizziert nukleare Bedrohungsszenarien in Folge einer Trump-Präsidentschaft. Betrachtet man massenmediale Diskurse ein knappes Jahr später, scheinen nach dem Sieg Donald Trumps viele der im Wahlkampf 2016 beschworenen Befürchtungen weiterhin in der US-amerikanischen Bevölkerung allgegenwärtig. Nicht nur führt Trump seinen populistischen Politikstil als Präsident unverändert fort; auch die von Clinton angemahnten Zukunftsprognosen drohen sich angesichts vermehrter rassistisch motivierter Gewalttaten und einer Zuspitzung internationaler Konflikte zu erfüllen. Durchlebt die US-amerikanische Demokratie also gegenwärtig eine besonders einzigartige, angsterfüllte Zeit der Krise? Folgt man dem Soziologen Barry Glassner, ist die Präsenz der Angst in der amerikanischen Politik kein Novum. Glassner (2009) argumentiert, dass die Beobachtung einer US-amerikanischen ›Kultur der Angst‹ weniger auf einem tatsächlichen Anstieg von Risiken und Bedrohungen beruht, sondern vielmehr als Folge der Manipulation von Wahrnehmungen zustande kommt. Die Welt sei demnach in den letzten Jahren nicht wirklich gefährlicher geworden, aber das Gefühl der Bedrohung sei in der US-amerikanischen Bevölkerung noch einmal massiv gewachsen. Betrachtet man die Wahlkampfkommunikation des Jahres 2016 und die weitgehend auf sogenanntem Negative Campaigning basierten Medienkampagnen der nominierten Kandidat*innen, liegt es nah, Glassner zuzustimmen. Die politische Rhetorik operiert in den USA gegenwärtig mehr denn je mit personalisierten moralischen Diskreditierungen des Gegners, etwa in Form von Skandalen, also hochgradig emotionalisierten Diskursen statt der Diskussion politischer Programme. Diese Rhetorik führt nicht nur zu allgemeiner Demokratieverdrossenheit, sie resultiert auch in einer medialen Überbetonung von politischen Krisenszenarien. Allerdings muss man mit Blick auf derzeitige Beobachtungen internationaler politischer Entwicklungen auch konstatieren, dass sich der gegenwärtig medial omnipräsente Eindruck der Kollektivierung der Furcht eben nicht allein, wie Glassner annimmt, auf die Eigenarten der USA reduzieren lässt. Dies zeigt sich besonders deutlich an dem aktuell diagnostizierten Erstarken populistischer Politik in verschiedenen westlichen Demokratiesystemen; einem Politikstil, dessen Rhetorik in besonderem Maße an Emotionalisierungen und Zeitlichkeit gebunden ist. Der Erfolg des Populismus wird gegenwärtig im Allgemeinen gern damit erklärt, dass er einfache Antworten auf komplexe politische Probleme und diffuse Ängste der unteren Bevölkerungsschichten vor den Folgen der voranschreitenden Globalisierung liefert und sich damit von einer sogenannten volksfernen politischen Elite abgrenzt. Jan-Werner Müller (2016: 20) hat diese weit verbreitete Annahme als zu undifferenziert kritisiert: »Wer von vornherein meint, die Anhängerschaft der Populisten setze sich allein aus Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern mit all ihren vermeintlichen ›Ressentiments‹, ›Sor-
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gen‹ und ›Ängsten‹ zusammen, macht es sich zu leicht.« Sicherlich ist der derzeitige internationale Erfolg des Populismus mit der Abstiegsangst einer ›abgehängten‹ Gesellschaftsschicht nicht hinreichend zu erklären; nicht zuletzt, da viele populistische Bewegungen der letzten Jahre vor allem aus der sozioökonomisch stabilen bürgerlichen Mitte heraus entstanden sind (Gebhardt 2018: 39f.). Diese Feststellung sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Ängste von Bevölkerungsschichten vorschnell als ungerechtfertigt abzutun, sondern vielmehr zu Fragen nach den Hintergründen der Entstehung, der Funktion und den Auswirkungen des derzeitigen Angstklimas in demokratischen Systemen führen. Dieser Beitrag untersucht aus einer systemtheoretisch orientierten Perspektive, inwiefern die gegenwärtige Diagnose einer kollektiven Emotion (Angst) als Konsequenz veränderter medialer Beschreibungsmodi von Öffentlichkeit verstanden werden kann. Im Rahmen dessen gilt es zu untersuchen, welche Auswirkung diese Veränderung im Zusammenhang mit der Wahrnehmung einer massiv beschleunigten, hyperkomplexen und überregional vernetzten Weltgesellschaft auf demokratische politische Subsysteme allgemein hat. Dabei soll aufgezeigt werden, wie die quantitative Steigerung simultan kommunizierter Ereignisse durch neue (zusätzliche) mediale Beobachtungs- und Distributionskanäle nicht nur zu einer Temposteigerung der Kommunikation führt, sondern für demokratische Politik auch die Komplexitätsreduktion im Hinblick auf die noch unbekannte Zukunft massiv erschwert. Aufgrund der vergrößerten Menge der konkurrierenden Beschreibungsangebote der Gesellschaft erscheint die Zukunft mehr denn je kontingent, überkomplex und unbeherrschbar, sodass es etablierten Parteien zunehmend schwerfällt, zeitnahe Lösungen anzubieten und das Vertrauen eines politischen Publikums zu gewinnen. Es ist dieser Vertrauensverlust in die etablierten Funktionsstrukturen der Moderne und insbesondere deren demokratische Systeme bei gleichzeitiger medialer Omnipräsenz globaler Krisenszenarien der das einschlägige populistische Narrativ der unfähigen politischen Elite erst fruchtbar werden lässt, denn Demokratien können aufgrund ihrer lokalen Begrenztheit gegenwärtig keine rasche Anpassung an weltgesellschaftliche Veränderungen leisten. Damit einhergehend wird auch die Kontingenz stabil geglaubter Konstrukte von nationalstaatlicher Identität, Souveränität und Legitimität zunehmend beobachtbar. Paradoxerweise schaffen Populist*innen wiederum Vertrauen, indem sie den daraus resultierenden Angstdiskursen des Identitätsverlustes mit einer starken nationalen Semantik und einer verklärenden Re-Diskursivierung der Vergangenheit begegnen. Das Kollektiv einer ›wahren Volksgemeinschaft‹ konstruieren sie mittels der Ausgrenzung des Fremden und einer sentimentalpatriotischen, rückwärtsgerichteten Utopie; der ständigen Referenz auf einen vermeintlichen Idealzustand früherer, weniger komplexer Zeiten, den es gilt, wiederherzustellen.
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Daher sind im Folgenden die prototypischen temporalen und emotionalen Strukturen populistischer Semantik in den Blick zu nehmen. Dabei soll aufgezeigt werden, dass die gegenwärtig zu beobachtende Wirksamkeit populistischer Kommunikation gegenüber anderen Formen politischer Kommunikation nicht ausschließlich in ihrer Emotionalität begründet liegt – wie oft hervorgehoben –, sondern zusätzlich auf der Verwendung spezifischer Zeitschemata basiert. Denn wie eingangs erklärt, lässt sich emotionale Kommunikation in politischen Kontexten nicht auf populistische Diskurse allein beschränken und hat besonders im Rahmen stark moralisch aufgeladener Wahlkampfdebatten in der US-amerikanischen Mediendemokratie in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Es stellt sich daher auch die Frage, ob und wenn ja inwiefern sich die Verwendung von Emotionen in populistischer Kommunikation von anderen Formen emotionaler Kommunikation im politischen System unterscheidet und wie sich ihre Zunahme erklären lässt. Abschließend werden die medialen Wirkungsmechanismen kulturspezifischer populistischer Kommunikation im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 betrachtet, um Populismus auch als performative politische Logik der Identitätskonstruktion zu verstehen. Denn, wie kürzlich von Bernd Stegemann (2017: 14) als Kritik rein formalistischer bzw. ausschließlich inhaltszentrierter Populismusforschung auf den Punkt gebracht, »Populismus kann […] weder über seine Inhalte noch über seine Form erfasst werden, sondern nur durch das Verhältnis, in das er beide Seiten bringt«. Über die Analyse ausgewählter Posts von Donald J. Trumps Twitter-Account wird verdeutlicht, dass Kommunikation über soziale Medien nicht nur den zeitlichen und emotionalen Strukturen populistischer Semantik sowie der Inszenierung von Unmittelbarkeit und Authentizität des populistischen Anführers besonders entgegenkommt, sondern den Kommunikationsmechanismen des Mediums Twitter (v.a. Simultanität und Sukzessivität) selbst bereits Logiken der performativen Stabilisierung personeller und kollektiver Identitätskonstruktionen inhärent sind. Dass Twitter gegenwärtig wiederum eine beliebte Plattform für die Beobachtung der aktuellen öffentlichen Meinung ist, sorgt dafür, dass populistische Kommunikationen, die in besonderem Maße den massenmedialen Präferenzen für anschlussfähige Information entsprechen, aus der Teilöffentlichkeit des sozialen Netzwerkes hinaus gelangen und in der breiteren Öffentlichkeit Beachtung finden (Diehl 2016). Daher lautet der abschließende Befund, dass das öffentliche Narrativ der kollektiven Angst auch durch eine wiederholte massenmediale Reflexion populistischer Komplexitätsreduktion angesichts des für demokratische Systeme zunehmend schwieriger zu bewältigenden Veränderungsdrucks einer als beschleunigt und hyperkomplex wahrgenommenen, digital vernetzten Weltgesellschaft präsent gehalten wird.
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Zeitlichkeit und mediale Hyperkomplexität Auf der Suche nach Erklärungen für den im September 2016 bereits unerwartet großen Erfolg der Trump-Kampagne kommt der eingangs erwähnte Artikel aus dem Atlantic zu dem Ergebnis, dass der Großteil der Trump-Anhänger sich von dem republikanischen Kandidaten die künftige Wiederherstellung von Ordnung, Sicherheit und Kontrolle in einer als chaotisch wahrgenommenen Welt erhofft, die sie der als handlungsunfähig empfundenen, sogenannten ›politischen Elite‹ nicht zutrauen. Mag Donald Trumps Wahlerfolg unter anderem auch den lokalen Spezifika der weitgehend dual organisierten US-amerikanischen Demokratie geschuldet sein, so zeigt sich doch an einem international erstarkenden Populismus, dass gegenwärtig offenbar der Mehrheit der westlichen Demokratiesysteme vor einer strukturähnlichen Problematik steht: der zunehmend schwieriger zu leistenden Bewältigung der Planung der Zukunft angesichts eines massiv gestiegenen gesellschaftlichen Komplexitätsgrades. Denn mit zunehmender Komplexität und voranschreitender räumlicher Entgrenzung der Kommunikation durch digitale Medien sind zwar alle Funktionssysteme im Zuge der Globalisierung konfrontiert, doch trifft der Veränderungsdruck die noch immer territorial organisierte Politik besonders hart. Nicht nur, dass sich mit zunehmendem Verschwimmen nationalstaatlicher Grenzen Ursachen und Auswirkungen politischer Probleme künftig kaum mehr lokal beschränken und bewältigen lassen, auch der Legitimitätsanspruch nationaler Herrschaftsregime selbst gerät ins Wanken (Wilke 2014: 8-9, 49). Dies liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass es zunehmend schwerer fällt, einen zentralen, systemübergreifenden Orientierungspunkt auszumachen, der es ermöglichen würde, die Komplexität des prinzipiell künftig Möglichen durch Vorausplanung in der Gegenwart auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, sodass die Beobachtung der reinen Kontingenz gegenüber vergangenen, scheinbar weniger kontingenten Weltzuständen nun als Chaos empfunden wird (Luhmann 1997: 75). Armin Nassehi (1993: 190f.) bringt die Ursachen dieser Wahrnehmung auf den Punkt: »Es ist eben anders gekommen, als man wissen konnte, und daß es immer unwahrscheinlicher wird, die Zukunft zu erraten, liegt dann nicht an der prinzipiellen Unerreichbarkeit des Zukünftigen, sondern an der Komplexität der Welt, die keinem Plan mehr folgt und sich ständig beschleunigt.« Mit dem Voranschreiten der Entwicklung hin zur a-zentrischen und konnexionistischen Weltgesellschaft steigert sich das Tempo gesellschaftlicher Kommunikation. Damit einhergehend nimmt jeweils auch die Masse gleichzeitiger konkurrierender Beschreibungen im Gesellschaftssystem zu, wie gegenwärtig im Rahmen der Digitalisierung gut zu beobachten ist: Unterschiedliche Formen der webbasierten many-tomany-Kommunikation, etwa über soziale Medien, Diskussionsforen oder Messenger-Applikationen, die dank tragbarer Endgeräte permanent zur Verfügung
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stehen, steigern nicht nur massiv die Menge und Sichtbarkeit simultan beobachteter/beobachtbarer Ereignisse, sie werden auch von allen Gesellschaftssystemen genutzt, um ihre systemeigene Umwelt zu beobachten und fordern jeweils auch eine Anpassung der Systemstrukturen an die höhere Kommunikationsdichte. Für die Demokratie ist eine entsprechende operative Beschleunigung aber nicht zu leisten, denn gerade die durch Verfahren verlangsamte Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen ist konstitutiv für ihre Legitimitätskonstruktion und schützt vor politischer Willkür (Nassehi 1993: 13). Die temporale Asymmetrie demokratischer Verfahren im Verhältnis zur Beobachtung von politisch relevanten Themen und Ereignissen wird nicht zuletzt durch die Beschleunigung massenmedialer Operationen verstärkt. Im System der Massenmedien, deren oberste Selektionskriterien im Bereich der Nachrichten Aktualität bzw. Neuheit lauten, muss relevante Information aus den Beobachtungen einer sehr viel schwerer zu überblickenden digitalen Umwelt umso schneller selektiert und durch neue Information abgelöst werden, da Ereignisse etwa in sozialen Netzwerken unabhängig von massenmedialer Berichterstattung praktisch live kommuniziert und verbreitet werden können. Da Ereignisse bei erneuter Kommunikation ihren Informationswert verlieren, gilt es möglichst vor allen anderen Medien, mindestens aber gleichzeitig darüber zu berichten. Dass es im Rahmen einer erneuten Beschleunigung der Kommunikation vermehrt zu Qualitätseinbußen kommt, wird nicht nur vom Publikum, sondern auch von Journalisten selbst moniert, ist aber unvermeidlich, da für eine umfangreiche Recherche und Überarbeitung oft schlicht die Zeit fehlt. Es gilt die Devise: Erst veröffentlichen, später redigieren (Hamby 2017: 22). Denn nur aktuelle Information erzeugt Aufmerksamkeit und sichert die Autopoiesis des Systems. Leisteten vormals die Beschreibungen der interaktionsfreien Massenmedien Rundfunk, TV und Presse die zentrale Repräsentation der Öffentlichkeit, indem sie die Hintergrundrealität von Themen der Gesellschaft gemäß ihrer Selektionskriterien weitgehend unabhängig bestimmten, muss sich das Massenmediensystem nun darauf einstellen, dass seine zentrale Beschreibungsposition nicht mehr bruchlos anerkannt wird, da man, um informiert zu sein, prinzipiell auf alternative Informationsquellen zurückgreifen kann. So muss auch das Massenmediensystem seine Beobachtungen auf diese neue Umwelt einstellen, indem etwa Themen, Meinungen und Diskussionen, also Teilöffentlichkeiten, in sozialen Medien kontinuierlich beobachtet werden und den Selektoren entsprechend Informationen für die eigene Berichterstattung konstruiert werden. Die Nutzung sozialer Medien für die Beobachtung zweiter Ordnung hat für professionelle Journalisten zumindest den Vorteil, dass sie effizient und kostengünstig ist (Hamby 2017: 4). Mittels eigener Accounts auf unterschiedlichen Plattformen und dem Verweis auf Onlineartikel, Videos
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usw. wird zudem versucht, Nutzer wieder auf eigene online-Informationsangebote zurückzuverweisen. Das bedeutet, dass aus der Beobachtung sozialer Netzwerke als Systemumwelt entweder neue Themen für die Massenmedienkommunikation entstehen können oder die Kommunikation auf Plattformen wie Twitter oder Facebook, bei Beobachtung der Massenmedien, an deren Themen anschließt. In beiden Fällen haben sowohl die technischen als auch die semantischen Logiken der Echtzeit-Kommunikation in sozialen Netzwerken einen erheblichen Einfluss auf die Referenzrealitätsbeschreibung im Medium Öffentlichkeit, in dem alle Systeme sich selbst beobachten und an das sie ihre Operationen anpassen und im Speziellen auf die für die Politik zentrale öffentliche Meinung. Für das in aktuellen politischen Diskursen primär genutzte Netzwerk Twitter etwa zeigen aktuelle Studien, dass kommunikative Praktiken wie retweeting und hashtagging performative Prozesse der Bildung und Abgrenzung einer Gruppenidentität mittels Identifikation über geteilte Werte oder Meinungen zu einem Thema fördern (Zappavigna 2012: 186ff.). Insbesondere die diesen Mechanismen inhärenten Wiederholungen und Kategorisierungen von Information funktionieren als Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung und stimulieren kognitive Reaktionen (Kenski/Conway 2017: 112). Das Erzeugen von Aufmerksamkeit ist zentral für jede erfolgreiche soziale Kommunikation. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit aufgrund der Funktionslogiken des Kommunikationsmediums im Falle von Twitter prinzipiell erhöht sein mag, bedarf es allein schon ob der Menge simultan ablaufender Netzwerkkommunikation zusätzlich Themen und Schemata mit hohem Aufmerksamkeitswert. Im Rahmen ihrer strukturellen Kopplung im Medium der öffentlichen Meinung sind bei den Themenpräferenzen von Politik und Massenmedien zur Erzeugung von Anschlusskommunikation deutliche Konvergenzen zu beobachten (vgl. Tabelle). Die hohe Priorität von Moralisierungen, Konflikten, Krisen und Meinungsäußerungen bei einer gleichzeitigen Fokussierung auf (prominente) Personen machen soziale Medien zu einer idealen Umwelt für Beobachtungen, denn Meinungsäußerungen und Zuspitzungen lassen sich in der Kommunikation in sozialen Netzwerken aufgrund kurzer, zugespitzter Beiträge besonders häufig finden. Gleichzeitig kann dort über die Verwendung dieser Schemata entsprechend Aufmerksamkeit für eigene aktuelle Mitteilungen gewonnen werden, die dann durch Vervielfältigung über einzelne Netzwerke hinaus öffentlich beobachtbar werden.
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Aufmerksamkeitsregeln des politischen Systems (Luhmann 2007 [1971])
Selektionskriterien des Massenmediensystems (Luhmann 2017 [1994])
Überragende Priorität bestimmter Werte
Normverstöße, moralische Bewertungen, Meinungsäußerungen
Krisen oder Krisensymptome
Konflikte
Status des Absenders einer Kommunikation
Zurechnung auf Handelnde
Neuheit von Ereignissen
Neuheit von Information
Symptome politischen Erfolgs (in Demokratien meist quantitativ in Umfragen o.ä. bestimmt)
Quantitäten
Schon für die vordigitale Realität der Massenmedien ließ sich feststellen, dass diese Selektion der Themen in einer dauerhaften Beschreibung der Welt als defizitär und ausgleichsbedürftig resultierte (Luhmann 2017: 99). Die im Rahmen der Beobachtungen einer digitalen Umwelt stattfindende Ausweitung dieser Selektions- und Konstruktionslogiken bei gleichzeitiger Steigerung der Masse von nach diesen Kriterien als relevant für die Berichterstattung simultan beobachteten Ereignisse verstärkt den Eindruck, dass die Gesellschaft der Gegenwart von immer neuen Krisen mit globaler Relevanz dominiert wird, ohne dass es möglich wäre, angemessene Lösungen anzubieten. Auch der massenmediale Angst-Diskurs ist somit nicht nur ein Resultat der sichtbar gewordenen prinzipiellen Kontingenz der Zukunft. Vielmehr ist sie in besonderem Maße der Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen der Masse aktueller Krisenbeschreibungen einerseits und der prinzipiellen Verfügbarkeit und demokratiepolitischen Umsetzbarkeit zeitnaher Lösungsmaßnahmen andererseits geschuldet. Phänomene wie internationaler Terrorismus oder Klimawandel lassen sich lokal nicht langfristig wirksam bekämpfen, sind aber in Form von Anschlägen oder Naturkatastrophen als aufeinanderfolgende Medienereignisse weithin sichtbar und als Schemata im sozialen Gedächtnis dauerpräsent. Mit zunehmender Berichterstattung sinkt gleichzeitig das Vertrauen und die Unruhe wächst, denn bei Beobachtung ständig neuer medialer Beschreibungen von gesellschaftlichen Defiziten entsteht der Eindruck, alles könnte, müsste, sollte besser sein, jedoch: »Die ›politische Klasse‹ (wie man neuerdings abwertend sagt) versagt vor den großen Aufgaben der Zeit« (Luhmann 2017: 99).
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Populismus und temporalisierte Komplexitätsreduktion Für klassische Institutionen und Kommunikationen der Demokratie lässt sich also feststellen, dass sie gegenwärtig offenbar nicht mehr in der Lage sind, die Komplexität möglicher zukünftiger Zustände so weit zu reduzieren, dass sie Vertrauen schaffen. Folgt man Nassehi (2016: 19), so setzt der Populismus exakt an dieser Schwachstelle gegenwärtiger demokratischer Politik an. Populismus betreibt Komplexitätsreduktion, indem er simple Lösungen für komplexe Probleme anbietet und Personengruppen als verantwortliche Handelnde identifiziert, die die aktuelle Krisensituation überhaupt erst hervorgerufen haben sollen. Die unfähige und/oder korrupte ›politische Elite‹, Geflüchtete sowie die ›Lügenpresse‹ sind dabei geläufige Feindbilder. Müller (2017: 257) und Stegemann (2017: 14) mahnen demgegenüber an, dass Eliten-Kritik und einfache Antworten zwar Bestandteile populistischer Politik sind, jedoch keine hinreichenden Kriterien für eine Populismus-Definition sein können; unter anderem, da sie beispielsweise auch Bestandteil anderer Varianten des politischen Protests sein können. Stattdessen muss populistische Kommunikation über diese Faktoren hinaus sowohl semantisch wie auch formal näher bestimmt und unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen historischen Begleitsituation untersucht werden. Geht man davon aus, dass Komplexitätsreduktion eine Grundvoraussetzung der Kommunikation in jedem sozialen System ist, ist für ein spezifisches Verständnis von Populismus als Form der politischen Kommunikation in der Tat nicht entscheidend, dass er Komplexität reduziert, sondern wie dies erfolgreich funktioniert. Wenn die Beobachtung des derzeitigen Vertrauensverlusts in die Strukturen demokratischer politischer Subsysteme wie vermutet tatsächlich aus einer medialen Dauerpräsenz von Krisenereignissen und einem verstärkten Erleben von Beschleunigung und Zukunftskontingenz resultiert, stellt sich die Frage, wie populistische Kommunikation Komplexität reduziert. Im Folgenden wird daher aufgezeigt, wie Populismus über alternative Zukunftskonzeptionen Vertrauen schafft. Denn die populistische Komplexitätsreduktion spielt sich nicht in der Umwelt demokratischer politischer Subsysteme ab. Sie ist vielmehr eine Form der politischen Kommunikation innerhalb der Systeme, oder, wie Ernesto Laclau (2005: XI) es ausdrückt: »quite simply, a way of constructing the political […].« Populistische Kommunikation hat gerade dann Konjunktur, wenn andere Formen der Komplexitätsreduktion in demokratischen Systemen nicht mehr funktionieren und das Vertrauen in etablierte Institutionen und den Nationalstaat sinkt. »Der Populismus ist der Schatten der repräsentativen Demokratie; er ist ein spezifisch modernes Phänomen« (Müller 2016: 18). Dass die repräsentative Demokratie in Zeiten globaler Hyperkomplexität weiterhin die Formel des politischen Staates nutzt, ist dabei Teil des Problems. Für den Staatsbegriff galt bisher, dass er dazu diente, Politik mit Sinn aufzuladen und in ihrem
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Gebrauch zu legitimieren. Dafür bedurfte es aber territorialer Grenzen, die nicht nur den Gebrauch politischer Macht lokal einschränkten, sondern gleichzeitig den Zusammenschluss zur imaginierten Gemeinschaft der Nation organisierten (Giesen 1991: 11ff.). Mit der voranschreitenden Ausdifferenzierung des politischen Systems in demokratische Staaten galt es die Legitimität der repräsentativ-gewählten Regierung über eine symbolpolitische Semantik von Werten mit nationalkulturellen Bezügen herzustellen. In den USA leistete etwa die Zivilreligion diese Aufgabe und bildete einen wesentlichen Identifikationsrahmen für die imaginierte Gemeinschaft der Nation eines Ganzen aus Teilen – e pluribus unum. Unabhängig von Herkunft, religiösem Glauben, sozioökonomischem Status und Geschlecht war der/die Einzelne dann eben zuallererst US-Amerikaner*in und damit Teil eines übergeordneten und emotional positiv besetzten Wertekollektivs (Luhmann 2002: 141). In der gegenwärtigen massenmedialen Realität globaler Krisen und Konflikte bei gleichzeitigem Mangel an demokratischen politischen Lösungsangeboten und der Wahrnehmung eines Verschwimmens etablierter, vormals stabil geglaubter Grenzen kann auch das Identitätskonstrukt nationaler Zugehörigkeit keine erfolgreiche Unsicherheitsabsorption mehr leisten: Es erodiert auch, weil die Nation weniger denn je die Imagination einer vollen Gemeinschaft herzustellen vermag […]. Die Nation war das Angebot einer vollen Identität, während plurale Gesellschaften, eben weil sie plural sind, nur mehr nicht-volle Identitäten, d.h. Identitäten, die das Faktum des Pluralismus einschließen, anbieten können. (Charim 2017: 211)
Zwar war Pluralität im Rahmen der nationalen Gemeinschaft nicht prinzipiell ausgeschlossen, doch war sie eben dem kollektiv-einheitlichen Identitätskonzept untergeordnet, das größere Differenzen symbolisch verdeckte und es so ermöglichte, politische Themen über unterschiedliche Werteschemata (etwa konservativ/progressiv) im Rahmen eines als verbindlich akzeptierten nationalen Wertekonsens zu diskutieren, ohne dabei die Legitimität staatlich organisierter Politik grundsätzlich zu gefährden. Mit voranschreitender Globalisierung ist diese Form der Komplexitätsreduktion mittels an territoriale Grenzen gebundener kollektiver Identitätskonzepte für die Sicherung demokratischer Legitimität kaum mehr geeignet. Der Populismus reduziert nun aber paradoxerweise ausgerechnet erfolgreich Komplexität, indem er diesen Identitätsverlust immer wieder anmahnt und für seine Anhänger*innen das Vertrauen in das Volk als nationales Kollektiv – We, the People – performativ wiederherstellt; wobei er sich gleichzeitig als vermeintlich demokratischere Alternative zur regierenden ›Elite‹ inszeniert. Dafür bedient sich die Semantik der populistischen Kommunikation einer doppelten Zeitstruktur, die die nationale Vergangenheit als unabänderliche Abfolge von Ereignissen behandelt; als eine vertraute Lebenswelt,
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die man nur in die Zukunft überführen müsse, um diese erwartbar und planbar zu machen. Stegemann (2017: 43) hat die Leitdifferenz des Rechtspopulismus als ›bekannt/unbekannt‹ definiert. Diese Unterscheidung wird auch in die Zeitdimension eingeführt: Bekannt ist dann, was sich schon ereignet hat, und die gegenwärtig unbekannte Zukunft ist demnach nicht länger überkomplex, wenn das Bekannte, also die Vergangenheit, als Grundlage der Zukunft dient. Diese Argumentation hat natürlich einen wesentlichen blinden Fleck. Selbstverständlich ist die Vergangenheit niemals bekannt und unabänderlich, sondern immer nur »gegenwärtige Vergangenheit«; die Geschichte ist keine statische Abfolge von Ereignissen (Luhmann 2014: 13). Und trotzdem kann mithilfe dieser Unterscheidung erfolgreich Komplexitätsreduktion betrieben werden: Die Orientierung am Gewesenen kann daher die Welt vereinfachen und verharmlosen. Man unterstellt, daß das Vertraute bleiben, das Bewährte sich wiederholen, die bekannte Welt sich in die Zukunft hinein fortsetzen wird. Und diese Unterstellung hat im Großen und Ganzen Erfolg, da alle Menschen auf sie angewiesen sind und niemand mehr in der Lage ist, alles auf einmal anders zu machen. (Luhmann 2014: 23)
Angesichts der Unsicherheit in Bezug auf die unbekannte Zukunft und die möglichen Folgen der Krisen der Gegenwart wird die Geschichte als Form der reduzierten Komplexität im Populismus nostalgisch verklärt und als Masterplan für eine bessere Zukunft herangezogen. Dass früher alles besser war, ist aber durchaus auch eine gängige Floskel moderater wertekonservativer Politik. Bezeichnend für die populistische Variante der Vergangenheitsverklärung ist, dass sie zur Wiederherstellung der nationalen Kollektividentität immer auch sowohl eine räumliche als auch eine soziale Aus- und Abgrenzung fordert und ihre In- und Exklusionskriterien mal mehr, mal weniger deutlich mit Extremismen verknüpft: Mit der stärkeren Sicherung von Staatsgrenzen soll zugleich das kulturell Fremde und Unbekannte exkludiert werden, denn nur so, wird behauptet, könne die Nation wieder zu früherer Stärke gelangen. Für gegenwärtige politische, wirtschaftliche oder kulturelle Konflikte werden unterschiedliche Kollektive verantwortlich gemacht, das Unbekannte als abstrakte Gefahr dämonisiert und als Bedrohung der nationalen Identität und des bürgerlichen Wohlstandes aufgefasst: »Das Fremde ist nun nicht mehr nur eine Bedrohung für den innersystemischen Frieden, sondern es wird zur Ursache auch für die Probleme gemacht, die das System schon ohne Unbekannte hatte. Das Unbekannte wird zum Sündenbock« (Stegemann 2017: 46). Die populistische Komplexitätsreduktion steigert die allgemeine Beunruhigung, die die Beobachtung des Unbekannten und Fremden in der Öffentlichkeit erzeugt, und schafft dann Vertrauen, indem sie verspricht die vertraute Welt, also die bekannte Vergangenheit in Zukunft wiederherzustellen, indem sie das Unbekannte und Fremde exkludiert und in eine Umwelt außerhalb
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staatlicher Grenzen verlagert, um sich dann innerhalb lokaler Grenzen wieder am Bewährten zu orientieren. Dass eine Verklärung der Vergangenheit dabei wirksam ist liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass früher ja tatsächlich weniger Krisenereignisse beobachtet wurden – zumindest verglichen mit der gegenwärtig hyperkomplexen Netzwerk-Realität.
Emotionen in Politik und Populismus Was der Populismus als das Fremde, das sprichwörtlich ›ausgegrenzt‹ werden soll, konstruiert, kann, je nach lokaler Situation, divergieren, doch der übergreifend zu beobachtende Exklusionsmechanismus folgt nicht nur einer spezifischen Zeitlogik, sondern nutzt darüber hinaus auch eine weitere besonders wirksame Form der Sinnerzeugung: Egal welche Gestalt der Andere annimmt – es können Flüchtende, Ausländer, queere Identitäten oder Eliten sein, aber auch eine Institution […] –, um die Grenze wirkungsvoll ziehen zu können, wird mit dem Antagonismus eine emotionale Aufladung betrieben, die beide Seiten gegeneinander ausspielt. Auf der guten Seite steht dann das bedrängte Volk und auf der anderen Seite die Bedrohung. (Stegemann 2017: 53f.)
Die These, der Populismus sei als Politikstil speziell durch starke Emotionalisierung erfolgreich, vertreten viele aktuelle Forschungsansätze (Diehl 2016; Moffitt 2016: 46.) Dabei wird allerdings, wie eingangs bemerkt, oft vernachlässigt, dass Emotionen in der politischen Kommunikation nicht auf den Populismus beschränkt sind und etwa in der politischen Werbung als unverzichtbare Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung und Sinnstiftung dienen. Um zu verstehen, was Emotionen in der Kommunikation leisten, gilt es zunächst sie zu definieren und dabei von Gefühlen und Affekten zu unterscheiden. Peter Fuchs definiert Gefühle als eine Art kommunizierte, verlustreiche semantische Form eines die Wahrnehmung begleitenden Überschusses in der Kommunikation: Es [das Gefühl, LV] ist schlicht die Bezeichnung der Mitwahrnehmung einer Beschneidungsleistung, die im Moment, in dem beobachtet wird, immer mitanfällt. Wer Liebe, Haß, Ekel, Furcht, Trauer intern oder zu Kommunikationszwecken bezeichnet, abstrahiert (im Sinne des Abziehens) rigide von der Kompaktheit, der Fülle der Wahrnehmung. (Fuchs 2004: 14)
Um eine begriffliche Trennschärfe von nicht kommunizierbaren, oft unbewusst ablaufenden Bewusstseinsprozessen der Wahrnehmung und Bezeichnungen für die dabei erzeugten Irritationen, die qua struktureller Kopplung auch sozialen Systemen zu Kommunikationszwecken zur Verfügung stehen
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und sprachlich bezeichnet werden können, einzuführen, wird im Folgenden ausschließlich von ›Affekt‹ und ›Emotion‹ die Rede sein. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass nicht zwangsläufig jeder in der Kommunikation bezeichneten Emotion ein Affekt vorausgegangen sein muss, denn das Bewusstsein selbst ist und bleibt der Kommunikation unzugänglich: »Keine Kommunikationssequenz kann klären, ob die Leute wirklich Emotionen haben« (Luhmann 1996: 183). Umgekehrt muss die Kommunikation von/über Emotionen nicht zwangsläufig Affekte in Gang setzen. Insbesondere spezifische affektive Reaktionen können nur bedingt durch gezielte Strategien evoziert werden. Dass eine Affizierung dennoch oft geschieht ist inzwischen durch neurowissenschaftliche Forschung weitgehend belegt und wird auch in der kognitiven Linguistik speziell in Untersuchungen der Mechanismen des politischen framing vorausgesetzt (Lakoff/Wehling 2007). Nennen wir politische oder populistische Kommunikation emotional, können je nach Kontext bestimmte Affekte sprachlich markiert werden oder aber es wird darauf abgezielt diese zu stimulieren. Wenn in Beiträgen der Populismusforschung die Rede davon ist, dass Populist*innen Emotionen wecken (Diehl 2016: 78) oder mobilisieren (Mouffe 2005: 55), bezieht sich dies meist auf den Einsatz von Emotionen in der Kommunikation, also die Konstruktion einer Mitteilung, die darauf abzielt, Affekte zu stimulieren und Aufmerksamkeit zu generieren. Dieser Mechanismus ist allerdings entscheidend für jede erfolgreiche politische Repräsentation (Diehl 2012: 155f.). Denn die für jedes System, also auch die Politik, notwendige erfolgreiche Anschlusskommunikation ist zweifach voraussetzungsvoll: Eine Mitteilung muss zunächst überhaupt als solche wahrgenommen werden und dann im Rahmen des Sinnverstehens angenommen oder abgelehnt werden. Die Situation der Annahme oder Ablehnung des Sinnvorschlags ist dabei zunächst neutral. Um den kommunikativen Erfolg als Übernahme des selektiven Inhalts der Mitteilung als Prämisse für das eigene Verhalten sicherzustellen (was u.a. das Ziel jeder Wahlkampfkommunikation sein dürfte), bedarf es einer Form der erfolgreichen Motivation und Konditionierung, der sogenannten symbolischen Generalisierung. Die Formen, die das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Politik (Macht) annimmt, können dabei ganz unterschiedlich ausfallen; entscheidend ist jedoch, dass jedem Symbolisierungsvorgang eine affektive Dimension inhärent ist, die primär sprachbasiert ist (Diehl 2012: 156; Laclau 2005: 111). Mittels der in Gang gesetzten Affizierungsprozesse wird Aufmerksamkeit für das Mitgeteilte gewonnen. Für die Annahme des Sinnvorschlags ist es nun entscheidend, diesen Prozess mit variierten Formen zu wiederholen (zu generalisieren), da auf diesem Weg entsprechende im Bewusstsein wirkende frames (kognitive Schemata) verfestigt werden. Es handelt sich also um einen klassischen performativen Prozess, der im Erfolgsfall eine Identifikation mit den kommunizierten politischen Forderungen, Werten und Ideologien ermöglicht. Dieser Vorgang ist besonders für die Wirkung von Werbespots um-
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fangreich untersucht worden und für verschiedenste Formen politischer Werbung wie etwa TV-Spots, Slogans, Merchandise etc. zentral: Repetition is an integral part of consistency. Without consistency, messages may appear unstructured and thus not be influential. In a »cluttered environment«, attention, recall, and positive response are difficult to obtain […]. A consumer must receive multiple exposures to an advertisement in order to be effective. (Kenski/Conway 2017: 112)
Dass sich über Wiederholung einer symbolischen Wertesemantik auch kollektive politische Identitäten konstruieren und stabilisieren lassen, wurde ja zuvor bereits als Funktion der Zivilreligion erörtert. Dass ein solcher Vorgang sowohl affektbasiert ist, als auch emotionale Formen der Kommunikation benutzt, wird kaum jemand bestreiten, der jemals eine Amtseinführungsrede eines US-Präsidenten verfolgt hat. Es ist also für eine nähere Bestimmung des Populismus wenig damit gewonnen, ihn als unzulässige Emotionalisierung der politischen Kommunikation und Bedrohung der Demokratie zu begreifen, und zu glauben, die Gefahr durch Rationalisierung des demokratischen Diskurses wirksam überwinden zu können. Daher soll nun abschließend beispielhaft für die prominente, medienübergreifend präsente Wahlkampfparole Make America Great Again in Tweets von Donald J. Trump betrachtet werden, wie sich spezifische temporale mit emotionalen Logiken in der Semantik populistischer Kommunikation verschränken und im Rahmen unterschiedlicher medialer Wiederholungen populistische Identitäten performativ stabilisieren können.14
#MAGA und die mediale Performativität des Populismus im Präsidentschaftswahlkampf 2016 Das ideale Medium im neuen Wahlkampf ist die Twitter-Mitteilung. Sie darf nicht nur, sie muss verkürzen, zuspitzen, personalisieren. […] Die Kurzmitteilung ist wie ein Köder in einem Meer der Unaufmerksamkeit. Während der traditionelle Politiker bei seiner Wahlkampfrede sein ›Ich‹ als Repräsentant eines ›Wir‹ setzt, verfährt der Twitter-Politiker genau umgekehrt. Er versucht, aus einem radikalen Ich erst ein Wir zu schaffen, freilich ohne die Subjekthaftigkeit seiner Aussage dabei zu opfern. Und so […] isoliert der Tweet auch den Moment. Ich spreche jetzt. (Seeßlen 2017: 74)
14 | Zur performativen Formation von Identitäten bemerkt Judith Butler, dass diese nur durch aneinander anschließende Akte zustande kommt: »If a performative provisionally succeeds (and I will suggest that ›success‹ is always and only provisional), then it is not because an intention successfully governs the action of speech, but only because that action echoes prior actions, and accumulates the force of authority through the repetition or citation of a prior and authoritative set of practices« (Butler 1997: 51).
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Als Medium der politischen Kommunikation hat das soziale Netzwerk Twitter in den letzten Jahren insbesondere in den USA zunehmend an Bedeutung gewonnen. Im Kontext der zeitlichen Veränderungen bei massenmedialer Beobachtung von digitalen Teilöffentlichkeiten wurde bereits festgestellt, dass das Ziel der Politik, Aufmerksamkeit von Presse und TV und somit breite öffentliche Sichtbarkeit zu erhalten, über Twitter besonders leicht und schnell zu realisieren ist. Im Zuge dessen wurden auch die spezifischen kommunikativen Praktiken des sozialen Netzwerks bereits kurz angesprochen, die für die Bildung und Abgrenzung von digitalen kollektiven Identitäten zentral sind. Die für performative Prozesse entscheidenden Praktiken des Wiederholens und Variierens durch retweeten und hashtaggen befördern dabei sowohl die generelle Erzeugung von Aufmerksamkeit als auch die Konstruktion einer Vergemeinschaftung, wobei emotionale Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt. Der Retweet, eine erneute Veröffentlichung des Tweets eines anderen Nutzers in Form eines eigenen Tweets, erhöht nicht nur die Reichweite einer Mitteilung, sondern kann der geteilten Botschaft zusätzlich auch einen emotionalen Sinn verleihen (Zappavigna 2012: 34ff.). Denn die bewusste Entscheidung zum Retweet kann vom Verfasser ebenso wie ein Like als Zustimmung, also Annahme des Sinnvorschlags der eigenen Mitteilung, gedeutet werden (Kenski/Conway 2017: 116). Um die Wahrscheinlichkeit einer Vervielfältigung und Wiederholung durch einen Retweet zu erhöhen, ist es von Vorteil, wenn die Mitteilung selbst emotional konnotiert ist – ob positiv oder negativ spielt dabei keine Rolle (Hamby 2017: 5). Ein Hashtag markiert ein Thema oder mehrere Themen eines Tweets und sorgt dafür, dass die Mitteilung über die Suchfunktion gefunden werden kann. Gibt man einen bestimmten Hashtag in die Suchleiste ein, erscheint eine aktuelle chronologische Auflistung aller Tweets die mit diesem Hashtag markiert sind und generiert eine Art dynamisches Archiv, dass sich größtenteils aus verschiedensten Formen von Meinungsäußerungen zum jeweiligen Thema speist (Hamby 2017: 5). Erhält ein Thema aktuell besondere Aufmerksamkeit und wird in besonders vielen Mitteilungen erwähnt, erscheint es auf der Twitte-Startseite unter trending topics. Bei Themen, die als trending topics verhandelt werden, liegt der Fokus (wie bei jedem Trend) prinzipiell auf ihrer Aktualität und Unmittelbarkeit (Zappavigna 2012: 18). Besondere Aufmerksamkeit erhält also was aktuell und emotional konnotiert ist, wobei sich Aufmerksamkeit im Falle von trending topics quantitativ bemisst. So kann es nicht verwundern, dass Politik und Massenmedien vermehrt regelmäßig Twitter zur Beobachtung der öffentlichen Meinung nutzen. Für die Politik dient Twitter aber auch, und in den USA insbesondere, der personellen Inszenierung, speziell im Wahlkampf. Die erfolgreiche Inszenierung von Authentizität kann hier durch die Illusion der direkten Ansprache eines politischen Publikums mittels personalisierter Accounts besonders leicht gelingen,
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insbesondere wenn die eigenen, aufgrund des 140-Zeichen-Limits meist kurz und prägnant verfassten Botschaften durch oben genannte Praktiken vervielfältigt und präsent gehalten werden. Auch lassen sich über damit in Gang gesetzte Affizierungsprozesse potenziell leichter Wähler*innen gewinnen. Dabei ein »radikales Ich« zu präsentieren, wie Seeßlen (2017: 74) es dem Twitter-Politiker als dem kollektiven ›Wir‹ generell vorgängig zuschreibt, dürfte allerdings insbesondere auf die populistische Form der Selbstinszenierung zutreffen. Denn hier gilt es, sich im Unterschied zu anderen Inszenierungen von Politiker*innen in demokratischen Systemen nicht nur als Alternative zur etablierten politischen Parteienlandschaft zu inszenieren, sondern auch als einzig wahre Stimme des Volkes: Just as ›the people‹ and ›the elite‹ are constructions, although usually based on a warped interpretation of reality, the vox populi is a construction of the populist leader – ironically often unwittingly reinforced by the anti-populist rhetoric of the establishment. This construction consists of two distinct but interrelated processes: (1) separation from the elite and (2) connection to the people. Whereas the former process is related to the outsider-status of populist leaders, the latter process is linked to their claimed authenticity. (Mudde/Kaltwasser 2017: 68)
In den Wahlkampf-Tweets von Donald J. Trump aus dem Jahr 2016 finden sich vielfältige Mitteilungen, die sich diesen emotionsbasierten Antagonismen in unterschiedlichen Varianten bedienen. Abb. 1: Beispiele für unterschiedliche Varianten von »Make America Great Again« in Trumps Tweets
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Das gewählte Beispiel, zwei Tweets mit einem Bezug zu Make America Great Again, sind aufgrund der von Twitter ermittelten höchsten Popularität von Trump-Tweets aus dem Wahlkampf ausgewählt. Über die Verwendung auf Twitter hinaus wurde MAGA, wie der Hashtag im oberen Tweet verkürzt verschlagwortet, medienübergreifend als Wahlkampfslogan Trumps prominent und wurde als weißer Schriftzug auf roten Truckercaps zum Kultobjekt seiner Anhänger. Die Mitteilung im oberen Tweet des offiziellen Accounts von Donald Trump vom 8. Oktober 2016, zu finden auf Twitter unter @realDonaldTrump, richtet sich zunächst gegen zwei in der populistischen Kommunikation klassisch gewählte Feindbilder: Die Medien und das Establishment, die beide Trumps Ausscheiden aus dem Wahlkampf fordern. Die ausschließlich in Versalien (was in sozialen Netzwerken einer schriftlichen Form des lautstarken Sprechens oder Schreiens entspricht) verfasste Zeile darunter funktioniert als direkte Antwort auf diese Forderung und richtet sich sowohl an die als direkte Gegner diskursivierten Massenmedien und etablierten Parteipolitiker*innen als auch an die eigenen Anhänger*innen: »Niemals werde ich das Rennen verlassen, niemals werde ich meine Unterstützer im Stich lassen!« Der darunter befindliche Hashtag MAGA, unter dem der Tweet mittels der Suchfunktion gefunden werden kann, und dessen Bedeutung zu diesem späten Zeitpunkt der Kampagne (gut einen Monat vor dem Wahltag) hinlänglich bekannt ist, dient als Verstärkung dieser Aussage und unterstreicht erneut das Ziel der Kampagne: Amerika wieder groß(artig) zu machen. Dass dieses Amerika der Vergangenheit nicht genauer zeitlich spezifiziert ist und auch nicht klar ist, worin seine frühere Größe/Großartigkeit bestanden haben soll, macht diese Forderung zu einer hyperkonnektiven rückwärtsgerichteten Utopie der verklärten nationalen Vergangenheit, die aufgrund ihrer fehlenden Spezifität stellvertretend als gemeinsame Zukunftsvision für heterogene Projektionen und Forderungen funktioniert. Mit dem Begriff des ›heartland‹ hat Paul Taggart eben diese imaginierte Vergangenheit als eine speziell für den US-amerikanischen Populismus konstruierte symbolische Dimension bezeichnet: The heartland is different from [other] ideal societies because it sees populists casting their imaginative glances backwards in an attempt to construct what has been lost by the present. […] The heartland is constructed not only with reference to the past, but also through the establishment of its frontiers. Put more simply, the heartland is made as a justification for the exclusion of the demonized. […] Central to the idea of the heartland is its very centrality. The heartland lies at the core of the community and excludes the marginal or the extreme […]. Ideas and concerns that come from outside the heartland are very much secondary concerns for populists, if they are of interest at all. This has the effect of reinforcing the sense of unity of the heartland because it strengthens the border around this territory of imagination. (Taggart 2000: 95f.)
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MAGA, die Konzeption des früheren Amerika, dass es ob seiner Großartigkeit wiederherzustellen gilt, entspricht damit der populistischen Logik der temporalisierten Komplexitätsreduktion, die mit einer räumlich-territorialen Abund Ausgrenzung sowie Exklusion des kulturell Fremden einhergeht. Denn wie der Name schon sagt, liegt das ›heartland‹ im Herzen, also im geografischen Zentrum und verlagert alles, was der (Wieder-)Herstellung einer ›reinen Volksidentität‹ im Wege steht, in die Peripherie außerhalb nationaler Grenzen. Dass sich die Trump-Kampagne 2016 vornehmlich auf ländliche Regionen im Süden und mittleren Westen, den sog. ›Fly-Over States‹, konzentrierte, unterstreicht, wie die populistische Vision des ›heartland‹ als einem Inbegriff von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit sich mit dem nationalistischen Phantasma des vorgeblich immer schon dort lebenden, wahren Volkes verschränkt. Dieses mystische Zentrum funktioniert, auch das steckt schon im Begriff ›heartland‹, als Symbol einer affektiven Identifikation. Nicht nur ist das ›great‹ im MAGASlogan semantisch emotional positiv konnotiert, auch funktioniert die performative Herstellung einer hyperkonnektiven Vision des künftigen vergangenen Amerika als Form eines symbolisch Ganzen über ein affektives »radical investment« (Laclau 2005: 111). Laclau (2005: 129) stellt für Prozesse populistischer Vergemeinschaftung fest, dass sie zur Herstellung einer symbolisch vollen Einheit aus Teilen, also eines vermeintlich vollständigen Volkskollektivs (›the people‹) aus Bruchstücken der US-Bevölkerung, einen möglichst von spezifischem Sinn entleerten Identifikationspunkt in Form eines »empty signifier« benötigen. Unter diesem entleerten Begriff können sich unterschiedliche Forderungen zu einem populistischen Kollektiv versammeln und vereinen und diese Gruppe als Einheit legitimieren. Dabei kann es sich um die Führer*innenfigur selbst handeln, aber auch ein symbolisches Äquivalent: »The object of investment can be contingent, but it is most certainly not indifferent – it cannot be changed at will. With this we reach a full explanation of what radical investment means: making an object the embodiment of a mythical fullness« (Laclau 2005: 115). Die mythische symbolische Einheit eines vergangenen ›heartland‹ wird im Moment der Annahme der Kommunikation affektbasiert im Rahmen einer erfolgreichen symbolischen Generalisierung performativ erst hergestellt, d.h. mit Sinn aufgeladen. Die konzeptionelle Leere von MAGA ist dabei Voraussetzung für die Vereinigung vieler unterschiedlicher Sinnzuweisungen zu einem vollen symbolisch-Ganzen. Jede einzelne Annahme des teilentleerten Sinnvorschlags, der genug Raum für die individuelle Sinnstiftung bietet, funktioniert als Inklusion ins populistische Kollektiv – und stellt es dabei gleichzeitig überhaupt erst her. Was als Sinndimension aber dabei übernommen wird, sind die zeitliche und emotionale Struktur der Komplexitätsreduktion. Die populistische Inklusion als behauptete Wiederherstellung eines vermeintlich legitimen nationalen Kollektivs führt nicht nur eine Exklusion des Anderen als national Fremden mit sich, sondern exkludiert auch alles und
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jeden, das/der die Legitimität der populistischen Volksherrschaft nicht anerkennt. Die Differenz eigen = legitim vs fremd = illegitim wird dabei moralisch re-codiert – etwa als Unterscheidung zwischen dem ›reinen‹ Volk und der korrupten Elite (Mudde/Kaltwasser 2017: 13; Müller 2016: 20). Im Falle des Tweetbeispiels sind es ›die Medien‹ und ›das Establishment‹, die hier zu Trumps Gegnern werden, da sie sein Ausscheiden aus dem Wahlkampf fordern, und damit automatisch auch Gegner des Volkes sein müssen. Und so kann die in Versalien verfasste Verweigerung, die Kandidatur um das Präsidentenamt aufzugeben auch als Antwort auf einen moralischen Affront verstanden werden – eine Antwort, die hier die personifizierte einzig wahre Stimme des Volkes, der realDonaldTrump, denen, die sich mit ihrer Forderung der Wiederherstellung des großen/großartigen Amerika illegitimerweise in den Weg stellen, entgegenbrüllt. Dass dies in diesem Fall primär über einen Twitter-Account und nicht etwa im Rahmen einer TV-Übertragung oder eines Radio-Interviews geschieht, hat einen entscheidenden Anteil an der Authentizitätskonstruktion der Mitteilung. Denn auch wenn im Prinzip unklar ist, ob die unter dem Account realDonaldTrump gelisteten Botschaften tatsächlich von Donald Trump verfasst wurden, wird genau diese personelle Unmittelbarkeit durch die dort veröffentlichten Tweets inszeniert. Hier, so wird suggeriert, spricht scheinbar Donald Trump persönlich und direkt, jederzeit und ohne Verzerrungen durch negative oder zeitverzögerte Berichterstattung der Massenmedien zu seinen Followern – und die können darauf ebenso direkt reagieren, indem sie antworten, liken, retweeten und/oder, um im Beispiel zu bleiben, MAGA oder MakeAmericaGreatAgain selbst als Hashtag benutzen; also zustimmen, wiederholen, mit Sinn auffüllen und so die Inszenierung selbst performativ stabilisieren. Durch die sukzessive Aneinanderreihung von Mitteilungen von Nutzern unter demselben Hashtag kann durch das, was Laclau (2005: 74) »equivalential articulation of demands«, also etwa gleichwertige Artikulation von Forderungen/ Ansprüchen nennt, im Hinblick auf dieselbe Zukunftsvision performativ eine populistische Gruppenidentität konstruiert werden: eine imaginierte digitale Gemeinschaft, deren Differenzen durch Bezugnahme auf dieselben Hashtags symbolisch überdeckt wird.
Fazit Wie am Beispiel der populären MakeAmericaGreatAgain-Tweets gezeigt werden konnte, sind für die affektiv-performative Konstruktion eines populistischen Kollektivs spezifische zeitliche und emotionale Logiken zentral. Ebenso wie eine authentische personelle Inszenierung einer/s populistischen Anführerin/s funktionieren populistische Vergemeinschaftungsprozesse erfolgreich über das soziale Netzwerk Twitter, da den Kommunikationsmechanismen des Mediums selbst bereits eine performative Dimension innewohnt. Dabei
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sind weder die emotionalen Semantiken in der Kommunikation nur negativ konnotiert, d.h. angstbesetzt, noch zielt speziell die populistische Kommunikation im Rahmen der Vergemeinschaftung auf negative Affekte allein ab, sondern nutzt vielmehr im Rahmen ihrer antagonistischen Differenz Fremd/ Eigen positive Emotionen, um die eigene Vision einer besseren Zukunft der Krisenrealität und ihren vermeintlichen Verursacher*innen als einzig richtige Antwort entgegenzustellen. Die Exklusion des Anderen/Unbekannten/Angstbesetzten dient dabei der Inklusion des Eigenen/Bekannten/Hoffnungsstiftenden. Das Andere, welche Form es auch im Einzelnen gerade annehmen mag, wird als grundsätzliche Opposition des wahren Volkswillens als ›undemokratisch‹ oder ›böse‹ verurteilt und dadurch moralisiert. Die vorgebliche Wiederherstellung einer demokratischen Volksherrschaft wird als Alternativkonstruktion angeboten. Aufgrund des sowohl moralisch wie auch emotional aufgeladenen Antagonismus fallen viele populistische Kommunikationen unter das, was Massenmedien als berichtenswerte Information einstufen. Populismus inszeniert permanent Konflikte, moralische Bewertungen und Meinungsäußerungen. All dies wird mit der Zurechnung auf handelnde Personen verknüpft: dem ›radikalen Ich‹ des populistischen Anführers und dem ›kollektiven Wir‹ seiner Anhänger*innen und denen entgegenstehend all jene Andere, die man für die in den Medien beobachteten Krisen verantwortlich macht. Damit erzeugen Populist*innen oftmals mehr Massenmedienaufmerksamkeit als etablierte politische Akteure (Diehl 2016). Die Verbreitung und Wiederholung populistischer Kommunikation über Twitter sorgt nun dafür, dass die Botschaften von den Massenmedien in die breite Öffentlichkeit getragen werden, denn Twitter dient als ein Beobachtungsraum der öffentlichen Meinung. Natürlich müssen populistische Botschaften immer etwas anders inszeniert werden, damit sie trotz prinzipieller Wiederholung für Massenmedien immer wieder Neuigkeitswert haben und berichtenswert sind: Provokationen, Skandale oder kollektive populärkulturelle Verhandlungen (wie virale Trends, Memes etc.) können diesen Zweck erfüllen. Es sind also ausgerechnet die von Populist*innen als Lügenpresse und Realitätsverzerrer beschimpften Massenmedien, die Populist*innen die Aufmerksamkeit verschaffen, die ihnen über die Teilöffentlichkeit sozialer Netzwerke hinaus eine konstante öffentliche politische Präsenz verleihen kann. Dass dieser Effekt von Populist*innen (aber auch von allen anderen Politiker*innen, die sich in sozialen Netzwerken inszenieren) durchaus beabsichtigt ist, zeigt, dass Trump die massenmediale Dauer-Präsenz seiner Twitter-Eskapaden selbst im Interview als ›free advertisement‹ bezeichnet hat. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob es sich dabei größtenteils um negative Berichterstattung handelt, denn, wie Lakoff (2016: 7) Mitte des Jahres 2016 bereits angemahnt hat: »The more Trump’s views are discussed in the media, the more they are activated and the stronger they get
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[…].« Die populistische Präsenz, die die Massenmedien gegenwärtig als Krise westlicher Demokratiesysteme beschreiben, wird somit paradoxerweise von ihnen zum Teil erst erzeugt – und die Angst vor der populistischen Aushöhlung der Demokratie selbst zu einem Teil der Krisenbeschreibungen und damit verbundenen Zukunftsängste, auf Basis derer sich die populistische Logik primär erfolgreich entfalten konnte.
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Aushandlungen von Präsenz M eine Z eit. U nsere Z eit. Ä ussere Z eit. Z eitlichkeit und Pa arzeit in N icht -P r äsenz Pa arbeziehungen Marie-Kristin Döbler Zeitlichkeit, als im Kern soziales Phänomen und Konstrukt, resultiert aus einer pragmatischen, performativ hergestellten Synchronisation verschiedener Zeitebenen (Elias 2014: 11, 17, 23). Das zeigt sich exemplarisch an Paaren, die über Bewusstsein und Wahrnehmung, Organisation und Planung, Aushandlung oder verbale, narrative Markierungen ›Paarzeit‹ hervorbringen (müssen). Noch deutlicher wird dies bei Paaren, die mit Nicht-Präsenz konfrontiert sind, weil bei ihnen Synchronisation nicht (nur) Nebenprodukt von alltäglich und überwiegend unreflektiert stattfindenden Interaktionen ist. Vielmehr wird Zeit angesichts von Nicht-Präsenz aus der Latenz gehoben, also potentiell thematisch, reflexiv und diskursiv. Für Überlegungen zu Zeit/Zeitlichkeit ist damit die Chance verbunden, einen besseren Zugriff auf ein sonst fluides und nicht-greif bares Phänomen zu gewinnen. Ein breiter Zeitbegriff und die Berücksichtigung verschiedener Zeitebenen wiederum bietet das Potential, sich von Verkürzungen zu befreien, die sonst in den wenigen Studien typisch sind, die es zu Zeit in Nicht-Präsenz-Beziehungen gibt. Basierend auf einem physischen Präsenz-bias erkennen diese einen vermeintlichen Mangel an gemeinsamer Zeit, welcher zur Entfremdung vom oder Verklärung des Partners oder der Partnerin und letztlich zur Trennung der Paare führe (Stafford/Merolla 2007; Merolla 2010). Für die von mir untersuchten Paare kann ich hingegen konstatieren: Einerseits sind sie mit zeitlicher Befristung, spezifischen Rhythmen und Präsenzen verschiedener Dauer konfrontiert, weil sie – insbesondere aus beruflichen Gründen – immer nur für begrenzte Zeit physisch zusammen sein können. Daher reicht auch die physische Nicht-Präsenz in ihrem zeitlichen Umfang über die gemeinhin als normal interpretierte Abwesenheit im Rahmen eines Arbeitstages hinaus und ist länger als die in physischer Präsenz verbrachte Zeit. Andererseits finden sich Handlungen, die performativ Paar-
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zeit – auch jenseits physischer Präsenz – erzeugen, so dass Kontinuität genauso gewährleistet ist wie die Synchronisation der individuellen Eigenzeiten und des (Er-)Lebens der Partner*innen. Was hier schon anklingt, wird im Folgenden noch deutlicher: Um Zeit ›an sich‹ sowie die spezifische Zeitlichkeit der untersuchten Paare adäquat erfassen zu können, wird eine Unterscheidung in verschiedene Ebenen vorgenommen, die nicht nur analytisch begründet ist, sondern auch eine empirische Entsprechung aufweist. Die vier Ebenen – individuelle Eigen-, gemeinsame Paar- und dem Paar äußerliche Sozial- und Pflichtzeit – werden zusammen mit je kurzen Ausführungen zu Zeitlichkeit und Präsenz immer schon mit Bezug zum empirischen Gegenstand im ersten Teil dargestellt. Der zweite Teil wird sich dann aus einer empirischen Perspektive den spezifischen Zeitlichkeiten widmen, die sich bei den untersuchten Paaren finden lassen. Im Fokus stehen dabei zeitliche Befristungen sowie das Oszillieren zwischen verschiedenen Präsenzformen und Zeitebenen. Ebenso werden deren jeweilige Folgen und die Strategien zu deren Bearbeitung diskutiert. Datengrundlage sind dabei biographisch-narrative (Paar-)Interviews sowie leitfadengestützte, narrativ angelegte Fragebögen, die mit einem interpretativ-rekonstruktiven Verfahren in Anlehnung an die Grounded Theory (Glaser/Strauss 1999) und die dokumentarische Methode (Bohnsack 2001) ausgewertet wurden. Mein Fazit lautet, dass Paare performativ Paarzeit erzeugen und eine spezifische Zeitlichkeit aufweisen, die im Falle von Nicht-Präsenz-Beziehungen durch Endlichkeit und rhythmisches Kommen und Gehen beeinflusst wird. Dies wirkt sich auf das individuelle Erleben aus und verweist auf ein Wechselverhältnis von Zeit und Sinn: Auch wenn Zeit immer ›existiert‹, wird ihr Vergehen nur anhand von Ereignissen und Veränderungen wahrgenommen; wenn Tätigkeiten, Erleben und Erfahrungen Sinn zugeschrieben wird, dann wird die Zeit zu einem wertvollen Gut. Vor diesem Hintergrund kann Sinn auch dadurch gestiftet werden, dass Zeit begrenzt ist, es sich dabei also um ein begrenztes Gut handelt; dadurch bekommt das Jetzt Bedeutung. Verkürzt gesprochen schafft hier Sinn Zeit. Aber Zeit erschafft auch Sinn. So ist es die gemeinsam verbrachte Zeit (Paarzeit), die den Sinn der Beziehung herstellt, reproduziert und erhält.
Teil 1: Theoretische Überlegungen zu Zeit, Zeitlichkeit und Präsenz Zeit ist eine soziale Tatsache (Durkheim 1984)1 unterschiedlicher Reichweite; sie beeinflusst das Handeln mindestens einer Person oder mehrerer Personen, die als Paar oder Kollektiv verstanden werden können. Sozial ist diese 1 | Nach Durkheim (1984: 89-115) ist eine soziale Tatsache (teils auch als »soziologischer Tatbestand« bezeichnet) eine in einem Kollektiv variierender Größe auftretende festgelegte Art des Handelns, die dem Einzelnen als eine äußere Kraft gegenübertritt,
Meine Zeit. Unsere Zeit. Äußere Zeit.
Tatsache, weil es sich dabei um ein Konstrukt handelt, das einer spezifischen symbolischen Ordnung entspricht, die unter Rückgriff auf soziokulturelle, gruppenspezifische Wissensbestände in der Praxis hervorgebracht, aktualisiert und gegebenenfalls modifiziert wird (Knoblauch 2014). Deshalb ist Zeit kontingent und insbesondere in ihrem Erleben relativ. Sie hängt entschieden von verfügbaren Wissensbeständen oder -ordnungen, von situativ und kulturell relevanten Deutungen und Diskursen, von persönlicher Erfahrung, Wahrnehmung und Interpretation, von Vergleichshorizonten und Rahmungen ab (Goffman 1977). Daher vergeht in der Wahrnehmung des/der Einzelnen Zeit beispielsweise unterschiedlich schnell. Allen sozialen Beziehungen ist Zeit inhärent, die sowohl zyklisch als auch linear sein kann, weshalb soziale Beziehungen entweder als wiederholbar oder als kontinuierlich fortbestehend und sich entwickelnd gelten (Sigman 1991: 109). Grundlegend dabei ist eine Synchronisation verschiedener Ebenen, die gleichzeitig eine für diese Beziehung spezifische Zeitlichkeit hervorbringen (Elias 2014: 11ff.), die ich als Eigenzeit bezeichne und mit Vorstellungen von ›richtigen Zeitpunkten‹, ›angemessenen Zeitspannen‹ oder einem ›Zu-Früh/Zu-Spät‹ verknüpft sehe. Im Falle individueller Eigenzeit ist das persönliche Erleben grundlegend. Eigenzeiten sind nicht unabhängig von anderen Zeitebenen und schon gar nicht als a-sozial zu verstehen, vielmehr sind sie interdependent und soziokulturell eingebettet. Sowohl Zeit als auch Zeitlichkeit bleiben latent und unbeachtet, wenn Dinge ihre erwartete Geschwindigkeit haben, wenn die verschiedenen Ebenen synchronisiert sind, wenn genau so viel Zeit für etwas zur Verfügung steht wie benötigt etc. Steigt aber etwa die Anzahl der Aufgaben, die wir pro Zeiteinheit zu bewältigen haben, entsteht das Gefühl, die Zeit verfliege oder beschleunige sich (Rosa 2005: 112ff., 124ff.). Dies kann genauso zu Stress führen wie Asynchronität oder Konflikte zwischen verschiedenen Zeiten bzw. Zeitebenen – die eine läuft schneller als die andere bzw. die Ansprüche der einen schließen aus, die der anderen zu erfüllen. Dies ist vor allem für Paarbeziehungen von Bedeutung, weil hier nicht nur eine Balance aus Pflicht-, Sozial-2 und Individualzeit 3 gewährleistet sein muss, die sich in individueller Eigenzeit niederschlägt. Vielmehr müssen zwei individuelle Eigenzeiten miteinander in Einklang gebracht werden, und eine vierte Zeitebene kommt hinzu: die Paarzeit. Diese verschiedenen Ebenen sind nach ihren zeitlichen Primärverwendungen oder den rekonstruktiv bewussten Zuordnungen in der berichteten Wahrnehmung unterschieden: Zur Pflichtzeit gehören alle externen, auferlegauf Handlungen präformierenden Druck oder Zwang auszuüben vermag und meist als natürlich erscheint, weshalb sie nicht hinterfragt oder reflektiert wird. 2 | Nicht soziale Zeit, denn das ist letztlich jede Zeit, wie obige Definition klarmacht. 3 | Nicht Eigenzeit, denn eine solche haben - wie oben aufgeführt - auch Gruppen, hat auch das Paar zusammen.
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ten, verpflichtenden und notwendigen Tätigkeiten wie Arbeit, Haushalt, Einkauf. Sozialzeit bezieht sich auf Zeit, die nicht zur Paarbeziehung gehörenden Dritten gewidmet wird, wie etwa beim Treffen mit Freunden, ehrenamtlichem Engagement oder der Aktivität in Vereinen. Sowohl Pflicht- als auch Sozialzeit sind, wie die objektiv-standardisierte Zeit, der äußeren, paarexternen Zeit zuzurechnen. Bei Paarzeit geht es um die dem Partner oder der Partnerin gewidmeten oder mit diesem/r verbrachten Zeit, während Individualzeit schließlich jene Zeit umfasst, die man für sich selbst zur Verfügung hat, etwa zur Regeneration oder zur Muse. All diese Zeitebenen können gemeinsam auftreten, etwa wenn man sich als Paar mit Freunden trifft, man im Beisein des Partners/der Partnerin arbeitet oder sich regeneriert. Es handelt sich um eine analytische Trennung, die verdeutlicht, welchen Balanceakt jeder täglich innerhalb seines Lebens und angesichts der begrenzten Lebenszeit vollbringen muss. Besonders auffällig, vermutlich auch schwerer, ist dies im Falle von Paarbeziehungen, die auf Grund räumlicher Gegebenheiten teilweise mit physischer Nicht-Präsenz konfrontiert sind. Aber physische Präsenz ist nicht die einzige Form der Präsenz, die für Paare von Bedeutung ist. Das ›Zusammensein‹ hat vielmehr verschiedene Erscheinungsformen, die beispielsweise mental oder medial gestützt oder mit bestimmten Zuständen besonderer Erlebnisqualität assoziiert werden. All diese schematisch in Tabelle 1 dargestellten Formen sind insofern von Bedeutung, weil sie Einfluss auf die Zeitlichkeit von Paaren und die Synchronisation der Partner*innen ausüben. Tabelle 1: Schematische Darstellung analytisch getrennter Präsenzen Präsenz Raum
An-/Abwesenheit
Vor allem physisch, teils kognitiv
Gegenwart
Physisch und/oder kognitiv
Medien
Vermittelte Anwesenheit: (Pseudo-)Dasein, Zusammensein Vermittelte Gegenwart: (Pseudo-)Synchronisation
Kognitiv
Mental
Herausragende Präsenz Resonanz Intensives Erleben
Immer kognitiv, meist auch physisch
Appräsentation: (sinnlich wahrnehmbare) Spur Latenz
Kognitiv, auf potentiell physische Präsenz verweisend
Zeit 4
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4 | Im weitesten Sinne.
Meine Zeit. Unsere Zeit. Äußere Zeit.
Teil 2: Empirie Per Definition ist die in physischer Präsenz verbrachte Zeit bei den untersuchten Paaren limitiert, wodurch sich die Wahrnehmung von Zeit, insbesondere der Paarzeit, verändert und bestimmte Formen von Zeitlichkeit hervorbringt. Zeit verliert ihren Status als latente, unbeachtete Dimension des (täglichen) Lebens, was zusammen mit dem Wissen um Endlichkeit spezifische Effekte für die Paarbeziehung, das Erleben und den Umgang mit Zeit erzeugt. Die pragmatische Synchronisation verschiedener Ebenen muss unter anderen Voraussetzungen erfolgen, und es entsteht Bewusstsein für Paarzeit; Zeit und Zeitlichkeit werden ambivalente Gegenstände von Reflexion, Thematisierung oder Aushandlung, was sich beispielsweise in Phasendenken niederschlägt. Paarzeit wird dann vor allem entlang der geographischen Distanz zwischen den Partner*innen in Phasen unterteilt. Dies ist gedanklich und praktisch mit bestimmten Handlungs- und Interaktionsmodi sowie inhaltlichen Füllungen verbunden.5 Dies kann einerseits als Strategie verstanden werden, mit dem Wechsel aus physischer An- und Abwesenheit umzugehen, dient andererseits aber auch der Sinngebung und Ausdeutung sich selbst und anderen gegenüber. Gleichzeitig kann diese Form des Denkens und Deutens als Akt der Bewältigung der Endlichkeit der Nicht-Präsenz verstanden werden. Dabei muss aber beachtet werden, dass Endlichkeit verschiedene Facetten und Gesichter hat. Es geht dabei um die Endlichkeit der Zeit, in der man eine Nicht-Präsenz-Beziehung führt (1), der aktuellen Nicht-Präsenz (2) oder aktuellen Präsenz (3). (1) Julia 6: »Auf jeden Fall haben wir [uns] darauf festgelegt, es ›durchzuziehen‹, also geduldig die 3,5 Jahre abwarten.« (Julia&Anton: 10) (2) Ester: »When the children where younger, we counted the days till daddy was about to return.« (Ester&Ben: 329) (3) Helmut: »Am Sonntagabend merke ich, dass ich mich meist nicht so wohl fühle.« (Emma&Helmut: 46)
Die Befristung und das Wissen um die Endlichkeit beeinflussen dann auch, wie die Partner*innen handeln und sich aufeinander einstellen. So werden sowohl die Dauer einer ›Gewöhnungsphase‹ bzw. der Transformation vom Sin5 | In Präsenz ist Paarzeit z.B. an umfangreiche und/oder alltägliche face-to-face-Interaktion geknüpft, während Paarzeit in Nicht-Präsenz, wenn überhaupt, nur medialisiert geschaffen wird: man skypt, telefoniert oder chattet. 6 | Alle Interviews wurden anonymisiert und pseudonymisiert sowie für die leichtere Lesbarkeit um Verzögerungslaute und Wort-Dopplungen bereinigt.
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gle- zum Paarsein zur Endlichkeit der anstehenden Präsenzphase (1) als auch das Erleben eines Phasenwechsels zum Wissen um das Ende der aktuellen oder der folgenden Phase (2) in Beziehung gesetzt, was auch zu einer situativen Veränderung der Zeitnutzung führt (3). (1) George: »Each time I come, my arrival is difficult. Sometimes it lasts 24, 48 hours. It can last a week. Especially when we know we have more time maybe, it’s a week.« (Paula&George: 103f.) (2) Sandra: »Abschied ist unterschiedlich, je nachdem, wann das nächste Wiedersehen sein wird. Beim Wissen, dass man sich länger nicht sehen wird, ist es natürlich eher schwierig und etwas traurig.« (Sandra: 44ff.) (3) Susanne: »Sobald wir zusammen sind, verbringen wir meistens die erste Woche damit, die Familie und Freunde zu sehen, die der andere lang nicht mehr gesehen hat. […] Wir versuchen die letzten gemeinsamen Momente auszukosten in dem wir die Zeit nur noch zu zweit verbringen.« (Susanne: 34ff., 49ff.)
Während sich somit ganz allgemein eine Wirkung des Oszillierens zwischen verschiedenen Präsenzzuständen auf das Erleben von Zeit in einer Paarbeziehung feststellen lässt, fällt dies trotz erkennbarer Muster verschieden aus. Differenzen sind u.a. auf soziokulturelle Erwartungen an Dauerpräsenz in Paarbeziehungen (1), inter- und intraindividuelle Unterschiede (basierend auf Erfahrungen, Persönlichkeit und Fähigkeiten) (2) und (antizipierte) lebensphasenspezifische Veränderungen (3) zurückzuführen, so dass Erleben über die Zeit hinweg als variabel zu betrachten ist. (1) Julia: »Arzt: ›Die nächsten 14 Tage dürfen Sie nachts nicht alleine sein, wegen Nachblutungsgefahr.‹ Und ich so: ›Des fällt ihnen jetzt aber bald ein.‹ […] ›Ja, aber Sie ham doch an Ehemann.‹ ›Ja ja, ich hab schon nen Ehemann. Am Wochenende halt.‹ ›Ja, sind Sie getrennt lebend?‹ ›Nein, nein, der ist berufsbedingt nur am Wochenende zu Hause.‹« (Julia&Clemens: 383ff.) (2) Lena: »Und ich glaube, dass früher, wenn Freunde von mir in Urlaub gefahren sind, die waren für mich weg. Tot. Damals gab es natürlich auch noch nicht, da konnte man mal von Stadt-D nach Stadt-A telefonieren […] Und das war dann für mich: ›Jetzt ist er weg, dann ist er halt weg. So jetzt ist er wieder da, aha ok, wer bist du?‹ Das war für mich ganz schwierig am Anfang. Aber das habe ich glaube ich gelernt. Auch in der Fernbeziehung. Deswegen war ich am Anfang glaube ich wahnsinnig traurig, dass er weg war […]. Hab des dann aber glaube ich relativ schnell gemerkt, dass er alles versucht, dass wir uns sehen und dass es dann halt auch klappt und dass er dann auch viel Elan und finanzielle Mittel reinsteckt, dass das funktioniert und des irgendwie plant und geplant
Meine Zeit. Unsere Zeit. Äußere Zeit. haben will, dass es irgendwie anders besetzt wurde. Und jetzt ist es nicht mehr so dass, fährt mein Partner weg, dass ich traurig bin. Meistens weiß ich ziemlich genau, was ich in der Zeit dann so für mich machen will.« (Lena: 628ff.) (3) Moritz: »Ja, langfristig sollte und wird sich schon was ändern. Dann auch mit einer anderen Wohnung, mehr Zimmer. Andere Zimmeraufteilung. Zumindest wenn es auf Dauer ist, wenn beide was arbeiten müssen, durch die unterschiedlichen Anforderungen, auch zeitlich Art, also die verschiedenen Rhythmen wäre das sicher sinnvoll. Erst recht, wenn sich dann auch noch die Konstellation irgendwann ändert [d.h. dass eine Familie gegründet wird].« (Moritz: 108ff.)
Sieht man von Details ab, können über alle Konstellationen und Fälle hinweg Gemeinsamkeiten erkannt werden. So haben z.B. alle Befragten eine Vorstellung von einer akzeptablen Dauer von Nicht-Präsenz,7 die als überschaubar gilt, weil das Ende jeder Phase als absehbar interpretiert und erlebt wird. Jenseits paarspezifischer Differenzen sind zwei Wochen für die Mehrheit der Befragten eine Art magische Grenze, bis zu der Nicht-Präsenz annehmbar, akzeptabel und erträglich erscheint. Längere Phasen physischer Nicht-Präsenz hingegen stellen Paare vor andere Herausforderungen und erfordern andere Bewältigungs- oder Kompensationsstrategien sowie Performativität, über die Präsenz und Paarzeit auch unabhängig von physischem Zusammensein geschaffen wird. Medien sind hierbei das zentrale Mittel, aber auch die Planung des nächsten Treffens, eine (gemeinsame Zukunfts-)Perspektive und das Wissen um die Endlichkeit von Nicht-Präsenz sowie der Inhalt der Paarzeit sind hierbei von Bedeutung. Klaudia: »Am schlimmsten ist […] wenn wir uns auf Grund von terminlichen Verhinderungen […] über mehrere Wochen nicht sehen. Dann ist das Vermissen sehr groß. Manchmal seh’ ich ihn im Halbschlaf neben mir liegen und wenn ich nochmal hinschaue ist er nicht da. Telefonieren und Skypen hilft zwar gegen die Einsamkeit, aber auch da kommt der Moment, indem man auflegt und der andere ist wieder hunderte Kilometer weit weg. Das sind die Momente, wenn ich es leid bin eine Fernbeziehung zu führen. […] Zu Beginn haben wir uns seltener gesehen und seltener telefoniert. Nun ist es so, dass wir täglich telefonieren – meist zwei bis drei Stunden über den Tag verteilt – und versuchen, uns mindestens zweimal im Monat zu sehen. Wir planen zusammen unsere nächsten Monate und koordinieren Verabredungen in beiden Freundeskreisen miteinander. Unsere 7 | Diese ist durchaus als von soziokulturellen Leitbildern beeinflusst zu verstehen und verweist darauf, dass es für verschiedene Paarkonstellationen in unterschiedlichen Kontexten variierende Normvorstellungen von Paarzeit gibt. (Implizites) Wissen prägt die eigene Auffassung von akzeptabler Nicht-Präsenz und ihr Erleben, wie sich aus den Interviews und den anderen Materialien rekonstruieren lässt.
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Marie-Kristin Döbler Gespräche drehen sich nicht mehr nur um den Alltag, sondern um verschiedene gesellschaftliche und wissenschaftliche Themen. Wir versuchen die Bedürfnisse des anderen zu erkennen und mit den gegebenen Mitteln zu stillen.« (Klaudia: 28ff.)
Mehr als die tatsächlich quantitativ messbare Dauer beeinflusst aber das Passungsverhältnis zwischen tatsächlicher Nicht-Präsenz und der als akzeptabel interpretierten Zeitspanne Wahrnehmung, Deutung und Erleben sowohl der Präsenz als auch der Nicht-Präsenz. Soweit die Befragten dazu in der Lage sind, arbeiten sie daran, eine solche Passung herzustellen. Manche erzeugen wie Mathilda und Karsten qua langfristiger Planung performativ ein annehmbares Gleichgewicht, während andere Einschränkungen in Kauf nehmen oder wie Markus und Hannelore ›Opfer‹ bringen: Zu einem früheren Zeitpunkt entschieden sie sich gegen einen großen Karriereschritt und eine damit verbundene Gehaltserhöhung, weil dies eine aus ihrer Perspektive nicht-akzeptable Dauer von Nicht-Präsenz hervorgerufen hätte. Hannelore: »Wir ham des damals net gemacht, weil des au net nur a Wochenendehe gewesen wär, sondern a Monatsehe […] bei der Entfernung. Kein Flughafen in der Nähe. […] Dann aber ham mer uns dazu entschlossen, weil klar war, dass mer des dann nur von Montag bis Donnerstag machen [Markus: ja] und dann eben dieses lange Wochenende haben. Und des Wochenende dann wirklich, des dann intensiv.« (Hannelore&Markus: 262ff., 306ff.) Mathilda: »Ja, es ist machbar. [K: Genau] Ja, es ist einfach viel Planung und Organisation, […] es kann schon vorkommen, dass wir dann einfach mal den Abend auf dem Sofa sitzen und wir beide unsere Kalender durchkucken und überlegen, wer bucht wann was und so oder dass wir auch dann schon fürs nächste Jahr eintragen, dass wenn er sagt: ›ich muss im März nach Stadt-A‹, dann tragen wir das jetzt auch schon in meinen Kalender ein, dass wir nächstes Wochenende vielleicht schon mal für die Flüge kucken oder so.« (Mathilda&Karsten: 327ff.)
Liegt die Nicht-Präsenz innerhalb einer derartigen akzeptablen Dauer, ist die erwünschte Balance aus Nicht-Präsenz und Präsenz sowie Paar- und Individualzeit gewährleistet, wird die Endlichkeit von Präsenz gegebenenfalls sogar als Gewinn interpretiert und die terminierte Paarzeit positiv erlebt. Am häufigsten wird vor dem Endlichkeitshintergrund von einer Wert- und Qualitätssteigerung gesprochen, die die Paarzeit durch das Wissen um deren Endlichkeit erfährt. Viele der Befragten berichten davon, die Paarzeit mehr zu schätzen oder (neuerlich) zu erkennen, wie schön es ist, zusammen Zeit zu verbringen. Die Endlichkeit steigert die Beziehungsqualität, weil – um Markus zu zitieren – durch Befristung und Kontrast aus Präsenz und Nicht-Präsenz das »Feuer der Liebe neuerlich angefacht« werden kann.
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Das unterscheidet Nicht-Präsenz-Beziehungen, so formuliert es Bettina, von »Normalbeziehungen«, deren »Ewigkeitsperspektive« gemeinsame Unternehmungen der Partner*innen verhindere, weil sie der Meinung seien, dass dafür später auch noch Zeit sei. Bettina attestiert diesen Paaren eine »Aufschieberitis« und/oder Zukunftsfixierung, welche dazu führe, dass solche Paare zwar zusammen, aber eben doch nebeneinander her leben, ihre potentielle Paarzeit nicht oder nur wenig ausschöpfen bzw. diese nur mit Pflichten und Alltag füllen würden. Analog zur Differenz zwischen dem Leben in einer bestimmten Stadt und deren touristischem Besuch gelte die Präsenz im ersten Fall als normal und selbstverständlich, wohingegen Tourist*innen respektive Partner*innen in einer Nicht-Präsenz-Beziehung sich bemühten, so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln; man schätze die (physische) Präsenz und mache Vieles bewusster. Allerdings erzeugt dies Erwartungshaltungen sowohl hinsichtlich der Qualität als auch Quantität der potentiellen gemeinsamen Zeit. Aus verschiedenen Gründen kann das problematisch werden. Die häufigsten Ursachen dafür sind Erwartungsdruck und die Überforderung der gemeinsamen Zeit, da man versucht alles nachzuholen, was man verpasst hat. Die gesamte Paarzeit einer Normalbeziehung soll in einen Bruchteil der zur Verfügung stehenden chronologischen Zeit gepresst werden. Infolgedessen kann »bei einem Treffen leicht Stress entsteh[en], weil man alles unter einen Hut kriegen will« (Emma&Helmut: 79) oder Enttäuschung aufkommen, weil die Erwartungen nicht mit der Realität in Einklang gebracht werden können. George: »[T]he psychology there is something like romantic expectations and then reality. So romantic expectations is, you haven’t seen each other for several, for a while, you look forward to seeing each other, [assume] it will be easy going from the minute you see each other at the airport. But that’s not what happens. […That’s] where you can ask yourself: What are we doing? Are we trying to do too much?« (Paula&George: 105ff.)
Eine weitere Ursache für Probleme ist ein erneutes Passungsproblem, in diesem Fall verschiedener Zeitebenen, und das Fehlschlagen der Aushandlung über die Zeitverwendung. Beispielsweise kommt die Individualzeit (in einer Präsenzphase) zu kurz oder aber ein Partner/eine Partnerin hat andere Vorstellungen von Paarzeit als der/die andere; für den einen/die eine muss sie exklusiv dem Partner/der Partnerin gewidmet werden, was den Ausschluss Dritter voraussetzt, während der/die andere auch Überschneidungen von Zeitebenen zulässt. Exemplarisch kommt das im Interview mit Ludwig zum Ausdruck: »[W]enn ich in A bin, verbring wir wirklich die komplette Zeit wirklich immer zusammen. Also auch wenn wir halt mit anderen Leuten auch was machen. Äh, wenn sie hier ist, ist
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Marie-Kristin Döbler es dann halt schon manchmal auch so, dass sie, obwohl sie in B ist, nicht bei mir ist […] was mich auch manchmal so ein bisschen nervt, um offen zu sein. Also wo ein gewisses […] Konfliktpotential schon auch drin liegt. Weil man einerseits die Sache hat, ok, man sieht sich eh so selten und wenn man dann schon mal in derselben Stadt ist, will man natürlich auch, also will ich möglichst viel Zeit mit ihr verbringen. Andererseits hat sie dann halt auch viele andere soziale Verpflichtungen, […] mal zur Familie schauen und so […] und dann ist dann schon so manchmal […] nicht unbedingt ein Streit deswegen, aber des sind dann schon manchmal […]: ›Wann gehst du zu deiner Mutter? Wie lang bleibst du da? Wann kommst du wieder zurück?‹ […] des wird dann auf jeden Fall auch n Thema […] also sozusagen, wie viel […] der potentiellen Zeit schöpft man aus.« (Ludwig: 126ff.)
Beide Probleme verweisen auf einen Zusammenhang zwischen Zeit und Raum, da die Erwartungen an die ›Füllung‹ und Dauer von Paarzeit von der Art und Potentialität der Präsenz abhängen. Prinzipiell gilt: Je näher man sich geographisch ist, desto mehr Zeit soll gemeinsam verbracht werden – sowohl was die Ausgestaltung einer Präsenzphase als auch was den Rhythmus angeht. Manche Paare kennen daher nicht nur eine ideale Dauer von Präsenz bzw. Nicht-Präsenz, sondern auch ideale Distanzen, nämlich solche bei denen die Nicht-Präsenz einen akzeptablen Umfang hat, weil man sich oft und regelmäßig genug physisch treffen kann, ohne jedoch tägliches Pendeln vorauszusetzen oder erwartbar zu machen. Hintergrund ist dabei nicht, dass man keine Paarzeit wünscht, sondern dass man meint, ohne tägliches Pendeln im Endeffekt sogar mehr Zeit gemeinsam zu haben, weil man medial und mental in Phasen physischer Abwesenheit Präsenz und Paarzeit erzeuge sowie die Zeit in physischer Präsenz ausschöpfe und genieße. Besonders positiv wird dies dann erlebt, wenn auch die Individualzeit als sinnvoll erlebt wird. Das erfordert etwa, »sich Dinge zu suchen, die man gerne alleine macht, um sich in der Zeit ohne den Partner auch glücklich beschäftigen zu können und nicht die ganze Zeit auf Freitag zu warten« (Veronika: 73). Insbesondere in Nicht-Präsenz-Beziehungen, in denen die Partner*innen oft auch Individualzeit haben, gilt es zu verhindern, dass es einem wie Emma ergeht, die in ihren früheren Beziehungen nichts mehr mit sich anzufangen wusste, wenn sie Zeit für sich selbst hatte (Emma&Helmut: 23ff.). Vielmehr profitiert man davon, die Vorteile zu erkennen: Klaudia: »Es gibt aber auch die andere Seite. Wenn man Dinge, Aktivität für sich in Ruhe macht. Wenn es egal ist, wie die Wohnung aussieht, und man sich nur nach sich selbst und der verabredeten Telefonzeit richten muss.« (Klaudia: 29ff.) Walter: »Das hat natürlich auch Vorteile – ich bin sicher unordentlicher als sie, was über das Telefon egal ist. Dennoch sprechen wir auch sehr viel über triviale Angelegenheiten,
Meine Zeit. Unsere Zeit. Äußere Zeit. so dass hier schon sehr viel kompensiert wird. […] Diese ausführliche Kommunikation ist das A und O. Ich würde vermuten, dass wir deutlich mehr und intensiver sprechen, als dies die meisten anderen Paare tun (sicherlich 30-60 Minuten pro Tag, mehr am Wochenende) […] Man muss zudem auch die Vorteile der LDR [long-distance-relation] sehen – ein weiterer Wohnort auf einem andern Kontinent, die Möglichkeit, andere Orte und Kulturen sehen zu können und dort ganz anders eintauchen zu können, als das als Tourist möglich ist.« (Walter: 56ff.)
Neben diesen Vorteilen, die Walter bei einer interkontinentalen Beziehung erkennt, zeigt sich hier noch eine andere Form des Raum-Zeit-Zusammenhangs. Seine Partnerin und er müssen und können nicht nur mit Nicht-Präsenz von mehr als zwei Wochen umgehen (je nach finanziellen Ressourcen und zeitlicher Flexibilität im Beruf sind Treffen alle 2-3 Monate typisch), sondern es kommt auch noch die Zeitverschiebung hinzu. Paula: »Da kommt ja jetzt immer noch die Schwierigkeit der Zeitumstellung dazu, […] wir müssen uns ja mit unseren Rhythmen darauf einstellen, was auch nicht wieder mit jedem Beruf geht. […I]ch denke, die Kommunikation ist immer das Entscheidende in einer Beziehung […], mit welchen Methoden ist letztlich wurscht, aber die echte Kommunikation ist, glaube ich, die Hauptbedingung, die Basis auf der so etwas überhaupt nur funktionieren kann.« (Paula&George: 186ff.)
Kommunikation ist aber schwierig, wenn die zeitliche Differenz zu groß ist, weshalb Zeitverschiebungen zusätzliche Synchronisationsschwierigkeiten erzeugen, die andere Strategien des Umgangs mit Nicht-Präsenz sowie performative Akte zur Erzeugung von Paarzeit erfordern. Denn trotz großer Asynchronität – der eine/die eine geht zu Bett, wenn der/die andere gerade aufsteht – muss eine gemeinsame Zeit gefunden werden, in der nicht nur kommuniziert, sondern auch interagiert werden kann. Aus diesem Grund empfindet beispielsweise Daniela ihre Beziehung jetzt als weniger von räumlicher Distanz belastet, weil ihr Partner nicht mehr an der West-, sondern mittlerweile an der Ostküste der USA lebt; so haben sie nun einige Stunden mehr pro Tag, in denen sie potentiell Paarzeit kreieren und erleben können. Als Faustregel lässt sich dabei festhalten, dass Erleben positiver ausfällt, wenn Paare miteinander interagieren und medial Paarzeit erzeugen können, so dass sie auch dann mit Nicht-Präsenz klarkommen, wenn diese über die für innerdeutsche oder innerkontinentale Paare akzeptablen zwei Wochen hinausgeht. Hier spielt auch eine Rolle, dass mit diesem geographischen Arrangement eine andere Situation verbunden ist, die sowohl von den Paaren als auch soziokulturell anders bewertet wird: Je weiter die Partner*innen geographisch voneinander entfernt leben, desto seltener erwarten sie selbst und das Umfeld physische Präsenz.
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Gleichzeitig gilt aber, je länger die Nicht-Präsenz dauert, desto länger soll dann auch die Präsenz und Paarzeit sein, u.a. weil der bereits erwähnte Übergang von einer Phase in die andere mehr Zeit braucht: Man muss sich wieder annähern, sich neu finden und an die körperliche Präsenz gewöhnen, was beispielsweise Georges Zitat oben zeigt. Unabhängig davon, wie lange die jeweiligen Phasen oder Unterbrechungen in der Paarzeit sind, ist es notwendig, dass Kontinuität und Paaridentität erzeugt werden, d.h. dass eine Verknüpfung einzelner Interaktionsepisoden und Ko-Präsenzphasen sowie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stattfindet. Zentral sind hierfür Narrationen, das gemeinsame Erinnern und Pläne schmieden. Susanne: »Wir reden von den gemeinsamen Zukunftsplänen und dem Ende der Fernbeziehung wenn wir Hoffnung und Kraft brauchen.« (Susanne: 39) Katarina: »Also des war da schon, trotz den ganzen Abstrichen in ner zeitlichen Paargeschichte, […] wo wir eigentlich ganz wenig Zeit miteinander verbracht haben, […] die Stütze da drin.« (Katarina&Jens: 52ff.) Luise: »In gewisser Weise bin ich die Chronologin unserer Beziehung. Wir erinnern uns zwar beide an den Tag unseres ersten Dates und wir feiern auch immer einen Jahrestag, aber ich erzähl dann auch immer von den Episoden, die sich an einem Tag ereignet haben. Manchmal ist das wie bei alten Ehepaaren, dass es so Momente gibt, in denen es dann heißt: ›weißt du noch…‹, ›wie damals…‹ oder eine aktuelle Begebenheit bestimmte Erinnerungen und Erzählungen stimuliert.« (Luise: 308ff.)
Aber auch das kann nicht verhindern, dass Zeit (manchmal) als zu knapp empfunden wird und Befragte davon berichten, das Gefühl zu haben, gerade angekommen, schon wieder gehen zu müssen bzw. dass die Paarzeit schon wieder ein jähes Ende erfahre, obwohl man sich gerade erst wiedergefunden habe. Wie schon beim Ausbleiben einer Passung zwischen Vorstellung und Realität des Wiedersehens sind auch hier gebrochene Erwartungen ausschlaggebend für das negative Erleben. Der Bruch resultiert beispielsweise aus Planabweichungen, die eintreten, wenn etwa berufsbedingt ein gemeinsames Wochenende ausfällt, die Endlichkeit der Nicht-Präsenz über- oder der Präsenz unterschritten wird und die Paarzeit nicht (wie erwartet) abgeschlossen werden kann: Helmut: »Der Abschied ist mittlerweile auf Montag früh verlegt worden, damit der Sonntag noch als ganzer Tag erhalten bleibt. So findet der Abschied im Rhythmus mit dem Beginn der Arbeitswoche statt […]. Gelegentlich findet die Abreise aber schon Sonntagabends statt, wenn zum Beispiel ein Termin am Montag früh dazwischen grätscht. Das fühlt sich dann irgendwie unrund an.« (Emma&Helmut: 46ff.)
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Wenn das Erleben bei Planabweichungen negativ ausfällt, liegt dies aber nicht nur an den konterkarierten Erwartungen, sondern hängt auch mit dem metaphorischen Speicher zusammen: In Präsenzphasen bzw. in Paarzeit aufgefüllt, versorgt dieser für bestimmte Zeit mit Kraft, Antrieb, Muse, Energie, Sinnhaftigkeit sowie körperlichen Erinnerungen, was die jeweils nächste Nicht-Präsenzphase überbrücken lässt. Im Anschluss jedoch ist wieder Paarzeit nötig, um den Speicher neuerlich ›aufzuladen‹. Hierfür sind das Wissen um die Endlichkeit und eine der ›akzeptablen Dauer‹ entsprechende Nicht-Präsenz wichtig. Ist das nicht gegeben, gerät die Balance aus Paar- und Individualzeit ins Wanken. Probleme sind dabei weniger auf der Paar- als der Individualebene angesiedelt: Es wird weniger die Beziehung in Frage gestellt, vielmehr nehmen die eigene Sehnsucht oder Antriebs- und Lustlosigkeit zu. Hier wird deutlich, dass der Sinn, den man der Beziehung zuerkennt, über die Paarzeit – respektive deren Erleben – erschaffen wird, während es die Paarzeit ist, die Sinn konstituiert. Es ist auch hier die antizipierte Endlichkeit – das Wissen, dass die Nicht-Präsenz ein Ende haben wird – die lindernd, motivierend und sinnstiftend wirkt: Monika: »Irgendwie hab ich das Gefühl, dass ich manchmal auch so praktisch lustlos werde. Also wenn mein Mann dann weg ist, […] des sind so Antriebshürden […], dass ich die Wohnung nicht putze und so […] Erst wenn ich weiß, dass er bald wiederkommt] kann ich wieder loslegen.« (Monika: 127ff.)
Neben den Folgen von Befristungen und Phasenwechseln auf das Erleben sind Zeitlichkeiten in Paarbeziehungen auch mit Paarkalendern und Paargeschichten verbunden, wie andeutungsweise schon bei Luise angeklungen ist. Paarkalender zeugen von der zyklischen Wiederkehr paarrelevanter Ereignisse, die das Leben des Paares zusätzlich zu paarexternen Kalendern strukturieren. Für Nicht-Präsenz-Paare gehören dazu neben dem Tag des Kennenlernens, des Hochzeitstags etc. auch die des Wiedersehens oder aber auch des Abschiednehmens. Paargeschichten wiederum verknüpfen einzelne Ereignisse und verschiedene Phasen, kreieren Kontinuität und stiften die Identität des Paares; sie schlagen die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darüber hinaus lassen sich verschiedene Formen der Kompensation rekonstruieren, welche die Dauer, Stärke bzw. Intensität von Paarzeit hervorbringen, die zur Überbrückung der Nicht-Präsenz nötig sind. Diese Strategien lassen sich nach den präferierten zeitlichen Logiken und Fokussierungen unterscheiden. Aus Platzgründen können nur einige ausgewählte Strategien erläutert werden, die individuell oder als Paar, einzeln oder in Verbindung angewendet werden. Erstens, manche Paare konzentrieren sich auf das präsentistische Erleben. Dieses gewinnt seinen Sinn und Zweck ganz aus sich und bedarf keiner externen Wertzumessung. In der Nähe von »Flow«-Phänomenen (Csíkszentmihályi
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1990)8 angesiedelt, ist es für diese Fälle typisch, dass Personen sich auf das jeweilige Hier und Jetzt einlassen und dadurch in der gegenwärtigen Erfahrung aufgehen. Dabei vergessen sie im Erleben zwar die Zeit, doch rekonstruieren sie retrospektiv eine kausale Verbindung zwischen diesem herausragenden Erleben und der Endlichkeit der Paarzeit. Interviewte erläutern dann etwa, dass sie die Gegenwart (des/der anderen) zu schätzen wissen, weil das Wissen um die Befristung der gemeinsamen Zeit latent vorhanden sei und das gegenwärtige Erleben bzw. das Erleben der Gegenwart präge. Für Moritz etwa wird selbst der Alltag zu etwas Besonderem, weil er selten mit seiner Partnerin verbracht wird. Dadurch verändert sich die Qualität des Alltäglichen und kann positiv erlebt werden.9 Bettina und Roland setzen andere Akzente. Sie fokussieren ebenfalls die Gegenwart, wenden dabei aber, zweitens, eine Strategie der Priorisierung und Segmentierung an, so dass die Beziehung jenseits jeglicher Alltäglichkeit angesiedelt wird. Sie explizieren mehrfach den »Ausnahmezustand«, den sie mit dem Zusammensein verbinden; für sie ist »eine Wochenendbeziehung wie Urlaub« (120). Priorisierung und Segmentierung resultieren aus der Kombination des Bewusstseins für Phasenwechsel zwischen Präsenz und Nicht-Präsenz einerseits und einer jeweiligen inhaltlichen Passung andererseits. Grundlegende Logiken sind hier das Management von Zeitebenen und die Optimierung der Paarzeit; es geht um die Planung, Organisation und Terminierung von Aufgaben und Zeitverwendungen. Aufmerksamkeit auf das Jetzt richtend werden zeitliche Ressourcen in Kopräsenz dem Partner/der Partnerin gewidmet. In Nicht-Präsenzphasen wiederum richtet man die Aufmerksamkeit auf die Arbeit oder sonstige Verpflichtungen. So wird Paarzeit strikt von Pflicht- und Sozialzeit getrennt. Ganz im Sinne Luhmanns (1971: 143ff.) gewinnt jeweils das Befristete und Terminierte an Bedeutung und Relevanz.10 In diesem Kontext gilt, dass etwa eine »nahende Deadline […] ein Projekt in den Vordergrund [bringt]. Genau dadurch wird es wichtig. Andere Dinge hingegen treten zurück, sie werden – zumindest vorübergehend – unwichtig« (Hürter/ 8 | Flow beschreibt einen besonderen Zustand des In-der-Gegenwart-Seins, ein präsentistisches Erleben bzw. eine herausragende Präsenz, in der und die mit allen Sinnen intensiv erfahren wird (Rosa 2016: 26, 721). 9 | Der Alltag ist auch konstitutives Element des Paarseins, wie Mathilda und Karsten oder auch Kai und Juliane im Interview erwähnen. Daher wird es als Mangel und negativer Effekt der Endlichkeit erlebt, dass keine Zeit ist, einen gemeinsamen Alltag und Routinen aufzubauen. Das hängt damit zusammen, dass man im Alltag den Ort des wahren, authentischen Kennenlernens vermutet. Siehe dazu exemplarisch Honneth/Maiwald/ Greunke 2005-2008. 10 | Luhmann macht diese Ausführungen im Kontext von Organisationen, jedoch lassen sich diese Gedanken auch auf Paarbeziehungen übertragen.
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Vašek 2016: 25). Dies gilt für Nicht-Präsenz-Beziehungen immer, da sie ständig mit einem ›Ende‹ und daher dem Zwang zur Priorisierung konfrontiert sind. Andererseits profitieren sie aber auch davon, dass Entscheidungen möglich und »Wertkonflikte« (Hürter/Vašek 2016: 25) lösbar sind bzw. für diese Personen gelöst werden. Lena: »Also ok, wir sind jetzt zusammen, zwei Tage, und da müssen wir jetzt irgendwie mit dem, was wir angefangen haben, weitermachen. Wir müssen’s jetzt machen.« (Lena: 352ff.)
Neben der Priorisierung wird häufig auch von einer qualitativen Aufwertung der gemeinsamen Zeit, einem Intensivieren des Erlebens oder von Bedeutungssteigerung berichtet. Dies ist einerseits ein Nebeneffekt der Endlichkeit, die allein schon wertstiftend wirkt, sowie der Segmentierung und der Ausgliederung von Alltäglichkeit. Andererseits aber ist die Qualitätssteigerung auf gezielte Optimierung zurückzuführen: Es werden positive, außeralltägliche Erlebnisse geplant und kreiert. Diese dritte Strategie der Exklusivität und Eventisierung beeinflusst das subjektive Erleben und erzeugt quality time, was nicht selten mit verschiedenen Formen des Konsums verbunden ist, wie es Ludwig zusammenfasst. Für ihn beinhaltet die Planung des nächsten Wochenendes »schon auch, […] dass man, dass wir überlegen, was wir so machen könnten. […M]an versucht dann schon ein romantisches Ereignis herzustellen. Wir gehn z.B. gern Essen, […] wir überlegen dann schon […] gehn wir ins Kino oder ist irgendwas anderes, gehn wir ins Theater oder ist ein Konzert.« (Ludwig: 92ff.)
Diese Fokussierung auf die Gegenwart und das Erleben ist auch eng mit dem Kreieren und Evozieren von Erinnerungen verbunden. Letztere bilden die Grundlage für Narrationen, die Nicht-Präsenzzeiten überbrücken sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als kontinuierlich erscheinen lassen – kombiniert mit Zukunftsplänen kann diese Fokussierung dazu beitragen, dass Nicht-Präsenzbeziehungen überhaupt funktionieren.
Fazit Es wurde deutlich, dass es sich bei Zeitlichkeit um ein im Kern soziales Phänomen handelt, das auf interaktive Synchronisationen verschiedener Zeitebenen zurückzuführen ist. Ebenso wurde dargelegt, dass sich Endlichkeit auf individuelles Erleben auswirkt und dass ein Zusammenhang zwischen Zeit und Sinn existiert, was sich an Nicht-Präsenz-Paaren veranschaulichen lässt. Empirisch können dabei verschiedene Muster respektive typische Bearbeitungsweisen und Strategien des Umgangs festgestellt werden, die sich über verschie-
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dene Paare hinweg finden lassen: präsentistisches Erleben, Priorisierung und Segmentierung, Exklusivität und Eventisierung. Diese Strategien sind nötig, weil äußere Zeiten Individual- und Paarzeiten beeinflussen. Von einigen Paaren werden diese äußeren Zeiten einerseits nüchtern als Rahmen, andererseits als Störfaktor für die Beziehung wahrgenommen, auch wenn für alle Paare gilt: Insbesondere die mit beruflichen Anforderungen verbundene Pflichtzeit bestimmt den Rhythmus, limitiert die Dauer und Möglichkeiten des Zusammenseins und prägt das subjektive Erleben aller Zeitebenen. Das wiederum erfordert die soziale und chronologische Abstimmung der Partner*innen sowie die Synchronisation der Zeitebenen. Insbesondere in Beziehungen, die mit Nicht-Präsenz konfrontiert sind, sind dann Praktiken und Strategien zu erkennen, die den Umgang mit Zeit und das Koordinieren verschiedener Zeiten betreffen. Oft werden beispielsweise Medien eingesetzt, um eine trans-räumliche (Pseudo-)Ko-Präsenz herzustellen und damit eine Kompensation des physischen Nicht-Zusammensein-Könnens zu ermöglichen, während Optimierungsstrategien (z.B. Ausklammern von Haushaltstätigkeiten, Betonen von Exklusivität oder Eventisierung) Qualität und Quantität der Paarzeit maximieren sollen. Manche Paare betonen dann auch positive Konsequenzen, die mit der durch Nicht-Präsenz bedingten Endlichkeit von physisch gemeinsam verbrachter Paarzeit verbunden sind. Sie argumentieren, festgelegte Endlichkeit gebe dem Jetzt Sinn, fördere Bewusstsein und Aufmerksamkeit für die Gegenwart sowie herausragende Präsenzerfahrungen; das Oszillieren zwischen verschiedenen Präsenzphasen und -zuständen führe zu einer Wertschätzung der Paarzeit, in die man bewusst investiere; weil die Präsenz (in jeglicher Form) des/der anderen und die Zeit als Paar nicht als selbstverständlich gelte, erlebe man generell bewusster und intensiver als sogenannte »normale Paare« und habe außerdem genug Freiräume und Individualzeit. Unabhängig davon, ob die Wechsel aus physischer An- und Abwesenheit positiv oder negativ bewertet werden, ist es insbesondere für Nicht-Präsenz-Paarbeziehungen von großer Bedeutung, Verbindungen verschiedenster Art (interpersonell, trans-spatial und trans-temporal) sowie den Eindruck von Kontinuität zu erzeugen und über die Zeit hinweg aufrechtzuerhalten. Dabei geht es erstens um das je gegenwärtige Verknüpfen von (erinnerter) Vergangenheit und (planender Vorwegnahme der) Zukunft, die vor allem sprachlich erzeugt wird: Partner*innen erzählen gemeinsam eine sich fortschreibende Paargeschichte. Dabei konstruieren sie aus der je präsentistisch aktualisierten Vergangenheit Sinn für die Gegenwart und eine Paaridentität, die sie prognostizierend in die Zukunft ausdehnen und diese dadurch erwartbar machen. Zweitens ist es hierbei relevant, dass die Partner*innen sich fortdauernd als ›miteinander in Verbindung‹ erleben und den Anschluss an das Leben des/ der anderen nicht verlieren. Voraussetzung dafür sind Kommunikation, Inter-
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aktion sowie genügend und regelmäßig wiederkehrende Paarzeit, die sich bis zu einem gewissen Umfang auch medial realisieren lässt. Die Bestimmung von ›genügend‹ und ›regelmäßig‹ ist individuellen, paar- und lebensphasenspezifischen Variationen unterworfen, aber für alle Fälle sind zeitliche Grenzziehungen feststellbar, innerhalb derer Nicht-Präsenz als akzeptabel und die Beziehung als nicht gefährdet sowie physische Nicht-Präsenz als medial kompensierbar gilt. Das zeitlichen Grenzen zu Grunde liegende, für den Paar-Fortbestand nötige, akzeptable und vertretbare Verhältnis von Paar- und Nicht-Paarzeit ist von vier Faktoren abhängig: Einer für das Paar als hinreichend häufig erlebten Synchronisation der beiden Eigenzeiten (1), der Überschau- und Mitteilbarkeit von Erfahrungen und Veränderungen in den jeweiligen Lebenswelten (2), einer sinnhaften, sinnstiftenden Interpretation der Nicht-Präsenz und Nicht-Paarzeit (3) sowie der Wiederherstellung physischer Präsenz (4); nur dann kann die »ewige Wiederkehr« (Nietzsche) von Willkommen und Abschied ertragen oder sogar bejaht werden.
Literatur Bohnsack, Ralf (2001): »Dokumentarische Methode. Theorie und Praxis wissenssoziologischer Interpretation«, in: Theo Hug (Hg.), Wie kommt Wissenschaft zum Wissen? Band 3: Einführung in die Methodologie der Sozial- und Kulturwissenschaften, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 326-345. Csíkszentmihályi, Mihály (1990): Flow. The Psychology of Optimal Experience, New York: Harper Perennial. Durkheim, Émile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Elias, Norbert (2014): Über die Zeit, 14. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Glaser, Berney/Strauss, Anselm (1999): The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, New York: de Gruyter. Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honneth, Axel/Maiwald, Kai-Olaf/Greunke, Roger (2005-2008): »Die Bewährung von Paarbeziehungen in der Bewältigung des Alltags. Zur Struktur und Entwicklung der partnerschaftlichen Kooperation in Hausarbeit, Erwerbsarbeit und Kinderfürsorge« (DFG-Projekt 2005-2008), www.ifs. uni-frankfurt.de/forschung/abgeschlossene-projekte/die-bewahrungvon-paarbeziehungen-in-der-bewaltigung-des-alltags-zu-struktur-undentwicklung-der-partnerschaftlichen-kooperation-in-hausarbeit-erwerbsar beit-und-kinderfursorge/, zuletzt geprüft am 21.01.2016. Hürter, Tobias/Vašek, Thomas (2016): »Warum uns die Stunde schlägt«, in: Hohe Luft 4, S. 20-27.
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»Wenn einer eine Reise tut…«
»W enn einer eine R eise tut…« D ie soziale P r a xis der R eise als beispielhaf ter K ristallisationspunk t der M ultimodalität der G rundkonstante Z eit Yasemin Yilmaz »Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen« – mit diesen Worten leitet Matthias Claudius das im Jahre 1786 erschienene Gedicht »Urians Reise um die Welt« (1998) ein. Seither prägt dieser Satz, der zum geflügelten Wort wurde, die grundlegende Vorstellung des Reisens im deutschsprachigen Raum. Die Reise wird nicht nur als physisches Ereignis verstanden, sondern auch als eine Erfahrung, die sich in Sprache sedimentieren kann und schließlich nicht nur eine Beschreibung vergangener Sinneseindrücke ermöglicht. Vielmehr verweist das Erzählen von der Reise auch auf die eigene durch die Reise geprägte Identität. Insbesondere die touristische Reise kann im soziologischen Sinne als genuin soziale Praxis und damit als ein möglicher Gegenstand der Soziologie verstanden werden, da sie in ein Geflecht sozialen Handelns eingelagert ist – wir reisen in der Regel in Gruppen oder zumindest nicht allein. Und selbst wenn wir uns als Einzeltourist*in auf den Weg machen, so ist dieser keineswegs frei von Interaktion: Wir interagieren, um in ein Flugzeug steigen zu können oder wir sind gezwungen unser Handeln in Zügen zu koordinieren, um für uns und unser Gepäck einen Platz zu finden; wir checken in Hotels oder Pensionen ein und besuchen Orte und Sehenswürdigkeiten, die nicht nur von uns aufgesucht werden, also nicht nur unsere Reiseerfahrung strukturieren. Auch die Entscheidung, welche Orte aufgesucht werden oder wie im Allgemeinen die Reise gestaltet werden soll, ist keine individuelle, sondern vielmehr eine Frage des Milieus und ihrer Selbstdefinition (Schulze 2000; Günther 1998: 108ff.). Aus soziologischer Sicht scheint es jedoch auch interessant, die Reise nicht nur in ihrer Performanz und damit hinsichtlich ihrer Spiegelung des sozialen Raums bzw. ihres Ausdrucks gesellschaftlicher Norm- und Idealvorstellungen zu betrachten. Nimmt man diese Praxis als eine Form des sozialen Handelns ernst, so sollte man auch einen Blick auf ihre Grundkonstanten, also Raum und Zeit, werfen. Viele sozial- und kulturwissenschaftliche Annäherungen an das Phänomen der touristischen Reise bleiben jedoch bei der Räumlichkeit als definierendem Merkmal stehen: Die Reise wird folglich vor allem als die Bewegung weg vom gewohnten Aufenthaltsort oder, statisch gefasst, als Abwesenheit vom zentralen Ort der Alltagsorganisation (Hahn 2016: 13) gesehen. Zudem wird sie, selbst wenn sie als dynamischer Prozess verstanden wird, primär als räumliche Bewegung gefasst (Hahn/Schmidl 2016: 255).
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Diese Herangehensweise verstellt, dass auch die Reise als Handlungspraxis eine Verknüpfung der Handlungskonstanten aufweist. Auf das Wesentliche reduziert soll das heißen: Während einer Reise bewegt man sich in einer bestimmten Zeit durch einen Raum – manchmal stark beschleunigt durch bestimmte Transportmittel, wie Zug und Flugzeug, und manchmal geradezu entschleunigt, wie beim Verharren vor einer Sehenswürdigkeit oder einer erhabenen Aussicht. Je nach Modus verändert sich auch die Materialität bzw. die Ausprägung des Ortes in der Wahrnehmung sowie dessen Bedeutung für den Menschen. So kann eine Reise auch als sequenzielle Bewegung durch Nicht-Orte (Augé 2010: 83f.) und Heterotopien (Foucault 2014: 10) verstanden werden, welche von jeweils eigenen Zeitregimen geprägt sind. Im folgenden Beitrag möchte die Autorin den gängigen räumlichen Blickwinkel auf die soziale Praxis der Reise invertieren und diese aus der Position der anderen Grundkonstante, der Zeit, lesen. So soll argumentiert werden, dass gerade die Grundkonstante Zeit und ihre Multimodalität bedeutsam für den Handlungsmodus der Reise sind und diese als ein dem Alltag enthobenes Phänomen definieren. Die Außeralltäglichkeit der Reise ist folglich nicht nur durch die seit der Moderne getroffene Differenzierung zwischen Arbeit und Freizeit begründet (Urry 1998: 2), sondern durch die Vielschichtigkeit ihrer Zeitlichkeit und ihrer besonderen immanenten Zeitlogik:11 In der Praxis der Reise verbinden sich die Bewegung durch Zeit und Raum, die Rekonstruktion des Vergangenen bzw. der konkurrierenden Zeitentwürfe, Momente der intensivierten Aufmerksamkeit bzw. der Entschleunigung des Handelns in der Gegenwart, also der Fassung der Reise im Rhythmus der »anderen Zeit« (Hahn/Schmidl 2016: 259) sowie das Prinzip der Zeitoptimierung bzw. des Selbstmanagements. Diese besondere Zeitlichkeit soll nun im Folgenden, nach einer kurzen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes und einem Blick auf die beiden Grundmodi der Zeitlichkeit der Reise, freigelegt werden. Zentraler Ausgangspunkt meiner Argumentation ist John Urrys Konzept des tourist gaze (Urry/ Larsen 2011). Urry versucht mit diesem Konzept die konstruierende Macht des Blickes der Tourist*innen (Urry/Larsen 2011: 17, 21), aber auch die Vorstrukturierung der touristischen Seherfahrung durch Blickkonstruktionen in Fotografien und weiteren Medien zu fassen (Urry/Larsen 2011: 2f., 176ff.). Seine 11 | Es ist jedoch anzumerken, dass meine Untersuchungen allein auf das Subjekt der/ des Tourist*in bezogen sind. Die Überlappungen und Wechselwirkungen der Zeitlogik des Alltags und der Freizeit durch die Einbeziehung der Zeitmodi der Reiseanbietenden bzw. Mitarbeiter*innen im Tourismus (Hahn/Schmidl 2016: 259) sollen an dieser Stelle ausgeblendet werden, da gezeigt werden soll, dass sich auch allein aus der Zeitperspektive der Tourist*innen eine Vielschichtigkeit der Grundkonstante und damit eine Herausgehobenheit der Zeit ergibt.
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grundlegende Erkenntnis ist, dass das medial geprägte implizite Wissen, aber auch die Seherfahrung der Sehenden, für die touristische Erfahrung von besonderer Bedeutung sind. In diesem Konzept steckt jedoch auch eine wichtige zeitliche Komponente: Mit diesem besonderen touristischen Blick wird vor allem ein entschleunigtes und dennoch distanziertes Gewahrwerden der Umgebung in Verbindung gebracht (Urry/Larsen 2011: 195ff.). Doch auch eine weitere Zeitlichkeit prägt diese Sehpraxis: Die besondere Form der Aufmerksamkeit aktiviert die Geschichte eines Ortes – oder besser gesagt, die (Re)Konstruktion des Mythos eines Ortes bzw. des impliziten Wissens, welches mit diesem verbunden ist (Urry/Larsen 2011: 135ff.). Diese Parallelität oder gar Pastiche der Zeitlichkeiten in der touristischen Reise bzw. Erfahrung, wie sie von Urry aufgedeckt wird, möchte ich in einem weiteren Schritt mit Michel Foucaults (2014) Konzepten der Heterotopie und Heterochronie und Marc Augés (2010) Konzept des Nicht-Orts verbinden. Beide Ansätze erlauben es, die raumschaffende Kraft der Zeitlichkeit mit ihren Modi der Wahrnehmung sowie ihre Bewahrung der Außeralltäglichkeit der Reise aufzuzeigen. Mit dieser Theorieverbindung soll folglich eine Annäherung an den Kristallisationspunkt der Zeitlichkeit gelingen. Abschließend werden zwei weitere Dimensionen der Zeitlichkeit beleuchtet werden, die ebenso an diesen Kulminationspunkt der zeitlichen Erfahrung geknüpft sind und dennoch als eigenständiges Praxiselement bzw. Strukturparadoxon gefasst werden können: So wird zunächst der Blick auf die Narration gerichtet werden, welche mit der eigentlichen Praxis der Reise eng verbunden ist und schließlich mit einem gewissen Zwang auf dieselbe folgt. Durch eine nachträgliche sprachliche und gegebenenfalls mediale Konstruktion wird die eigene Erfahrung des Reisens und des besonderen touristischen Erlebnisses den Zuhörenden oder Lesenden inklusive der eigenen Rekonstruktionen des Vergangenen oder entdeckter Gegenorte zugänglich gemacht. Diese Worte können schließlich auf den Reisen Anderer nachvollzogen und so wiederum der Erschließung der Gegenorte und der Strukturierung des tourist gaze dienen. Dennoch sollte die soziale Praxis des Reisens nicht nur als intensive Zeiterfahrung, Überwindung sinnhafter Orte oder entspannte vorstrukturierte Wahrnehmung des Neuen und doch Vertrauten missverstanden werden. Denn zugleich folgt sie in vielen Fällen dem Prinzip der Selbstoptimierung, welches sich in einem rigiden Zeitregime und dem Drang nach optimierten Zeitabläufen ausdrückt (Hahn/Schmidl 2016: 260f.). So gilt es auf der Reise das Beste aus der gegebenen Zeit zu machen und die Häufigkeit der touristischen Erfahrung, aber auch die intensive Erfahrung der in sich ruhenden Aufmerksamkeit, in ein zeitliches Optimum zu bringen. Gerade dieser vielschichtige Widerspruch zwischen zeitlicher Entschleunigung und Optimierung scheint das Erlebnis der Reise maßgeblich zu prägen und zu rahmen.
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Bevor jedoch die besondere Multimodalität der Zeit nachvollzogen werden kann, muss der Untersuchungsgegenstand – die Reise – noch einmal umrissen und begründet werden.
Der Rhythmus der touristischen Reise Es bieten sich einige Gründe und Anlässe, eine Reise zu unternehmen, d.h. temporär das eigentliche Zentrum des eigenen Handelns, Lebens und der Interaktionszusammenhänge hinter sich zu lassen und einen anderen Ort aufzusuchen, wo all diese identitätsstiftenden Prozesse nur zum Teil oder indirekt fortgeführt werden können (Hahn 2016: 13f.; Hahn/Schmidl 2016: 255). Nahm man in früheren Jahrhunderten die damit, auch im sozialen Sinne, verbundenen Unsicherheiten auf sich, um auf einer Pilgerreise den Rollenerwartungen als Anhänger*in eines Glaubens nachzukommen oder durch die Zeit zu wandern (Baumann 1994: 391f.), Handel zu treiben oder bestimmte ästhetische Erfahrungen zu machen, so sind gerade in unserer Zeit Geschäftsreisen (Elliott/Urry 2010: 3, 15f.) und spirituelle Selbstfindungsreisen (Volgger/Pechlaner 2016: 77) häufige Formen des Verreisens. In der Ersteren werden Distanzen überwunden, um direkte Interaktion zwischen Geschäftspartner*innen zu ermöglichen, Letztere dient der Introspektion und der Selbstverortung in einer möglichen Zukunft. Damit unterscheiden sich beide Formen grundsätzlich hinsichtlich ihrer Handlungsorientierung: Die Dienst- oder Geschäftsreise ist nach außen gerichtetes und fremdbestimmtes Handeln, die spirituelle Selbstfindung verlangt eine gewisse Einkehr in sich selbst und eine Abschottung von alltagsnahen Handlungs- und Interaktionsmustern. Die touristische Reise oder auch Urlaubsreise als eine weitere gegenwärtige Form des Verreisens vermag hingegen diese beiden Handlungsorientierungen in sich zu vereinigen, da sie nicht nur als eine »Reise zu anderen«, sondern zugleich als eine »Reise zu sich selbst« gefasst werden kann (Hahn 2016: 15). Zudem steht sie jenseits der Praxis des Arbeitens und jenseits der üblichen Freizeitgestaltung der Akteure (Urry 1998: 2f.). Damit wird die touristische Reise geradezu von einer Aura des Selbstzwecks (Pechlaner/Volgger 2016: 2) umgeben, der sie zu einem »Möglichkeitsraum« (Hahn 2016: 14) in der Ferne macht. Gerade seit der Epoche der Romantik, welche mit einer erleichterten Mobilität aufgrund neuer Transportmittel einherging, ist das touristische Reisen zu einem häufig ausgelebten gesellschaftlichen Grundbedürfnis geworden (Pechlaner/Volgger 2016: 2). Aus diesem Grund erscheint es zielführend, dieser drittgenannten Form des Verreisens größere Aufmerksamkeit zu widmen und die folgende Untersuchung der Zeitlichkeit des Reisens am Gegenstand dieser spezifischen sozialen Praxis durchzuführen. Fasst man die Zeitlichkeit der Reise von der Mobilität ausgehend, so kann man das Reisen als Bewegung in einer bestimmten Zeit durch einen geogra-
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phischen Raum, d.h. Territorium, fassen (Urry/Larsen 2011: 4). Mit den Begriffen der Beschleunigung und Entschleunigung beschreibt man dann ihr dynamisches Element. Diese Definition gleicht jedoch eher einer physikalischen Formel als dass sie das Wesen der Zeitlichkeit in der Reise fassen kann. Aus diesem Grund scheint es interessanter, den Blick auf die Reisenden selbst zu richten und sich zu fragen, welche Bedeutung das Reisen für sie hat. Neben dem Motiv sich zu erholen stehen das Verlangen nach neuen und besonderen Eindrücken, die Erfahrung von Außeralltäglichkeit sowie die Selbstbestimmung über die verfügbare Zeit im Vordergrund (Lohmann 2016: 60ff.). Gerade die beiden letzteren Motive finden sich auch in der Definition der Reise bzw. des Urlaubs als »Auszeit« (Hahn/Schmidl 2016: 259), welche mit dem Alltag und dessen Rhythmus der Beschleunigung bricht. Hahn und Schmidl beschreiben die Wirkung der Reise wie folgt: Einerseits soll durch die Herauslösung aus der räumlichen und sozialen Sphäre des Alltags, also durch die Fortbewegung vom alltäglichen Aufenthaltsort, das Eintauchen in neue zeitliche Muster gewährleistet werden und andererseits werden nach diesem Eintauchen in die Urlaubswelt auch in der Alltagszeit wieder Möglichkeiten veränderter Zeiterfahrungen und Zeiterlebens (»Erholungseffekte«) erwartet. (Hahn/Schmidl 2016: 259)
Die Reise stellt ein temporäres Gegenkonzept zur inneren Struktur der Alltagszeit bzw. ihrem Rhythmus dar. Beide Rhythmen stehen in Alternanz. Deshalb folgt auf die Arbeitszeit mit ihrer Fremdbestimmung und Entfremdung die »andere Zeit«, welche von Selbstbestimmung, Authentizität und vor allem von einer Orientierung an »subjektiven Zeit- und Erlebensmuster[n]« gekennzeichnet ist (Hahn/Schmidl 2016: 259; Hervorheb. i. O.) – um schließlich wieder vom alltäglichen Zeitregime abgelöst zu werden. Aus der Akteursperspektive betrachtet, bestimmt also die Verfügbarkeit über die Grundkonstante die Außeralltäglichkeit der Reise. Es gibt jedoch auch verborgene Aspekte der Zeit, die während der Reise eine Rolle spielen. Einen Schlüssel hierfür liefert die Betrachtung eines weiteren Reisemotivs – das des Verlangens nach besonderen Eindrücken.
Die Multimodalität der Zeit im Tourist Gaze Der Tourismus stellt eine vergleichbar junge Form des Reisens dar. Erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert kann von diesem Phänomen gesprochen werden (Müller 2016: 167; Urry 1998: 4). Charakteristisch dafür ist der Wunsch, »romantische Motive, schöne Aussichten, beeindruckende Städte oder unberührte Natur« u.ä. mit eigenen Augen zu sehen und in Fotografien oder anderen Medien festzuhalten (Müller 2016: 167). Der touristische Blick ist
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folglich kein zufälliger oder gänzlich individueller – vielmehr ist er von einer Lust am Sehen und einer gewissen kollektiven Seherwartung getrieben: Die Menschen wissen also ganz genau, welche Gegenstände oder Orte des Sehens würdig sind, wenn sie sich auf die Reise machen. Und so manifestiert sich mit der Lust am Sehen auch ein neuer Reisezweck. […] Im beginnenden 19. Jahrhundert hängt der Erfolg der Reise zunehmend davon ab, bestimmte Dinge gesehen und bestimmte Aussichten genossen zu haben. Doch um das »Richtige« auch richtig bzw. überhaupt sehen zu können, dürfen die Reisenden nicht mehr planlos loslaufen – sie sind auf Orientierungs- und Sehhilfen angewiesen. (Müller 2016: 172; Hervorheb. i. O.)
Das geplante Vorgehen prägt folglich den touristischen Blick oder tourist gaze, wie John Urry (1998) diesen nennt. Dieser Blick ist jedoch mehr als ein Handlungsmodus, er ist vielmehr eine soziale Praxis: »This gaze is as socially organised and systematised, as is the gaze of the medic. […] And yet even in the production of ›unnecessary‹ pleasure many professional experts help to construct and develop one’s gaze as a tourist« (Urry/Larsen 2011: 1). Folgt man Urry und Larsen (2011: 2f., 176ff.) in ihrem Argument, so ist der touristische Blick nicht nur eine individuelle Erfahrung, die durch kollektives implizites Wissen, das in Fotografien von bestimmten Aussichten sowie weiteren medialen Repräsentationen und eigenen vorausgegangenen Seherfahrungen eingelagert ist, vorstrukturiert wird. Der tourist gaze begleitet vielmehr eine indirekte Interaktionssituation zwischen Menschen, welche bewusst Seherfahrungen durch Medien, Marketing und die Gestaltung von Orten konstruieren, und Tourist*innen, welche vor Ort ein bestimmtes Seherlebnis zu finden hoffen. Durch die Macht des Blickes der Letztgenannten kann schließlich in Präsenz mit dem Objekt der Erlebnissuche eine authentische touristische Erfahrung (re)konstruiert werden (Urry/Larsen 2011: 17, 21). Im Blickregime des tourist gaze gehen zudem Aufmerksamkeitsstruktur und Zeitlichkeit eine besondere Verbindung ein (Urry/Larsen 2011: 195ff.): Werden eine sehenswerte Szene oder ein außergewöhnliches Objekt erkannt, so richtet sich der Blick gänzlich auf diese. Alle anderen Eindrücke und weitere mögliche Handlungslogiken werden ausgeblendet, so dass die Komplexität der Situation reduziert werden kann. Das erblickte Objekt erhält dadurch eine Präsenz, die nicht hinterfragt wird, und es kommt zu einer intensivierten Aufmerksamkeit der Tourist*innen. Dieser Wandel in der Aufmerksamkeitsstruktur vermittelt den Erblickenden den Eindruck der Entschleunigung, welche ein distanziertes Gewahrwerden der Umgebung und gleichzeitig eine geschärfte Selbstwahrnehmung ermöglicht. In diesem Modus der subjektiven Zeitwahrnehmung tritt ein weiterer Modus der Zeit hinzu: die Gleichzeitigkeit bzw. Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart (Urry/Larsen 2011: 135ff.). Durch die Tourist*innen erfolgt
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eine Rekonstruktion des Mythos und der Geschichte des Ortes, welche sich als authentische Erfahrung desselben sedimentiert – obgleich dieser Prozess tatsächlich vielmehr als Konstruktion zu fassen ist. Diese Konstruktion des Authentischen und die damit verbundene verschränkte Zeitlichkeit werden auch durch die Materialität und die besondere sinnliche Überhöhung der erblickten Objekte als »Geschichtszeichen« (Sabrow/Saupe 2016: 17) ermöglicht. So können sie »auf einen konkreten Zeitpunkt in der Vergangenheit, auf eine Praxis oder einen Gebrauch der Dinge« (Sabrow/Saupe 2016: 17) zeigen. Zugleich sind diese nicht weiter in ihrer Bedeutung festgelegt, weshalb emotional an sie angeknüpft werden kann und eine weniger kognitive Reflexion der Vergangenheit in der Gegenwart ermöglicht wird (Sabrow/Saupe 2016: 17).12 An einem kleinen Beispiel soll der besondere zeitliche Modus des tourist gaze nachvollzogen werden: Einer der frühesten europäischen Reisetrends war die Fahrt nach Stratford-upon-Avon, William Shakespeares Geburtsort (Holderness 1988: 8f.). Diese Reisen sollten jedoch weniger als klassische Bildungsfahrt verstanden werden, denn als ein Akt der Verehrung eines Idols, welcher in diesem Falle auch »bardolatry« (Holderness 1988: 3ff.) genannt wird. Der an Shakespeare geknüpfte Tourismus ist seit jeher von der Sehnsucht getrieben, einen Mythos und seine Zeit in der Gegenwart zu rekonstruieren, d.h. diesem nah zu sein und ihn authentisch zu erleben (Thomas 2012: 13f.). Der Shakespeare Birthplace Trust, welcher als Garant eines authentischen ShakespeareErlebnisses gegründet wurde (Holderness 1988: 5), wirbt auch gegenwärtig offensiv mit diesem Motiv: Visit Shakespeare’s Birthplace to walk in Shakespeare’s footsteps and explore the house where he was born and grew up. Hear tales of Shakespeare’s family life, enjoy live theatre on demand and get up close to rare artefacts from the Trust’s world class collections as you discover how the extraordinary William Shakespeare continues to shape our lives today. (Shakespeare Birthplace Trust 2017)
Mit der Erwartungshaltung, auf den Spuren Shakespeares zu wandeln, Objekte zu sehen, die eine direkte Verbindung zu ihm herstellen, und einen Zugang zu seinem Privatleben zu erhalten, werden potentielle Bard-Touristen 12 | In der skizzierten Verbindung von Zeichentheorie und Authentizitätszuweisung drängt sich Jacques Derridas Idee der Metaphysik der Präsenz als weiteres Erklärungselement der Konstruktion und Bewertung der authentischen Erfahrung auf. Nach Derrida (1983) wirke die Sprache im Gegensatz zur Schrift authentischer und werde im philosophischen Diskurs überhöht, da das Phon vermeintlich direkt mit dem Sinn verbunden sei. Damit erhalte sie das Privileg der Präsenz und das Prädikat des Authentischen (Derrida 1983: 24ff.).
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in jene Stadt fahren. Damit das antizipierte authentische Erlebnis eintreten kann, muss es dem/der Tourist*in gelingen mit seinem/ihrem Blick nicht nur restaurierte und von vielen Menschen begangene Häuser zu erkennen – er/ sie muss hinter das Offensichtliche blicken und den Mythos, das Geschichtszeichen und die damit verbundene Spur des Vergangenen darin entdecken. Nur dann kann der tourist gaze eine Gleichzeitigkeit von Gestern und Heute erschaffen, welche die gegenwärtige Erfahrung entschleunigt und das authentische Erleben des Ortes konstituiert.
Das Spiel mit der Zeit am Gegenort Mit Michel Foucault (2014: 14) könnte man diesen Effekt des tourist gaze an touristisch herausgehobenen Orten auch als das Zusammenbringen von »mehrere[n] Räumen, die eigentlich unvereinbar sind« fassen. Im oben genannten Beispiel des bardolatry wären das der Raum der gegenwärtigen touristischen Erfahrung, der Raum der Literatur, der vom Mythos des Dichters markierte Raum und der historische Raum des elisabethanischen Englands, welche in der touristischen Erfahrung des Geburtshauses Shakespeares kulminieren. Diese einzigartige Pastiche der Räume gibt es für Foucault (2014: 10) nur an »Gegenorten«, welche er mit dem Begriff der Heterotopie fasst. Die Anschlussfähigkeit des Foucaultschen Begriffs an das von Urry beschriebene Phänomen scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass der tourist gaze eine Praxis ist, die an touristischen Orten Tore zur Erfahrung von Gegenorten aufschließt. Doch was ist eine Heterotopie und welche Bedeutung hat sie für die Zeitlichkeit, wenn man sie der sozialen Praxis der Reise zugrunde legt? Foucault geht davon aus, dass der Raum, in welchem Menschen leben und welchen sie erfahren, komplex strukturiert ist: »Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten« (Foucault 2014: 9f.). Bezogen auf alltägliches Erleben lassen sich diese verschiedenen Raumstrukturen in eine Typologie von Durchgangszonen, Ruheplätzen und geschlossenen Bereichen differenzieren (Foucault 2014: 10). Unter diesen gebe es wiederum Orte, »die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen« (Foucault 2014: 10). Sie sind Gegenorte oder auch Heterotopien, d.h. reale lokalisierbare Orte und dennoch »jenseits aller Orte« (Foucault 2014: 11). So seien beispielsweise Gärten, Friedhöfe, psychiatrische Kliniken, Museen, Bordelle und Gefängnisse solche »mythischen oder realen Negationen des Raumes, in dem wir leben« (Foucault 2014: 11). Heterotopien sind also Möglichkeitsräume, welche den anderen Räumen entgegenstehen, sie invertieren oder deren verborgene Grundstruktur offenlegen (Foucault
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2014: 19f.). Sie müssen jedoch nicht von Dauer sein, da sie jederzeit aufgelöst oder neu geschaffen werden können (Foucault 2014: 13) – genauso wie neue Orte zu Heterotopien erhoben oder bereits geschaffene einem Wandel unterworfen sein können (Foucault 2014: 11).13 Um jedoch als Gegenorte wirken zu können, müssen sich diese von der Umwelt abschließen und zugleich eine Möglichkeit der Öffnung bereithalten. So können viele von ihnen erst nach Ritualen der Reinigung und der Vorbereitung betreten werden (Foucault 2014: 18). Im gewählten Beispiel der bardolatry können hier die habitualisierten Praktiken des sich Vorbereitens, wie das Lesen einschlägiger Literatur (Reiseführer, Theaterstücke, Biographien oder historischer Einordnungen) oder der durch eine feste Interaktionsordnung geprägte Kauf der Eintrittstickets angeführt werden. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der Heterotopie, und hier wird ihr Bezug zur Zeitlichkeit deutlich, ist ihre Verwandtschaft zur Heterochronie (Foucault 2014: 16). Gegenorte sind folglich oft mit zeitlichen Brüchen und Verwerfungen verbunden. So seien Museen oder Bibliotheken »Heterotopien der Zeit« (Foucault 2014: 16), da hier Objekte verschiedenster Zeitschichten gemeinsam an einem Ort versammelt werden und so eine utopische Gleichzeitigkeit der Epochen ermöglichen. Diesen Effekt der Heterochronie erzeugt auch der tourist gaze: So verbinden sich im gewählten Beispiel des Besuchs von Shakespeares Geburtshaus nicht nur Räume, die eigentlich nicht gleichzeitig aufgerufen und erlebt werden können – es werden auch Zeitlichkeiten nebeneinandergestellt, die so eigentlich nicht erlebt werden können. In einem historisierten Gebäude befinden sich deutliche Hinweise auf die Gegenwart eines Museumbesuchs, wie Hinweise auf die Replikate historischer Objekte und die Fülle der Besucher*innen, welche den Raum geradezu mit Zeichen der Gegenwärtigkeit überschwemmen. Dennoch erhält und symbolisiert der Ort seine alten Rhythmen. Dadurch wird in der Moderne eine Gleichzeitigkeit der Zeiten möglich (Augé 2010: 82) – auch, wenn jenseits des Aufmerksamkeitsmodus des tourist gaze die Vergangenheit in den Hintergrund rückt und nur unterschwellig zu spüren ist. Möglich wird die besondere Gleichzeitigkeit der Zeitebenen durch einen Bruch in der gegenwärtigen Zeit, welcher mit dem Aufmerksamkeitsregime des tourist gaze verbunden ist und so zu einer Entschleunigung der erlebten Zeit führt. Somit kann das Eintreten in den Gegenort auch als Bruch mit der Zeitlichkeit der Gegenwart bzw. mit dem all13 | Die Dynamik der Heterotopien ist beispielsweise an der seit dem 19. Jahrhundert immer wiederkehrenden Sehnsucht nach dem Landleben zu erkennen, welche dem Leben in den Räumen der Moderne und der Urbanisierung als vermeintlich authentischer Möglichkeitsraum entgegengestellt wird (Volgger/Pechlaner 2016: 70f.; siehe auch Hans-Christian Lippmanns Dissertation zur Sommerfrische als Symbol und Erlebnisraum, 2016: 33f.).
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täglichen Rhythmus gefasst werden; oder, von der Bedeutung der Zeitlichkeit ausgehend gedacht: Durch den Wechsel in einen anderen Modus der Zeit, der Entschleunigung, wird eine Pastiche der Zeit ermöglicht, die den Gegenort konstituiert.
Die Aufhebung des Ortes im Nicht-Ort Wie bereits ausgeführt, verfügt die soziale Praxis der Reise nicht nur über den Modus der Entschleunigung, sondern auch über dessen Gegenteil, nämlich den der Beschleunigung. Unter Rückgriff auf Marc Augés Konzept des NichtOrtes kann gezeigt werden, dass die Außeralltäglichkeit der Reise ebenso im Modus der Beschleunigung begründet wird. Augé teilt unter Rückgriff auf Michel de Certeau den Raum in ›Orte‹ und ›Nicht-Orte‹.14 Diese Dichotomie sei sozial konstituiert: »Die Organisation des Raumes und die Konstituierung von Orten gehören zu den Einsätzen und Modalitäten der kollektiven und individuellen Praxis innerhalb ein und derselben sozialen Gruppe« (Augé 2010: 58). Der anthropologische Ort sei »das Sinnprinzip für jene, die dort leben, und das Erkenntnisprinzip für jene, die ihn beobachten« (Augé 2010: 59). Des Weiteren bestimmen drei Merkmale diese sinngeladenen Orte: so seien sie identisch, relational und historisch (Augé 2010: 59). Nicht-Orte seien als ihr Gegenpol all dies nicht (Augé 2010: 83).15 Ein »Archetypus des Nicht-Ortes« (Augé 2010: 90) sei der Raum des Reisenden. Räume, so Augé (2010: 88) in Anlehnung an Michel de Certeau (1988: 215ff.), entstünden durch den praktischen Umgang mit einem Ort. In der Reise vollziehe sich ein Bruch zwischen Reisenden und der Landschaft, ein »Bruch, der ihn [den Reisenden; YY] hindert, einen Ort darin zu erkennen, sich ganz und gar dort wiederzufinden, selbst wenn er diese Leere durch zahlreiche detaillierte Informationen zu füllen versucht, die ihm die Reiseführer oder Reiseberichte offerieren« (Augé 2010: 89). Dies liege daran, dass der Raum der 14 | Augé schließt an Michel de Certeaus Begrifflichkeiten Ort bzw. lieu (Certeau 1988: 217ff.), Nicht-Ort bzw. non-lieu (Certeau 1988: 197ff.) und Raum bzw. espace (Certeau 1988: 215ff.) an. Dieser Rückgriff wird vor allem in Augés Begriffsdefinition im französischen Original deutlich: »Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un non-lieu« (Augé 1992: 100). An vielen Stellen verweist Augé jedoch auch selbst auf de Certeau (z.B. Augé 2010: 59f.). 15 | »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, dass die ›Übermoderne‹ Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind […]« (Augé 2010: 83).
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Reise nicht aus dem Umgang mit einem Ort, sondern aus dem Umgang mit einer Folge von Orten resultiere, da sowohl Reisende als auch Landschaft einer Verschiebung unterlägen (Certeau 1988: 209ff.). Jeder Blick führe daher nur zu »Augenblickseindrücke[n]«, die im Reisebericht willkürlich in eine immer neue Ordnung gebracht werden können (Augé 2010: 89f.). Diese Augenblicke haben in der Beschleunigung der Reise nicht die Macht, einen tourist gaze und seine raumverbindende und zugleich transzendierende Kraft zu beschwören. In vorbeiziehenden Eindrücken scheinen lediglich »die Hypothese einer Vergangenheit und die Möglichkeit einer Zukunft« (Augé 2010: 91) kurz auf. Der Flüchtigkeit der Reisenden und der Sinnentleerung ihres Blicks (Augé 2010: 95) folgt dennoch eine »Aufhebung des Ortes« als »Höhepunkt der Reise« (Augé 2010: 92) – der Ort wird zum Nicht-Ort. Gleichzeitig ist dieser Nicht-Ort, der durch die besondere Zeitlichkeit der beschleunigten Reise entstand, ein Raum der Außeralltäglichkeit. Allerdings mit einer ganz anderen Aufmerksamkeitsstruktur als beim tourist gaze: »Der Raum des Nicht-Ortes befreit den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen. Er ist nur noch, was er als Passagier, Kunde oder Autofahrer tut und lebt« (Augé 2010: 103). Die Reisenden werden also auch in der Beschleunigung von ihrem Alltag befreit. Allerdings werden sie nicht auf die Vielschichtigkeit der Zeitlichkeit des Ortes und die eigene Individualität zurückgeworfen, sie versinken vielmehr in Anonymität, Einsamkeit und Ähnlichkeit (Augé: 103f.). Alle Zeitlichkeit verkürzt sich auf die Gegenwart, die in der beschleunigten Reise oftmals eine sichtbare Materialisierung, wie in der Begleitung der Erfahrungen in Ansagen und Bildschirmdarstellungen, findet (Augé 2010: 104). Charakteristisch ist für die soziale Praxis der Reise, dass sie jedoch nie nur über einen Modus verfügt. So muss sie vielmehr als sequenzielle Aneinanderreihung von Phasen der Beschleunigung, wie während der Zugreise, des Fluges, der U-Bahn- oder Autofahrt, und Phasen der Entschleunigung, wie bei einem Museumsbesuch, dem Erblicken einer Sehenswürdigkeit oder dem lauschigen Abend an einem belebten Platz, verstanden werden. Damit oszilliert die Reise zwischen Momenten der absoluten Fokussierung auf die Gegenwart und Momenten der Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart. Die Zuordnung zu einem Zeitmodus ist sicherlich für jeden Moment nur idealtypisch möglich, doch auch insgesamt, über den gesamten Zeitraum der Reise betrachtet, ergibt sich dadurch ein multimodales Bild der Zeit – und damit einhergehend die dem Alltag enthobene besondere Erfahrung.
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E xkurs: Die E xternalisierung und Reproduktion der touristischen Erfahrung Doch mit dem Aufsperren der eigenen Haustür ist die Reise noch nicht abgeschlossen. Wie der Rückgriff auf Matthias Claudius im Titel des Beitrages zeigen sollte, gehört zu ihr auch der Bericht über sie bzw. all das Erlebte und die zeitliche Erfahrung, welche man unter dem Eindruck der verschiedenen Zeitmodi machte. Die subjektive und kollektive Bedeutung des Berichtens über erlebte Reisen zeigt sich auch in der Vielzahl der Reiseberichte und Vorträge, welche heutzutage zugänglich sind (Pechlaner/Volgger 2016: 2). Es drängt sich geradezu die Vermutung auf, dass das Reisen an sich einen immanenten Zwang des Ordnens der Erlebnisse in Sprache oder andere Zeichen mit sich bringt. Die Kommunikation über das Reisen ist sogar noch umfassender, wenn man die niederschwellige Nutzung von Social Media zur Verbreitung der eigenen Reiseerfahrungen miteinbezieht (Klemm 2016: 37ff.): So halten viele Tourist*innen das Erlebte in Bildern und Texten auf persönlichen Blogs, auf Foren für Reiseinteressierte oder in Formaten wie Instagram oder Facebook fest. Dabei rahmen und begleiten die geteilten Berichte zunehmend die eigentliche Praxis des Reisens (Munar/Jacobsen 2014: 47), weshalb die Phase der eigenen Reiseerfahrung und die Phase der Externalisierung bzw. Reproduktion nicht mehr zwingend als hintereinandergeschaltet angenommen werden können. Die Konvention des Reisens an sich hat sich hin zu einer narrativen Einbettung des Erlebten entwickelt. Ermöglicht wird dies, neben neuen mobiltechnologischen Entwicklungen, auch durch die Präferenz des Bildes vor schriftlichen Berichten durch die Tourist*innen (Munar/Jacobsen 2014: 47). Bilder lassen sich, sofern die technischen Voraussetzungen gegeben sind, ohne großen zeitlichen Aufwand in Echtzeit in den Social Media teilen und vermitteln ohne einen Bedarf des umfassenden Erklärens16 die eingenommene Perspektive in der touristischen Welterfahrung. Dabei fügen sich visuelle Berichte besonders gut in die (Re)Konstruktion des tourist gaze ein, da die geteilten Bildkompositionen maßgeblich von den imaginierten, konstruierten und erlebten touristischen Räumen als auch von stereotypen touristischen Objekten, Symbolen und gängigen Postkartenmotiven angeleitet werden (Munar/Jacobsen 2014: 47). Das geteilte Bild wird selbst zum Zeichen und daher zum Beweis der eigenen authentischen Präsenzerfahrung.17 Konstitutiv ist die Praxis des Reiseberichts nicht nur aufgrund ihrer Häufigkeit, sondern auch bezüglich der Notwendigkeit der Reflexion des Erlebten. 16 | Meist reichen eine kurze Ortsangabe, sowie das Label der Echtzeit. 17 | Zu untersuchen wäre, inwiefern die Externalisierung des Erlebten durch das Teilen in Echtzeit noch einen zusätzlichen Authentizitätsgewinn erhält.
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Denn durch die Narration kann das Erlebte geordnet und in seiner Zeitlichkeit rekonstruiert werden. Es wird der Versuch unternommen, die herausragenden, aber insbesondere auch die flüchtigen Momente zu sammeln und deren Bilder im Schreiben festzuhalten und zu wiederholen (Augé 2010: 91). Gleichzeitig bereitet ihre Externalisierung im Gespräch oder in der Veröffentlichung die touristische Erfahrung Anderer vor. Auch wenn die Objektorientierung und die Erfahrung des tourist gaze maßgeblich durch nicht-touristische Dokumente, wie Film, Fernsehen oder Literatur, strukturiert und reproduziert werden (Urry 1998: 3), tragen auch die Narrationen von Reisen zu dieser Reproduktion der Erfahrung bei. Doch auch in der Erfahrung der Beschleunigung wird auf Reiseberichte zurückgegriffen: Um die Leere zwischen Reisenden und Landschaft zu überwinden und somit der Flüchtigkeit des Moments entgegenzuwirken, versuche man diese mit den dort enthaltenen Informationen zu füllen (Augé 2010: 88f.). Durch den eigenen Reisebericht werden schließlich die erblickten Momentaufnahmen zusammengesetzt und in eine Ordnung gebracht, welche es erlaubt eine »fiktive Beziehung zwischen Blick und Landschaft« (Augé 2010: 89f.) aufzubauen. Aus diesem Grund ist die Narration der Reise nicht nur eine retrospektive Betrachtung des Erlebten, sondern die Überführung der Erfahrungen in den eigenen wie auch kollektiven Wissensvorrat.
Fazit: Die Reise zwischen zeitlicher Entschleunigung und Optimierungszwang Verfremdet man den Blick auf das Bekannte, so erscheint dieses in einem neuen Licht und es wird möglich, Vertrautes ganz neu wahrzunehmen. Möglicherweise stößt man sogar auf Dinge, die zuvor nicht aufgefallen sind oder leicht übersehen werden konnten. Auf den vorangegangenen Seiten sollte gezeigt werden, dass, obgleich die soziale Praxis der Reise häufig in dominanter Weise durch die Bedeutung des Raumes definiert wird, die Beschäftigung mit ihrer anderen Grundkonstante, der Zeit, lohnt. In gewisser Weise ist es vielleicht sogar diese, welche die Außeralltäglichkeit des Phänomens besser zu erklären vermag als der Ortswechsel oder der damit verbundene Rollenwechsel. Denn in der Reise wird mit dem alltäglichen Erleben der Grundkonstante Zeit gebrochen: So kann man im Gegensatz zum alltäglichen Erleben im Kontext der Arbeit über die Einteilung des Tages weitestgehend selbst entscheiden und sich am eigenen Erleben der Zeit und der Erfahrungen orientieren. Gelingt dies, so wird die antizipierte Erfahrung als authentisch wahrgenommen, da man sich auf die touristische Erfahrung so fokussiert wie möglich einlassen konnte. Von einer besonderen Qualität ist die Reise bezüglich ihrer Zeitlichkeit jedoch auch, da sich verschiedene Zeitmodi und damit einhergehend besondere
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Aufmerksamkeitsstrukturen in ihr kristallisieren. Durch die im Blickregime des tourist gaze vollzogene Entschleunigung wird eine außergewöhnliche Verschränkung paralleler Zeitebenen in der Erfahrung eines Ortes ermöglicht. Auf diese Weise kann der Mythos eines Ortes erschlossen und zugleich eine intensive Selbstgewahrwerdung herbeigeführt werden. In der Beschleunigung wird hingegen das Erleben und Erschließen der Welt völlig auf einzelne fragmentierte Bilder reduziert. Das Erleben der Gegenwart und des Seins im Raum kann sich nicht zu einer Präsenzerfahrung entfalten. Durch diese Einengung wird jedoch die Überwindung des Ortes und seiner Bedeutung ermöglicht, wie es an Flughäfen, Bahnhöfen oder weiteren Nicht-Orten der Fall ist. Das Erlebte kann schließlich in der Narration der Reise immer wieder in neue Zusammenhänge gebracht und die gemachte Erfahrung unterschiedlich rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktionen der Zeit bilden schließlich in ihrer Externalisierung einen kollektiven Wissensvorrat, welcher anderen Reisenden zur Vorstrukturierung ihres suchenden Blickes, und damit ihrer Reise, dienen kann. Der Reise als einer Form der Freizeit gelingt es jedoch nicht, sich den Strukturen und der Zeitlichkeit des Alltags gänzlich zu entziehen. Dem allgemeinen Diskurs folgend, kann auch in der Praxis der Reise Zeit als ein knappes Gut konstruiert werden (Volgger/Pechlaner 2016: 69). Damit zieht auch in diesen Bereich immer mehr ein Wille zur Selbstoptimierung bzw. zur Optimierung der Gestaltung der Zeitlichkeit ein. So finden sich auf der einen Seite fremdbestimmte Zeitregime, wie vorgegebene Flugzeiten, Öffnungszeiten oder Frühstückszeiten, die zu einer Taktung des Handelns der Reisenden durch externe Faktoren führen. Auf der anderen Seite streben die Tourist*innen, auch aufgrund der medialen Rezeption von Reiseerfahrungen oder Blicken Anderer und aufgrund des Wunsches diese in ihrer Außeralltäglichkeit zu übertreffen, nach optimierten Zeitabläufen. Es halten ökonomische Techniken des Zeitmanagements in den Bereich der Freizeit Einzug, da eine optimale Ausbeute der touristischen Erfahrung erzielt werden soll. Die Tendenz, so viele außeralltägliche Erfahrungen bzw. kanonisierte Blicke wie möglich zu erfahren, befeuert die Kritik an der vermeintlich authentischen touristischen Erfahrung. Es bleibt die Frage, ob der Tourismus (Urry 1998: 3), welcher von einer Suche nach Authentizität an anderen Orten oder gar in anderen Zeiten und einem bestimmten Blickmanagement bestimmt ist (Urry 1998: 9f.), letzlich nicht gar sein Ziel verfehlt.
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B reaking B ad V ersuch über die V er änderung Thomas Khurana I’m not living I’m just killing time Radiohead, »True Love Waits«
Wie wird man der, der man ist? Die Frage ist zweideutig. Zum einen scheint sie danach zu fragen, wie man durch all das, was einem geschieht und was man tut, schließlich zu jener bestimmten Person wird, die man zu einem gewissen Zeitpunkt ist. Zugleich zielt die Frage darauf, wie man zu dem wird, der man ist – wie man das einholt, was man ›ist‹; es nicht nur ist, sondern wirklich wird. Die Frage wirft also einerseits das Problem der Verkettung von Taten, Umständen und Wirkungen auf, die das Produkt einer bestimmten Veränderung hervorbringen, wie andererseits das Problem jener Prozesse der Aneignung und Anerkennung, durch die ein Selbstverhältnis zu dieser Veränderung möglich wird. Die Serie Breaking Bad (AMC, 2008-2013) spielt diese Frage nach allen möglichen Seiten durch und hält ihre Zweideutigkeit nicht für einen Zufall. Sich durch Geschehnisse in der Zeit zu verändern und durch die eigenen Versuche der Begründung und Rechtfertigung, Verdrängung und Verstellung, der Aneignung und Anerkennung bei dem anzukommen, was man (geworden) ist, das sind zwei – für uns – nicht voneinander ablösbare Momente eines Prozesses. Um diesem doppelten Prozess nachzugehen, wählt Breaking Bad nicht den Rahmen einer positiven Bildungsgeschichte, die den Weg eines Helden nachzeichnet, der sich vornimmt, »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden« (Goethe 1981: 300). Breaking Bad ist nicht Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Breaking Bad widmet sich vielmehr einer negativen Bildungsgeschichte und erzählt, wie der 50-jährige Protagonist Walter White – ein überqualifizierter Chemielehrer an einer Schule in Albuquerque, New Mexico, Vater und Ehemann, Träger schrecklicher grünbeiger Kleidung und Fahrer eines Pontiac Aztek – seinem Leben eine unerwartete Wendung abgewinnt und zu einem Crystal-Meth-Koch wird, der das Drogengeschäft New Mexicos umkrempelt. Negativ ist diese Bildungsgeschichte nicht allein in dem vordergründigen, schon durch den Titel markierten Sinn, dass sie gerade nicht die erbauliche Geschichte der Erreichung eines allseits akzeptierten positiven Ideals erzählt. Negativ ist die Bildungsgeschichte vor allem auch in der Hinsicht, dass sie eine Bewegung untersucht, die gegen eine scheinbar bereits abgeschlossene Bildung erfolgt. Die Gegen-Bildung, der sich die Serie widmet und die zwischen dem 50. und 52. Geburtstag von Walter White nachgezeichnet wird, hat
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den Charakter des Bruchs: des zuweilen untergründigen, sich immer weiter vertiefenden Bruchs mit dem bisherigen Leben. Die Aufnahme dieser Gegenentwicklung behält gerade da ihre Anziehungskraft, wo sie Bruch bleibt und nicht in die Form einer zweiten Karriere einlenkt: drug kingpin auf dem zweiten Bildungsweg. Der Pfad, auf den sich Walter White begibt, ist nicht der Weg einer neuerlichen Selbstverbesserung, er ist vielmehr zunächst wesentlich der Ausbruch aus einem schon ausgebildeten Leben – ein Ab- oder Umbruch, der im Laufe der Serie immer wieder aufs Neue vollzogen und nachvollzogen wird und dabei die unterschiedlichsten Qualitäten anzunehmen scheint: die der Befreiung wie der Verstrickung, des Selbstgewinns wie des Selbstverlusts, der Kontingenz wie der Fatalität, des Spiels wie des Zwangs, der Lebendigkeit wie der tödlichen Wiederholung.
Vorgriff It’s always been two steps forward and one step back. Saul Goodman, BB S2E11
Betrachtet man Breaking Bad im Rückblick als Erzählung, so wird man die Geschichte wahrscheinlich so, oder so ähnlich, zusammenfassen: Walter White, ein 50-jähriger Chemielehrer, der im Zweitjob in einer Autowaschanlage arbeitet, einen 15-jährigen Sohn mit infantiler Cerebralparese hat und mit seiner Frau eine Tochter erwartet, erfährt, dass er inoperablen Lungenkrebs hat. Er beschließt daraufhin, seinen ehemaligen Schüler Jesse Pinkman, den er zufällig bei einer Drogenrazzia wiedersieht, auf die ihn sein Schwager, der DEA-Agent Hank, mitnimmt, dazu zu bringen, mit ihm Crystal Meth zu kochen. Auf diese Weise will er zu Geld kommen, mit dem er seine Familie auch über seinen Tod hinaus absichern kann. Walt gerät so Schritt für Schritt immer weiter in die Drogenszene hinein, verwandelt sich innerlich wie äußerlich und wird schließlich zu dem, der unter dem Namen Heisenberg bekannt ist: berüchtigt für sein chemisch unerreicht reines Crystal Meth und gefürchtet für die Konsequenz, mit der er sich selbst an die Spitze des gesamten Drogenhandels im amerikanischen Südwesten gesetzt hat. Wenngleich die Serie an der Hervorbringung des gerade genannten Narrativs beteiligt ist und dieses immer wieder in Konkurrenz mit anderen Narrativen verhandelt, erschöpft sich die Serie nicht in dieser Erzählung. Mehr noch, dieses Narrativ geht in verschiedener Hinsicht an dem, was für die Serie entscheidend ist, vorbei: Es rationalisiert und verstellt den Bruch, von dem die Serie ausgeht; es bringt die Art von Veränderung, um die es der Serie geht, nur auf verzerrte Weise in den Blick; und es geht darüber hinweg, wie die Serie dabei verfährt. Wenn wir uns zunächst nur auf die Verfahrensweise beschränken, so muss man festhalten, dass die Serie nicht, wie nahegelegt, durch das
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bloß chronologische Nachzeichnen einer progressiven Veränderung verfährt, sondern vielmehr den Übergang des breaking bad immer wieder von Neuem, in immer wieder anderen personellen Konstellationen und aus immer neuen Perspektiven durchspielt.18 Die Serie zeichnet so nicht eine kontinuierlich fortschreitende Veränderung nach, sondern zielt auf die Untersuchung und Vertiefung des Bruchs, den sie zum Titel und Thema hat. Zudem vollzieht sich die Transformation, mit der es die Serie zu tun hat, nicht allein auf der Ebene eines bloß faktischen Prozesses. Es geht vielmehr um einen Bruch oder eine Veränderung, die auf zwei Ebenen zugleich geschieht, die untrennbar voneinander sind und dennoch nicht koinzidieren. Es geht um eine Veränderung, deren Vollzug wesentlich davon abhängt, dass sie von denjenigen, an denen sie sich vollzieht, eingeholt, erfasst, begriffen wird, und die dabei zugleich etwas Uneinholbares behält.19 Zur Bewirkung der genannten Veränderung braucht es daher beides: komplexe kausale Verkettungen und Praktiken der Deutung, 18 | Jede wesentliche Personenkonstellation, jede entscheidende Beziehung oder Konfliktlinie wird durch andere Konstellationen gedoppelt, in denen sie sich spiegelt und bricht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die zentrale Beziehung zwischen Walt und Jesse, die zwischen einer Lehrer/Schüler-, Vater/Sohn-, Herr/Knecht-Beziehung und einer geschäftlichen Partnerschaft changiert, spiegelt sich in der Beziehung von Walt/ Walter Jr., Walt/Gale, Walt/Todd, Jesse/Badger, Mike/Jesse, Gustavo/Jesse, Jacks Bande/Jesse. Die Serie verfolgt dabei nicht nur das breaking bad von Walt, sondern ebenso die ganz verschiedenen Formen des breaking bad seines Partners Jesse, seiner Frau Skyler, seines Schwagers Hank und so weiter. 19 | In der Episode »The Fly« (S3E10) wird Walt bei dem obsessiven Versuch gezeigt, eine winzige Störquelle (eine Fliege) zu eliminieren, was weit mehr Schäden zur Folge hat, als die Störquelle je hätte hervorrufen können. Von diesem scheiternden Kontrollvorhaben erschöpft, blickt Walt noch einmal auf einen Vorfall zurück, bei dem die Ebene kausaler Verkettung und die Ebene der Bedeutung auf eine unheimliche Weise koinzidieren, die sich den Beteiligten aber im Moment des Ereignisses gerade wesentlich entzieht: »I didn’t put it together until after the crash when he was all over the news. I mean, think of the odds. Once I tried to calculate them, but they’re astronomical. […] The universe is random. It’s not inevitable. It’s simple chaos. It’s subatomic particles in endless aimless collision. That’s what science teaches us. But what is this saying? What is it telling us when, on the very night that this man’s daughter dies, it’s me who’s having a drink with him? I mean, how can that be random?« Dabei handelt es sich natürlich in der Tat nicht um einen bloßen Zufall, sondern um den Effekt des Schreibprozesses eines writing room, der Zufall und Vernotwendigung miteinander alliiert. Walts Überlegungen enthalten damit zugleich eine indirekte poetologische Reflexion auf die Form der Serie: Sie zielt durch ihre Plots nicht einfach auf das Wahrscheinliche (Aristoteles 1994: 1451aff.), sondern auf die Plausibilität des Unwahrscheinlichen, auf unplausible Evidenz.
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Zurechnung und Rechtfertigung. Mindestens ebenso sehr wie die Serie sich für die neuen Handlungen interessiert, die ihre Protagonist*innen erproben und ausführen, und für die komplexen, nicht selten ironischen Wirkungen, die sie zeitigen, geht sie daher der Weise nach, in der die Figuren mit ihrer Veränderung zu Rande zu kommen versuchen, ihre eigenen Veränderungen verdecken und hervorkehren, rechtfertigen und erklären, verkennen und anerkennen und sich eben dadurch weiter transformieren. Die in der obigen Zusammenfassung aufgenommene Deutung, Walter White habe wegen seiner Krebserkrankung und zur Absicherung seiner Familie mit der Produktion von Crystal Meth begonnen, ist dabei eine der massivsten Verstellungen. Die Serie ist mindestens ebenso sehr damit beschäftigt, die Herausbildung und Auflösung dieser Illusion und ihre desaströsen Auswirkungen zu verfolgen, wie damit, die Konsequenzen des Eintritts in den Drogenhandel selbst darzustellen. Dass die Serie weniger an einer fortschreitenden Entwicklung als vielmehr am Durchspielen und Vertiefen einer Konstellation interessiert ist und dass sie dabei nicht auf eine bloß faktische, sondern auf eine sich auf sich selbst beziehende – sich begreifende wie verfehlende – Veränderung zielt, kommt in einem strukturellen Zug zum Tragen, den die Serie durch ihre fünf Staffeln auf unterschiedliche Weise variiert. Die Serie beginnt nicht, wie man in der nachträglichen Erinnerung vielleicht glauben mag, mit dem langsamen Hineinrutschen in die Drogenszene, das Schritt für Schritt verfolgt wird; sie setzt ein, als der entscheidende Bruch schon geschehen ist. Die Serie wird, noch bevor uns im Vorspann ihr Titel und der Name ihres Erfinders, Vince Gilligan, genannt werden, mit einem Vorgriff eröffnet.20 Diese Vorsequenz zeigt einen durch die Luft segelnden Gegenstand (eine Hose, wie man langsam gegen den Wüstenhimmel erkennt), der den Blick auf ein Wohnmobil freigibt, das schlingernd durch die Wüste rast; am Steuer ein Mann, nur mit Unterhose und Atemmaske bekleidet, auf dem Beifahrersitz ein bewusstloser junger Mann, ebenfalls mit Atemmaske; im hinteren Teil zwei leblose, auf dem Boden herumrutschende Körper inmitten eines mobilen Chemielabors. Die Serie beginnt somit, wie wir nachträglich verstehen werden, als Walter White und Jesse Pinkman bereits mit der Produktion von Crystal Meth begonnen und ihre ersten beiden potentiellen Distributoren umgebracht haben.21 Breaking Bad ist mit dem Einsetzen der Serie also schon in vollem Gange. Walter White driftet nicht langsam in die Drogenszene hinein, sein Eintritt beginnt mit einem Totschlag, der bereits geschehen ist, wenn wir ihm erstmals 20 | Zur anders gelagerten, aber verwandte Probleme aufwerfenden Stellung und Funktion von Filmvorspännen siehe Böhnke/Hüser/Stanitzek (2006). 21 | Wie sich im weiteren Verlauf der ersten Staffel zeigt, ist einer der Betreffenden doch noch nicht tot, wie die Zuschauer*innen zunächst annehmen müssen. Walt beendet, was hier seinen Anfang nimmt, in S1E03.
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begegnen. Die erste Folge, die auf diese Vorsequenz folgt, besteht in nichts anderem als dem Versuch, diesen Anfang einzuholen und uns irgendwie zu erklären, wie wir hier haben landen können. Die zweite Staffel der Serie wird auf ähnliche Weise von surreal verfremdeten Vorsequenzbildern heimgesucht, in denen wir ein im Pool schwimmendes Glasauge, ein halb verbranntes Stofftier und die gesplitterten Scheiben des Pontiac Aztek zu sehen bekommen, neben dem zwei Tote in Leichensäcken liegen. Dies alles sind, wie sich erst ganz am Ende der Staffel zeigt, die Überreste eines Flugzeugabsturzes, den Walt mittelbar verursacht hat. Die fünfte Staffel wiederum beginnt in ihrer ersten Vorsequenz mit einem Vorgriff um mehrere Monate und präsentiert einen äußerlich abermals komplett verwandelten Walter White an seinem 52. Geburtstag, unmittelbar bevor er und die Serie ein Ende finden werden. Sie führt uns eine erneute Transformation vor, die einzuholen die Aufgabe der gesamten letzten Staffel sein wird. Durch diese Struktur des Vorgriffs22 – und in einigen Fällen die komplementäre Technik des Rückgriffs23 – kreist die Serie den eigentlichen Punkt des Umschlags ein, der sich, wie es scheint, einer einfachen Darstellbarkeit entzieht. Die Veränderung wird zum einen als eine erfahren, die sich auf gewisse Weise vollzieht, bevor man sie realisiert. Wir sind mit Blick auf diese Veränderung konstitutiv zu spät dran, sie hat immer schon eingesetzt, wenn wir sie sehen. Sie hat insofern eine gewisse Verwandtschaft mit jener Form von »Knacks«, der nach F. Scott Fitzgerald die besondere Eigenschaft hat, dass man ihn nicht spürt, bis es zu spät ist.24 Zum anderen entzieht sich der Bruch einer präsentischen Darstellung, da die Veränderung in keinem einzelnen Vorkommnis allein besteht, das wir mit dem Bruch identifizieren könnten, son22 | Zur proleptischen Struktur der Serie siehe Koch (2015: 39ff). 23 | Die Serie verwendet dabei nicht nur die im Gegenwartsfernsehen geläufigen Rückblenden auf Zeiten, die vor dem eigentlichen Serienbeginn liegen und Kontextwissen nachliefern, sondern auch identische Wiederholungen bereits gezeigter Szenen: Die letzte Folge (S5E16) spielt eine entscheidende Szene aus dem Piloten (S1E01) wieder ein, S5E08 greift einen Dialog mit Walt aus S4E04 wieder auf, S3E05 kehrt zu einer Szene aus der ersten Folge zurück etc. 24 | »Of course all life is a process of breaking down, but the blows that do the dramatic side of the work – the big sudden blows that come, or seem to come, from outside – the ones you remember and blame things on and, in moments of weakness, tell your friends about, don’t show their effect all at once. There is another sort of blow that comes from within – that you don’t feel until it’s too late to do anything about it, until you realize with finality that in some regard you will never be as good a man again. The first sort of breakage seems to happen quick – the second kind happens almost without your knowing it but is realized suddenly indeed« (Fitzgerald 1936; Hervorheb. TK). Zu der besonderen Zeitlichkeit dieses »Knackses« siehe Deleuze (1984).
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dern in einem Ereignis, das sich auf tiefgreifendere Weise zeitigt. Der Bruch oder Knacks selbst ist nicht die einzelne Entscheidung, die isolierte Tat oder Veränderung, in der er sich verkörpert, sondern vielmehr die Reorganisation der Zeithorizonte, die sich durch eine Tat manifestiert: Wenn es tatsächlich eine Veränderung der tiefgreifenden Art gibt, für die sich die Serie interessiert, dann dadurch, dass in einem Vorfall dessen eigene Vergangenheit und Zukunft neu bestimmt werden. Walter Whites Vergangenheit und seine Zukunft werden durch die Veränderung, um die es geht, eine andere gewesen sein. Den Bruch zu ermessen heißt daher, seine anachrone Kraft zu begreifen: zu sehen, wie er seine Vergangenheit und seine Zukunft auf vollkommen neue Weise erschließt. Die Serie gilt in diesem Sinne nicht der Beschreibung eines progressiven Verlaufs, sondern dem Nachzeichnen der Tiefenwirkung solcher Brüche. Der Bruch dehnt sich in die Vergangenheit aus und eröffnet eine neue Fluchtlinie, die von der Figur, die wir am Anfang der Pilotfolge an ihrem 50. Geburtstag sehen, unerreichbar erscheint. Die Überstürzung, die durch die Struktur des Vorgriffs erzeugt wird, zeigt die Veränderung zugleich als unbestreitbar und dennoch gewissermaßen uneinholbar. Der Vorgriff setzt uns dem Gefühl aus, mit dieser Veränderung nicht mitkommen, nicht mithalten zu können, dieser Veränderung als einer ausgesetzt zu sein, die schon geschehen ist, bevor sie realisiert werden kann, und die darin zugleich noch vor uns liegt: die nicht aufhört anzukommen.25 Wir werden nicht mit einem einzelnen, begrenzten break konfrontiert, sondern mit einem fortgesetzten breaking, das bereits eingesetzt hat und immer noch einzuholen bleibt. In verschiedenen Interviews hat Vince Gilligan den eigentlichen Gegenstand von Breaking Bad so resümiert: Es gehe einerseits um »transformation« und andererseits um »process« (Schiff/Gilligan 2013: 23ff.). Zum einen also ist es der Serie um die immer wieder von neuem ins Licht gesetzte Wandlung zu tun, die Transformation von Mr. Chips zu Scarface, die sich an Walter White vollzieht; zum anderen um die langwierigen, mühsamen, ausgedehnten Prozesse und Verfahren, durch die solche Wandlungen realisiert und ihre Konsequenzen und Folgen bewältigt werden.26 Die Transformation erweist sich weder einfach als großer Knall noch als stetige progressive Entwicklung, sondern 25 | Zu einigen allgemeinen Zügen dieses Typs anachroner Zeitlichkeit siehe Khurana (2004). 26 | Eine Reihe von Folgen der Serie gelten absurden und sisyphosartigen Tätigkeiten wie dem Versuch von Walt und Jesse, eine entladene Autobatterie mit einer Handkurbel wieder aufzuladen (S2E09); dem Versuch, eine einzelne Fliege einzufangen, die sich im Labor verirrt hat (S3E10); den anstrengenden und zeitraubenden Erfordernissen der Produktion, Lagerung und Distribution von Crystal (z.B. S4E04, S4E09); den Problemen und Mühen, die das Einsammeln, Verteilen, Waschen und Lagern von Geld mit sich bringen (z.B. S4E05, S4E07, S5E08). Den Vorwurf, den man vielen Serien, auch jenen des
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als ein Umbruch, der in mühevoller Weise bewirkt, realisiert, vollzogen, kleingearbeitet, perspektiviert, bewältigt werden muss. Nicht selten zehrt der Prozess dabei all die Ressourcen oder Gewinne auf, die durch die Transformation erschlossen wurden: Das durch die Drogenproduktion jeweils erwirtschaftete Geld fließt nicht selten fast vollständig in die Lösung der durch sie verursachten Folgeprobleme. »It’s always been two steps forward and one step back,« wie man mit Walter Whites Anwalt Saul Goodman (S2E11) sagen könnte.
Anfang I am awake. Walter White, BB S1E01
Worin aber besteht nun überhaupt der Bruch, der durch den Vorspann vorweggenommen wird und durch die Serie eingeholt werden soll? Und was lässt Walter White derart von seinem bereits ausgebildeten Leben abkommen? In vielen Zusammenfassungen kann man lesen, dass Walt beginne, Crystal Meth zu kochen, um angesichts seiner verheerenden Krebsdiagnose seine Behandlungen bezahlen und seine Familie für die Zukunft absichern zu können. Obwohl es stimmt, dass Walt erst nach seiner Diagnose in die Drogenproduktion einsteigt, greift diese Rekonstruktion auf entscheidende Weise zu kurz. Sie macht von einer Rationalisierung Gebrauch, die verschiedene Figuren, nicht zuletzt Walt selbst,27 immer wieder bemühen, die aber von der Serie auf mühevolle und langwierige Weise immer wieder von Neuem dementiert wird, bis auch Walt, ganz zum Schluss, von ihr ablässt. In dem Versuch, ihre Vorsequenz einzuholen, geht die Serie drei Wochen zurück und beginnt, sozusagen ein zweites Mal, an Walts 50. Geburtstag mit Szenen aus dem eingeschliffenen und ermüdeten Leben Walter Whites. Der Moment, an dem sich erstmals die Fluchtlinie jenes anderen Lebens auftut, dem die Serie folgen wird, hat nichts mit praktischen Erwägungen zur Erhalneuesten Quality TV machen kann – dass Arbeit in ihnen keine Rolle spielt –, kann man an Breaking Bad nicht auf dieselbe Weise richten. 27 | Der erste, der sie ganz explizit ins Spiel bringt, ist allerdings Walts Partner Jesse. Nachdem Walt als Rechtfertigung für seinen plötzlichen Einstieg ins Drogengeschäft zunächst bloß das angeboten hat, was auch Jesse bisher dazu veranlasst hatte (»Money, mainly«), findet Jesse, das ergebe keinen Sinn (»Na – you, with the giant stick in your ass, breaking bad suddenly at, what?, 60? – that doesn’t compute,« S1E01). Als Jesse dann aber entdeckt, dass Walt Krebs hat, scheint alles Sinn zu ergeben: »I get it now. That’s why you’re doing all this. You want to make some cash for your people before you check out« (S1E06). Walt macht sich diesen Deutungsvorschlag im Weiteren immer stärker zu Eigen.
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tung der eigenen Familie und nicht einmal etwas mit der gesteigerten Erfahrung der eigenen Endlichkeit zu tun. Es ist zunächst der zufällige Blick auf einen Fernseher, in dem der Bericht von einer Drogenrazzia läuft, den sich die Partygäste ansehen müssen, weil Walts Schwager, DEA-Agent Hank Schrader, der zugleich der Protagonist des Berichts ist, das so will. Nachdem Hank einen Toast auf Walt ausgebracht hat, bewundert er sich nun selbst im Fernsehen. Während die Gäste den Bericht aufmerksam verfolgen, hält sich Walt genervt im Hintergrund, bis einige Bilder doch noch seine Aufmerksamkeit erregen: Mit Blick auf Kartons voller Geldrollen fragt Walt, sichtlich gebannt von dem, was er sieht: Walt: Hank: Walt: Hank:
Walt:
Hank, how much money is that? It’s about 700 grand. Wow… Well, that’s unusual, isn’t it? That kind of cash? Mm. Well, it’s not the most we ever took. It’s easy money – till we catch you! Heh-heh. Walt, just say the word and I’ll take you on a ride-along. You can watch us knock down a meth lab, huh? Get a little excitement in your life. Yeah, someday. (BB S1E01; wiederaufgenommen in S5E16)
Es ist dieses Angebot, auf das Walt nach seiner Krebsdiagnose zurückkommen und das ihn mit seinem früheren Schüler Jesse Pinkman zusammenführen wird, den er nicht fragen, sondern zwingen wird, sein Partner zu werden. Am Anfang steht somit nicht die unausweichliche Notlage, aus der Walt sich nur noch mit verbrecherischen Mitteln befreien könnte, sondern vielmehr eine Ermüdung am eigenen Leben und die Faszination über die Möglichkeit eines anderen Lebens. Das bedeutet nicht, dass seine Ermüdung nicht auch mit einer sozialen Lage zu tun hat, derer sich die Serie deutlich bewusst ist: mit einer Gesellschaft, die nicht mehr im Ernst an die eigenen meritokratischen Aufstiegsversprechen glauben kann, und mit einem Leben, das dem hochqualifizierten Protagonisten die Arbeit in zwei Jobs abverlangt und trotzdem keine Krankenversicherung verschafft, die eine angemessene Behandlung ermöglichen würde. Aber es ist dennoch entscheidend, dass Walts Weg in die Drogenproduktion von der Serie nicht auf unmittelbar instrumentelle Erwägungen zurückgeführt wird. Das wird auch daran deutlich, dass sich schnell weitaus plausiblere Möglichkeiten auftun, Walts Therapie zu finanzieren und die finanzielle Lage der Familie zu verbessern.28 28 | Walter Whites früherer Geschäftspartner Elliott Schwartz bietet an, ihn wieder einzustellen, und als Walt das ablehnt, macht ihm Elliott das Angebot, direkt für seine Therapie aufzukommen, was später dessen Frau Gretchen – Walts frühere Freundin und vermeintlich der Grund für Walts frühen Ausstieg aus der jetzt milliardenschweren Firma – wiederholen wird. Auch dies lehnt Walt ab; er beginnt stattdessen, obwohl der erste
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Der Eintritt ins Drogengeschäft fällt dann auch gar nicht mit dem Beginn der Therapie, sondern im Gegenteil mit Walts Weigerung zusammen, eine Therapie zu beginnen. Er verschweigt seiner Familie die Diagnose zunächst und geht stattdessen auf den ride-along, der ihn mit Pinkman in Kontakt bringt. Als die Beseitigung der Folgen der ersten missglückten Drogenversuche zu Lügen führen, auf die seine Ehefrau Skyler stößt, verschleiert er den eigentlichen Grund seiner Lügen mit Hilfe der bisher verschwiegenen Krebsdiagnose. Und in einem gewissen Sinn bleibt der Krebs auch dann noch, als Walt schließlich doch mit der Behandlung beginnt, eine Ausrede: Sie erlaubt es ihm, die Notwendigkeit des Eintritts in das Drogengeschäft vor sich und anderen zu rechtfertigen. Breaking Bad beginnt nicht mit einer instrumentellen Notwendigkeit, sondern mit der Erschöpfung am eigenen Leben, das zu einem bloßen Über- oder Weiterleben geworden ist. Der Krebs unterbricht dieses Leben aus Walts Perspektive weniger, als dass er dessen Wahrheit hervorkehrt: Die Therapie, zu der dieser Krebs ihn nach dem Urteil der anderen bewegen sollte, kann auf nichts anderes hinauslaufen als auf die künstliche Verlängerung seines bisherigen Lebens – eines Lebens, das ohnehin ein bloßes Weiterleben geworden ist: »And me. What? Some, some dead man, some artificially alive … Just marking time? No« (S1E05). Die Möglichkeit eines anderen Lebens, das Walt diesem bloßen Weiterleben entgegenstellt, bestimmt er nicht durch eine Funktion, einen Ertrag oder ein Gut, sondern zunächst allein durch eine andere Modalität. In der Pilotfolge bringt er es auf die Formel: »I am awake« (S1E01). Die letzte Folge der Serie wird es im Rückblick so ausdrücken: »I was alive« (S5E16). Mit Blick auf beide Formeln erscheint die Realität des Lebens, das Walt nun beginnt, indessen paradox: Die neue Lebendigkeit, zu der Walt gelangt, erweist sich nicht nur gebunden an die Gefährdung eigener und fremder Selbsterhaltung, sondern kippt in Formen zwanghafter Wiederholung um. Und die Wachheit, von der dieses Leben seinen Impuls erhält, führt im Folgenden zu einer umfassenden Täuschung anderer und seiner selbst: zu einer Verstellung seiner eigenen Taten durch alle möglichen Formen der Rechtfertigung.
Mitte What I want, what I need… is a choice. Walter White, BB S1E05
Worin genau finden nun aber die größere Wachheit und die größere Lebendigkeit, die Walts anderes Leben auszeichnen sollen, ihren Grund? Man könnte Versuch, ins Drogengeschäft einzusteigen, bereits zwei Tote zur Folge hatte, wieder damit, Meth zu kochen.
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annehmen, dass dieses andere Leben sich von Walts früherem dadurch unterscheidet, dass es dem Protagonisten die Befriedigung von Bedürfnissen, die Erreichung von Zielen, die Entfaltung von Potentialen erlaubt, die in seinem bisherigen Leben nicht möglich waren. Das Interessante an Walts Gegenentwicklung ist, dass diese naheliegende Deutung ihr nicht gerecht wird. So wenig Walt von instrumentellen Erwägungen in die Drogenproduktion getrieben wird, so wenig versteht er das, was er tut, als er ins Drogengeschäft einsteigt, als einen Versuch der nachholenden Verwirklichung oder Vervollkommnung seiner selbst.29 Weder verfolgt Walt das Projekt einer Selbstvervollkommnung noch glaubt er, einem Wesenszug oder Bedürfnis Ausdruck verleihen zu müssen, um sich endlich als der zeigen zu können, der er eigentlich schon immer war. Es geht weder um die Erfüllung eines Ideals noch um Selbstausdruck, weder um Tugend noch um eine Ästhetik der Existenz. Als sein Partner Jesse Pinkman, beeindruckt von dem Crystal Meth, das Walter White produziert hat, meint: »You are a goddam artist! This is art, Mister White,« entgegnet Walt nur stoisch: »Well actually, it is just basic chemistry, but thank you Jesse. I’m glad it’s acceptable« (S1E01). In Walts Antwort liegt sicher eine gewisse ironische Arroganz; gleichwohl macht sie deutlich, dass unser Protagonist sein Vorhaben nicht als ›Kunst‹ versteht. Er scheint auch nicht von einem erfolgreicheren Bild von sich geleitet zu sein, das er nun nachholend zu verwirklichen sucht. Durch die Entwicklung, die Walt aufnimmt, wird es zwar in der Tat notwendig für ihn, typische Verhaltensweisen und Einstellungen zu überwinden, neue Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen auszubilden und sich zu verändern. Er tut all dies allerdings weder in der Absicht, sich zu erweitern oder zu verbessern, noch in der Absicht, endlich wirklich als der aufzutreten, der er eigentlich im Innersten schon ist, sondern zunächst vor allem in dem Ver-
29 | Es ist gewiss nicht falsch, dass Walt als eine Figur auftritt, die ihr Potential nicht ausgeschöpft hat. Wenn Walt als jemand vorgestellt wird, der zu Forschungsarbeiten beigetragen hat, die durch den Nobelpreis gewürdigt wurden (S1E01), wenn er in einer Rückblende beim Kauf des Hauses findet, es sei zu klein, da es für ihn und Skyler ohnehin nur aufwärtsgehen könne (S3E13), ist offensichtlich, dass er nicht das erreicht hat, was ihm einmal möglich scheinen musste. Als er eine vorgetäuschte dissoziative Fugue erklären soll, fasst Walt die Lage so zusammen: »Doctor, my wife is seven months pregnant with a baby we didn’t intend. My 15-year-old son has cerebral palsy. I am an extremely overqualified high school chemistry teacher. When I can work, I make $43,700 per year. I have watched all of my colleagues and friends surpass me in every way imaginable and within 18 months, I will be dead. And you ask why I ran?« (S2E03). Das heißt aber nicht, dass man den Bruch in seinem Leben als den Versuch verstehen müsste, dasjenige nachholend zu realisieren, was bisher unverwirklicht geblieben ist. Es sollte uns zu denken geben, dass Walt auch dieses Narrativ als einen Vorwand einsetzt.
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such, dieses andere Leben, das er aufgenommen hat, zu realisieren: es ›durchzuziehen‹. Wenn es allerdings weder Vervollkommnung noch Selbstausdruck ist, was ist es dann, was den Protagonisten überhaupt zu diesem Bruch veranlasst und was ihn an diesem Bruch, trotz der enormen Kosten, den er für ihn hat, immer weiter festhalten lässt? Es ist gewiss nicht so, dass die Hauptfigur der Serie es sich durch diesen Bruch besonders gut gehen ließe. Statt die kurze Zeit, die Walt aufgrund seiner Krebserkrankung bleibt, auf Angenehmes zu verwenden, lässt er sich auf eine aufreibende, ihn überfordernde, ihm alles abverlangende Existenz ein. Was ihn daran zu interessieren scheint, ist zunächst einmal der Bruch mit jenem Leben, in dem er nichts zu sagen hatte. Bei einer Familienintervention versucht Walt zu erklären, warum er die mögliche Chemotherapie ablehnt. Er sieht sie als artifizielle Verlängerung eines Lebens, das er ohnehin nur als ein bloßes Überleben, ein Auf-der-Stelle-Treten empfindet. Hier bringt er das, was er durch die Verweigerung zu gewinnen versucht, auf die Formel einer eigenen Wahl: »What I want, what I need … is a choice. […] Sometimes I feel like I never actually make any of my own choices, I mean, my entire life, it just seems I never, you know, had a real say about any of it. This last one, cancer, all I have left is how I choose to approach this« (S1E05). Als Walt beginnt, Crystal Meth zu kochen, ist das mindestens in dem Sinn seine Wahl, dass man wohl kaum sagen kann, es liege in der Logik seiner Identität oder seines Charakters. Und eben dadurch wird es zu der Möglichkeit eines Bruchs mit einem Leben, in dem er eigentlich nie wirklich etwas zu sagen hatte. Die Wahl, die Walt vornimmt, ist negativ und reflexiv: Sie ist eine Wahl, die sich von einem Leben, in dem es keine Wahl zu geben scheint, absetzt und primär: die Wahl von Wahl. Diese Wahl ist nicht auf dieselbe Weise bloß negativ wie die Entscheidung, in deren Kontext Walt dieses Motiv nennt: die Entscheidung, nicht mit einer Therapie zu beginnen, das Leben also nicht aktiv zu verlängern. Es ist vielmehr die Wahl, ein Leben aufzunehmen, das die Zurückweisung, das Ungenügen an dem Leben ausdrückt, in dem er nichts zu sagen hatte. Aber darüber hinaus, dass es ein Leben ist, auf das sein bisheriges Tun eben gerade nicht hinausgelaufen ist, ein Leben, das er nur beginnen kann, indem er es wählt, und das dadurch das Moment der Wahl in sein Leben als Ganzes überhaupt erst einführt, ist noch nicht klar, was es ihm verspricht. Die wesentliche Rückbezogenheit auf das abzubrechende Leben kommt in der Konstruktion der Serie auch dadurch zum Tragen, dass die Wahl, die Walt trifft, über Veränderungen wie Kündigung des Jobs, Trennung von der Frau oder Umzug in eine andere Stadt hinausgeht. Stattdessen nimmt Walt ein anderes Leben auf, das zunächst einmal mit seinem früheren Leben zu koexistieren hat und eben dadurch sein Leben als Ganzes in eine Zone der Auseinandersetzung und des Konflikts verwandelt, in der sich die Ansprüche dieser
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beiden Leben aneinander abarbeiten, einander bekämpfen, sich miteinander arrangieren, einander anstecken. Walts Wahl ist also nicht eine nach Belieben vollzogene Abwahl einer bisherigen Option und die Ersetzung durch eine neue. Die Wahl, um die es geht, lässt sich auch nicht an einer einzelnen Entscheidung festmachen, sondern vollzieht sich auf gewisse Weise trotz erklärter Absichten und bekundeter Entschlüsse. Die Serie zieht die Möglichkeit, das Leben durch souveräne Willensakte zu bestimmen, insgesamt notorisch in Frage. Alle Fälle von offen erklärten, sich selbst als souverän darstellenden Entscheidungen besitzen eine äußerst zweifelhafte Haltbarkeit. Eben jene durch das Motiv der Wahl gerechtfertigte Entscheidung, die Krebstherapie zu verweigern, wird Walt unmittelbar am Morgen nach ihrer Erklärung wieder revidieren; ähnlich ist es mit seinem Entschluss, nicht wieder ins Drogengeschäft einzusteigen. Auch die feierlichen Willensbekundungen anderer Figuren beschreiben selten, worin diese letztlich ihre eigene Wahl situieren. Es kommt hinzu, dass viele der Beschlüsse derart rasch fast unbeherrschbare Verkettungen von Konsequenzen nach sich ziehen, dass sie künftige Entscheidungsspielräume so einschränken, dass die Figuren ihr Verhalten schnell nur noch als alternativlos darstellen können. Es geht bei der Sorte von Wahl, für die sich die Serie interessiert, also nicht um einen Akt, der zwingend mit besonders großen Spielräumen und einer souveränen Autor*innenschaft verbunden wäre. Auch Walts Einstieg in das Drogengeschäft ergibt sich in der Serie nicht aus einer rein spontanen Eingebung. Dieser Schritt wird vielmehr an Walt an seinem 50. Geburtstag auf eigenartige Weise herangetragen: Walts Schwager Hank legt ihm auf der Feier buchstäblich eine Waffe in die Hand (siehe auch Setton 2016). Walts Wahl erscheint vor diesem Hintergrund ebenso wenig originell wie die Mittel, mit denen er sie dann zu realisieren versucht.30 Wenn ein Leben der Wahl wie jenes, auf das Walt zu zielen scheint, als ein eigentliches beschrieben werden kann, dann im Sinne Heideggers: Die eigentliche Existenz ist nicht durch einen anderen Inhalt als die uneigentliche definiert, sondern durch eine andere Weise, das Uneigentliche zu ergreifen (Heidegger 1993: 179). Die Wahl, von der Walt spricht, ist nicht mit einer Schöpfung aus dem Nichts oder dem souveränen Belieben erklärter Absichten gleichzusetzen, sondern eine Wahl, die Gegebenes aufgreift und die weniger souverän getroffen wird, als dass sie sich vollzieht. Obwohl die Wahl dem Protagonisten also gewissermaßen widerfährt, besitzt sie dennoch einen anderen Charakter als die ihm durch sein gewöhnliches Leben entzogenen, abgenommenen Entschei30 | Siehe hierzu Walts zitathafte Gangsterverkleidung (Sonnenbrille, Hut) und seine Wahl eines Schrottplatzes für die Übergabe der Drogen, die Jesse folgendermaßen kommentiert: »This is like a non-criminal’s idea of a drug meet. This is like: ›Oh, I saw this in a movie. Oh, look at me‹« (S1E07).
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dungen. Die Weise, in der Walt seine Wahl erleidet, macht ihn nicht zum passiven Befehlsempfänger; in der Wahl erfährt oder erleidet sich Walt vielmehr selbst, wird er sich seiner selbst gewahr, bestimmt sich oder nimmt sich selbst an (Benveniste 1974: 189ff.). Eben dieses Moment der Wahl ist es, das Walt den Schritt, den er hier tut, in der doppelten Form ausdrücken lässt, dass er, indem er so handelt, endlich wach und lebendig ist. Ihm gehen darin die Augen auf über das bisherige Leben, das er geführt hat, und den Mangel an Lebendigkeit, durch den dieses Leben gekennzeichnet war. In diesem Sinne ist Breaking Bad zunächst ein Projekt der Befreiung (Menke 2016): Es geht um ein Leben, das sich frei macht von einem Leben, das sich bloß noch selbst erhält.
Rückgriff Appearing to come clean will be the best thing for everyone. Skyler White, BB S4E04
Diese Wahl, die Walt trifft, wird nicht durch einen einzigen Zug realisiert, weil es sich dabei nicht um die bloß punktuelle Freiheit einer beliebigen Entscheidung handelt. Sie kann nur realisiert werden, indem sie wiederholt, bestätigt, erneuert wird. Wenn die Wahl nicht eine punktuelle Präsenz, sondern vielmehr ein ›Ereignis‹ in dem Sinne ist, den Gilles Deleuze diesem Wort gegeben hat, dann verlangt sie von Walt, dass er sich dieses Ereignisses würdig erweist (Deleuze 1993: 186ff.). Eine solche Wahl ist auf Wiederholung angewiesen. Damit ist sie aber zugleich unmittelbar der Gefahr ausgesetzt, dass sie in eine neue Form der Selbsterhaltung umschlägt. Die Wiederholung, die die Wahl verlangt, um das Ereignis zu sein, als welches Walt sie sieht, kann sich in den Zwang verwandeln, weiter so handeln zu müssen, weil man schon so gehandelt hat. Aus einer gewissen Entfernung betrachtet, zeigt sich Breaking Bad seiner Struktur nach durch alle möglichen Formen des Wiederholungszwangs gekennzeichnet.31 Im Detail wird der Zwang zu wiederholten Handlungen, die die Wahl bestätigen, immer wieder durch die vielfachen Folgen und Effekte früherer Handlungen plausibilisiert: Um die Nebenfolgen der eigenen Handlungen zu bewältigen, werden Handlungen desselben Typs nötig. Die Wahl, die als Kontingenz beginnt – als eine Handlung, die in keiner Weise in der Logik des eigenen Lebens vorgezeichnet liegt –, wird zur Fatalität. 31 | Um nur ein strukturelles Beispiel zu nennen: Die Serie ließe sich als endlose Suche nach Distributoren beschreiben, die, einmal gefunden, zur Bedrohung werden, aus dem Weg geräumt werden müssen und so zu einer neuen Suche führen, die den gleichen Ausgang findet.
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Die Wahl ist aber nicht allein auf Wiederholung angewiesen, um als solche gelten zu können. Um sich als eine Wahl zu realisieren, die mehr ist als eine zufällige Wendung des Geschehens, nämlich: eine eigene Wahl, ist sie überdies davon abhängig, begriffen zu werden. Die Wahl erweist sich als angewiesen auf Formen ihrer Einholung: auf Erzählungen, Erläuterungen, Begründungen und Rechtfertigungen, die es den Protagonist*innen erlauben, bei dem Gewählten als einem durch sie selbst Gewählten anzukommen. Die Veränderung, um welche die Serie kreist, ist eine, zu der es konstitutiv gehört, dass sie in diesem Sinn eingeholt werden muss. Damit ist aber unmittelbar die Gefahr verbunden, dass die einholende Erzählung die eigentliche Wahl auf eine Weise einfängt, die sie ins Gegenteil verkehrt. Auf der Ebene seiner Rechtfertigungen und Erläuterungen ist es offensichtlich, dass Walt mit dem, was ihm durch ihn selbst geschehen ist, nicht zu Rande kommt. Er vermeidet zwar einige der Narrative von der Art, dass es um ein glücklicheres, erfüllteres, schöneres, angenehmeres, erfolgreicheres, von den früheren Enttäuschungen befreites Leben geht.32 Aber gerade in dem Maße, in dem Walt den Anschein zerstreuen will, er verfolge einfach die direkte Befriedigung eigener Bedürfnisse, verstrickt er sich in zwei Narrative, durch die er seine ›Wahl‹ verfehlt und sich in neuer Blindheit und Leblosigkeit einrichtet. Diese Rechtfertigungsnarrative sind die der Sicherung seiner Familie und die der Erlangung von Unabhängigkeit durch ökonomischen Erfolg. Eine Reihe von Friktionen und anfänglichen Verstellungen entstehen zunächst daraus, dass Walt das andere Leben, das er aufnimmt, vor denen, mit denen er sein Leben teilt, versteckt. Als sich diese Verdeckung nicht mehr halten lässt, gewinnt das Narrativ an Bedeutung, dass er dies alles eigentlich im Interesse seiner Familie tue. Diese Erzählung als eine Verstellung zu erweisen, die Walts Bruch mit seinem gewöhnlichen Leben noch in einem ganz anderen Sinn zu einem Zusammenbruch führen lässt, ist der überwiegende Teil der Serie gewidmet. 32 | Walt ist nicht ›schlecht‹ in jenem Sinn, den Aristoteles (1990: 1254b) in der Politik dadurch beschreibt, dass »der Leib über die Seele herrsche«. Walt bleibt vielmehr durch seine Veränderung hindurch ein Charakter, bei dem die Seele, ganz so wie Aristoteles (1990: 1254b) es in seiner Politik fordert, über den Leib ein »despotisches […] Regiment« führt. Wir finden uns hier also in jedem Falle Jenseits des Lustprinzips wieder. Wenn Walt einen inhärent bösen Zug hat, dann erwächst dieser schon eher aus der Unerbittlichkeit seiner perfektionistischen Despotie, verbunden mit einem sich immer weiter aufstauenden Ressentiment, das sich im Laufe der Serie entlädt. Das Hauptopfer dieser Despotie ist Jesse, der sich nicht zufällig als Walts »indentured servant« empfindet und am Ende der Serie buchstäblich versklavt wird (S2E12, S5E14ff.). Es sei hier daran erinnert, dass schon die Erläuterung zum despotischen Verhältnis von Seele und Leib in Aristoteles’ Politik (1990: 1253b) dazu dient, die Despotie zwischen Herr und Sklave zu erhellen.
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Dass Rechtfertigungsnarrative ganz allgemein einen problematischen Status besitzen, wird die Serie nicht müde vorzuführen: Nicht nur geht sie den Weisen nach, in denen das Verhalten der verschiedenen Akteure in Spannung zu ihren Rechtfertigungen steht und ihre Handlungen Konsequenzen haben, die ihren angeblichen Gründen zuwiderlaufen. Sie geht zugleich der strategischen Überdeterminierung der Rechtfertigungsnarrative nach, die häufig darauf zielen, die Mitwirkung oder Mithilfe anderer zu erreichen, und so zum Gegenstand von strategischer Planung und Inszenierung werden.33 Rechtfertigung wird demgemäß als ein Darstellungskampf ausgetragen, in dem mit hohen Einsätzen bestimmte Perspektiven und Begründungsmuster durchgesetzt werden sollen. Das Interesse der Serie gilt dabei nicht bloß einfachen Täuschungsmanövern, in denen ein Akteur einem anderen durch Lügen etwas vormacht; das Interesse gilt den perverseren Fällen, in denen Akteure sich hinter Wahrheiten verstecken und gerade durch das aufrichtige Einbekenntnis ihrer Gefühle und durch zutreffende Charakterisierungen in die Irre führen. Walts Narrativ, er sei in den Drogenhandel eingestiegen, um die Versorgung und den Schutz seiner Familie sicherzustellen, steht dabei unmittelbar unter Druck, da offensichtlich ist, dass seine Aktivitäten seine Familie mindestens ebenso sehr gefährden. Das Narrativ gerät für Walt selbst dabei allerdings nicht so sehr durch seine unmittelbar mangelnde Plausibilität als durch seine ironischen Folgen in eine nachhaltige Krise – als deutlich wird, dass er mit seinem Handeln und eben dieser fragwürdigen Rechtfertigung seine Familie gerade zu verlieren droht: Seine Frau Skyler verlangt die Scheidung, beginnt eine Affäre und bringt schließlich die Kinder vor Walt in Sicherheit. Walt scheint angesichts dieses – aus seiner Perspektive – ironischen Ausgangs, dass der Schutz der eigenen Familie zu ihrer Auflösung führt, kurz davor zu resignie33 | Besonders deutlich wird dies in einer Szene, in der Walt und Skyler ein Drehbuch debattieren und einstudieren, das Skyler entworfen hat, um Walts plötzlichen Reichtum der erweiterten Familie gegenüber plausibel zu machen: »Coming clean with Hank and Junior – appearing to come clean will be the best thing for everyone« (S4E04, Hervorheb. TK). Skyler macht dabei nebenbei auch noch einmal deutlich, dass das Krebsnarrativ nicht anders als strategisch verstanden werden kann. Sie empfiehlt Walt: »Just make sure to really hit the cancer, really touch on the fear and despair. It’s good to remind them […]. We want them to understand why you could do something so stupid« (S4E04). Der technisch-strategische Charakter eingesetzter Rechtfertigungen wird auch deutlich in Walts verzweifelter Beschreibung seines Unvermögens, seine Frau zu überzeugen: »I mean, I truly believe there exists some combination of words. There must exist certain words in a certain specific order that would explain all of this, but with her, I just … I just can’t ever seem to find them« (S3E10). Für Walt stellt sich diskursiver Erfolg hier als ein gleichsam chemisches Problem dar: eine Frage der richtigen Kombination von Elementen.
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ren: »I’ve lost my family. Everything that I care about« (S3E02). Er überwindet diese Krise nicht zuletzt mit Hilfe von Drogenboss Gustavo Fring, der ihn als Meth-Koch zu gewinnen versucht und ihm nahelegt, man könne doch an jenem Rechtfertigungsnarrativ festhalten, wenn man es so modifiziert, dass man die Entfremdung und Trennung von der eigenen Familie als heroische Tat in diese Erzählung integriert: Walter: Gus: Walter: Gus:
I have made a series of very bad decisions and I cannot make another one. Why did you make these decisions? For the good of my family. Then they weren’t bad decisions. What does a man do, Walter? A man provides for his family. Walter: This cost me my family. Gus: When you have children, you always have family. They will always be your priority, your responsibility. And a man, a man provides. And he does it even when he’s not appreciated or respected or even loved. He simply bears up and he does it. Because he’s a man. (S3E05)
In dieser Rechtfertigung richtet sich Walt ein: Er dient der Versorgung und Absicherung seiner Familie auch gegen deren Willen und trotz der neuerlichen Missachtung seiner Leistungen.34 Unmittelbar nach diesem Gespräch mit Gustavo Fring unterschreibt Walt die Scheidungspapiere, ohne sich aber je von der Familie zurückzuziehen und den Anspruch aufzugeben, sie zu versorgen und über sie zu entscheiden.35 Ohne dass er das Familiennarrativ ganz aufgibt (das geschieht erst unmittelbar vor dem Ende der Serie), tritt bei Walt ein anderes Projekt mehr und mehr in den Vordergrund: durch den Auf bau eines Geschäfts Unabhängigkeit und Anerkennung zu gewinnen und das zu bekommen, was er verdient.36 Die 34 | Der letzte Punkt fügt sich ausgezeichnet in Walts lange eingeübtes Selbstbild und Gus hat es nicht schwer, ihn zu überzeugen. 35 | Die Scheidung wird dabei nie wirklich vollzogen, weil Skyler die Papiere schließlich doch nicht einreicht. Statt die Ehe zu verlassen, versucht Skyler die Situation zu kontrollieren, indem sie zum einen eine Art geschäftliche Partnerschaft mit Walt eingeht und die Geldwäsche übernimmt, zum anderen die Macht, die sie so behält, einzusetzen versucht, um ihre Kinder zu schützen. Ihr Verhalten entspricht dabei einem Muster, das die Serie schon zuvor an dem Steuerbetrug ihres Chefs Ted Beneke vorgeführt hatte: Sie reagiert zunächst mit der Zusicherung, dass sie den anderen zwar nicht verraten werde, aber sich nicht daran beteiligen könne, was dann dazu führt, dass sie sich doch beteiligt. 36 | Das geschäftliche Motiv ist in der Serie von Anfang an gegenwärtig (S1E06, S2E05). Das Motiv eines erfolgreichen Geschäfts vermischt sich bei Walt dabei zugleich
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verschiedenen Versuche im Drogengeschäft, die Walt in den ersten vier Staffeln unternimmt, müssen vor diesem Hintergrund unbefriedigend bleiben. Während es insbesondere anfangs aus Walts Perspektive nicht wirklich vorangeht, erlaubt das Eintreten in Gustavo Frings Operation dann zwar erstmals professionelle und nachhaltig profitable Arbeit, aber zugleich nur als abhängig Beschäftigter, der zudem mit der ständigen Drohung konfrontiert wird, durch andere Arbeitskräfte ersetzt zu werden. Walts Ziel wird es daher zunehmend, wirtschaftlich ganz unabhängig zu werden. Nachdem er tatsächlich von Gus gefeuert und durch Jesse ersetzt worden ist, findet er einen Weg, Gus seinerseits aus dem Weg zu räumen, um sich schließlich an dessen Stelle zu setzen. Mit dem Ziel, Jesses Unterstützung dafür zu erreichen, stellt er sein Handeln erneut so dar, dass es dem Schutz seiner Familie gilt, deren Überleben Gus bedroht hat. Er greift dabei zu einer Manipulation zweiter Stufe: Er manipuliert Jesse (und bis zur allerletzten Einstellung der vierten Staffel auch die Zuschauer*innen) so, dass dieser glauben muss, dass Gus Jesse gewissenlos zu manipulieren versucht, um ihn dazu zu bringen, Walt aus dem Weg zu räumen. Sein Narrativ entspricht fast der Wahrheit, wenn man nur Walts und Gus’ Rollen vertauscht. Nachdem Gus beseitigt ist und die Bedrohung von Walts Familie ausgeräumt scheint, zieht sich Walt nicht aus dem Drogengeschäft zurück, wie er es müsste, wenn wirklich der Schutz der Familie der Grund seines Handelns gewesen wäre. Stattdessen baut er nun seine eigene Produktion auf. Beide Narrative, das der Sicherung der Familie und das der Erlangung von ökonomischer Unabhängigkeit, geraten dabei nicht nur dadurch in die Krise, dass sie von denen, die Walt damit überzeugen will, oft nicht akzeptiert werden können und dass damit auf dem Spiel steht, ob die so beschriebenen Projekte sich tatsächlich realisieren lassen. Sie stecken in einer viel tieferen Krise dadurch, dass die Realisierung der durch sie beschriebenen Vorhaben zugleich ihr Gegenteil zu fordern scheint: Versorgung der eigenen Familie und ökonomische Unabhängigkeit in der von Walt beschriebenen Form bedeuten auf eigentümliche Weise mit einem, wenn auch zutiefst verblendeten, weil egozentrischen Gerechtigkeitsprojekt: Walt ist bestimmt von dem Eindruck, in seinem bisherigen Leben nicht das erhalten zu haben, was er verdient hätte (S2E03). Der Schritt in die Drogenproduktion erscheint nun nicht einfach als der Versuch, nachholend etwas zu erhalten, was ihm zusteht, sondern vielmehr: endlich ein angemessenes Verhältnis zwischen Verdienst und Ertrag herzustellen – das zu erhalten, was man verdient. Eben darum ist jede Form großzügiger Wohltätigkeit oder zufälligen Glücks für Walt unerträglich. Er besteht dagegen immer wieder darauf, dass er das Drogengeld nicht gestohlen oder gewonnen, sondern – sozusagen ›ehrlich‹ – verdient hat. Den Topos, zu erhalten, was man verdient, nehmen dann insbesondere die letzten Folgen der Serie von der Gegenseite her wieder auf: Dass Walt mit all dem, was er getan hat, nicht ungestraft davonkommen darf, sondern erhalten muss, was er verdient.
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notwendig die Auslöschung von Familie und die Abhängigkeit anderer. Dass die Logik des Schutzes der eigenen Familie zugleich die Auslöschung anderer Familien verlangen kann, wird auf aufwendige Weise durch die zweite Staffel vorgeführt, an deren Ende Donald Margolis, der Vater von Jesses Freundin Jane, und Walt sich zufällig in einer Bar treffen. Es ergibt sich eine beiläufige Unterhaltung, in deren Zuge Walt seiner Verzweiflung darüber Ausdruck gibt, dass sein ›Neffe‹ (gemeint ist Jesse) sich durch ihn einfach nicht von seinem falschen Weg abbringen lässt. Walt beherzigt dann Donald Margolis’ Rat: »Family. […] You can’t give up on them. Never. What else is there?« (S2E12), indem er Jane, von der er hier noch nicht weiß, dass sie Donald Margolis’ Tochter ist, an einer Überdosis sterben lässt. Gerade indem Walt den Rat von Donald Margolis beherzigt, immer zur eigenen Familie zu halten, löscht er dessen Familie aus. Beim Narrativ von der Unabhängigkeit des Unternehmers ist, so wie Walt es versteht, seine Nichtgeneralisierbarkeit unmittelbar ersichtlich. Walts Unabhängigkeit erfordert stets die Abhängigkeit der anderen, sein Gewinn die Eliminierung seiner Konkurrenten; sogar scheinbare Partnerschaften werden in asymmetrische Verhältnisse überführt, in denen Walt die anderen entweder kontrolliert oder verdrängt, um so seine unternehmerische Unabhängigkeit zu behaupten. Die Erwirtschaftung des Geldes, durch die sich Walts Unabhängigkeit manifestieren soll, erweist sich als eine Tätigkeit von schlechter Unendlichkeit: Es kann nie genug sein. Die Einsicht in diese Struktur wird eine Weile dadurch aufgehalten, dass das Erwirtschaftete immer wieder komplett verausgabt werden muss, um die unerwünschten Nebeneffekte der Unternehmung zu bewältigen. Aber als der Betrieb einmal tatsächlich eine Weile ohne Störung läuft, wird klar, dass Walt schnell ein Vielfaches dessen erwirtschaftet hat, was er ursprünglich einmal (als notwendig für die Versorgung der Familie) angestrebt hatte. Der Stopppunkt kann nicht mehr im Erforderlichen, sondern nur in den Grenzen des Möglichen gefunden werden, und es ist aus der Logik des Geschäfts selbst nicht ersichtlich, wie diese Grenze je definitiv werden könnte. Walt erwägt, herausgefordert von der Feststellung, dass er seine monetären Ziele längst übertroffen hat, noch eine Variation seines Narrativs: »Jesse, you’ve asked me whether I am in the meth business or the money business, neither: I am in the empire business« (S5E02). Dieses Narrativ hat den Vorteil, dass es die schlechte Unendlichkeit eines Immer-Mehr in die Form einer positiven Unendlichkeit – ein Imperium – zu überführen scheint. Zugleich wird der phantasmatische Charakter des angestrebten Ziels hierdurch nur umso deutlicher. Das Imperium, das Walt auf baut, wird dann auch schneller wieder zerfallen, als es entstanden ist. Sein endgültiger Zusammenbruch ist der Gegenstand der 14. Folge der letzten Staffel, die »Ozymandias« heißt und
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nach einem Gedicht Shelleys benannt ist, einer Elegie auf die Vergänglichkeit menschlicher Werke.37
Ende I watched her die. Walter White, BB S5E14
Dem Zusammenbruch der genannten Narrative, die nicht einfach nur verdecken oder verbrämen, was der Protagonist tut, sondern die Logik seines Handelns selbst transformieren und dieses immer weiter von dem Bruch entfernt haben, von dem es ausgegangen war, ist die zweite Hälfte der letzten Staffel gewidmet. Interessanterweise wird der Zusammenbruch dieser Narrative erst definitiv, nachdem Walt sich zur Ruhe setzt: Als Skyler ihm klargemacht hat, dass mehr Geld aufgelaufen ist, als sie noch zählen, geschweige denn waschen können, zieht Walt sich tatsächlich aus dem Geschäft zurück: »I’m out« (S5E08). Dieser Ausstieg wird ganz still vollzogen, ohne dass uns die Details seiner Bewältigung gezeigt werden. Diese kurz versuchte Rückkehr zum Gewöhnlichen (die Serie widmet ihr nur wenige Minuten) ist ohnehin trügerisch: Man darf zweifeln, ob der Protagonist hier wirklich mit seinem neuen Leben von Neuem bricht und es als eines erkennt, in dem er auf andere Weise wieder nichts zu sagen hat, als ein Leben, das eigentlich ein bloßes Über- und Weiterleben geworden ist und das sich durch Werte rechtfertigt, die es selbst aushöhlt. Die Rückkehr zum Gewöhnlichen geschieht eher als eine weitere Verstellung der eigenen Taten: als eine Abwendung vom eigenen Tun, die dadurch geschieht, dass man es für vergangen erklärt. Genau in diesem Sinn hatte Walt diese Rückkehr Jesse empfohlen: »But son, you need to stop focusing on the darkness behind you. The past is the past. Nothing can change what we’ve done. But now that’s over. […] [T]here is nothing left for us to do except to try to live ordinary, decent lives« (S5E09). Verfehlt ist diese Rückkehr auch, weil sie eine Unabhängigkeit und Souveränität Walts unterstellt, an der wir ausreichend Zweifel gewonnen haben sollten. Eben in jenem Moment, da Walt sich aus dem Geschäft zurückgezogen und entschieden hat, ein gewöhnliches Leben zu führen, findet sein Schwager 37 | Die in Shelleys Gedicht beschriebenen, langsam in der Wüste erodierenden Überreste einer Skulptur des großen Ozymandias gemahnen weniger an dessen Größe als an die Hybris seines Überlebenwollens: »My name is Ozymandias, king of kings/Look on my works, ye Mighty, and despair!« Am Ende der Vorsequenz der 14. Folge werden erst Walt, dann Jesse, dann das Wohnmobil ausgeblendet; zurück bleibt nur die Wüste. Siehe hierzu Hoffman-Schwartz (2015).
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Hank in Walts eigenem Heim den entscheidenden Hinweis dafür, dass Walter White kein anderer als eben jener Heisenberg ist, den er die letzten anderthalb Jahre verfolgt hat. In dem Moment, da Walt sich also von seiner neuen Persona zurückzieht, holt sie ihn ein. Er wird dabei buchstäblich von seinem Namen eingeholt: von der Widmung »To my other favorite W. W.«, die sein früherer Meth-Laborassistent Gale in einem Buch von Walt Whitman hinterlassen hat.38 Walt entkommt daher der Existenz, die er geführt hat, in der Serie nicht, indem er einfach zu seinem gewöhnlichen Leben zurückkehrt. Stattdessen erfährt er in den verbleibenden Folgen den tatsächlich vollständigen Zusammenbruch seiner Rechtfertigungsnarrative, von denen er bei dieser Rückkehr gewissermaßen nur abgelassen hatte, ohne sie im vollen Sinne aufzugeben. Dieser finale Zusammenbruch ergibt sich für Walt in dem verzweifelten Versuch, der Festnahme zu entgehen, die Auflösung seiner Familie zu verhindern und sein komplexes Werk irgendwie zusammenzuhalten. Jesse und Hank, die sich inzwischen zusammengetan haben, um Walt zur Strecke zu bringen, gelingt es, Walt zu überlisten, so dass dieser sie zu seinem in der Wüste vergrabenen Geld führt. Walt, der nur Jesse dort vermutet, beordert eine Bande der Aryan Brotherhood dorthin, die er beauftragt hat, Jesse umzubringen. Sein Versuch, das rückgängig zu machen, als er auch seinen Schwager Hank dort sieht, schlägt fehl. Die Bande erschießt Hank und zerstört damit endgültig Walts Illusion, durch sein Tun seine Familie zu schützen. Dieselbe Bande nimmt ihm dann zugleich fast das gesamte Geld ab, das er ihnen in dem verzweifelten Versuch, Hank (oder wohl eher: sein Narrativ) zu retten, angeboten hatte. Schließlich werden sie mit Hilfe von Jesse, den sie gefangen nehmen, foltern und versklaven, in die Lage versetzt, die Produktion von Meth an sich zu ziehen und sich Walts Markenprodukt – das blaue Crystal –, auf dem sein Imperium basierte, anzueignen. Familie, Geld, Imperium werden Walt somit auf einen Schlag und unter seiner eigenen Mitwirkung entzogen. Es war sein eigenes Tun, das hier zum Tod von Hank, zum Verlust des Geldes und dem seines Imperiums führt. Walt reagiert auf diesen Zusammenbruch durch einen Akt purer, sinnloser Bosheit, der zugleich ein Einbekenntnis dieser Bosheit ist. Dieser Akt scheint damit den Tiefpunkt seiner Entwicklung darzustellen wie zugleich eine Art Auflösung der sie tragenden Verstellungen. Obwohl die Zuschauer*innen Walt inzwischen fast alles zutrauen dürften (wir haben ihn mittlerweile vielfach morden und Morde in Auftrag geben sehen), ist der Akt dennoch kaum zu fassen. In den ersten Staffeln der Serie ist der/die Zuschauer*in durch die 38 | Eben auf die Anerkennung seines Namens war es Walt in seiner Empire Phase wesentlich angekommen. Dass eine an seinen Namen geknüpfte Egozentrik dabei kein ganz neuer Zug Walts ist, verdeutlichen schon der Name seines Sohnes (Walter Jr.) sowie der seiner ersten Firma (Gray Matter, eine Kombination aus White und Schwartz).
Breaking Bad
Erzählperspektive der Serie stets mit Walt alliiert: Der/die Zuschauer*in weiß immer das, was Walt weiß, kann also die Täuschung der anderen Figuren als Wissende/r genießen. Es ist nicht so sehr die zunehmende Anzahl von grausamen Aktionen, die dem/der Zuschauer*in die Ablösung von Walt erlaubt, als vielmehr der Umstand, dass wir am Ende der vierten Staffel Walt nicht einfach erneut dabei beobachten, wie er jemanden täuscht, sondern selbst von ihm getäuscht werden. Erst die letzte Einstellung der Staffel verdeutlicht, dass es in der Tat Walt war, der einen kleinen Jungen vergiftet hat, nur um Jesse glauben zu machen, Gus habe das getan, damit Jesse Walt verdächtigt. Sogar dieser Akt, durch den wir uns endgültig von Walt entfernen, von dem wir uns nicht mehr sicher sein können, dass er nicht auch uns täuscht, hatte noch eine erkennbare strategische Funktion, die wir im Nachhinein begreifen können. Eben eine solche strategische Funktion fehlt bei diesem letzten Akt grundloser Bosheit: Obwohl Walt Jesse, der mindestens so sehr family ist wie Hank, retten könnte, liefert er ihn der Bande der Aryan Brotherhood aus. Er verlangt zunächst seinen Tod (als etwas, das die Bande ihm noch schuldet), stimmt dann aber zu, dass er erst später getötet wird, weil Todd, Jesses Nemesis, ihn vorher noch befragen – das heißt: foltern – will. Als sie Jesse, der sich noch dagegenstemmt, abführen wollen, hält Walt sie auf. Nicht aber, wie vielleicht der/die letzte hoffnungslose Zuschauer*in noch hofft, weil er doch noch sein Gewissen wiederentdeckt hätte und seinen früheren Schüler, Partner, Ersatz-Sohn, Freund nicht ausliefern kann. Im Gegenteil, er will Jesse, dessen Widerstand noch nicht völlig gebrochen ist, den letzten Schlag versetzen. Walt bekennt, dass er seine Freundin Jane hat sterben lassen: »I watched Jane die. I was there and I watched her die, I watched her overdose and choke to death. I could have saved her, but I didn’t« (S5E14).39 Jesse wird danach widerstandslos weggeschleift.
Nach dem Ende I was alive. Walter White, BB S5E16
Nachdem dieses Ende erreicht ist, scheint von dem Ausbruch aus dem Leben, den Walt vollzogen hatte, nichts anderes mehr übriggeblieben zu sein als Täuschung und Verstellung, Grausamkeit und Gewalt. Während Walt im Folgenden seiner Festnahme nur entgehen kann, indem er sich in einer Art selbstgewähltem Privatgefängnis, einer Hütte ohne Kontakt zur Außenwelt versteckt, 39 | Es ist gewiss kein Zufall, dass die Bosheit, die Walt hier, wie uns scheint, auf eine sinnlose und grausame Weise einbekennt, sich auf einen Akt bezieht, an dem wir, die Zuschauer*innen, partizipiert haben: We watched her die.
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ist Jesse von Jacks Bande versklavt worden. Von diesem Ende her könnte Breaking Bad als eine Serie erscheinen, der es doch nur um genau das ging, was die Kurzzusammenfassung am Anfang beschrieben hatte: den langsamen Weg auf die schiefe Bahn, der unweigerlich ein schlechtes Ende findet. Breaking Bad hat aber erstens diesen Weg nicht so sehr als den Weg in ein den meisten Zuschauer*innen fremdes Leben beschrieben, vor dem man sich einfach hüten kann, sondern als den Weg (zurück) in ein Doppelleben, das auf gewisse Weise unser aller Doppelleben ist: Das Doppelleben derjenigen, die zum einen als Mitglied einer Familie und als Freund ihrer Freunde Loyalität und Sorge zeigen, und dies zum anderen als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft dadurch möglich machen, dass sie nur ihre je eigenen Interessen verfolgen. Die Aporien dieses Doppellebens sind hier gewiss auf drastische Weise in Szene gesetzt, aber es ist kein Zufall, dass unser krimineller Protagonist ein biederer Chemielehrer ist, der Kopf des Drogenhandels im Südwesten der Besitzer einer Fast-Food-Kette, sein Sicherheitschef ein Polizist im scheinbaren Vorruhestand und so weiter. Die Strategien der Täuschung und Manipulation, die Gestalten der Selbstsucht und Konkurrenz, die Formen der Grausamkeit und Gewalt, die wir hier sehen, sind nicht die einer ganz anderen Welt, in die einige wenige Unglückliche abrutschen mögen, sondern werfen ein Schlaglicht auf die Gewalt unseres Alltags. Was die Serie anhand von Walter White verfolgt, ist also nicht allein der Niedergang einer kriminellen Existenz, sondern eine Spiegelung des Niedergangs des gewöhnlichen Lebens. Das Narrativ von der schiefen Bahn greift aber noch aus einem zweiten Grund zu kurz. So desaströs der Zusammenbruch ausfällt, der am Ende steht, so erschöpft sich das breaking bad Walter Whites dennoch nicht in ihm. Eben darum kann die Serie in dem beschriebenen Ende nicht ihren Abschluss finden. Es gibt ein Ende nach dem Ende, in dem die Serie auf ihren Anfang, den Abbruch des gewöhnlichen Lebens, noch einmal zurückkommt. Es kostet erneut Zeit, bis Walt das Scheitern der Art und Weise realisiert, in der er den Bruch mit seinem gewöhnlichen Leben zu rationalisieren und instrumentalisieren versucht hat. Er beginnt zunächst unmittelbar mit planlosen Planungen, um sein Geld doch wieder zurückzubekommen, damit er es seiner Familie zukommen lassen kann. Nach einem Telefongespräch mit seinem Sohn, in dem der Zerfall seiner Rechtfertigungen so offensichtlich ist, dass er seine Sätze nicht mehr vollenden kann und sein Sohn ihm klarmacht, dass er nicht Walters Geld, sondern nur noch dessen Tod will, scheint Walt wirklich aufzugeben und ruft die Polizei. Während er darauf wartet, aufgegriffen zu werden, fällt nun aber sein Blick wie in der Pilotfolge nochmals zufällig auf einen Fernseher: Er sieht ein Interview mit seinen früheren Geschäftspartnern Elliott und Gretchen, die seinen Beitrag zu ihrer Firma zu minimieren suchen, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden von den jüngsten Enthüllungen, denen zufolge es sich bei einem Mitbegründer der Firma um einen Drogenbaron handle.
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Diese erneute Verletzung von Walts Stolz und Geltungsdrang scheint ihn ein letztes Mal aufzuwecken. Es ist also an sich kein gutes Motiv, das Walt hier einen Impuls gibt, sondern vielmehr ein Beweggrund, dessen desaströse Auswirkungen wir schon häufig genug erfahren haben. Und dennoch lässt ihn dieser Anstoß hier einen letzten Coup beginnen, der auf andere Weise verfährt als die bisherigen. Walt scheint mit seinem anderen Leben, das als Ausbruch begann, wiederum zu brechen, allerdings auf ganz unscheinbare, minimale, innerliche Weise. Walt führt einen letzten heist aus, aber er tut es mit einer Langsamkeit, mit einer Gelassenheit, fast Schlampigkeit, die in scharfem Kontrast zu seinem früheren Perfektionismus steht. Der Walt, den wir hier sehen, führt eine Art Nachleben. Walt zielt mit dieser letzten Aktion nicht darauf, sein Geld oder Imperium zurückzugewinnen, sondern überlässt beides vielmehr sich selbst. Durch eine List gelingt es ihm zwar, seinen Kindern den ihm verbliebenen Teil des Geldes tatsächlich zukommen zu lassen,40 aber er scheint sich dabei zum ersten Mal vollkommen darüber im Klaren zu sein, dass ihn das nicht mehr zu einem Teil seiner früheren Familie macht. Eine Szene, in der diese Ablösung deutlich wird, zeigt Walt, wie er seinen Sohn beim Nachhausekommen durch zwei Fenster erst von der einen, dann von der anderen Seite aus beobachtet. Walt ist zum Zuschauer seines früheren Lebens geworden. In diesem Nachleben ist Walt zu einer Selbsteinsicht und einem Einbekenntnis in der Lage, das ihm bis zuletzt, egal wie hoffnungslos absurd seine Rechtfertigungsversuche auch wirkten, nicht möglich gewesen war: Walt gesteht Skyler gegenüber ein, dass er all dies in der Tat nicht für die Familie, sondern für sich getan habe. Es handelt sich dabei um eine Einsicht, die schon längst im Raum stehen muss, von der man nicht gut nicht wissen kann, und die dennoch erst jetzt ganz in den Blick gerückt wird. Das zeigt die Bildregie auf fast schon überdeutliche Weise dadurch, dass sie Walt, der für die Kamera und unseren Blick zunächst durch eine Säule verdeckt im Raum gestanden hat, durch das Herannahen der Kamera langsam ins Bild rückt. Walt: All the things that I did, you need to understand … Skyler: If I have to hear one more time that you did this for the family … Walt: I did it for me. I liked it. I was good at it. And I was … really … I was alive. (S5E16) 40 | Walt bekommt am Ende insoweit doch das, was er will (beziehungsweise das, von dem er immer beteuert hat, dass es sein wichtigstes Ziel sei): dass das Geld seiner Familie zugutekommt, sodass all das, was er getan und verbrochen hat, nicht für nichts gewesen ist. Hierin liegt einer der wenigen Punkte der Serie, an denen sie sich vielleicht doch auf problematische Weise den Gesetzen identifikatorischer Rezeption gebeugt hat.
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Mit diesem Einbekenntnis kehrt Walt zu jenem ersten Impuls seines breaking bad zurück: zu der Wachheit und der Lebendigkeit, die ihm der Bruch mit einem bloßen Weiterleben ermöglicht hatte. Für einen weiteren Neuanfang ist es offenkundig zu spät: »I was alive.« Was Walt aber stattdessen möglich wird, in dieser letzten Folge, in diesem Ende nach dem Ende, ist ein Nachleben, das diesen ersten Bruch wieder auf- und ernstnimmt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass Walt einbekennen kann, was er getan hat und was er geworden ist, und eben dadurch die Möglichkeit gewinnt, damit und nicht bloß als der, der er ist, zu operieren. Erst hier kehrt ein Moment des Spiels und der Selbstdifferenz zurück, das nach Walts Ausbruch mehr und mehr durch eine einzige strategische Form gebunden wurde: die der Manipulation und Täuschung, die mit der Unfähigkeit verbunden schien, sich selbst zu durchschauen. Ohne von einem bestimmten Rechtfertigungsnarrativ geblendet zu sein und ohne sich verleugnen zu müssen, setzt Walt nun vielmehr die Legende von Heisenberg ein,41 um Gretchen und Elliott so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass sie dafür sorgen werden, dass sein Geld seine Kinder erreicht. Im letzten Akt bringt Walt ohne Rücksicht auf die Erhaltung von Familie, Geld oder Imperium Jacks Bande um, die er selbst eingesetzt hatte. Ein Querschläger dieser Aktion trifft auch Walt, der diese letzte Aktion daher nur um einige Minuten überlebt. Ohne dass klar wäre, dass Walt dies geplant oder beabsichtigt hätte, wird schließlich, gewissermaßen als Nebeneffekt, Jesse befreit. Wenn in diesem letzten Akt eine Befreiung liegt, die die des Anfangs wiederholt, dann insofern, als Walt hier nochmals über die Logik der Selbsterhaltung hinausgeht: Der Akt zielt weder auf sein bloß physisches Überleben noch auf das der eigenen Werke. Der Akt sucht vielmehr jene Lebendigkeit und Wachheit zu verteidigen, die Walt erfahren hat und die sich zwischen diesen beiden Selbsterhaltungen hält: zwischen der bloß physischen Erhaltung unseres Lebens und der Selbsterhaltung der Werke und Gewohnheiten, zwischen dem »organischen Wiederholungszwang« (Freud 1940: 38) des Lebenden und dem kulturellen Wiederholungszwang der Institutionen. Was Breaking Bad inter41 | Die Heisenberg-Legende hatte ohnehin schon begonnen, sich von ihm abzulösen. Walts Haus ist in der letzten Folge zu einer Art Wallfahrtsort von Jugendlichen geworden; die Serie kommentiert damit eine Entwicklung, die sich tatsächlich zum Leidwesen der Nachbarn des Drehorts ergeben hat. Die quasi-mythische Qualität der Figur Heisenberg hat die Serie dabei schon früher reflektiert – etwa durch einen mexikanischen Song, in dem Heisenberg gefeiert wird (S2E07), sein Bild in einem mexikanischen Schrein (S3E01) etc. Diese mythisierende Dimension ist zugleich mit einem allgemeineren Zug der Serie verbunden: dem Bildwerden einzelner Einstellungen, die sich aus ihrer lokalen narrativen Funktion herauslösen und eine enigmatische Bedeutung annehmen. Das gilt ebenso für eine Reihe dissoziierter Einstellungen aus den Vorsequenzen, aber auch für weitere Requisiten, Schauplätze und Einstellungen.
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essiert, ist die Schwierigkeit, diesem Bruch eine Gegenwart im Leben zu verschaffen, und die drohende Verkehrung von Veränderung in eine neue Form von Gefängnis. Ohne dass die Serie diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstand der Darstellung machen würde, scheint sie dabei die Frage aufzuwerfen, ob das Unvermögen, diesem Bruch Geltung zu verschaffen, ohne ihn zu verkehren, mit der Abwesenheit des Politischen zu tun hat. Wie an Walts Rechtfertigungsnarrativen deutlich wird, kennt die Serie nur die Loyalität und Sorge der Familie einerseits und die Macht und das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft andererseits. Die Solidarität und Öffentlichkeit des Politischen jedoch existieren nicht. Was solidarischem Verhalten zunächst vielleicht ähnlich sieht, zerfällt entweder in Sorge um die Nächsten oder komplex kalkulierten Tausch; und was als öffentlicher Raum erscheinen könnte, ist kein Feld des gemeinsamen Tuns von Gleichen, sondern eine Wüste, in der die Werke der Einzelnen langsam verblassen und vergehen. Demjenigen, den Walt in der letzten Folge befreit, wäre Solidarität zuzutrauen; aber der Akt, durch den er ihn befreit, ist noch nicht selbst ein Akt der Solidarität, sondern zunächst nur der Selbstüberwindung.42
Coda Why should we do anything more than once? Jane Margolis, BB S3E11
Werden, was man ist: Eine erste Weise, diese Devise zu verstehen, besteht darin, sie als die Forderung zu verstehen, das, was man potentialiter ist, wirklich zu realisieren, sein Talent in »Werken und Handlungen [zu] entlade[n]«, wie Nietzsche (1999: 219) das einmal formuliert hat. So begriffen würde die Devise also die Entfaltung und Ausschöpfung unserer Potentiale von uns verlangen: die Verwandlung des Potentials in die Wirklichkeit einer gegebenen Fähigkeit und die Ausschöpfung dieser Fähigkeit durch den Nutzen ihres Ertrags. 42 | Es ist entscheidend, dass Walt keinen Selbstmord begeht, wenn man darunter einen Akt versteht, der den Tod gerade nicht entgegennimmt, sondern vielmehr ihn als etwas Zukünftiges aufzuheben versucht (Blanchot 1955: 104). Walt nimmt seinen Tod hier auf gewisse Weise in Kauf, will ihn sogar, wie er Jesse gegenüber einbekennt, aber er versucht ihn nicht, wie er es zuvor auf verschiedene Weise getan hat, zu kontrollieren. Es geht Walt nicht mehr darum, »den eigenen Todesweg […] zu sichern«, wie Freud (1940: 41; Hervorheb. TK) die Funktion der Selbsterhaltungstriebe an einer Stelle von Jenseits des Lustprinzips ausdrückt. Walt reagiert auf den »death sentence«, mit dem jedes Leben versehen ist (S4E08), nicht mehr dadurch, dass er unbedingt nur »auf seine Weise sterben will« (Freud 1940: 41; Hervorheb. TK).
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Breaking Bad hat mit dem Ungenügen an diesem Modell zu tun. Nur oberflächlich betrachtet liegt dieses Ungenügen darin, dass die Hauptfigur ihre Potentiale nach ihrer eigenen Beschreibung gerade nicht ausschöpfen konnte, ihre Talente nicht in Handlungen und Werken entladen konnte, und so nicht das bekommen hat, was sie verdient. Das tiefere Problem ist, dass diese Vorstellung der Selbstwerdung und -entfaltung die Formel verkehrt herum liest: Die Aufgabe scheint demzufolge darin zu bestehen, das, was man bloß wird, auch zu sein; das eigene Werden in gegebenen, idealiter endlos auf stets gleiche Weise reproduzierbaren Fähigkeiten und ihren Erträgen resultieren zu lassen. Die Formel fordert aber nicht zu sein, was man wird, sondern umgekehrt, das, was man ist, zu werden. Es geht mithin darum, das eigene Sein in ein Werden zu verwandeln, das, was man ist, nicht als ein Etwas – ein gegebenes Merkmal oder einen Ertrag – aufzufassen, sondern als ein »Seinkönnen«.43 Dafür ist es zugleich nötig, immer wieder bei dem anzukommen, was man geworden ist. Erst indem man sich als der/die weiß, der/die man geworden und werdend ist, wird man es wirklich. So gedeutet verlangt die Formel also nicht Selbstausschöpfung von uns, sondern vielmehr Selbstwerdung: die Verwandlung unseres Seins in Werden und Wissen, Selbstüberschreitung und Selbstaneignung. Breaking Bad verfolgt die Schwierigkeit dieser Forderung und die stete Gefahr des Rückfalls in die Idee der Selbstausschöpfung. Das erste Moment der Selbstwerdung – die Überschreitung – stellt das Problem seiner Bewahrung und Verwirklichung. Wenn es sich um mein Werden handelt und nicht einfach um eine zufällige Variation, die sich an mir vollzieht, muss ich das Werden bewahren, an ihm festhalten, ohne es aber dadurch in ein Sein zu verwandeln. Die Bewahrung der Veränderung steht unablässig in der Gefahr, in einen Wiederholungszwang (Immer-Wieder) und eine schlechte Unendlichkeit (Immer-Mehr) zu kippen, die uns das Moment des Werdens verfehlen lassen. Dass es kein einfaches, äußerliches Kriterium gibt, an dem man dem Faktum der Wiederholung ansieht, ob sie sich als Zwang oder Treue, als Automatismus oder Insistenz vollzieht, macht es zur entscheidenden Frage, wie man sich in der Wiederholung zu sich selbst verhält.44 43 | So liest Heidegger die Formel in Sein und Zeit: Weil das Dasein »ist, was es wird bzw. nicht wird«, weil das Dasein in seiner Faktizität »Seinkönnen« ist, darum kann es verstehend zu sich selbst sagen: »werde, was du bist!« (Heidegger 1993: 145). 44 | Zur Kriterienlosigkeit des Unterschieds zwischen mechanischer und lebendiger Wiederholung siehe Cavell (1994: 158). Es gibt in Breaking Bad ein bemerkenswertes Gespräch zwischen Jesse und seiner Freundin Jane im Anschluss an einen Ausstellungsbesuch. Jesse weiß, wie hier deutlich wird, nur von zwei Formen der Wiederholung: der bloßen, sinnlosen Wiederholung, die tödlich langweilig ist, einerseits und der instrumentellen Wiederholung der Übung und Perfektionierung andererseits. Es ist Jane, die ihn an eine dritte Möglichkeit, nämlich die der lebendigen Wiederholung erinnert: »Jes-
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Das darum irreduzible zweite Moment der Selbstwerdung – ein bewusstes Selbstverhältnis – stellt uns vor das Problem, wie man ein Verhältnis des Wissens zu sich herstellt, durch das man das eigene Werden nicht gerade verfehlt, indem man es auf falsche Weise objektiviert: wie man sich auf sich selbst – das heißt: auf das eigene Gewordensein, die eigene Wahl und das fortgesetzte eigene Werden – wissend bezieht, ohne sich dadurch zu einem bloßen Produkt oder Faktum herabzusetzen. Dies kann weder durch ein praktisches Wissen der Selbstoptimierung geschehen, durch das man sich selbst zum Gegenstand des Urteils und zum Produkt souveräner Setzung macht, noch durch ein bloß kontemplatives Wissen der Selbstakzeptanz, durch das wir uns zu unserem Selbst wie zu einer unabänderlichen Vergangenheit verhalten.45 Es geht um ein Selbstverhältnis, das uns überhaupt erst in die Position versetzt, wirklich zu handeln. Die Serie Breaking Bad versucht zu ermessen, wie schwer es ist, diesen Punkt zu erreichen und zu bewahren, und sie verdeutlicht, dass es im se: You know, I don’t get it. Why would anyone paint a picture of a door, over and over again, like, dozens of times?/[…] Jane: It was the same subject, but it was different every time. The light was different, her mood was different. She saw something new every time she painted it./Jesse: And that’s not psycho to you?/Jane: Well, then why should we do anything more than once? Should I just smoke this one cigarette? Maybe we should only have sex once, if it’s the same thing. […] Or live just one day? Because it’s new every time. Each time is a different experience./[…] Jesse: Okay, so the universe took her to a door. And she got all obsessed with it, and just had to paint it 20 times until it was perfect./Jane: No. I wouldn’t say that. Nothing’s perfect. […]/Jesse: You can’t admit, just for once, that I’m right. Come on. That O’Keeffe lady kept trying over and over until that stupid door was perfect./Jane: No. That door was her home and she loved it. To me, that’s about making that feeling last« (S3E11). 45 | Wieder ist es Jesse, an dem diese Problematik explizit gemacht wird: Das erste, was er in der Drogentherapie lernt, ist, dass er dort nicht zur Selbstverbesserung (self-improvement) ist, sondern um Selbstakzeptanz (self-acceptance) zu lernen. Jesse versteht das zunächst so, dass es darum geht, nicht vor sich selbst wegzurennen und anzuerkennen, wer er ist. Er verteidigt das als Einsicht gegenüber Walt, und gegen Walts Selbsttäuschung hat er hier einen klaren Punkt. Er erkennt aber zugleich schnell die Gefahr, die in dieser Haltung liegt: Wenn Selbstakzeptanz bedeutet, alles hinzunehmen, was man tut, als hätte man es schon getan, wird das eigene Tun bedeutungslos: »Jesse: The thing is, if you just do stuff and nothing happens – what’s it all mean? What’s the point? Oh, right, this whole thing is about self-acceptance. Kicking yourself doesn’t give meaning to anything. So I should stop judging … and accept?/Therapist: It’s a start./ Jesse: So no matter what I do, hooray for me because I’m a great guy? It’s all good? […] No, you know what? Why I’m here in the first place? Is to sell you meth. You’re nothing to me but customers! I made you my bitch. You okay with that? You accept?/Therapist: No./Jesse: About time« (S4E07).
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Grunde unmöglich wird, wenn wir es allein tun müssen: allein mit den Unseren, gegen die Anderen.46
Literatur Aristoteles (1990): Politik, Übers. Eugen Rolfes, Einl. Günther Bien, Hamburg: Meiner. —. (1994): Poetik, Hg. und Übers. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam. Benveniste, Émile (1974): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: List. Blanchot, Maurice (1955): L’Espace littéraire, Paris: Gallimard. Böhnke, Alexander/Hüser, Rembert/Stanitzek, Georg (Hg.) (2006): Das Buch zum Vorspann. The Title Is a Shot, Berlin: Vorwerk 8. Cavell, Stanley (1994): »The Uncanniness of the Ordinary«, in: Ders., In Quest of the Ordinary. Lines of Skepticism and Romanticism, Chicago/London: U of Chicago P, S. 151-178. Deleuze, Gilles (1984): Porzellan und Vulkan, Berlin: Merve. —. (1993): Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fitzgerald, F. Scott (1936): »The Crack-up«, in: Esquire, März/April 1936. https://www.esquire.com/lifestyle/a4310/the-crack-up/. Freud, Sigmund (1940): »Jenseits des Lustprinzips«, in: Gesammelte Werke XIII, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 1-69. Goethe, Johann Wolfgang von (1981): Wilhelm Meisters Lehrjahre, Hg. Erich Trunz, München: Hanser. Heidegger, Martin (1993): Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer. Hoffman-Schwartz, Daniel (2015): »On Breaking Bad/Ozymandias«, in: The Oxford Literary Review 37.1, S. 163-165. Khurana, Thomas (2004): »›… besser, dass etwas geschieht‹. Zum Ereignis bei Derrida«, in: Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch, München: Fink, S. 235-256. Koch, Gertrud (2015): Breaking Bad, Berlin: Diaphanes. Menke, Christoph (2016): »Breaking Bad. Versuch über die Befreiung«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2, S. 3-24. Nietzsche, Friedrich (1999): »Menschliches, Allzumenschliches I und II«, in: Kritische Studienausgabe. Band 2, Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv/de Gruyter. 46 | Die vorstehenden Überlegungen gehen auf einen gemeinsamen Workshop zu Breaking Bad mit Eva Geulen, Christoph Menke und Dirk Setton zurück; ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieses Workshops sowie den Diskutant*innen der Erlanger Tagung »(De)Konstruktion von Zeitlichkeit« für entscheidende Hinweise und Anregungen.
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Schiff, Robin/Gilligan, Vince (2013): »Anatomy of a Script: An Interview,« https://www.youtube.com/watch?v=hx8ETtHxO9o. Setton, Dirk (2016): Die Episode des Bösen. Serielle Subjektivierung in Breaking Bad, unveröffentl. Manuskript.
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Z eit und E wigkeit. E schatologische K onstruk tion von Z eitlichkeit Simon Layer Ewigkeit ist nicht nur die theologische Ermöglichung von Zeit, sie ist auch die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung von Verlaufszeit, denn sie setzt der Geschichte, der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeit, einen teleologischen Rahmen, der zur Erkenntnis von Vergangenem, der Erfahrung von Gegenwärtigem und dem Erwarten von Zukünftigem führt. Kommt die Zeit aus der Ewigkeit, kann sie selbst auch nur auf sie hinweisen und in ihr enden. Die erlebte Richtung der Zeit ist damit linear nach vorne hin ausgerichtet – in der Ewigkeit aber gibt es kein Vorne und Hinten: Der eschatologische Zeitpfeil zeigt zu jedem Zeitpunkt in alle Richtungen und ist damit die Möglichkeit zu immer neuen Wirklichkeiten. Zwischen erlebter Verlaufszeit und der sie ermöglichenden Ewigkeit besteht demnach eine dissonante Beziehung verschiedener Zeiterfahrungen. Dies ist die erste forschungsleitende These des Aufsatzes, die durch eine zweite These ergänzt werden soll: Die Zeit, in der wir momentan leben, ist ebenso auf Vollendung angelegt, wie die Schöpfung es ist. Ihr Anfang liegt in der Ewigkeit, ihr Ziel ist die Ewigkeit, sie selbst ist aber endlich und beschränkt. Sie ist nicht unendlich, sondern es liegt ihr ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung. Damit wird Zeit allerdings instrumentalisierbar. Wenn es nur einen begrenzten Vorrat an Zeit gibt, der zur Verfügung des Einzelnen steht, ergibt sich daraus schnell die Sehnsucht nach maximaler Ausnutzung auch des letzten ›Rests‹ an Zeit. Je schneller Aufgaben und Pflichten erledigt sind, desto mehr Zeit hat man vermeintlich. Der Irrtum ist dabei allerdings offensichtlich: Es gibt kein Mehr oder Weniger an Zeit, da Zeit immer relativ zur Ewigkeit steht. Die Theologie kann und muss diesen inneren Bezug von Zeit und Ewigkeit in ihrer A-Linearität betonen, indem ihre Verkündigung von der Eschatologie nicht nur als von den letzten Dingen redet, sondern die Hoffnung auf das und die Gewissheit vom ewigen Reich Gottes wieder in ihr Zentrum rückt. Dies sind also die zwei forschungsleitenden Thesen, unter denen mein Beitrag steht und deren Auslegung mich im Folgenden beschäftigen wird. Das Ziel dieses Aufsatzes ist, die beiden Thesen ihrem Inhalt nach auszuführen und die Konsequenzen offenzulegen, die sich aus ihnen heraus ergeben. Ohne eine – so oder so unsinnige – Erklärung vorstellen zu wollen, wie Zeit entstand, warum sie so erlebt wird, wie sie es wird, und wie sie sich zu ihrem Ursprung verhält, möchte mein Aufsatz eine Alternative vorlegen, eine andere Idee, wie es sich verhalten könnte und damit eine weitere Stimme in die Diskussion um das Thema Zeit einbringen. Im Rahmen dieses Aufsatzes werde ich zunächst kurz einen Entwurf von Zeitlichkeit darstellen, der meinen Thesen
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widerspricht. Es handelt sich dabei um den Entwurf des Physikers Stephen Hawking, der zwar selbst nicht unumstritten ist, allerdings uns einen Gedanken von vorneherein erleichtert: die Erfahrung der alltäglich erlebten Verlaufszeit, die wir auch als Geschichte wahrnehmen, als irreversibel. Danach werde ich darlegen, inwiefern von theologischer Position aus dieses Denken an seine Grenzen stößt.
Irreversible Zeit Für Hawkings Verständnis von Zeit gibt es nur eine Richtung, nämlich nach vorne. Hawking (2016: 187f.) erklärt dies innerhalb einer Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik anhand der (mindestens) dreifachen Struktur des Zeitpfeils: der thermodynamischen, der psychologischen und der kosmologischen. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik kann u.a. so zusammengefasst werden: Die Entropie kann in einem in sich geschlossenen System niemals abnehmen, sondern nimmt in der Regel zu. Hawkings endliches aber grenzenloses Universum ist ein solches in sich geschlossenes System. Es gibt in ihm nach dem zweiten Hauptsatz zu jedem Zeitpunkt mehr ungeordnete als geordnete Zustände. Hawkings (2016: 190) Aussage zielt dahin, dass selbst beim Schaffen von Ordnung die freigesetzte Wärmeenergie auf der Makroebene des Gesamtuniversums den Zustand der Unordnung um ein Vielfaches vergrößert, verglichen mit der wenigen Ordnung, die in diesem Zusammenhang entstand. Der psychologische Pfeil hängt hier schon mit der Thermodynamik zusammen: In der von uns erlebten Zeit scheint es uns unvorstellbar, dass tatsächlich mehr Ordnung als Unordnung entstehen könnte. Wir können uns zwar vorstellen, wie eine auf dem Boden zerbrochene Tasse sich wieder zusammensetzt und auf den Tisch zurückschwebt, wo sie kurz vor ihrem Sturz noch stand, jedoch hat dies noch keiner erlebt, so Hawking (2016: 189). In einer Welt, in der dies möglich wäre, müssten wir uns, seiner Meinung nach, an die Zukunft erinnern und die Vergangenheit erhoffen; der psychologische Zeitpfeil wäre umgekehrt und würde nicht mehr in die gleiche Richtung zeigen wie der thermodynamische. Es kann in einem Universum, in dem der psychologische und der thermodynamische Zeitpfeil in verschiedene Richtungen zeigen, nicht zur Entwicklung intelligenten Lebens kommen (Hawking 2016: 187). Die Konsequenz, die er daraus zieht, ist der kosmologische Zeitpfeil. Die beobachtete Expansion des Universums mündet in der »Keine-Grenzen-Hypothese« (Hawking 2016: 177ff.) in einem Moment völliger Unordnung, der maximalen Ausdehnung des Universums. Zu diesem Zeitpunkt ist keine Zunahme von Unordnung mehr möglich und ab hier müsste das Universum zu kontrahieren beginnen und der thermodynamische Zeitpfeil abnehmen. Menschen, so Hawking, werden diese Zeit wahrscheinlich
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nicht mehr erleben, da ihre Existenz aufgrund des Fehlens der thermodynamischen Verlaufsrichtung in ihr nicht mehr möglich ist. Zusammenfassend kann für Hawking also festgehalten werden, dass er von einem Universum ausgeht, das von einem relativ geordneten Zustand durch Expansion in immer größere Unordnung kommt und an diesem Punkt die Kontraktion bis zum Kollaps einsetzen muss. Die Richtung dorthin ist unumkehrbar und auch nur so wahrnehmbar. Die Verlaufsrichtung der Zeit ist linear nach vorne gerichtet und irreversibel. Doch will ich nun grundlegender fragen, woher Zeit kommt, welches ihr Ursprung ist und inwiefern wir darüber überhaupt reden können.
Theologische Untersuchung zum Ursprung der Zeit »Alles, was geschieht, ist zeitlich und geschieht in der Zeit. Was also ist die Zeit?«, fragt Moltmann (2016a: 116) in seiner Schöpfungslehre und stellt damit eine elementare Frage, der allerdings noch eine andere Frage vorausgeht: Woher kommt die Erfahrung von Zeit? Laut Kant (1911: 117) ist Zeit reine Anschauung, von der nicht abstrahiert werden kann und darf; wir erfahren die Vergänglichkeit von Dingen, die Endlichkeit der Welt, und über all diesem Entstehen und Vergehen steht, so Kant, die Zeit. Menschen erfahren demnach nicht Zeit, sondern ihre Erfahrungen gründen in der Zeit. Das deckt sich zwar einerseits mit unserer Erfahrung, dass »Zeit […] an Veränderungen des Seins wahrgenommen [wird]« (Moltmann 2016b: 309), allerdings dürfte diese Bestimmung Kants nicht ausreichen, um unser Erleben von Zeit zu bestimmen. »Als reine Anschauung verstanden, ist der Sinn der Zeit nicht die Wahrnehmung der Geschichte«, schreibt Moltmann (2016a: 123) zu Kant, »sondern die Vergegenwärtigung des Vergangenen und des Zukünftigen in der ewigen, stehenden Gegenwart des Verstandes und des Verstehens.« Mit diesem Verständnis von Zeit als Kategorie werden die lebensweltlichen Unterscheidungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überflüssig, da sich die Gegenwart als einziger Zeitmodus als wirklich erweist (Moltmann 2016a: 123). Soll also die Frage nach dem Was und dem Woher der Zeit beantwortbar sein, kann Zeit nicht einfach reine Anschauung sein. Fragt man theologisch nach dem Woher der Zeit, kommt man an zwei Dingen nicht vorbei: Erstens der Schöpfung, zweitens der Eschatologie, i.e. die Lehre von der Neuschöpfung. Dass von der Schöpfung zu reden ist, ist dabei einigermaßen eingängig – die Rede von der Neuschöpfung in der Regel allerdings weniger und dennoch kommt man nicht ohne sie aus. Gleich zwei Mal berichtet die Bibel in Gen 1-3 von der Schöpfung. Gen 1-2,4a erzählt von der Schöpfung in sieben Tagen durch Gott. Der zweite Schöpfungsbericht Gen 2,4b–3 ist die bekannte Geschichte vom Paradies und der Schlange. Warum aber sollte die Bibel zweimal von der Schöpfung erzählen? Link (2012: 45) er-
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klärt, dass »der erste, nach Tagewerken gegliederte Bericht zeitlich strukturiert ist« und damit eine Anfangserzählung bildet, die nicht nach dem konkreten Werden der Dinge fragt, sondern der einen Versuch darstellt, »sich über die Anfänge der Welt und der Menschheit in einem historischen Sinne aufzuklären« (Link 2012: 34). Ganz konkret heißt das, dass der Schöpfungsbericht statt eine Darstellung der genauen Entstehung der Welt, wie sie heute ist, zu liefern, ihr Sein im Sinne eines geschichtlichen Seins, in dem es eine Verlaufszeit in einem bestimmten abgegrenzten Lebensbereich, nämlich der Welt, gibt, offenlegt. Es folgt daraus die Annahme, dass ›Geschichte‹, im heute gängigen Verständnis einer allgemeinen Verlaufsgeschichte vom Anfang bis zum Ende der Welt, ein Begriff ist, der zwar erst im 19. Jahrhundert entstand, allerdings das erlebte Phänomen einer »irreversiblen Zeit« insgesamt als Wirklichkeitsaspekt immer schon zum Sein dazugehörte (Moltmann 1999: 140). Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht Gen 1,1-2,4a macht allerdings in seiner Erzählung noch etwas völlig anderes deutlich. Er beginnt am ersten Tag mit den Worten »Es werde Licht!« und Link (2012: 53) fragt deshalb nicht zu Unrecht, wie das funktionieren könne, da die Gestirne erst am vierten Tag erschaffen werden? Die Erfahrbarkeit von Licht und Finsternis im Wechsel der Gestirne scheint im ersten Vers schon vorweggenommen zu sein. Doch schlägt er eine andere Antwortmöglichkeit vor: Das Licht des ersten Tages ermöglicht den Rhythmus von Tag und Nacht, also Zeitfolge, die die Voraussetzung dafür ist, dass sich das Schöpfungswerk in der Abfolge von sechs Tagen darstellen wird. Der erfahrbare Wechsel von Tag und Nacht (4. Werk) wird damit keineswegs vorweggenommen. Erschaffen wird hier vielmehr das Schema, in dem Zeitordnung und -messung möglich, in dem die Verlaufszeit der Welt wirklich sein kann. (Link 2012: 53)
Es geht folglich um zwei verschiedene Ebenen von Zeit und Zeitlichkeit, die hier zunächst einmal etwas grob nebeneinander stehen, nämlich einerseits die Ebene dessen, das die erfahrene Verlaufszeit bedingt, und andererseits die Ebene der Verlaufszeit selbst. Link (2012: 53f.) fährt fort: »Die erfahrbare Zeit der Phänomene, so lautet das nachdenkenswerte Ergebnis, wird bedingt und umschlossen von einer anderen Gestalt der Zeit, in der Gott selber seiner Schöpfung vorausgeht: Sie liegt, metaphorisch geredet, im ›Morgenglanz der Ewigkeit‹, öffnet sich der von vorn her auf sie zukommenden Zeit.« In welchem Sinne ist das zu verstehen? Geht es Link etwa um ein Verständnis der Zeit, in dem die Zeit linear von Gott her durch die Zukunft zur Gegenwart und dann in die Vergangenheit fließt? Ich schiebe die Beantwortung dieser Frage auf und möchte zunächst einmal noch auf den zweiten Schöpfungsbericht, die Paradieserzählung in Gen 2,4b–3, zu sprechen kommen.
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Im zweiten Schöpfungsbericht, so Link (2012: 45), »ist […] alles auf den Raum abgestellt«. Wo der Schöpfungsbericht Gen 1f. das Schöpfungswerk tageweise strukturiert, zielt Gen 2f. auf eine andere Erlebnisebene ab, nämlich die Ebene des Raumes. »Es ist der Raum des Kulturlands im Gegensatz zur Wüste (V.5f.), der Raum der Arbeit (V.15), der Raum der Begegnung mit den Vögeln und Tieren des Feldes (V.20) und schließlich auch der Raum der Verführung und Gefährdung (Gen 3)« (Link 2012: 45). Doch, das ist die Pointe von Gen 3, die auch Link (2012: 45) hervorhebt: »Diesen Garten […] haben wir unwiederbringlich verloren«. Wir sind aus dem Paradies ausgeschlossen worden, leben nun in der Welt, in der es nicht mehr paradiesisch zugeht, sondern in der das Paradies in unerreichbare Ferne gerückt ist. Aber es ist nicht so, dass der Garten Eden selbst zerstört sei, sondern er ist entrückt und der Welt und ihrer Geschichte teleologisch in Aussicht gestellt. So kommt Link (2012: 45) zu der prägnanten und wichtigen Formulierung: »Der Garten […] liegt jetzt nicht mehr hinter uns, sondern vor uns, wird – paradox gesprochen – zur Erinnerung an eine Zukunft, deren Anbruch wir am Ende aller Tage erwarten. Dogmatisch geredet: Aus der Protologie wandert er aus in die Eschatologie«. So bilden die beiden Schöpfungsberichte eine interessante theologische Einheit. Zwischen ihren Aussagen entwickelt sich und steht das, was theologisch unter dem Thema Zeit zu diskutieren ist. Denn sie berichten einerseits vom Grund des Seins und andererseits von der Ungenügsamkeit dieses Seins. Sie spannen den Horizont auf zwischen dem ersten Sein durch die Schöpfung und dessen paradiesischer Vollendung am Ende der Zeit. Von welchem Ende man es nun auch betrachten möchte, man kommt nicht umhin, Zeit daraus folgend unter einen bestimmten Aspekt neu bzw. anders zu denken, nämlich als umschlossen von der Ewigkeit, aus ihr kommend und auf sie zu gehend: »Gott kann der Welt Zeit gewähren, indem er sie ›ins Leben ruft‹ (Schöpfung). Er kann die Zeit der Welt aufheben, indem er sie wieder ›zu sich ruft‹ (Eschaton)« (Link 2012: 268).
Ewige Dauer oder nunc stans aeternum? Was aber heißt Umschlossenheit von der Ewigkeit? Link (2012: 266) schreibt: »Die Dimension, in der die geschaffene Welt sich entfaltet und lebt, ist die Zeit, die wir als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfahren. […] Die Dimension Gottes ist die Ewigkeit.« In der Ewigkeit Gottes gibt es keinen Anfang und kein Ende (Link 2012: 266; Moltmann 2016b: 311), sondern sie ist. Ewigkeit, so fährt Link (2012: 267) fort, »ist offensichtlich kein Modus unserer Kalenderzeit, sondern eine von ihr unterschiedene eigene Zeitgestalt«. Damit macht er einen sehr wichtigen Punkt deutlich. Die christliche Theologie hat oft mit dem Modell der ewigen Gegenwart gearbeitet und dabei die statische Gleichheit der Ewigkeit hervorgestellt. Noch Moltmann (2016b: 310f.) beschreibt die
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Ewigkeit zwar als »aionische Zeit« und spricht damit nicht mehr von Ewigkeit im metaphysischen, sondern von einer anderen, äonischen, Form der Zeit, kommt allerdings zu dem Schluss, dass »[d]ie der einen, unendlichen Ewigkeit entsprechende Zeitfigur […] der endlose Zeitkreis« sei, da diese Figur »die reversible, symmetrische, endlose und darin zeitlose Form der Zeit« darstelle. Darin möchte ich ihm allerdings widersprechen. Die Figur des ewigen Kreislaufs bedeutet Invarianz, womit man sich große Probleme verschafft, denn es würde die ewige Vorherbestimmtheit alles Geschehens bedeuten, wenn die variable Verlaufszeit der Schöpfung der invariablen Ewigkeit Gottes gegenüberstünde. Mehr noch müsste die Frage aufkommen, wie in der invariablen Ewigkeit nicht von Ewigkeit her die endliche Schöpfungszeit schon vorhanden sein müsste und damit selbst nicht mehr endlich wäre. Bei Moltmann (2016b: 320) kommen diese Fragen sehr deutlich auf, da er ausführt, dass es nur einen Zeitmodus in der Ewigkeit geben könne, nämlich den der Gegenwart. Dies würde sämtliche Erzählungen vom Umdenken Gottes sinnlos werden lassen, denn ihr theologischer Gehalt wäre verloren – ich denke beispielsweise an den Noahbund Gen 8f., wenn Gott sein Handeln in der Sintflut gereut und sich nun entschließt, nie wieder die Erde zu verfluchen (Gen 8,21f.); oder die mehrmalige Schonung Sodoms und Gomorras durch Lots Verhandlungen mit Gott (Gen 19,1-29). Biblisch kann also die Rede vom ewigen Augenblick oder der zeitlosen Ewigkeit Gottes nicht ausreichend sein. »Gottes Zeit ist Zeit vor jeder Gegenwart« (Link 1997: 95). Für Link (2012: 268) ist deutlich, dass »der Unterschied jener beiden Zeitgestalten nicht darin [liegt], dass die Ewigkeit zeitlos wäre, ein ›nunc stans aeternum‹, das den Fluss der Zeiten negiert.« Ein ewiges Gleiches kann es nicht geben. Er formuliert dies aufgrund der Annahme, die Moltmanns Theologie der Hoffnung zugrunde liegt, dass Gottes Sein ein Sein im Kommen ist (Link 1997: 293f.). Damit setzt er voraus, dass Zeit und Ewigkeit nicht zwei völlig verschiedene Bereiche sind, sondern sich berühren und zwar in dem Punkt, in dem der schaffende, ewige Gott als Schöpfer und Zukunft seiner Schöpfung auf diese selbst zukommt und damit auch schon in ihr irgendwie präsent ist. In diesem Verständnis ist »Ewigkeit nicht als unendliche, leere Dauer, sondern als Zeit« (Link 1997: 103) zu denken und damit also nicht als bloße Ewigkeit, sondern als ewige Zeit und als ewige Zeit als ewige Dauer, aber nicht statische Gleichheit (Link 2012: 268). Vielmehr, so plädiert er, müssen wir die Rede vom nunc stans aeternum ablösen durch die neutestamentliche Rede von der »Fülle der Zeit« (Link 1997: 103), in der die »die Ewigkeit als Quell- bzw. Zielort der Zeit« (Link 2012: 268) verstanden werden kann. Diese Rede ermöglicht es uns einerseits, davon zu sprechen, dass in der Ewigkeit »die unaufhebbare Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinfällig« (Link 1997: 103) wird, also eine deutliche Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit besteht. Andererseits wird auch keine trennende Dichotomie aufgebaut, in der Ewigkeit völlig
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separat stünde, sondern »sie [darf] andeutend als der mit uns mitwandernde Horizont unserer befristeten Zeit beschrieben« (Link 2012: 269) werden. Denn Ewigkeit bedingt eine Zielgerichtetheit der Schöpfung: Die Schöpfung, deren Zeit in der Ewigkeit begründet liegt und auch gänzlich von ihr umschlossen ist, kann nicht zu einem Ende außerhalb der Ewigkeit kommen – sie kann, theologisch gesprochen, dann nur auf ihre Vollendung in der Ewigkeit angelegt sein. Damit ist der Wirklichkeit eine Teleologie inhärent, die gleichsam aber schon in ihrem Anfang besteht. Anfang und Vollendung, Schöpfung und Eschaton haben beide ihren Ort in Gott und seiner Ewigkeit und nicht außerhalb seiner. Dessen Ewigkeit kann darum selber aber auch eben nicht, wie ich versucht habe darzulegen, ewige und statische Gleichheit sein. Es läuft darauf hinaus, dass Gott der Schöpfung Zeit gewährt und sie wieder aufhebt; die Ewigkeit Gottes ist damit »Quell- und Zielort der Zeit« (Link 2012: 268). Anfang und Ende sind der gleiche Ort und bilden damit den Horizont der Zeit. Link (2012: 268) führt weiter aus: »Wenn die Ewigkeit […] als Horizont mit uns mitwandert […], dann ist die Schöpfung nicht weiter von uns entfernt als die eigene Geburt und das Eschaton nicht weiter als der eigene Tod«. Ganz konsequent müsste noch weitergedacht werden, dass sogar jeder Moment gelebten Lebens gleichzeitig ein Moment ist, der Schöpfung und Eschaton, Proto- und Eschatologie in sich trägt, ohne dabei wieder in die Falle zu laufen, dass Ewigkeit ewige Gegenwart, ewiges Jetzt, unendlicher Augenblick wäre. Link (2012: 267) fasst es wie folgt: »Horizont, bleibendes Kennzeichen der geschaffenen Welt, ist Gottes Ewigkeit gerade deshalb, weil wir sie nicht abstreifen und loswerden können wie eine der aus unserer naturgeschichtlichen Vergangenheit uns anhaftenden Epochen«. Allerdings – dies darf die Theologie hier nie vergessen – sind Anfang und Ende eben nicht derselbe, sondern nur der gleiche Ort. Die Ewigkeit, die Gott am Anfang der Schöpfung ist, ist die gleiche Ewigkeit, die Gott am Ende dieser Schöpfung und dem Anfang der Neuschöpfung ist. Und so wie es die gleiche ist, ist sie grundverschieden. Soweit kann die Rede von Ewigkeit gehen, soweit darf sie aber auch nur gehen. Denn danach begibt sie sich auf das Feld der haltlosen Spekulation. Also ist die Frage nach der Ewigkeit selbst zu verlassen und stattdessen zu fragen, wie überhaupt von Gott als dem Kommenden, der kommenden Ewigkeit, geredet werden kann. »Gewiß, die Bibel berichtet von der ersten bis zur letzten Seite von ›Einbrüchen‹ Gottes in unsere Zeit«, schreibt Link (1997: 97) und bezieht sich damit nicht nur auf prophetische Texte, sondern auch und vor allem ist aus christlicher Perspektive hier das Christusgeschehen zu nennen. Denn gerade in diesem Geschehen liegt die Veränderung, die in der Ewigkeit stattfindet, begründet: »Daß Gottes Ewigkeit sich in der Geschichte Jesu von Nazareth für die Zeit öffnet und dieser ihr Siegel aufdrückt, ist ein gut begründeter Folgesatz der Christologie« (Link 1997: 116). Die Inkarnation Gottes in den Menschen Jesus Christus ist der Berührungspunkt von Ewigkeit und weltlicher Verlaufszeit, in
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der beide füreinander und voneinander her eine neue Bestimmung und eine Veränderung erhalten müssen. Das Berührt-Sein der Verlaufszeit von der Ewigkeit transzendiert erstere nicht sofort. Das Christusgeschehen ist ein Geschehen in der von uns erlebten Zeit, in der Geschichte der Welt und gleichzeitig ist es ein Geschehen, das die erlebte Zeit nachhaltig verändert. Wieso? Das Christentum bekennt, dass in Jesus Christus nicht nur ein Mensch göttliche Fähigkeiten erlangte, von Gott adoptiert wurde oder gar Gott in einem scheinbaren Leib Mensch wurde, sondern das Christentum bekennt, dass in Jesus Christus wahrer Gott wahrer Mensch wurde, ohne damit sein Gott-sein aufzugeben und gleichzeitig auch ohne diesen Menschen zu einem unsterblichen, halb-göttlichen Wesen zu erheben. So heißt das nichts anderes, als dass in Jesus Christus die Ewigkeit Einzug hielt in der Zeit. Aber, und das muss die christliche Theologie dabei immer betonen, dies ist »kein vergangenes Geschehen«, keine Geschichte, die einmal war und jetzt nicht mehr ist, sondern »die Erscheinung der Fülle der Zeit [sprengt] die Abgeschlossenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (Schoberth 1994: 139). Jesus Christus, der am Kreuz gestorbene und von Gott wieder auferweckte wahre Mensch und wahre Gott, ist eben auch Teil dieser unserer Zeit. Barth (2006: 151f.) sagt von dieser Zeit, dass sie »Zeit im Lichte der Zeit Gottes, der Ewigkeit« sei und redet davon, dass in Jesus Christus die Zeitlosigkeit in Gestalt von Vergänglichkeit, Tod, Nichts, überwunden ist, dass also sogar der auferstandene und in den Himmel aufgefahrene Christus noch Zeit habe, nämlich »die Fülle der Zeit […]«. Diese Fülle der Zeit ist, so müssen wir mit Schoberth (1994: 140) notwendig aussagen, »weder der Inbegriff der Geschichte noch die Vorwegereignung ihres Endes«, was schon alleine daran ersichtlich ist, »daß die Weltgeschichte post Christum keineswegs als Zeit des Heils erfahren werden kann« (Schoberth 1994: 137). Vielmehr, so können wir theologisch sagen, geht es hier um eine Neubestimmung der Zeit, insofern ihr die Zukunft von Gen 2,4bff. vorangestellt wird, auf die hin sich die Verlaufszeit nun zubewegt, weil diese Zukunft zu ihr kommt. Denn »die göttliche Erscheinung Gottes als Gott [in der Offenbarung und Verheißung in Jesus Christus, SL] übersteigt die Möglichkeiten der Welt und ist darum nur denkbar, wenn die in ihrer uneingeschränkten Fülle erst kommende Zeit den Bann der Weltzeit bricht« (Link 1997: 118). Dies kann für uns nichts anderes heißen, als dass in der Verlaufszeit durch die Ewigkeit die Grenzen ersterer erkennbar werden und ihr Ursprung in der Ewigkeit erkennbar ist. Für diese Grenze spricht das Christentum stellvertretend und bildhaft vom Reich Gottes, denn konkret propositionales Wissen kann es von diesem Bereich nicht geben.
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Schluss Nach diesen Gedanken will ich versuchen, eine Brücke zum Anfang des Aufsatzes, zu den zwei Thesen zurück zu schlagen und fragen, ob ihr Gehalt seinen Sinn behalten hat, oder ob Anpassungen vorzunehmen sind. Ich hatte begonnen mit einer Betrachtung dessen, was alltägliches Zeitempfinden auf phänomenologischer Ebene auszeichnet, nämlich ihre Unumkehrbarkeit, ihre Irreversibilität. Sei es die zersprungene Tasse oder die versehentlich aus einem Buch herausgerissene Seite – das Dass dieses Geschehens ist nicht mehr zurückzunehmen. Es kann, so hat Hawking erklärt, nur eine Richtung der Zeit geben, nämlich vorwärts. Das, was vergangen ist, können wir dann zwar in Erinnerungen vergegenwärtigen, aber nicht direkt in Präsenz rufen – auch eine Wiederholung eines Experiments bleibt eine Wiederholung und damit etwas Eigenständiges gegenüber dem ursprünglichen Ereignis. Dass es eine messbare Zeit gibt, habe ich versucht, ergänzend und unterstützend mit den Aussagen des ersten Schöpfungsberichts zu zeigen. Dort werden gleich zwei Zeitebenen vorgestellt, nämlich die erste, die der Verlaufszeit vorgeordnete und die Zeit der Schöpfung bedingende, göttliche Zeit; zweitens die geschöpfliche Zeit, die messbare Zeit, die Zeit, in der die Welt sich entwickelt und besteht. Mit dem zweiten Schöpfungsbericht schuf die Bibel gleichsam den äußeren Rahmen dieser geschöpflichen Verlaufszeit, indem sie einerseits von der Schaffung der Zeit spricht, von den Bedingungen für diese Zeit, nämlich dass das ihr zugrunde gelegte Schema die Struktur der Ewigkeit ist; andererseits aber – mit der Vor-stellung des Paradieses und dessen Entrückung vom Anfang zum Ende der Zeit – klar ein Ziel vorgibt, in dem die Zeit aufgehen wird in ihrem Grund, also in der Ewigkeit. Die erste These ging davon aus, dass Ewigkeit nicht nur die theologische Ermöglichung von Zeit ist, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung von Verlaufszeit, da sie der Geschichte einen teleologischen Rahmen setzt, der zur Erkenntnis von Vergangenem, der Erfahrung von Gegenwärtigem und dem Erwarten von Zukünftigem führt. Auf Basis dessen, was bisher von der Bibel her gesagt werden konnte, findet sich hier kein Widerspruch. Und auch die weitere Annahme der ersten These, dass diese erlebte Zeit linear nach vorne hin ausgerichtet ist, wird im Licht der biblischen Zeugnisse nicht falsch, sondern für die Schöpfung selbst geht es auf ein Ziel hin, nämlich zur Vollendung, zum paradiesischen Zustand. Dieser ist uns aber, weil die Zeit dergestalt von der Ewigkeit umschlossen ist, zu jedem Zeitpunkt gleich nah und gleich fern. Auch kann hier zwar gesagt werden, dass die Zeit der Schöpfung im mehrfachen Sinn aufgehoben ist, aber nicht, dass die ewige Zeit Gottes damit enden müsse. In der zweiten These sprach ich von der auf Vollendung hin angelegten Zeit der Schöpfung. Mit der Annahme, dass Ewigkeit nicht absolut und zeitlos
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ist, sondern selbst auch Zeit, nicht leere Dauer, sondern ebenfalls veränderbar ist, rücken Zeit und Ewigkeit in eine bestimmte Parallelität, die vollkommen a-linear ist. Daraus folgt für die erlebte Zeit der Schöpfung, dass sie, sollte die Ewigkeit in sie einbrechen, wie es das Christentum (nicht nur, aber besonders) im Christusgeschehen bekennt, selbst einer Wandlung unterzogen wird, insofern die Bedingungen der Zeit erfahrbar werden. Es wird offenkundig, woher Zeit kommt und wohin Zeit fließt. Das heißt konsequent auch, dass das Christentum immer, wenn es von der Vergangenheit des Christusgeschehens spricht, gleichzeitig von der Gegenwart und Zukunft dieses Ereignisses sprechen muss.
Literatur Barth, Karl (2006): Dogmatik im Grundriß, Zürich: Theologischer Verlag. Hawking, Stephen (2016): Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbeck: Rowohlt. Kant, Immanuel (1911): Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787, in: Ders., Gesammelte Schriften, Hg. Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin: de Gruyter. Link, Christian (1997): »Gott und die Zeit«, in: Ders., Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung. Theologische Studien, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, S. 91-119. —. (2012): Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. Moltmann, Jürgen (1999): »Was ist die Zeit und wie erfahren wir sie?«, in: Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft, S. 140-153. —. (2016a): Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. —. (2016b): Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Schoberth, Wolfgang (1994): »Leere Zeit – Erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott«, in: Jürgen Roloff/Hans G. Ulrich (Hg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs, Festschrift für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, S. 124-141.
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Präsenz und Ritual P r äsenz als W iederholung Christoph Wulf Eine Strategie des Menschen, Präsenz, also räumliche Anwesenheit, zeitliche Gegenwart und psychisch-geistige Aufmerksamkeit herzustellen, ist die Wiederholung. Ohne sie gäbe es kein Leben, keine Gemeinschaft, keine Kultur. Alle Lebens- und kulturellen Prozesse sind Wiederholungen, in denen sich Vergangenes und Gegenwärtiges durchdringen und dadurch Voraussetzungen für Zukunft entstehen (Wulf 2013b). Um in physischer Hinsicht leben zu können, wiederholen wir Atmen, Trinken, Essen, Sex; um das Zusammenleben mit anderen Menschen zu gestalten und ein sinnvolles Leben zu führen, benötigen wir kulturelle, geistige und soziale Fähigkeiten, die wir mithilfe von Wiederholungen erlernen. In Wiederholungen mischt sich Altes, uns Bekanntes, und Neues, uns noch Unbekanntes. Ohne Wiederholungen gibt es keine lebendige Kultur und Gesellschaft. Im emphatischen Sinne ist Präsenz die Fiktion eines Augenblicks, in dem die Zeit stillsteht und die Dynamik der Zeit außer Kraft gesetzt wird. Goethes Diktum in Bezug auf den Augenblick: »Verweile doch! Du bist so schön!« ist Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Präsenz und Dauer und nach der Aufhebung des Zwanges, wiederholen zu müssen. Wir wiederholen stets in der vergeblichen Hoffnung verweilen zu können. Die Zeitlichkeit und die Vergänglichkeit des Lebens lassen uns immer wieder dabei scheitern, den Augenblick festzuhalten und glücklich zu sein. Alles fließt, alles verändert sich. »Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen« (Heraklit). Wegen der konstitutiven Bedeutung der Wiederholung für die Entstehung und Entwicklung von Kultur sollen im Weiteren die folgenden drei anthropologischen Aspekte der Wiederholung untersucht werden: Erstens ist menschliches Leben in biologischer Hinsicht nur durch Wiederholungen möglich. Zweitens entwickelt sich der Mensch zum Menschen nur durch kulturelles Lernen, das sich wesentlich in mimetischen Prozessen vollzieht, für die Wiederholung konstitutiv ist. Drittens spielen rituelle Wiederholungen für die
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Erzeugung und Transformation von Gemeinschaften und die Schaffung des Sozialen eine unhintergehbare Rolle.
Wiederholung und die zyklische Zeit Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Einsicht, dass Leben durch Wiederholung konstituiert wird. Das gilt für das Leben aller Primaten und so auch für die Menschen: wir atmen, trinken, essen, nicht nur einmal, sondern wiederholt und können nur dadurch leben. Diese Tatsache führt zu einer zyklischen Zeiterfahrung; diese machen wir in den jahreszeitlichen Rhythmen der Natur. Auch das Leben der Menschen gliedert sich in verschiedene Phasen: Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod. Diese Lebensphasen wiederholen sich von Generation zu Generation. Der homo sapiens wäre nicht entstanden, hätte es nicht die Wiederholungen menschlichen Lebens in unzähligen Generationen gegeben (Wulf 2013a). In diesen Prozessen gelten die Darwin’schen Gesetze der Evolution, die Gesetze der langsamen und kontinuierlichen Entwicklung, des Entstehens einer großen genetischen Varianz und einer Auslese. Menschliches Leben ist durch Wiederholung mit den Rhythmen der Natur und der Geschichte des Lebens auf der Erde verbunden. Menschliches Leben ist in der Form des homo sapiens das Ergebnis eines langen Evolutionsprozesses, in dessen Verlauf es sich unter Beibehaltung und Veränderung vieler Merkmale entwickelt. Mit der Wiederholung in Form von Generationen wird die zyklische Zeit ein Merkmal der Entstehung menschlichen Lebens, phylogenetisch und ontogenetisch (Kamper/Wulf 1987). Lange wurde die Entstehung des menschlichen Primaten als Ergebnis eines linearen Zeitprozesses begriffen, der einen Anfang hat und dessen Höhepunkt die Existenz des homo sapiens darstellt. Durch diese Sichtweise geriet der zyklische Charakter der Zeit aus dem Blick. Unter dem Einfluss der monotheistischen Religionen und dem Selbstverständnis einer säkularisierten Kultur wurde das lineare Verständnis gegenüber dem zyklischen Verständnis der Zeit überbewertet. Die lineare Zeitauffassung hat in Form der Chronokraktie andere Formen des Zeitverständnisses wie den Kairos, den fruchtbaren Moment, oder die zyklische Zeit und damit die anthropologische Bedeutung der Wiederholung aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängt (Wulf 1987). Wiederholung, so meine These, impliziert ein zyklisches Verständnis der Zeit, dessen anthropologische Bedeutung es wiederzuentdecken gilt.
Die Notwendigkeit kulturellen Lernens Da der Mensch ein homo educabilis und homo educandus ist, bedarf es bei seiner Erziehung zur Überlebensfähigkeit der Wiederholung. Um zu überleben und sich als Mensch zu entwickeln, ist Erziehung notwendig (Wulf/Zirfas 2014).
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Durch Erziehung bringen sich Menschen als Menschen hervor; sie erschaffen sich selbst kulturell und sozial. Gelingt dieser Prozess nicht, verkümmern sie, sind nicht lebensfähig und sterben. Die Hervorbringung des Menschen erfolgt durch kulturelles Lernen. Wie in der Geschichte des Lebens und der Hominisation spielt die Wiederholung beim kulturellen Lernen eine konstitutive Rolle. Im Unterschied zum Tier, das weitgehend durch seine Instinkte bestimmt ist, haben Menschen nur Instinktresiduen und sind daher durch eine gestaltbare Plastizität gekennzeichnet. Im Unterschied zu den durch ihre Instinkte an eine spezifische Umwelt gebundenen Tieren, können Menschen daher ein Objekt-bzw. Gegenstandsbewusstsein entwickeln (Wulf 2009). Deshalb haben sie nicht nur eine durch ihre Instinkte bestimmte Umwelt, sondern sie haben Welt. Um dies zu ermöglichen, bedarf es kulturelles, durch Wiederholung charakterisiertes Lernen. An zwei Beispielen will ich dies verdeutlichen: einmal am Beispiel mimetischer Prozesse, in deren Verlauf Kultur von einer Generation an die nächste weitergegeben und modifiziert wird, zum anderen am Beispiel von Ritualen, für deren Funktion die Wiederholung ebenfalls eine konstitutive Rolle spielt.
Menschliche Entwicklung durch mimetische Prozesse Mimetische Prozesse lassen sich als Prozesse der Wiederholung begreifen, die für die phylogenetische und die ontogenetische Menschwerdung von zentraler Bedeutung sind. Schon Aristoteles (1984) betont: Der Mensch ist das am stärksten mimetisch befähigte Lebewesen und hat außerdem noch an mimetischen Prozessen Freude. Dieser Erkenntnis geht Platons Einsicht in der Politeia voraus, dass Erziehung, Paideia und Mimesis Synonyme sind. Erziehung und Bildung vollzieht sich vorwiegend in mimetischen Prozessen. In diesen wiederholen Kinder z.B. die Handlungen von Erwachsenen und eignen sich dadurch deren Handlungsfähigkeit an. Platon und Aristoteles sind von der unwiderstehlichen Macht mimetischen Verhaltens überzeugt. Für Platon folgt daraus die Notwendigkeit aus dem Staat auszugrenzen, was junge Menschen gefährden könnte, also große Teile der Literatur, in der sich Menschen nicht in Übereinstimmung mit den moralischen Normen der Politeia verhalten. Für Aristoteles folgt aus der Einsicht in die Unwiderstehlichkeit mimetischer Prozesse die Notwendigkeit, auch zu versuchen, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich den mimetischen Zwängen zu widersetzen (Gebauer/Wulf 1998a). René Girard (1988, 1994) sah die Grundlage der Wiederholung in mimetischen Prozessen im Begehren, anderen ähnlich zu werden, und hat damit sicherlich eine zentrale Dimension mimetischer Prozesse gesehen. Kinder wollen so werden wie ihre älteren Geschwister und Eltern, die ihrerseits Freude daran haben, wenn sich ihre jüngeren Geschwister bzw. Kinder mimetisch auf sie beziehen und so werden wollen wie sie. Mimetische Prozesse verbinden
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die Angehörigen unterschiedlicher Generationen. In ihrem Zentrum steht dabei die Wiederholung. Sie ist kein einfacher Kopierprozess, wie er durch einen Kopierapparat vollzogen wird, der beliebig viele identische Kopien erzeugt. Im Unterschied dazu ist der mimetische Prozess ein konstruktiver Prozess. In ihm führt die wiederholende Nachahmung einer Handlung bei jedem sich mimetisch verhaltenden Individuum zu unterschiedlichen Ergebnissen. Jeder Einzelne vollzieht seine mimetische Handlung auf der Grundlage seiner individuellen Konstitution und damit anders als andere Menschen. Im Sozialen ist die Herstellung einer Kopie, wie sie ein Fotokopierapparat macht, nicht möglich. Jede Wiederholung ist ein einmaliger Prozess, der zu unterschiedlichen Ergebnissen führt (Gebauer/Wulf 1998b). Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel einer Unterschrift. Wie uns Graphologen versichern, unterscheidet sich jede Unterschrift von einer vorhergehenden oder nachfolgenden Unterschrift. Den Fälscher kann erkennt man daran, dass er die Unterschrift nicht variiert. Wiederholungen sind neue und einmalige Handlungen unter Zugrundelegung eines in einem mimetischen Prozess angeeigneten Musters. Verdeutlichen wir uns dies am Erlernen des aufrechten Ganges durch kleine Kinder. Der aufrechte Gang spielt in der Phylogenese und in der Ontogenese eine wichtige Rolle. Mit seiner Hilfe kommt es zur Freisetzung der Hände und ihrer Entwicklung als Mittel zur Arbeit und zur Erzeugung von Kultur und Gemeinschaft. Auch die Artikulationsfähigkeit des Sprechens, die Entwicklung der Sinne und vieles mehr sind an die Herausbildung des aufrechten Ganges gebunden. Aus Berichten von Missionaren in Indien wissen wir z.B., dass Kinder, die nicht mit Menschen, sondern in der Gemeinschaft mit Tieren aufwuchsen, den aufrechten Gang nicht erlernen. Sie haben keine Möglichkeit einer mimetischen Bezugnahme auf aufrecht gehende Menschen, die sie zur Wiederholung herausfordert. Vergegenwärtigen wir uns die hartnäckigen Anstrengungen kleiner Kinder aufrecht gehen zu lernen: Unzählige Male wiederholen sie ihre Bemühungen, sich wie ihre älteren Geschwister und Eltern aufzurichten, bis dies ihnen gelingt und sie damit zur Gemeinschaft gehören. Auch hier gilt: zwar lernen Kinder den aufrechten Gang in Bezugnahme auf ältere Geschwister und Erwachsene. Bei genauer Beobachtung lernt jedoch jedes Kind ihn in seiner eigenen Weise. Jeder Mensch entwickelt seinen ›eigenen‹ aufrechten Gang, an dem er schon aus der Entfernung erkennbar ist. Aus Bewegungsstudien ist zudem bekannt, dass trotz eines gleichbleibenden Grundmusters das Wie jedes Gehens nach Stimmung und Befindlichkeit des Menschen unterschiedlich ist. Wittgenstein hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir Sprechen in Sprach- und Handlungsspielen lernen, in denen wir als Kinder im mimetischen Bezug die Verschränkung von Handeln und Sprache erfahren, die wir kontinuierlich in Wiederholungen inkorporieren. Als Kinder sehen wir unsere Eltern handeln und sprechen. In der mimetischen Bezugnahme darauf in-
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korporieren wir diese Prozesse und machen sie mithilfe von Wiederholungen verfügbar. Diese durch die Verschränkung von Handeln und Sprache charakterisierten kulturellen Prozesse sind multimodal; sie vollziehen sich in unterschiedlichen Formen und auf unterschiedlichen Ebenen. In ihnen werden Gefühle transportiert und drücken sich Nähe und Distanz zwischen Kindern und Eltern aus, ohne dass dies den Beteiligten bewusst ist. Wie Handeln, Sprechen und Gefühle miteinander verwoben sind, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. In diesem lernt ein kleines Kind mühselig mit dem Löffel einen Brei zu essen und wird bei diesen Bemühungen von seinen Eltern gelobt. Bei dem Erlernen der Esstechnik wird Sprache vermittelt; zugleich drückt sich in den anerkennenden Worten die Zuneigung der Eltern aus. Die Wiederholung dieser oder ähnlicher multimodaler Situationen vermittelt dem Kind die Wertschätzung der Eltern und ihre elterliche Liebe. Diese durch zahlreiche ethnographische Untersuchungen bestätigten Erkenntnisse über die Bedeutung der Wiederholung für die soziale und emotionale Entwicklung des Menschen werden seit einiger Zeit auch durch Forschungen in den Neurowissenschaften und in der evolutionären Anthropologie bestätigt. Neurowissenschaftliche Forschungen bestätigen die Bedeutung mimetischer Wiederholungen z.B. für das Verständnis sozialen Handelns. Im Gehirn eines Menschen, der eine Handlung wie das Geschlagen-Werden eines Menschen durch einen anderen Menschen sieht, wiederholen sich in abgeschwächter Form die gleichen Prozesse, die sich im Gehirn des schlagenden Menschen vollziehen (Rizzolati/Sinigaglia 2008). Hier wird ein Spiegelneuronen-System angenommen, das die physiologische Voraussetzung dafür bildet, dass wir das Schlagen eines Menschen wahrnehmen. Dass wir jedoch seine Wirkungen auf der Grundlage der physiologischen Prozesse auch verstehen können, lässt sich neurologisch nur begrenzt erklären. Hier ist die soziale und kulturelle Dimension des Geschlagen-Werdens und ihrer Auswirkungen auf den Geschlagenen für ein angemessenes Verständnis des Geschehens von zentraler Bedeutung. Forschungen in der evolutionären Anthropologie haben ebenfalls gezeigt, dass bereits Kleinkinder den Sinn von Handlungen erkennen können und diesen zur Grundlage einer Wiederholung machen. Nicht menschliche Primaten sind nicht in der Lage wie Kinder bereits mit acht Monaten den Sinn einer Handlung zu erkennen und zu reagieren. Dies lässt sich am Beispiel von Gesten verdeutlichen, die für nicht menschliche Primaten, wenn sie nicht an Nahrung oder Fortpflanzung gebunden sind, weitgehend sinnlos bleiben, deren Bedeutung hingegen bereits von sehr kleinen Kindern erfasst werden kann, die sie zu Reaktionen in Form von Wiederholungen befähigt (Tomasello 2002, 2008).
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Wiederholung im Ritual Ging es eben darum zu zeigen, welche Bedeutung Wiederholungen in mimetischen Prozessen für das kulturelle Lernen einzelner Menschen haben, so wird nun am Beispiel von Ritualen verdeutlicht, dass die Wiederholung für das Entstehen praktischen Wissens und für die Entwicklung von Gemeinschaften eine konstitutive Rolle spielt (Wulf 2006; Kraus et al. 2017). Gäbe es keine Wiederholungen, gäbe es keine soziale Ordnung und Gesellschaft. Die Kohärenz menschlicher Gemeinschaften und das Zusammengehörigkeitsgefühl erfordern Wiederholungen. Die wichtigste Form der Wiederholung ist das Ritual (Wulf et al. 2001, 2004, 2007, 2011a). Im Ritual hat die Wiederholung nicht nur eine zeitliche Dimension, sondern häufig auch eine räumliche Dimension. Viele Rituale finden im gleichen Raum statt und tragen dazu bei, den Charakter dieses Raums zu verändern. So machen liturgische Rituale eine Kirche erst zu einem sakralen Raum. Auch Zeremonien und Feste sind häufig an einen Raum gebunden, der erst durch die rituelle Wiederholung zu einem besonderen Raum wird. Der Besuch eines fremden Staatsoberhauptes in einem Regierungspalast eines Landes, der für den Empfang hergerichtet wird, ist dafür ein Beispiel. Feste wie der Karneval verändern durch rituelle Wiederholungen ebenfalls die urbanen Räume in Rio, Oruro und Köln. Mithilfe ritueller Umzüge wird Rio de Janeiro zu einer Karnevalstadt, in der die Bürger den urbanen Raum entsprechend inszenieren und aufführen (Wulf 2016). Familienrituale verwandeln ebenfalls alltägliche Räume wie Wohnzimmer in Festzimmer. Dies geschieht zum Beispiel zu Weihnachten, wenn das Wohnzimmer geschmückt und mithilfe des Weihnachtsbaums, des Geruchs von Gebäck und des Gesangs von Weihnachtsliedern zu einem festlichen Weihnachtsraum wird. Diese Umgestaltung des Raums erfolgt in jedem Jahr. In den meisten Familien geschieht dies durch die Inszenierung entsprechender Rituale, deren Inszenierung gleich, deren Aufführung bei jeder Wiederholung unterschiedlich ist. In einer ethnografischen Untersuchung dreier deutscher und dreier japanischer Familien haben wir zeigen können, wie die Familienmitglieder in beiden Ländern mithilfe der Wiederholung des Weihnachts- bzw. Neujahrsrituals familiäre Zufriedenheit und Glück schaffen (Wulf et al. 2011b). In einer der deutschen Familien spielt die jährliche Wiederholung der Verlesung der Weihnachtsgeschichte im Berliner Dialekt eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe wird jedes Mal ein Beitrag zum spezifischen Charakter des familiären Weihnachtsrituals geliefert, dessen Wiederholung zur Entstehung des familiären Wohlbefindens und Glücks beiträgt. Alle Familienangehörigen erinnern sich an frühere Verlesungen und erwarten in diesem Jahr ähnliche Gefühle der Verbundenheit und der Vertrautheit, deren ›Fließen‹ Wohlbefinden und Zusammengehörigkeitsgefühle schaffen. Zwar kann sich der Zeitpunkt
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der Verlesung am Nachmittag des Weihnachtsfests ändern. Doch darf die Veränderung der Wiederholung nicht so groß sein, dass eine neue Situation entsteht. Das rituelle Arrangement muss vertraut bleiben, damit sich die bekannten und geschätzten Emotionen einstellen. Eine spontane Veränderungserwägung, die Geschichte nicht vom Vater, sondern von der Mutter vorlesen zu lassen, wurde von allen Familienmitgliedern abgelehnt. Alle wollten die Wiederholung der Situation der letzten Jahre (Wulf et al. 2011b). Bei der rituellen Wiederholung spielen mehrere Faktoren eine wichtige Rolle. Zu diesen gehören u.a. die Zeit, der Raum, der performative Charakter und die Kollektivität der Handlung. Die Bedeutung, die einer rituellen Wiederholung zugeschrieben wird, kann unterschiedlich sein. Mit der Performativität der rituellen Wiederholung kommt der Körper ins Spiel. Dadurch entstehen körperlich-sinnliche Erfahrungen. Ihre Performativität kann durchaus unterschiedlich interpretiert werden. Selbst wenn sie unterschiedlich interpretiert wird, kann die Performativität einer rituellen Wiederholung zur Integration einer Gemeinschaft beitragen. Dazu ein Beispiel: ein sechsjähriges Mädchen ist begeistert vom Weihnachtsbaum und der weihnachtlichen Atmosphäre; ihr 17-jähriger Bruder hingegen findet die familiäre Inszenierung beklemmend und im Widerspruch zu seinem Unabhängigkeitsbedürfnis. Wenn beide jedoch an dem rituellen Arrangement teilnehmen, hat dieses Wirkungen und kann trotz unterschiedlicher Empfindungen und Interpretationen Gefühle der Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit schaffen; hierin liegt die Bedeutung der Performativität ritueller Wiederholungen (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Wulf/Zirfas 2007). In der rituellen Wiederholung spielen mimetische Prozesse eine wichtige Rolle. Einmal richten sie sich auf früher bereits erfolgte rituelle Handlungen, deren jeweilige neue Aufführung das Ergebnis einer kreativen mimetischen Bezugnahme ist, in der nicht Gleichheit, sondern Ähnlichkeit hervorgebracht wird. Hierbei handelt es sich um die auf die Vergangenheit ausgerichtete diachrone Dimension. Neben dieser ist auch die synchrone mimetische Dimension in der rituellen Wiederholung wichtig. In dieser beziehen sich die Teilnehmer in ihrem rituellen Handeln. Diese mimetische Bezugnahme aufeinander ist erforderlich, damit die Aufführung des rituellen Arrangements in funktionaler und ästhetischer Hinsicht gelingt. Mithilfe diachroner und synchroner mimetischer Bezugnahmen wird die rituelle Wiederholung in den Körper der Ritualteilnehmer eingeschrieben. In diesem Prozess werden die dabei erzeugten Bilder, Schemata und Bedeutungen Teil des Imaginären der Ritualteilnehmer (Wulf 2014). Zugleich werden die rituellen Bewegungen von den Ritualteilnehmern inkorporiert. Dadurch entsteht ein praktisches Wissen. Praktisches Wissen ist tacit knowledge und als solches schwer zu erforschen. Es ist das Ergebnis von Wiederholungen, mit deren Hilfe es in mimetischen Prozessen entsteht. Es ist eine bestimmte
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Form des Wissens, die Gilbert Ryle im Unterschied zu knowing that als knowing how bezeichnet hat (Kraus et al. 2017). Mit dieser Unterscheidung wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es unterschiedliche Formen des Wissens gibt, von denen sich die mit einem knowing how bezeichneten Praxisvollzüge nur schwer erforschen lassen (Ryle 1971). Bei diesen Praktiken steht nicht der Gewinn eines sprachlich ausdrückbaren faktischen Wissens im Zentrum. Vielmehr bezeichnet knowing how ein Können, das zum Handeln befähigt. Ein Beispiel für diesen Bereich sind Rituale, in denen es ja nicht um Darlegungen, Begründungen und Erklärungen geht, sondern die inszeniert und aufgeführt werden. Das hierfür erforderliche Wissen ist ein performatives Praxis- und Handlungswissen. Dieses unterscheidet sich von dem Wissen, das zur Beschreibung, Interpretation und Analyse von Ritualen notwendig ist. Knowing how ist also ein praktisches Wissen – ein inkorporiertes Können, das in seiner Performanz sichtbar wird. Andere Beispiele für dieses Wissen, das sich als Können zum Ausdruck bringt, sind Spiele und Praktiken des Sports (z.B. des Fußballspiels), des Tanzes, der Musik, des Malens, des Theaters oder der Performance. Auch für die Praktiken des Alltags wie Autofahren, Kochen, Handyoder Navi-Nutzung ist ›Können‹ als eine zentrale Form des Wissens erforderlich. In diesen Fällen wird eine Praktik, etwa des Autofahrens, nur gelernt, wenn die Erklärung, wie sie zu lernen ist, verstanden wurde. Doch muss man sich beim Vollzug der Praktik diese Erklärung nicht fortwährend vergegenwärtigen. Solange dies erforderlich ist, kann man mit dieser Praktik noch nicht ›gekonnt‹ umgehen. Erst wenn sie inkorporiert ist, verfügt man über die Fähigkeit, sie auszuüben, also z.B. Auto zu fahren. Daraus folgt: Praktisches Können muss als eine wichtige anthropologische Form des Wissens Beachtung finden und möglicherweise gesellschaftlich stärker anerkannt werden. Mithilfe dieser Unterscheidung kann das in rituellen Wiederholungen entstehende praktische Wissen in seiner Bedeutung für soziales und kulturelles Handeln verdeutlicht werden. In der Schaffung dieser Form des Wissens durch Wiederholung liegt die Bedeutung rituellen Handelns für die Verkörperung der Werte, Einstellungen und emotionalen Dispositionen einer Gemeinschaft und die Entwicklung praktischen Wissens.
Ausblick Erfahrungen der Präsenz haben verschiedene Formen der Wiederholung zur Voraussetzung. Erst die biologische Wiederholung ermöglicht menschliches Leben und damit die Existenz des homo sapiens in der Welt. Zu seiner Entwicklung bedarf es kulturellen Lernens in mimetischen, auf Wiederholung angelegten dynamischen Prozessen. Die für Rituale konstitutiven Wiederholungen erzeugen das Soziale und inkorporieren die Werte, Ziele und Strukturen der
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Gesellschaft in ihre Mitglieder und ermöglichen Erfahrungen der Präsenz und des Glücks (Wulf et al. 2011b).
Literatur Aristoteles (1984): Poetik, Hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1998a): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt. —. (1998b): Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek: Rowohlt. Girard, René (1988): Der Sündenbock, Zürich: Benzinger. —. (1994): Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M.: Fischer. Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.) (1987): Die sterbende Zeit, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand. Kraus, Anja, et al. (Hg.) (2017): Handbuch Schweigendes Wissen, Weinheim/ Basel: BeltzJuventa. Platon (1971): »Politeia« Bd. 3, in: Werke in acht Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Rizzolati, Giaccomo/Sinigaglia, Corrado (2008): Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ryle, Gilbert (1971): »Knowing How and Knowing That«, in: Ders., Collected Papers, Bd. 2: Collected Essays 1929-1968, London: Hutchinson, S. 212-225. Scheunpflug, Annette/Wulf, Christoph (Hg.) (2015): Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie 1.15. Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. —. (2008): Origins of Human Communication, Cambridge, MA: MIT Press. Wittgenstein, Ludwig (2003): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wulf, Christoph (1987): »Lebenszeit – Zeit zu Leben? Chronokratie versus Pluralität der Zeiten«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.) (1987): Die sterbende Zeit, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, S. 266-275. —. (2006): »Praxis«, in: Jens Kreinath/Jan A.M. Snoek/Michael Stausberg (Hg.), Theorizing Rituals. Volume 1: Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden: Brill, S. 395-411. —. (2009): Anthropologie. Geschichte – Kultur – Philosophie, Köln: Anaconda. —. (2013a): Anthropology. A Continental Perspective, Chicago, IL: U of Chicago P. —. (2013b): Das Rätsel des Humanen. Eine Einführung in die historische Anthropologie, München: Fink. —. (2014): Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur, Bielefeld: transcript.
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Die sakrale Zeit des Hier und Jet zt
D ie sakr ale Z eit des H ier und J e t z t. D eutung und somatische H erstellung von G egenwärtigkeit in der rezenten deutschen Yogaszene Laura von Ostrowski
Einleitung Die materielle Seite von religiöser Erfahrung wurde in der Geschichte der Religionsforschung seit jeher vernachlässigt; dabei sind ihre körperlich-sinnlichen Ausprägungen zwar ein implizites, aber höchst machtvolles Instrument, Glaubensinhalte zu vermitteln und zu festigen. In Anbetracht der neuen Bedeutung körperzentrierter Religiosität – meist als Spiritualität gesetzt – wird es ein zunehmendes Desiderat, auf diese Seite von Religion zu blicken. In den letzten Jahren mehrten sich religionswissenschaftliche Beiträge, die diesen Forschungsansatz auf verschiedene Weise etablierten (Klinkhammer/Tolksdorf 2015, Grieser 2015, Koch 2017). So vertreten Klinkhammer und Tolksdorf (2015: 8) die »These einer post-säkularen somatischen Verwobenheit von Religion und Heilung, in der davon ausgegangen wird, dass sich Religion, Gesundheit und Körper jenseits ihrer modernen Ausdifferenzierung miteinander verschränken und (neu) verbinden und dass dies Religion auch in ihrer inneren Organisation wie in ihrem Selbstverständnis grundlegend verändert«. Diese Verflechtung von Religion, Gesundheit und Körper muss um die häufig damit in Verbindung stehende Suche nach individuellen, intensiven psychophysischen Erfahrungen erweitert werden. Es ist ausschlaggebend für dieses neuartige Selbstverständnis von Religion, dass sich – fern der christlichen Institution – neue religiöse Glaubenssätze mit einem meist positiven, heilsamen körperlichen Erleben verbinden, oder sich andersherum Glaubensinhalte durch diese somatischen Erfahrungen intensivieren lassen oder sogar herausbilden. In jedem Fall lässt sich unverändert eine Verschiebung des Religiösen in andere gesellschaftliche Teilbereiche beobachten, wobei sich klare Grenzen des religiösen Feldes schon lange aufgelöst haben (Bourdieu 1992: 234). Dieser Prozess und die damit verbundene Anpassung von Religiosität an die zeitgenössische, pluralisierte Gesellschaft zeigen sich auch in meinen Forschungsergebnissen. Ich werde darstellen, wie in technisch und wirtschaftlich hochentwickelten Ländern medizinische Begründungen für solche als spirituell interpretierten Erfahrungen an Wichtigkeit gewinnen. Dabei wird wiederum auch die Definition von Spiritualität technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst und mit körperlich erlebbaren Erfahrungen unterlegt. Der in diesem Beitrag zum Tragen kommende religionsästhetische Ansatz fragt nicht nur nach den Diskursivierungen von religiösem Erleben, sondern auch nach den somatischen Grundlagen auf denen auf bauend sich religiöse
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Wirklichkeit manifestiert. Zu diesem Zweck werden religiös gedeutete Praktiken genau beschrieben und soweit möglich in ihrer neurophysiologischen und -psychologischen Wirkungsweise dargestellt. Dahingehend wird der in der rezenten Yogaszene allgegenwärtige Diskurs des Hier und Jetzt untersucht, dessen Erreichen viele Yogaschulen durch die von ihnen angebotenen Übungspraktiken in Aussicht stellen. Präsent sein steht für einen fokussierten mentalen Zustand, der sich in seinem gehäuften Vorkommen in Werbung, sozialen Netzwerken und anderen Medien als neuer Wert in einer hochentwickelten, technisierten Gesellschaft präsentiert, deren Zeitregimes als schnelllebig, hektisch und aufreibend gelten. Auch altindische Texte sprechen von mentalen Zuständen, die als hohe Konzentration gedeutet werden können. Der aktuell global am intensivsten rezipierte altindische Yogatext (White 2014: 1), der Konzepte beinhaltet, die in der Rezeption mit dem deutschen Terminus Präsenz verknüpft werden, ist das Yogasūtra (YS), ein auf Sanskrit verfasstes Werk, das ca. auf das 4./5. Jht. nach Christus datiert werden kann (Maas 2013: 66). Der vorliegende Beitrag wird aufzeigen, wie stark der dem YS entlehnte Präsenzdiskurs die physische Praxis zeitgenössischer religiöser Akteur*innen beeinflusst. Ich vertrete die These, dass inhaltliche und kinetische Zusammenhänge Grundvoraussetzung dafür sind, dass ein Diskurs wirksam mit einer Körperpraxis verknüpft werden kann. In einer Art Zirkelschluss werden aus der Yogapraxis resultierende Erfahrungen und Zustände als erstrebenswert identifiziert, mit Hilfe der Yoga-›Philosophie‹ benannt, gedeutet und bewertet, dann gezielt gesucht und mittels Praktiken hergestellt. Gleichzeitig hat auch die untersuchte Praxis spezifische psychophysische Effekte, die sich wiederum auf die moderne Auslegung des Yogasūtras auswirken. Diskurs und Praxis sind auf diese Weise interdependent. Der vorliegende Artikel basiert auf qualitativen Feldforschungsdaten, die ich von 2015-2017 in der deutschen Ashtanga-Yoga-Szene1 gesammelt habe. Zum einen stammen die Daten aus Interviews mit zwei AY-Ausbilder*innen und einem Yogasūtra-Spezialisten sowie vier Yogalehrer*innen; zum anderen habe ich Audioaufnahmen aus Workshops ausgewertet und meine Feldnotizen einfließen lassen. Es kommen Expert*innen zu Wort, die eigene Übersetzungen veröffentlicht haben und/oder ihre Auslegungen in Yogaausbildungen und Workshops vermitteln, sowie deren Rezipient*innen – meist (angehende) Yogalehrer*innen – die den Text erläutert bekommen und ihn daraufhin selber weitertragen. Ich gehe wie folgt vor: Zunächst analysiere ich das Interpretationsspektrum zweier dem Sūtra entnommener Sanskrit-Begriffe – samādhi 1 | Ashtanga-Yoga (AY) steht in der Traditionslinie des südindischen Gurus T. Krishnamacarya. Für eine kritische Beschreibung der Geschichte des AY siehe Singleton 2010: 175-210.
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und puruṣa –, die mit dem deutschen Begriff ›Präsenz‹ verbunden werden. Anschließend beschreibe ich die Übungspraxis des Ashtanga-Yoga, um ihre somatischen Grundlagen darzustellen. Im nächsten Abschnitt identifiziere ich die Verbindung der genannten Sanskrit-Termini mit dem deutschen Begriff ›Präsenz‹ als einen Akkulturationsprozess, um zuletzt die somatische Materialisierung dieses neu erschaffenen Präsenzdiskurses in der Yogapraxis zu analysieren.
Präsenzkonzepte des Forschungsfeldes Ich gehe in diesem Punkt nicht auf die philosophischen Inhalte des Yogasūtras im Kontext der Ursprungskultur ein, sondern nur auf die vorliegenden Daten aus meiner Feldforschung.2 Der Inhalt des Textes wird vom Großteil der untersuchten Akteur*innen mit der global verbreiteten physischen Yogapraxis diskursiv verknüpft.3
Samādhi Das YS beschreibt im zweiten Kapitel (pāda) einen achtfach gegliederten Weg (aṣṭāṅga-s), dessen finales Glied ein Zustand namens samādhi ist. Die rezente Deutung des Begriffes kann anhand der analysierten Interviews, in denen ich konkret nach dem Verständnis von samādhi gefragt habe, in drei Kategorien eingeteilt werden (mit thematischen Überschneidungen): 1. Konzentration/ Versunkenheit, 2. Erfüllung, 3. Auflösung des Ichs. Im Folgenden liste ich einige der Aussagen der Interviewten gemäß dieser Systematik auf:
2 | Für eine Beschreibung der Metaphysik des Yogasūtras siehe Maas 2014: 67ff. 3 | Das Sūtra selbst beinhaltet bis auf einen kurzen Satz über die Sitzhaltung, die zur Meditation eingenommen werden soll (āsana, Sūtra II/47), keine physischen Übungsanweisungen, geschweige denn Beschreibungen der komplexen und vielfältigen Yogastile mit ihren oft dynamischen, anstrengenden Bewegungsfolgen, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts unter dem Namen Yoga herausgebildet haben. Der im Text beschriebene samādhi-Zustand entsteht also in einem sitzend-meditativen Prozess. In mittelalterlichen Haţhayoga-Texten bekommen zwar Körperübungen (āsana-s) eine zunehmende Bedeutung und bilden sich von sitzenden Haltungen zu vielfältigen Körperpositionen aus. Gleichzeitig erwähnen die Texte auch, dass āsana-Praxis eine Kontrolle des Geistes hervorbringen kann (Mallinson/Singleton 2017: 92), aber der hauptsächliche Zweck von āsana-s war eine Vorbereitung für sitzende Atemtechniken und Meditation. Dass es dynamisch-konzentrierten, komplexen Übungsabfolgen selbst inhärent ist, einen samādhi-Zustand zu induzieren, ist nicht Teil der ursprünglichen HaţhayogaLehren.
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1. Konzentration/Versunkenheit: »(...) starke Konzentration (...);« »(...) ganz bei der Sache sein (...);« »(...) zutiefst konzentriert sein (...);« »(...) ein eingetaucht sein in das, was grade ist (...);« »(...) Verschmelzungserfahrung (...).« (Ralph Skuban, Autor und Seminarleiter) »(...) ein Moment von absoluter Klarheit im gegenwärtigen Moment (...).« (David, Yogalehrer) 4
2. Erfüllung (durch das Gefühl der Entleerung des Geistes): »(...) ich bin früher viel gelaufen, und ich kenn’ diesen Zustand, wo du’s Gefühl hast, der Kopf ist total leer und du könntest noch stundenlang weiterlaufen (...);« »(...) da bist du so voller Endorphine wahrscheinlich (...).« (Hanna, Yogalehrerin) »(...) Zufriedenheit, die allumfassende Zufriedenheit (...);« »(...) dadurch, dass keine Gedanken da sind, oder nur wenige, und man nur präsent ist, ist es sehr friedvoll (...);« »(...) ich war in einem Finale von diesem Tischtennisturnier und ich war während diesem ganzen Finale in diesem Zustand, hatte ich das Gefühl, ich war die ganze Zeit nur konzentriert und ich hab’ nur noch gehandelt, ohne drüber nachzudenken.« (David, Yogalehrer)
3. Auflösung des Ichs: »(...) das stellt sich ein, das passiert, also dass du in diesem bewussten, freien Zustand bist, das kann ich nicht erzeugen, sondern das entsteht einfach in einem, von daher kann ich da nicht hin wollen (...).« (Karin, Yogalehrerin) »(...) da gibt’s auch kein Ich mehr, da gibt’s keine Zeit mehr, da gibt’s keinen Hunger mehr, nichts mehr. (…) ein modernes Wort dafür wäre Flow.« (Ralph Skuban, Autor und Seminarleiter)
Samādhi ist für meine Interviewpartner*innen ein mental höchst fokussierter Zustand, der nicht mit reflexivem Denken, sondern mit dem handelnden Körper als Vermittler des aktuellen Erlebens zusammenfällt. Er wird beschrieben als ein Moment absoluter Gegenwärtigkeit im ›Hier und Jetzt‹, der zu großer 4 | Alle Namen sind von der Autorin vergebene Pseudonyme, mit Ausnahme der Namen von Akteuren/Akteurinnen, die in der Yogaszene einen hohen Bekanntheitsgrad haben. Während deren Interviews auf Wunsch sprachlich und grammatikalisch überarbeitet wurden, blieben die pseudonymisierten Interviews unverändert.
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Zufriedenheit und Glücksgefühlen führt. Jene Aufmerksamkeit, die im jeweiligen Moment mit dem Tun zusammenfällt – das oben beschriebene ›Gefühl der Entleerung des Geistes‹ –, wird von meinen Interviewpartner*innen als Gegenstück zum diskursiven Denken gesehen und ist folglich nicht-propositionaler Art. Dieser Zustand wird als Flow-Erlebnis bezeichnet, ja sogar mit einem runner’s high verglichen (siehe Zitat Hanna).5
Purușa Der zweite mit Präsenz verknüpfte Begriff ist ein grundlegendes metaphysisches Prinzip des Yogasūtras, der puruṣa, der in meinem Forschungsfeld so interpretiert wird: Du bist etwas Anderes, du bist das, was die gunas erfährt, und das ist der Seher. Du bist nicht der Körper, die Gedanken, die Gefühle, sondern du bist das, was den Körper, die Gedanken und die Gefühle erlebt. Und denkt, er sei es. Und purusha ist ein anderes Wort, purusha, für die Kraft, die in uns wohnt. Das heißt übrigens auch Mensch. Du bist nicht all das, was du erlebst, du bist nicht dein Körper, Gedanken, Gefühle et cetera, sondern das ist nur der Film deines Lebens, dem du zuschaust. (Ralph Skuban, Autor und Seminarleiter) 6
Hier zeigt sich eine konkrete Deutungsstrategie für menschliches Erleben: Es wird ein alternatives Menschenbild eingeführt, das davon ausgeht, dass der Mensch etwas anderes ist als sein Körper, seine Gedanken und seine Gefühle. Diese veränderte Sicht auf das Selbst soll den Menschen dazu führen, Abstand zu den drei genannten Bereichen des Erlebens zu nehmen, die in westlichen Gesellschaften essentiell für das Selbstverständnis von Individuen sind. Dieses Menschenbild ist keine reine Denkfigur, sondern soll zu einer Erkenntnis werden, die durch bestimmte Übungen praktisch erfahren, ›gelebt‹ und damit inkorporiert wird. In rezenter Übersetzungs- und Kommentarliteratur zum Sūtra wird noch ein anderer Aspekt des puruṣa deutlich, der auch von meinem Forschungsfeld 5 | Das Konzept samādhi hat im Yogasūtra verschiedene Stufen und Ausprägungen, die zum Teil auch reflexives Denken mit einschließen (Mallinson/Singleton 2017: 324). Dies wird in meinem Forschungsfeld nur mit Ausnahmen wahrgenommen und in die Interpretation mit einbezogen – in einem solchen Fall wird die in diesem Artikel beschriebene Art von samādhi als ›einfacher‹ samādhi bezeichnet. 6 | Ralph Skuban ist einer der wenigen Interviewpartner, die betonen, dass Körperarbeit bei diesem Erkenntnisprozess keine Rolle spielen muss. Da seine Übersetzung des Yogasūtras in meinem Forschungsfeld einen hohen Bekanntheitsgrad hat, ist seine Interpretation des Begriffes von großer Relevanz, auch wenn sie von Yogapraktizierenden mit der physischen Praxis in Verbindung gebracht wird.
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rezipiert und reproduziert wird. Puruṣa wird z.B. mit »Geistseele« (Palm 2010: 34) oder »unsterbliches Selbst« (Sriram 2006: 277) übersetzt, verstanden als ein jedem Menschen innewohnender Wesenskern, der im Text als vollkommen verschieden von Körper und Psyche angesehen wird (z.B. YS III/36). Puruṣa wird von Mircea Eliade als »absolutes Bewusstsein« beschrieben das über eine »ununterbrochene Erkenntnis« verfügt oder sogar »in gewisser Hinsicht Erkenntnis« ist (Eliade 1999: 41). Eliade (1999: 13) geht noch weiter und beschreibt puruṣa als »[...] das Bewußtsein des ›Zeuge-Seins‹, jenes Bewußtsein, das von seinen psychophysiologischen Strukturen und seiner zeitlichen Beschränktheit Abstand genommen hat. Es ist das Bewußtsein des ›Erlösten‹, dem es gelungen ist, seine Temporalität aufzuheben und infolgedessen die wahre, unbeschreibliche Freiheit zu erfahren.« Puruṣa wird also als omni-präsente, Raum und Zeit transzendierende Entität verstanden. Das Zitat verdeutlicht, dass der Präsenzzustand über den Topos des Erlösten und des unsterblichen Selbst eine sakrale Wendung erfährt. Konzentration, in ihrer höchsten Form verstanden als reines Bewusstsein, das zwar vollkommen fokussiert aber unbeteiligt das Treiben der Welt beobachtet, wird zu einer zunehmend auf spirituelle Zwecke ausgerichteten Qualität. Dies bedeutet letztlich: Je präsenter ein Mensch ist, desto spirituell fortgeschrittener ist er.
Die Praxis des Ashtanga-Yoga Ashtanga-Yoga ist bis ins Detail festgelegt. Das Erreichen des gewünschten präsenten Zustandes wird durch eine präzise zu befolgende, stark regulierte, kollektive, soziale Praxis hergestellt. Das ›Hier und Jetzt‹ der Praxis beinhaltet gewisse Setzungen – man kann ›Jetzt‹ nicht einfach tun, was man möchte; es muss gewisse Kriterien erfüllen und soll eine gewisse Qualität haben. Die Praxis des AY setzt sich aus einer festgelegten und durchgehend dynamischen Abfolge (vinyāsa) von Körperübungen (āsana-s) zusammen, die bekannt sein muss. Dabei gibt es sogenannte Serien mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Wichtig ist zudem der (gemeinsame) Atemrhythmus, der über eine vorgegebene, rauschende und dadurch den Raum hörbar durchziehende Atemtechnik namens ujjāyī hergestellt wird. Während der āsana-Praxis sind außerdem innere Muskelkontraktionen auszuführen, insbesondere mit dem Beckenboden (mūlabandha) und im Nabelbereich (uḍḍīyānabandha). Das letzte zu beachtende und festgelegte Prinzip ist dṛṣṭi, ein für jede Stellung festgelegter Punkt, auf den sich die Augen fixieren sollen (z.B. die Spitze der Nase, der Bauchnabel etc.). All das muss für die erste Serie des AY für fast 70 verschiedene Positionen sowie für die dynamischen Übergänge zwischen diesen Positionen gelernt werden. Folglich werden in der Praxis der Körper, die Sinne,
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der Atemprozess und die mentale Aufmerksamkeit präzise gelenkt und beschäftigt.7 Diese Praxis kann traditionell auf verschiedene Weisen ausgeführt werden: Erstens gibt es das Format der Mysore-Stunde, in dem Schüler*innen selbstständig in ihrem eigenen Atemrhythmus üben. Zweitens gibt es ein Unterrichtsformat namens Led-Class. Hier üben alle im gleichen Atemrhythmus und Bewegungstempo die gleiche Übungsfolge, während der/die Lehrer*in fast jede Bewegungseinheit auf Sanskrit mitzählt. Dies fällt jeweils mit einer Ein- oder einer Ausatmung zusammen und ist genau festgelegt. Hier kann man besonders deutlich ein festgelegtes, ja rituelles Setting erkennen, das letztlich zu einem Erlebnis konzentrierter, mentaler Präsenz führen soll. In beiden Formaten spielt eine spezielle Praxis der Körperausrichtung eine Rolle, alignment genannt. Dabei werden Körperteile (der Fuß, das Bein etc.) nach gewissen anatomischen Vorgaben in den Yogapositionen ausgerichtet. Es geht hier vor allem darum, anatomisches Wissen praktisch anzuwenden, also z.B. ein Gelenk während des Praktizierens so auszurichten, dass es von einem muskulären Gleichgewicht stabilisiert wird. All dem geht ein Diskurs über einen altindischen Text voraus, der die Interpretation dieser vielfältigen und effektiven Praktiken bereits von Anfang an steuert. Mit Alva Noë (Noë 2012: 10) kann man konstatieren: »This presence does not come for free.« Das Herstellen des präsenten Zustandes braucht Vorwissen, diskursive Rahmung und ist hart erarbeitet.
Akkulturation der Sanskrit-Termini. Samādhi, puru ṣ a und ›Präsenz‹ Wie oben ausgeführt zeigt sich das Verständnis des samādhi-Zustandes in den von den Befragten gewählten Vergleichen vor allem mit sportiven, bewegten, aber auch kreativen Betätigungen. Da das Flow-Erlebnis direkt oder indirekt von meinen Akteur*innen selbst beschrieben wird (siehe oben), gehe ich an dieser Stelle auf das wissenschaftliche Konzept des Flow ein, das der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi prägte. Er beschreibt den Prozess, der zum Flow führt als ein Verschmelzen von Aktivität und Aufmerksamkeit (Csíkszentmihályi/Csíkszentmihályi 1991: 47). Er betont, dass die Aufmerksamkeit, die zu irgendeinem Zeitpunkt auf etwas gerichtet sein kann, beschränkt ist und nennt zwei Eigenschaften eines Flow-Zustandes, die auch meine Interviewpartner erwähnen: Erstens muss das Handeln Selbstzweck sein, was sich in meinem Forschungsfeld z.B. in der Ablehnung eines externen (belohnenden) Zieles widerspiegelt (in diesem Sinne wird auch der Ausdruck ›im Hier und Jetzt sein‹ versus ›in der Zukunft leben‹ verwendet); eine zweite Vorausset7 | Für eine ausführlichere Beschreibung der Praxis siehe Maehle 2006: 7-130.
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zung für das Zustandekommen von Flow ist die Wahrnehmung, dass es etwas zu tun gibt, und dass man dazu fähig ist (Csíkszentmihályi/Csíkszentmihályi 1991: 47). Langeweile aber genauso auch Angst (z.B. durch Überforderung) sind nach Csíkszentmihályi und Csíkszentmihályi Zustände, die das Entstehen eines Flow-Erlebnisses hemmen. Zudem erwähnt er, dass das Flow-Erleben, wenngleich es einer Tätigkeit entspringt, die auf die eigenen Fähigkeiten abgestimmt ist, spürbar fordernd sein muss (Csíkszentmihályi/Csíkszentmihályi 1991: 48), damit die Übenden in diesen konzentriert-versunkenen, absorbiert-zeitlosen sowie angenehm-zufriedenen Zustand eingehen können. Hierzu tragen sicherlich die im Schwierigkeitsgrad zunehmenden Serien des Ashtanga-Yoga bei. Auch von diesem sportlichen Charakter des AY rühren wohl die vielfältigen Vergleiche mit sportiven Tätigkeiten und die dadurch ermöglichte Deutung von samādhi als ›Flow‹ her. Der Präsenzmoment, der in meinem Forschungsfeld mit dem Konzept des puruṣa in Verbindung gebracht wird, hat große Ähnlichkeit mit MindfulnessBased Stress Reduction (MBSR), einer Technik, die von Jon Kabat-Zinn der Theravāda-buddhistischen Tradition des Vipassanā entlehnt wurde (Nehring/ Ernst 2013: 374) und Gegenstand vieler aktueller psychologischer Studien ist. So definieren Wittmann et al. (2014: 41) mindfulness als »bringing awareness to each present moment in time with an accepting and non-judgemental attitude«. Die Übenden lernen, »den fortlaufenden Strom von Phänomenen im Geist bewusst zu beobachten und das Kommen und Gehen sowie die Vergänglichkeit aller Erfahrungen direkt zu erleben. Dabei sind die Objekte der Aufmerksamkeit der Atem, Körperempfindungen, Gedanken sowie Gefühle oder Geräusche« (Meibert/Michalak/Heidenreich 2011: 29). Ein weiterer Schritt im Sinne des Yogasūtras wäre dann, aus dieser beobachtenden Perspektive heraus zu erkennen, dass all das, was man beobachten kann, nicht das ›wahre Selbst‹ ist (siehe Zitat Skuban oben). Die vorangegangenen Interpretationen haben verdeutlicht, dass die Konzepte des Yogasūtras im Zuge des Akkulturationsvorgangs so ausgelegt werden, dass sie mit den Erfahrungen, die Übende in ihrer Praxis machen, übereinstimmen. Diese Deutungen sind mit kulturspezifischen psychophysischen Zuständen oder Methoden vereinbar. Die Yogapraxis hängt nach diesen Umdeutungen kinetisch strukturell mit dem Diskurs zusammen und kann in einem weiteren Schritt leicht mit jenen Inhalten des Sūtras vernetzt werden, die über den direkten Erfahrungsmoment von Gegenwärtigkeit hinausgehen, z.B. mit dem Glauben an einen sakralen Charakter des puruṣa;8 so kann dieser
8 | Tanya Luhrmann (2004: 522) beobachtet ähnliche Organisationsprozesse in einer erfahrungszentrierten evangelikalen Bewegung. Hier machen die Gemeindemitglieder erst körperliche Erfahrungen und binden diese dann in Übereinstimmung mit der grup-
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subjektiv erlebte Präsenzzustand z.B. als Erfahrung des ›wahren Selbst‹ ausgelegt werden.
Somatische Materialisierung des Präsenzdiskurses in der Yogapraxis Die präsentische Dimension religiöser Erfahrung ist ausschlaggebend für die Begründung der Religionswissenschaft (Ernst/Paul 2013: 26). Der in den vorangegangenen Punkten zum Tragen gekommene kulturwissenschaftliche Untersuchungsfokus bringt großen Erkenntnisgewinn, indem er sich mit den Diskursivierungen und performativen Setzungen von Präsenz befasst (Nehring 2013: 344). Im letzten Schritt werde ich aus religionsästhetischer Perspektive ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der Ausformungen des skizzierten Diskurses untersuchen, die sich im Körper materialisieren. Kulturelle Entwicklungen beeinflussen kognitive Vorgänge zutiefst: Kulturspezifische religiöse Praktiken stimulieren und manipulieren Körper und Sinne, und die stark ausgeprägten somatischen Techniken alternativ-religiöser Milieus formen den Körper. Deswegen beachtet ein religionsästhetischer Ansatz sowohl die Materialität als auch die kulturellen Formen religiöser Praktiken, um diejenigen Prozesse zu berücksichtigen, durch die Materialität beeinflusst und über eine religiöse Erfahrung bedeutungsvoll gemacht wird (Grieser 2015: 17). Der ästhetische Fokus integriert somit auch (empirische) Forschung der kognitiven Psychologie, der Neurowissenschaft und der Medizin, wodurch biologische Tatsachen wie z.B. Neuroplastizität, also die Erkenntnis, dass das Gehirn durch Training veränderbar ist, dazu beitragen, die strikte Trennung von Glaube und Praxis zu überwinden (Grieser 2015: 18). So formen auch die Körperpraktiken des AY die Übenden, indem sie verschiedene Fähigkeiten entwickeln und bestimmte Zustände hervorrufen. Die Deutung dieser sich in Körper und Psyche manifestierenden Veränderungen geschieht dann in den oben skizzierten sozialen und kulturellen Aushandlungsprozessen. Wenn man also fragt, was sich durch die oben skizzierte Praxis des AY im Körper der Übenden verändert, kann man konstatieren, dass Bewegungen erst einmal mit einem sehr konkreten mentalen Fokus erlernt werden müssen, bevor sie so verinnerlicht sind, dass während ihrer Ausübung ein Flow-Zustand entsteht, der nach Akkulturation des samādhi-Konzeptes als samādhi interpretiert werden kann. Die Körperkontrolle, die für die (gleichzeitige) Ausführung von āsana-s (Körperübungen), bandha-s (inneren Muskelkontraktionen) und ujjāyī (geräuschvoller Atmung) nötig ist, setzt eine hohe Konzentration voraus. Auch alignment, die oben erläuterte physische Präzisionsarbeit, muss als gezielte penspezifischen Deutung an einen semantischen Kontext, wodurch ein neues Verständnis von ihrem Körper und der Welt entsteht.
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Aufmerksamkeitslenkung verstanden werden. Alignment wird in geführten Stunden verbal angeleitet und verlangt von den Übenden eine intensivierte Wahrnehmung des je auszurichtenden Körperteiles. Dieser Fokus auf die Koordination des Körpers kann als Vorstufe einer durch physische Yogapraxis hervorgerufenen Präsenzerfahrung interpretiert werden, aber nach der oben beschriebenen Interpretation noch nicht als ein samādhi-Zustand.9 Noradrenalin, das im Nervensystem (im Locus coeruleus) als Neurotransmitter produziert wird, gilt als chemischer Regulator für Aufmerksamkeit (Russell/Arcuri 2014: 16), womit es Einfluss auf die mentale Fokussierung und Orientierung hat. In einem bestimmten Modus erlaubt die Ausschüttung von Noradrenalin die Kopplung relevanter Informationen für eine zuvor gestellte Aufgabe (zum Beispiel das Finden eines Schlüssels; Russell/Arcuri 2014: 17), lässt dafür wichtige Sinnesstimuli hervortreten (schlüsselförmig, metallisch-glänzend) und hemmt irrelevante Informationen (alles nicht-schlüsselartige). Die Folge ist eine fokussierte Aufmerksamkeit, z.B. auch auf verschiedene Körperbereiche oder Körperprozesse, wodurch ein Eindruck mentaler Präsenz im Handeln entsteht. So kann z.B. mittels Aufmerksamkeitslenkung und mit Hilfe von Sinnesrezeptoren die Luft auf der Körperoberfläche wahrgenommen und die Bewegung der Gelenke durch propriozeptiven Input bemerkt werden. Diese gesteigerte Anzahl von Sinnesinformationen erhöht die Anzahl an Wahrnehmungen, die stattfinden (Russell/Arcuri 2014: 21). Die Konsequenz aus dieser gesteigerten Körperwahrnehmung ist eine verringerte Ablenkbarkeit, folglich eine größere mentale Fokussierung. Daher wird vermutet, dass während bewusster körperlicher Aktivität die Fähigkeit, aufmerksam zu bleiben größer ist als bei automatisierten Bewegungen (Russell/Arcuri 2014: 21). Neurologisch gesehen erscheint es sogar sinnvoll, diesen Zustand fokussierter, im Moment präsenter Achtsamkeit zusammen mit körperlicher Bewegung zu entwickeln, da sowohl der oben beschriebene Prozess der gesteigerten Konzentration als auch der sich bewegende Körper die gleichen neurophysiologischen und -psychologischen Systeme beschäftigt (Russell/Arcuri 2014: 26). Ist auf bauend auf dieser fokussiert-kontrollierten Körperarbeit eine wie von selbst ablaufende Übungspraxis entstanden, kann sich der als samādhi gedeutete Flow-Zustand entwickeln, der dann allerdings Abstand von einem konkreten Fokuspunkt erfordert – im Flow werden Körper, Emotionen und Sinneswahrnehmungen durch eine vorübergehende Deaktivierung des präfrontalen Kortex ausgeblendet (Dietrich 2004: 746; 758). Dietrich definiert 9 | Das entspricht auch der Reihenfolge des achtgliedrigen Pfades (așțâńga-s), den das YS zu einer Form von samādhi hin vorgibt (samādhi ist das achte Glied). Dhâraņâ, das sechste Glied, kann nach Sūtra III/1 so definiert werden: »Deúa-bandhaú-cittasya dhâraņâ: Konzentration ist das Binden des Bewusstseins an einen Ort« (Palm 2010: 133). Dhâraņâ (Konzentration) ist hier also eine Vorstufe zu samādhi.
Die sakrale Zeit des Hier und Jet zt »the flow state as a period during which a highly practiced skill that is represented in the implicit system’s knowledge base is implemented without interference from the explicit system. It is proposed that a necessary prerequisite to the experience of flow is a state of transient hypofrontality that enables the temporary suppression of the analytical and meta-conscious capacities of the explicit system« (Dietrich 2004: 746).
Der Verweis auf ein im Flow aktiviertes, implizites Handlungswissen stützt die empirischen Daten, die zeigen, dass sich Übende fern von reflexiven, analytischen Denkprozessen erleben und ihre Körper als Vermittler des aktuellen Erlebens wahrnehmen. Die kurzzeitige Deaktivierung des präfrontalen Kortex ist auch für die übrigen genannten Charakteristika von Flow zuständig: Übende haben den Eindruck, vollkommen fokussiert zu sein und alles andere als die aktuelle Tätigkeit ausgeblendet zu haben und damit einhergehend ein Gefühl von Zeitlosigkeit und der Auflösung des Ichs. Aber gleichzeitig ist dieses im Hier und Jetzt sein nun ein automatisierter, unbewusster Vorgang: »The phenomenological result is an awareness that is limited to the here and now with no indication of cognitive flexibility – a mental singularity if you like« (Dietrich 2004: 758). In intensiver Form liegt die Flow-Erfahrung in den empirischen Daten zudem als Beschreibung eines runner’s high vor. Ein runner’s high entsteht bei anhaltender aerober körperlicher Betätigung; dabei wird unter anderem Anandamid ausgeschüttet, ein Endocannabinoid, das angstlösend und schmerzlindernd wirkt (Fuss et al. 2015: 13105), wodurch auch das Eintreten des oben zitierten Zustandes allumfassender Zufriedenheit erklärt werden kann. Die Analyse der Interpretation des Konzeptes puruṣa zeigt, dass es dabei nicht um eine zwar präsente, aber unbewusst-automatisierte Versunkenheit des Flow-Zustandes geht. Wird der Begriff mit mindfulness übersetzt, handelt es sich vielmehr um eine bewusste, kognitive Wahrnehmungsleistung. Dies wird gestützt von Russell und Arcuri (2014: 23): »When completing slow mindful movements, it is easier to shift attention back to the movement because it is being conducted in a controlled way (which requires attention) rather than automatically«. In Ralph Skubans oben zitierter Definition von puruṣa findet sich das Bild des nicht involvierten Zuschauens – puruṣa wird im Yogasûtra auch als draṣṭṛ bezeichnet, als ›Seher‹ (YS I/3). Von Skuban so nicht direkt formuliert, wird von anderen Akteuren in meinem Feld der Akt des Zuschauens oder Beobachtens häufig um den Akt des nicht Bewertens ergänzt, woraus die Entwicklung einer wertfreien Beobachterperspektive resultieren soll. Es ist fraglich, ob Ashtanga-Yoga aufgrund seiner kontrolliert und damit notwendigerweise konzentriert ausgeführten Bewegungen auch als eine »mindful movement practice« (Russell/Arcuri 2014: 14) definiert werden kann. Die klaren Zeitstrukturen des AY können durchaus als Wirkfaktor für Achtsamkeit gesehen werden: sie weisen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende auf, und jede einzelne Übung wird gleich lang (für eine Dauer von fünf
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Atemzügen) gehalten. Übende haben durch die klare Struktur der festgelegten Übungsreihe einen mentalen Anker, der ihnen Feedback darüber gibt, ob ihr Geist bei der Tätigkeit bleibt. Dadurch kann die Wahrnehmung des sogenannten ›mind-wandering,‹ also die beobachtende, bewusste Wahrnehmung diffuser und wandernder Gedanken trainiert (Russell/Arcuri 2014: 23) und mit zunehmender Übung eine Beobachterposition etabliert werden. Außerdem spielt bei achtsamkeitsbasierten Bewegungsformen der verbale Input des Lehrers/ der Lehrerin und die dabei vermittelten Konzepte eine übergeordnete Rolle: »During the learning phase, the non-judging component of mindfulness needs to be strongly emphasized« (Russell/Arcuri 2014: 15). Dieser Teil der Interpretation von puruṣa fehlt allerdings meist in meinem Feld, in dem selten während der Praxis das Einnehmen einer solchen wertfreien Beobachterperspektive verbal angeleitet wird. Es wird trotzdem eingeübt, sich und andere aus einer solchen Perspektive heraus zu betrachten, allerdings nicht in der physischen Praxis, sondern in gesonderten Formaten. So gibt es in meinem Feld z.B. die zu zweit und im Sitzen praktizierte Citta-Maitri-Übung, in der ein*e Übende*r seine/ihre Gedanken laut ausformuliert, während der/die andere mit wohlwollender Achtsamkeit zuhört, ohne einzugreifen und ohne zu bewerten.
Schlussüberlegungen Meine Daten zeigen den Kulturtransfer eines altindischen Textes in den zeitgenössischen europäischen Kulturraum, der die Suche nach einer nicht-propositionalen, spirituell gefassten Präsenzerfahrung auslöst. Im Laufe des Akkulturationsprozesses verändert der Text allerdings seine Bedeutung dahingehend, dass der so entstandene Präsenzdiskurs mit Hilfe der somatisch effektiven Techniken der modernen Yogapraxis materialisiert und verkörpert werden kann. Das Yogasūtra bietet somit einerseits einen traditionellen Legitimierungsrahmen für zeitgenössische spirituelle Praktiken, die sich aber durch die Identifikation mit wissenschaftlichen Konzepten (z.B. Flow) mit den Legitimierungsinstanzen westlicher Kultur verbinden – allen voran mit derzeit Gültigkeit beanspruchenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Daraus resultiert eine erfahrungsbasierte, spirituelle Aufladung von wissenschaftlichen ›Wahrheiten‹, was zu einer Spiritualisierung von psychophysischen Erlebnissen führt und wiederum eine Materialisierung von religiöser Erfahrung zur Folge hat. Als Beispiel für diese Beobachtung wurde das Konzept der Präsenz erläutert, dessen Implikationen mit wissenschaftlichen Konzepten beschrieben werden konnten. Durch die Identifikation mit Termini aus einem altindischen Text wird Präsenz dann aber in seiner Bedeutung für den Menschen aus diesem wissenschaftlichen Interpretationsrahmen hinausgeführt und diskursiv ins Unsagbare, in den Bereich des Heiligen gerückt.
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Besonders im letzten Abschnitt wurde zudem gezeigt, dass neue religiöse Praktiken stark in den menschlichen Körper eingreifen, ihn verändern und formen, und somit nicht nur ein diskursives und mentales Phänomen sind. Auf der anderen Seite wurde veranschaulicht, dass Diskurse großen Einfluss darauf haben, mit welcher Motivation Praktiken ausgeführt und wie ihre Effekte gedeutet werden. Die aus dieser Wechselwirkung hervorgehende Ansicht, dass aus somatischen Erfahrungen letztendlich metaphysische Ergebnisse resultieren können – wie etwa das Finden des wahren Selbst oder Erlösung – bringt wiederum eine neu aufgeladene, sakralisierte Bedeutung des Körpers mit sich. Diese neuen Tendenzen im religiösen Feld, u.a. die starke Vernetzung mit Psychologie, Medizin, Gesundheit und Sport, müssen auch deswegen weitergehend untersucht werden, weil die Entwicklungen im religiösen Sektor wiederum auf die anderen genannten Teilbereiche der Gesellschaft zurückwirken. Damit präsentiert sich Religion als ein unverändert relevanter kultureller Faktor zeitgenössischer, technologisierter und nur scheinbar säkularisierter Gesellschaften.
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II. Präsenz, Repräsentationen und Präsentifikationen
D iskurse der (N icht -)P r äsenz . A rtikul ationen – M aterialitäten – F remdheiten Juliane Engel Diskurse der Präsenz gehen der Frage nach, wie sich Kultur theoretisch und empirisch als Präsenz- und Präsentifikationsphänomen beschreiben lässt. Die mit der Abkehr von einem rein textorientierten Kulturbegriff verbundene Zuwendung zu visuellen und performativen Kulturtheorien hat zwar bereits implizit auf die Frage der Präsenzhaftigkeit von Kultur verwiesen, ohne sie jedoch explizit zu bearbeiten. Da Präsenzerfahrungen nur bedingt kognitiv zugänglich sind, erfolgt ihre Verarbeitung primär im Modus aisthetischer Erfassung, künstlerischer Formgebung oder rituell-performativer Praktiken. Diese Präsentifikationsprozesse vollziehen sich in sozialpragmatischen, semantischen, (inter-)medialen sowie in intra- und interkulturellen Konfigurationen und lassen sich daher präsenztheoretisch bearbeiten. Die hierfür gewählten interdisziplinären Zugänge eröffnen neue Reflexionshorizonte und demonstrieren die Tragfähigkeit präsenztheoretischer Zugänge. So zeigen die nachfolgenden Überlegungen, wie Präsenz über Konstruktionen und Dekonstruktionen von Artikulationsprozessen auf diskursiver und performativer Ebene hergestellt bzw. hinterfragt wird. Es wird etwa deutlich, wie die dekonstruierende Analyse von visuellen Artikulationen aus dem Weltall auf der diskursiven Ebene, wie eine anthropomediale Präsenz durch spezifische – technologische, mediale, auch politische – Dispositive erzeugt wird (vgl. Engell i.d. Band). Auf der performativen Ebene wird die Dekonstruktion von Präsenz etwa am Beispiel der gerade nicht erfolgenden Artikulation von Körpern – nämlich des unsichtbaren Körpers auf der Bühne (vgl. Wortelkamp i.d. Band) – zugänglich; das Changieren/Oszillieren zwischen Präsenz und Nichtpräsenz wird hier als performative Figur nachvollziehbar. Mutatis mutandis stellen die nachfolgenden Beispiele diese Beziehung in ihrer Vielfältigkeit dar und diskutieren sie in ihrem Potential für artikulations-, materialitäts- und fremdheitstheoretische Fragestellungen.
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Präsenztheorien und ihre Erkenntnislogiken Präsenz wird häufig als Phänomen beschrieben, bei dem die spezifische Qualität einer raum-zeitlichen Gegenwärtigkeit zur Diskussion steht. Sie wird sodann an besonderen Orten (Löw 2011), Atmosphären (Böhme 1995), Dingen (Benjamin 2000), Bildern (Wiesing 2013) oder Menschen (Gumbrecht 2012, Fischer-Lichte 2004) festgemacht und dabei häufig implizit ontologisiert. Diese impliziten Ontologisierungen gehen vielerorts mit Beschreibungen des Ergriffenseins einher, bei der nicht nur eine anthropozentrische Erkenntnislogik dominiert, sondern eine radikalisierende Metaphorik unplanbarer und übergreifender Ereignisse zum Tragen kommt. So fasst etwa Erika Fischer-Lichte Präsenz in einer theaterwissenschaftlichen Perspektive als »rein performative Qualität«, die dem Zuschauer beim Anblick eines Darstellers/Schauspielers »blitzartig wiederfährt – ›als Strom von Magie‹ […] nicht in seiner Gewalt, unbegreiflich und ihn ganz ergreifend« (Fischer-Lichte 2004: 166). Hier erscheint Präsenz als etwas, das sich beobachten oder verallgemeinernd feststellen ließe. Auch Hans Ulrich Gumbrecht beschäftigt sich in komparatistischer Perspektive mit Produktionsmöglichkeiten von Präsenz, die er in »Ereignissen und Prozessen, bei denen die Wirkung ›präsenter‹ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst und intensiviert wird« (Gumbrecht 2004: 184) sieht. Er selbst empfindet diese Intensität, so schreibt er in seinen Studien zu einem Diesseits der Hermeneutik, in spezifischen Situationen, so beispielsweise beim Beobachten von Steilpässen im Fußball. Indem er die »Dinge« jenseits ihres Zeichencharakters wieder in ihrer sinnlichen »Präsenz« wahrzunehmen vorschlägt, unterwirft er sich jedoch der erkenntnistheoretisch problematischen Trennung von Zeichen und Bezeichnetem. Er vermutet in wissenschaftskritischer Haltung, dass »sobald die Tiefe der Begriffe erreicht ist, […] die Oberfläche der Dinge als ›bloß materiell‹ als unwichtig ausgeblendet werden« (Gumbrecht 2012: 194) kann. In Erweiterung oder Verunsicherung dieser eher den anfänglichen Diskurs zur Präsenz prägenden Argumentationsfiguren und wissenschaftskritischen Erkenntnislogiken haben Arbeiten unseres DFG-Graduiertenkollegs eine auch wissenschaftspolitisch pointierte Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen zum Ausgangspunkt eines präsenztheoretischen Denkens genommen (Engel/Paul 2017). So weist Kay Kirchmann auf das Zusammenspiel von »Sinn und Sinnlichkeit« (oder von Semiotik und Phänomenologie) (Kirchmann 2013: 80; Ernst/Paul 2013) hin, durch das sich weder »für eine sinnliche Aufdringlichkeit der Signifikanten in ihrer Materialität« (Kirchmann 2013: 81) entschieden, noch der Sinn dem Wahrgenommenen vorgeordnet wird. Wie etwas in Erscheinung tritt, präsent wird, lässt sich nunmehr auch wissenstheoretisch diskutieren. So handelt es sich bei der Diskussion um die Präsenz »nicht nur [um einen] […] repräsentationstheoretische[n] Sachver-
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halt, in dem die Frage im Vordergrund steht, ob und inwiefern Präsenz darstellbar ist, sondern [um einen] […] wissenstheoretische[n] Sachverhalt […], in dem es um die Frage geht, inwiefern Präsenz ein mit bestimmten Formen des Wissens verschränkter Zustand ist« (Ernst/Paul 2013: 10). Entsprechend dieser Fokussierung interessiert nun, welches implizite Wissen ein Phänomen konstituiert, d.h. welches Wissen etwas überhaupt erst als etwas präsent werden lässt. »Präsenz muss deshalb zugleich als Voraussetzung und als ein qualitativer Begriff zur Differenzierung […] [der] Realisierungsformen von implizitem Wissen angesehen werden« (Ernst/Paul 2013: 15). Dieser Zusammenhang von wissenstheoretischen Annahmen und der Beobachtbarkeit von Phänomenen eröffnet für artikulations-, materialitäts- und fremdheitsbezogene Diskussionen neue Perspektiven, wie im Folgenden gezeigt werden kann.
Präsenz und Artikulation Schärfen präsenztheoretische Überlegungen unseren Blick für das Zusammenspiel von Sinn und Sinnlichkeit, von Materie und (ihrer) symbolischen Zeichenhaftigkeit, können Artikulationsprozesse genauer klären, wie »– meist okkasionelle, manchmal planmäßige – Explikation menschlicher Erfahrung durch die Performanz von symbolischen Akten (in der Regel: von Sprechakten) [erfolgt, JE], in denen die implizit qualitative Gestalt gelebter Erfahrung in die explizit-semantische Gestalt eines prägnanten Symbolismus transformiert wird« (Jung 2009: 105). Es lässt sich somit weder allein welt-, noch subjektseitig festschreiben, wie (plötzlich) etwas als etwas erscheint, stattdessen entsteht bei der Konnektivität von beiden »Bedeutung […] durch die Bearbeitung des Impliziten (Gefühlten, Gedachten, Gewollten, Erinnerten…) mittels symbolischer Medien, die es erlauben, mentale Zustände zu individuieren, zu fixieren und kontrastiv zu bewerten« (Jung 2009: 105). Transformationsprozesse verstehen sich daher als Transformation der Relationen (Jörissen 2017) und begründen die Interdependenz von Präsenz und implizitem Wissen auch artikulationstheoretisch. »Historisch entstandene und veränderliche ›Prägnanzmuster‹ präformieren Muster sinnlicher Wahrnehmung. Sie bilden die ›Grammatiken der Sinneswelten‹, bestimmen also auf struktureller Ebene Welt- und Selbstsichten« (Jörissen 2015a: 10, im Anschluss an Schwemmer 2005). Wann und wie etwas sagbar, sichtbar oder lesbar wird, stellt sich daher nicht nur im »Zwischen« des Ausdrucksgeschehens dar, sondern jeder Ausdruck ist umgekehrt immer schon ein medial basierter Formbildungsprozess (Schwemmer 2005: 49ff.), der nur vor dem Hintergrund kulturgeschichtlich tradierter Wahrnehmungsweisen sowie damit verbundener Subjekt(kon-)figurationen gedeutet werden kann. Präsenzeffekte entstehen somit, wenn kulturelle Formen reflexiv zugänglich und somit transgressiv bearbeitbar werden. »Nicht-transgressive Artikulationsformen wären demgegenüber solche, bei denen ästhetische
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Prägnanzmuster und mediales Moment nach geltenden Konventionen affirmativ aufeinander bezogen sind. Sie positionieren sich nicht […] gegenüber den zitierten Prägnanzmustern« (Jörissen 2015a: 13). Präsenzeffekte sind sodann als Folge von transgressiven, d.h. einander wechselseitig überschreitenden Beziehungen von Materialität, Medialität und Ästhetik zu bestimmen, bei denen neue Propositionen auch jenseits präformierter sinnlicher Wahrnehmung entstehen. Die medien-, kultur- und theaterwissenschaftlichen Beiträge dieser Sektion widmen sich Präsenzeffekten entlang ganz unterschiedlicher medialer Bedingtheiten ihrer Artikulation.
Präsenz und Materialität In kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen zur Materialität von Kultur finden sich häufig Vorstellungen von »der Macht der Dinge« (Hahn 2015). Verfällt man in dieser Perspektivierung nicht einem naiven Materialismus, sondern versteht den »Eigensinn der Dinge« als »eine neue Bewertung der Dinge auf der Grundlage einer Reflexion über ihre Wahrnehmung« (Hahn 2015: 12), »führt [dies] unweigerlich zu einer De-Zentrierung des Ich« (Hahn 2015: 13), zu einer präsenztheoretischen Erkenntnislogik, die anthropozentrische Forschungszugänge zu überwinden vermag (Jörissen 2015b, Nohl 2017). Hierzu ist die »binäre Dichotomie zwischen Person und Ding« zugunsten eines »Geflechts fortlaufender sozialer Praktiken […], in dem die Dinge täglich mitmischen und darüber aktiv an Auf bau und Verwandlung menschlicher Verhältnisse beteiligt sind« (Hörning 2015: 164), zu verlassen (Latour 1996, 1998). Präsenzkulturen entstehen demnach in der spezifischen Qualität von Relationierungsmöglichkeiten, die ein Nebeneinander, ein Gegeneinander ebenso wie eine »vertraute wie befremdliche Ineinandergeschobenheit von Ich und Ding« (Böhme 2006: 98) hervorbringen. »Die Geste des Gebens erschöpft sich [eben, JE] nicht in der gegebenen Gabe, aber sie verkörpert sich in ihr, so dass diese immer auch etwas von der Person des Gebers enthält« (Böhme 2006: 98; siehe auch Mauss 1990). So wird, zumeist unbemerkt, nicht mehr der Mensch auf der einen Seite und die Welt auf der anderen Seite (machtvoll) positioniert (Jörissen/Meyer 2015, Jörissen 2015b, Nohl 2017), sondern »die Beziehung zwischen Menschen und Materie, sowie zwischen dem Subjektiven und dem Materiellen im posthumanistischen Sinne« (Sorensen 2015: 172) neu bedacht. Präsenzkulturen entfalten sich nicht länger subjekt- oder weltseitig und auch nicht in dem vielerorts proklamierten dazwischen, sondern von Hybridakteuren (Latour 1996, 1998) ausgehend. »Den Menschen als soziomaterielles Geschöpf zu konzeptualisieren, ist ein Versuch, ein Vokabular beizusteuern, das den Menschen nicht länger als getrennt von der materiellen Welt begreift, sondern als ›mittendrin‹« (Sorensen 2015: 172). In dieser Perspektivierung wird die präsenztheoretische
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Erkenntnislogik umgedreht und Präsenz zur Beschreibung von wechselseitigen Materialisierungen herangezogen, die untersuchbar machen, »wie es für den Menschen ist, sich in einem gegebenen Arrangement zu befinden, durch das er oder sie erst zu dem wird, was er oder sie ist« (Sorensen 2015: 172). Die Theorie einer Präsenzkultur geht hier der materialitätstheoretisch relevanten Frage nach, »wie Menschen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten, durch die jeweiligen soziomateriellen Konfigurationen, im jeweiligen Hier und Jetzt dahingehend geformt werden, auf spezifische Weise präsent zu sein« (Sorensen 2015: 173). Die Verkettungen zwischen Mensch und Ding können dabei alltäglich und gewohnt oder einmalig plötzlich erfolgen. Transformationen von Relationen ergeben sich etwa, wenn Dinge »den normalen Tauschverkehr« durchbrechen und »als Überdinge auftreten«, die einen »Überanspruch enthalten« (Waldenfels 2015: 79), weil sie »etwas als mehr als es selbst ist« (Waldenfels 2015: 77) zugänglich machen. Eine präsenztheoretische Perspektivierung sensibilisiert somit für die wechselseitige – und dabei gleichermaßen sinnhafte wie sinnliche – Materialisierung von Mensch-Ding-Relationierungen.
Präsenz und Fremdheit Wie erscheint etwas als Fremdes? Wie lässt sich die Erfahrung von etwas Fremdem präsenztheoretisch präzisieren? Zunächst kann festgehalten werden, dass sie konventionalisierten kulturellen Formen widerspricht. »Etwas zeigt sich als mehr und als anders, als es ist« (Waldenfels 2012: 9). Sie unterläuft also gewöhnliche, d.h. eingeübte Praxis- und Wahrnehmungsmuster, in denen »man sieht, was man zu kennen meint« (Waldenfels 2012: 297). Diesem Modus der Wahrnehmung ist die »relative Fremdheit« zuzuordnen, bei der »von einer Gesamtordnung aus, nämlich von der Annahme eines Kosmos, der mich selbst und die Anderen sowie alles Eigene und Fremde umfaßt« gedacht wird. Das Fremde wird auf diese Weise integriert.« Hierbei wird die bestehende Ordnung von der Präsenz des Fremden lediglich berührt, nicht aber infrage gestellt, sondern stattdessen wird das »Fremde […] dem Eigenen subordiniert […] [und] Fremdheit somit neutralisiert« (Waldenfels 2012: 297). Ihr lässt sich die »radikale Fremdheit« gegenüberstellen, die die Begrenztheit jedes Ordnungssystems, »das bestimmte Möglichkeiten auswählt und andere ausschließt«, bedenkt. Dabei kommt es auf neue Relationierungen von Vernunft, Subjekt und Intersubjektivität an. »Die [Neu- JE]Ordnung setzt eine extraordinäre Fremdheit frei. Ich selbst bin außer mir in Form einer ekstatischen Fremdheit. Die Anderen, die in ihrer Fernnähe die schattenhafte Gestalt von Doppelgängern annehmen, bescheren uns schließlich eine besondere Form von duplikativer Fremdheit« (Waldenfels 2012: 298). In dieser Erkenntnislogik ist das Fremde im Moment seiner Erscheinung weder außerhalb des Wahrnehmenden, noch losgelöst von
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dem Wahrgenommenen anzusiedeln. Seine Präsenz erklärt sich vielmehr als Zusammenspiel von Eigenem und Anderem in der Dimension der Fremdheit. Diese Dimension entsteht durch »eine Form des Entzugs. Es bekundet sich als etwas, das sich der eigenen oder der gemeinsamen Verfügung ebenso entzieht, wie den Rastern der jeweiligen Ordnung« (Waldenfels 2012: 298). Mit der Präsenz des Fremden verbinden sich allerdings neben diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen häufig auch machttheoretisch zu bearbeitende Relationierungen des Fremden im Eigenen und im Anderen, so etwa in Spivaks Text über die Unmöglichkeit des subalternen Sprechens. Hier macht sie erschreckend eindrücklich nachvollziehbar, wie die (Un-)Möglichkeit, Gehör zu finden, d.h. im Diskurs präsent zu werden, sich in anderer Gestalt zu artikulieren vermag. »Mit Sprechen habe ich natürlich eine Transaktion zwischen SprecherIn und HörerIn gemeint. Das ist es, was nicht stattgefunden hat, im Falle einer Frau, die im Moment des Todes ihren eigenen Körper aufgeboten hat, um die Einschreibung, eine Art Unterminierung (das Wort ist zu schwach) vorzunehmen […]. Sogar dieses unglaubliche Bemühen, zu sprechen, erfüllte sich nicht in einem Sprechakt« (Spivak 1988: 122, 123). Den Suizid einer Frau als ein weiteres Beispiel für subalterne Artikulationen zu verstehen, die selbst als tote Körper aufgrund »hegemonialer Repräsentationstechniken« (Gutiérrez Rodríguez 2003: 26) keinen Eingang in den Diskurs finden (können), weist auf die existentielle Dimension präsenztheoretischer Zugänge zur Fremdheit des Eigenen und Anderen hin. Das Andere als Fremdes präsenztheoretisch zu fokussieren und dabei eurozentristische Perspektiven zu überwinden stellt neue Erkenntnispotentiale zum Zusammenspiel von Materialisierung und Zeichenhaftigkeit in Aussicht (Go 2016, Loomba 2005, Butler 2015, Dhawan 2014, Stam/Shohat 2012).
Über die Beiträge dieser Sektion Lorenz Engell eröffnet mit seinem medienanthropologischen Beitrag »Vermittlung und Anwesenheit. Wo ist der Mensch?« die Diskussion über Präsenz und Artikulation. Hierzu entwirft er ein anthropisches Prinzip der Kosmologie, das an Film- und Fernsehbeispielen erprobt wird und in eine medienphilosophische Heuristik mündet, die präsenztheoretische Zugänge auf anthropomediale Relationierungen fokussiert. Elke Möller diskutiert in ihrem Beitrag »Konfiguration und Präsenz. Essayistische Filmästhetik und die Unverfügbarkeit von Erinnerung in Rithy Panhs L’Image manquante« Grenzverhältnisse von Repräsentation und Präsentifikation von Vergangenheit und traumatischem Erleben. Am Beispiel von Rithy Panhs L’Image manquante erarbeitet sie implizit-körperliche Dimensionierungen traumatischer Erinnerung; Möller diskutiert hierbei epistemische wie ästhetische Prozesse der Filmproduktion und Rezeption im Horizont essayistischer Erkenntnisprinzipien.Die (Un-)Sicht-
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barkeit von Körpern im Theater sensibilisiert Diskurse zur Präsenz und Artikulation für das Spiel mit konventionalisierten Praktiken des Blickens, sowie für präsenzästhetische Fragestellungen in einer performativitätstheoretischen Grundlegung. Am Beispiel der Inszenierung Tales of the Bodiless von Eszter Salamon und Bojana Cvejic bearbeitet Isa Wortelkamp nicht nur die aktuell zur Disposition stehende körperliche Anwesenheit von Darstellenden und Zuschauenden im Theater, sondern entwickelt theater- und tanztheoretische Ansätze zu einer Ästhetik der Abwesenheit. Hans Ulrich Recks Aufsatz sieht die Kunst des 20. Jahrhunderts als Ort, an dem rituell-kollektive und prononciert pathetische Ekstasetechniken studiert und praktiziert werden. Den damit verbundenen Formen der Appropriation, Distanzierung und Transformation geht sein Essay nach. Beim Zusammenspiel von Präsenz und Materialität stellen sich Fragen der Unmittelbarkeit in einer kultursoziologischen Perspektivierung als Konnektivitäten (Barad 2012), Verwicklungen (Rieger-Ladich 2017) oder Verschmelzungen (Stieve 2013) von Menschen und Dingen. Nicole Wiedenmann bietet in ihrem Aufsatz eine differenzierte Erarbeitung des Fetisch-Begriffs bezogen auf eine Funktionsgeschichte und deren changierenden Semantiken. In dem Thriller One Hour Photo (2002) und seiner In-Szene-Setzung der Fotografie werden sodann unterschiedliche Formen und Funktionen identifiziert, die letztlich das Medium der Fotografie selbst zum Fetisch werden lassen. Aida Bosch beschäftigt in ihrem Beitrag »Das Rätsel der Unmittelbarkeit. Zur Konstitution von Präsenzerfahrungen« die Frage nach der Präsenz von Kunstwerken und ihrer Macht zur – von der Autorin wahrnehmungstheoretisch bestimmten – Grenzüberschreitung. Die Diskussion über Präsenz und Fremdheit eröffnet Florian Tatschner. In seinem Beitrag schlägt er im Anschluss an Walter Mignolos (2012) dekolonialer Kritik des westlichen Denkens vor, »sich der Herausforderung Phänomene des Fremden nicht bloß als diskursive Rahmung«, sondern entlang der fünf Bereiche Transnationalismus, Fremdheit, Präsenz, Ästhetik und Literatur anzunähern. Einen repräsentationskritischen Ansatz wählt Carmen Brosig in der Analyse politischer Poster des American Indian Movement und dessen Strategie, die Erfahrungen des Vietnamkrieges mit dem Protest gegen neo-koloniale Unterdrückung in den USA zu verbinden. Die Ästhetisierung der Verbindung oder auch Überblendung macht das »fremde« und weit entfernte Vietnam zu einem Teil der nationalen Geschichte des US-amerikanischen Empire.
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Präsenz und Artikulation V ermit tlung und A nwesenheit : W o ist der M ensch ? E ine medienanthropologische Ü berlegung Lorenz Engell Die folgende Skizze zielt auf deutlich weniger und auch fundamental anderes als das, was wir wohl traditionell mit Max Scheler (2007 [1928]) die »Stellung des Menschen im Kosmos« genannt hätten – trotzdem wäre die bloße Formulierung des Themas auch hier einschlägig. Die gewiss unzeitgemäße, alteuropäisch anmutende Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos möchte ich einerseits streng begrenzen, nämlich wörtlich nehmen, also buchstäblich auf das Universum, auf den Weltraum und den Raum der Welt beziehen, mit dem Menschen eben dort, beide als Relationen einander hervortreibend. Andererseits werde ich sie erweitern, nämlich indem ich eine dritte Größe hinzuziehe, diejenige des Mediums. So lässt sich die »Stellung des Menschen im Kosmos« medientheoretisch wenden, und mit einem Begriff von Christiane Voß (2010) als Frage nach der »Anthropomedialität« neu formulieren. Die Skizze umfasst vier Teile. Dies sind erstens eine Einleitung, die mein theoretisches Leitkonzept vorstellt und entfaltet, nämlich das sog. »anthropische Prinzip« der Kosmologie, das ich zu einem »med-anthropischen Prinzip« erweitern möchte. Dies werde ich dann in einem zweiten Teil anhand zweier Medien-Beispiele erproben, und zwar aus dem Bereich des Films, und in einem dritten Teil erweitern anhand eines weiteren Beispiels aus dem Bereich des Fernsehens, das ja der Raumfahrt besonders verschrieben und verschränkt ist. Im vierten und letzten Teil sollen dann drei mögliche Perspektiven auf das »anthropische Prinzip« als medienphilosophische Heuristik eröffnet werden.
1. Die Anwesenheit von etwas an einem Ort ist nichts irgendwie Selbstverständliches. Das dort Anwesende, das »Da« Seiende ist ja nicht einfach so anwesend, schlicht seiend, es ist auch nicht voraussetzungslos und kontextfrei gegeben,
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mindestens nach medienphilosophischer Überzeugung. Es ist dorthin, wo es ist, vielmehr gelangt, dorthin zum Beispiel verbracht worden, dort aufgerufen worden (»called into being«) im Sinne des Hervorrufens, oder dort versammelt, zusammengekommen oder zusammengebracht worden in der Art des Herstellens oder der Verfertigung, der Techné, der Poiesis oder auch der Fiktion. Medienphilosophisch würden wir deshalb auch nicht mehr klassisch ontologisch fragen: Was ist dieses oder jenes, sondern eher: Wo ist etwas, und wie ist es dorthin gelangt, durch welche Medien und medialen Operationen? Denn die Art zu sein, die ein spezielles Etwas auszeichnet, der mode d’existence, hängt, immer nach medienphilosophischer Überzeugung, mit der Art zusammen, nach der das Verfahren funktioniert, durch das dieses Etwas in die Welt gelangt ist, dahin, wo es nun ist; kurz: Mit den instrumentellen und medialen Operationen, die es dorthin geholt oder dort zusammengerufen oder zusammengesetzt haben.1 Und dies nun können wir leicht auch anthropologisch wenden. Nicht umsonst haben wir vorhin die Wendung Da-Sein benutzt, denn das Wort Dasein verwendet Martin Heidegger (1979: 134-166), um die spezifische Art der menschlichen Anwesenheit nicht nur an einem Ort, sondern in der Welt überhaupt zu bezeichnen. Dasein oder auch Existenz ist nach Heidegger die Art, in der wir als Menschen in der Welt sind. Die medienanthropologische Leitfrage ist daher nicht mehr, wie bei Immanuel Kant und vielen anderen, »Was ist der Mensch?«, sondern: »Wo ist der Mensch?«, wie ist er dort, und wie ist er dorthin gelangt oder dort zu Stande gekommen. Dies ist natürlich immer noch eine metaphysische Frage. Wenn wir versuchen, diese Frage auf eine physische Dimension umzustellen oder zurückzubeziehen, dann könnte sie auch gefasst werden als eine Frage der wissenschaftlichen Anthropologie: nach der Anwesenheit, der Position oder der Stellung des Menschen in seinem Habitat und nach der Art und Weise, wie diese Anwesenheit zu Stande gekommen ist. Die Anthropologie würde bei dieser Frage immer zunächst ökologisch denken, also nach dem natürlichen, dem biologischen Habitat des Menschen fragen und den Menschen damit naturalisieren. Medienwissenschaftlich gesehen jedoch denken wir weniger an die Ökosphäre als an die Mediasphäre (Debray 1991), an das mediale Habitat als Lebensumwelt des Menschen. Und technikphilosophisch wäre selbstverständlich immer die technische Umwelt, die Technosphäre (Rapp 1978: 141) als das Habitat des Menschen, als der Ort, an dem er anwesend, gegenwärtig ist, zu 1 | Dies gilt nicht nur für immaterielle Produktion, etwa von Gedanken, für die nach Friedrich Nietzsche gilt, dass unser Schreibzeug an ihnen mitarbeitet, sondern auch für ästhetisches Produzieren, so paradigmatisch Dieter Mersch (2010) sowie Etienne Souriau (2012: 204ff., 212), und daran anschließend für alle, auch z.B. technische, Poiesis überhaupt.
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denken. Entsprechend gibt es auch ein semiosphärisches Habitat (Lotman 1990) als Welt des Sinns, in dem der Mensch sich bewegt usw. Natürlich haben wir auch dann, wenn wir von der klassischen Frage danach, was denn der Mensch sei, übergehen auf die Frage danach, wo der Mensch sei und wie er dorthin gekommen sei, noch keineswegs automatisch von einer anthropozentrischen, den Menschen immer schon zentral stellenden und privilegierenden Perspektive umgestellt auf eine symmetrische, nicht-anthropozentrische Anthropologie. Immer noch sind auch die Habitate, die diversen Sphären, eben sphärisch gedacht und um den Menschen herum gebaut. Sie sind eigentlich noch vor-kopernikanisch gedacht, als eine Welt mit dem Menschen als Mittelpunkt. Diese Erweiterung auf eine kosmische Dimension, in der der Mensch seinem Habitat und dieses wiederum – die Erde beispielsweise – dem Kosmos zentral innewohnt, ist dabei recht naheliegend. Das Umfassendste aller denkbaren Habitate nämlich und dasjenige, das alle anderen, Natur oder Ökosphäre, Technosphäre, Semiosphäre und Mediasphäre mit umgreift, ist selbstverständlich – das Universum, der Kosmos. Der Kosmos ist das Habitat des Habitats des Menschen. Das ist der Grund dafür, dass sich die folgenden Überlegungen für das interessieren, was man traditionell eben die Stellung des Menschen im Kosmos genannt hat. Die Spezifika des Menschseins, so die Idee, hängen mit dieser Stellung im Kosmos des Menschen zusammen, die wiederum nicht nur naturgesetzlich bestimmt ist, etwa durch die Schwerkraft, sondern auch aufgrund beschreibbarer Operationen der Vermittlung, etwa der Verbringung oder Zusammenstellung, zu Stande kommt. Welches ist also die Stellung des Menschen im Kosmos, so die nachfolgende Frage, und wie kommt sie zu Stande? Auf der Suche nach der Antwort zu dieser Frage habe ich mich an die Kosmologie gewandt und bin dort auf eine verblüffende und hoch umstrittene Überlegung gestoßen, nämlich auf das sogenannte »anthropische Prinzip«. Dieses Prinzip wurde zuerst 1974 von dem Astronomen Brandon Carter formuliert, dann in den 1970er Jahren kontrovers diskutiert und 1986 von John Barrow und Frank Tipler in einer breiteren Form entfaltet (Carter 1974; Carr/ Rees 1979; Barrow/Tipler 1986). Es ist bis heute umstritten und sogar weitgehend marginalisiert. In der Philosophie jedoch wurde es erst vor kurzem wieder aufgenommen, wenn auch nur sehr kursorisch bis metaphorisch, nämlich von Wolfgang Welsch in seinen zwei Bänden zur Symmetrischen Anthropologie, in denen er das »anthropische Prinzip« bzw. die von ihm so apostrophierte »anthropische Denkform« als dasjenige aufruft, was alle Anthropologie, ja alle Philosophie heimlich durchwalte und durchziehe, und was es unbedingt zu überwinden gelte, nämlich den hartnäckigsten Anthropozentrismus, das Prinzip von der im Grunde immer noch vor-kopernikanischen, also vor-neuzeitlichen Zentralstellung des Menschen sei es im Kosmos, sei es in seinen
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Habitaten, sei es in der Welt überhaupt (Welsch 2012a: 13-31, 367-545 et passim; Welsch 2012b: 10-27). Gegen diese an sich recht breit entfaltete und überzeugend begründete Argumentation bei Wolfgang Welsch, auf die im Detail einzugehen einen eigenen Aufsatz erforderte, möchte ich dennoch im Folgenden das anthropische Prinzip und die anthropische Denkform noch einmal einer Revision und Neubewertung unterziehen. Dabei sind zunächst die zwei inneren Inkonsistenzen zu berücksichtigen, die Welsch dem anthropischen Prinzip entgegenhält. Die erste sieht er darin, dass die Beschränkung der Welt auf das, was dem Menschen und von seiner Position aus erkennbar sei, nur erkennbar sei, wenn sie nicht zutreffe bzw. wenn der Mensch seine Position verlassen und einen Gottesblick einnehmen könne (Welsch 2012a: 27ff.; Welsch 2012b: 25f.). Wir werden unten jedoch feststellen, dass diese Paradoxie mindestens technologisch auflösbar ist. Die zweite Inkonsistenz, die Welsch ausmacht, basiert auf einer unausgesprochenen Gegenannahme zur oben aufgeführten medientheoretischen Grundposition: Die Bedingungen des Erkennens – etwa seine Werkzeugabhängigkeit – hätten keinen Einfluss auf das Erkannte selbst (Welsch 2012a: 27ff.; Welsch 2012b: 25f.). Sodann jedoch lässt Welsch die kosmologisch-physikalische Begründung des anthropischen Prinzips völlig außer Betracht. Es wird sich jedoch im Lichte eben dieser Begründung dabei gleich zeigen, dass das anthropische Prinzip in der Tat zu einem Teil im Sinne einer unüberwindlichen Zentralstellung des Menschen im Kosmos gelesen werden kann und insofern tatsächlich anti-kopernikanisch verfasst ist (Barrow/Tipler 1986: 16-19). Zu einem anderen Teil aber gilt dies auch genau nicht. Es lässt überdies aber auch andere, noch viel problematischere Lesarten zu. Und es kann schließlich, das ist das Ziel meiner Argumentation, seiner Medienvergessenheit entrissen werden, also um die Frage nach der Vermittlung und Vermitteltheit, nach dem Zustandekommen der Stellung des Menschen und den Mitteln und Medien und Operationen dieses Zustandekommens erweitert werden, und dann scheint es mir eine interessante Verschiebung zu ermöglichen, die die Frage nach dem Anthropozentrismus plötzlich in ein anderes Licht rücken könnte und helfen kann, das zu konturieren, was ich hier mit einem Begriff von Christiane Voß (2010, 2013) schließlich als »Anthropomedialität« oder als »anthropomediale Relation« belegen möchte. Was also besagt nun endlich das »anthropische Prinzip«? Wie wir wissen, ist die Entstehung des Menschen im kosmischen Maßstab ein extrem unwahrscheinliches Vorkommnis, so unwahrscheinlich, dass es nur mit sehr speziellen mathematischen Verfahren überhaupt berechenbar ist, und genau damit hat sich der Urheber des anthropischen Prinzips, Brandon Carter (1974), ursprünglich befasst, mit Large Number Coincidences nämlich, also Zufall in großen Zahlenmengen (Barrow/Tipler 1986: 291). Wenn also das Aufkommen des Menschen im Kosmos derart unwahrscheinlich ist, wieso konnte es dennoch
Vermittlung und Anwesenheit: Wo ist der Mensch?
dazu kommen? Was hat den Menschen gegen jeden extrem unwahrscheinlichen Zufall dennoch in den Kosmos und in das Leben gerufen? Antwort: Es war das anthropische Prinzip der Kosmologie. Jede Beschreibung des Kosmos muss, so das anthropische Prinzip, im Kosmos einen Ort vorsehen, an dem derjenige sich befindet, der den Kosmos beschreibt (Barrow/Tipler 1986: 15ff.). Da der Kosmos, das Universum, ein Gesamthabitat ohne Außen ist – sonst wäre er nicht allumfassend und mithin nicht der Kosmos, nicht das Universum; da er also nicht von außen beschrieben werden kann, sondern nur von innen, gilt: Der beschriebene – oder berechnete, oder beobachtete – Kosmos muss also so beschrieben, beobachtet und berechnet werden, dass er einen Ort bereit hält, an dem derjenige möglich ist, der den Kosmos beschreibt, beobachtet oder berechnet (Barrow/Tipler 1986: 16). Der Mensch – kosmologisch berechnet als numerisches Ereignis im Zahlenraum möglicher Vorkommnisse – ist also einerseits marginal, weil fast unberechenbar unwahrscheinlich, andererseits als kosmologisch berechnender unabdingbar und wenn nicht räumlich, so doch logisch und existenzlogisch zentral für sein eigenes Habitat, den Kosmos. Die verschiedenen Grade und Arten dieser Unabdingbarkeit haben allerdings zu scharfen Kontroversen zwischen den verschiedenen Vertretern des anthropischen Prinzips geführt. Es unterscheiden sich z.B. zwei Schulen voneinander, deren eine davon ausgeht, dass zwingend lediglich die Möglichkeit eines Habitats für den Menschen im Kosmos, also einer für uns lebbaren Ökosphäre oder Biosphäre, sei (Barrow/ Tipler 1986: 510-576). Der Kosmos dürfe die Möglichkeit menschlichen Lebens nur nicht ausschließen, das ist das sog. schwache anthropische Prinzip. Andere dagegen meinen, es müsse tatsächlich zwingend ein menschliches Habitat im Kosmos geben, das ist die starke Version des anthropischen Prinzips (Barrow/Tipler 1986: 16ff., 290f., 305-318 et passim zum schwachen anthropischen Prinzip; Barrow/Tipler 1986: 21f., 248 et passim zum starken anthropischen Prinzip). In jedem Fall geht es also darum, dass der Kosmos beobachtet, beschrieben oder berechnet werden kann, wenigstens ansatzweise und in Teilen. Der Kosmos ist für humane Wesen intelligibel, und deshalb müssen Menschen möglich sein. Was aber, wenn der Kosmos, um überhaupt zu sein, intelligibel sein muss? Dann macht er sich durch die Ermöglichung des Menschen selber möglich. Dann ginge es dem Kosmos, indem er den Menschen einrichtet, darum, selber als Kosmos sein zu können. Man könnte sagen, der trickreiche Kosmos ruft, um selber ins Sein zu treten, den Menschen hervor. Dann wäre der Kosmos nicht nur intelligibel, sondern intelligent: »There exists one possible Universe ›designed‹ with the goal of generating and sustaining ›observers‹ […]. Observers are necessary to bring the Universe into being« (Barrow/Tipler 1986: 22).
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Die Vertreter des anthropischen Prinzips haben deshalb alle Mühe, sich gegen eine andere, noch viel umstrittenere und vor allem politisch folgenreiche kosmologische These abzusetzen, nämlich gegen diejenige des Intelligent Designs oder gar, als verschärfte Form, diejenige des Kreationismus. Denn wenn das Universum so beschaffen sein MUSS, dass es einen Platz für den Menschen bereit hält, und sei er noch so unwahrscheinlich, dann steckt dahinter unleugbar, so die Vertreter dieser Ansätze, eine schöpferische und zielorientierte Intelligenz, die dafür sorgt, dass im Zuge der kosmischen Evolution das äußerste an Unwahrscheinlichkeit, der Auftritt des Menschen, dennoch geschieht – denn dies ist die Bedingung der Möglichkeit des Kosmos. Diese Intelligenz kann im Universum verteilt sein und den Kräften der Natur innewohnen, so wie das die Materie selbst transzendierende Leben der Materie – oder sie kann einem ebenfalls transzendenten Schöpfergott zugeschrieben werden. Mit den bekannten, zutiefst irrationalen und zumindest problematischen politischen und ideologischen Konsequenzen.
2. Demgegenüber möchte ich das anthropische Prinzip im Folgenden in einer anderen Richtung erweitern, nicht in überschreitender, transzendierender Weise hin auf einen Schöpfergott, sondern im Gegenteil, ganz materiell, immanent und immanentistisch. Denn, wir kommen zurück auf Vermittlung und Gegenwart, das Universum besteht ja keinesfalls kraft des Menschen allein, einfach so, ex nihilo. Um den Kosmos zu beobachten oder irgendwie festzustellen, benötigt auch der Mensch vielmehr Vermittlungsoperationen, denen er folglich den Kosmos, seinen Ort darin und mithin seine Existenz, zumindest mit verdankt. Das können magische und rituelle Praktiken sein, religiöse Zeremonien, die wiederum mit allerlei Kultobjekten, markierten Räumen, Körperpraktiken usw. verbunden sind als ihre Medien. In der eurozentrischen Moderne aber sind es vor allem die Techniken und Apparaturen der Beobachtung, Beschreibung und Berechnung (Descola 2010). Was geschieht, wenn wir die Mitwirkung der Techniken am anthropischen Prozess mit einbeziehen? Interessanterweise scheint mir zur Verfolgung dieses Gedankens insbesondere ein Medium aufschlussreich zu sein, das gerade gar nicht in erster Linie ein Medium der Wissenschaft und der Forschung ist, sondern eines der Fiktion und der Illusion. Dieses Medium ist der Film. Wir verlassen damit vorübergehend das Universum und die kosmische Dimension, nicht aber die Dimension der Welt und des Habitats. Dass es nämlich in Fiktionen und auf besondere Weise in Filmen die Illusion von Welt, um ein fiktives Habitat und um die immersive Eingelassenheit darin geht, das wird schon bei Edgar Morin (1958) in seiner Rede vom »imaginären Menschen des Kinos« so gesehen. Später wird dieser Gedanke dann auch in der neueren Filmtheorie, besonders
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in der Film-Phänomenologie breit entfaltet; Elsaesser und Hagener (2011) etwa haben das in ihrer Einführung in die Filmtheorie sehr herausgestellt (Sobchak 1992, 2004). Dass es beim Film um Weltentwürfe geht, um Weltenbau, das ist von Stanley Cavell (1995: 23ff., 101-107) bis Gilles Deleuze (1990: 224) und Joseph Früchtl (2013) ein in der Philosophie häufig anzutreffender Gedanke. »Der Film«, schreibt beispielsweise Deleuze (1990: 224), »schafft Bilder und umgibt sie mit einer Welt«. Aber schon traditionell ist der Begriff der »diegetischen Welt« ein nützlicher und verbreiteter Analysebegriff gewesen. Der charakteristische ontologische Grundzug dieser vom Film geschaffenen Welt nun ist, so schreibt Stanley Cavell (1995: 126-133), dem ich hierin folgen möchte, dass sie erstens eine sequenzialisierte Welt ist, die also immer nur in Ausschnitten präsent ist, aber dennoch in einer zeitlichen Abfolge vollkommen ganzheitlich werden kann; dass sie zweitens eine technisch hervorgebrachte, also eine medial aufgerufene Welt ist, und dass sie drittens immer eine vor Augen geführte, eine vor – menschlichen – Betrachtern projizierte und von ihnen gesehene Welt ist, »A World Viewed«, wie Cavell (1995: 126-133) formuliert. Die vom Film projizierte Welt ist nicht nur sichtbar, sie ist immer schon gesehen, genau wie der Kosmos, der ja auch nur als immer schon beobachteter, berechneter möglich ist. Zugleich nimmt in ihr die Tatsache, dass sie eine verfertigte, gemachte, eine in unserem Sinne vermittelte, also eine mediale Welt ist, ebenfalls eine zentrale Funktion ein. Wie verhält sich nun im Fall des Films die Abhängigkeit der Welt von der menschlichen Betrachtung mit der technischen Vermitteltheit dieser Welt? Anders gefragt: Wie verhält sich der Film zum anthropischen Prinzip, gibt es ein dem kosmologischen entsprechendes anthropisches Prinzip des Films? Glücklicherweise brauchen wir nicht auf die Theorie zu warten, um diese Frage, wenn nicht beantwortet, so doch behandelt zu sehen. Das hat nämlich schon der Film selbst geleistet. Wir beziehen uns beispielhaft auf den berühmten Schluss von Michelangelo Antonionis Film L’eclisse aus dem Jahr 1962 (Christen 2001; Glasenapp 2012). Es handelt sich in dieser Passage um eine Anreihung immer schon gesehener Bilder einer Cavellschen gesehenen Welt: erst wird, durch die ersten Einstellungen, in denen wir erst ihr Gesicht durch das Gitter hindurch anschauen und dann mit ihr über ihre Schulter hinweg blicken, die Figur der Vittoria als Betrachterin des gezeigten unterstellt. Dann werden, abgelöst von ihrem Blick, andere Bilder gezeigt, bei denen es sich aber um solche handelt, die Vittoria früher schon einmal gesehen hat, und die in früheren Passagen des Films schon einmal als eingefügte Gegenschüsse zu ihrem Blick vorgekommen sind; also ebenfalls als bereits doppelt, nämlich von uns und von Vittoria gesehene Bilder fungieren. Dann kommen solche, die keine Figur aus dem Film schon einmal gesehen hat, sondern ›nur‹ wir. Sie werden dennoch als bereits betrachtete Bilder, als Projektionen einer gesehenen Welt, ausgewiesen, z.B. durch die Großaufnahmen, aber auch durch die
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Entleerung mancher Bilder und auch durch ihre Unverbundenheit, die einen kohärenten Blick mit einem zusammenhängenden Blicksubjekt unwahrscheinlich macht. Dann kommen weiterhin Bilder, die gesehen worden sein könnten durch andere Figuren, durch die Passanten und Wartenden z.B., aber die Blickrichtungen und Aufmerksamkeiten stimmen nicht (es erfolgen keine Reaktionen auf das Gesehene, kein Zurückschneiden auf die Blicke findet statt). Schließlich mischen sich mehr und mehr Bilder dazwischen, die wir ebenfalls, aufgrund derselben Merkmale und aufgrund der schlichten Anreihung mit den schon bekannten Bildern, als bereits gesehene Bilder annehmen und unterstellen, die aber tatsächlich zum ersten Mal im Film auftauchen und für die es auch keine möglicherweise zu unterstellenden menschlichen Betrachterfiguren mehr gibt. Dennoch präsentieren auch sie eine – aber von wem? – gesehene Welt. Es findet also eine Verlagerung der Beobachterfunktion von den Menschen weg auf eine unsichtbare andere Instanz statt, aber die Frage ist, worum es sich bei dieser nicht-humanen Instanz handelt. Es könnte z.B. die Kamera sein, oder gar das Bild selber, der Film als Quasi-Blicksubjekt. Nicht wir schauten dann, sondern die Bilder. Es findet also eine Verlagerung vom empirischen Sehen (oder Betrachten oder Beobachten), z.B. konkreter Objekte durch empirische menschliche Subjektfiguren hin zur Sichtbarkeit, zur Erblickbarkeit der Welt überhaupt und den Bedingungen ihrer Möglichkeit statt. Hier vertritt der Film gleichsam eine schwache anthropische These: der Film als Habitat, das die Welt ermöglicht. Zugleich mit diesem Abzug der anthropischen Funktion von der Figur des Menschen durch die Verschiebung, die Delegation der Funktion der Beobachtung oder der Sichtbarmachung an das Medium, findet natürlich umgekehrt auch eine Anthropomorphisierung der Kamera bzw. des Bildes statt. Dies ist vermutlich, wie oft festgestellt wurde, zuletzt von Jane Bennett, der zu entrichtende Preis jeglicher Anthropo-Dezentrierung (Bennett 2010: 194ff.). Das Thema der Immersion, der Interaktion oder Inter-Operation zwischen physikalischen Bedingungen des Habitats (nämlich hier konkret: dem Licht) einerseits und der Apparatur der Betrachtung (nämlich der Kamera oder dem Filmbild) andererseits ist dabei durch das Thema der Sonnenfinsternis, das uns auf die kosmische Dimension unserer Lebensbedingungen hinweist, deutlich hervorgestellt, die Welt, die der Film erschließt, erscheint als LichtBild. Zugleich wird auch, und zwar in globaler, ja erneut kosmischer Perspektive, das Thema auch der Künstlichkeit, der Fragilität und der Bedrohtheit des Habitats (Atomkrieg) eingezogen: Wir sehen die Vision eines Universums, in dem der menschliche Beobachter ausfällt und das sich, vermittelt durch technische Apparaturen wie künstliches Licht und kinematographische Apparatur, selbst sichtbar wird: eine Welt ohne Mensch.
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Eine aufschlussreiche Alternative dazu finde ich in einem anderen Fehlschluss: in Somewhere von Sofia Coppola. Stark abgekürzt geht es auch hier um die Erfassung eines Universums, und um den Ort, von dem aus diese Erfassung erfolgt. Das Habitat in diesem Fall ist L.A. als Lebensraum, v.a. aber als Bedingung der Filmindustrie, um die es in diesem Film ja auch geht; die Fahrt führt dann auch an das Ende, den Rand des Habitats, wir sehen nicht, was dahinter liegt: die unbewohnbare, unbehauste Weite der Welt, das Universum eben. Hier aber geht es nicht um die Beobachtung der Welt, sondern ihre Erfahrung, hier in Form der Bewegung durch die Welt hindurch. Die Kamera wird hier Teil des Bildraums, den sie selber durchmisst; das ist das Charakteristische und Faszinierende an Fahrten in die Tiefe des Bildes. Unterstützt wird dieser Effekt durch das Auto vor uns, das die gezeigte Welt ebenfalls durchmisst, in nahezu konstantem Abstand vor uns. Das Auto als Analogon zur Kamera oder als Objekt, an das die Funktion der Kamera bei der Erfahrung der durchmessenen Welt delegiert wurde, ist ebenfalls fast kanonisch (Pantenburg 2010). Das Auto ist zugleich Bildobjekt, also Teil der Welt, und Verlängerung der Kamera in das Bild und in das von ihm durchmessene Universum. Durch die Fahrt selber ist die Kamera direkt, unmittelbar in das Bild impliziert; und durch das Auto wird diese Implikation mit einem Objekt besetzt. Einerseits ist das ein extrem zentriertes Bild, insofern als es erstens ein zentral stabil in der Bildmitte bleibendes Objekt gibt und zweitens sich die Blick- und die Bewegungsachse überlagern. Andererseits wird das mit dem Auto besetzte Bildzentrum selbst unausgesetzt disloziert, und die sparsamen, aber als jump cuts effektvollen Schnitte unterstützen wiederum diesen dislozierenden Effekt. Es ginge insgesamt hier also um eine Anthropie, die nicht, wie diejenige des Blicks oder der Berechnung, irrtümlich als reine, abstrakte und körperlose Relation modellierbar erscheint, sondern immer als Operation oder gar als Handlung bestehen bleibt. Position und Funktion des Anthropischen wären dann durch seine Mobilität und Motilität bestimmt, durch Gestik eher als durch Visualität. Nicht so sehr Beobachtungstechniken, sondern Fahr- und Bewegungszeuge, auch z.B. die Kamera als bewegliche, wären dann Objekte, die im Zusammenspiel mit dem Menschen, diesem einen – nunmehr beweglichen – Ort im Universum zuwiesen. Gegen Ende erreicht die Fahrt den Rand der bewohnbaren, mindestens der bewohnten Welt, also des Habitats, und rückt das Auto aus der Bildmitte heraus. Die Bewegung des Bewegungswerkzeugs endet, die Kamera bleibt stehen, und Blick- und Bewegungsachse lösen sich wieder voneinander. Die anthropische Funktion wird wieder auf die Figur eines empirischen Menschen rezentriert. Dann jedoch nimmt die Kamera ganz am Schluss ihre Fahrt wieder auf, nur umgekehrt: Sie sieht auf den beweglichen Ort des Sehens, nämlich hier das menschliche Gesicht, bewegt sich aber dabei selbst, und zwar rückwärts in das Unbekannte hinein, in den Außenraum des Bildes und erschließt damit
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das, was auf die Figur zukommt, sie zeigt es an ohne es aber darzustellen. Als Bewegungswerkzeug bleibt sie damit an der anthropischen Erschließungsfunktion beteiligt, bleibt gerade als unsichtbare Teil des ebenfalls unsichtbaren Erschlossenen und zugleich in das Erschlossene wie in die Erschließung impliziert.
3. Ob wir das Universum als Zahlenraum – wie in den Berechnungen des anthropischen Prinzips, als Beobachtungsraum oder als Bewegungsraum wie im Film nehmen, die Grundüberlegungen des anthropischen Prinzips bleiben jeweils intakt: die gesehene Welt muss einen Ort bereithalten, an dem derjenige sich aufhalten kann, der die Welt sieht; normalerweise ist das eine menschliche Figur oder der Zuschauer. Aber es kann eben, wie bei Antonioni und bei Coppola, auch die Kamera sein oder ein die Kamera metonymisch vertretendes Objekt, oder gar eine Instanz wie ›der Film‹, wie in Antonionis L’eclisse. Damit haben wir eine Bestätigung des anthropischen Prinzips und auch seiner Fokussierung und Zentrierung auf ›den Menschen‹ einerseits, und eine Verschiebung dieses Fokus vom Menschen weg auf die Instrumente der Beobachtung und Bewegung und auf die technisch-ästhetischen Medien, genauer: das Medium des Films, andererseits. Der Film kann die Welt nur beobachten (und uns dann an dieser Beobachtung teilhaben lassen), wenn diese Welt einen Ort für das Auftreten und Eintreten des Films wie implizit und unwahrscheinlich auch immer bereithält. Ein Technotopos setzt sich an die Stelle des anthropischen Habitats; genauer: wir erleben eine gesehene Welt, wie sie dabei ist, ihren anthropischen Fokus von uns selbst weg auf einen technischen Beobachter, Berechner usw. zu verschieben. In die Sache des anthropischen Prinzips kommt also Bewegung. Dies alles gilt natürlich zunächst nur im Illusions- und Fiktionsraum des Films bzw. des Kinos. Etwas näher an die Stellung des Menschen im Kosmos unter den Bedingungen technischer Medien kommen wir, wenn wir das Fernsehen betrachten. Denn noch immer gilt, dass das Fernsehen in ganz anderer Weise in den Beobachtungsalltag und die Beobachtungspraktiken menschlichen Daseins eingelassen ist; es ist ein disperses, verstreutes, in sich multiples Medium, das allem, was es zeigt, den Index dessen verleiht, was es nicht zeigt. Fernsehen, so wurde schon oft festgestellt, etwa von Neil Postman (1985: 98, 193ff.), ist das, was als nächstes kommt; es ist zudem das, was anderswo – nämlich auf dem anderen Kanal oder den anderen Kanälen – läuft, und es ist schließlich das, was die anderen sehen (Engell 2004). Es zieht einerseits als kleinformatiges Bild in kleinformatige intime Räume ein und verbreitet dort Rhythmus und Routine, organisiert das Leben in Reihen und Serien, die es dann wieder durch instantane Meldungen, besonders durch Katastrophen,
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unterbricht. Es vermag andererseits große Menschenmengen auf öffentlichen Plätzen ereignisförmig in seinen Bann zu schlagen, und drittens geht seine Reichweite so weit wie das Habitat des Menschen. Das Fernsehen ist mit dem anthropischen Ort auf das engste verstrickt, es bildet im wahrsten Sinne eine Mediasphäre aus, die sich mit den Satellitensystemen in die Atmosphäre einträgt, und mit Kabeln und Masten die gesamte bewohnbare und unbewohnbare Erde als Infrastruktur umfasst und einfasst, eingeschlossen die Ozeane (Debray 1991). Dabei sind seine Kameras ubiquitär, sie können jeden anthropischen Ort auf jeden anderen projizieren und so die Anthroposphäre auf sich selbst abbilden und in sich selbst sichtbar machen. Das Fernsehen kann dieses Habitat sogar von außen ansehen und als Gesamtheit erfassen. Das größte und teuerste Einzelunternehmen in der Geschichte des Fernsehens und das größte Zuschauereignis jemals, gemessen in relativer Zuschauerzahl, galt jedenfalls diesem Versuch, der damit im übrigen auch einen Wendepunkt nicht nur in der Geschichte dieses Mediums herbeiführte, sondern auch den Beginn vom Ende des Kalten Krieges markierte und damit eines globalen militärisch-strategischen, eines ökonomischen und eines politischen Regimes, das immerhin 25 Jahre lang die Erde dominiert hatte und dessen Rückbau schließlich weitere 20 Jahre in Anspruch nehmen würde. Selbstverständlich spreche ich vom Mondflug (Engell 2012). Der Mondflug erbrachte ein sensationelles Resultat, das in seiner Zeit, 1969, auch genau als solches aufgenommen und weitergetragen wurde. Dieses Resultat bestand darin, die kopernikanische Weltordnung der Neuzeit, die dem menschlichen Habitat und damit der menschlichen Existenz seine frühere Zentralstellung abnahm und daraus einen beliebigen Ort unter anderen machte, zunächst in grandioser Weise zu bestätigen. Das Bild vom blauen Ball vor dem Hintergrund des schwarzen Alls steht genau für diese Zufälligkeit, die Kontingenz und Fragilität des Habitats ebenso wie für seine Ganzheitlichkeit. Nicht umsonst zierte das Bild vom Blauen Planeten etwa den Buchumschlag des legendären Die Grenzen des Wachstums, einer Landmarke in der Herausbildung des ökologischen und ökosphärischen Denkens und war als Poster über den gesamten Erdball verbreitet. Andererseits jedoch war dieses Bild unübersehbar ein technisches Machwerk und auf eine komplizierte Weise gewonnen worden, auf die auch in langen vorbereitenden und begleitenden Sendungen immer wieder verwiesen, die immer wieder erläutert worden war. Die meisten der Bilder enthielten auch ihrerseits Hinweise darauf, sie zeigten etwa den Rahmen des Fensters der Mondkapsel – auch sie natürlich ein Bewegungszeug –, sie waren mit dem rauschenden Funkverkehr der Astronauten und der Zentrale unterlegt, sie zeigten die Raumfahrzeuge oder Beobachtungsinstrumente im Anschnitt mit oder den Erdblick, wie er sich im glänzenden Visier eines Astronautenhelms spiegelte.
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Bis heute sind die spektakulärsten Weltraumbilder diejenigen, die beispielsweise einen Marsroboter oder eine Sonde auf einem Kometenkopf zeigen und somit die technische Gemachtheit nicht nur des sichtbaren Objekts, sondern auch seines Aufenthalts an eben jenem Ort und vor allem seiner Sichtbarkeit mit anzeigen. Diese Bilder sind also mithilfe eines komplizierten Gesamtapparates entstanden, sie zeigen den Ort des Menschen aus einer anderen Perspektive und mit einem anderen Blick als demjenigen des Menschen. Ähnlich hat Walter Benjamin (1939: 18) das für die Filmkamera beschrieben, die in die Materie eintauche und in ihr wirksam werde, wo der menschliche Blick immer an der Oberfläche der Materie Halt machen müsse. Dann aber wurden diese Bilder, die den Außenblick auf das anthropische Habitat zeigten, das zugleich die Mediasphäre des Fernsehens aufspannt, zurück gebracht auf die Erde und auf die Bildschirme. Durch diese Rückprojektion wurde der Anthroposphäre dann, ganz entgegen dem kopernikanischen Prinzip, aber analog zum anthropischen Prinzip, doch ein Privileg eingetragen, nämlich der Ort zu sein, der sich selbst sichtbar machen kann. Wir können das an einer weiteren, sehr operativen Definition des Fernsehens festmachen, der ersten überhaupt, nämlich derjenigen, die 1888 in der Patentschrift aufgeführt wurde, die Paul Nipkow für seine Erfindung des ›elektrischen Teleskops‹ erhielt. Das elektrische Teleskop, hieß es da schlicht, ist eine Apparatur mit dem Zweck, ein an einem Orte A befindliches Objekt an einem Orte B sichtbar zu machen (Nipkow in Hickethier 1998: 15). Um wirklich trennscharf zu sein, müsste die Definition noch das Moment der Synchronizität einfügen – auch sie ein Aspekt der vermittelten Präsenz –, denn sonst würde die Definition auf jedes Bild schlechthin zutreffen. Dennoch kann sie helfen zu beschreiben, was beim Mondflug geschah: die Gesamtheit aller möglichen Punkte B, nämlich derjenigen Orte, an denen das vom Fernsehen übertragene Bild erscheint und der an Punkt A befindliche Gegenstand sichtbar wird, wird selber zum sichtbaren Gegenstand, d.h. befindet sich an Punkt A. Die Gesamtheit aller Punkte B, das Habitat der Bildschirme, wird auf allen Punkten B abgebildet. Es ist naheliegend, bei diesem Sachverhalt zumindest ein formales Äquivalent zur Bestimmung der menschlichen Existenz überhaupt zu sehen, wie sie etwa durch Sören Kierkegaard (1969: 13) vorgenommen wurde: Menschliche Existenz, so Kierkegaard, sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Strukturell ähnlich bezeichnet auch Martin Heidegger das menschliche Dasein als ein in der Welt Seiendes, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Televisive Existenz hat sich im Mondflug ebenfalls erschlossen als eine Seinsform, die in ein Verhältnis eingespannt ist, nämlich in das Verhältnis der Punkte A und B. Dieses Verhältnis wird durch die Mondflugapparatur dazu gebracht, sich zu sich selbst zu verhalten, nämlich an Punkt B zu erscheinen. Diese Übertragung mag vulgär erscheinen, aber sie rechtfertigt sich mindestens dadurch, dass es Kierkegaard, anders als etwa Hegel, genau nicht um eine
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formale Reflexionsstruktur ging, sondern darum, dass dieses Selbstverhältnis sich immer in der Existenz, und das heißt im praktischen Lebensvollzug, nicht im Denken, sondern im Fühlen und Handeln vollzieht, also physisch begründet und verfasst ist. Deshalb schreibt Kierkegaard bevorzugt etwa über Krankheit, über Verzweiflung und Verführung, nicht aber über Logik. Zu den Lebensumständen, zu den Operationen und Apparaturen, die menschliche Existenzweisen hervorrufen, gehören aber heute unzweifelhaft die technischen Apparaturen und namentlich die Medien. Damit die Gesamtheit aller möglichen Punkte B auf sich selbst abgebildet werden kann und das televisive Verhältnis sich zu sich selbst verhalten kann, bedarf es eines Außenpostens, nennen wir ihn A plus, der Kapsel im Weltraum, der Sonde, der Mondoberfläche, der sich seinerseits in das Bild mit einträgt. Dieser Außenposten und der Aufenthalt der technischen Apparatur eben an diesem Ort ist die Bedingung der Möglichkeit der Beobachtbarkeit des Habitats. Diesen Ort kann nur das technische Gerät oder ein von ihm völlig abhängiger Mensch – wie der Astronaut oder die Astronautin es sind – beziehen. In diesem Ort, der uns unseren eigenen Beobachtungsposten erschließt, wird zugleich ein Posten markiert, der von unserem Posten deutlich verschieden ist. Mit anderen Worten, und damit kommen wir zurück von der Betrachtung televisiver Existenz auf diejenige des Menschen und seines Habitats als Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Kosmos überhaupt: Die anthropische Position des Menschen kehrt sich nun um, jetzt ist die Beobachtung aus der – und sei sie auch noch so geringen – Tiefe des Kosmos heraus die Bedingung der Möglichkeit des Habitats des Menschen. Der Kosmos beobachtet uns, und mithilfe der Medientechnik können wir an dieser Beobachtung, wie sie uns selbst unmöglich ist, teilhaben. Und im Prinzip gilt diese Blickverschiebung für alle unsere Instrumente, mit denen wir den Kosmos beobachten, berechnen und bemessen oder beschreiben. Es gilt bereits für Galileis Teleskop, das sich nach draußen, auf die Jupitermonde, richtet, um in ihnen aber Abbilder der Verhältnisse im menschlichen Habitat, also auf der Erde, zu erhalten, genauer: Um von dem Ort, an dem es sich befindet, Rückschlüsse zu ziehen auf den Ort, an dem wir uns befinden (Stengers 1994; Vogl 2001). Daher erhält auch Galileis graphische, textliche und mathematische Beschreibung der Himmelsmechanik schließlich den Titel Sidereus Nuntius, der Botschafter oder die Nachricht von den Sternen. Deutlicher kann man den medialen Anteil als auch den verschobenen oder umgekehrten Beobachtungsposten nicht machen. Auch die Radioteleskope und Satelliteninstrumente der Gegenwart – besonders letztere – nehmen derlei Verschiebungen vor. Sie alle nehmen einen vom Menschlichen verschiedenen, gegenüber dem Menschlichen verschobenen eigenen Blickwinkel ein und stellen Berechnungen an, die ohne sie nicht möglich wären und in die sie sich selbst immer mit eintragen.
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Der sogenannte menschliche Standpunkt im Kosmos kann überhaupt kein rein menschlicher sein, sondern immer schon ein von sich selbst weg hin auf die Medien der Beobachtung verschobener Standpunkt, ein zwischen Mensch und Medium aufgespannter. Das anthropische Prinzip wäre dann gar nicht eigentlich anthropisch. Es wäre eine Verkürzung aus einem weiter zu fassenden med-anthropischen Prinzip, weil seine Grundannahme, dass nämlich der Kosmos beobachtet, berechnet und beschrieben wird, immer voraussetzen muss, dass es Instrumente und Medien solcher Beobachtung, Berechnung und Beschreibung gibt, die einen vom Menschen verschiedenen Beobachtungsposten einnehmen, wie es am Beispiel des Fernsehens als Mondprogramm besonders hervortritt.
4. Zur Verdeutlichung möchte ich abschließend noch auf eine implizite Annahme aufmerksam machen, die eigentlich technikphilosophischer Natur ist. Man kann in der Technik, auch wenn das heute kaum noch vertreten wird, und damit auch in den Medien, eine Gesamtheit nützlicher und dienlicher Werkzeuge oder Instrumente sehen, die dem Menschen ihre Existenz verdanken, der sie erfindet und bedient, und der sie seinen Zwecken und seinen Absichten unterordnet, denen gegenüber sie willenlos und fügsam sind. In diesem Fall wären die Techniken und die Medien nur Verlängerungen, Außenverlagerungen des Menschen, dem sie dienten und von dem sie abhingen. Die med-anthropische Verschiebung, von der eben die Rede war, wäre lediglich als eine Ausweitung der menschlichen Daseinssphäre zu lesen, und zwar räumlich wie prinzipiell. Das anthropische Prinzip selbst bliebe nahezu unberührt: Die Existenz des Kosmos fordert zwingend ein Habitat für Beobachter, die Beobachtungsinstrumente entwickeln. In umgekehrter Richtung kann man natürlich auch technozentrisch bzw. technikdeterministisch oder technikontologisch annehmen, Technik und Techniken seien lediglich zunächst Hervorbringungen des Menschen, wenn überhaupt; und die Technosphäre sei nicht um den Menschen herum gebaut, sondern allenfalls eine dem Menschsein vorgängige conditio humana. Sie sei es vielmehr, die den Menschen ermögliche. Martin Heidegger argumentiert in seiner »Frage nach der Technik« so; ihm zufolge ist die Technik diejenige Erscheinungsform des Seins, in der das Sein sich enthüllt (Heidegger 1962: 2527, 32). Während der Mensch in der Technik die Natur, wie Heidegger (1962: 24) sagt, »stellt«, ist es die Technik, die den Menschen vor sein Sein stellt und damit vor sich stellt, vor seine Seinsmöglichkeiten nämlich, sein, so Heidegger, Seinkönnen. Selbstverständlich argumentiert auch Friedrich Kittler, strikter auf Medien- und Kriegstechniken bezogen, dahingehend, dass es die Techniken sei-
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en, denen sich der Mensch verdankt, die den Menschen hervorbringen und ihn ihrerseits mit ihren eigenen Anliegen in Beschlag nehmen, etwa mit dem Anliegen, die Techniken fortzupflanzen und fortzuentwickeln. Mit der Perfektionierung speziell des Digitalen jedoch werde der nach Kittler (1986, 29; 31) »so genannte Mensch« dann für die Evolution überflüssig. Wäre dies der Fall, so würde auch das für das anthropische Prinzip kein größeres Problem darstellen, es müsste nur umgestellt werden auf eine technozentrische Perspektive. Der Kosmos muss dann so beschaffen sein, dass er einen Ort enthält, ein Technotop, an dem Beobachtungs-, Beschreibungs- und Berechnungsinstrumente entstehen können, die eben diesen Kosmos erst erstehen lassen. Ob es dazu der Menschen oder anderer Entitäten bedarf, etwa vorübergehend, oder ob diese dabei als Nebenprodukte mit abfallen, ist davon gänzlich unberührt. Schließlich jedoch ist eine komplexere Sichtweise möglich, eine der Dritten Art, wie sie etwa bei Marshall McLuhan angelegt ist. McLuhan (1994 [1964]: 41-47) spricht zwar, ganz wie Kittler, vom Menschen als dem Genital der Technik. Dennoch funktioniert seine Medienanthropologie anders. McLuhan interessiert sich für Verstrickungsverhältnisse und Vermischungen zwischen Mensch und Medium. Die technischen Apparate seien, so McLuhan, im wesentlichen Prothesen, Außenverlagerungen und Erweiterungen der menschlichen Organe. Habe er sie einmal entwickelt, so den Hebel als verlängerten Arm, die Kamera als außenverlagertes Auge, die Dampfmaschine als Außenverlagerung des Stoffwechsels usw., dann trenne er die erweiterte Funktion von sich ab, er amputiere sich von ihnen (McLuhan 1994 [1964]: 43). Damit aber bliebe er dennoch ganz und gar auf sie verwiesen und mit ihnen als einem Körper jenseits seines eigenen Körpers vollkommen verwachsen; er lebe in einem Habitat, in dem er in den Techniken, auf die er völlig angewiesen und auch völlig fixiert sei, einer außenverlagerten technisierten Fassung seiner selbst begegne. Wie in der erotischen oder amourösen Verstrickung – verliebt in seine Apparate sei der Mensch, schreibt McLuhan – gingen Mensch und Technik eine beide umhüllende Verbindung ein und bildeten eine unscharfe dynamische Einheit (McLuhan 1994 [1964]: 47). Allerdings denke er sich diese Einheit unverdrossen als eine vom Menschen und seiner Aktivität her zentrierbare; die Abtrennung von Mensch und Technik, die Amputation, geht demnach der Verstrickung beider voraus. Anthropomedialität bzw. das medanthropische Prinzip nimmt aber an, dass die Verstricktheit die Bedingung der Möglichkeit von Hominisierung und Technizität ist, dass sie den Platz im Kosmos öffnet, an dem beide entstehen können und insofern beiden, Menschen und Medien, vorausgeht. Ähnlich sieht es z.B. auch Max Bense; mit der kybernetischen Technik (also dem, was wir heute die Digitalen Medien nennen würden) gestalte der Mensch seine natürliche Umgebung, der er bislang immer fremd gegenübergestanden habe wie die res cogitans der res exentensa, nun um und begegne in
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ihr einer verkörperten Intelligenz gleich der eigenen. Dies ermögliche eine völlig neue, symbiotische und verstrickte Daseinsweise des Menschen (Bense 1998). Ähnliche Ideen finden sich auch bei Gilbert Simondon (2012: 111-134) und auch schon bei André Leroi-Gourhan (1980: 311, 331ff.). Für unsere Frage nach der Präsenz des Menschen im Kosmos hieße das, dass es nicht eines spezifisch anthropischen Habitats bedarf, damit der Kosmos der Kosmos sei, und auch kein Technotop dazu vonnöten ist. Vielmehr würde jede Beschreibung, Beobachtung und Berechnung des Kosmos erfordern, dass in diesem Kosmos ein Ort existiert, an dem das Verstricktsein und das wechselseitige Immerschon aufeinander Verwiesen-Sein von Mensch und Medium sich entwickeln kann, aus dem wiederum der Kosmos erst zu erstehen vermag, wo also das existieren und seinen Ort haben kann, was wir dann die Anthropomedialität oder die anthropomediale Relation nennen (Voß 2010). Außerhalb ihrer wären dann weder der Seinsvollzug des Menschen noch der technische Prozess noch auch der Kosmos, der beiden, indem sie ihn hervorbringen, denselben Ort zuweist, denkbar.
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Konfiguration und Präsenz
K onfigur ation und P r äsenz . E ssayistische F ilmästhe tik und die U nverfügbarkeit von E rinnerung in R ithy Panhs L’I mage manquante Elke Möller Avec de la terre et de l’eau, avec des morts et des rizières, avec des mains vivante son fait un homme. Il suffit de pas grand-chose. Il suffit de vouloir. L’Image manquante
Leere Erinnerungen und Tonfiguren Rithy Panhs Film L’Image manquante (KPU/F 2013) beginnt mit einer für den Film paradigmatischen Doppelfigur von Destruktion und (Re-)Kreation.2 Zwischen Einstellungen von im Zerfall begriffenen Filmrollen und einem einzelnen, abgefilmten Filmstreifen treten Bilder von Händen, die eine kleine Figurine aus Ton herausschnitzen. Immer wieder gibt der Film der Dialektik von Zerstörung und (Re-)Konstruktion neue Wendungen, sein Gravitationszentrum jedoch ist die Suche nach dem titelgebenden ›fehlenden Bild‹. Dieses Bild, an das sich das sprechende Subjekt des Films zunächst zu erinnern wähnt, nimmt Bezug auf das Regime der Roten Khmer in den Jahren 1975-1979, auf die Suche nach Bildern, die die Gräueltaten des Regimes bezeugen, beweisen, sie evident werden lassen.3 Es nimmt Bezug auf die Jugend des Regisseurs, der in diesen Jahren mit seiner Familie und Millionen anderer aus Phnom Penh Deportierter auf den Reisfeldern und in den Arbeitslagern der Roten Khmer Zwangsarbeit leisten musste, wo Menschen hungerten und zu Tode kamen. Das fehlende Bild, um das sich der Film dreht, steht ein für eine verstellte traumatische Erinnerung des Einzelnen und der Gemeinschaft, und nicht zuletzt für die fehlenden Zeitdokumente, die diese Jahre abseits der Propaganda der Roten Khmer dokumentieren könnten. Das Bild, das fehlt, avanciert zum Stellwerk einer Suche und einer Strategie, die eigene Geschichte und die dar-
2 | Die Überlegungen und Argumentation dieses Beitrags sind Teil eines laufenden Dissertationsprojektes zum Thema Trauma zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis im essayistischen Film und werden dort vertieft weitergeführt. 3 | Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart Kambodschas, d.h. dem Leben vor, während und nach der Herrschaft der Roten Khmer, durchzieht Rithy Panhs gesamtes filmisches Schaffen; zu seinen Filmen zählen u.a. Site 2 (F 1989), Rice People (KPU/F/CH/D 1994), S-21: la machine de mort Khmère rouge (KPU/F 2003) und Exil (F 2016).
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in aufgehobenen Personen zu erzählen, die kollektive Geschichte neu zu perspektivieren und zu re-inszenieren. Mit kleinen Tonfigurinen stellt Rithy Panh die fehlenden Bilder seines Gedächtnisses, zu denen keine indexikalischen Referenten und vielleicht nicht einmal verlässliche Erinnerungen existieren, in aufwendigen Dioramen-Szenen dar, die die Geschichte seiner Familie und die Zerstörung der kambodschanischen Gesellschaft erzählen. Kombiniert werden diese statischen Tableaux mit Archivmaterial – alten Fotografien, Propagandafilmen –, TV- und Spielfilmausschnitten,4 einer wiederkehrenden Melodie und einem eindringlich intimen Kommentar.5 Abb. 1: Im Film dokumentierte Anfertigung einer Tonfigur für die Dioramen. Screenshot aus L’Image manquante (KPU/F 2013)
L’Image manquante entzieht sich schon auf den ersten Blick einer klaren Zuordnung zu den beiden gängigen filmischen Großformen Spielfilm und Dokumentarfilm sowie ihren untergeordneten generischen Ordnungsformen (Borstnar et al. 2002: 29ff.). Im Oszillieren zwischen Fiktionalität und Doku4 | Punktuell verwendet Panh in L’Image manquante auch Ausschnitte aus seinen eigenen Filmen (z.B. Rice People), siehe hierzu Torchin (2014). Torchin diskutiert L’Image manquante als dokumentarischen Film im Rahmen eines eher lose gefassten Diskurses zum Trauma, wobei der Schwerpunkt auf der Sprachebene liegt sowie im Kontext des Gesamtwerks des Filmemachers. 5 | Der gesprochene Kommentar des Films geht zurück auf Rithy Panhs Memoiren L’Élimination, die er 2012 in Ko-Autorschaft mit Christophe Bataille verfasste. In der französischen Originalfassung des Films spricht Randal Douc den Kommentar, in der englischen Fassung Jean-Baptiste Phou. Im Folgenden liegt der Fokus primär auf der Bildebene des Films.
Konfiguration und Präsenz
mentation tritt die Imagination von Erinnerung an eine nichtfilmische und autobiographische Realität des Regisseurs in einen Austausch mit (propagandistischem) Archivmaterial aus der Zeit vor und während der Herrschaft der Roten Khmer. Der Film exponiert die Imagination des Gedächtnisses, den Konstruktionscharakter von Erinnerung. Destabilisiert werden dabei die Referenten, die eine objektivierbare und bestenfalls indexikalische Evidenz vermittels des filmischen Bildes gewährleisten könnten. L’Image manquante wird daher am besten – und vielleicht überhaupt nur – als essayistischer Film beschreibbar.
Gegenstandskonstruktion und Gegenständlichkeit des Essayfilms Einer der ersten Texte, die den essayistischen Films beschreiben,6 ist Hans Richters kurzer, erstmals 1940 in der Baseler Nationalzeitung abgedruckter Text »Der Filmessay. Eine neue Form des Dokumentarfilms«. Wie die meisten späteren Autoren entwickelt sich für Richter der Essayfilm resp. Filmessay aus dem Dokumentarfilm. Das Streben eines solchen ›neuen‹ Films sei es, so Richter (1992: 198), »Gedanken auf der Leinwand zu formen«. Es gehe ihm um nichts weniger, als das »[…] Bemühen, die unsichtbare Welt der Vorstellungen, Gedanken und Ideen sichtbar zu machen« (Richter 1992: 198), was eine Beweglichkeit zwischen dokumentarischen Aufnahmen und fiktionalen Szenen einschließt (Richter 1992: 198). In der Betrachtung von Chris Markers Film Lettre de Sibérie (1958) bemerkt bekanntlich auch André Bazin (1958, dt. 1992) ein neues Verfahren, einen »essai documenté par le film«; zehn Jahre zuvor spricht Alexandre Astruc (1948, dt. 1992) von der ›caméra-stylo‹, die – ähnlich dem Stift des Schriftstellers – dem Filmemacher ermöglichen soll, seine (abstrakten) Gedanken auf die Leinwand zu bringen. Die akademische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Essayfilms findet im deutschsprachigen Raum verstärkt ab Mitte der 1980er Jahre statt und setzt mit Verzögerung auch im angelsächsischen Raum ein. Auch in Frankreich – mit einer ohnehin lang stehenden Bezugnahme von Film und Text –, Italien und Spanien wendet man sich dem Essayfilm zu (Kramer/ Tode 2011: 16ff.). In den letzten Jahren ist, nicht zuletzt dank des Online-Phä-
6 | Christa Blümlinger und Konstantin Wulff folgend, wird der Begriff des ›essayistischen Films‹ zur Beschreibung der hier verhandelten Filmformen vorgezogen, da im adjektivischen Gebrauch die (in der Regel wenig zielführende) Genre- bzw. Gattungsfrage in den Hintergrund tritt. Aus textökonomischen Gründen wird jedoch der Begriff ›Essayfilm‹ synonym verwendet. Siehe hierzu Blümlinger/Wulff (1992): 7f. sowie Scherer (2001): 21f.
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nomens ›Videoessay‹,7 ein wieder erstarkendes Interesse am Essayismus und seinen Praktiken zu verzeichnen. Monographien und Sammelpublikationen zur grundständigen Beschäftigung mit dem essayistischen Film auch jenseits einer Orientierung am Werk einzelner Filmemacher sowie englischsprachige Editionen kanonischer Texte zeugen von einem solchen Interesse.8 Immer wieder dient der Essayfilm auch als Möglichkeit der Selbstbeschreibung und -zuschreibung von theorieaffinen Filmemachern, darunter etwa Sergej Eisenstein, Hans Richter, Harun Farocki oder Alexander Kluge (Kramer/Tode 2011: 11f.). Den dissonanten und partikularen Diskurs um den essayistischen Film eint die primär negative Bestimmung des Phänomens. Man hat es mit einer Form des Films zu tun, die sich tradierten Genre- und Gattungszuordnungen entzieht (damit steht selbstredend die Aporie im Raum, die Abweichung von der Norm zur bestimmenden Norm des Essayfilms zu machen).9 Form und Verfahren des essayistischen Films, so der Tenor, zeichnen sich aus durch konstitutive Offenheit, »Unbestimmtheit und Unabgegrenztheit ihres Stoffes«, »komplexe Bild-Tonverhältnisse« (Kramer/Tode 2011: 12), medienreflexive Artikulationen sowie einer sich gleichsam als prekär gewahren Subjektivität (Kramer/Tode 2011: 12). Verortet man den essayistischen Film im »philosophisch-künstlerischen Feld«, zählen in der Regel »Kategorien wie Analogie, Assoziation, Fragment, Konstellation, Proportion, Topologie, Hybridität und Dekonstruktion« zu seinen Charakteristika (Kramer/Tode 2011: 12). Jenseits von Gattungsfrage und Definitionsversuchen vermittels mehr oder weniger konkreter und ausführlicher Merkmalskataloge interessiert sich der vorliegende Beitrag vor allem für die – zumeist mit Michel de Montaigne aus dem modernen literarischen Essay – abgeleitete Frage des Verhältnisses von Film und Theorie. Volker Pantenburg (2006) entwickelt einen medienphilosophisch inspirierten Ansatz, der weniger von Bild-Ton-Verhältnissen ausgeht, denn von »Relationen zwischen Bildern und Bildfolgen« (Kramer/Tode 2011: 15). Es geht ihm darum, das Theoretische vom Primat des Sprachlichen zu lösen und in die Bilder selbst zu holen. Pantenburg (2006: 20) fasst den Begriff der Theorie zunächst als »Sammelbegriff für unterschiedliche Artikulationsformen«, die immer auch praxistheoretisch gedacht sind: »Theorie impliziert 7 | Siehe hierzu verschiedene Beiträge von Cristina Álvarez López, Adrian Martin und Volker Pantenburg in NECSUS – European Journal of Media Studies, online: https://nec sus-ejms.org; Stand: 05.01.2018. 8 | Siehe exemplarisch etwa Blümlinger/Wulff (1992), Möbius (1991), Scherer (2001), Filser (2010), Kramer/Tode (2011), Corrigan/Alter (2017), Rascaroli (2017), Papazian/ Eades (2016). 9 | Die Problematik derartiger Negativbestimmungen diskutiert Volker Pantenburg (2006: 143-163).
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einen zweifach oszillierenden Blick auf den Gegenstand und auf die eigenen Verfahren. Es [sic!] bezeichnet also […] eine Praxis, die zwischen Anschauung und Begriff, zwischen konkretem Objekt und abstrakter Verallgemeinerung hin- und herpendelt und dieses Hin und Her zugleich zum Thema der Arbeit erklärt« (Pantenburg 2006: 19; Hervorheb. i. O.). An der Schwelle von strukturalistischen zu post-strukturalistischen Konzeptionen angesiedelt, wird Theorie hier relational gedacht, wird – angelagert an eine »Herstellung von Verhältnissen und Bezügen« – zu einer (selbst-)reflexiven Praxis der Erprobung »neue[r] Formen der Vermischung zwischen Sekundär- und Primärtexten, zwischen Objekt und Metasprache […]« (Pantenburg 2006: 20). Im Sinne der griechischen theoria orientiert Pantenburg den Theoriebegriff an Fragen der Sichtbarkeit,10 sodass jede »Praxis der Bildproduktion« als implizite Bildtheorie oder eine »in Bildern organisiert[e]« (Pantenburg 2006: 21ff.) Theorieform beschrieben werden kann. Bei Pantenburg bleibt Theorie im Film immer auf Übersetzung angewiesen, sodass nicht gänzlich auf Sprache verzichtet werden kann. Pantenburgs Überlegungen sind für den vorliegenden Beitrag in zweierlei Weise instruktiv: Zum einen in ihrer expliziten Aufwertung des Bildlichen als Ort von Theorie – Filme leisten demnach mehr als supplementierende, illustrative »Beiträge zu einem theoretischen Diskurs« (Pantenburg 2006: 21). Zum anderen im Widerstand gegen eine vorschnelle Zuweisung des theoretischen Potentials von (Essay-)Filmen an die Sprache bzw. den Kommentar, der – im Sinne Pantenburgs (2006: 143-163, insb. 150ff.) – primär in Relation und Differenz mit und zur Bildebene epistemologisches Instrument sein kann. Mit und gegen die berechtigte Kritik, die Pantenburg an den Begriffen Essayismus und Essayfilm übt, soll im Folgenden ein weiterer ›Umweg‹ genommen werden, und zwar über den literarisch-philosophischen Essayismus. Vermittels der medientheoretischen Lesart, die Christoph Ernst (2017) für das von Max Bense in »Über den Essay und seine Prosa« (1952 [1942]) dargelegte Verständnis von Essayismus vorschlägt, lässt sich das Verhältnis von Film und Theorie präzisieren. Die bei Pantenburg festzustellende Tendenz, eine Bildtheorie primär der Montage, den ›Bildketten‹ und damit dem Aspekt der Zeitlichkeit zuzuweisen, kann auf das Bild selbst, seinen räumlichen Aspekt, d.h. mise en scène und Bildraum, erweitert werden – was interessanter Weise essayistische Erkenntnisverfahren wieder ins Spiel bringt. Das im deutschsprachigen Raum zwischen 1920 und 1950 stattfindende »essayistische […] Nachdenken über die Medien« sowie das »Nachdenken über 10 | Einen entscheidenden Impuls für die Konzeption des Films als Theorie bezieht Pantenburg von William J.T. Mitchells Konzept des ›Metapictures‹; aus diesem Kontext leitet er die Relation von visueller Repräsentation und einer Praxis des Theoretisierens für den Film her. Siehe hierzu Mitchell (1994).
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den Essay« erweist sich, wie Ernst argumentiert, als nicht unwesentlicher Impulsgeber für die entstehende Medientheorie (Ernst 2017: 1). Neben Max Bense stellen sich Autoren wie George Lukács und Theodor W. Adorno die Frage, wo der Essay als literarische Form zu positionieren sei. Konzipiert Lukács (1972: 28; siehe auch Zima 2012: 145f.) den Essay als quasi-geschlossene Kunstform »im Namen der Ordnung«, betonen Adorno und Bense das Offene der essayistischen Form, die von der Abhandlung im Sinne der wissenschaftlichen Theorie, aber auch von der Kunst verschieden sei. Gemeinsam ist allen dreien zunächst das Verständnis des Essayisten als Kritiker, der seinen Gegenstand im »bereits Geformten« oder »Dagewesenen« (Lukács 1972: 38), »Vermittelten« oder »Abgeleiteten« (Adorno 1972: 69f.) findet. Diese Arbeit ist weder der Sphäre der Kunst (bzw. Literatur), noch der Philosophie (bzw. Wissenschaft) zuzuordnen, vielmehr ist sie »etwas Eigenständiges, Drittes« (Ernst 2017: 3), in einem »merkwürdige[n] Konfinium« (Bense 1952 [1942]: 27) angesiedelt, dem eine spezifische, von der Metapher des Essays als Experiment geleitete »Erkenntnissituation« zuerkannt wird (Ernst 2017: 2): Der Essay ist Ausdruck experimentierender Methode des Denkens und des Schreibens […]. Weder die Gegenstände noch die Gedanken über sie erscheinen im Zustand der Ewigkeit oder des Bestandes, sie erscheinen als relative Gegenstände und als relative Gedanken. Infolgedessen werden auch keine Gesetze gewonnen, aber die Gegenstände und die Gedanken werden langsam in eine Anordnung gebracht, daß sie Thema einer Theorie werden können. (Bense 1952: 27)
Das essayistische Denken kann also seinen Gegenstand bzw. das beschriebene Phänomen durch Anordnung – bei Adorno Konstellation und Konfiguration – einer systematischen Betrachtung zugänglich machen, »ihm durch die Art seiner Anordnung Raum für sein Erscheinen biete[n]« (Ernst 2017: 4). Damit begegnet man jedoch noch keiner Theorie, sondern »bestenfalls der Genesis einer Theorie« (Bense 1952: 28). Der Essay gilt Bense als ›vortheoretisch‹ (Ernst 2017: 3). Auch Bense beschreibt den Essay als freie, offene medienreflexive Form, in der die Bedingungen des Mediums, in dem das experimentelle, relationale Denken seinen Ausdruck findet, in einer intrikaten Wechselwirkung mit seiner Artikulation stehen. Die Prozessualität des essayistischen Schreibens sowie »[…] das schreibende Subjekt als […] Träger des Denkens […]« (Ernst 2017: 4) erzeugen die Bedingungen (Bense 1952: 5), mit denen Konfigurationen möglich werden. Räumliche Anordnungen der Schrift ›produzieren‹ Gedanken und machen sie theoretisch zugänglich (Ernst 2017: 5). In dieser temporalisierten Form des essayistischen Schreibprozesses wird, so hebt Ernst (2017: 4) hervor, »[e]ine Hypothese […] im Sinne einer impliziten Vermutung formuliert, die im und vor allem durch den Akt ihrer medialen Verkörperung realisiert ist«. Die notwendig einhergehende Transformation vermittels eines
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»Erkenntnissubjekts« setzt, wie Ernst (2017: 5) weiter ausführt, einen »von der literarischen Form mitbedingten, eigenen Erkenntniswert der schriftlichen Konfiguration ins Recht«. Sich im »Modus experimenteller Mitteilung« (Bense 1952: 29) vollziehend, bringt der Essay bei Bense mithin Hypothesen, Fragen und Perspektiven hervor, die, anders als in der Abhandlung oder Theorie, nicht »axiomatisch-deduktiv« (Bense 1952: 33) entwickelt werden, sondern sich aus impliziten Wissensbeständen des Erkenntnissubjektes heraus formulieren. Essays und Essayismus können auf diese Weise als eine Form von Denken und künstlerischer Praxis konzipiert werden, die sich – im Sinne eines vortheoretischen Zugangs – reflexiv auf Formen des impliziten Wissens beziehen. Für den Film gewendet, ließe sich also davon sprechen, dass der Film zwar theoretisieren kann, aber – um Pantenburg aufzugreifen – keine fixe Theorie produziert, sondern in der Erprobung von Anordnungen seinen Gegenstand hervorbringt und theoriefähig macht.
An-Ordnungen des Traumas in L’Image manquante Analog dazu beschäftigt sich Rithy Panhs Film L’Image manquante mit Fragen der Sagbarkeit und Sichtbarmachung traumatischer Erlebnisse. Die Gedanken und Vorstellungen des hier experimentierenden Erkenntnissubjekts erhalten externalisierte Gegenstücke oder Artefakte in einer geteilten, historischen Wirklichkeit, die allererst im filmischen Prozess realisiert wird, auf die das essayistische Denken Panhs jedoch immer schon bezogen ist. Der filmische Prozess lässt Erinnerungen nicht nur wieder aufscheinen, sondern materialisiert und verkörpert die autobiographisch singuläre wie kulturell geteilte Erinnerung an die eigene Familie und das Regime der Roten Khmer. In diesem Prozess der Verkörperung, in dem Einbildungskraft und Konstruktionscharakter der Erinnerung in eins fallen, lässt der Film das Absente erscheinen, überführt es in variierender Form in Sichtbarkeit und Sagbarkeit, kurz in Präsenz. Was zunächst figürlich sich in Materialität verfestigt, wird immer wieder neu an- und geordnet, betrachtet, kontextualisiert und so als Gegenstand neu konturiert. In L’Image manquante treten das Dokumentarische, das Fiktionale und Experimentelle im Modus eines, wie Peter Sloterdijk (1994: 48) für den Essayismus festhält, zeitdiagnostischen ›Fundamentalsituationalismus‹ mit der (autobiographischen) Erinnerung zusammen. Weniger stellt sich damit die Aufgabe einer historisch und ethisch angemessenen Geschichtsvermittlung, denn die einer »Auseinandersetzung mit den Grenzen der menschlichen Erinnerung und mit der ästhetischen Verhandlung dieser Unzulänglichkeiten […]« (Curtis 2002: 43). Dieser Problematik von individueller wie kollektiver Erinnerung und der ästhetischen Verhandlung des Traumas begegnet L’Image manquante in der Umgehung gängiger Modi der Bildfindung im dokumenta-
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rischen Film sowie mit der Aufnahme von Fragen medialer Darstellbarkeit in den filmischen Diskurs selbst. In vielen westlich geprägten kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Traumaforschung – etwa bei Thomas Elsaesser (2001, 2007) oder Susannah Radstone (2000) – schwingt das ›Bilderverbot‹ als implizite Norm der medialen (filmischen) Repräsentation von Genozid seit dem Holocaust mit (siehe auch Caruth 1996). Im Kontext des kambodschanischen Genozids haben wir es aber, wie Deirdre Boyle (2009: 101) formuliert, mit einer Kultur »without religious proscriptions against graven images, without a history of widely seen images of dehumanization and death« zu tun. Die Ablösung von im engeren Sinne dokumentarischem Archivmaterial gründet hier nicht zuletzt in Unverfügbarkeit: But not every culture is the same: not all cultures reject visible representation of trauma, valuing the spoken or written word above all other means of witnessing. The Cambodian genocide has relatively few documented images to persuade deniers of what happened. […] What is appropriate in documenting trauma needs to be considered in terms of the specific cultural context in which it occurred. (Boyle 2009: 101)
Ansätze der Traumaforschung sind im vorliegenden Kontext weniger ob ihrer Provenienz instruktiv, denn im Sinne übergreifender Fragen nach Zeitlichkeit, Präsenz und Repräsentation. So ist etwa mit der traumatischen Ereignissen nachfolgenden Latenzphase in der Aufarbeitung kollektiver Traumata eine kulturübergreifende Gemeinsamkeit feststellbar. Zentraler Aspekt in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Traumatheorie ist – auf ihre medizinisch-psychologische Fundierung verweisend – die Störung des regulären Speichervorgangs von Eindrücken in der Erinnerung und der Bruch in der Kontinuität des Erlebens und Wahrnehmens (Eggers 2001). Traumata bewirken virulente Lücken im Gedächtnis, die sich als Nicht-Verfügbares, Nicht-Repräsentierbares und, wie Elsaesser (2007: 193) bemerkt, als »spurlose Spuren« in der individuellen Psyche und damit im »Innenleben des Selbst oder im kollektiven Imaginären« (Köhne 2012: 8) bemerkbar machen. Scheitert die Erinnerung, kann es »[f]ür den traumatischen Ursprung […] kein kohärentes Bild mehr geben« (Köhne 2012: 8f.). Zu der Kopplung von Erinnerung und Bild tritt ein prekäres Verhältnis von Körpererfahrung und Bewusstsein. Traumatische Erinnerungen sind primär »sensorisch-somatisch oder ikonisch« organisiert, zudem kennzeichnet sie eine spezifische »traumatische Zeitform« der »Nachträglichkeit, Latenz, Indexikalität und Wiederholung« (Köhne 2012: 8f.). »Dabei kristallisiert sich heraus, dass die Undarstellbarkeit des Traumas sowohl subjektiv (das Trauma verleiht dem Gedächtnisverlust Bedeutung) als auch objektiv (das Trauma macht aus der Repräsentation ein signifikantes Scheitern) gegeben ist« (Elsaesser 2007: 195).
Konfiguration und Präsenz
Dieser Krise der mentalen Repräsentation bzw. Re-Konstruktion sowie der spezifischen Temporalstruktur scheint das Medium Film als ›Übersetzer‹ in besonderer Weise entgegenzukommen, scheint individuelle wie kollektive Traumata kommunizierbar und, in letzter Konsequenz, bearbeitbar machen zu können. Vermittels Visualisierung, narrativer und technischer Möglichkeiten, gelingt es dem Film traumatische Diskontinuierung und Fragmentierung zu inszenieren, »neue Darstellungsweisen und symbolische Deutungsmuster« (Elsaesser 2007: 195) sowohl im narrativen Spielfilm als auch im dokumentarischen Film anzubieten.11 Die mediale Auseinandersetzung mit dem Urspung(sbild) der traumatischen ›spurlosen Spur‹ zwischen Geschichte und Gedächtnis kennzeichnet nun, in der Regel, weniger ein Streben nach authentischer Vermittlung historischer Ereignisse, denn die Darstellung der »wiederhallende[n] Struktur, die sich immer wieder (psychisch) spürbar macht« (Curtis 2002: 44). Die Struktur des Traumas in den Vordergrund rückend, schlägt Elsaesser hierfür die Kategorie des ›negativ Performativen‹ vor: Im Rahmen der theoretischen Fundierung eines ›negativ Performativen‹ würde dem traumatischen Ereignis im Repräsentationsprozess, bei der Produktion eines Diskurses oder eines Textes der Status eines (suspendierten) Ursprungs zukommen, der ausgeklammert oder in der Schwebe gehalten wird, weil er gekennzeichnet ist vom Fehlen jeder Spur. (Elsaesser 2007: 204)
Das – zu Beginn noch fotografische – ›fehlende Bild‹, das die Suchbewegung von Rithy Panhs L’Image manquante anstößt und leitet, entwickelt sich im Verlauf des Films zu einer Metapher für ein negativ Performatives, das als suspendierter Ursprung im Erinnerungsdiskurs des Films präsent ist. Als Geschichte sind die Ereignisse der Zeit unter den Roten Khmer zwar präsent, auch die Erinnerung an Alltag und Familie sind (verbal) verfügbar und rekonstruierbar. Gerade aber der Plural der Geschichten – und damit das Individuelle im kollektiven Gedächtnis – entzieht sich einer (indexikalischen) Referenzialität. Präzisiert werden kann der Begriff des negativ Performativen bei Elsaesser im Rekurs auf Begriffe des Impliziten,12 genauer das Konzept der ›impliziten Erinnerung‹, handelt es sich doch hierbei um eine unbewusste, nicht intentional korrigierbare Erinnerung, 11 | Elsaesser (2007: 195) betont für das Einsetzen der (filmischen) Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen, die das Individuum wie auch das kulturelle Selbstverständnis betreffen, eine Latenzperiode, die eine Theorie des Traumas einfordere, da nur so ein »Verständnis der Verspätung (die Verschiebung eines Ereignisses und seiner Repräsentation)« möglich sei. 12 | Als Alternative, die stärker einem repräsentationskritischen, poststrukturalistischen Theoriedesign verpflichtet ist, würde sich ein Vergleich der negativen Performa-
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die ihre Wirksamkeit in der sozialen Praxis erlangt und dort als Hintergrundfolie unseres Denkens, Verhaltens und Handelns fungiert (Welzer 2011: 159). Implizite Erinnerungen operieren, wie Harald Welzer (2011: 159) hervorhebt, nicht symbolisch, entziehen sich also weitgehend der Reflexion. Ist das negativ Performative zwar immer schon sozial dimensioniert aber implizit, wird es erst – in den Begriffen Welzers (2011: 159) – vermittels »soziale[r] Formbestimmung«, die angelegt ist an Kategorien von Sinn und Bedeutung, als ›repräsentationale Erinnerung‹ kommunizierbar, d.h. medial repräsentierbar. L’Image manquante unterläuft bekannte dokumentarische und fiktionale Bilderwelten. Die ästhetischen Strategien stehen, mit Christina Scherer (2011: 145) formuliert, »vor allem unter dem Vorzeichen des Zweifels an der Referenzfunktion filmischer Bilder«. Gemeinsam mit Sarith Mang, der die Tonfiguren des Films aus kambodschanischer Erde anfertigt (Torchin 2014: 37), (re-)imaginiert Rithy Panh Szenen seiner Kindheit und Jugend, inszeniert stumme, bewegungslose Dioramen, die von seiner Familie erzählen, von Hunger und Tod in den Arbeitslagern und auf den kambodschanischen Killing Fields. Er gibt den Menschen seiner Erinnerung einen Körper, der – geformt aus dem Boden Kambodschas – die Konnotation eines Sediments aus Erleben und Geschichte beinhaltet (Torchin 2014: 37). Die Dioramen erzählen aber auch von den Erinnerungen an die Zeit vor den Roten Khmer, von Fantasien und Träumen, die sich mit den Erinnerungen vermischen. Wir erfahren, dass Panhs Familie im April 1975 von Phnom Penh in ein Umerziehungs- und Arbeitslager auf dem Land deportiert wurde; davon, dass sein Bruder, ein Rockmusiker und damit ein Musterbeispiel des in den Augen der Khmer abzuschaffenden ›neuen‹ Menschen,13 unmittelbar hingerichtet wurde, vom Tod der Eltern. Und dabei stellt der Film die systematische De-Humanisierung der Bevölkerung unter dem Regime Pol Pots immer wieder in den Vordergrund, adressiert den Status von Erinnerungen sowie die Frage der Verantwortlichkeit des Gedächtnisses im autobiographischen und historischen Horizont. Panh reklamiert keine historisch-wissenschaftliche, faktenbasierte Perspektive, sondern legt selbst Zeugnis ab. Sein Bericht stützt sich auf eine – zumindest in Teilen – allgemein bekannte und historisch verbriefte Geschichte und erzählt vor diesem Hintergrund die eigene, der ein subjektiver Authentizitätsanspruch zu eigen ist. Im Film ist Rithy Panh als Enunziator gleich doppelt anwesend und abwesend: Als tivität mit dem Entwurf einer negativen Medientheorie bei Dieter Mersch (2006: 219228) anbieten. Dem kann an dieser Stelle aber nicht weiter nachgegangen werden. 13 | Die Terminologie der Khmer stand bekanntlich im Widerspruch zu anderen marxistischen Revolutionsgruppen. Während etwa Ernesto Che Guevara den ›neuen Menschen‹ durch die wahre Revolution hervorgebracht sah, lehnten die Khmer den ›neuen Menschen‹ der bestehenden Gesellschaft ab und glorifizierten die rurale Gesellschaft. Siehe u.a. Guevara (1977 [1965]).
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abwesender Urheber der ebenfalls körperlosen Stimme des Kommentars, gesprochen von Randal Douc resp. Jean-Baptiste Phou, und als Tonminiatur, stets identifizierbar durch das von den anderen Figuren abweichende bunte T-Shirt. Abb. 2: Diorama-Szene der Bestrafung eines Zwangsarbeiters durch einen Aufseher der Roten Khmer. Screenshot aus L’Image manquante (KPU/F 2013)
Die Stasis der Dioramen sperrt sich gegen die Logik des Bewegtbildes. Vor der Kamera läuft keine Bewegung ab, ebenso wenig arretiert der Film ein Einzelbild, das einen Bewegungsfluss, seine Zeitlichkeit stoppt. L’Image manquante erscheint damit zunächst fast wie ein Gegenentwurf zu Kracauers Vorstellung von Film mit seiner eigentümlichen Affinität zum »Fluß des Lebens« (1985: 11). Panhs Film verwehrt der Kamera geradezu, Leben in Bewegung darzustellen. Die Zeit wird auf der Ebene der mise en scène stillgestellt, der Film rückt eher in die Nähe von Stillleben oder plastischen Tableaux und damit auch in die einer bühnenhaften Inszenierung, über die sich die Kamera bewegt, in die sie eindringt. Die »vivifikatorische Qualität« (Glasenapp 2014: 138) des Films wird zurückgenommen, ohne das Bild an die Erstarrung der Zeit in der Fotografie zurückzubinden (Barthes 1989). Durch die Transformation der haptisch-plastischen Materialität der Dioramen in filmische Zeichen eigener Materialität und Zeitlichkeit, wie auch in der Präsentifikation eines Undarstellbaren, das sich aus dem Fehlen einer Spur im metaphorischen wie im konkreten Sinne ergibt, setzt L’Image manquante eine irritierende Zeitlichkeit. Das filmische Bild handelt in L’Image manquante in mehrfacher Hinsicht von der Krise der Repräsentation: Zum einen setzt der Film die »Krise der Handlungsfähigkeit«, die das Trauma laut Elsaesser (2007: 43) ausweist, wortwörtlich ›ins Bild‹; zum anderen er-findet und präsentiert der Film Bilder für die fehlenden fotografischen Referenten, die die nicht-filmische
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Vergangenheit wie mentale Leerstelle der traumatischen Erinnerung gleichermaßen verbürgen könnten. Materialisiert in Form eines miniaturisierten Reenactments, kommt die dem Wort enthaltene Aktivität (als Neu-Inszenierung, Wiederholung und Wieder-in-Kraftsetzung) allenfalls der filmischen Aufnahme zu. Die Stasis der Szenerie konfrontiert den Rezipienten mit einer anderen, neuen Referenzialität, die einer konkreten Zeit oder einem konkreten Ort enthoben ist (Elsaesser 2007: 206). Hier wird eine »Zeit-Raum-Ort-Referenzialität gleichwohl postuliert/positioniert, ja, im Verhältnis zum ›Ereignis‹ verdoppelt und verschoben […]« und somit interpretativ möglich (Elsaesser 2007: 206f.). L’Image manquante holt die implizite Erinnerung in die Welt der Dinge und – an dieser Stelle könnte man mit und gegen Lukács argumentieren – erstellt und erprobt in essayistischen Verfahren Formen der Sichtbarkeit.14 Analogizität und Materialität der Dioramen sowie der Durchgang durch Prozesse der filmisch dokumentierten Herstellung und des Arrangements rücken den »körperlich-haptische[n] Prozess der Arbeit mit dem Medium« in den Fokus (Ernst 2017: 2). Im wörtlichen Sinne werden hier Anordnungen nicht nur in einer beständigen Neu-Perspektivierung des Gegenstandes entworfen, sondern ganz im Sinne Max Benses rückt die Instanz des Filmemachers in den Vordergrund, die den in einem negativ Performativen gründenden Gegenstand »während der Mitteilung seiner Gedanken findet oder erfindet, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert […]« (1952: 27) und damit allererst ästhetische und intellektuelle Sichtbarkeiten erprobt.15 Die experimentellen Szenographien werden im Modus einer »perspektivische[n] Mimesis« für den Rezipienten zugänglich, in der Aneignung der »Wahrnehmungslage« des Filmemachers, der »bestimmte Zeichen so angeordnet ha[t], dass er [der Rezipient, EM] ihrer Blickrichtung folgen kann« (Bauer 2005: 41). Experimentelle Anordnungen des Gegenstands sind bei Bense stets auch räumlich und somit relational gedacht – ähnliche Metaphern finden sich in den Überlegungen zum essayistischen Verfahren bei Adorno (als Teppich, Netz, Gewebe) oder Sloterdijk (Hypertext).16 Inhärent ist damit immer auch ein Moment (impliziter) räumlicher Erkenntnis im Sinne eines Sehens von Rela14 | Lukács konzipiert den Essay als geschlossene Form, die – anders als die griechische Tragödie – das Partikulare (bei Lukács: das Schicksal) vermeintlich nicht darzustellen vermag. Die »Entfernung vom Leben« sei aber vor allem eine rezipientenseitig wahrgenommene, gäbe es doch einen »mystische[n] Augenblick der Vereinigung […] der Seele und der Form« (Lukács 1972: 35ff.). 15 | Immer wieder greifen auch Hände ins Bild, um etwa Figuren zu positionieren oder die Szene zu verändern. 16 | Siehe Sloterdijk (1994: 60). Adornos Konstellations- bzw. Konfigurationsbegriff betont zudem ein montageartiges Prinzip. Siehe hierzu Lehr (2000: 122ff.) und Zima (2012: 139ff.).
Konfiguration und Präsenz
tionen. In diesem Lichte betrachtet, lassen sich die Form(en) des Re-enactment in L’Image manquante weniger als therapeutisches Spiel beschreiben, in dem traumatische Erfahrungen wiedergefunden und re-konstruierbar gemacht werden sollen, denn vielmehr mit Begriffen eines sprachlich nicht ausdrückbaren impliziten Wissens fassen. In den Szenen der stummen, statischen Tonfiguren repräsentiert sich, so die These, eine stumme, körperliche Dimension der traumatischen Erinnerung.17 Die Erinnerung des erzählenden Subjekts an die traumatischen Geschehnisse steckt, so ließe sich in Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Traumaforschung formulieren, gewissermaßen im Körper bzw. in den Dingen. Sie ist also präsent im Sinne eines impliziten und – gemäß der getreuen Übersetzung des Begriffs tacit knowledge – ›stummen‹ Wissens.18 Was ›physisch‹ im Film präsent ist und präsentiert wird, wird sprachlich gerahmt, von einem sich der Sichtbarkeit bis kurz vor Ende des Films entziehenden und auch dann nur als Bild im Bild präsenten sprechenden Subjekts. Die Differenz von Bildern und Sprache bleibt darüber erhalten. Dennoch bildet sich die Bedingung der (und der Appell zur) Erinnerung im Re-enactment ab. Durch die Präsentifikation imaginierter Vergangenheit wird das negative Performative interpretiert, also dem Vergessen – als Akt einer traumatischen De-Aktualisierung – enthoben, und zwar individuell wie kollektiv bzw. kulturell. Die Stummheit der Figuren wird daher auch als eine Anklage des kollektiven Ver-Schweigens lesbar, das lange Zeit die Aufarbeitung des Genozids in Kambodscha begleitete. Dem Unsichtbaren – und damit (filmisch) Unsagbaren – der persönlichen Erinnerung, das schon immer Teil eines stummen Körper-/Dingwissens war, wird in L’Image manquante durch die szenisch-statische Verkörperung des Re-enactment zunächst ein physischer Raum gegeben, in dem – wie oben ausgeführt – verschiedene Anordnungen erprobt werden. Das Trauma wird im Sinne einer filmischen Sichtbarkeit via Materialität (vor der Kamera) ›ins Licht‹ gezogen, um es erst der Explizierbarkeit bzw. der Sprache zugänglich zu machen. Innerhalb eines Bewegtbildkontextes wird so das Unsichtbare (als solches) sichtbar und das Unsagbare (als solches) ›sagbar‹. Die filmische Repräsentation vermag es, an die kollektive Erinnerung und damit an intersubjektive Narrative anzuschließen. L’Image manquante stellt, so ließe sich formulieren, nicht nur Bilder, sondern auch eine (Bild-)›Sprache‹ für das Unsagbare zur Verfügung.
17 | In der psychologischen Traumaforschung wird mit dem Begriff ›transgenerationelle Tradierung‹ die Weitergabe traumatischer psychischer Strukturen an nachfolgende Generationen bezeichnet. Siehe Eggers (2001: 603). 18 | Zum Begriff des tacit knowledge bzw. des impliziten Wissens einschlägig Polanyi, Michael (1967, dt. 1985) sowie zuletzt die Beiträge in Adloff et al. (2015).
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Die dem Trauma aneignende Krise der Handlungsfähigkeit überträgt Rithy Panhs Film nicht nur in eine Krise der Bewegung, in der jede, frei nach Gilles Deleuze (1997), ›sensomotorische Kette‹ von Grund auf unterbunden ist,19 sondern auch in eine spezifische Krise der Repräsentation, die (s)eine Erinnerung ebenso betrifft wie die historische Vergangenheit, die gemeinhin in Archivbildern zugänglich ist. Rithy Panh positioniert seine Tonfiguren nicht nur in aufwendig gestalteten Szenerien, sondern integriert fotografisches und filmisches Archivmaterial aus der Zeit der Roten Khmer. Immer wieder gibt der Film den Bildraum frei für Originalaufnahmen von verlassenen Häusern, Luftaufnahmen der nahezu entleerten Stadt, von Machtdemonstrationen, zeigt Propagandafilme und Aufnahmen von Pol Pot sowie kontrapunktisch Szenen aus kambodschanischen Unterhaltungsfilmen und dem Fernsehen vor der Zeit der Khmer, die sich im Gedächtnis des Regisseurs festgesetzt zu haben scheinen. L’Image manquante verwendet zunächst in bekannter dokumentarfilmischer Manier Bilder des beginnenden Kriegsgeschehens im Jahr 1975, zeigt Aufnahmen von Kämpfen, Opfern, Soldaten. Doch sobald der Kommentar, die Stimme aus dem Off, von der Eroberung und Evakuierung der Hauptstadt Phnom Penh zu erzählen beginnt, stellt sich ihm – und damit nicht nur der adressierten Filmrezipientin, sondern auch dem historischen Diskurs – das Problem des besagten fehlenden Bildes: Es existieren weder filmische noch fotografische Dokumente, die die Vertreibung aus Phnom Penh bebildern könnten. In den folgenden Einstellungen fungieren historische Fotografien der Stadt als Prospekt für Szenerien der Tonfiguren, die sich mal in die Tiefe des Raumes entwerfen, mal als sich überlappende Fläche angeordnet sind, aber stets den Fotografien fremd bleiben und deutlich von diesen abgehoben sind. Eben solche Bilder werden im Film eingesetzt, um die Deportation der Stadtbevölkerung in rurale Gegenden, auf Reisfelder und Steinbrüche, d.h. Arbeitslager und Killing Fields zu narrativieren. Die Differenz zwischen dem Schwarz-Weiß der ›Hintergrundaufnahmen‹ und der im Grunde fröhlichen Farbigkeit der Tonfiguren akzentuiert in ihrer Dissonanz die beiden Zeitlichkeitsformen einer erlebten (historischen) Vergangenheit und einer aus der Gegenwart (re-)konstruierten Erinnerung. Daneben aber, und dies scheint mir auch im Hinblick auf weitere Inszenierungen von Archivbildern in L’Image manquante relevant, gelingt es dem Film vermittels solcher Anordnungen im physischen Raum wie im Bildraum, von einem Oszillieren zwischen autobiographischer Erinnerung und kollektivem Gedächtnis zu abstrahieren und Fragen der Verbindlichkeit 19 | Deleuze legt das Konzept der sensomotorischen Kette in seinem ersten Kino-Buch dar. Zum Bruch dieser Kette und den daraus entstehenden neuen Bildtypen siehe Deleuze (1997: 276ff.), sowie die einleitenden Bemerkungen des zweiten Bandes (Deleuze 1991: 11ff.).
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von Sinngenese und eines gemeinsamen Rahmens als Organisationsprinzip kollektiver Erinnerung aufzuwerfen (Curtis 2002: 46). Insbesondere anhand solcher Zusammenhänge, also den Relationierungen historischer und individuell-erinnernder Diskurse, ist es möglich, von einer vortheoretischen Dimension des Films zu sprechen. Abb. 3: Deportation der Stadtbevölkerung aus Phnom Penh am 17. April 1975. Als Bildhintergrund dienen Fotografien und Filmaufnahmen der leeren Hauptstadt. Screenshot aus L’Image manquante (KPU/F 2013)
In den geschichteten Bildern gerät der Film zu einer Kunst der kombinatorischen Anordnung der Differenz von Bildern im Bild. Neben der haptischen Qualität der Dioramen setzen diese Überblendungen eine weitere Ebene der Medialität des filmischen Bildes frei. Die Anordnungen der Archivbilder eröffnen verschiedene Zeitlichkeiten: die der Aufnahmen des Pol-Pot-Regimes, die als Vergangenheit in den Archivbildern vergegenwärtigt sind, und die doppelte Zeit der Tonfiguren, die – hergestellt in der Gegenwart – eine Zeit der Erinnerung verkörpern. Zu diesen, durch das Band der Historie verbundenen, Temporalitäten tritt letztlich die Nachträglichkeit und die jeweilige Zeitstelle der Rezeption. Die im Film(bild) sich ereignende reflexive Gleichzeitigkeit der erstgenannten Zeiten wird in der räumlichen Konfiguration ausagiert. Die Bildschichtungen lassen die – ästhetisch und auditiv als solche markierten – Archivbilder mit der widerständigen Zeichenhaftigkeit der Tonfigurinen in einen Austausch treten. L’Image manquante versetzt die Archivbilder nicht in einen häufig vorherrschenden Status »materialisierter Erinnerung« (Steinle
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2005: 297). Durchaus bezeugen sie eine Vergangenheit, aber – so insistiert auch der Kommentar – eine ideologisch verstellte, die keinen unmittelbaren Zugang zur historischen Vergangenheit reklamieren kann, oder besser: darf. Das Archivbild wird durch seine (Re-)Kontextualisierung also nicht als ein verlässliches Bild der Vergangenheit implementiert, sondern den imaginierten und narrativ hervorgebrachten Film- und Sprachbildern untergeordnet. Die entstehenden Bildschichten übertragen den Palimpsest-Charakter archivarischer Bilder in den Bildraum: Tragen sich durch stetige Rekontextualisierungen immer neue Bedeutungsschichten in das Archivbild ein (Steinle 2005: 304), erfolgen Rekontextualisierung und Bedeutungsgenerierung in L’Image manquante häufig als Bildschicht, in der nicht zuletzt die diachrone Zeitstruktur des Traumas inszeniert wird. Jenseits eines sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungsphänomens haben wir es hier mit relationalen Filmbildern zu tun, denen ein forschendes, theoretisierendes Potential im Sinne Pantenburgs zukommt. Instrument einer impliziten Bildtheorie ist jedoch weniger die montierte Bildkette, denn die Schichtung verschiedener Bildtypen und -materialitäten im Bildraum, aus dem – im Sinne Benses – Erkenntnis hervorgehen kann. Die Überlagerung von stummen Tonfiguren – Repräsentanten des kambodschanischen Volkes und des Filmemachers – mit alten Filmaufnahmen des Regimes lässt sich auch in ihrer körperlichen Dimension lesen als die sich auf (und in) die Körper (und Orte) einschreibende (traumatische) Geschichte, die Menschen/Figuren und Dinge wie ein halbtransparenter Schatten belegt. Die in den Bildern der Dioramen ohnehin enthaltene Polyvalenz wird in den Bildschichtungen forciert: Zu der im Gedächtnis gegebenen Differenz von ›stumm vs. sagbar‹ führt der Film die Differenz ›statische Szene vs. bewegtes Bild‹ ein. Während die Figuren in der mise en scène unbewegt bleiben, laufen die Archivaufnahmen ›über‹ ihnen ab. In Verbindung mit der körperlich absenten Stimme des Kommentars schreibt sich in die Bildschichtungen gleichwohl noch eine weitere Differenz ein: diejenige zwischen dem kulturellen – im Sinne eines öffentlichen, damit hierarchischen – Gedächtnisses (durativ in Film/Fotografie) und einem privaten, kommunikativen und autobiographischen Gedächtnis.
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Abb. 4: Von den Roten Khmer angefertigte Filmaufnahmen eines Arbeitslagers werden auf ein Diorama projiziert. Screenshot aus L’Image manquante (KPU/F 2013)
Befördert die Radikalität des Bruchs durch den revolutionären Umsturz der Roten Khmer das grundlegende »Problem der Inkommensurabilität einer medialen Darstellung mit der Erfahrung der Vergangenheit« (Curtis 2002: 51), so gelingt es dem Film gerade in den Schichtungen von indexikalischem Archivmaterial und händisch gefertigten Tonfiguren im Bildraum ›mediale Bezugnahmepraktiken‹ (Jäger 2006: 57ff.) zu realisieren, die die für L’Image manquante relevante Prekarität eines gemeinsamen, geteilten Deutungsrahmens für die historischen Ereignisse als Übergänglichkeit und Reziprozität von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis produktiv machen können (Curtis 2002: 45ff.). Auch wenn dies immer wieder zurückgenommen wurde, suggeriert die Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, wie sie bei Jan und Aleida Assmann formuliert wird, eine geringe Durchlässigkeit beider Gedächtnissysteme, die in der Bindung des kommunikativen Gedächtnisses an sozial-interaktive und damit auch alltägliche Kommunikation und der Abtrennung des kulturellen Gedächtnisses in künstlichen und »institutionalisierten ›Zeichensystemen‹« (Jäger 2006: 60) begründet liegt.20 Das bildräumliche Dispositiv in L’Image manquante prekarisiert diese (vermeintliche) Trennung. Historische Vergangenheit und gegenwärtig re-konstruierte Vergangenheit oszillieren und überlagern sich nicht einfach nur in Form verschiedener Bildtypen. Vielmehr artikuliert der Film in seinen Anordnungen »intramediale[] Bezugnahme[n]« (Jäger 2006: 58; Hervorheb. i. O.), die Fragen 20 | Aufgrund der umfangreichen Publikationstätigkeit von Aleida und Jan Assmann sei exemplarisch auf J. Assmann (1992) zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis und A. Assmann (2004) zum Speicher- und Funktionsgedächtnis verwiesen.
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der Deutungshoheit über die Vergangenheit produzieren. Der Operationsmodus von Gedächtnis wäre im Hinblick auf L’Image manquante deshalb präziser mit Ludwig Jäger zu verstehen als »notwendig intra- bzw. intermedial konfiguriert […], d.h. dass er prinzipiell auf kommunikative Verfahren zurückgreift, in denen Momente durativer ›Textualität‹ mit solchen transitorischer Performanz vernetzt sind«. (Jäger 2006: 66; Hervorheb. i. O.) Panh stellt der immer nur scheinbaren Abbildung vergangener Realität eine Realität der Erinnerung entgegen, der im geteilten Bildraum wie im diskursiv eröffneten Raum mindestens eine gleichwertige Diskurshoheit zugesprochen wird. Inter- oder intramediale Bezugnahmepraktiken in L’Image manquante nehmen sich zudem in denjenigen Bildschichtungen besonders aus, in denen das bewegte Archivbild die bewegungs- und regungslosen Tondioramen überlagert. Zum einen folgt der Film in diesen Momenten dem konstant bleibenden Mechanismus der Traditionsbildung »zwischen Niederlegung und Wiederverflüssigung, System und Prozeß« (Winkler 2002: 120).21 Die historischen Aufnahmen sind Teil eines archivierten und als solchem verfügbar-unverfügbaren ›Speicher-‹ bzw. ›Ablagesystems‹. Durch ihr »Herausgelöstsein […] aus der Transitorizität ihrer Performanz« (Jäger 2006: 66; Hervorheb. i. O.), also ihre ›Starre‹, kann auf sie wieder kommunikativ Bezug genommen, Sinn generiert werden (Jäger 2006: 66f.). Diese Bezugnahme selbst geschieht allerdings in einer performativen Destabilisierung der implizit oder explizit formulierten Aggregatszustandsmetapher, die bei Jan und Aleida Assmann ebenso zu finden ist wie bei Hartmut Winkler und Ludwig Jäger: Gerade das als ›fest, starr, fixiert‹ konnotierte kulturelle Gedächtnis wird in Form von Bewegtbildern auf die stummen, unbeweglichen Tonfigurationen der Gegenwartsebene projiziert. Archivierte und erinnerte Vergangenheit formen gemeinsam eine Szenographie im Sinne der Eröffnung eines »intellektuellen Schauraum[s] […], den das Wort ›theoria‹ ursprünglich meinte« (Bauer 2005: 41). Es liegt also nicht fern, die Irritation der Temporalität des Films vermittels der Dissonanz von Bewegung und Stasis erneut als filmisches Nachdenken über das Trauma zu lesen, in das sich nun aber – nicht zuletzt in Verbindung mit dem Voiceover – deutlicher die Frage einschreibt, welche Handlungspotentialität kollektiven und individuellen Erinnerungsträgern an historischer Sinn- und Bedeutungsgenerierung zukommt. Diesen intellektuellen Schauraum braucht der Film, nicht nur, weil es ›kein Bild gibt‹ für die autobiographische und kollektive Erinnerung, sondern auch, weil keines verfügbar ist, das – in seiner indexikalischen Referenzialität oder symbolischen Repräsentation – den Bruch mit der Vergangenheit sublimieren könnte. In diesem Kontext liest sich L’Image manquante kongruent mit Angela Melitopoulos’ Befund zum Potential des essayistischen Films, das 21 | Siehe auch den Verweis auf Winkler bei Jäger (2006: 66).
Konfiguration und Präsenz […] weniger das einer Gegengeschichte oder einer anderen Form der panoramatischen Täuschung [ist]. Vielmehr kann der Videoessay Einbrüche und Grenzen des Kontinuums bearbeiten, die auch die Grenzen der Erzählposition »Ein Raum/ein Erzähler« bedeuten. Ein Essay konstruiert sich für mich aus Brüchen, Verknüpfungen, Interferenzen und Dramaturgien, die aus den tiefen Schichten der Zeit dringen: Das Ende eines Kontinuums, das an die Fluchtlinien und Resonanzfelder anderer Zeitabläufe grenzt. (Melitopoulos 2011: 118)
Fazit An der Grenze von Re-Präsentation und Präsentifikation, von Vergangenheit und traumatischem Erleben operierend, markiert L’Image manquante eine Art ›liminalen Film‹.22 Schwellensituationen und Übergänglichkeiten werden im Horizont historischer Diskursivität, auf der Ebene (auto-)biographischer wie kollektiver Identitätskonstruktion narrativ hervorgebracht und als Stillstand, als Bewegungsunfähigkeit, als ›noch-nicht-‹ oder ›nicht-mehr‹-Bewegung der Figuren inszeniert. Rithy Panhs L’Image manquante insistiert auf eine implizit-körperliche Dimensionierung traumatischer Erinnerung, die in einem gleichermaßen epistemischen wie ästhetischen Prozess der Filmproduktion und Rezeption vermessen wird. Die Metapher des titelgebenden fehlenden Bildes beschreibt dabei nicht nur eine Lücke im Gedächtnis und die Unvorstellbarkeit der Gräueltaten der Roten Khmer. Der Film verfolgt keine Komplettierung des Gedächtnisses durch eine erneute Verschränkung von ›tatsächlichem‹ Bild und Erinnerung. Vielmehr wird – und dies ist eine für den Essayfilm typische Idee – in der Erfahrung der Unverfügbarkeit selbst ein authentisches Bild gesehen. Mithilfe von imaginierten Bildern, Archivmaterial und im Rekurs auf TV- und Spielfilmaufnahmen arbeitet sich Rithy Panh einerseits skeptisch (im Hinblick auf die ideologische Aneignung des Mediums), andererseits positiv (im Sinne einer Weiterentwicklung der Darstellungsmöglichkeiten) an den Aussagepotentialen des Films ab. Das für essayistische Verfahren typische Moment des Vortheoretischen dient dabei paradoxerweise sowohl als Verfahren, um die Möglichkeit von Erinnerung zu erschließen, wie zugleich auch als Er22 | Den Begriff der Liminalität prägt für die Ethnologie Victor W. Turner in Anlehnung an den Rite-de-Passage-Begriff Arnold van Gennepps (1909). Turner (1998: 251) liefert eine knappe Definition, die hier genügen mag: »Die Eigenschaft des Schwellenzustands (der ›Liminalität‹) oder von ›Schwellenpersonen‹ (›Grenzgängern‹) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen«.
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kenntnisgrenze, über die hinaus nichts über die traumatische Erfahrung der Diktatur Pol Pots ausgesagt werden kann.
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Tales of the B odiless . Ü berlegungen zu einem K onzep t der K o -A bsenz Isa Wortelkamp
Einführung In der Dunkelheit verschwindende, im diffusen Licht sich auflösende, in Stoff verhüllte und verborgene Körper, menschenleere Szenen – seit geraumer Zeit ist im Theater verstärkt eine Abwesenheit von Performerinnen und Performern auf der Bühne zu vermerken, die auch die Anwesenheit des Publikums nicht unberührt lässt. Die Inszenierung Tales of the Bodiless von Eszter Salamon und Bojana Cvejic kann exemplarisch für ein aktuelles Tanz- und Performancegeschehen gelten, in dem nichts Geringeres zur Disposition steht als die körperliche Anwesenheit von Darstellenden und Zuschauenden im Theater. Damit geraten grundlegende Bedingungen eines Theaters ins Wanken, das in der Theaterwissenschaft wesentlich durch die gleichzeitige und gemeinsame Anwesenheit von Publikum und Akteuren zur Zeit und am Ort der Aufführung bestimmt wird. Das Konzept einer Ko-Präsenz bezieht sich dabei in erster Linie auf den darstellenden Körper, der in unmittelbarer Verbindung zum zuschauenden Körper gedacht wird. Darstellung und Erfahrung von Präsenz bedingen einander und bringen sich wechselseitig hervor (Fischer-Lichte 2004). Diese Idee prägt den theaterwissenschaftlichen Diskurs von Beginn an und hat mit der ›Wende zum Performativen‹ eine Steigerung erfahren, die den Entwicklungen des Theaters seit den 1990er Jahren in seiner Konzentration auf »die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken« (Fischer-Lichte 2001: 9) gerecht werden will. Während das Theater der 1990er in Abgrenzung zu repräsentativen Theaterkonzepten verstärkt als ein »Theater der Präsenz« (Fischer-Lichte/Kolesch/Weiler 1999) rezipiert wurde, kristallisiert sich zu Beginn des neuen Jahrtausends in den künstlerischen Auseinandersetzungen in Tanz und Performance eine andere Tendenz heraus. Als Antwort darauf entstehen Theorien zu einer Ästhetik der Absenz, die eine kritische Revision präsenzorientierter Konzepte vollziehen. Neben der grundlegenden Studie Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes von Gerald Siegmund (2006) sind zahlreiche Ansätze zu verfolgen, die inszenatorische Strategien des Abwesenden und die damit verbundenen theoretischen Implikationen untersuchen (Kruschkova 2005; Elzenheimer 2008; Goebbels 2012a). Vor diesem Hintergrund stellt sich die dieser Untersuchung zugrundeliegende Frage nach der Relevanz einer körperlichen Anwesenheit von Zuschauenden und Darstellenden für die ästhetische Erfahrung im Theater. Wäh-
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rend sich tanz- und theatertheoretische Ansätze zur Absenz vorwiegend auf die Ebene der performativen Darstellung konzentrieren, widmet sich dieser Beitrag den Auswirkungen der Inszenierung eines Köpers in absentia auf die Wahrnehmung der Zuschauerin und des Zuschauers. Ausgangspunkt meiner vorliegenden Überlegungen ist die Inszenierung Tales of the Bodiless, die am 21. Mai 2011 im Kaaitheater in Brüssel Premiere hatte. Auf Grundlage der Erinnerungen an die von mir im Rahmen des Festivals Tanz im August 2011 in Berlin besuchte Aufführung, einer Audio-CD sowie einem zur Produktion erschienenen, gleichnamigen Begleitheft (2011) wird eine analytische Reflexion der Inszenierung unternommen. Sie bildet den Fragehorizont für eine Revision des theaterwissenschaftlichen Konzeptes der Ko-Präsenz, das ausgehend von der Definition der Aufführung als wesentlichem Gegenstand des Fachs durch Max Herrmann vorgestellt und befragt werden soll. Im Rekurs auf theater- und tanztheoretische Ansätze zur Ästhetik der Abwesenheit werden an- und abschließend Grundzüge eines Konzepts der Ko-Absenz entwickelt, das hier als Suchformel für eine wahrnehmungstheoretische Reflexion einer Ästhetik der Abwesenheit dient.
Tales of the Bodiless – Eine Analyse Stellen Sie sich vor, eine Choreografin tritt vor die Bühne und erzählt von einem Theater, das abgebrannt sei. Die Bühnenausstattung aus hoch entflammbarem, mit Härchen überzogenem Stoff habe Feuer gefangen und der Brand sich auf den Zuschauerraum ausgebreitet. Draußen vor dem brennenden Gebäude hätten die Menschen gestanden, während die Feuerwehr im Inneren die Sitze mit Schaum fluteten. Ein Theater ohne Publikum. Dieser Prolog bildet den Beginn von Tales of the Bodiless, einer Aufführung, die sich fast ausschließlich über das Hören erschließt und von einer Welt ohne Körper erzählt. Gemeinsam mit der Theoretikerin und Dramaturgin Bojana Cvejic hat die Choreografin Eszter Salamon ein etwa einstündiges Stück entwickelt, das bis auf eine zehnminütige Szene mit den Performerinnen Eszter Salamon und Sasa Asentic ohne Körper auf der Bühne auskommt. Die als ›Musical Fiction Without Science‹ bezeichnete Inszenierung setzt sich zusammen aus einer Klangkomposition von Peter Böhm mit elektronischer Musik von Cédric Dambrain und Terre Thaemlitz, aus Texten und Bildern von Cvejic und Salamon sowie aus dem Licht- und Nebeldesign von Sylvie Garot. Can you hear me? Are you there? Can you give me signs? Is it possible to hear me there? Hello! Can you Hear me? Do you want to talk? Are you with me? May I disturb you? Do you prefer that I leave? Did you say something? Can I help you to Remember? (Tales of the Bodiless 2011: 28)
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Die Fragen richten sich flüsternd aus der Dunkelheit an das Publikum. Es ist von elektronischen Klängen umgeben, die über Lautsprecher übertragen werden. Zu hören ist eine weibliche Stimme, der nach und nach weitere Stimmen folgen, die einander ablösen und überlagern und viel- und einstimmig das Geschehen gestalten. Die den Stimmen zugehörigen Körper bleiben unsichtbar. Sichtbar werden über die Zeit der Aufführung Nebelschwaden, die in anwachsenden Wolkengebilden auf der Bühne und dann sich ausdehnend durch das Publikum ziehen. Im wechselnden Licht übertritt der Nebel die Grenzen der Bühne und beginnt die Körper der Zuschauenden zu umhüllen. Neben einer kurzen Videoprojektion treten während der Aufführung einzig in einer als tableau vivant inszenierten Szene zwei nahezu bewegungslose Figuren in Erscheinung. Zwar sind sie körperlich anwesend, jedoch wird ihr Dialog wie die vorangehenden Erzählungen eingespielt, wodurch die Wahrnehmung von Körper und Stimme getrennt erscheint. Die Komposition von Text, Musik, Licht und Nebel schärft die Sinne für das Hören, versetzt die Zuschauenden in den Zustand einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die akustische Erfahrung. Erzählt werden vier Geschichten über die Körperlosigkeit, in denen das eigene ›Dasein‹ durch andere Existenzformen abgelöst wird: von einem Moor, in dem der Körper in Mikroorganismen aufgeht, von Hunden, die eine Evolution ohne die Einflussnahme des Menschen wagen oder von unbekannten körperlosen Lebewesen, die neue Wege der Fortpflanzung erproben. You asked me what is a bog. I can try to describe what a bog feels like. Imagine water concentrated from heavy rains. Its temperature is that of a body that was still alive 20 minutes ago – four degrees Celsius. It is acidic and flammable, contains methane; it is without color and odor. This water is heavy with iron and manganese, thick with moss, but not solid, too wet to walk upon. If you dig four meters deep, you pass from sand through humus until you reach, at a depth of eight meters, a bottom of dark clay. (Tales of the Bodiless 2011: 7)
Die Erzählungen der Körperlosigkeit setzen nach etwa zehn Minuten andauernden, dröhnenden und schwingenden Klängen ein, die wie aus der Ferne den Raum füllen und dann sehr nah und sehr laut in das Ohr dringen. Am Anfang steht eine Frage, die auf eine Welt verweist, in der Körper ihre Eigenschaften verändern, sich über die Dauer der Einwirkung von Zeit und Raum und die Begegnung mit anderen Körpern zersetzen, auflösen. Gleichzeitig prägt dieser Anfang den Modus der Wahrnehmung für die Aufführung, die sich im Wesentlichen in der Vorstellung der Zuschauenden abspielen wird. Die Perspektive auf das Moor geschieht aus dem Inneren heraus, inmitten aus den feuchten und dunklen Tiefen organischer Ablagerungen von Pflanzen und menschlichen Körpern. Die Erzählung inmitten diffuser Klänge ermöglicht den Zuschauenden die eigene Position in Analogie mit der Situation im Moor
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wahrzunehmen – gleichsam als Leiche. Die Stimme des Erzählers spricht ihn in seiner lebendigen Anwesenheit im Raum des Theaters an, in dem er, meist von Nebel umhüllt, die Sicht auf den eigenen Körper sowie auf den ihn umgebenden Körper verliert. In der folgenden Erzählung ist die Welt der Körperlosen von Hunden übernommen worden. Auf der Gaze zwischen Bühne und Zuschauerraum erscheint in Schwarzweiß die Videoprojektion von einem Pflock mit einer sich spannenden und nachgebenden Leine, an dessen Ende offensichtlich ein Hund zerrt, der jedoch außerhalb des Bildrahmens bleibt. Nach einer Weile ist das Bild verschwunden und ein Dialog zwischen zwei Hunden zu verfolgen, die sich an ihre Zeit mit den Menschen erinnern, mal voller Demut, mal voller Sehnsucht, mal voller Hass. Eine Zeit, in der sie in zahlreichen Rollen Dienste übernommen haben als Spürhunde, Nutzhunde, Hilfshunde, Wachhunde, Blindenhunde (Tales of the Bodiless 2011: 13-22). Es ist die Rede von Krebsarten, die zu erschnüffeln Aufgabe des Spürhundes war, von den Auswirkungen von Züchtungen und Klonprogrammen. Die gesprochenen Texte werden begleitet von flüsternden Stimmen, die im Hintergrund ihren Obsessionen und Aggressionen Ausdruck verleihen. Sie bitten einander sich zu lecken, zu streicheln, zu ficken. Nach und nach sind auf der Bühne eine Performerin und ein Performer zu erkennen, die in einem gewissen Abstand nahezu bewegungslos einander gegenüberstehen. In der hellen Kleidung eines Jockeys und einer Krankenschwester, heben sich ihre Figuren in rotem, rosa und grünem Licht klar und scharf vom Nebel ab. In dem diffusen Dunst treten die Körper in einer Bildhaftigkeit hervor, die ihre physische Existenz unwirklich – substanzlos erscheinen lässt. Skin is gone. Flesh is gone, too. Bones went away the last. If I can’t use my hands, because I don’t have arms, I can’t grab. If there is no grabbing there is no writing. If I can’t grab you can’t steal or masturbate. If there is no arm, there is no armpit and no sweat anymore. If you don’t smell you lose the taste, too… If there is no skin there is no touch. If there is no outside, there is no mouth nor lips, you can’t kiss or bite. If you have no mouth, you can’t breathe and you lose your voice. (Tales of the Bodiless 2011: 26f.)
In der dritten Erzählung wird von körperlosen Wesen berichtet, die an die Stelle der sogenannten körpervollen treten – sie substituieren ihre Anwesenheit. Der Vorgang der Substitution folgt dabei einem Lustprinzip, nach dem die körperlosen Wesen sich nach ihrem verlorenen Körper sehnen, ihn begehren. Die Befriedigung suchen sie in denen, die noch einen Körper haben, den sogenannten Substituierten, die an ihrer Stelle und ihren Aufforderungen folgend, ihre Sexualität ausüben. Diese kommt ohne Körperkontakt aus und vermittelt sich – wie für den Zuhörer – rein verbal. Der Körper der Substituierten verändert dabei seine Form und verwandelt sich nach und nach in den
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Schaum unendlicher Blasen, die in eine Unzahl von Mikroorgasmen explodieren und in kleinsten Teilchen weiter bestehen. Diese Spots prägen die vierte Erzählung der Körperlosen, in der von der Transformation des menschlichen Körpers in Punkte berichtet wird, die für den Bruchteil einer Sekunde oder bis in die Unendlichkeit fortbestehen können. Der abschließende Dialog ist ein Dialog zwischen diesen Punkten, die eine Zersetzung und Zerstreuung der menschlichen Körper versinnbildlichen, die in der Anordnung und Verteilung der Stimmen widerhallen. In unendlichen Stimmpartikeln scheinen sie durch den Raum zu schweben, sich fragend, wie sie sich durch die Strömungen und Farbwechsel bewegen, wie sie nebeneinander bestehen können, während das Publikum nun vollends von Nebel eingehüllt ist. Im Licht sind die einzelnen Rauchschwaden zu erkennen, ihre Ausdehnungen und Auflösungen – Bewegungen ohne Körper. Tales of the Bodiless führt zu einer (Selbst-)Reflexion der körperlichen Wahrnehmung, die sich maßgeblich über die medial vermittelte Vorstellung einstellt. Der Begriff der Vorstellung bezieht sich hier auf zweierlei: auf den über Text, Bild und Klang präsentierten und den durch die Akte der Vermittlung imaginierten Körper. Die sprachliche, bildliche und klangliche ›Auflösung des Körpers‹ drängt zu einer grundlegenden Befragung der Bedeutung des Körpers für die ästhetische Erfahrung im Theater – zumal im Tanz. Ist dieser meist mit der Erwartung hoher körperlichen Präsenz verbunden, wird hier eine Choreographie wahrnehmbar, die nahezu ohne die Bewegungen menschlicher Körper auskommt und im Wesentlichen aus der zeitlichen und räumlichen Anordnung von Klang, Text, Licht und Nebel besteht. Ebenso wie die Körper der Performer und Performerin treten dabei auch der eigene Körper und der der anderen Zuschauenden weitgehend aus dem Feld des Sichtbaren. Der Nebel, der gemeinhin Orientierungslosigkeit zur Folge hat, führt zu einer Konzentration der Sinne auf die akustische Dimension und auf die Position des Körpers im Raum. Im Nebel verlangsamt sich unsere Bewegung, verlieren wir mit der Sicht auch den Weg, bleiben auf der Stelle. Im Theater ist es der Platz jeder und jedes Einzelnen, der unsicher wird, inmitten eines Publikums, von dessen Anwesenheit ich weiß, das ich jedoch kaum mehr sehen und hören kann. Auch die Sicht auf die Bühne ist getrübt – eine Bühne, die jedoch ohnehin weitgehend leer bleibt. Eine körperlose Welt erfordert, wie Bojana Cvejic in ihren Ausführungen zu Tales of the Bodiless (Cvejic 2011: 114) formuliert, ein Theater, in dem das einzig verbleibende menschliche Organ die Stimme bleibe, »allerdings getrennt von den Körpern, eine akusmatische Stimme, deren Kraft in ihrer Forderung liegt: ›Hör mir zu!‹« (Cvejic 2011: 115). Dabei wird die Stimme selbst in ihren körperlichen Eigenschaften spürbar. Die mediale Übertragung durch die Lautsprecher, die sich weder sehen noch über den Klang klar orten lassen, tragen jedoch zu einer eigentümlichen Ent- und Befremdung bei, die den Eindruck
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einer Körperlosigkeit ›verstärken‹. Es ist kein Körper zu sehen, dem diese Stimme zugehörig sein könnte. Und welche Körper könnten das sein? Wir hören von Körpern der Moorleichen, Pflanzen, Hunden und Mikroorganismen, die ihre Geschichten teils aus der Ich-Perspektive erzählen. Wenn aber auch die Körperlosen eine Stimme haben, stellt sich schließlich auch die Frage, ob unsere Stimme (noch) einen Körper hat – ob sie uns gehört. Durch die Trennung von Körper und Stimme wird auch die namhafte Präsenz der Performenden und mit dieser auch die eigene Anwesenheit ungewiss – unsicher. Damit reflektiert die Inszenierung inhaltlich und medial die Position eines sprechenden Subjekts, die jeder Alltags- und Theatererfahrung zuwiderläuft. Mit ihrem »Theater ohne Körper« stellen Salamon und Cvejic Konzepte der Live- und Ko-Präsenz zur Disposition, die auf der Erfahrung eines gemeinsam geteilten Raums der anwesenden Körper auf der Bühne und im Publikum basieren. Hörbar aber unsichtbar wird in vermeintlich unmittelbarer Evidenz die Vorstellung eines Körpers aufgerufen, die durch die Erzählung selbst wiederum unterlaufen wird. Bereits zu Beginn wird die körperliche Anwesenheit der Zuschauenden durch die Erzählung über ein von einem Theaterbrand vertriebenes Publikum Teil der inszenierten Abwesenheit. Durch den Entzug eines physisch und motorisch präsenten (Tänzer-)Körpers stellt sich die Frage, inwiefern die Erfahrung der Präsenz von Körpern auch an Körper gebunden ist. Die Inszenierung lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Wahrnehmung der Aufführung, die sich jenseits eines Körpers ereignet. Es kommt vielmehr zu einer Vorstellung, die sich, losgelöst von einem sichtbaren Körper, in den Gedanken abspielt.23 Mehr in stiller Versenkung als in unmittelbarer Nähe zum Geschehen wird hier der eigene Körper in Differenz zu den medial präsentierten und imaginierten Körpern erfahrbar. Vor dem Hintergrund der in der Inszenierung angelegten und ermöglichten Erfahrung einer anwesenden Abwesenheit und abwesenden Anwesenheit wird im Folgenden eine Revision von Konzepten der Ko-Präsenz unternommen, um diese abschließend mit einigen theoretischen Ansätzen zu einer Idee einer Ko-Absenz zu befragen und zu erweitern.
Zur Theorie der Ko-Präsenz Die Auffassung einer gemeinsamen und geteilten Erfahrung aller in einer Aufführung Anwesenden als grundlegende Bedingung des theatralen Ereignisses bildet bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Voraus23 | Damit verweist Tales of the Bodiless auf den für die Theatererfahrung grundlegenden Vorgang der Imagination, der es dem Zuschauer erlaubt, sich Abwesendes vorzustellen bzw. Anwesendes immer nur über den Umweg der Imagination zugänglich wird. Siehe hierzu Müller-Schöll (2014).
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setzung zur Begründung der Theaterwissenschaft. Die spezifische Medialität der Aufführung als transitorisches Ereignis ließ eine deutliche Abgrenzung von einem Theaterverständnis zu, nach dem die Inszenierung in erster Linie der Umsetzung des Dramentextes diente und damit vorrangig der Literaturwissenschaft zugeordnet blieb (Corssen 1998; Wortelkamp 2006: 56-69). Die maßgeblich durch Max Herrmann getroffene Bestimmung der Theaterwissenschaft durch die spezifische Eigenschaft der Aufführung ermöglichte nicht nur eine Betrachtung des Theaters jenseits eines zugrundeliegenden Textes, sondern machte auch das wechselseitige Verhältnis zwischen Darstellenden und Zuschauenden zur theoretischen und historischen Bestimmung dieser Kunstform: [Der] Ur-sinn des Theaters […] besteht darin, daß das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind, – Teilnehmer und Zuschauer. […] Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. Es bleiben so viele Teilvertreter übrig, die das Theater-Fest bilden, so daß der soziale Grundcharakter nicht verloren geht. Es ist beim Theater immer eine soziale Gemeinde vorhanden. (Herrmann 1981: 19)
Wenngleich die Forschungen Max Herrmanns im Kontext einer akademischen Tradition stehen, in der sich die Wissenschaften der Künste vornehmlich als historische verstehen, so erscheint es doch bemerkenswert, dass sie sich einzig auf das vergangene und damit für ihn als Zuschauer unzugängliche Theaterereignis beziehen. Die Aufführungskunst und die Bedingungen ihres Erscheinens bilden zwar den Kern der Argumentation Herrmanns, jedoch ist das Ziel nicht die Reflexion der zeitgenössischen und künstlerischen Praxis, sondern ihrer Geschichte, die eine eigene wissenschaftliche Methodik erfordert. Dies lässt sich bereits der Einleitung zu Herrmanns Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance (1914) entnehmen, in der er einen allgemeinen und verallgemeinerbaren Anspruch einer »theatergeschichtlichen Wissenschaft« vertritt: Das Drama als dichterische Schöpfung geht uns aber in der Theatergeschichte nur insoweit etwas an als der Dramatiker bei der Abfassung seines Werkes auch auf die Verhältnisse der Bühne Rücksicht nimmt, und uns insofern also das Drama uns einen unbeabsichtigten Abdruck vergangener Theaterverhältnisse liefert. […] Die wichtigsten Einzelgebiete, die wir zu erhellen haben, sind: das Theaterpublikum, die Bühne mit ihren verschiedenen Einrichtungen, die Schauspielkunst und endlich die künstlerische Leistung der Vorstellungen. (Herrmann 1914: 3f.)
Und genau diese Erkenntnis bedarf eines besonderen theaterhistoriografischen Verfahrens, das weit über die Analyse des Dramentextes hinausgeht.
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Das Theater als ein Ort der Zusammenkunft und der Teilnahme ist nicht (zumindest nicht ausreichend) mit den literaturwissenschaftlichen Mitteln zu ergründen. Vor allem die Konzentration auf das Publikum erfordert eine spezifische Kompetenz, die schließlich zur Legitimation der Theaterwissenschaft als universitäre Disziplin beiträgt. Die entsprechende historiografische Methode ist für Herrmann die Rekonstruktion, womit er der Annahme folgt, dass vergangene Theaterbauten und -inszenierungen mit Hilfe von Quellen in allen Einzelheiten soweit zu veranschaulichen sind, dass eine physische Rekonstruktion der Bühnenform und eine Aufführung im historischen Stil möglich wären (Herrmann 1914: 5; Balme 2001: 28). Leibhaftig anwesend werden sollen damit neben der materiellen Beschaffenheit einer Inszenierung, der technischen Einrichtung und der Inszenierungsidee auch die schauspielerische Darstellung sowie Erlebnisse und Urteile des Publikums. Mit der Rekonstruktion der Aufführung verlagert sich allerdings auch die Wahrnehmung der Aufführung in ein Forschungslabor, das von der Erfahrungswelt und Lebenswirklichkeit eines Theaterpublikums abgeschieden ist. Aktuelle theatertheoretische Definitionen der Ko-Präsenz schließen unmittelbar an das von Herrmann geprägte Konzept von Theater als Ort des Spiels und der Teilnahme an. Sie sind eng verbunden mit einem Verständnis von Theaterwissenschaft als Wissenschaft von der Aufführung, wie sie etwa von Erika Fischer-Lichte vertreten wird: Es ist die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, welche eine Aufführung allererst ermöglicht, welche die Aufführung konstituiert. […] Die leibliche Ko-Präsenz meint vielmehr ein Verhältnis von Ko-Subjekten. Die Zuschauer werden als Mitspieler begriffen, welche die Aufführung durch ihre Teilnahme am Spiel, d.h. ihre physische Präsenz, ihre Wahrnehmung, ihre Reaktionen hervorbringen. Die Aufführung entsteht als Resultat der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern. Die Regeln, nach denen sie hervorgebracht wird, sind als Spielregeln zu begreifen, die zwischen allen Beteiligten – Akteuren und Zuschauern – ausgehandelt und gleichermaßen von allen befolgt werden können. Das heißt, die Aufführung ereignet sich zwischen Akteuren und Zuschauern, wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht. (Fischer-Lichte 2004: 47)
Formulierungen wie diese kursieren nahezu wortidentisch im theaterwissenschaftlichen Diskurs (u.a. Kolesch 2014: 268; Lehmann 1999a: 255; Fischer-Lichte 2010: 25f.; Roselt/Weiler 2017: 19f.). Sie gehen häufig einher mit einer Abgrenzung von materiell fixierten Artefakten der bildenden Kunst und der Literatur, die eine wiederholte und anhaltende Betrachtung ermöglichen sollen. Was dabei implizit in Abrede gestellt wird, ist, dass nicht auch die Erfahrungen einer Kunstbetrachtung wesentlich von der physischen Präsenz von Objekt und Subjekt abhängen, deren Begegnung in einem spezifischen Kontext und unter Zuhilfenahme je spezifischer inszenatorischer Strategien in
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spezifischen Formaten arrangiert und inszeniert ist. Die wesentliche Differenz für die ästhetische Erfahrung liegt, so scheint es, in der »Begegnung lebendiger Menschen« (Kolesch 2014: 268). Sie gilt als Voraussetzung für die Wechselwirkung einer sogenannten »Feedback«-Schleife (Fischer-Lichte 2004: 59), durch welche die Aufführung zu allererst hervorgebracht wird. Sie vollzieht sich, so das Konzept, im Hier und Jetzt. Dabei steht weniger die mentale Auseinandersetzung mit dem Geschehen, als vielmehr die durch die gemeinsame leibliche Anwesenheit bedingte körperliche Erfahrung im Vordergrund (Fischer-Lichte 2004: 129/130, 160-175). In logischer Konsequenz konzentriert sich die theoretische Reflexion von Präsenzerfahrung auch auf den zeitlichen und räumlichen Rahmen der Aufführung. Was damit aus dem Sichtfeld rückt, ist auch die Vor- und Nachbereitung des Ereignisses. Auf beide Aspekte macht Hans-Thies Lehmann aufmerksam, wenn er sagt: Diese (die Erfahrung von Präsenz, I.W.) findet eher ex post statt und würde gar nicht motiviert werden, wenn nicht durch das vorgängige Innewerden einer Gegebenheit, die nicht zu denken, zu reflektieren ist und insofern den Charakter des Schockhaften aufweist. Alle ästhetische Erfahrung kennt diese Zweipoligkeit: Konfrontation mit einer Präsenz, »plötzlich« und dem Prinzip nach diesseits (oder jenseits) der brechenden, doppelnden Reflexion; denkende, nachträglich erinnernde, reflektierende Verarbeitung dieser Erfahrung. (Lehmann 1999a: 256)
Keine Präsenzerfahrung ohne Reflexion und ohne Nachtrag. Vor allem das von Lehmann als postdramatisch beschriebene Theater (Lehmann 1999a: 256) provoziert die Erfahrung einer ›postreflexiven (Mono-)Präsenz‹,24 in dem Sinne, dass die Zuschauenden, auf ihre Wahrnehmung selbst verwiesen, die Aufführung nicht nur im Alleingang, sondern auch im und als Nachtrag erfahren. Das Publikum des Postdramatischen Theaters werde, so Lehmann, nicht zur »sofortigen Instant-Verarbeitung veranlaßt«, sondern zum »aufschiebenden Speichern der Sinneseindrücke mit ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹« (Lehmann 1999a: 149). Alles kommt hier darauf an, nicht sofort zu verstehen. Vielmehr muß die Wahrnehmung dafür offen bleiben, an völlig unerwarteten Stellen Verbindungen, Korrespondenzen und Aufschlüsse zu erwarten, die das früher Gesagte in ganz anderem Licht erscheinen lassen. So bleibt die Bedeutung prinzipiell – aufgeschoben (Lehmann 1999a: 148f.).
24 | Den Begriff der »Mono-Präsenz« verdanke ich Johanna Groh, die ihn im Rahmen meines Seminars »Ko-Absenz. Körper und Wahrnehmung im aktuellen Tanz- und Performancegeschehen« im Wintersemester 2014/15 an der Freien Universität Berlin entwickelte.
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Das Ausbleiben von eindeutigen Referenzen, die Komplexität wie aber auch die Reduktion von Theaterzeichen, die Kombination und Selektion von Fragmenten aus einem simultanen und situativen Geschehen verzögern nicht selten das Verstehen. Vielmehr provoziert auch ein »Theater der Präsenz« einen Akt der Distanzierung innerhalb oder außerhalb der Aufführung, wie Lehmann pointiert: »Anwesenheit, Präsenz ist ein ›unzeitiger‹, nämlich zugleich innerhalb und außerhalb des Zeitverlaufs angesiedelter Bewußtseins-Prozeß« (Lehmann 1999b: 13). Dieser ist jedenfalls eine wesentliche Voraussetzung für eine theoretische und ästhetische Reflexion der Aufführung, aus deren Perspektive die Konzeption einer Ko-Präsenz als grundlegende Bestimmung der Theatererfahrung zu allererst folgt. Sie bezieht sich auf eine gemeinsame und geteilte ästhetische Erfahrung, die immer schon vergangen ist. Gemeinsam anwesend in Zeit und Raum sind wir, so meine These, immer nur hinterher. So kann die Diskursivierung von Präsenz selbst als ein Beleg dafür gelesen werden, dass ihre Erfahrbarkeit nicht auf den realen Vollzug des performativen Ereignisses begrenzt ist. Vielmehr ist sie stets von ›Absenzen‹ durchdrungen. Gemeint sind damit weniger die der Aufführung zugeschriebene einmalige, unwiederholbare und somit flüchtige Eigenschaft, als vielmehr jene Abwesenheiten, die bereits in der ästhetischen Erfahrung selbst zu Tage treten: das Nach-Denken und das Abdriften der Gedanken, das Versäumen des Augenblicks, das sich Verlieren in Einzelheiten, das Außer-Sich-Sein oder aber der Rückzug im Theatersessel bis hin zum beseelten Schlaf der Theaterzuschauerin und des Theaterzuschauers. Diese Absenzen sind konstitutiv für das, was wir (als) präsent wahrnehmen und in unseren Erzählungen präsent werden lassen. Den Raum für diese Absenzen öffnen tanz- und theatertheoretische Ansätze zur künstlerischen Praxis von Tanz und Performance der Gegenwart, in denen der Status szenischer Präsenz zur Disposition steht. Diese sollen im Folgenden hinsichtlich ihrer Relevanz für eine wahrnehmungstheoretische Konzeption einer Ko-Absenz befragt werden.
Zur Theorie der Ko-Absenz Als grundlegend für eine Theoriebildung zur Absenz im Theater kann Gerald Siegmunds Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes (2006) gelten. Abwesenheit wird darin, ausgehend von der Analyse der choreografischen Arbeiten von William Forsythe, Meg Stuart und Xavier Le Roy, als ein kritisches und selbstreflexives Potential des Tanzes innerhalb einer auf Präsenz gerichteten »Gesellschaft des Spektakels« (Debord 1996 [1967]) verstanden, auf die sich Siegmund mit Guy Debord beruft. Dieses Potential liegt dabei nicht in dem Insistieren auf die Präsenz des theatralen Ereignisses, sondern in einer von Absenzen durchzogenen Präsenz, wie er sie in der zeitgenössischen
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Tanz- und Performancearbeit reflektiert und inszeniert sieht.25 Präsenz zeigt sich hier, wie Siegmund für eine Ästhetik der Abwesenheit 26 hervorhebt, als ein Effekt von Absenz, der durch die Inszenierung thematisiert und reflektiert wird. Was damit auch auf dem Spiel steht, ist die Repräsentation von Körpern und deren Sichtbarkeit auf der Bühne: Die Körper, die sich in den diskutierten Tanzstücken präsentieren, sind als Alterität zu definieren und zu betrachten. Sie geben dem Subjekt von der Bühne her keine Garantie für die eigene geschlossene Identität; in manchen Fällen, wie bei Xavier Le Roy, spiegeln sie das Subjekt nicht einmal mehr, sondern stellen es infrage, indem sie es befragen. (Siegmund 2006: 37)
Dabei bewegt sich der tanzende Körper, Siegmund folgend, stets innerhalb einer symbolischen Ordnung, die das Theater repräsentiert und dessen Subjekt entsprechend einer Konzeption des begehrenden Körpers immer sprachlich-diskursiv vorgeprägt ist. Der Körper, der in Erscheinung tritt, ist ein inszenierter und choreografierter und somit ein imaginierter Körper. Der Körper konstituiert sich im Tanz maßgeblich durch Bewegung, durch die er immer wieder aufs Neue destabilisiert und dekonstruiert wird. Der Tanz, der von ihm ausgeht, vollzieht eine permanente Revision einer sich manifestierenden und materialisierenden physischen Präsenz. Produziert wird nicht Präsenz, sondern Absenz (Gumbrecht 2004: 37). Diese Produktion von »Absenz« (Siegmund 2006: 45) gründet dabei auf einem impliziten, akkumulierten Wissen, das für Siegmund als »Potentialität, Möglichkeit und Handlungskraft im Imaginären ausgespielt werden kann. Dieses Potential ist nicht einfach phänomenologisch gegeben. Es ist nirgendwo verortbar, sondern als Abwesendes, als Spur in den Muskeln, Nervenbahnen und Gelenken der Körper angelegt« (Siegmund 2006: 45). Weder der Körper noch seine Bewegungen sind uns unmittelbar verfügbar und verweisen vielmehr darauf, dass jede Unmittelbarkeit eine imaginierte und damit ein medialer Effekt ist. Was wir an und von Körpern wahrnehmen, geht über die Anwesenheit der Tanzenden hinaus und gründet stets auf einer Dimension jenseits des gegenwärtigen Erscheinens. Vor allem im Tanz vermag die wechselseitige Beziehung von An- und Abwesenheit als grundlegende Bedingung des theatralen Ereignisses bewusst zu werden, insofern Bewegung 25 | »Die Präsenz des Tanzes muss, um dem bloßen Austausch von Informationen und Neuigkeiten, Stilen und Bewegungen im immerwährenden Präsens zu entkommen, den Umweg über die Abwesenheit gehen, um eine andere Form von Erfahrung, eine uneinholbare Erfahrung, wie sie der Tod darstellt, für Tänzer und Publikum zu ermöglichen« (Siegmund 2006: 33f.). 26 | Siegmund rekurriert hier auf Dietmar Kampers Ästhetik der Abwesenheit (1999).
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als seine wesentliche Darstellungsform stets über die materielle Physis der Darstellenden hinausweist. Diese aber ist uns nie einfach gegeben, wie auch Krassimira Kruschkova herausstellt, wenn sie die Unverfügbarkeit des Körpers als ästhetische Prämisse des Theaters beschreibt: »Der Körper (auf) der Szene ist abwesend« (Kruschkova 2005: 12). Zeitgenössischer Tanz und Performances stellen für Kruschkova diese Unverfügbarkeit aus, indem sie die Präsenz des performativen Körpers mit Absenzen versehen und die Realität seiner Erscheinung und Gegenwart verunsichern. Im Blick auf Inszenierungen von Jérôme Bel, Meg Stuart und Philipp Gehmacher spricht Kruschkova von einer »performative[n] Praxis des Entzugs«, die den Körper an die Grenzen seiner Möglichkeit bringt und seine szenische Präsenz als Absenz ausweist. Das Sichtbare wird unsichtbar und damit als Voraussetzung der Wahrnehmung bzw. seiner Wahrnehmbarkeit hinterfragt. Ins Bewusstsein tritt das, was jenseits des Sichtbaren liegt, das Hör- und Spürbare, das von einem zitternden Körper ausgeht, von dem Geräusch seiner Bewegung oder dem Timbre seiner Stimme. Durch den Entzug des Sichtbaren intensiviert die Szene heute paradoxerweise eine präsente Absenz, die gerade als erinnerte Spur, als markierte Abwesenheit statt als spektakuläre Gegenwart umso mehr da ist. Das Abwesende wird gerade über seine Lücke figuriert, indem es Anwesenheit ver-spricht. Das Präsente könnte man sagen, versäumt sich. (Kruschkova 2005: 11)
Mit der Unter- und Durchbrechung der Sichtbarkeit wird auch die Möglichkeit der Zu- und Überschreibung der Darstellung mit Bedeutung unterlaufen. Die Inszenierung einer präsenten Absenz impliziert somit eine Destabilisierung der Repräsentation und des Referenziellen, wodurch die Wahrnehmung des Zuschauenden selbst in Szene gesetzt wird. Und zwar als ein selbstreflexiver Prozess, der Imaginationen und Projektionen innerhalb und außerhalb des theatralen Ereignisses einschließt. Indem Kruschkova gerade den Entzug der Sichtbarkeit als wesentliche Voraussetzung des Szenischen versteht, revidiert sie auf die physische Präsenz ausgerichtete Theorien des darstellenden Körpers. In eine vergleichbare Richtung zielen die Überlegungen Heiner Goebbels’ zu einer Ästhetik der Abwesenheit, wenn er, ausgehend von seinem künstlerischen Interesse an einem Verschwinden der Darstellenden wie er es etwa in Ou bien le débarquement désastreux (1993) oder in Stifters Dinge (2007) verfolgt, dem Konzept einer leiblichen Ko-Präsenz das der Alterität entgegenstellt. Ein ›Theater der Abwesenheit‹ eröffnet für ihn eine ästhetische Erfahrung, die nicht unbedingt in einer direkten Begegnung (mit dem Schauspieler) liegt, sondern durch Alterität hervorgebracht wird.
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Isa Wor telkamp Alterität, die nicht als eine direkte Beziehung zu etwas zu verstehen ist, sondern als ein indirektes Dreiecksverhältnis, bei dem die theatralische Identifikation ersetzt wird durch eine unsichere Konfrontation mit einem vermittelnden Dritten, etwas, das wir vielleicht den »Anderen« nennen können. (Goebbels 2012b: 20) 27
Erst ein Theater, das nicht alles zeigt, macht die Erfahrung des Anderen möglich wie die eines ungesehenen Bildes, eines ungehörten Wortes oder Klanges – oder eines unbekannten Körpers (Goebbels 2012b: 20). Dieses Andere entsteht durch eine Inszenierung der Absenz, die Goebbels im Wesentlichen durch ein Zurücktreten des Schauspielers aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit, durch die Aufspaltung aller beteiligten theatralen Elemente und schließlich die Trennung von Körper und Stimme und der damit verbundenen De-Synchronisierung von Hören und Sehen realisiert sieht (siehe zu weiteren Merkmalen von Abwesenheit Goebbels 2012b: 17). Gerade durch das Unterlaufen einer gängigen Vorstellung von Präsenz und Intensität auf der Bühne entstehe ein leeres Zentrum, das die Zuschauer und Zuschauerinnen verunsichere und seine Wahrnehmung zum Souverän der Erfahrung mache (Goebbels 2012c: 100). Bezieht man tanz- und theatertheoretische Ansätze einer Ästhetik der Abwesenheit auf eine Konzeption einer Praxis der Theatererfahrung, gelangen die Auswirkungen eines Körpers in absentia auf die Wahrnehmung im Theater ins Blickfeld. Welche körperliche Erfahrung ermöglicht die Darstellung eines Körpers, die weder in dessen Sichtbarkeit noch in seiner Gegenwart aufgeht? Wie nehmen wir uns als Zuschauende wahr, wenn es nichts mehr zu sehen gibt? Wie präsent erfährt sich ein Publikum in einem »Theater ohne Körper«? Was in einem aktuellen Tanz- und Performancegeschehen verstärkt in Szene gesetzt wird, ist ein Körper, der nicht jenseits bestehender soziokultureller, medialer und technologischer Kontexte zu erfahren ist. Seine Präsenz erscheint als eine durch imaginäre, sprachliche und kulturelle Prozesse konstituierte, die stets auf eine Realität außerhalb des Theaters – jenseits des Körpers verweist. Der Körper, den wir sehen, ist ein Konglomerat von Kontextualisierungen, die wir getroffen haben oder die für uns getroffen wurden. Was erscheint, ist stets ein anderes, das von einer körperlichen Anwesenheit ausgeht und zugleich über sie hinausgeht. An- und Abwesenheit bedingen sich dabei wechselseitig, so dass weder nichts, noch alles da ist. Weder füllt Präsenz Absenz, noch entsteht Absenz an Stelle von Präsenz. Absenz ist daher nicht als Gegensatz von Präsenz zu denken, sondern figuriert sich stets innerhalb eines relationalen Gefüges von An- und Abwesenheiten (Ernst 2010: 2). Dabei ist die Erfahrung von Präsenz nicht unweigerlich an die physische und materielle
27 | Siehe zum Konzept der Alterität auch Eiermann (2009).
Tales of the Bodiless
Vorhandenheit eines Körpers gebunden, ebenso wenig wie die Erfahrung von Absenz einzig durch dessen Fehlen möglich ist. Dies zeigt sich insbesondere an der Inszenierung Tales of the Bodiless, in der durch die Abwesenheit von Körpern auf der Bühne ihre Anwesenheit in die Vorstellung der Zuschauenden verlagert wird. Körper-Wahrnehmung weist sich dabei als imaginärer und selbst-reflexiver Akt aus. ›Präsent‹ werden Körper hier durch die mediale Vermittlung von Bild und Klang sowie durch die auditive Übertragung des gesprochenen Textes. Dabei wird im dunklen und vernebelten (Hör-)Raum auch das Sichtbare Teil einer weitgehend diffusen und fragmentierten Wahrnehmung. Es kommt zu einer eigentümlichen Verunsicherung der eigenen körperlichen Gegenwart im Verlauf des Geschehens, das selbst die kurzzeitige Ansicht der Performerin und des Performers medial vermittelt erscheinen lässt. Weder die Erfahrung von Anwesenheit noch die der Abwesenheit von Körpern scheint hier an ihre leibhaftige Gegenwart gekoppelt zu sein. Die Erzählungen zur Körperlosigkeit von Salamon und Cvejic ließen sich in dem hier ausgeführten Sinne als Theorie für eine Ko-Absenz verstehen. Ein »Theater ohne Körper« verweist auf eine Zuschauererfahrung, die im theaterwissenschaftlichen Diskurs bislang kaum Beachtung gefunden hat. Nämlich die Erfahrung einer Distanz und Differenz zum Geschehen auf der Bühne und innerhalb des Publikums. Eine Erfahrung, die nicht auf den Konsens und die Präsenz von Publikum und Performenden gerichtet ist, sondern die sich durch beiderseitige Dissonanzen und Absenzen auszeichnet. Sie ist nicht auf die Sichtbarkeit der anwesenden Körper im Raum der Aufführung begrenzt, sondern bezieht auch das ein, was sich unsichtbar gleichsam vor dem inneren Auge abspielt. Obsolet wird damit eine auf Präsenz insistierende Rede, die einer distanzierten und reflektierten Betrachtung ihren Platz außerhalb des Theaters verweist.28 Weder die Erfahrung von Präsenz noch die von Absenz ist auf die Zeitlichkeit der Aufführung begrenzt; ihr Ereignis begründet sich somit nicht in einer von Performenden und Publikum gestifteten Gegenwart, sondern wird vorausgreifend und erinnernd hervorgebracht.
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28 | Siehe zu den aufführungsanalytischen Implikationen dieses Zugangs Bormann (2012).
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V erwandlung und R ausch . A rchaik , E kstase techniken und R itual zwischen K ult und S ymbol Hans Ulrich Reck Wir leben in einer Gesellschaft, die sich seit langem nicht mehr auf den Rausch versteht. Sie hat sich auf die Generierung von Sucht, auf Verwaltung und vor allem Kriminalisierung der Suchtmittel an der Stelle einer Rauschkunst verlegt. Sie verbannt an der Oberfläche heftig, was sie in der Tiefe irritiert und bewegt. Im 20. Jahrhundert treten die Künste der westlichen Zivilisation das Erbe der rituell-kollektiven und prononciert pathetischen Ekstasetechniken an. Auf dem Hintergrund der vitalistischen Träume von entfesselter Intensität und Lebendigkeit, von Verwandlung und Transformation allen Lebens durch Kunst und Utopien wird der Dialektik von Rausch und Symbol, von Pathos und Verwandlung, von Intensität und Distanzierung, von Vitalität und Transformation nachgegangen. Viele Epochen und prä-moderne, nicht-westlich geprägte Sphären menschlicher Kulturentwicklung belegen, dass die kundige Begleitung der für Leben, ›Vitalität‹ allgemein, stehenden Metamorphosen – durch entsprechend im Transzendieren Kundige und Befähigte mittels Reise in ein weites Außen – existenziell entscheidend ist. Ohne die Kundigkeit des Außer-Sich-GeratenKönnens ist ein ebenso pathosfähiger wie philosophischer Entwurf von Gesellschaft aus der Sicht von rituell-kollektiven Ekstasetechniken weder sinnvoll noch gar möglich. Er kann nicht gelingen. Den Rausch zu individualisieren und biochemischen oder anderen Mitteln zu überlassen, zumal hochkonzentrierten, also chemisch oder anti-alchemistisch zugespitzten, bringt dagegen Gefahren mit sich, die das Individuum hoffnungslos überfordern. Es ist aus der Sicht archaischer Ekstasetechniken das Kennzeichen des ungelösten Verwandlungsproblems der individualisierten Suchträusche, dass sie das Individuum meist überbewerten, dass sie unverantwortlich sind und zudem ein falsches Versprechen abgeben. Im Zeichen der Verlagerung der Rauschunfähigkeit auf ›Drogen-Sucht‹ geht schlechterdings alles schief, was durch Verselbständigung von Verwandlungssehnsüchten in diesem Feld im Elend der auf Akkumulation fixierten hochindustrialisierten Gesellschaften schief gehen kann. In genau dem Maße, wie die in den Dispositiven der gesellschaftlichen und der Wissens-Organisation im nach-antiken Abendland regulierte und unbedingt verordnete Rauschunfähigkeit in Sucht verwandelt und diese als Problem der Stoffe und Mittel isoliert und getrennt wird von den verlorenen, verschwundenen Ritualen, wird das Individuum aus jenem Zusammenhang herausgelöst, der dann nun nur noch indirekt, in Relikten und Resonanzen
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durch die historischen Zeitumbrüche hindurch aufscheint: in trauervoller, blass gewordener Erinnerung bestenfalls. Gebrochen und vermittelt – oder über externe Beobachtungen diverser Kulturen – kann Zeugnis abgelegt werden von den archaischen Fundierungen des menschlichen Lebens in der Kundigkeit der Ekstasen, der angeleiteten Verwandlung des irdisch Gegebenen in ein Transzendentes. Die stetigen Einwirkungen eines Numinosen in das Profane sind mit dem Siegeszug der Arbeitsgesellschaft verschwunden, die alle Energien von der Unbedingtheitsforderung des rituellen Bezugs abgelöst und keine Zeit mehr hat für Verschwendung, Verausgabung, Feste und Feiern als genuine und auf ein Ganzes zielende Wirklichkeitsentwürfe. Schamanismus und Rituale sind verloren gegangen und wirken ebenso nur noch als verstellte Echos nach wie Spuren des Archaischen im Rechtssystem, dessen Rationalität ja gerade nicht rational begründet werden kann. Stets zu beobachten sind magische Fermente, Markierungen und Spuren auch in vielen Ausdrucksformen der industrialisierten Gesellschaften, beispielsweise im Fetischismus und Totemismus der Marken, der Dinge, Objekte, Werbebotschaften.
Ekstatische Ver wandlung So wie Alchemie in der Chemie weniger auf- als vielmehr untergegangen ist, so wie das hermetisch Okkulte in den Esoterismen einer ›Sinnkrisen‹ kompensierenden Lebensweisheit verstellt ist und so, wie die Arzneikunst eines Paracelsus und der Rosenkreuzer durch den militärisch bewaffneten Kampf der Medizin um eine auf Jahreszahlen fixierte Verlängerung des Lebens und eine Ausgrenzung des Todes aus den Figuren einer universalen Metamorphose des Lebens zerstört worden sind, so sind vergleichbare Reste immer wieder in eine gefahrenreiche Zone verbannt worden, in welcher angeblich hedonistisches Erleben den Preis zahlt für den Verlust des Niedergangs der kollektiv ritualisierten Rauschkundigkeit und besonders der schamanistischen Ekstasetechniken. Es ist aufschlussreich, dass der bedeutende Religionshistoriker Mircea Eliade (2006 [1951]) das Okkulte als einen heimlichen, faszinierenden wie verfemten Subtext der Moderne entziffert und die Figur des Schmieds mit der Laborkunst der Alchemisten in Verbindung gebracht hat. Auch die Schmuckkunst steht, vielleicht als letzte, in einer direkten Verbindung zu nicht nur alchemistischen, sondern uralten Verwandlungskünsten des metallurgischen Laboratoriums und zeugt, bisweilen auch stellvertretend, in Formgebungen von einer hermetisch grundierten Anverwandlungskunst. Deshalb kann im Zeichen der Kundigkeit des Schmückens das Experiment mit darstellbaren Verwandlungsfiguren in einer Weise methodisch begleitet werden, die weder auf Expressivität individualisierten Kunstmachens noch auf die methodische Begründung eines rational instrumentierenden oder funktional sich behaup-
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tenden Designprozesses abzielt. Die Kundigkeit der schamanistisch inspirierten Experimente ist eine Kunst des Dazwischen, der Schwebe und auch des Mäanderns, des Hakenschlagens im Feld einer durch ›Vernunft‹ drastisch bereinigten, aber leider auch radikal zurechtgestutzten Lebendigkeit.
Destruktivismus des Rausches Der Schamane ist die Figur, die Mircea Eliade ([2006] 1951) in seinem herausragenden vergleichenden Werk zu den archaischen Ekstasetechniken (Verwandlung, Wiedergeburt, Reise in das Himmelsgewölbe, Vermittlung der Geister, Begleitung der Gestorbenen und der Seelen in die Unterwelt, Herstellung der Beziehung zu Ahnen usw.) als Techniker und Experte der Ekstase in allen ihren Ausdrucksformen beschrieben hat. Kein Wunder, dass nach der alchemistisch grundierten Romantik der empfindsame Künstler an die Stelle des aus den Modernisierungsprozessen verschwundenen Schamanen tritt – nicht selten vordergründig und in aufdringlicher Weise. Interessanter- wie bezeichnenderweise finden sich magische Resonanzen der schamanischen Verwandlungskunst aber auch und gerade in den Gegenkulturen, die so schnell und deutlich, oft aber auch ungerechtfertigt, in den grauen Dunst obskurantischer Abwegigkeiten gestellt werden. Ein bedeutendes Beispiel sind hier gewiss die in der Nachfolge Friedrich Nietzsches und an Antonin Artauds Erfindung eines physischen Aktionismus im Kontext seines Konzepts des »Theaters der Grausamkeit« (Artaud 1968; siehe auch Artaud 2017 [1947]29) geschulten poetischen Performances des Dichters und Lead-Sängers der Doors: Jim Morrison war ein kundiger, in diverse Ethnographien ausgreifender, ausgebildeter Filmer und ein überaus belesener, an den Poeten Russlands und Frankreichs des 19. Jahrhunderts geschulter Dichter. Er beruft sich auf William Blakes The Marriage of Heaven and Hell 29 | Artauds Werk Pour en finir avec le jugement de Dieu ist ein surreales Radiokunstwerk, das vom 22. bis 29. November 1947 von Radiodiffusion française in Auftrag gegeben worden war und deren Studios aufgezeichnet wurde. Die Texte wurden von Maria Casarès, Roger Blin, Paule Thévenin und Artaud selbst gelesen; die Begleitung bestand aus Schreien, Trommelschlägen und Xylophontönen. Die einzelnen Kapitel bestehen aus Soundeffekten, z.B. ein Schrei Artaus in einem Treppenhaus oder die Geräusche eines Schlagabtauschs Artauds mit Roger Blin, und Textfragmenten. Das Werk wurde am Abend vor seiner ersten Ausstrahlung durch Wladimir Porché, den Direktor der RDF, zensiert, und seine Ausstrahlung schließlich verboten. Nach heftiger Kritik an diesem Verbot kam es zu einer exklusiven Ausstrahlung des Programms vor einem ausgewählten Publikum, das sich aus Journalist*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen bestand. Der ungekürzte Text wurde zwischen Ende 1947 und Anfang 1948 (undatiert) in einer heimlich erscheinenden Ausgabe der Zeitschrift Niza veröffentlicht.
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(1790-93), dieses poetischen wie poetologisch pointierten Entwurfs einer Umstülpung der theologischen Verhältnisse sowie einer Preisung der göttlichen Kraft Satans. Morrison macht dies allerdings nicht in der Weise der schwarzmagischen Satanismuskulte eines gerade in der Rockmusik fatal wirksam gebliebenen Aleister Crowley und seiner Abtei von Thelema – in letzten Ruinen auf entlegenen Felsen oberhalb Cefalus auf Sizilien zu ihrem Ende gekommen.30 Die poetische Entfesselung dieses großen, ebenfalls an der Individualisierung des hedonistischen Rausches Scheiternden und früh durch Selbstzerstörung Gestorbenen vollzieht sich in den Bahnen Charles Baudelaires, Arthur Rimbauds und Gérard de Nervals. Dass Morrison sich immer wieder auf den Schamanismus, zumal den indigenen der USA bezog, erschien damals als typisch exzentrische Koketterie eines intellektualisierenden Rockstars, erscheint von heute aus in vertiefender Betrachtung aber durchaus substanzieller. Morrisons Feier der Intensität in sich wiederholenden Metaphern einer hermetischen Verwandlung und allerlei kabbalistischen Zaubersprüchen, ist kein Zufall, sondern bedeutsam für diese Seite einer Rock-Kultur, die man heute in den Stereotypien der Bewegtbildkonserven und der um den pseudosakralen Geist der Gläubigen sich scharenden, blind affirmierenden Konsument*innen in der Gesellschaft der Spektakel nicht mehr vermuten, geschweige denn auffinden kann. Und auch die radikale, dem eigenen Leib vorbehaltlos wie letal eingeschriebene Selbstopferung mitsamt ihrer Mystifikation, die man mit Claude Escande (2002) als Abspaltung einer Idealisierung und ihren Ersatz durch eine die Leere füllende Depression und selbstmörderische Verwüstung beschreiben kann, hat an Größe und Fatalität ebenso wenig eingebüßt wie an zeitgeschichtlichem Aufschlusswert und Relevanz für die Tatsache, dass die westliche Zivilisation nach, mit dem und vor allem im Verlust der Rituale den Individuen die Instanz einer Rausch-Regulierungs-Autorität überschreibt, mit der diese rest- und hoffnungslos überfordert sein müssen. Morrisons Bedeutung besteht, neben seiner poetischen und künstlerischen Kraft und Qualität als Dichter, Musiker und Sänger, in der Größe, mit der er die Einsicht darin an 30 | Aleister Crowley (1875-1947) war ein britischer Okkultist, Schriftsteller und Bergsteiger, bezeichnete sich selbst als Antichrist und das Große Tier 666. Von 1898 bis 1900 war er Mitglied im Hermetic Order of the Golden Dawn, im Anschluss gründete er eigene Gesellschaften, die sich inhaltlich und formell an diesem Orden orientierten. Das 1904 verfasst Liber AL vel Legis (Buch des Gesetzes) wurde zur Leitschrift seiner neureligiösen Bewegung Thelema. Crowleys Beschäftigung mit Sexualmagie brachte ihn in Kontakt mit dem Ordo Templi Orientis (O.T.O.), dessen Leitung er ab 1925 übernahm. Nach einem Aufenthalt in New York gründete er 1920 in Cefalù auf Sizilien die kurzlebige Abtei Thelema. Crowley beeinflusste die Geschichte diverser Geheimbünde und neureligiöser Orden; aufgrund seiner sexuell aufgeladenen Schriften erlangte Crowley in den 1970er Jahren eine große postume Popularität.
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sich selber im Zeichen einer Radikalisierung der Präsenz und Gegenwärtigkeit eines in jedem Moment verschwinden könnenden Lebens durchsielte und in diesem todesbereiten Spiel durchhielt.
Lebendigkeit der Transformation Zahlreiche bedeutsame Techniken der Verwandlung durch Annäherung, also auch der Annäherung an den Rausch der Verwandlung als rauschkundige Entwürfe von der Poesie über den Wahnsinn bis zu rituellen Überlebensfiguren in archaischen Gesellschaften finden sich als Stoff und Gegenstand in Elias Canettis (1980) grandioser Untersuchung Masse und Macht. Seine Ausführung zur Erstarrungsfigur der Maske beeindrucken besonders. Aber auch die nicht nur darstellenden, sondern bis in die Schreibweise hinein sich den Zuständen der Trance anverwandelnden ›ethnopoetischen‹ Arbeiten eines Hubert Fichte (1987) sind von erstrangigem Aufschlusswert für das Thema. Fichte wollte auf seinen Reisen zum Voodoo-Zauber immer schon so schreiben wie das, was er an diesen Ritualen im afroamerikanischen Raum, besonders auf Haiti, so bewundernswert empfand: die einbrechenden Zwischenformen einer Ekstase in den Bewusstseinsprozessen, die für den klarsichtigen Rausch einer Feier des Lebendigen – gerade auch in der deregulativen Trance – nicht der Rauschmittel bedürfen, sondern den Rausch inmitten der Vergegenwärtigung der Verwandlung der Menschen erlebbar machen. Seine unter dem Titel Xango publizierten, fotografisch von Leonore Mau komplettierten Beschreibungen der Rituale sind ein Programm für die erweiterten Poetiken eines nicht-intentionalen Gebrauchs von Sprache, Wahrnehmung und Ausdruck (Fichte 1987). Die Sprache sollte sein wie die Verzückung der in Trance Geratenen: eine Feier des Rauschs der Verwandlung, durch welche das Leben sich in die Gesellschaft hinein ergießt und nicht umgekehrt, eine Technik der apparativ bewaffneten Gesellschaft, die sich den Rausch als Mittel für die administrative Bewältigung der verdrängten dunklen Seiten eines verlorenen ›Eigentlichen‹ dienstbar machen will. Ein anderen großer Poet, Schriftsteller und Ethnologe, Michel Leiris (1980, 1985, 1991), dessen agile Kundigkeit nicht zufällig vom ersten Kreis des Surrealismus genährt ist, hat ebenfalls die Trance, ihre Theatralität und Musikalität im afro-karibischen Raum als eine Kundigkeit des Lebendigen beschrieben, die sich dadurch dem kanalisierten Wahnsinn entzieht, dass sie das Konzept jener Vernunft sprengt, die sich als Selbstgewissheit und Klarheit triumphal damit durchsetzen will, dass sie ihren Widerpart als Wahnsinn durch Definition ausgrenzt. Sie generiert allerdings diesen durch entsprechende Beschreibungen erst. Die großen Verzückungstechniker und Wahnkundigen erweisen sich dagegen als Verwandlungsfiguren im Rausch, der das Leben selber ist, nicht als chemisch verseuchte oder durch Pilze verdorbene Verführer in einem
Ver wandlung und Rausch
depravierten menschlichen Konzept einer ebenso ängstlichen wie rauschversessenen Kultur, die die Faszination des Rausches nur unter Vorgaben der Straf barkeit ernsthaft erfahren kann. Es sind wesentlich die Konzepte der Verausgabung und Verschwendungen, die Kunst der Entäußerung, wie sie auch Maya Deren (1981 [1953]) in ihrem Dokumentarfilm Divine Horsemen. The Living Gods of Haiti anhand der schamanistisch kundigen »göttlichen Reiter« textlich und filmisch beschrieben hat. Nicht das vernünftige Kalkül, sondern die Kunst der Verausgabung, nicht Anhäufung und Produktion, sondern Verschwendung und Entsagung gegenüber den gegenständlichen Fetischen eines angeblich vernünftig bewältigbaren und planbaren Lebens erweisen sich als die klar- und hellsichtigen Agenten eines Rausches der Verwandlung, der durch Verwandlung als Rausch nicht erreicht werden kann. Der säkularisierte, enteignete, modernisierte, in permanente selbstreferentielle Subsysteme zergliederte Mensch kehrt im Zeichen des Rausches der Verwandlung und den experimentierenden Laboratorien einer metallurgischen Kundigkeit als ein ›anderer‹ wieder. In solchen Laboratorien erscheint, wie seit je in Schmuck-, Form- und Schmiedekunst, das Leben nicht als beherrschbares und das Individuum nicht als Eigentümer, sondern alles Lebendige einzig unter den Zeichen einer Leihgabe, eines kostbar treuhänderisch übergebenen Gutes. Die Feier des Lebendigen bedarf immer des Bewusstseins eines Schamanismus, der seine Aufgabe nicht kraft eigener Gnade oder Herrlichkeit, sondern kraft Begabung zu erfüllen hat – einer weitreichenden Kundigkeit diesseits wie jenseits aller möglichen Grenzen. Und sei es in den Resonanzen, die stets Umwandlung, Transformation, erfordern.
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Präsenz der Dinge D ie A ngst bannen . F otogr afie und die M aterialität des F e tischs am B eispiel von O ne H our P hoto Nicole Wiedenmann Fotos »können mit dem für die Bildwissenschaft grundlegenden Thema der Verbildlichung als Prozess der Angstabwehr zusammengebracht werden« (Hoffmann-Curtius 2002: 8). An diesem Zitat wird deutlich, dass die ›Verbildlichung‹, also der ästhetische Bildinhalt, relevant für die Funktion des Bildes und speziell der Fotografie als magische Angstabwehr ist. Hingegen argumentiert Zink: Das Bild kann im religiösen Gebrauch als ästhetisches, der Anschauung dienendes Phänomen völlig zugunsten seiner Materialität zurücktreten. Dann ist es vom »Fetisch« nicht mehr zu unterscheiden. […] Der materielle Bildgegenstand selbst übernimmt seine göttliche Wirksamkeit und wird zur »magischen« Wunderquelle, zu einem Gegenstand der Beschwörung und des Zaubers. […] Theologisch handelt es sich um religiösen Materialismus. (Zink 2003: 287)
Gemäß dieser Fetischfunktion des Bildes wäre der Bildinhalt, die konkrete Bildwerdung also erst einmal nebensächlich, würde zugunsten der reinen Materialität aufgelöst werden. Das Moment der Fetischisierung von Bildmaterial scheint einerseits zwischen ästhetischer Bannung durch das Dargestellte, das Gezeigte (sowie auch durch das bewusst Nicht-Gezeigte, das Verbannte) und andererseits der Materialisierung, dem Stofflichen oder dem Taktilen zu oszillieren. Die Fetischisierung von Bildobjekten liegt wohl genau im Zusammenspiel von ästhetischer, sichtbarer und materieller, haptischer Bildwerdung. Doch bevor der Nexus von Fotografie und Fetisch eingehender beobachtet werden kann, gilt es sich wenigstens stichpunktartig der Begriffsgeschichte und der Theoreme des Fetischs zu widmen.
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Zur Genese des Fetischbegriffs Der Begriff des Fetischs begegnet uns zum ersten Mal in den Reiseberichten portugiesischer Händler und Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts, die an der Küste von Guinea unterwegs waren (Antenhofer 2011: 9). »Fetisch stammt vom portugiesischen feitiço und meint übersetzt in etwa ›magisches Amulett‹, ›Zauberei‹ oder Gegenstand der Zauberei […]« (Sansi 2011: 41). Nach William Pietz‹ Studien »The Problem of the Fetish« (1985; 1987; 1988) markiert das Auftauchen des frühneuzeitlichen Begriffs des Fetisso im 15. Jahrhundert ein völlig neues Konzept bezüglich kolonialisierter Handelsbeziehungen, das konkrete Funktionen, wie Regelungen der Kommunikation im Sozialen wie auch Ökonomischen inne hatte und in dem der Fetisch als Talisman und Schutzobjekt herangezogen werden konnte und nicht mit einer Fortführung der in der Antike oder dem Mittelalter verankerten Idolatrie gleichgesetzt werden kann. Im 17. Jahrhundert wird der Begriff des Fetischs dann pejorativ auf die afrikanische und katholisch-portugiesische Objektverehrung angewandt (Antenhofer 2011: 10). »Holländische und englische Erkundungsreisende an der Westküste Afrikas identifizierten die Kultobjekte der afrikanischen Bevölkerung als Fetische. […] Diese Reisenden – Protestanten und Freidenker – waren über die ihnen zufällig und eigennützig erscheinende Anbetung von Dingen entsetzt« (Sansi 2011: 41). Gerade der protestantische Ikonoklasmus des 16. und 17. Jahrhunderts und die interkonfessionellen Konflikte schlagen sich in dieser Polemisierung des Fetischbegriffs nieder (Antenhofer 2011: 10). 1760 entwickelt Charles de Brosses den Fetischbegriff in seinem Werk Du culte des Dieux Fétiches zum theoretischen und abstrakten Konzept des Fetischismus weiter, der damit dann auch Eingang in die westliche Kulturtheorie des 18. bis 20. Jahrhunderts gefunden hat (Antenhofer 2011: 11). De Brosses Hauptthese ist hierbei, dass der Objektkult, der Fetischismus der Ursprung aller primitiven und vernunftwidrigen Anfangsstufen alles Religiösen sei (Böhme 2000: 451). Spirituelle Elemente sollen in dieser säkularisierten und aufgeklärten Auseinandersetzung mit Religion eliminiert werden (Antenhofer 2011: 11) und nach Böhme ist bei de Brosses »der Fetischismus […] gleichsam die universale und älteste Form des Abfalls vom Einen Gott und die weiteste Entfernung von der Vernunftreligion« (Böhme 2000: 451). Dennoch tritt mit de Brosses Buch, »so lässt sich verkürzt argumentieren, […] der Fetisch ein in die akademische Debatten und wird zu einem mehrfach rezipierten Konzept wissenschaftlicher Theorien« (Antenhofer 2011: 11). Allerdings setzt sich damit eben – bis auf wenige Ausnahmen – im 19. Jahrhundert eine negative Auffassung des Fetischismus in den Wissenschaften fort, denn kaum ein anderes Jahrhundert hat in den wissenschaftlichen Diskursen den Fetischismus derart verteufelt (Böhme 2000: 454f.). »Der Fetischismus wird zu einem zunehmend entgrenzten Sammeltitel; unter welchem alles subsumiert wird, was als irra-
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tionale, abergläubische oder perverse Objektbeziehung gilt« (Böhme 2006: 17). Der Fetischismus als magisch-primitives Mittel der Angstabwehr scheint bei manchen Theoretikern dann also doch eher angstbesetzt gewesen zu sein. Auguste Comte hingegen wird dann den Fetischismus als positive Entität setzen, als elementare Größe weltgeschichtlicher Aufwärtsentwicklung vor Polytheismus und Monotheismus (Böhme 2000: 454f.). Der Religionswissenschaftler Max Müller hingegen diskreditiert die Meinung Comtes als bloße Theorie, da mit »dem Ur-Fetischismus ein ›kleiner und später Nebenfluss‹ zum Urquell der Religion gemacht wird« (Böhme 2000: 455). Und ebenso verwerfen auch Emile Durkheim und Edward B. Tylor die These, dass der Fetischismus der Ursprung aller Religion sei und setzen an dessen Stelle den Animismus und Totemismus (Böhme 2000: 455). Nach Müller sind die Fetisch-Theoretiker grundsätzlich selbst fetischistisch, und der Glaube an einen Fetischismus als die ursprüngliche Religion sei ein ungeheuerlicher Aberglaube. Auch Marcel Mauss und Jean Baudrillard argumentieren später vergleichbar und polemisieren gegen den Fetisch-Begriffdahingehend, dass das Konzept des Fetischs ein Konstrukt westlicher Vorstellungen sei und recht wenig mit der Kultur ›primitiver‹ Völker zu tun habe. Mauss hält somit das Fetischkonzept für ein ›großes Missverständnis‹ (Sansi 2011: 41). Mit Marx und Freud, so Böhme, wird der Fetischismus dann endgültig ein Terminus der weißen Kultur (Böhme 2000: 456). Nach W.J.T. Mitchell gehen sie dabei aber eher von Fetischen des Geistes aus, von »mentale[n] ›Objekte[n]‹ verbunden mit Imagos, die sie mit einem speziellen Wert, einer speziellen Macht und einem ›Eigenleben‹ ausstatten, […] indem sie den Fetischismus auf Waren und Symptome der Besessenheit ausweiteten« (Mitchell 2008: 153). Anfangs war der Fetischismus also eine Erscheinung »radikaler Andersartigkeit« (Iacono zit.n. Sansi 2011: 41), also etwas, das die Kolonialisten als ›primitiven‹ Zauberkult, als archaische Form ›pseudo‹-religiöser Praxis in zentralafrikanischen Stammesgesellschaften entdeckten. Doch schließlich wandelte sich der Status des Fetischs, so Böhme: Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dagegen ist der Fetischismus nicht nur weltweit ausgedehnt auf alle Formen der ›Primitive Culture‹, sondern ist ins Zentrum der europäischen Gesellschaften gerückt. Was eine befremdliche Alterität primitiver Kulturen schien, schrickt wie eine Fratze aus allen Segmenten der europäischen Kultur selbst. […] Herauswachsend aus Diskursen der frühen Religionswissenschaft und Ethnologie wurde der Fetischismus in wenigen Jahrzehnten zu einem Schlüssel, der die Phantasmagorien des neunzehnten Jahrhunderts decodieren sollte. (Böhme 2000: 447)
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Das Andere der Vernunft – Fetischismus und Moderne So divers diese einzelnen Diskursstränge also sind, so unklar bleibt auch, was jetzt eigentlich genau unter dem Begriff des Fetischs zu verstehen sei und inwiefern heute noch der Begriff zur Erhellung bestimmter Phänomene heuristisch operationalisiert werden kann. Nach Böhme bleibt der Gedanke des Fetischismus eben auch in unserem angeblich rational-aufgeklärten Zeitalter aktuell, da von der Idee der irrationalen Zaubermittel nicht nur fremde Kulturen beseelt sind oder es ein Phänomen pathologischen Verhaltens einzelner ist, sondern der Fetischismus »zu uns gehört und wir zu ihm« (Böhme 2006: 483). Der rein logisch denkende Mensch unserer säkularisierten und aufgeklärten Zeit, das klare Ordnungsgefüge und dessen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Gesellschaft, zwischen Geist und Dingen ist für Böhme – und hier folgt er Bruno Latour – eine Illusion (Böhme 2006: 74). Für Böhme leben wir im Zeitalter des kulturellen Fetischismus, der in den unterschiedlichsten Varianten – frei flottierend, unabhängig von religiösen Prägungen – auftreten kann, wie etwa in der Mode, dem Design, im Warenkonsum, in der Verehrung des Automobils, in der Sexualität – oder eben auch in den Medien beispielsweise in Form des Starkults (Böhme 2006: 24). Die Trennung zwischen Profanem und Sakralem wird damit eben auch aufgesprengt, da die profanen Dinge nach wie vor in ein magisches Denken inkludiert werden, um als Objekte der Angstabwehr, des Schutzes oder der symbolischen Sinnstiftung funktionalisiert zu werden: Urheber dafür seien – wie wir schon immer ahnten – unsere Sehnsüchte, Lüste, Begierden und Ängste, die uns veranlassen, Dinge mit Bedeutungen aufzuladen, so dass sie als Fetische wirken können. Doch statt den nur scheinbar modernen Menschen im Sumpf seiner Emotionen stehen zu lassen, stellt Böhme die grundlegende, existenzielle Bedeutung dieser von Trieben und Ängsten bestimmten Seite in uns heraus. So diene das Schaffen von Fetischen dazu, eine soziale Ordnung herzustellen. (Sauer 2007: 1)
Die vitalen fetischisierenden Kultformen müssen also als Ersatz für die aufgelösten alten polemisierten Fetischisierungen und als wichtige Funktionsträger für den sozialen Zusammenhalt und die Affektbindung verstanden werden. Der Fetischismus wird somit bei Böhme als »ein komplexes System der Ordnungserzeugung, der Handlungssteuerung« (Böhme 2006: 185) verstanden und ist somit als selbstreflexives Moment in unser Denken zu integrieren, ohne dabei in zwanghafte Pseudo-Rationalisierungen oder vice versa in Pathologien zu verfallen. Wahre Modernität zeigt sich also darin, magisches Denken und fetischisierende Bedürfnisse als Teil unserer Kultur anzuerkennen und in diese positiv zu integrieren und nicht als angebliche Perversion zu unterdrücken (Böhme 2006: 480ff.). Die Angst vor dem Tod, so Böhme weiter, bringt
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uns dazu, Fetische zu bilden, da nur Dinge ewig überdauern können. Der Fetisch steht also für eine ganz spezifische Mensch-Objekt-Beziehung, da die »Dinge ihr Dingliches niemals so verlieren wie wir unser Leben« und uns die Sorge unserer eigenen Sterblichkeit dazu treibt, »das Universum der Dinge in Denken zu verwandeln« (Böhme 2006: 53). Nach Böhme ist der Fetischismus niemals nur ein ethnologisches Konzept gewesen (seiner Meinung nach war hier dieses Konzept vielleicht sogar besonders unbrauchbar), sondern ein Phänomen, das auf vielerlei Wurzeln zurückzuführen ist und sich als umbrella term ausgebreitet hat. Der Fetischismus »bildet eine longue durée der Kulturen und zeigt seine größte Verbreitung und Variabilität gerade in der Epoche, welche ihn überwunden zu haben glaubte: in der Moderne« (Böhme 2006: 32). Böhme sieht in dem Begriff des Fetischismus letztlich eher eine Form der Selbstbeschreibung von europäischen Gesellschaften als von außereuropäischen Kulturen (Böhme 2006: 32). Durch die extreme Öffnung des Fetischbegriffs bei Böhme könnte man befürchten, dass nun alles zum Fetisch wird – aber der Fetisch ist den Objekten nicht inhärent. Erst unsere Perspektivierung auf die Dinge als Objekte der Angstabwehr fetischisiert die Dinge. Die Klassifizierung des Fetischismus nach Erscheinungsweisen innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, so Böhme, versperrt damit eben auch den Blick auf das, was Objekte zu Fetischen werden lässt, dem spezifischen Verhältnis von Mensch und Ding (Böhme 2006: 207). Ähnlich sieht es auch Christina Antenhofer: Die komplexe Geschichte des Begriffs Fetisch und des daraus hervorgegangenen Konzept des Fetischismus, die über fünf Jahrhunderte lang daran gekoppelten Debatten, Polemiken und theoretischen Positionierungen trugen keineswegs zu einer Klärung oder gar Definierung des Gegenstandes bei, der mit Fetisch und Fetischismus zu verstehen sei: Der Fetisch entzieht sich seit seinem Auftauchen dem Zugriff seiner Erforschung, worin sich bis heute ein guter Teil seiner Faszination wie seiner Irritationskraft erhalten haben mag. (Antenhofer 2011: 15)
Daher gilt es, so Antenhofer weiter, sich klar zu machen, dass Fetische »keine historischen Tatsachen sind, sondern vielmehr Konstrukte und somit heuristische Kategorien« (Antenhofer 2011: 24). Und so muss sich die Wissenschaft auch mit diesen Konstrukten und Selbstbeschreibungen auseinandersetzen, die eben in zahlreichen Diskursen zu finden sind. Und wichtig ist eben hierbei, dass die Perspektivierung gleichfalls umgedreht wird: Nicht nur inwiefern das magische Denken unserer Zeit nun mit dem Fetischbegriff zusammengebracht werden kann, ist von Interesse, sondern auch inwiefern die Diskursivierung der Dinge als Fetisch etwas über Eigenschaften der Dinge selbst verrät. Auch wenn die fetischisierende Kraft den Objekten nicht inhärent ist, scheint es gewisse Merkmale von Dingen zu geben, die eine Fetischisierung fördern.
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Gleichzeitig wird damit auch klar, dass die Frage danach, was nun genau ein Fetisch ist und was nicht, ein Stück weit an der Sache vorbei gehen muss. Gesellschaftliches Selbstverständnis erhebt Dinge zu Fetischen und letztlich nicht die Wissenschaft – die kann solche Diskursivierungen nur in den Blick nehmen, denn erst dann wird die Funktionalität des Fetischismus an die Oberfläche geraten.
Semantiken des Fetischs Gewisse Aspekte und Semantiken von Objekten und deren Fetischisierung werden immer wieder thematisiert, wie beispielsweise Materialität, Indexikalität, Individualität oder Verbundenheit mit einem Ereignis. Nicht jeder Aspekt muss für jede Fetischisierung zwingend vorhanden sein, doch scheinen gewisse Eigenschaften von Dingen deren Transformation in Fetische zu fördern. So bestimmt auch Pietz einige semantische Linien und Themen, die den Begriff des Fetischs prägen. Auch er weist der Materialität hierbei eine wichtige Bedeutung zu, wie Antenhofer rekapituliert: »Der Fetisch ist ein materielles Objekt […], er hat keine figurative Bedeutung, allenfalls metonymische. Die Materialität des Fetischs steht in keiner Relation zu seinem ökonomischen oder ästhetischen Wert« (Antenhofer 2011: 19). Und auch bei Böhme heißt es bezüglich der Materialität: »Fetische und Idole sind immer materiell; doch beide gehen darin nicht auf. Das besondere an ihnen ist es, dass sie Materie sind, die etwas anderes ›eingekörpert‹ hat: Bedeutungen, Symbole, Kräfte, Energien, Macht, Geister, Götter usw.« (Böhme 2006: 35). Ebenso betont W. J. T. Mitchell die Materialität des Fetischs. Interessant und heuristisch zielführend ist bei ihm auch, dass er Fetischismus, Totemismus und Idolatrie nicht als »absolute Kategorien für Objekte betrachte[t]« sondern eher »als drei verschiedene Beziehungen zu Dingen verst[eht]« (Mitchell 2008: 150). Dadurch werden bei Mitchell die vorgängigen dualistischen und binären Setzungen zwischen den Termini aufgelöst: »Diese Triangulation der Termini ist nicht deshalb wichtig, um eine absolute Verortung zu gewährleisten, sondern um ein Gespür für ihre Beziehungen zu bekommen – sozusagen für ihre objektiven Objektbeziehungen« (Mitchell 2008: 154). Also nicht die Dinge selbst sind Fetische, sondern wir weisen ihnen diesen Status zu und perspektivieren Objekte dahingehend. Daher ist »die Totem/Idol/Fetisch-Unterscheidung […] also nicht notwendigerweise eine sichtbare Differenz« (Mitchell 2008: 151). Ein Objekt, dass als »wundersames Bild Gottes gesehen wird« (Mitchell 2008: 150f.) ist ein Idol; ein und dasselbe Objekt, das »als bewusst produziertes Bild eines Stammes oder einer Nation betrachtet wird (einer ›Gesellschaft‹ in Durkheims Terminologie), dient […] als Totem; wenn seine Materialität betont wird und es als verschmolzenes Gemenge von privaten ›Teil-Objekten‹ […] gesehen wird« (Mitchell 2008: 151), dann wird es zum Fetisch.
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Neben der Materialität – gleichzeitig gekoppelt aber an diese – spielt die Indexikalität (nach Charles Sanders Peirce) bei der Fetischisierung von Objekten eine große Rolle (auch wenn nicht jedes Indexzeichen materiell sein muss). So stellt Mitchell der Triade von Idol, Fetisch und Totem entsprechend die peircesche Triade von Ikon, Index und Symbol gegenüber, wonach der Fetischismus »stark mit dem Trauma […] und deshalb mit dem Realen« verbunden ist, mit dem, »was Peirce den ›Index‹ nannte, dem Zeichen von Ursache und Wirkung, der Spur oder der Marke« (Mitchell 2008: 156). Schon für die frühen Zauberamulette sollten spezifische und außergewöhnliche Materialien verwendet werden, wie bspw. das Seil eines gehängten Mannes, die Knochen oder Haare1 eines Toten, oder der Speichel eines Sterbenden – »die Spucke von irgendwem, oder irgendein Seil wären ungenügend; doch als spezifische Dinge haben sie Macht, sind feitiços. Ihre Macht ist insbesondere ein Resultat ihrer Indexikalität, der kausalen Relation zum übernatürlichen Ereignis […]« (Sansi 2011: 45). Das Moment des Index spielt dann natürlich bei der Fotografie als Fetisch eine ganz prominente Rolle, ist die Fotografie doch das indexikalische Medium schlechthin – dazu nachher mehr. Sowohl Mitchell als auch Sansi verknüpfen die Semantik des Index mit dem Moment des Ereignisses. Mitchell, indem er das Indexikalische auch an das Trauma bindet, und Sansi, indem er ausführt, dass die Materialien für die Fetische bei einschneidenden Ereignissen gesammelt werden müssen, wie bspw. »am Übergang zwischen Leben und Tod, und dass sie Indices dieser Ereignisse« (Sansi 2011: 44) darstellen. Und weiter: Ein Fetisch »ist ein Ereignis, das in einem Ding objektiviert wird, welches die Konsequenzen dieser Handlung in sich trägt und indiziert« (Sansi 2011: 46). Auch nach Pietz wird der Fetisch erst durch ein bestimmtes Ereignis zum Fetisch, worin er seine Wirksamkeit bewiesen hat und man daraufhin auf die Wiederholbarkeit seiner Wirksamkeit vertraut. »The fetish is always a meaningful fixation of a singular event; it is above all an ›historical‹ object, the enduring material form and force of an unrepeatable event« (Pietz zit.n. Sansi 2011: 54). Dadurch lässt sich also auch die recht arbiträre Auswahl an Elementen und Materialien erklären, aus denen die Fetischobjekte bestehen. »Einen Fetisch zu finden ist ein Ereignis, das man nicht vorhersehen kann. […] Das Ereignis, in dem der Fetisch gefunden wird, wird von der Person nicht als zufällig wahrgenommen, sondern als notwendig. […] Es ist, als ob sich das Objekt der Person anbieten würde« (Sansi 2011: 55). Womit also nicht wir den Fetisch aussuchen, sondern eher der Fetisch 1 | Dem Haar kommt »sowohl im Leben als auch über den Tod hinaus ein besonderes Bindungspotential zu« (Saviello 2017: 208). Das Haar ist im magischen Denken untrennbar mit seinem Träger verbunden – es ist also Partialobjekt und steht als pars pro toto für den menschlichen Körper. Schon in der Antike kam es im Zusammenhang mit Schadens- oder Liebeszauber zum Einsatz (Saviello 2017: 208).
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sich uns aussucht. Böhme beschreibt die Wahlmotorik des Fetischs ähnlich: Nicht durch einen kognitiven Akt werden die Objekte ausgewählt, sondern im Mitvollzug werden die Dinge zu einem Ereignis, das Adressaten erfasst, aus ihrer Alltäglichkeit herausreißt und dadurch in gewisser Hinsicht ek-statisch macht. […] Szenische Symbole werden nicht aus der Distanz wahrgenommen, entziffert, interpretiert und erkannt. Sie schlagen in Bann, sie imponieren, faszinieren, sie ziehen an, ja saugen ein, sie überfluten und bezaubern […]. Das »Verstehen« von szenischen Symbolen, wie Fetische und Idole es sind, vollzieht sich nicht in kognitiven Akten der Decodierung, sondern im »Mitvollzug.« (Böhme 2006: 257)
Damit Fetische ›bezaubern‹ und uns in ihren Bann ziehen können, bedarf es noch eines weiteren Elementes: Der Fetisch muss sichtbar sein – er ist ein ästhetisches Objekt, da – so schon David Hume – der »Mensch sich dazu veranlasst fühlt, die unsichtbare Macht mit einem sichtbaren Objekt zu vereinigen« (Hume 1984: 22). »Wie ich bereits ausgeführt habe, wollen Fetische üblicherweise betrachtet werden – sie wollen in die ›Nähe‹ gehalten werden oder sogar mit dem Körper des Fetischisten verbunden werden« (Mitchell 2008: 158). Das Fetischobjekt entfaltet also eine medusengleiche Macht – es möchte den Betrachter an sich binden, seinen Blick fixieren und, wenn möglich, taktil bzw. haptisch (je nachdem, wie man hier nun die Subjekt-Objekt-Beziehung definiert) mit ihm in Kontakt treten.
Bilderschaffen und Angstabwehr Der Bildwissenschaftler Aby Warburg befasste sich ein Leben lang mit dem Thema der Angstabwehr durch Bildschaffen. Warburg war von der psychologischen Fundierung aller kultureller Phänomene Zeit seines Lebens überzeugt (Böhme 1997: 3) und im Mittelpunkt seiner universalhistorischen Kulturforschung stand das Bild: Die Künste, allgemeiner: die visuellen Medien, sind das privilegierte Archiv »der historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks«. Denn »das Bild« stellt die breite Übergangsskala dar zwischen magischem Bann der Affekte einerseits, d.h. ihrer unmittelbar überwältigenden (noch bilderlosen) Einleibung, und theoretisch-abstraktem (wieder bilderlosen) Kalkül andererseits, das keinerlei somatische Performanz aufweist. (Böhme 1997:11)
Die Schaffung von Bildern – die Trennung zwischen Kunst und technischen Bildern, europäischer und ›primitiver‹, sakraler und profaner Kunst suchte Warburg stets aufzuheben – fungiert bei ihm als »bewusstes Distanzschaf-
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fen zwischen sich und der Außenwelt« (Warburg 2003: 3), als ein »Akt, der zwischen triebhafter Selbstentäußerung und bewusster bändigender formaler Gestaltung« (Warburg 2003: 4) angesiedelt werden muss. Oder wie Hans Ulrich Reck bezüglich Warburg formuliert: »Der aktivierende Denkraum eröffnet sich allein zwischen der bannenden Magie des Bildlichen und der erledigenden Distanzierung von den aktivierenden Bildkräften, ohne welche das Bild als Synergie emotiven Handelns gar nicht gedacht werden könnte« (Reck 1991: 199). Bildherstellung wird bei Warburg zur magischen Praxis, zu einer Technik der Bannung der eigenen monstra. Demnach ist der Bildwerdung der dialektische Moment von Angst und Macht gleichermaßen eingeschrieben (Reck 1991: 200). Der Titan Atlas, der in Warburgs Bildersammlung bereits auf Tafel 2 auftaucht, drückt laut Didi-Huberman als emblematische Figur die grundsätzliche Polarität der Zivilisation aus: »Auf der einen Seite die Tragödie, in der jede Kultur ihre eigenen Ungeheuer (monstra) vor Augen führt; auf der anderen Seite das Wissen, anhand dessen jede Kultur ebendiese Ungeheuer in der Sphäre des Denkens (astra) erklärt, erlöst oder in ihrem Spiel durchkreuzt« (Didi-Huberman 2016: 93f.). Dieses zweischneidige visuelle Denken hat im Mnemosyne-Atlas seinen Niederschlag gefunden, oder wie Reck es ausdrückt: »In der Ambivalenz des Bildnerischen käme die kulturbildende Dialektik von Bildhorror und fortschreitender Erledigung der dunklen Wirkkräfte durch zähmende Aneignung zum Ausdruck« (Reck 1991: 201). Es war bekanntlich der psychischen Konstitution Warburgs geschuldet, der wegen Depression und psychotischen Angstzuständen in der Kreuzlinger Klinik von Binswanger behandelt werden musste, dass er genau um diese Fragilität wusste und mit der Arbeit am visuellen Archiv gleichzeitig seine Dämonen zu bannen suchte. Oder wie Ernst Cassirer Warburg attestierte: »Größer und tiefer hat selten ein Forscher sein tiefstes Leid in Schauen aufgelöst und im Schauen befreit« (zit.n. Didi-Huberman 2016: 203). Der Bildwerdung nach Warburg ist also das dialektische Moment von Angst und Macht, Trieb und Vernunft, gleichermaßen eingeschrieben (Reck 1991: 200) und wie Böhme konstatiert: »Fetisch und Totem stehen nach Warburg am Anfang der rituellen Fernhaltung und Vergegenständlichung des Erregungsobjekts im (künstlerischen) Bild – und dieses wird eine solche Struktur und Funktion auch immer behalten« (Böhme 1997: 21). Dass unter den verschiedenen Bildarten die Fotografie aufgrund ihres Gebrauchs, ihrer Größe, Handhabbarkeit, Indexikalität und Materialität besonders geeignet für diesen psychologisch-dialektischen Distanzierungsmechanismus ist, hat u.a. Christian Metz in seinem sich an Freud orientierenden Text Foto – Fetisch (2003) aufgezeigt. In Abgrenzung zum Film beschreibt er die spezifischen Eigenschaften der Fotografie, die der Funktionalisierung des Lichtbildes als Fetisch zuarbeiten. So ist es zuerst die Größe der ›Leseeinheit‹, die das Foto für den Fetischgebrauch geeigneter erscheinen lässt als den Film, der ein großes, projiziertes Bild hat und die zeitliche Dauer in Rhythmus und Bewegung
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vorgibt. Hier fehlt also auch das Haptische des Fetischs: Man kann einen Film nicht berühren. Dahingegen ist das Foto im Regelfall eher klein und unbewegt und kann daher fixiert werden. Nach Metz sind auch Fetische eher klein und unbewegt und entstehen (klinisch gesehen) durch eine einmalige und endgültige Fixierung des Blicks. »Von all dem ist der Film weit entfernt. Er ist zu groß, er mobilisiert zur gleichen Zeit zu viele verschiedene Wahrnehmungen, um sich dem Unbewußten als glaubhafter Ersatz für das fehlende Partialobjekt anzubieten« (Metz 2003: 223). Auch der unterschiedliche Gebrauch beider Medien arbeitet eher der Fetischisierung der Fotografie zu. Während Metz den Film der Kunst und der abendlichen Zerstreuung zurechnet, ist die Fotografie der Ort des Privaten und Familiären, was – so Metz – eben auch die Geburtsstätte des Fetischs ist. Außerdem bedingt die on/off-Dialektik des Films die jederzeitige Möglichkeit des Eintritts des begehrt-befürchteten Objekts ins On; deswegen kann der Film die Angst nicht bannen; das bleibende Off des Fotos hingegen ›sperrt‹ das bedrohliche Objekt einerseits aus (ins Off), hält es andererseits symbolisch intakt (als Ersatzobjekt im On) und dadurch beherrschbar. Obwohl der (fotochemische) Film ebenso wie die Fotografie ein Medium des Indexikalischen ist, ist dieser spezifische Bezug zum Referenten im Bewegtmedium wenig spürbar. Wie auch schon Roland Barthes feststellte, verweist die Fotografie ständig auf etwas, was gewesen ist und nun aber nicht mehr ist. Bei gleichzeitiger bildlicher Präsenz betont das Foto permanent den Moment der Absenz. »Nach Roland Barthes enthält die Fotografie den immer wieder erneuerten Versuch, eine tatsächlich stattgefundene Situation auf Dauer festzuhalten, einem kurzen Augenblick Ewigkeit zu verleihen und den Körper zum Bild werden zu lassen. Bereits mit der Entstehung der Fotografie bildeten sich deren ›spezifische Allianzen mit dem Totenkult‹ heraus« (Hoffmann-Curtius 2002: 6). Der geradezu magische Moment der Fotografie resultiert aus der indexikalischen »Emanation des Referenten« (Barthes 1989: 90), aus der Tatsache, dass die Sache oder die Person, die sich in die lichtempfindliche ›Haut‹ eingeschrieben hat, tatsächlich da war. »Im Festhalten der Zeitlichkeit und der Momentanität – und damit zugleich dem Versuch, diese zu leugnen – wird die Fotografie als ein moderner Denkmalersatz auch immer zu einem Dokument der Abwehr von Sterblichkeit und Tod. Barthes schreibt ›dieses moderne Bild bringt den Tod hervor, indem es das Leben auf bewahren will‹« (HoffmannCurtius 2002: 6). Dem Foto als Fetisch wird damit die magische Fähigkeit und Funktion zugeschrieben, Schutz vor der ›Selbstnegation‹ (durch Selbstzweifel, Tod etc.) bereitzustellen. Nach Metz rückt der Fetisch metaphorisch gesehen als ›Zaubermittel‹ an die Stelle des primären bedrohlichen Blickobjekts, ersetzt Abwesendes durch Anwesendes, ist also Derivat einer Neuverschiebung. Als Metonymie fungiert er zugleich als Äquivalent des primären Blickobjekts und bannt diesen im Bild des Ersatzobjekts. »Die fotografische Aufnahme erfolgt augenblicklich und endgültig, wie der Tod und die Festlegung des Fe-
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tischs im Unbewußten, der einmal für alle Male vom Blick eines Kindes fixiert wurde. […] Man weiß aber vom Fetisch, dass er nicht nur eine Erinnerung ist, sondern dass er auch die Stelle des Verlusts (der symbolischen Kastration) mit der symbolischen Vermeidung in Verbindung bringt« (Metz 2003: 219). Wie wichtig hierbei auch die materielle Fixierung des Objekts im Bild ist, daran lässt Metz keinen Zweifel: Die durchschnittlich relativ geringe Größe der Fotografie bietet Überschaubarkeit und die Möglichkeit, das Bild bei sich zu tragen und es auch haptisch zu erfassen, ist also Voraussetzung dafür, als Fetisch operationalisiert werden zu können. Gleichzeitig gewährleistet das Lichtbild eine Fixierung des Blickes auf das arretierte Objekt. In dem Zusammenhang des dialektischen Angst/Macht-Moments belegen nach Kathrin Hoffmann-Curtius auch Fotografien der Wehrmacht, der SS, des SD und der Polizeibataillone aus dem Zweiten Weltkrieg, dass es bei den Soldaten ein ausgeprägtes Begehren nach Aufnahmen des getöteten oder hingerichteten Feindes gab. Trotz offiziellen Verbots haben die deutschen Soldaten solche Bilder gemacht und gesammelt. Diese Fotos, die eigentlich Beweisstücke für geheim zu haltende Taten waren, wurden von den Soldaten eng am Körper getragen und fungierten nach Hoffmann-Curtius als Trophäe und Amulett bzw. als Fetisch (Hoffmann-Curtius 2002: 1): Die im Lichtbild vergegenwärtigte Verbindung von Bedrohung und Schutz, von Angst und Faszination mag auch einen Hinweis darauf geben, warum die Soldaten sich nicht von solchen Fotos trennten. Die Bedeutung, die die fotografischen Aufnahmen der gequälten und vernichteten Feinde für den NS-Soldaten hatten […] lassen folglich auch auf ihre Funktion als Amulett, als apotropäisches Zeichen gegen den eigenen Tod schließen. (Hoffmann-Curtius 2002: 8)
Dadurch, dass diese Fotos das Töten und Morden an den feindlichen Soldaten auf bewahrt haben, dokumentieren sie gleichzeitig die siegreiche Überwindung des Todes beim am Leben gebliebenen deutschen Soldaten (HoffmannCurtius 2002: 8). Diese offiziell verbotenen Fotos auf der Brust des deutschen Soldaten lassen sein Begehren erkennen, sich in der spezifisch lichtbildmäßigen Erfassung des getöteten Feindes immer wieder von Neuem gegen die Todesangst des eigenen Überlebens versichern zu können. […] Die Aufnahme dieses begehrten Augenblicks ermöglicht immer wieder dessen Reinszenierung, sie rüstet ihre Besitzer mit einem durch Betrachtung und Erinnerung stärker werdenden Gefühl aus, unverletzbar zu sein. (Hoffmann-Curtius 2002: 6f.)
Das Foto als martialische Todesrepräsentation wird dabei zum ›geliebten Objekt‹, zum Fetisch und zugleich geht von solch einem Bild, durch die Ema-
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nation des Getöteten, eine permanente Bedrohung aus, da es an den Soldaten(aber)glauben rührt, dass der Soldat, der Gefangene tötet, zeitnah selbst sterben wird (Hoffmann-Curtius 2002: 8). Während bei Warburg das Bildschaffen durch die formgebenden Kräfte die Distanzierung vom Dämonischen bewirkt, bezieht sich die »Angstabwehr durch das Bild indessen bei den Soldaten nicht auf die Aneignung des (Un) bekannten in der Welt mittels ikonischer oder symbolischer Zeichen, sondern auf die möglichst angstfreie Auslöschung des Anderen und die Aneignung des Augenblicks dieser Vernichtung« (Hoffmann-Curtius 2002: 8). Dieses historische Beispiel macht deutlich, dass es einen unbewussten oder vielleicht sogar bewussten Nexus zwischen Fotografie und Machtaneignung zu geben scheint. Die Fotografie als Trophäe oder Fetisch bietet hierbei sowohl das Moment der Angstabwehr als auch das der Skopophilie.2
Die Fotografie als Fetisch in One Hour Photo Dieser Angst/Macht-Dialektik des Bildes soll nun am Beispiel der intradiegetischen Fotografien im Film One Hour Photo (Mark Romanek, USA 2002) nachgegangen werden. In diesem Film tauchen Fotografien hauptsächlich als Papierabzüge auf – betont werden also immer wieder die Funktionen der haptisch-analogen3 Fotografie –, was dann für ihren Fetisch-Charakter eben auch eine erhebliche Rolle spielt. Der Protagonist des Films ist Seymour ›Sy‹ Parrish, der als Fotolaborant in einer Supermarktfiliale arbeitet und seinen Beruf eher als Berufung versteht. Er nimmt seit Jahren Fotofilme der Kunden an, die dann in kürzester Zeit entwickelt werden, während die Kunden sich ihrem Einkauf im Markt widmen. Mit größter Hingabe und Akribie geht er täglich seiner Arbeit nach. Anfang und Ende des Films zeigen Sy in einem Verhörzimmer, wo er einem Polizisten die Geschichte erzählt, die letztlich zu seiner Verhaftung geführt hat: In Sys Vorstellungswelt, die der Film uns in einigen Sequenzen zeigt, sieht sich der einsam lebende Aussenseiter als Teil der scheinbaren Bilderbuchfamilie Yorkin, die seit der Geburt ihres Sohnes Jake regelmäßig ihre Fotos bei ihm entwickeln lässt. Um ihnen nahe zu sein und selbst Teil dieser Familie zu werden, fertigt Sy von allen Filmen der Yorkins Abzüge für sich selbst an und hängt diese als gigantische Fotowand in seinem Apartment auf. Durch diese Praxis erkennt er eines Tages auf den Fotos, dass Nina Yorkins Ehemann Will eine Affäre hat. Für Sy bricht in die2 | Diese Schaulust ist nach Freud wiederum auf den kindlichen Blick und damit auf Kastrationsangst und Penisneid zurückzuführen (Freud 1983). 3 | Wobei sich natürlich auch von digitalen Bildern Papierabzüge anfertigen lassen – dennoch tritt durch die meist nur digitale Speicherung der Fotos die Materialität in den Hintergrund.
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sem Moment eine Welt zusammen, da die bildgewordene Idealfamilie jenseits der Fotos wohl doch nicht so harmonisch ist, wie er bislang glaubte. Sy möchte Will aufgrund seines Fehlverhaltens bestrafen und verschafft sich Zugang zu dem Hotelzimmer, in dem Will seiner Liaison mit einer Frau namens Maya nachgeht. Er zwingt die beiden mit vorgehaltenem Messer, sexuelle Praktiken zu simulieren, ohne sich dabei wirklich zu berühren. Gleichzeitig fertigt er dabei Fotografien an. Die Polizei ist ihm jedoch auf die Spur gekommen und er wird kurz darauf verhaftet. Im Verhörzimmer deutet Sy an, dass er als Kind im Elternhaus sexuell missbraucht worden ist und dabei fotografiert wurde. Letztlich bittet er den Polizisten die Bilder, die er im Hotelzimmer angefertigt hat, ansehen zu dürfen. Er legt die Fotos auf dem Tisch aus, doch nicht der simulierte Geschlechtsverkehr ist darauf zu erkennen, sondern nur – schon abstrakte Formen annehmende – Detailaufnahmen unterschiedlicher Objekte aus dem Hotelzimmer. In One Hour Photo ist letztlich nicht Sy Parrish, sondern die Fotografie selbst der eigentliche Protagonist. Diverse Gebrauchsweisen der Fotografie tauchen im Film auf und werden auch auf der Tonebene verhandelt: Romanek adaptiert diese Liste auf seine Weise, doch erzählt auch sein Film davon, dass mit Hilfe der Fotografie Porträtaufnahmen gemacht werden können, pornografische Bilder, Bilder von Haustieren, Verkehrsunfällen und Kinderfesten, Bilder zu Werbezwecken, Bilder für das Verbrecheralbum, Bilder für den privaten Gebrauch und solche, die ganz und gar für die Außendarstellung gemacht sind. Hinter der Theke des Foto-Service, dort, wo die Abzüge zur Abholung bereitliegen, kennt man die Spielarten fotografischer Betätigung nur zu gut; alle Arten und einige Abarten, was für die Laboranten mehr oder weniger dasselbe bedeutet. (Diekmann 2005, o.S.)
Ebenso ist Romaneks Werk eine Art filmgewordene Fototheorie. So erinnert Sys folgende Formulierung an André Bazin (1945) (auch wenn dieser nicht namentlich genannt wird): »Diese Schnappschüsse sind wie kleine Bastionen gegen den Lauf der Zeit, der Auslöser klickt, es blitzt und sie haben die Zeit angehalten, wenn auch nur für einen klitzekleinen Augenblick.« Und folgender Satz, der das indexikalische Moment der Fotografie betont, könnte geradezu aus Roland Barthes Die Helle Kammer stammen: »Und wenn diese Bilder nachfolgenden Generationen etwas mitzuteilen haben, dann das: Ich-war-hier! Mich hat es gegeben!« Natürlich werden die einzelnen theoretischen Positionen im Film nicht konzise durchgespielt; vielmehr bedient sich Romanek steinbruchmäßig an den unterschiedlichen Konzepten, um sie dann auch wieder in Frage zu stellen, z.B. wenn die vorangegangene Indexikalität der Fotografie wieder aufgelöst wird, weil sich die filmische Realität mit Sys Foto-Realität vermischt. Sy verbringt in seiner Fantasie mit den Yorkins Weihnachten und das von ihm betrachtete Weihnachtsfoto zeigt ihn plötzlich innerhalb des Bildes, das dann
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zum filmisch bewegten Bild wird. Ebenso zeigt das Schlussbild in Form einer Fotografie Sy nun als Teil der Yorkin-Familie; während die filmische Narration nahelegt, dass das unmöglich ist, kann laut Barthes das Foto eigentlich nur das ›Es-ist-so-gewesen‹ zeigen. Stefanie Diekmann beschreibt dieses Konglomerat an Theorien, Gebrauchsweisen und Diskursen sehr treffend: Dieser Film sammelt. Sammelt Ideen zum Gebrauch der Fotografie, sammelt Interpretationen der fotografischen Aktivität, sammelt Diskurse, sammelt Theoreme. Das Ganze natürlich nicht sorgfältig abgestimmt (es geht hier alles mögliche durcheinander), aber doch formatiert zu einer Geschichte, die nicht zuletzt davon handelt, dass »Die Fotografie«, von der Roland Barthes einmal sagte, sie existiere nicht im Modus des »an sich« (Barthes 1989: 12), im wesentlichen das ist, was man daraus macht. Nennen Sie es: einen Querschnitt, vielleicht auch, warum nicht, ein Album – Sammelalbum der FotoKonzeptionen, Reminiszenz an eine durchaus vielstellige Theorie-Geschichte. (Diekmann 2005, o.S.)
Ebenso thematisiert One Hour Photo diverse Aspekte der Fetischisierung von Fotografien – auch hier nicht im Sinne einer konzisen Position, sondern eher als zersplitterte Spiegelungen unterschiedlicher Fetischkonzepte. So konstatiert Sy, dass die meisten Kunden Fotografie nicht als Kunst ansehen, sondern diese, ganz im Sinne Pierre Bourdieus (Bourdieu 1981), für sie einen gesellschaftlichen Gebrauchswert habe. Sie sind soziale Waren. Womit auch schon einerseits auf die Flohmarkt-Szene bei der Sy seine ›Mutter‹ (in Gestalt einer Fotografie einer Fremden) käuflich erwirbt und andererseits auf die sich anbahnende Auflösung der Familie Yorkin verwiesen wird. Entsprechend schreibt Diekmann: Familien, dies die zentrale These Bourdieus, machen Fotos, um sich ihrer selbst zu versichern und um ihren Zusammenhalt in Szene zu setzen, und wo ein solcher Zusammenhalt nicht mehr gegeben ist […], wird die fotografische Aktivität nur um so bedeutender, diesmal als Symptom einer Krise. Eben dies wäre in One Hour Photo zu studieren: Fotografie als kompensatorische Praxis, die einen Prozess der Desintegration eher begleitet als konterkariert. Die Familie jedenfalls, deren Bilder Sy Parrish mit so viel Eifer in seinen Besitz überführt hat, ist zu dem Zeitpunkt, da der Film einsetzt, bereits schwer angeschlagen. (Diekmann 2005, o.S.)
Die private Fotografie wird in One Hour Photo also als Kompensation für eine entweder nicht vorhandene Familie, oder aber für eine Familie deren Einheit bröckelt, eingesetzt. Die Sujets der privaten Fotografie werden im Film sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene permanent diskursiviert. Was sind das für Sujets? Die hohen Zeiten und die Schwellenphänomene (wie Hochzeiten, Geburtstage, Urlaube, Einschulungen). Und Sy bemerkt: »Der Mensch
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hält die glücklichen Momente seines Lebens auf Bildern fest. Blätterte jemand durch unser Fotoalbum, würde er daraus schließen dass wir ein fröhliches, unbeschwertes Leben führen – ohne Tragödien. Niemand würde je etwas fotografieren, was er gerne vergessen möchte.« Auch Bernd Stiegler betont diesen sozialen Aspekt, wenn er schreibt: »Das, was fotografierbar ist, ist sozial sinnvoll, das, was sozial bedeutend ist, ist auch fotografierbar« (Stiegler 2006: 333). Allerdings wird bei One Hour Photo dieses Moment der bildgewordenen Sozialnorm noch deutlich radikaler gedacht. Und genau an diesem Punkt kommt der Fetisch-Gedanke ins Spiel: Denn die Realität soll sich hier an der Foto-Realität orientieren und die Foto-Realität soll darüberhinaus die realen Gefahren bannen. Nicht von ungefähr ist auch Seymours Nachname ein telling name (to perish=umkommen, zugrunde gehen), sodass das Movens der Abwehr der Angst vor der Auslöschung ihm gleichsam angehängt ist und seine fotografischen Praktiken wie auch jene der Yorkins als hiervon geprägt erscheinen: »Der photographische Voyeurismus in One Hour Photo ist symbolisch-reale Partizipation und imaginäre Anteilnahme. Imaginierte wie reale Partizipation an der ›Sozialen Welt‹ und reale wie imaginierte Anteilnahme an einer Wirklichkeit, die sich erst im Bild erschließt« (Stiegler 2006: 334). Die Fotografien bestätigen und materialisieren eine Harmonie der Familie Yorkin, die in der Realität noch herzustellen wäre. Die Abbildungen werden zur Richtschnur und zum Zaubermittel gleichermaßen: »Diese Familie fotografiert nicht zum Zweck der Vorspiegelung, sondern als eine Art Abwehrzauber: eine etwas verzweifelte Aktivität, denn in manchen Momenten sieht es tatsächlich so aus, als sei ihre Integrität nurmehr unter fotografischen Bedingungen zu garantieren« (Diekmann 2005, o.S.). Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Art betrügerischer Praxis, sondern »sie versuchen nur, ein Wunder zu wirken« (Diekmann 2005, o.S.). Die Fotografien sind hier also mehr als bildgewordene Sozialnorm nach Bourdieu, denn auch wenn der Konformismus sich sowohl auf die bildgewordenen Anlässe als auch auf die Ereignisse selbst bezieht, die im Akt der Fotografie häufig miteinander synthetisiert werden (das Ereignis wird auf die Bildwerdung ausgerichtet, bleibt aber trotzdem ein Akt in der Realität), werden hier die Bilder primär zur Angstabwehr produziert. Auch die fotografische Geste ist in One Hour Photo kein nebensächlicher oder gar unschuldiger Moment, sondern die aktive Schaffung eines Fetischobjekts. Romanek inszeniert die fotografische Geste aufgefächert zu einem Spektrum, in dem sie mal Geste der Aneignung ist, mal Drohgebärde, mal kompensatorischer Akt, ein Versuch der Teilhabe oder eine Bewegung der Transgression. In One Hour Photo fotografiert man, um zu zeigen, dass man da war, um festzuhalten, dass etwas stattgefunden hat, um zu bekommen, was man sonst nicht bekommen würde, um dabei zu sein, um zu erin-
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Sys vollständiger Vorname ist nicht zufällig ›Seymour‹ (›see more‹). Permanent betont der Film den Moment des Sehens, indem er das Betrachten von Fotografien, den Blick durch den Auslöser, die Blick- als auch Bildfixierung selbst wiederum im Filmbild ausstellt und fixiert. So sehen wir bspw. Nina mit Kamera und Will mit Kamera, wobei das sehende Auge durch das Objektiv des Apparates verdoppelt und vergrößert wird. Ebenso fotografiert Sy selbst in vielen Szenen des Films und seine Brille wird häufig formal hervorgehoben, wenn sich z.B. Fotonegative darin spiegeln.Und selbst dann, wenn keine Kamera im Bild zu sehen ist, wird auf die Geste der Fotografie und des Fotografiert-Werdens angespielt. So blickt Sy im Fotolabor in einen Spiegel der die Aufschrift ›check your smile‹ trägt. Durch den Rahmen des Spiegels entsteht eine Binnenkadrierung die Sys Abbild zur Porträtfotografie geraten lässt und der Aufruf ›check your smile‹ entspricht natürlich der typischen Aufforderung an die Mimik des Fotografierten. Abb. 1: Sys Blick in den Spiegel als Reminiszenz an die Porträtfotografie. Screenshot aus One Hour Photo (USA 2002)
Wenn Sy im Labor einen Filmstreifen betrachtet, wird auch dieser Akt des Sehens und der Beobachtung als hervorgehobener Moment inszeniert. Die Anordnung einzelner Fotografien auf dem Streifen wird im Filmbild durch die Anordnung der Deckenlampen wiederholt, das Prinzip der analogen Fotografie formalästhetisch also im Filmbild aufgegriffen, das selbst natürlich wiederum aus fotografischen Einzelbildern besteht. Vor allem wird hiermit auch noch einmal die Materialität des Filmstreifens betont und die behandschuhten
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Hände Sys können das empfindliche, vielleicht sogar magische Material haptisch erfassen. Abb. 2: Das haptische Erfassen des Filmstreifens. Screenshot aus One Hour Photo (USA 2002)
Für Sy ist das Fotografieren und das Foto selbst ein Moment der Aneignung und der Kompensation: Eine Aufnahme Jake Yorkins präsentiert er als Bild seines »kleinen Neffen«, ein Foto, das er aus irgend einem Karton gefischt hat, als Porträt seiner Mutter, und beide Male führt Romanek vor, dass sich die Hochstapelei seines Protagonisten auf viel mehr erstreckt als nur die Besitzrechte an zwei Abzügen – auf eine Familie, die er nicht hat; eine Vorgeschichte, die er ebenfalls nicht hat, aber zu besitzen vorgibt; einen Anschein von Vergangenheit, eine Andeutung von sozialer Verbundenheit, in gewisser Hinsicht sogar eine Idee von Glück, wie er sie gelegentlich in den Fotos seiner Kunden festgehalten glaubt. (Diekmann 2005, o.S.)
Aber auch hier trägt Sy das Foto seiner ›Mutter‹ in seiner Brieftasche, nah an seinem Körper und das Filmbild zeigt, wie er das Bild in den Händen hält. Die Aneignung und der Zauber funktionieren auch hier über den Bezug zur Materialität. Rudolf Arnheim hat einmal über die Fotokamera geschrieben, dass sie »ein Gewehr und ein Jagdhund [ist], zu einer handlichen Einheit kombiniert. Sie gestattet uns, Dinge zu ergreifen und mit uns fortzutragen. Die primitivste Reaktion auf Erfahrungen besteht in dem Versuch, nach Dingen zu greifen und seine Hand auf sie zu legen. Indem wir ein Foto schießen, bringen wir etwas in unseren Besitz, was uns nicht gehört« (Arnheim 2004: 18). Auch wenn Sy das Foto seiner ›Mutter‹ und das von Jake als seinen angeblichen Neffen nicht selbst geschossen hat, möchte er sich über die Abzüge einer Sozialnorm
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versichern, von der er faktisch weit entfernt ist. Ebenso versucht Sy aber auch über die Fotografie Teil der Familie Yorkin zu werden, indem er ein Foto von sich auf ihren Kamerafilm bannt. Abb. 3: Sy versucht über die Fotografie Teil der Familie Yorkin zu werden. Screenshot aus One Hour Photo (USA 2002)
Er tut dies, wie man so sagt, »vor ihren Augen«, womit hier wie anderswo ein kleiner Skandal beschrieben ist, denn wirklich eignet seiner Handlung etwas Erschreckendes, beinahe Obszönes, einfach weil sich darin ein Begehren vollkommen unverstellt artikuliert. Auf den Film-Streifen und damit in ihre Nähe: Die Reaktionen der anderen Seite zeigen, dass Sys Antrag auf Aufnahme in das Familienalbum als das verstanden wird, was er ist, eine Transgression. »How did this one get in?«, fragt Will Yorkin, als er den Fremden auf dem Abzug erblickt, und diese Frage kann sowohl bedeuten: »Wie kommt das (i.e. diese Aufnahme) da rein (i.e. in diesen Stapel)«, als auch: »Wie kommt der (i.e. dieser Typ) hier rein (i.e. in unsere Nähe)«? (Diekmann 2005, o.S.)
Sy bringt mit Fotografien also nicht nur etwas in seinen Besitz, das ihm nicht gehört, sondern versucht auch über die Weitergabe seines Porträts an die Yorkins Teil ihres Systems zu werden. Die Überschreitung liegt zwar schon in der Geste der spontanen Selbstporträtierung, wird aber dann durch den materialiter angefertigten Abzug in den Händen der Yorkins abgeschlossen. Für Sy ist das Foto also eine Art magischer Transitraum von seiner Welt in die Welt der Yorkins. Eine ähnliche Funktion als Transitraum hat auch die Fotowand in seinem Apartment, an der seine fotografische Obsession besonders deutlich wird: Einerseits glaubt Sy wohl wirklich daran, dass er über die Fotografien am Leben der Yorkins partizipieren kann, und andererseits ist es diese gigantische Installation, diese Materialschlacht, die dem Zuschauer Sys neurotische Bil-
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derverehrung wortwörtlich vor Augen führt. Die Materialität dieses Fototeppichs betont der Film, indem er an zwei Arealen der Bilderwand das Licht der beiden Strahler, die Sy direkt davor positioniert hat, sich reflektieren lässt. Abb. 4: Sy blickt auf seine Fotowand. Screenshot aus One Hour Photo (USA 2002)
Während jedes einzelne der Bilder das Phantasma der harmonischen Familie bei Sy verstärkt, taucht irgendwann eine Irritation im Bilderteppich auf und die Installation bekommt einen »Riss« (Diekmann 2005, o.S.). Durch irgendetwas aufmerksam geworden, betrachtet Sy seine Fotowand ganz genau – mit einer Lupe. Im Schuss-Gegenschuss-Prinzip sehen wir, was Sy durch die Vergrößerung der Lupe im Bild erkennt, nämlich die Geliebte von Will, und gleichzeitig wird dem Zuschauer in einer separaten Einstellung verdeutlicht, dass Sy einen bestimmten Punkt fixiert. Während im Filmbild Sys blickendes Auge durch die Vergrößerung und vor allem Flüchtigkeit des Bewegtbildes nicht erkennbar ist, betont das fotografische Werbematerial zum Film an dieser Stelle aber nochmals ganz explizit das Sehen. Die Kadrierung des Bildes wird dort durch die Binnenkadrierung der rechteckigen Lupe wiederholt, in der man die Brille Sys und ein stark vergrößertes, tiefenscharf gestelltes, blickendes Auge sieht. Hier wird man sozusagen dazu gezwungen, Sy beim detaillierten Blicken zu beobachten – eine kongeniale formalästhetische Umsetzung des Umstands, dass Sy – Seymour – ›mehr sieht‹.
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Abb. 5a + 5b: Der detaillierte Blick. Screenshot aus One Hour Photo (USA 2002) und fotografisches Werbematerial zum Film (aus: https://www.prisma. de/tv-programm/One-Hour-Photo,18109271, letzter Aufruf 17.09.2018)
»Es ist eine enigmatische Szene. Eines Tages gerät der Mann vor dem Bilderteppich in Unruhe, greift zur Lupe und findet auf einem der vier- oder fünfhundert Fotos ein Gesicht. Nichts als ein Gesicht. […] The things we fear the most have already happened to us, heißt es in einem Ratgeber, aus dem in One Hour Photo zitiert wird« (Diekmann 2005, o.S.). Ganz ohne Erklärung oder Bestätigung erkennt Sy die Geliebte von Will Yorkin. Und erst im Nachhinein findet er im Labor einen ganzen Satz Fotos, die Will beim Ehebruch mit Maya zeigen, womit seine Annahme nun erst bestätigt wird. Da die Fotografie immer schon den vergangenen Moment zeigt, hat sich der angstauslösende Aspekt also schon längst in das Bild eingeschrieben, noch bevor sich Sy dessen gewahr wird. Der Bilderteppich
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ist also eine Chimäre und das Übel steckte schon die ganze Zeit in ihm. Als die Polizei später in Sys Apartment eindringt und dort die Fotowand vorfindet, hat Sy Will Yorkins Gesicht auf sämtlichen Fotos zerkratzt; das Material an diesen Stellen abgetragen und zerstört. Die destruktive Geste bezieht sich aber nicht auf das gesamte Bild, sondern bleibt partiell. Es ist ein Akt der Verstümmelung, der nicht das Bild zum Verschwinden bringen will, sondern es soll seiner »Umgebung erhalten bleiben, und sein Aussehen soll auf eine neue Art wiedergegeben werden, die für das Bild und das Dargestellte verletzend ist« (Mitchell 2008: 113). Denn laut Mitchell existieren diese »psychologischen Kräfte, die Menschen dazu bringen, durch ein Bild gekränkt zu sein« (Mitchell 2008: 107), um dann gegen das Bild handgreiflich zu werden, es zu zensieren, anzuprangern oder zu bestrafen. »Wenn Menschen gegen Bilder vorgehen, scheinen zwei Überzeugungen im Spiel zu sein. Die erste rührt daher, dass das Bild offensichtlich und unmittelbar mit dem in Verbindung gebracht wird, was es darstellt. Was auch immer dem Bild angetan wird, wird in gewisser Weise auch dem angetan, für das es steht« (Mitchell 2008: 107f.) – ein Aspekt, der aufgrund der Indexikalität der Fotografie hier natürlich besonders nahe liegt. »Die zweite hat damit zu tun, dass das Bild einen gewissen vitalen, lebendigen Charakter besitzt […]. Es ist nicht bloß ein transparentes Medium, mit dem eine Botschaft kommuniziert werden kann, sondern es ist so etwas wie ein beseeltes […] Objekt, das mit […] Begierden und Tatkraft ausgestattet ist« (Mitchell 2008: 108). Im Akt der Ausradierung Wills von den Fotos wird also ein ›primitiver‹ Fetischgedanke – wie im Voodoo-Kult – sichtbar: Denn die Bilder »scheinen gar dazu fähig zu sein, Leid zu ertragen oder, sobald ihnen Gewalt angetan wird, diese auf geradezu magische Weise zu übertragen« (Mitchell 2008: 108). Diese magische Vorstellung von Bildern scheint zunächst einmal einer vormodernen Zeit oder sogenannten ›primitiven‹ Kulturen anzugehören. Auch könnte man im Falle von One Hour Photo argumentieren, dass es sich hier um den Akt eines psychopathischen Einzelgängers handelt. Jedoch sind diese ikonoklastischen Vorgehensweisen eben keineswegs nur Auswüchse des Primitiven, des Perversen oder des Psychopathischen. »Bilder sind im modernen Zeitalter keineswegs geschwächt, sondern stellen eine der letzten Bastionen des magischen Glaubens dar«, und »das ist der Grund dafür, warum Menschen noch immer symbolisch erhängt werden können, warum wir nicht beiläufig Fotos von den Menschen wegwerfen oder zerstören, die uns am Herzen liegen« (Mitchell 2008: 108). Neben diesem ›primitiven‹ Fetischbegriff wird in One Hour Photo auch noch ein anderer Fetischbegriff streiflichtartig in den Blick genommen – nämlich die Fotografie als Ware; damit wird der fetischisierende Aspekt des Lichtbildes also nicht unterwandert, sondern in einen modernen Fetischbegriff nach Marx transformiert. »Während die Ware etwas Triviales zu sein scheint, ist sie ein sehr vertracktes Ding […], voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken« (Marx 1968: 85); Marx geht vom Fetischcharakter der
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Ware aus, die ihren Wert eben durch eine soziale Beziehung zugewiesen bekommt und nicht eine natürliche Eigenschaft der Ware/des Objektes selbst ist (Artous 2011: 98). Auch Romanek inszeniert die Fotografie nicht einfach nur als Ware, sondern als Teil eines kapitalistischen Massenwarensystems: Die Aufnahmen, die Sy Parrish entgegennimmt und aushändigt, gehören eher zu dem, was man »Massenware« nennt: automatisch generiert, automatisch prozessiert, in Stapeln sortiert, eingetütet und den Seriennummern entsprechend wieder ausgehändigt. Fotografie bei Romanek ist Fotografie im Zeitalter der automatisierten Verfahren, der Annahmeschalter, 24-Stunden-Dienste, Schnelldurchläufe und Rabattpreise, sein Protagonist ein Operator, dessen Tätigkeit auf das Register von Sekundärtätigkeiten reduziert worden ist. (Diekmann 2005, o.S.)
Aber genau diese Automatisierung, die Entfremdung vom Produkt, die Hinwendung zur günstigen Produktion, hat letztlich eben keine negativen Auswirkungen auf den Fetischcharakter der Fotografie selbst, denn ihr Wert entsteht eben durch soziale Zuweisung (auch wenn das bei Marx alles etwas komplizierter gedacht ist). Daher ist Sy auch nicht selbst Berufsfotograf oder Laborant bei einem angesehenen Fotografen, sondern Angestellter in einem FotografieFranchise-Unternehmen, das wiederum an eine Supermarktkette gekoppelt ist. Die Fotografie als Ware unterscheidet sich nicht von anderen Waren. Entsprechend sehen wir Sy auch zwischen den Regalsystemen des Supermarktes platziert: Durch den extremen zentralperspektivischen Fluchtpunkt scheint er bald von den Waren in den Regalwänden erdrückt zu werden. Die streng organisierte Anordnung der Waren und die dabei säuberlich unterteilten Farbwerte erinnern selbst wieder an die Organisation der Bilder auf einem Rollfilm. Abb. 6: Warenanordnungen, die an die Organisation der Bilder auf einem Rollfilm erinnern. Screenshot aus One Hour Photo (USA 2002)
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Eine weitere moderne Fetischfunktion wird in One Hour Photo in der schon angesprochenen Hotelsequenz verhandelt, wenn Sy mit Waffe und Fotoapparat Will und Maya zur Nachahmung sexueller Handlungen zwingt und der Akt des Sehens als angstauslösendes Problem thematisiert wird. Die Bedrohlichkeit der Objektfixierung wird auch in Sys Traum symbolisiert, wenn er zwischen den leeren Supermarktregalen steht und die Hände auf seine Augen presst. Plötzlich öffnet er diese und sie sind mit Blut überschwemmt. Sy presst daraufhin erneut die Hände vor die Augen, aber dass Blut spritzt dann zwischen seinen Fingern hervor. Der Akt des Sehens bleibt mit Angst und Gefahr verbunden. Abb. 7: Der Akt des Sehens als Bedrohung. Screenshots aus One Hour Photo (USA 2002)
Da Sy anscheinend das erzwungene und simulierte sexuelle Spiel fotografiert, wird etwas auf den Bildern erwartet, was dann letztlich doch nicht zu sehen sein wird. Die Fotos zeigen – wie schon erwähnt – eben nicht das gestellte Lie-
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besspiel, sondern nur abstrakt anmutende Ausschnitte vom Badezimmer und der Hoteleinrichtung, wie Details der Toilette, Schalter, Vorhangstangen und Heizungsrohre, Sitzpolster, sowie Wand- und Deckenfluchten – alles Fotografien, die in ihrer Formalsprache an das Neue Sehen erinnern. Stiegler erläutert hierzu, dass Sy mit diesen Fotografien versucht, die Welt mit ›unschuldigen Augen‹ zu sehen (Stiegler 2006: 334). Sy hat also das Objektiv der Kamera immer vorbei an den sexuellen Aktionen gelenkt, so dass hier das bedrohliche Moment selbst im Bild nicht fixiert werden konnte. Denn bedrohlich ist für Sy diese Situation ja insofern, da er selbst als Kind missbraucht wurde und dieser sexuelle Übergriff mit der Fotokamera festgehalten wurde. Er ahmt nun also seine eigene Urszene der physischen und psychischen Verletzung nach, wobei aber das stabile Off des Fotos das bedrohliche Objekt einerseits aus’sperrt‹, es andererseits aber symbolisch intakt hält (als Ersatzobjekt im On) und dadurch beherrschbar macht. Für Sy hat der Akt des Fotografierens hier also eindeutigen Fetischcharakter, ist der Fetisch doch nach Freud eine Art Kompromisslösung. Beim »erschreckenden Anblick« (Metz 2003: 221) wird das Gesehene in ein Nicht-Gesehenes überführt, der Blick wird nunmehr auf ein Ersatzobjekt fixiert, das ›genau daneben‹ liegt: »Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Ort des Mangels ins Off verlegt wird und dass das Subjekt seinen Blick auf etwas Benachbartes einstellt: Dekadrierung und Neukadrierung« (Metz 2003: 221). In der Tat findet hier auf der fixierten Bildebene selbst eine Loslösung vom bedrohlichen Objekt statt – der Akt des Fotografierens als Machtinstrument und die Materialität der Fotografie als Bannungsfolie des angstauslösenden Moments übernehmen hier ihre ›magische‹ Wirksamkeit als Ersatzhandlung und Ersatzbilder, als magisches Mittel gegen Selbstauslöschung. Zusammenfassend lässt sich in One Hour Photo also beobachten, dass hier sehr unterschiedliche Fetischbegriffe thematisiert und durchgespielt werden. Von dem fetischisierenden Moment der Fotografie als beschützende Sozialnorm über die magische ikonoklastische Funktion eines recht ursprünglichen Fetischgedankens bis hin zu modernen Verständnisweisen des Fetischs bei Marx und Freud werden diese diskursiven Zuweisungen bei Romanek an das Medium der Fotografie gekoppelt. Die Fotografie scheint sich als Objekt einer Fetischisierung nicht nur hervorragend zu eignen, sondern kann vielmehr als pars pro toto für den Fetischbegriff selbst verstanden werden.
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Das Rätsel der Unmittelbarkeit
D as R ätsel der U nmit telbarkeit. Z ur K onstitution von P r äsenzerfahrungen Aida Bosch
Einleitung Präsenz ist ein primär ästhetisches Phänomen. Landläufig wird es als »Ausstrahlung« einer Person bezeichnet. Es ist besonders relevant auf der Bühne, bei Schauspieler*innen und bei Musiker*innen etwa. Die Bühnenpräsenz von Künstler*innen ist eines ihrer relevantesten Qualitätsmerkmale. Doch auch für Politiker*innen, Manager*innen, Therapeut*innen und generell für Menschen ist Präsenz relevant, wenn sie wahrgenommen werden, in Verhandlungen überzeugen oder ihre Interessen vertreten wollen. Der Präsenzbegriff ist mit dem etwas altmodischeren Begriff des Charismas verwandt – charismatische Personen besitzen viel Präsenz und eine gewinnende Ausstrahlung. Nicht nur »Charisma« und »Radioaktivität« (Simmel 1993a [1908]), auch Begriffe wie »Elektrizität« oder »Intensität« (Garcia 2017) fallen, wenn es um Präsenzfragen und Präsenzerfahrungen geht. Außeralltäglichkeit und Besonderheit der Wahrnehmung scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Als außeralltägliches Phänomen ist Präsenz mit dem Feld der Kunst verschwistert. Auch mit dem Feld der religiösen Erfahrungen ist das Phänomen verwandt, wenn das Göttliche bzw. Transzendenz in einer diesseitigen Form der Präsenz erfahrbar wird. Für den post-konstruktivistischen Theoriekontext ist der Präsenzbegriff von Bedeutung, weist er doch auf die Rückkehr eines Neuen Realismus sowie auf ein gesteigertes Interesse an den Eigenwerten und Eigengesetzlichkeiten von Menschen, Dingen und Ereignissen hin. Er verweist auch auf eine ›Wiederbelebung‹ und Betonung aisthetischer und ästhetischer Phänomene im sozialen Prozess nach der analytischen Auflösung lebendiger Kräfte des Sozialen im Konstruktivismus und im Dekonstruktivismus. Der Begriff der Präsenz richtet sich auf die Dinge und Ereignisse selbst, jenseits der Zuschreibungen und Konstruktionen der Beobachter*innen, und damit auf eine neue Radikalisierung des ursprünglichen Leitsatzes der Phänomenologie »zu den Dingen selbst« – jedoch ohne in einen naiven Realismus abzugleiten. Die Deutungen des informierten Beobachters werden nicht negiert, sondern einbezogen. Damit zielt der Begriff der Präsenz auf ein »entgegenkommendes Denken« (Engel/Marienburg 2016), auf den Raum zwischen Beobachter*in und Gegenstand, zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt. Dieser Zwischenraum interessiert zunehmend nicht nur die phänomenologisch stark grundierten Kunstwissenschaften, wo er schon länger eine leitende Rolle spielt – wie etwa in der Bildakt-Theorie von Horst Bredekamp
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(2010) – sondern die Sozialwissenschaften insgesamt, um leibliche Erfahrung, jenseits und zusätzlich zu den Wissensstrukturen der Lebenswelten, wieder stärker in die wissenschaftliche Perspektive hereinzuholen. Mit dem Begriff der Präsenz wird ein Phänomen angesprochen, das sich, wie es Hans Ulrich Gumbrecht (2012) formuliert, jenseits von Sinnzuschreibungen und hermeneutischer Zeichendeutung abspielt, ein Phänomen der unmittelbaren, fraglosen Erfahrung, das in seiner Besonderheit und Situierung ernst genommen werden will. Das Phänomen der Präsenz lässt sich nicht in sozialen Konstruktionen und sprachlichen Zuschreibungen auflösen, sondern sucht nach anderen theoretischen Erklärungen für die Unmittelbarkeit und Intensität der Wahrnehmung in einer Präsenzerfahrung. Konstruktivistische Theorien gehen offensichtlich am Phänomen vorbei, wenn auch die Zuschreibungen, Erwartungen und Emotionen in den Wahrnehmungen der Beobachtenden eine große Rolle spielen und in Betracht gezogen werden müssen. Wie kommt es zu dieser Erfahrung von sich aufdrängender Unmittelbarkeit, vor aller Deutung? Welche Theorien können hilfreich sein, um Präsenz als soziales Phänomen zu verstehen? Welche situativen Eigenschaften und Erfahrungen sind charakteristisch dafür? Welche Sinne spielen dabei eine Rolle? Welche Rolle spielt das Visuelle, das Akustische, welche Rolle das Tasten, Riechen und Schmecken, welche Rolle das »eigenleibliche Spüren« (Schmitz 2007, 2011)? Wann nehmen wir einen Gebrauchsgegenstand als besonderes Ding wahr? Und wann eine Person und ihre Individualität im vollen Sinne, mit ihren ganz spezifischen Besonderheiten? Welche Voraussetzungen gibt es für Präsenzerfahrungen? Wir wollen im Folgenden soziologische und phänomenologische Klassiker auf mögliche Erklärungen von Präsenz hin befragen und mit weiterführenden theoretischen Überlegungen ergänzen.
Präsenz und Materialität Aus dem Griechischen stammt der Charisma-Begriff, der mit dem Präsenzbegriff verwandt ist. Charisma meint eine wohlwollende Gabe der Götter, die dem Menschen geschenkt wurde. Max Weber schrieb dem Charisma, das er als eine mögliche Herrschaftsform analysierte, eine außergewöhnliche, außeralltägliche revolutionäre Macht zu, die soziale Strukturen transformieren kann. Wenn sie »veralltäglicht« und auf Dauer gestellt wird, wird sie in der Regel in eine traditionale oder rationale Herrschaftsform überführt. Charisma beruht nach Weber (1980) auf der Hingabe und Verehrung, auf dem Vertrauen und der Anerkennung der Anderen. Die Hingabe und die Verehrung der Anderen muss natürlich durch ein besonderes Talent errungen werden. Um Aufmerksamkeit und Überzeugungskraft zu entwickeln, benötigt man ganz besondere Eigenschaften. Georg Simmel sprach (noch mit historischer Unschuld) von der »Radioaktivität« einer Person, und meinte damit ein ganz verwandtes Phäno-
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men. Max Weber ging es um Macht und Herrschaft, während Georg Simmel darauf zielte, die sinnliche Qualität, die Erfahrbarkeit des Anderen und ihre Eindrücklichkeit, ihre Intensität und ihren Wirkungskreis in Worte zu fassen: Man kann von einer Radioaktivität des Menschen sprechen, um jeden liegt gleichsam eine größere oder kleinere Sphäre von ihm ausstrahlender Bedeutung, in die jeder andere, der mit ihm zu tun hat, eintaucht – eine Sphäre, zu der körperliche und seelische Elemente sich unentwirrbar verweben. Die sinnlich merkbaren Einflüsse, die von einem Menschen auf seine Umgebung ausgehen, sind in irgendeiner Weise die Träger einer geistigen Figuration; und sie wirken als Symbole einer solchen auch da, wo sie tatsächlich nur äußerlich sind. (Simmel 1993b [1908]: 386)
Diese Überlegungen führen Georg Simmel zu der Feststellung, dass die sinnlich erfahrbare Einflusssphäre einer Person nicht nur mit der Person selbst, sondern auch mit materiellen Accessoires zu tun hat. Präsenz kann sich über Materialitäten und durch sie hindurch ausdrücken: Die Strahlen des Schmuckes, die Aufmerksamkeit, die er erregt, schaffen der Persönlichkeit eine solche Erweiterung oder auch Intensiverwerden ihrer Sphäre, sie ist sozusagen mehr, wenn sie geschmückt ist […]. Indem der Strahl des Edelsteines zu dem Anderen hinzugehen scheint wie das Aufblitzen des Blickes, den das Auge auf den anderen richtet, trägt er die soziale Bedeutung des Schmuckes – das Für-den-andern-sein, das als Erweiterung der Bedeutungssphäre des Subjekts zu diesem zurückkehrt. (Simmel 1993b [1908]: 387)
Der Schmuck schafft diese »Erweiterung der Bedeutungssphäre« interessanterweise durch seine Objektivität. Er ist ein Stück »objektiver Kultur«, und gerade seine Unpersönlichkeit verstärkt paradoxerweise das Strahlen der Persönlichkeit, so Georg Simmel. Ebenso vermag dies besondere und außeralltägliche Kleidung. Auch ein »objektivierter« Geruch des Parfums trägt dazu bei, dass die Persönlichkeit des Anderen paradoxerweise als individuell und sympathisch wahrgenommen wird (Simmel 1993b [1908]). Nicht personalisierte Kleidung, die durch langes Tragen »einverleibt« und hochgradig subjektiviert ist, sondern »objektive«, nicht-personalisierte Kleidung vermag es, den Wirkungsgrad der Person zu unterstreichen und zu erhöhen. Nicht nur persönliche Eigenschaften und Merkmale bestimmen also die Präsenz einer Person, sondern auch soziale, objektivierbare Merkmale. Diese von Simmel aufgezeigte Paradoxie vermag die Rolle äußerer und materieller Merkmale von Präsenz zu beleuchten. Doch wäre es so einfach, so müsste man den Körper nur richtig gestalten und bekleiden, den richtigen Schmuck anlegen, und schon wäre die Frage der Präsenz gelöst und gewonnen. So einfach ist es nicht. Die richtige Kleidung und Schmuck vermögen Präsenz zu unterstreichen. Hollywoodstars
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und Politiker*innen unterhalten Stäbe von Expert*innen und Berater*innen für Fragen des richtigen Outfits, für Körperpflege und -gestaltung. Doch damit ist das Phänomen der Präsenz keineswegs gelöst; vielmehr muss man ihm näher auf den ›Leib‹ rücken, um es zu verstehen. Äußere Merkmale, die Gestaltung der Körperoberfläche und der ästhetischen und sozialen Signale, die durch die Körperoberfläche kommuniziert werden, spielen durchaus eine Rolle, doch sind sie nicht die ganze Erklärung, weil Präsenz durch die Körperoberfläche zwar kommuniziert und verstärkt wird, doch mehr ist als eine spezifisch gestaltete Oberfläche. Die Präsenz von Personen und Dingen hat durchaus auch ein materiell-leibliches Element. Große und schwere Dinge drängen sich der Wahrnehmung stärker auf als unauffällige und kleine. Sie verlangen Aufmerksamkeit, stellen sich in den Weg und erzeugen eine Präsenzerfahrung durch ihr schieres materielles Sein. Auch schnelle Dinge werden bevorzugt wahrgenommen; sie könnten gefährlich sein und drängen sich somit der Wahrnehmung auf. Doch genau genommen liegt das Phänomen der Präsenz am Schnittpunkt von Körper und Geist und wird durch das Spiel zwischen Idee und Materie ausgeformt – das gilt für das Kunstwerk wie auch für die wahrgenommene Anwesenheit einer Person. Die Erfahrung von personaler Präsenz verlangt eine leibliche Anwesenheit – oder ein visuelles, verdichtetes Surrogat dieser Anwesenheit in Form eines Bildes, das als Aktant ebenfalls wirken kann (Bosch 2014). Leibesfülle kann eine massive Präsenz, eine gesteigerte sinnliche Wahrnehmung durchaus unterstützen: Die visuelle Wahrnehmung wird ebenso wie die akustisch-stimmliche durch eine gewichtige, beleibte Person stärker stimuliert, nimmt diese doch einen größeren Raum ein und verfügt in der Regel auch über ein größeres Stimmvolumen. Doch die Wahrnehmung von Präsenz kann paradoxerweise auch durch das Gegenteil evoziert und gesteigert werden. Auch Askese ist ein probates Mittel, um Präsenz zu steigern. Ein fastender Yogi kann aufgrund der Mangelerfahrung und der gesteigerten Selbstbeherrschung über eine geschärfte Aufmerksamkeit verfügen und dem/der Beobachter*in eine gesteigerte Präsenz vermitteln. Die Erfahrung der Entbehrung, des Mangels und der Selbstdisziplin steigert die Wahrnehmungsfähigkeit auf beiden Seiten. Dagegen hat jemand, der körperlich anwesend, aber geistig abwesend ist, keine Präsenz in vollem Sinne. Präsenz hat also materielle und nicht-materielle Aspekte. Im Fahrstuhl oder der Metro zum Beispiel nehmen Menschen ihre Präsenz und Aufmerksamkeit häufig zurück, um sich in der erzwungenen räumlichen Nähe nicht zu nahe zu treten und das eigene Selbst vor zu viel ungewünschter Nähe zu schützen (Simmel 1995b [1901]). Sie blicken sich meistens nicht in die Augen und kehren ihre Aufmerksamkeit nach innen. Sie sind nah und fern zugleich; ihre Präsenz ist vermindert. Georg Simmel (1995a [1901]) hat eine »Ästhetik der Schwere« entwickelt. Die Schwere des Materials (oder des sich stellenden Problems) wird als eine
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Art fordernde und herausfordernde Hürde betrachtet, und die Art und Weise, wie das Hindernis bzw. die Schwere überwunden wird, formt die besondere Ästhetik der Handlung oder des Kunstwerks. Simmel zeigt etwa, wie der Konflikt zwischen der Lastigkeit und Härte des Materials (etwa Bronze oder Stein) und dem Schweben und Schwingen, das durch die künstlerische Bearbeitung erzeugt wird, sich in verschiedenen Kunstwerken ausformt. Ein Künstler, der mit Bronze arbeitet, hat es in dieser Hinsicht schwerer, die Lastigkeit des Materials zu überwinden, als einer der mit Holz arbeitet. Ein Tänzer mit viel Körpergewicht hat es schwerer, zu einer ausgewogenen Form der Bewegung zu finden als ein leichter Tänzer. Er müsste mehr für diese Wirkung arbeiten; doch wenn er es schafft, dann kreiert er ein besonderes, anspruchsvolles ästhetisches Ereignis. Die Ästhetik des Werks oder der Handlung wird letztlich durch die überwundene Fallhöhe bestimmt, die aber eben nicht zu leichtfertig überwunden werden darf. Zu Beginn seines Aufsatzes zur »Ästhetik der Schwere« schreibt Simmel, dass wir alle immer meinen, die Welt böte so viele Hindernisse für unsere Pläne und Vorhaben und verhindere unsere Selbstverwirklichung. Doch seien nach seiner Auffassung diese Hindernisse der Rohstoff, das Material, an dem sich unsere Persönlichkeit in der Art der Überwindung bzw. Lösung der Hindernisse erst formt. Die Hindernisse können materieller oder auch sozialer Natur sein. Die Hindernisse, die Widerstände der Welt werden als Schwere empfunden; je größer (und schwerer) die Aufgabe, mit der wir es zu tun hätten, je stimmiger die Art der Überwindung der Schwere, desto größer wäre danach der ästhetische Wert der Handlung oder des Werks. Die Besonderheit des Werks wird durch diese Fallhöhe geformt und bestimmt. Das bedeutet, dass die besondere Lastigkeit eines spezifischen Materials unsere ganze Aufmerksamkeit fordert, und mit der besonderen Herausforderung, mit den Krisen, die vielleicht damit verbunden sind, im Keim auch die Chance enthält, in der Arbeit an der Überwindung der Schwere zu einer ganz besonderen, einmaligen Form zu finden. Diese einmalige Form bestimmt dann auch die Präsenz des Werks. Das Erleben von Präsenz scheint mit der Aufmerksamkeit und Fokussierung sowohl des Beobachters wie mit derjenigen des Beobachteten zusammenzuhängen. Auf beiden Seiten findet im Präsenzerleben ein gesteigerter Moment statt. Über die leibliche Anwesenheit hinaus verlangt Präsenz eine geistige Anwesenheit, die spürbar, aber nicht verfügbar, die gesammelt und fokussiert ist, sich in einem offenen Weltverhältnis zeigt, und doch nicht alles preisgibt, ein Geheimnis birgt. Ein Mensch hat Präsenz, wenn er nicht nur anwesender Körper ist, sondern eine geistig-seelische Intensität vermittelt, die umso stärker wirken kann, wenn sie verhalten und gezähmt ist: Begehren, Schmerz, Wut, Freude, Neugier, Erfahrung, Haltung, Klugheit oder Weisheit – oder eine ganz spezifische individuelle Mischung daraus.
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Wie kann man nun Präsenz theoretisch näher bestimmen? Es geht um eine gespürte Anwesenheit einer Person oder eines Dinges, um eine Mit-Anwesenheit, um eine zeitliche und räumliche Simultaneität der Situierung. Gumbrecht (2012) benennt mit dem Begriff der Präsenz eine Unmittelbarkeit der Erfahrung, ein prä-semiotisches Erleben und Spüren, das vor aller Kognition gelagert ist und jenseits aller Zeichendeutung liegt. Er bezieht sich dabei auf Martin Heidegger (2010), für den das Dasein nicht nur ein kognitiv gedachtes, sondern ein materielles und leibliches In-der-Welt-Sein ist. Dieses In-derWelt-Sein beruht auf einem Zusammenhang der Dinge, auf der Vertrautheit mit der materiellen Welt. Unser Leib korrespondiert mit den Dingen, indem er sie nutzt, und steht in einem selbstverständlich erfahrbaren und unhinterfragten Zusammenhang mit ihnen. Mit Heidegger strebt Gumbrecht eine Überwindung der Trennung von Erkenntnissubjekt und -objekt an. Wahrnehmung ist nicht unabhängig vom Sein und vom Zusammenhang der Dinge, vielmehr ist sie verknüpft mit dem In-der-Welt-Sein, auch mit der Anwesenheit der vertrauten Dinge und Menschen. Ihr Vorhandensein ist eine Art Zeitgenossenschaft, die Kultur verbürgt, und ist uns alltäglich und schon vor jeder Reflexion in unserer Lebenswelt gegeben (Schütz/Luckmann 2003 [1975]). Die Dinge und Menschen sind immer schon da und schaffen durch ihr Dasein die besondere individuelle und soziale Atmosphäre der Lebenswelt. Ihr Dasein verbürgt das Sein in der Gesellschaft und die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt, die Handlungssicherheit vermittelt. Die alltägliche Präsenz der Menschen und Dinge ist somit gegeben und unauffällig. Doch drängt sich ihre Präsenz dann besonders auf, wenn der Umgang mit den Personen oder Dingen eine Störung erfährt. In der Folge verliert die Praxis der Lebenswelt an Geschmeidigkeit und Krisenmomente treten auf. Präsenz meint dann etwas auffällig Widerfahrenes, etwas sich der Wahrnehmung Aufdrängendes. Es sind also wenigstens zwei Formen der Präsenz zu unterscheiden: a) Präsenz als etwas alltäglich Gegebenes, Vertrautes – die unscheinbare, selbstverständliche Präsenz der Dinge und Menschen im Alltag, die die Lebenswelt und die Erfahrung von Gesellschaft konstituiert, und b) Präsenz als außeralltägliche, herausgehobene Form der Wahrnehmung, die sich in Krisen des Alltags oder in der ästhetischen Erfahrung einstellt – die Art von Wahrnehmung, die die alltägliche Lebenswelt transzendieren und in Frage stellen kann (Ernst/ Paul 2013; Gottwald et al. 2017). Alltägliche Präsenzen fungieren als kognitive, materielle und psychologische Stützen des Daseins des Menschen, als Ergänzung seiner »Hälftenhaftigkeit« (Plessner 1982) und Kompensation seiner Mängelhaftigkeit (Gehlen 2016). Ihre Wahrnehmung hat einen gewissen Routine-Charakter, es geht nicht um »sehendes Sehen« (Imdahl 1996), sondern um »wiedererkennendes Sehen«. Es geht nicht um die differenzierte Wahrnehmung besonderer und
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individueller Eigenschaften, nicht um ein radikal ästhetisches, immer auch gefährdendes Wahrnehmen, sondern um Typisierungen im Sinne von Alfred Schütz (1993). Diese Typisierungen wirken als »Sinnfilter gegen Kontingenz und Komplexität«, und der Mensch als »ein in seiner strukturellen Weltoffenheit offensichtlich auf die sinnhafte Reduktion von unfassbarer Komplexität angewiesenes Vitalwesen« (Fischer 2016: 379) bedarf dieser Sinnfilter, um seine immer labile, gleichzeitig zentrische und exzentrische Existenzweise anhand kultureller Mechanismen der Komplexitätsreduktion zu stabilisieren. Außeralltägliche Präsenzen hingegen haben einen ganz anderen Charakter: Sie stellen einen Bruch oder ein Krisenmoment der Erfahrung dar. Die Routine wird durch diese ausgesetzt oder gebrochen, und die Wahrnehmung für Ungewohntes, Unerwartetes und Unglaubliches geöffnet. Diese Präsenzen initiieren Momente der Herausforderung und der Kreativität, verschaffen neue Einsichten oder vermitteln eine spürbare Erfahrung von transzendenten kosmologischen Zusammenhängen. Sowohl die ästhetische als auch die religiöse Erfahrung finden in einem Spalt der alltäglichen Lebenswelt statt, sie setzen einen Bruch der Alltäglichkeit, eine Selbst-Entgrenzung der sozialen Person voraus, um sich ereignen zu können. Hier gibt es eine Familienähnlichkeit zu ekstatischen Phänomenen wie auch zum »Lachen und Weinen«, wie es Plessner beschrieben und verstanden hat: als Antwort auf eine Krisenerfahrung. Auf solche Erfahrungen reagieren Menschen mit »Resonanz«, und es kommt zum »gefühlsmäßigen Gewahrwerden einer Ohnmacht, gegen die es nichts vermag« (Plessner 1982: 352). Diese Erfahrung beinhaltet immer auch Gefährdungen, da die Sicherheit und Routine der alltäglichen Lebenswelt verlassen wird, um sich der »unfassbaren Welt« auszusetzen. Eine Ahnung von der »Unverhältnismäßigkeit des Daseins« (Plessner 1982: 352) überwältigt das beobachtende Subjekt und stellt Herausforderungen für das Denken und Fühlen; stürzt den Menschen in eine Krise oder vermittelt neue Einsichten. Die alltägliche Lebenswelt mit ihren routinehaften Wahrnehmungsmodi schützt vor dem Riss in der Welt, während die ästhetische und die religiöse Wahrnehmung diesen Riss geradezu suchen und erzeugen. Die religiöse Erfahrung sucht diesen Riss, um das Transzendente und Göttliche erfahrbar zu machen. Der ästhetische Modus der Kunst will diesen Riss in der Welt öffnen, zeigen und darstellen, um ihn als experimentellen Spielraum zu nutzen. Wenn es denn gelingt, diesen Riss in der Welt zu öffnen – und auszuhalten – und ihn für einen Augenblick mit formaler Schönheit zu versöhnen, so entsteht das, was Heidegger (1960: 437; siehe auch Heidegger 2010) »ekstatische Zeitlichkeit« genannt hat: ein Aussetzen der Zeit selbst, ein aus dem Zeitkontinuum heraustretender Moment, der einen Blick auf die »Unverstelltheit des Seins« eröffnet. Das Glück der ästhetischen (oder religiösen) Erfahrung in diesem Sinne ist nicht nur schön, sondern kann auch schrecklich sein, es schmeichelt
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nicht der Wahrnehmung, sondern es bedeutet eine Erschütterung des eigenen Standortes in der Welt und des Weltbezugs. In der alltäglichen Lebenswelt wird eine stabile soziale, nicht-kontingente Welt etabliert – durch kollektive Routinen der Wahrnehmung (und des Handelns) wird die »exzentrische Positionalität« (Fischer 2016) sowie die Brüchigkeit und Verletzlichkeit der menschlichen Existenz stabilisiert. Die außeralltägliche religiöse oder ästhetische Erfahrung bedeutet im Gegenteil, dass der Riss in der Welt mit wachen Sinnen aufgesucht wird.
Die besondere Präsenz des Kunstwerks Neben alltäglichen Präsenzen von Menschen und Objekten eignet sich besonders das Feld der Kunst zur theoretischen Reflexion des Phänomens Präsenz, das ja genuin ein sinnliches und in diesem Sinne auch ein ästhetisches Phänomen ist. Das Kunstwerk ist im Hinblick auf Wahrnehmung, Appräsentation und Lesbarkeit seiner Sinnhaftigkeit mit Personen durchaus vergleichbar. Beide sind sichtbar und sinnlich erfahrbar, treten in Interaktion mit dem Betrachter, und stehen doch ganz in sich selbst, geben Rätsel auf. Beide müssen durch den Beobachter ergänzt werden, um erschlossen und verstanden zu werden. Beiden ist etwas Fremdes zu eigen, eine Unergründlichkeit, die nicht vollständig erfasst und ausgelotet werden kann. Der Beobachter betrachtet die äußere Hülle und zieht Rückschlüsse auf die innere Idee (Raab/Soeffner 2005). Das Kunstwerk aber, wie auch die Person, stehen in einem eigenen Kontext. Beide verhalten sich ähnlich paradox im Wechselspiel mit dem Betrachter: Sie sind verständlich und unverständlich zugleich, scheinbar lesbar wie ein Buch, und doch sich gegen Interpretationen sperrend. Sie sind einerseits geformt und gestaltet von ihren sozialen Kontexten. Deshalb sind sie auch jeweils durch die Kenntnis der konventionellen Zeichen des jeweiligen Feldes ›lesbar‹ und ›verständlich‹. Gleichzeitig weichen sie aber von ihrem Kontext ab und weisen individuelle Züge auf. Deshalb sperren sie sich gleichzeitig der Lesbarkeit und entziehen sich der Verständlichkeit auf radikale Weise. Sie bergen ein Geheimnis. Das gilt für den Anderen, dessen Fremdheit wir als ästhetischen und ethischen Reiz und Herausforderung nicht nur hinnehmen, sondern annehmen sollten, ohne diese Fremdheit zu »nostrifizieren« und damit »wegzukürzen« (Lévinas 1999). Das gilt aber auch für das Kunstwerk, das, wenn es von hoher ästhetischer Qualität ist, nur einen Teil seiner Idee, doch nicht sein ganzes Geheimnis enthüllt. Gute Bilder sind nicht so schnell »leergesehen«, wie der Kunstkritiker Hermann Pfütze im Kunstgespräch verriet, da sie immer wieder neue Blicke und Kontextualisierungen ermöglichen – und für interessante Menschen gilt das ebenfalls. In der Lebenswelt wird die Fremdheitserfahrung in der Regel zugunsten der geschmeidigen und angstfreien Alltagskommunikation mit Hilfe von Überbrückungskonstruktionen ausgeblendet (Schütz
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1993). In der ästhetischen Erfahrung (und in der intensiven Begegnung) jedoch hat diese Erfahrung von Fremdheit ihren Platz und sogar einen konstitutiven Charakter für diese Art von Erfahrung. Das Kunstwerk hat also eine besondere Präsenz, die herausgehoben ist gegenüber den Alltagsdingen, und fordert vom Betrachter, diese Präsenz mit offenen Sinnen wahrzunehmen. Die Präsenzerfahrung des Werks wird einerseits durch die spezifische Rahmung des Kunstwerks vermittelt und unterstützt, durch die räumliche und zeitliche Ordnung des Museums zum Beispiel. Innerhalb dieser symbolischen Ordnung nimmt der Museumsbesucher die Dinge anders wahr, in der Regel ehrfürchtiger, aufmerksamer, und neugieriger. Zum anderen muss aber auch etwas im Kunstwerk selbst stecken, wenn es eine besondere Präsenzerfahrung evozieren soll. Martin Heidegger hat die Besonderheit des Kunstwerks im Vergleich zu anderen Dingen in seiner Schrift »Vom Ursprung des Kunstwerks« untersucht. Obwohl er den Begriff der Präsenz darin nicht verwendet, lassen sich seine Überlegungen für unser Thema weiterführen. Er unterschied drei Kategorien von materiellen Objekten: Ding, Zeug und Werk. Der Begriff ›Dinge‹ umfasst alle Objekte, ob vom Menschen gemachte oder vorgefundene. Das ›Zeug‹ ist vom Menschen gemacht und zeichnet sich durch Zuhandenheit aus; gemeint sind damit Alltagsobjekte. Das Zeug steht nicht für sich alleine, sondern in einem Zusammenhang, man könnte auch sagen, in einem kulturellen »System der Dinge« (Baudrillard 2007). Deshalb garantiert das Zeug und seine unscheinbare Alltagspräsenz die Verlässlichkeit und Verständlichkeit der Lebenswelt. Schon im Gebrauch der Dinge vermittelt sich der Zusammenhang der Dinge, es vermittelt sich Kultur, und gerade die leibliche Selbstverständlichkeit in der Nutzung der Dinge garantiert die Selbstverständlichkeit der kollektiven Zeitgenossenschaft. »Das Zeugsein des Zeugs besteht in seiner Dienlichkeit. […] Die Ruhe des in sich ruhenden Zeugs besteht in der Verlässlichkeit« (Heidegger 2010: 26f.). Für das Kunstwerk und seine besondere Präsenz gilt nun gerade das Gegenteil: Es holt den Betrachter heraus aus den eingefahrenen Bahnen des Denkens und Fühlens, es vermittelt, um es in Heideggers Begriffen zu sagen, einen Moment der Einsicht in eine Unverborgenheit des Seins. Die Wahrheit ist prinzipiell verborgen und kann nur moment- und ausschnittsweise aufscheinen, mehr noch in der Kunst als in der Wissenschaft, die trotz allen Messens den wahren Kern der Dinge nicht erfassen kann. Wenn dieses gelungen ist, handelt es sich beim Kunstwerk, wie Heidegger (2010: 26) schreibt, um ein »Geschehen zur Wahrheit«. Anhand eines Gemäldes von van Gogh, das ein Paar Bauernschuhe darstellt, zeigt er, was ein Kunstwerk vermag. Dieses Gemälde ist Werk und zeigt Zeug, sodass beide Begriffe daran untersucht werden können: der Charakter des Zeugs und der des Werkes. Die Bauernschuhe sind Teil der Welt der Bäuerin, sie stehen für ihre täglichen Erfahrungen, sie sprechen von ihren sinnlichen Wahrnehmungen und Gefühlen (»In dem Schuh-
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zeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde…«; Heidegger 2010: 27). Das Werk aber, das Gemälde, vermag uns eine Einsicht in diese Welt der Bäuerin zu geben. Es vermittelt eine vorübergehende Unverborgenheit des Seins, indem es einen Teil der Erfahrungswelt der Bäuerin dem/der Betrachter*in unmittelbar vor Augen stellt. Es gebe nur wenige Wege, wie Wahrheit sich ereignen kann, und eine davon sei das Kunstwerk. Heidegger denkt hier zur Gänze phänomenologisch, wenn er das Kunstwerk als der Wissenschaft darin überlegen betrachtet, die Wahrheit des Seienden ans Licht, d.h. in die sinnliche Erfahrung (und nicht nur in das kognitive Erfassen) zu bringen. Verstehen in diesem Sinne hat eine konstitutive leiblich-sinnliche Komponente und ist in der reinen analytischen Abstraktion nicht zu haben. Im Kunstwerk, wie zum Beispiel im griechischen Tempel, lastet der Stein und bekundet seine Schwere, die er dem Kunstwerk zur Verfügung stellt. Diese Schwere des Steins versagt sich jedem Eindringen, denn jedes Eindringen gefährdet den unergründlichen Gesamtzusammenhang des Kunstwerks. »Versuchen wir solches, indem wir den Fels zerschlagen, dann zeigt er in seinen Stücken doch nie ein Inneres und Geöffnetes« (Heidegger 2010: 43). Legen wir den Stein auf die Waage, so gewinnen wir vielleicht eine genaue Zahl, doch das Lasten selbst hat sich entzogen. Auch die Farbe leuchtet auf und will leuchten, doch wenn wir sie »verständig messend in Schwingungszahlen zerlegen, ist sie fort.« Die Erde lässt, ebenso wie alles Seiende, jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen. »Sie lässt jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen« (Heidegger 2010: 43). Das Kunstwerk aber steht in einem eigenen Zusammenhang, den es selbst schöpft. Es stellt eine Welt (Idee, Kosmos) auf, indem Erde (Material) bearbeitet wird, und in der Wechselwirkung, im Widerstreit zwischen Welt und Erde findet der »Urstreit von Lichtung und Verbergung« statt (Heidegger 2010: 54) und Seiendes wird sichtbar, wird in die Unverborgenheit gebracht: »Schönheit ist eine Weise, wie Wahrheit als Unverborgenheit« sich zeigt (Heidegger 2010: 55). Heidegger formulierte in dieser Schrift einen anspruchsvollen Kunstbegriff, und er ist einer der wenigen Denker der Neuzeit, für die es noch eine Verbindung von Wahrheit und Schönheit gibt (Bosch 2018). Diese Verbindung von Wahrheit und ästhetischer Form ereignet sich im Kunstwerk. Ist es gelungen, dann steckt dieser Moment der Entbergung, der Wahrhaftigkeit im Objekt und in seiner Materialität (und nicht in den Zuschreibungen des Betrachters). Da er in die Materie eingeschrieben wurde, kann dieser Moment der Begegnung von Welt und Erde, von Wahrheit und Schönheit, von wahrhaftigem Impuls, formaler Gestaltung und Materie, nun im Werk betrachtet werden. Durch die ästhetische Erfahrung, die das Kunstwerk vermittelt und ermöglicht, wird der Standpunkt des/der Betrachters*in verschoben, seine/ihre Welt wird erschüttert: »In der Nähe des Werks sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen« (Heidegger 2010: 29f.). Nach Heideggers Überlegungen ist ästhetische Erfahrung nichts rein
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Subjektives; subjektiv ist in diesem Ansatz vor allem die Fähigkeit, sich darauf einlassen zu können: »Es wäre die schlimmste Selbsttäuschung, wollten wir meinen, unser Beschreiben habe als ein subjektives Tun alles so ausgemalt und dann hineingelegt. Wenn hier etwas fragwürdig ist, dann nur dieses, dass wir in der Nähe des Werkes zu wenig erfahren und das Erfahren zu grob und zu unmittelbar gesagt haben« (Heidegger 2010: 29). Das Kunstwerk erhält seine Präsenz durch seine gestaltete Stofflichkeit. Während die Materialität des Zeugs in seiner Dienlichkeit zu verschwinden scheint und sich der Vertrautheit und der Verlässlichkeit des Alltags anschmiegt, ist das beim Kunstwerk anders. Dieses lässt die Materie nicht verschwinden, sondern ihre besonderen Qualitäten »im Widerstreit zwischen Welt und Erde«, zwischen Idee, gestaltender Hand und Stoff erst hervorkommen. Das Kunstwerk bringt das Material auf seine jeweils besondere Art zum Sprechen: [D]er Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. All dies kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes. (Heidegger 2010: 42)
Die ästhetische Erfahrung des Kunstwerks vermittelt eine Unverborgenheit des Seins. Wenn es gelungen ist, dann ist das Werk Geschehen zur Wahrheit. Dies ist möglich, weil die Idee und Erfahrung, die dem Werk zugrunde liegt, ganz zurückgestellt ist in die Materie, und die Stofflichkeit durchdringt. Das Besondere an der ästhetischen Erfahrung ist, dass sie einen Moment der Versöhnung zwischen Stofflichkeit und Idee vermittelt. In der ruhelosen exzentrischen Positionalität (Plessner 1975) des Menschen sind Momente der Begegnung und Versöhnung zwischen der leiblich-stofflichen Existenz und seiner körperlich-kulturellen Seinsweise rar und kostbar. Wenn sie erlebt werden, sind sie mit einer besonderen Präsenz verbunden. Werk und Betrachter*in treffen mit besonderer Intensität aufeinander. Das sind seltene Glücksmomente. In der Regel sind sie im künstlerischen Prozess hart errungen worden, und dies gilt sowohl für die Produktion wie für die Rezeption des Werks.
Grenzen und Grenzüberschreitungen Gute Kunst macht einen Unterschied, sie verändert etwas in der Wahrnehmung des/der Betrachters*in und in seinem/ihrem Verständnis der Welt. Auch in der zeitgenössischen Kunsttheorie spielt dieses Verständnis des Werks eine Rolle. Das Kunstwerk muss erlebt und erfahren, nicht nur gedacht wer-
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den. Es behält den Spielraum des Mehrdeutigen, des für künftige Kontexte aufschließbaren Ambivalenzraumes. Das performative Kunstwerk ist ein Ereignis, das als wesenhaft wirklichkeitskonstituierend verstanden wird, indem es die Wahrnehmung und Weltdeutung fordert und herausfordert (FischerLichte 2004). Im fertigen Gemälde oder einer Skulptur zum Beispiel ist diese Herausforderung ins Material »geschrieben« und »stillgestellt«. Das Werk kann überdauern und zur Nachwelt sprechen. Im performativen Kunstwerk ist dieser Moment vergänglich und im Fluss. Das Kunstwerk existiert nur im Moment der Aufführung, es können genau genommen nur Abbilder oder Surrogate reproduziert werden, nicht das Kunstwerk selbst. Diese Einmaligkeit und Vergänglichkeit geben dem performativen Kunstwerk eine besondere Präsenz. Ein Werk, das nicht überdauert, das alleine für einen ästhetischen Moment geschaffen wurde, dass keine solide und bleibende Stofflichkeit hat, hat eine besondere Intensität und einen besonders hohen ästhetischen Wert. Das performative Kunstwerk bezieht sich primär auf sich selbst und seinen Ereignischarakter. Es ist radikal an den jeweiligen Augenblick und seine Bedingungen gebunden, und diese Unbedingtheit ist Teil seiner besonderen Präsenz. Geht etwas schief, dann ist es nicht wiederhol- und korrigierbar. Das Werk steht also ganz in seinem eigenen Kontext, in seiner eigenen Aura (Benjamin 2009). Die Zuschauer sind Teil des performativen Kunstwerks und beeinflussen sein Geschehen und seine Gestalt (Fischer-Lichte 2004). Sie tragen zu seinem Gelingen oder Misslingen bei; insofern ist das performative Kunstwerk genuin ein Ereignis, das nicht von einzelnen Akteuren, sondern kollektiv geschaffen wird. Wir haben herausgearbeitet, dass das Phänomen Präsenz materielle, sinnlich-leibliche und geistige Aspekte hat. Es spielt sich in der Wechselwirkung von Betrachter*in und Betrachtetem ab, im Prozess der vielleicht hindernisreichen Wechselwirkung zwischen der Schwere der Aufgabe und formgebender Gestaltung, zwischen der Leiblichkeit mit ihren Grenzen und ihrer Vulnerabilität und der ›exzentrischen‹ Überwindung dieser Grenzen durch Imagination, die sich in die Leiblichkeit oder Stofflichkeit zurückstellt. Vor allem aber scheint es ein Phänomen zu sein, das nicht an einen Ort festgestellt ist, sondern im Raum dazwischen, an bestimmten Schnittpunkten lokalisiert ist. Präsenz ensteht im Moment der Verknüpfung von Ausdruck und Wahrnehmung, in der Verknüpfung von Erkenntnissubjekt und -objekt, in der Verknüpfung von Erfahrung und Imagination auf der Darsteller- wie auch auf der Beobachterseite (Raab/Soeffner 2005). Es handelt sich um ein Phänomen, das präreflexiv und sinnlich-emotional ist, und doch spielt es sich nicht jenseits von Sinn ab. Die Kritik von Hans Ulrich Gumbrecht, dass in dem üblichen latenten Konstruktivismus der Sozial- und Kulturwissenschaften der spezifische Eigenwert des Beobachtungsgegenstands und die leiblich-sinnliche Dimension der Wahrnehmung verlorengehen, ist zutreffend. Dennoch spielt sich Präsenz nicht jenseits von Sinn und Bedeutung ab. Nur was Bedeutung hat, mag diese auch nicht
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festgelegt sein, kann in der Wahrnehmung Präsenz erlangen. Bedeutungslose Dinge sprechen nicht zu uns; wenn wir sie überhaupt wahrnehmen, sind sie uns gleichgültig. Eine Präsenzerfahrung ist jedoch ganz im Gegenteil mit überschießendem Sinn belegt, der gar nicht zur Gänze erfasst werden kann. Dieser Sinn wird nicht kognitiv, sondern mit allen Sinnen, leiblich, unmittelbar, drängend, intensiv, sich aufdrängend – und ohne den Umweg über langwierige Reflexionen erfahren. Plessners (1975, 1982) zweites anthropologisches Gesetz von der »vermittelten Unmittelbarkeit« der menschlichen Existenz bekommt hier eine eigene Bedeutung im Raum zwischen der unverstellten, zentrischen Leiblichkeit und der reflektierten oder imaginierten exzentrischen Position des Menschen. Nur ein Wesen, das seine Offenheit zur Welt durch Gesellschaft gestaltet und kompensiert, das auf seine Lebensbedingungen und seine Daseinsweise reflektieren kann und muss, diese transzendieren kann, kommt auch in gewollte oder ungewollte Grenzlagen des Konventionellen und sozial Üblichen. Wenn die sozialen Routine-Situationen und Muster, die hilfreich und unabdingbar für die Bewältigung des Alltags sind, an ihre Grenzen kommen, dann entsteht Platz für unmittelbare leibliche Erfahrungen. In den Spalten des Sozialen, an den Rändern und in den ›Löchern‹ des sozialen Gewebes, entsteht Offenheit für unmittelbare Präsenzerfahrungen, wie sie in der Kunst oder in der Religion stattfinden können. Diese Spalten und Löcher des Sozialen beinhalten natürlich Gefährdungen und Risiken, doch auch die Chance zu besonderen Glückserfahrungen. Nur ein kulturell geformtes Wesen wie der Mensch kennt den Wert und das besondere, nicht alltägliche Ereignis einer intensiv erfahrenen leiblichen Gegenwart, einer besonderen Präsenz und Fokussierung im Hier und Jetzt, einer ästhetische Erfahrung, die berührt und erschüttert und die nachhaltige Spuren in der Erinnerung hinterlässt. Die Rückkehr zur Unmittelbarkeit, zur Leiblichkeit, zum Hier und Jetzt ist wie eine Rückkehr zu sich selbst nach vielen Umwegen. Nur auf den Umwegen findet Entwicklung statt: Weg von sich selbst, Umwege über Anderes und Andere machend, um zu sich selbst zurückzukommen, und diese Rückkehr zu einem veränderten Selbst als beglückend zu erfahren. Eine Präsenzerfahrung in der Begegnung von Ego und Alter setzt die Appräsentation in der Wahrnehmung des Anderen nicht außer Kraft, der intuitive Schluss vom Äußeren auf das Innere findet statt und wird benötigt. Das Äußere ist nicht wirklich vom Inneren getrennt, es repräsentiert die nicht sichtbare Innenwelt wie die für Alter sichtbare Außengestalt. Ego kommuniziert mit Alter über seine Außenfläche, eine Kommunikation, die wie eine Art Begleitmusik neben dem sprachlichen Austausch verläuft (Soeffner 1992): »Der Mitmensch verkörpert sich in meiner Gegenwart«, sein Körper ist nicht nur ein bloßes Außen, sondern ich erlebe ihn »als ein nach außen gekehrtes, im Augenblick sogar mir zugekehrtes Innen« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 608). Die Appräsentation im Vorgang der Wahrnehmung, die Ergänzung, die
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wir vornehmen, ist nicht als ein bewusst-kognitiver Vorgang zu denken. Ähnlich wie das Werfen oder Fangen eines Balles beruht es auf implizitem Erfahrungswissen: Wir berechnen nicht erst die Flugbahn des Balles, um den Ball richtig zu fangen oder zu werfen (Gigerenzer 2008). Dabei handelt es sich um einen leiblichen Vorgang, der auf leiblichen Erfahrungen und auf dem LeibGedächtnis beruht. Gelingt das Fangen, so kommt es zu einer gemeinsamen Handlung mit dem Werfenden, dessen Akt des Werfens sich vollendet. Ähnliches geht beim Phänomen der Präsenz vor sich: Im Moment der Wahrnehmung einer starken Präsenz kommt es zu einer Grenzüberschreitung, indem sich die Intensität des Wahrgenommenen und die Intensität der Wahrnehmung im sinnlichen, unmittelbaren (aber nicht voraussetzungslosen) Erleben treffen und eine Einsicht in die »Unverborgenheit des Seins« freigeben (Heidegger 2010: 26f.). Beide, Ego und Alter, sind stark auf das Ereignis fokussiert, beide sind mit Ihrer gesammelten Aufmerksamkeit ganz in diesem Moment des Austauschs von wahrnehmender Energie. Ein großes Maß an emotionaler Energie (Collins 2005) fließt in beide Richtungen, und dies können symmetrische oder auch asymmetrische Flüsse sein. Diese Grenzüberschreitung zwischen Ego und Alter ist von Alfred Schütz und Thomas Luckmann als »mittlere Transzendenz« bezeichnet worden. »Seine Welt transzendiert notwendig die meine, wie nah wir uns auch sein mögen« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 603). Durch die Idealisierungen des Alltags (Reziprozität der Standorte und Perspektiven) und Höflichkeitsformen, die darauf auf bauen, sehen wir normalerweise von dieser Grenze zwischen Ego und Alter, von der Differenz und Fremdheit zwischen den Subjekten ab, um die sozialen Kommunikationen flüssig zu gestalten. Die Erfahrungen des Alltags bestätigen uns in der Regel darin. Wir nehmen an, unsere Kommunikationspartner sind uns im Wesentlichen ähnlich, und wo sie es nicht sind, da wären sie es, wenn sie sich »in unsere Schuhe stellen würden. Über diese Grenze zwischen Ego und Alter kann man in der Regel nicht nur hinüberblicken, sondern auch die dahinterliegende Landschaft in deutlichen Umrissen erkennen. Sie gleicht in ihren Hauptzügen der ihm vertrauten, heimatlichen« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 603). Diese Reziprozität der Perspektiven bildet die Grundlage unserer Verständigung im Alltag und sorgt für gelingende Kommunikation. Doch wissen wir gleichzeitig auch von der prinzipiellen Fremdheit des Anderen, wir wissen, »dass sein Äußeres nicht alles Innere anzeigt und dass es unter bestimmten Umständen etwas anzeigen könnte, das gar nicht innen ist« (Schütz/Luckmann 2003 [1975]: 609). Die Fremdheit des Anderen ist uns immer auch ein Rätsel, ein ästhetischer Reiz und eine Herausforderung, die jedoch auch in Irritation und Konflikt umschlagen kann. Im Erblicken des und in der Begegnung mit dem Anderen gibt es einen Moment der Fremdheit und der Selbsttranszendenz, mit dem sich besonders Jean Paul Sartre (1993) und Emmanuel Lévinas (1988, 1995) beschäftigt haben.
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In phänomenologisch grundierten Analysen arbeiteten sie den Moment der transzendentalen Fremdheit zwischen Ego und Alter heraus. Durch den Blick des Anderen, der uns von außen trifft, wird der Mensch in seinem eigenen, selbstbezüglichen Bewusstseinsstrom erschüttert. Das ›eigenleibliche Spüren‹ wird unterbrochen. Auf einmal nehmen wir wahr, dass es in der gegebenen Situation nicht mehr nur uns, sondern noch einen Anderen gibt. Dieser Andere macht uns zum Objekt seiner Wahrnehmung (so wie wir ihn reziprok zum Objekt der Wahrnehmung machen) und stellt durch sein Subjekt-Sein unsere leibliche und bewusstseinsmäßige Selbstgegebenheit in Frage. Daraus folgt ein existenzielles Zögern, auf das nun verschiedene Reaktionen folgen können: Es gibt die schon erwähnte Möglichkeit, die spürbare Differenz zwischen Ego und Alter auf sozial erprobte, konventionelle Weise zu überbrücken. Diese Form der Lösung der existentiellen Irritation ist für Sozialität wichtig und unabdingbar. Rituale der Ehrung und der Höflichkeit überbrücken den existentiellen Spalt zwischen Alter und Ego, die prinzipielle Fremdheit, die neben aller Verwandtschaft als Menschen auch existiert (Goffman 1986; Yilmaz 2013). Mit diesen Interaktionsritualen wird dieses Moment der radikalen Fremdheit zwischen Ego und Alter neutralisiert und überbrückt und damit ein reibungsloses Funktionieren sozialer Beziehungen gewährleistet. Doch latent existiert auch die Möglichkeit der Negation, der Ablehnung des Anderen, die sich bis zur Abwertung, Dehumanisierung und Gewaltausübung steigern kann. Diese mögliche Reaktion auf das Moment der Fremdheit zwischen Ego und Alter manifestiert sich z.B. in den Handlungen und in der Ideologie des Fremdenhasses oder auch in Formen sexueller Gewalt von Männern gegen Frauen (Yilmaz 2013). Insbesondere da, wo die Reziprozität der Perspektiven nicht mehr umfassend und selbstverständlich gegeben ist, nicht mehr akzeptiert und in der sozialen Situation auch aktiv hergestellt wird, gibt es dieses Risiko einer dehumanisierenden Reaktionsweise. Wo Gemeinsamkeiten des Humanen betont werden, ist Verständigung und Kooperation naheliegender; wo Fremdheit betont oder hergestellt wird, kann es schnell zum Konflikt oder zur Gewalthandlung kommen. Der beschriebene Moment der Erschütterung des Seins, der Spalt der Fremdheit, enthält damit immer eine ethische Herausforderung und Aufforderung; diese Dimension der Begegnung hat Emmanuel Lévinas in seinem Werk ganz besonders beschäftigt. Wir sind aufgefordert, den anderen nicht nur in seiner Ähnlichkeit mit uns zu akzeptieren, sondern auch seine Fremdheit auszuhalten. Diese Herausforderung des Anderen ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische. Die Präsenz des Anderen kann eine sehr machtvolle und eindrückliche Erfahrung sein, die sinnlich befriedigend und herausfordernd zugleich ist. Die Präsenzerfahrung zeichnet sich aus durch einen Riss in der Selbstverständlichkeit und in den Routinen der alltäglichen Lebenswelt. Erst dieser Riss ermöglicht es, den Anderen als Anderen wahrzunehmen. In diesem Moment lösen sich Subjekt- und Objekt-
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status auf und beginnen zu oszillieren. Diese besondere Wahrnehmung findet nicht im Modus des »wiedererkennenden Sehens« statt, sondern im Modus des »sehenden Sehens« (Imdahl 1996), das Bekanntes überschreitet und Neues wahrnimmt. Dieses Sehen birgt einige Risiken, und es benötigt eine Öffnung der Wahrnehmung und eine soziale Rahmung als außeralltägliches Geschehen, um stattfinden zu können. Das Phänomen Präsenz enthält das Risiko, sich zu zeigen, und behält doch etwas zurück, das nicht ganz aufgelöst wird. Ebenso enthält das Phänomen der Präsenzerfahrung das Risiko einer Erschütterung der Wahrnehmung auf der Seite der Betrachter*innen. Die Selbsttranszendenz im Moment der Kopräsenz, das Oszillieren zwischen Ego und Alter, oder zwischen Künstler und Publikum, kann eine bewegende sinnliche Erfahrung sein, die als eine leibliche (nicht notwendig auch körperliche!) Verbindung, als eine Art »Einleibung« (Schmitz 2011) betrachtet werden kann. Im Feld der Kunst, das dem Außeralltäglichen zugeordnet ist, darf dieser Moment stattfinden, dort ist er sogar erwünscht: dieses Oszillieren macht eine kollektive Kreation möglich und damit schafft es ein unverwechselbares und intensives ästhetisches Ereignis. Auch im Feld der Liebe und Sexualität darf dieser Moment der Selbsttranszendenz stattfinden. Auch wenn er hier ersehnt wird: Er hat etwas Unverfügbares und stellt sich nicht immer ein. Präsenz ist ein leibliches Phänomen, das Aspekte der Ästhetik und Aisthetik – der Formlehre, der Sinneslehre und der Wahrnehmung – enthält. Es erfordert geschärfte Sinne sowie eine besonders fokussierte Aufmerksamkeit auf beiden Seiten, auf Seiten des Wahrnehmenden wie auf Seiten des Wahrgenommenen. Ist dies gegeben, so findet auf beiden Seiten eine Selbsttranzendenz (Bosch 2012) statt; die körperlich erzeugte und leiblich gespürte emotionale Energie zwischen Ego und Alter (Collins 2005) oszilliert. Es handelt sich um ein Phänomen, das mit einer rein konstruktivistischen Theorie nicht erfasst werden kann, da es nur unter Einbeziehung der Materialität und des Geschehens im Raum zwischen Beobachter und Wahrgenommenen erklärt werden kann. Dieser Moment ist intensiv, und er kann als außeralltägliches Ereignis, im Ritual, in der Kunsterfahrung oder auch in ästhetischen Momenten des Alltags sich ereignen, wenn die Wahrnehmungsform ins »sehende Sehen« kippt. Dieser Moment formt das Kunstwerk im Schaffensprozess, er formt die ästhetische Erfahrung des Kunstbetrachters oder auch die intensive menschliche Begegnung in der Lebenswelt – und hinterlässt nachhaltige Spuren in der Erinnerung.
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Präsenz des Fremden R eading O ther - wise . E in E nt wurf zum U mgang mit den P r äsenzen des F remden in der L iter atur Florian Tatschner Bereits vor mehr als zehn Jahren stellte Shelley Fisher Fishkin (2005: 22) die paradigmatische Frage, wie das Feld der Amerikanistik aussähe, wenn das Transnationale das Zentrum der Disziplin einnähme. Seither haben sich viele Amerikanist*innen dem sogenannten ›transnational turn‹ angeschlossen und versucht, das bislang weitestgehend leitende Paradigma des Nationalstaats dahinzugeben. Damit treten anstelle eines reduktiv-statischen, mono-kulturellen Verständnisses von ›Amerika‹ nun vermehrt dynamisch-komparatistische, relationale Konzepte, die dem multikulturellen und multilingualen Charakter der Amerikas gerecht werden sollen und dem Vorwurf der Engstirnigkeit kritisch entgegentreten (Rowe 2000: 2). Die transnationalen Amerikastudien legen den Fokus daher auf Migration, Grenzüberschreitungen sowie kulturelle und materielle Strömungen aller Art und verorten die USA in breiteren hemisphärischen und globalen Zusammenhängen. Für viele Amerikanist*innen stellt der Paradigmenwechsel zum Transnationalen eine Chance dar, die Thematik des Fremden neu zu verhandeln. Mae Ngai (2005: 60) beispielsweise schreibt, dass der Fokus auf transnationale Verhältnisse samt der Betonung auf Austausch und Multilokalität das Potenzial in sich birgt, die Figur des Fremden nicht mehr als bloßes Repräsentationskonstrukt zu verstehen, sondern vielmehr als sozialen Akteur. Dies setzt jedoch eine Form des Denkens voraus, das sich jenseits des Konstruktivismus, der die Amerikastudien weitestgehend dominiert, bewegt; eine Form des Denkens also, die sich irreduziblen Präsenzen des Fremden gewahr ist, welche diskursiver Fixierung widerstehen und nie zu einem Alteritätskonstrukt aufgelöst werden können. So verstanden birgt das Transnationale nicht nur eine Chance, sondern auch eine grundlegende Herausforderung. Diese Herausforderung wird unter der Prämisse angenommen, dass die Entgrenzung des paradigmatischen Rahmens der Amerikastudien mit einer Ent-
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grenzung des zugrundeliegenden epistemologischen Rahmens einhergehen muss. Es genügt nicht, den bestehenden Forschungshorizont lediglich auf der Objektebene mit Analysebeispielen anzureichern, die das Paradigma des Nationalstaats unterlaufen. Vielmehr gilt es, durch das Eingehen auf subalternalisierte Wissensformen die objektivierende Forschungslogik selbst auf ihre Komplizenschaft mit dem fremdheitstilgenden Ordnungsparadigma des epistemologischen Exzeptionalismus aufmerksam zu machen. Auf bauend auf Walter Mignolos (2012) dekolonialer Kritik des westlichen Denkens, die als theoretisches Interface fungiert, wird sich der Herausforderung Phänomene des Fremden nicht bloß als diskursive Rahmungen zu erachten in fünf Bereichen genähert: Transnationalismus, Fremdheit, Präsenz, Ästhetik und Literatur. Mithilfe der Phänomenologie Bernhard Waldenfels’ (1997) wird das Fremde zunächst als untilgbares Phänomen radikaler Fremdheit beschrieben, das nicht innerhalb des Subjekt-Objekt-Paradigmas begriffen werden kann und die Grenzen der Diskursivierung immer schon (von innen her) übersteigt. Dabei ergeben sich zwei Fragen, die sich als untrennbar miteinander verbunden erweisen werden: Wie wird diese Form radikaler Fremdheit möglich und wie wird sie wahrnehmbar? Im Folgenden wird deshalb eine präliminäre Antwort skizziert, die beide Fragen gleichermaßen in den Blick nimmt. Bezugnehmend auf Julia Kristeva (1990) wird zunächst argumentiert, dass die Präsenzen des Fremden sinnliche Formen der Wahrnehmung adressieren und nicht ein rationales Bewusstsein alleine. Um vergessene oder verdrängte Modi der Wahrnehmung zurückzuerlangen, wird in diesem Zusammenhang Gayatri Spivaks (2012) Konzept der kreativen Sabotage des westlichen Verständnisses von Ästhetik aufgegriffen, um an ihr Potenzial als Aísthēsis zu erinnern. Der letzte Schritt verhandelt Jean-François Lyotards (2011) Konzept der Figuralität im Verhältnis zu Diskursivität und zeigt schließlich exemplarisch, wie sich die beschriebene epistemologische Entgrenzung auf einen transnationalen Zugang zu literarischen Werken auswirkt sowie potenziell einen Lesemodus hervorbringt, der als reading other-wise bezeichnet werden kann und nicht notwendigerweise auf das Feld der Amerikastudien beschränkt bleiben muss.
Entgrenzung des Transnationalismus Zunächst bedarf es einer disziplinären Einordnung der vorgebrachten Thesen. Wenn man die Kritik transnationaler Ansätze in den Amerikastudien betrachtet, erweist sich eine Entgrenzung des epistemologischen Rahmens als besonders angebracht. Es wird grundsätzlich in Frage gestellt, ob das Paradigma tatsächlich nichtreduktiv mit dem Fremden verfahren kann oder ob mit dem Paradigma bloß alte Probleme in neuem Gewand auftreten. Winfried Fluck (2011: 144) hat beispielsweise wiederholt darauf hingewiesen, dass ein »ästhetischer Transnationalismus« oft dafür missbraucht wird, die aus dem
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Kulturkontakt herrührende kulturelle Vielfalt der USA als »Romanze eines interkulturellen Raumes jenseits des Nationalstaats« (2007: 26) zu zelebrieren anstatt deren Zusammenhänge kritisch zu hinterfragen.1 Fluck zufolge bleibt dadurch die hegemoniale und autoritäre Position der Vereinigten Staaten bestehen, denn obwohl man sich nunmehr als Teil eines weltweiten Netzwerks des Kulturaustauschs versteht, bleiben die USA dennoch in dessen Zentrum. Dieser Ansatz läuft Gefahr, die problematische Version des Transnationalismus zu reproduzieren, die Randolph Bourne mit seinem Aufsatz »Trans-National America« und der darin beschworenen Rolle der Vereinigten Staaten als kosmopolitisches Leitbild bereits 1916 (2006) zu etablieren suchte. Dies jedoch hat nichts mit Kulturwissenschaft zu tun. Aus dieser Perspektive scheint der gegenwärtige Transnationalismus eine exzeptionalistische Logik zu perpetuieren, die konträr zum eigentlichen Impetus des Paradigmas verläuft. Laut Bryce Traister (2012: 152) resultiert paradoxerweise gerade das Verlangen nach Loslösung vom Exzeptionalismus in dessen ständiger Wiederholung. Er argumentiert, dass die Vorstellung einer schwachen Nation nicht nur den Kern der transnationalen Amerikastudien ausmacht, sondern bereits seit dem frühen 18. bis ins 19. Jahrhundert hinein den Drang nach demokratischer Freiheit in den USA bedingt, der letztlich das Markenzeichen des amerikanischen Exzeptionalismus werden sollte. Aus Traisters Sicht bleibt der Transnationalismus damit Idealen der Puritaner und der Frühen Republik verhaftet. Er schreibt, dass »ein Großteil der ›post-amerikanischen‹ Kritik wissentlich oder unwissentlich die Narrative über Amerika neu affirmiert, die ansonsten als nationalistische Ideologie und politisches Delirium abgewiesen wurden« und bezeichnet daher den Transnationalismus als »den neuesten kritischen Messias«, der das Fach »sicher in die ›Zukunft der Amerikastudien‹ und damit in eine Zeit frei von der Erbsünde des Exzeptionalismus bringen wird« (Bryce Traister 2012: 152). Ähnlich wie Fluck stellt Traister fest, dass das transnationale Paradigma unter Umständen lediglich eine weitere exzeptionalistische Fantasie darstellt, die dazu dient, die (akademische) Hegemonialstellung der USA zu untermauern, anstatt die Gründungsmythen des ›Gelobten Landes‹ zu unterminieren. Ein weiterer Strang dieser Kritik sieht die Ausweitung der Analyseobjekte durch transnationale Ansätze als Anzeichen wissenschaftlicher Megalomanie. Der Transnationalismus, so Helmbrecht Breinig in einer Diskussionsrunde mit Klaus Benesch, »erhöht das Risiko, das Ausmaß der eigenen wissenschaftlichen Kompetenz zu überschätzen« (Benesch et al. 2012: 620). Joel Pfister (2008: 17) hält das transnationale »kritische Weltenbummeln für zu kursorisch und seine Touren für zu exotisch«, weswegen die Ergebnisse dieser 1 | Soweit nicht anders vermerkt, stammen im Folgenden alle Übersetzungen vom Autor.
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breiteren Perspektive die Gefahr der Oberflächlichkeit beinhalten. Im ungünstigsten Fall bringt die Annahme, dass die Komplexität fremder Kulturen einfach zugänglich sei, eine »enzyklopädische disziplinäre Ausweitung« (Traister 2010: 16) hervor, die einen an das Projekt der Aufklärung erinnernden epistemologischen Überlegenheitskomplex entlarvt. Wenn transnationale Ansätze aus einer Haltung wissenschaftlicher Überschätzung bezüglich der eigenen Möglichkeit des Überschreitens soziokultureller und raumzeitlicher Grenzen geschieht, dann muten diese äußerst anmaßend an. Einige Kritiker*innen merken an, dass diese wissenschaftliche Arroganz schlimmstenfalls Formen des Kolonialismus und Imperialismus auf der epistemologischen Ebene reproduziert. Sie sehen den Transnationalismus als eine verschleierte Form des amerikanischen ›Manifest Destiny‹ und eine Ausweitung der Monroe-Doktrin. Damit bleibt das Paradigma einer Logik des Kalten Krieges verhaftet, die damit eigentlich überwunden werden sollte (Heinze 2013: 258; Kaltmeier 2013: 3; Wiegman 2009: 580). Damit stelle der ›transnational turn‹ weniger eine Gadamer’sche Horizontverschmelzung (2010: 311) dar als vielmehr eine gewaltsame Horizontzersetzung im Verdauungstrakt militanter westlicher Epistemologie. In weniger organischer Metaphorik spricht Donatella Izzo von einer »Technologie der Transnationalisierung, welche die Übersetzung des neuen Horizonts der Weltwirtschaft in den Rahmen der Kultur und die Übertragung alter nationalistischer Versionen amerikanischer Identität auf eine globale Bühne zur Folge hat« (2009: 595; Hervorheb. i. O.). So gesehen erreicht der Transnationalismus sein Ziel des Affirmierens vormals marginalisierter Perspektiven nur durch deren Unterwerfung unter seine eigenen Kategorien, welche die Prozesse neoliberaler Globalisierung widerspiegeln. Dergestalt erweist sich der transnationale Blickwinkel als nichts anderes als eine Projektion der »engstirnigen Kurzsichtigkeit« (Fishkin 2015: 8) und einer kruden epistemologischen Kirchturmpolitik, derer sich die Amerikastudien dadurch eigentlich zu entledigen suchten. Insgesamt implizieren diese Formen der Kritik, dass das Transnationale unter Umständen lediglich ein salonfähiges Label darstellt, das eine problematischere und tiefer sitzende westliche Haltung verschleiert. Walter Mignolo (2012: 23; Hervorheb. i. O.) schreibt, dass »seit dem Projekt des Orbis Universalis Christianum, über die Standards der Zivilisation an der Kehre des 20. Jahrhunderts, bis hin zu den gegenwärtigen Formen der Globalisierung (globaler Markt), globale Entwürfe das hegemoniale Projekt zur Verwaltung des Planeten darstellten«. Damit wäre das transnationale Paradigma Teil dessen, was Mignolo (2012: 12) als das »moderne/koloniale Weltsystem« bezeichnet. Unter dem Vorwand des Eingehens auf marginalisierte Stimmen würde Fremdheit damit schlicht in ein systemisches Raster eingepasst. Diese Sorgen sind sicherlich berechtigt und müssen berücksichtigt werden. Sie scheinen gar genug, um den Transnationalismus vollends dahinzugeben. Dies jedoch würde zu-
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gleich eine Vielzahl wichtiger Studien verwerfen, die das Paradigma in den letzten zehn Jahren hervorgebracht hat. Anstatt diese Bedenken als Grund für die Ablehnung transnationaler Ansätze zu verwenden wird daher vorgeschlagen, auf diese Arbeiten aufzubauen und das Paradigma noch radikaler zu denken. Der erste Schritt ist das Überbordwerfen eines (unterschwelligen) wissenschaftlichen Exzeptionalismus. Das Denken Mignolos kann hierbei behilflich sein. Es enthält nicht nur eine grundlegende Kritik der westlich dominierten epistemologischen Konfiguration der Amerikanistik, sondern bietet gleichsam dessen Re-Kalibrierung, was seine Konzepte als nützlichen Knotenpunkt für die weitere Verhandlung der untereinander verschalteten Parameter dieses Essays ausweist. Mignolo (2012: 19) führt die Idee einer »Grenzgnosis oder eines Grenzdenkens« ein, um ein »Loslösen von hegemonialer Epistemologie« (2012: xvii) zu erreichen. Konkreter ausgedrückt bezeichnen diese Termini ein »Denken von dichotomen Konzepten her anstatt die Welt in Dichotomien zu ordnen« (Mignolo 2012: 85; Hervorheb. i. O.); ein Denken also, das sich kategorialen Einordnungen versperrt und bestehende Hierarchien zwischen verschiedenen Wissensformen ablehnt. Die Grenzgnosis transportiert damit die Dynamik transnationaler Konzepte in den Prozess der Konzeptualisierung selbst. Sowohl Mignolos (2012: xvi) resolutes Beharren auf einem »epistemologischen, disziplinären Ungehorsam« als auch sein Aufruf zur Kritik eurozentrischer, epistemologischer Hegemonie dient dazu, auf oft subalternisierte Formen des Wissens aufmerksam zu machen. Damit unterstützt sein Denken die eingangs aufgestellte These bezüglich der Entgrenzung des epistemologischen Rahmens der Amerikanistik: Die Transformation der Figur des Fremden bedarf eines reading other-wise.
Neuverhandlung von Fremdheit Obwohl Bernhard Waldenfels mit seinen Studien zur Phänomenologie des Fremden wertvolle Einsichten zu einer solchen Entgrenzung und Transformation zur Verfügung stellt, wurde seine Arbeit in den transnationalen Amerikastudien bisher weitestgehend außer Acht gelassen. Die leitende Frage seiner philosophischen Studien könnte jedoch ebenso gut – wie der vorliegende Text in gewisser Weise illustriert – den Ausgangspunkt transnationaler Studien bilden: »Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren?« (Waldenfels 2006: 9). Ein kurzer Überblick über Waldenfels’ Terminologie und Konzepte ist notwendig, bevor auf die Implikationen dieser Frage weiter eingegangen werden kann. In seiner Topographie des Fremden unterscheidet er zwischen verschiedenen, sich jedoch überschneidenden Formen des Fremden, und zwar zwischen normaler, struktureller und radikaler Fremdheit. Fremdheit gilt als normal,
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wenn sie innerhalb der Grenzen einer gegebenen Ordnung verbleibt, wie beispielsweise die Begegnung mit Nachbar*innen. Im Unterschied dazu bezeichnet strukturelle Fremdheit eine andere (kulturelle) Ordnung, wie sie sich etwa in einer Fremdsprache oder einem anderen Kalendersystem zeigt. Radikale Fremdheit verweist letztlich auf eine irreduzible Form des Fremden, welche in Begrenzungen systemischer Ordnungen nicht eingegrenzt werden kann, aber dennoch Auswirkungen innerhalb solcher Grenzen hat (Waldenfels 1997: 35ff.). Dergestalt ist radikale Fremdheit nicht zu verwechseln mit einer Vorstellung des absolut Anderen im Sinne Emmanuel Levinas’. Sie umschreibt vielmehr eine Form des Exzesses, der immer an die Ordnung gebunden bleibt, die er übersteigt. So gesehen bezeichnet radikale Fremdheit eine (außer-)ordentliche Verbindung, die fixen Unterscheidungen zwischen innen und außen sowie Kennzeichnungen als statisch-substanzielle Präsenz widersteht, ohne jedoch diese vollends zu verabschieden. Stattdessen eröffnet diese Form des Fremden eine paradoxe Logik eines uneingrenzbaren Jenseits einer Ordnung, das immer schon in deren Diesseits verweilt. Wenn Waldenfels (2006: 15) daher radikale Fremdheit als »Grenzphänomen par excellence« beschreibt, dann bestätigt er damit implizit Mignolos (2012: 327) Aufruf zu einer »Art des Denkens in und von den Grenzen«, das systemische Grenzen übersteigt, »aus seinen disziplinären Definitionen überläuft« (Mignolo 2012: 244) und sich so eine Offenheit für das (Außer-)Ordentliche bewahrt. Mithilfe der Logik des Pathos und der Response entwickelt Waldenfels selbst eine entgrenzende Form des (Grenz-)Denkens. Er umreißt damit einen spezifischen Modus des Verhaltens gegenüber dem Fremden, welches das Fremde nicht immer schon in bestehende Kategorien einordnet und erklärt dies wie folgt: »Pathos bedeutet, dass wir von etwas getroffen sind, und zwar derart, daß dieses Wovon weder in einem vorgängigen Was fundiert, noch in einem nachträglich erzielten Wozu aufgehoben ist« (Waldenfels 2006: 43; Hervorheb. i. O.). Radikale Fremdheit kann also nicht durch enzyklopädische Anstrengung entdeckt werden, die versucht, marginalisierte Stimmen zu akquirieren; denn eine solche Herangehensweise beraubt das Fremde seines Stachels, und damit seiner Fremdheit selbst, und ersetzt es durch vorurteilende Projektionen und vereinnahmende Alteritätskonstruktionen. Durch die Logik des Pathos und der Response entfaltet Waldenfels (1997: 123) eine Verkehrung dieser Mechanismen und argumentiert, dass Begegnungen mit einer radikalen Fremdheit, die systemische Grenzen übersteigt, sich immer unerwartet ereignen. Sie stellen so in gewisser Weise verstohlene Einfälle dar, die überraschen und vereinnahmenden Anstrengungen zuvorkommen. Es gilt also, sich auf das affektive Pathos dieser Form des Fremden einzulassen und entsprechend zu antworten: »Dem Anspruch, der sich fordernd an mich richtet, entspricht ein Antworten (response), das auf Angebote und Ansprüche des Anderen eingeht und nicht bloß Wissens- und Handlungslücken füllt« (Waldenfels 2006: 60; Hervorheb. i.
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O.). Eine epistemologische Entgrenzung, die potenziell die Transformation der Rolle des Fremden enthält, kann also nicht einfach aktiv erreicht werden, sondern erweist sich als etwas, das geschieht, wenn eine demütige (responsive) Haltung angesichts des Pathos der Fremdheit eingenommen wird. Die bisherigen Ausführungen unterstreichen, dass eine derartige Konzeptualisierung des Fremden einer Modifikation etablierter Methoden bezüglich des Umgangs mit dem Fremden in der amerikanistischen Kultur- und Literaturwissenschaft bedarf. Der Fokus dieser Felder liegt fast ausschließlich auf Fragen der Repräsentation beziehungsweise auf Prozessen des ›othering‹ und deren ideologische Implikationen. Sten Moslund (2011: 187) erklärt, dass »sobald wir etwas repräsentieren, wir dessen Identität fixieren und es durch das Zugrückgreifen auf die Konformität dominanter Codes und Kategorien determinieren«. Der mit Sicherheit wichtige Zweck der Konzentration auf diese diskursiven Fixierungen ist die Kritik reduktiver und hierarchisierender Binaritäten des ›uns‹ gegen ›sie‹, die allzu oft Repräsentationen bedingen und so in problematische Dämonisierungen, Inferiorisierungen und Infantilisierungen münden. Wie Fluck (2002: 84) allerdings hervorgehoben hat, »hat auch das Konzept der Repräsentation eine normative Basis«, die, in ihrer Exklusivität, andere Möglichkeiten mit dem Fremden umzugehen, verschließt. Wenn Repräsentation die Fixierung in einer quasi-statischen Ordnung des hegemonialen Diskurses meint, dann koinzidiert die vollkommene Beschränkung der ideologischen Kritik der Amerikastudien (und anderer Disziplinen) auf das Repräsentationsparadigma mit derselben systemischen Logik, die Fremdheit (nur) als diskursives Alteritätskonstrukt betrachtet. Dieser Zugang würde demnach das Fremde am Fremden leugnen oder tilgen und liefe somit Gefahr, dieselbe epistemologische Gewalt auszuüben, die dieser zu kritisieren versucht. Und dennoch fordert das Inbetrachtziehen radikaler Fremdheit nicht die Anschaffung des Konzepts der Repräsentation. Waldenfels (1999: 149; Hervorheb. i. O.) insistiert, »[d]as Fremde ist mehr und anderes als das, was sich ›repräsentieren‹ läßt« und betont damit, dass sich Fremdheit einer vollen Aneignung innerhalb diskursiver Ordnungen versperrt. Das Fremde ist niemals ordentlich in diesem Sinne und lässt sich nicht in soziokulturellen Konstrukten auflösen. Dies meint jedoch nicht, dass das Fremde jemals vollkommen losgelöst von Diskursen operiert, wie Waldenfels (1999: 149; Hervorheb. i. O.) umgehend hinzufügt: »[D]och ist es, was es ist, nicht ohne all dies«. Zusammengenommen ergeben diese Erklärungen nichts anderes als eine Reformulierung der Relation des (Außer-)Ordentlichen. Laut Waldenfels kann die Transformation der Figur des Fremden nur mit der Bereitschaft beginnen, sich auf diese Spannung einzulassen. Mit anderen Worten, anstatt in konstruktivistischen Absoluten zu verweilen, erfordert die Entgrenzung der Amerikastudien das Dahingeben der Exklusivität der Repräsentation zugunsten eines
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demütigen Eingeständnisses, welches anerkennt, dass innerhalb systemischer Abgeschlossenheit immer schon etwas verweilt, das sich derselben entzieht.
Wiederer wägung der Präsenz An dieser Stelle ist es hilfreich, die Frage bezüglich des Fremden im Transnationalismus an einen weiteren, aktuell breit diskutierten Diskurs in den Geistes- und Sozialwissenschaften anzuknüpfen, um das Ausmaß der vorgestellten epistemologischen Modifikation zu explizieren. Zur selben Zeit als Fisher Fishkin zum Transnationalismus in der Amerikanistik aufrief, lieferte Hans Ulrich Gumbrecht einen nicht weniger programmatischen Vorschlag: Er forderte eine Rückkehr zum Begriff der Präsenz. Für ihn und einige andere ist diese Forderung an eine lamentierende Haltung gegenüber den vorherrschenden Methodologien der Kultur- und Literaturwissenschaften gekoppelt, die in einer Passage aus Jean-Luc Nancys (1993: 6) The Birth to Presence zum Ausdruck gelangt: »Man gelangt an einen Punkt, an dem man nichts weiter fühlt als Ärger, einen absoluten Ärger gegenüber der Vielzahl von Diskursen und Texten, die keinen weiteren Zweck haben, als ein bisschen mehr Sinn zu machen, um filigrane Arbeiten der Signifikation nochmals zu überarbeiten oder zu perfektionieren«. Anstatt sich solcher Arbeit weiter hinzugeben, versuchen Gumbrecht und weitere Denker der Präsenz – scheinbar ähnlich wie Waldenfels –, die Relevanz von Materialität und Ereignishaftigkeit neu zu betonen, und zwar um das in Betracht ziehen zu können, was mit den Regeln diskursiver Repräsentation niemals vollends gefasst werden kann. Ziel dieser Betonung ist die Entwicklung von Wahrnehmungsmodi, die andere – oder fremde – Einsichten in kulturelle Phänomene ermöglichen. Daher eignen sich diese Bemühungen auch zu einer weiteren Konturierung des vorliegenden Arguments. Bevor jedoch ein spezifisches Verständnis von Präsenz entwickelt und dieses in die Entgrenzung des ›transnational turn‹ integriert werden kann, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf den Diskurs zu werfen, der diesen Terminus derzeit bedingt. Da Gumbrecht einer der führenden Protagonisten dieser Diskussion ist, wird seine Arbeit hierbei als Sprungbrett fungieren. Sein Konzept der Präsenz ist an eine Kritik des Vermächtnisses der Aufklärung geknüpft und fußt auf einer Zurückweisung der Cartesianischen Subjekt/Objekt-Dichotomie. Gumbrecht (2004: 40f.) argumentiert, dass dieses binäre Paradigma die Klimax eines epistemologischen Prozesses im westlichen Denken bildet, der während der Renaissance begann und schließlich eine metaphysische Konzeptualisierung der Dinge als den einzig vernünftigen Modus der Beschäftigung mit Phänomenen aller Art etablierte. Dem zustimmend trug diese Konfiguration laut Mignolo (2012: 60; Hervorheb. i. O.) maßgeblich zur Konsolidierung des modernen/kolonialen Weltsystems bei: »sobald eine Korrelation
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zwischen Subjekt und Objekt postuliert war, wurde es undenkbar anzunehmen, dass es ein wissendes Subjekt geben könnte, das sich jenseits des Wissenssubjekts, welches durch das Konzept der Rationalität, das wiederum durch moderne Epistemologie eingeführt wurde, bewegt«. Gumbrecht (2004: 38) fügt hinzu, dass diese hierarchische Korrelation sich konkret im Aufstieg der Hermeneutik und der nunmehr »in den Geisteswissenschaften institutionell unstrittige[n] Zentralstellung der Interpretation« als die exklusiv gültigen analytischen Praxen manifestierte. Gumbrecht versucht daher, ein primär räumliches Verhältnis zu den Dingen zu entwickeln, um auf das, was Bedeutung nicht transportieren kann, eingehen zu können. Für ihn weist Präsenz immer schon auf eine verkörperte Form der Weltreferenz jenseits der Fänge der Interpretation hin, welche in »Bedingungen ›extremer Zeitlichkeit‹« (Gumbrecht 2004: 58) intensive, vor-reflexive Begegnungen ermöglicht und die »jedoch ausschließlich an die Sinne« (Gumbrecht 2004: 12) gerichtet sind. Anders ausgedrückt zielen Gumbrechts Bemühungen – und die emphatische Betonung der Präsenz generell – auf eine Rehabilitation von Wahrnehmungsmodalitäten jenseits rationaler (Re-)Kognition und der Attribution von Bedeutung, die das westliche Denken weitestgehend eingebüßt hat. Aufgrund dieser Kritik am Cartesianismus und dem Fokus auf das, was die Grenzen der Repräsentation überschreitet, erweist sich Gumbrechts Arbeit scheinbar als gänzlich kompatibel mit der umrissenen epistemologischen Entgrenzung. Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings, dass eine kritische Abgrenzung von seiner Konzeptualisierung und eine weitere Ausarbeitung des Begriffs notwendig ist, ehe Präsenz für eine Neuverhandlung des Fremden im Kontext des Transnationalen erwogen werden kann. Da das Problem bezüglich Gumbrechts Verständnis des Präsenzbegriffs hauptsächlich in seiner Haltung gegenüber Fragen der Bedeutung liegt, kann diese Abgrenzung und Ausarbeitung in einem Zuge erfolgen. Seine Konzeptualisierung basiert auf der Annahme, dass Semiotik immer schon einen metaphysischen Charakter hat. Daher versteht er Präsenz als vollends antithetisch zu Bedeutung. Wie Christoph Ernst und Heike Paul (2013: 12) gezeigt haben, resultiert eine derartige Logik des gegenseitigen Ausschlusses in einer unproduktiven Frontstellung zwischen vermeintlich asemiotischer Präsenz und semiotischer Bedeutung. Darüber hinaus offenbart diese Logik jedoch, dass Gumbrecht genau dem Cartesianismus verschuldet bleibt, den er versucht zu umgehen, denn mit dieser Opposition verkehrt er ein Hegelianisches Verständnis reiner Präsenz als Idee in das einer puren Präsenz räumlicher Manifestation. Dadurch bleibt der zugrundeliegende Binarismus unberührt. Sein Versuch der Validierung purer Präsenz funktioniert nur, wenn er gegen einen engen Begriff der Semiotik gestellt wird. Gumbrecht verkennt, dass die eigentliche epistemologische Herausforderung, welche das Erwägen einer Form der Präsenz beherbergt, darin besteht, die Bedeutung von Bedeutung nicht als
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bloß metaphysisch zu verstehen (Hajduk 2012: 143f.). Mit anderen Worten erfordert das Unterminieren der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Bedeutung und Präsenz nicht als diametral entgegengesetzt, sondern als untrennbar miteinander verwoben zu verstehen. Ein solches Umdenken bedarf allerdings einer bestimmten Art des kritischen Denkens, und zwar die des (feministischen) poststrukturalistischen, zu welchem Gumbrecht nicht bereit ist. Er bezichtigt dieses bedeutungsfokussierte Denken der Verdrängung von präsenzbasierten Weltzugangsweisen und der Interpretation. Was er jedoch nicht bedenkt, ist, dass sich beispielsweise Derridas Dekonstruktion, besonders im Kontext von Literatur, nicht nur auf eine Kritik von statischen Formen der Signifikation beschränkt, sondern auf eine »Erfahrung des Seins …am Rande der Metaphysik« (Derrida/Attridge 1992: 47) hindeutet, die sich als Folge dieser Kritik eröffnet. Derridas Kritik der Präsenz ist auf eine Vorstellung gerichtet, die meint, etwas in Hegelianischer Weise als eine Art reiner Präsenz begreifen zu können. Der endlose Aufschub der Différance verweigert sich dieser, aber er schließt nicht die Möglichkeit der Wahrnehmung von Präsenz per se aus. Die Bewegung des Aufschubs weist auf etwas hin, was innerhalb von semiotischen Diskursen nicht gefasst werden kann. Deshalb argumentiert Timothy Clark (2005: 8), dass die oft einseitig als eine »antideterministische« und »akausale Kraft« der Différance »nicht nur Teil einer bloß negativen Behauptung über den Widerstand der Literatur bezüglich Bedeutung« ist, sondern »etwas Positives« aufzeigt, das jenseits des herkömmlichen Verständnisses von Positivität an Derridas Rand der Metaphysik operiert, und zwar (außer-)ordentlich. Aus diesem Blickwinkel muss poststrukturalistisches Denken nicht als Erzfeind von präsenzorientierten Weltzugängen betrachtet werden, wie es Gumbrecht suggeriert. Die kritischen Einsichten dieser Denkart können dabei behilflich sein, einer (unterschwelligen) Rückkehr zum metaphysischen Denken vorzubeugen, indem Präsenz nicht als bloßer Gegensatz zu diesem gedacht wird. Die Einsichten des Poststrukturalismus ermöglichen die Vorstellung einer dynamischen Form des Anwesens, die immer schon reziprok mit Bedeutung einhergeht, anstatt Präsenz als konträr zur Bedeutung zu verstehen und dadurch letztlich den Cartesianischen Dualismus zu reproduzieren. Hierdurch ergibt sich schließlich die Möglichkeit einer produktiven Verbindung zwischen Waldenfels’ radikaler Fremdheit und Präsenz. Indem gezeigt wurde, dass die dekonstruktivistische Unterbrechung der Signifikation sich nicht in einem endlosen Aufschub von Bedeutung erschließt, wird auf ein affirmatives Moment innerhalb eines Diskurses aufmerksam gemacht, der vom Jargon der Negativität dominiert wird. Unter ethischen Gesichtspunkten ist die Beschreibung des Fremden auf diese ausschließlich negative Weise äußerst fragwürdig. Wenn das Fremde innerhalb des westlichen Denkens als negativ, opak oder nicht-präsent betrachtet wird, dann sollte man mit Julia Kriste-
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va (1990: 104) fragen: »Negativ zu was?«. Wenn sich das Fremde als negierend gegenüber dem fixierenden Griff der Signifikation zeigt, dann folgt nicht zwangsläufig, dass es deshalb immer als essenziell negativ begriffen werden muss. Als eine Form des Pathos stellt Fremdheit Forderungen jenseits (und paradoxerweise zugleich diesseits) der Repräsentation. Mithilfe des relationalen Charakters des (Außer-)Ordentlichen kann dieses affirmierende Moment des anwesenden Fremden als weder einer logozentrischen Vorstellung stabiler (semiotischer) Homogenität noch relativistischer Indifferenz anheimfallend gedacht werden. Der oft zu wenig beachtete Aspekt eines dynamischen Anwesens im poststrukturalistischen Denken erweist sich so als eine Art Grenzdenken, das die Blockade zwischen Bedeutung und Präsenz zugunsten einer Möglichkeit des reading other-wise öffnet.
Kreative Sabotage der Ästhetik Das Feld der Ästhetik scheint für die Entwicklung dieser epistemologischen Modifikation zunächst ungeeignet. Als institutionalisierte Form kann Ästhetik als repressive, elitäre und normative philosophische Disziplin bezeichnet werden, welche die Relevanz veralteter Kategorien propagiert, und zwar mit dem Ziel, durch die Beurteilung fetischisierter Objekte die Illusion eines universellen künstlerischen Werts aufrechtzuerhalten (Ickstadt 2002: 264; Claviez 2008: xx). So gesehen stellt die Ästhetik sicherlich keine Modalitäten für das Eingehen auf Fremdes zur Verfügung, die das Vorstellungsvermögen der hegemonialen westlichen Vernunft übersteigen. Das Nachgehen der Frage, warum Mignolo die Ästhetik für einen wesentlichen Aspekt des Grenzdenkens hält, bildet den Ausgangspunkt dafür, die Rolle des Ästhetischen für das Projekt der Entgrenzung des Transnationalismus aufzuzeigen. Mignolos Überzeugung bezüglich der Ästhetik basiert auf einer grundlegenden Distinktion. Er »unterscheidet hier zwischen Ästhetik (als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandene philosophische Disziplin) und Aísthēsis, was die Domäne der Gefühle, das Sensuelle und den Affekt bezeichnet« (Mignolo 2012: xviif.). Grenzdenken bezieht sich auf Letzteres. So verstanden indiziert das Ästhetische einen Modus des Weltzugangs, den das moderne/koloniale Weltsystem vernachlässigt hat. Für Mignolo (2012: xi) beschreibt es eine Form des Wissens, die sich durch »Sinn-Sensibilität« beziehungsweise als Empfindsamkeit für verschiedene Formen sensueller Wahrnehmung auszeichnet. Diese Art der Ästhetik ist damit weit entfernt von dem, was Fluck als »ästhetischen Transnationalismus« kritisiert. Weder feiert Mignolo unkritisch ästhetische Werte, noch betrachtet er das Ästhetische als losgelöst vom Politischen oder von soziokulturellen Fragestellungen. Ästhetik als Aísthēsis fungiert für ihn als Vehikel der Öffnung der westlichen Vernunft von innen her, um eine Re-Emergenz von subalternalisierten Formen des Wissens herbeizu-
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führen. Sein Verständnis der Ästhetik kann also mit Waldenfels (2008: 42) als »Fremdwerden der eigenen Erfahrung«, die einsetzt, wenn sie »nicht durch Rationalisierungen überdeckt wird«, gelesen werden. Laut Mignolo (2012: 187; Hervorheb. i. O.) beinhaltet die Ästhetik eine Möglichkeit, sich eine »andere Form der Rationalität« vorzustellen, die im interstitiellen Raum der im Zuge der Aufklärung errichteten Dichotomie zwischen Geist und Körper aufkeimt. Mit dieser Überzeugung ist Mignolo nicht alleine. In An Aesthetic Education in the Era of Globalization unterstreicht Gayatri Spivak die Wichtigkeit der Ästhetik in transnationalen Kontexten und entwickelt ein theoretisches Manöver, das auch für das vorliegende Argument fruchtbar gemacht werden kann. In einem Interview mit Cathy Caruth spricht Spivak explizit von einer Rückkehr zur Ästhetik als Form einer »epistemologischen Vorbereitung« (Spivak/Caruth 2010: 1024), um andere Formen des Wissens in Betracht ziehen zu können. Sie verwirft die moderne westliche Tradition der Ästhetik nicht einfach, sondern fordert einen nuancierten Umgang damit, um »ein weiteres Vermächtnis der Aufklärung produktiv auseinanderzunehmen« (Spivak 2012: 1), und zwar in Form einer kreativen Sabotage. Spivak (2012: 21) beginnt ihre Sabotage mit einer Lektüre von Friedrich Schillers Konzept des Spieltriebs als einer Dynamik, die nicht, wie bei Schiller, die Fähigkeit, das Schöne schätzen zu wissen sicherstellt, sondern vielmehr »den absoluten Charakter von Garantien hinwegnimmt« und derart als ein Mittel zum Umgang »mit dem Doublebind, also dem Lernen mit widersprüchlichen Vorgaben zu leben« (Spivak 2012: 3) dient. Auch die spielerische Dynamik dieses Doublebind setzt die Systematisierung von Differenzen in hierarchische Binarismen außer Kraft, ohne dadurch in relativistische Indifferenz abzugleiten. Die Sabotage der westlichen ästhetischen Tradition, die durch den Doublebind ihre Wirkung entfaltet, beinhaltet damit ein Denken von anstatt in Dichotomien, das starke Ähnlichkeit zu Mignolos Grenzdenken aufweist. Diese kreative Sabotage manifestiert sich konkret in der Rehabilitierung von Wahrnehmungsmodi, die nie vollends von der westlichen Vernunft verdrängt wurden und immer noch innerhalb ihrer systemischen Grenzen schlummern. Dies zeigt sich bei näherer Betrachtung des Cartesianischen Paradigmas und insbesondere in der Diagnose, dass die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt mit einer Hierarchisierung des Verhältnisses zwischen Rationalität und Sensualität einhergeht. Descartes’ Diktum cogito ergo sum erhebt den Geist und das Bewusstsein über die flüchtigeren sinnlichen Wahrnehmungen des (Rests des) Körpers. Zahlreiche westliche Denker haben dies kritisiert und versucht, der Sensualität denselben epistemologischen Status zuzuschreiben. Erst Adorno (2010: 191) geht in Ästhetische Theorie noch einen entscheidenden Schritt weiter und expliziert damit die Bedeutung der Ästhetik für die Frage nach dem Fremden: »Je dichter die Menschen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründ-
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licher haben sie das Staunen über jenes Andere sich abgewöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen«. Selbiges trifft auch auf die Nutzbarmachung der Ästhetik als lediglich einer weiteren Disziplin im okzidentalen, philosophischen System zu. Mittels des Subjekt/Objekt-Paradigmas ver-drängt das westliche Denken die Ästhetik in einen Rahmen, der die Sensualität dazu verpflichtet, dieselbe distanzierte und objektifizierende Logik wie das Bewusstsein einzunehmen. Allerdings deutet auch Adorno an, dass diese Fixierung niemals vermag, ein gewisses Moment der Fremdheit vollends zu tilgen. Potenziell taucht dieses Moment immer wieder auf, weil die Ästhetik das Cartesianische cogito stets an seine desavouierte, aber nie getrennte Verbindung mit der Körperlichkeit erinnert. Trotz einer Unterwerfung unter das Joch des Bewusstseins exponiert die Sinnlichkeit unentwegt die interne Heterogenität der Vernunft und fordert damit die epistemologische Hegemonie des Geistes heraus. Anders ausgedrückt behält die im philosophischen Keller (oder Dachboden) der westlichen Vernunft versteckte und weggesperrte Ästhetik einen un-heimlichen Einfluss, der angesichts radikaler Fremdheit ein Potenzial für eine Verhaltensweise innerhalb des epistemologischen Horizonts freilegt, welcher eben dieses Potenzial auszulöschen versucht. Mit dem Insistieren auf den Doublebind zwischen Körper und Geist transformiert die kreative Sabotage der Ästhetik die Subjekt/Objekt-Trennung in ein Grenzphänomen und verkehrt das Fundament des Cartesianismus in einen subversiven Faktor. Kristeva (1990: 203f.; Hervorheb. i. O.) schreibt, dass diese aporetische Bewegung »uns das Gefühl vermitteln [kann], daß uns die Verbindung zu unseren eigenen Empfindungen fehlt«, oder ein Fremdwerden der Erfahrung stimulieren kann, das eine »Öffnung zum Neuen« beinhaltet, und zwar hinsichtlich des Pathos einer Fremdheit im Inneren, die affiziert, indem sie die einseitige Subsumierung unter die Objektiizierung überschreitet. Kreativ sabotierte Ästhetik stellt einen responsiven Modus für die Begegnung mit dem radikal Fremden dar. Diese Sabotage des Aufklärungsvermächtnisses besteht also nicht in einer Rehabilitation oder im Zelebrieren von (irrationaler) Sensualität gegenüber Rationalität. Dies würde lediglich eine unterschwellige Bindung an die hegemoniale Vernunft bedeuten, wie bereits bezüglich Gumbrechts Wiedereinsetzung der Präsenz argumentiert wurde, und hätte eine Wiedereinführung eines systemischen Binarismus auf anderer Ebene sowie das Affirmieren der Garantien stabil-geschlossener Ordnungen zur Folge. Stattdessen vollzieht sich diese Sabotage in der Selbst-Öffnung rationaler Systematizität von innen her als eine un-freiwillige Wieder-Einladung untilgbarer Sinnlichkeit im epistemologischen Horizont. Durch dieses Aufschließen von Sinn-Sensibilität für das affektive Anwesen des Fremden beginnt man zu verstehen, was Kristeva (1990: 203) meint, wenn sie sinniert: »Sie ist in der Tat seltsam, die Begegnung mit dem anderen – den wir durch den Blick, das Gehör, den Geruchssinn wahrnehmen, aber nicht bewußt ›erfassen‹«. Kreativ
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sabotierte Ästhetik ermöglicht somit ein dynamisches reading other-wise aus der westlichen Tradition heraus.
Durch-Sehen der Literatur Es stellt sich die Frage, wie diese abstrakten Gedanken in den praktischen Kontext literarischer Analyse inkorporiert werden können beziehungsweise wie kreative Sabotage so integriert werden kann, dass sie die Wahrnehmung des anwesenden Fremden in literarischen Werken erlaubt. Im Vorwort zur englischen Version ihres The World Republic of Letters bietet Pascale Casanova einen entscheidenden Hinweis. Sie schreibt, dass es nicht genug sei, in einer verstärkt transnationalen Situation, in welcher der kritische Anspruch des Fremden immer mehr an Relevanz gewinnt, den Korpus zu analysierender Werke geographisch auszuweiten oder ökonomische Theorien der Globalisierung im literarischen Universum zu verorten – noch weniger genüge, eine unmöglich vollständige Aufzählung der ganzen Welt literarischer Produktion bieten zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, unsere herkömmlichen Betrachtungsweisen literarischer Phänomene zu verändern. (Pascale Casanova 2004: xi; Hervorheb. FT)
Obwohl Casanova selbst ihren offenbar vollkommen metaphorischen Hinweis auf die Betrachtung des Sinnlichen übersieht und in eine andere Richtung weiterarbeitet, kann ihre Behauptung dennoch als ein Aufruf zu einer entschieden ästhetischen Annäherung an die Literatur gelesen werden. In einem Frühwerk von 1971 schlägt Lyotard genau das vor. Er versucht darin zu zeigen, dass literarische Texte »eine inhärente Dicke oder besser eine Differenz besitzen, die nicht gelesen, sondern gesehen werden muss« (Lyotard 2011: 3) und erklärt dies wie folgt: Der Diskurs ist immer dick. Er bedeutet nicht nur, sondern drückt aus. Und wenn er ausdrückt, dann deshalb, weil in ihm etwas gefangen ist, das genug Bewegung und Macht besitzt, die Tafel der Signifikation mit einem Beben über den Haufen zu werfen, was erst Bedeutung erzeugt. Der Diskurs öffnet sich so gewissermaßen einem Streifen mit den Augen und nicht nur dem Verstehen. (Lyotard 2011: 9; Hervorheb. FT)
Ein Eingehen auf diese Behauptung kann den Weg für ein erneutes DurchSehen der Literatur als einen Beitrag zur epistemologischen Entgrenzung des Transnationalen ebnen. Lyotard beginnt mit einer komplexen phänomenologischen Kritik eines limitierten Verständnisses (geschriebener) Sprache als bloß repräsentierendem Diskurs. Er identifiziert Figuralität als ko-konstitutives Element neben der Sig-
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nifikation und meint damit performativ-deiktische »Akte des Zeigens« (Lyotard 2011: 38), die räumliche Dimensionen in Texten ausweisen, welche laut Rodowick ein irreduzibles Außen hinsichtlich des systemischen Raums des Diskurses eröffnen (Lyotard 2001: 6). Lyotard (2011: 70) beschreibt Figuralität als eine Form der Unterbrechung, die »in den Fortgang des Texts eine Tiefe einführt, welche nicht aus reiner Signifikation herrührt, sondern eine Art Exzess der Bedeutung verhüllt und zugleich signalisiert«. Tatsächlich definiert Anne Tomiche (2001: 155) Figuralität als das subversive Fremde im Diskurs, mit dem Letzterer trotzdem immer verflochten bleibt. Dies bedeutet, dass Figuralität gegenüber Diskursivität nicht bloß als Gegendiskurs opponiert, sondern eher auf anderer Ebene eine verfremdende Kraft von innen her bildet. Auf paradoxe Weise widersteht Figuralität dem Zugriff des Diskurses, ohne dabei die Verbindung mit ihm je vollends zu trennen. Daher sollte die Dyade von Diskurs und Figur nicht als binäre Opposition, sondern vielmehr als eine Relation der Simultanität eines ›Beides-und-Nichts‹ oder ›Innen-und-Außen‹ verstanden werden, die ebenfalls Mignolos Grenzdenken mit dem Insistieren auf ein Denken von Dichotomien her charakterisiert. Mit der Figuralität bietet Lyotard daher einen Weg für das Eingehen auf das (Außer-)Ordentliche radikaler Fremdheit, das potenziell in der Literatur figuriert. Durch seinen dynamischen Charakter kann Figuralität als eine textuelle Form der Präsenz betrachtet werden. Wie Tomiche (2001: 159) ausführt, fungiert Figuralität als »die ›Präsenz‹ des Nicht-Artikulierten und Nicht-Linguistischen innerhalb des Diskurses« und stellt so ein Hereinbrechen des Fremden aus dem Inneren der Diskursivität dar. Figuralität zeichnet sich durch eine spezifische deiktische Qualität aus, die systemisch-linguistischen Ordnungsprinzipien widerstrebt, den Referenten vom nivellierenden Griff der Signifikation befreit und einen untilgbaren Exzess der Bedeutung designiert. Das Figurale bildet, um mit Derrida zu sprechen, ein raumzeitliches Supplement der Sprache, das Bedeutung ad infinitum aufschiebt, aber – in Analogie zu radikaler Fremdheit – deshalb nicht als bloß negativ oder nicht-präsent betrachtet werden kann. Durch das aufschiebende Hereinbrechen des Figuralen bewahrt der Diskurs immer eine irreduzible Offenheit und trotzt jeglicher Vorstellung einer Hegelianisch-homogenen Selbstpräsenz. Dennoch eröffnet es gleichzeitig den Diskurs für die Präsenzen des Fremden, die sich, obwohl immer schon in der Signifikation am Werk, nur im Entzug von Diskursivität zeigen. Durch sein unbändiges Wiederbekennen der Forderungen des Fremden durch diese Öffnung weist Figuralität ebenfalls einen positiven Charakter auf. Auch sie widersteht dem Jargon der Negativität, obwohl sie durch andauerndes Verweilen in einer gleichzeitigen Bewegung des Zeigens und Entziehens je zu einer statisch-substantiven Präsenz gerinnt. Auf den Punkt gebracht bleibt Figuralität immer von einer verbalen Dynamik beziehungsweise durch ereignishaftes Anwesen bedingt. Als subversives Moment gegenüber Vorstellungen diskursiver
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Abgeschlossenheit öffnet Figuralität den Diskurs für das radikal Fremde, das jenseits des fixierenden Griffs der westlichen Epistemologie und insbesondere eines statischen Hegelianischen Logozentrismus anwest. Wenn die figurale Dynamik eines Texts derart einen Modus für das Anwesen des Fremden in der Literatur bedingt, dann können diese Artefakte nicht mehr nur als statische, künstlerische Objekte unter einem hegemonial-analytischen Blick betrachtet werden. Ausgezeichnet durch figurales Agens zeigen sich literarische Texte als Agenten der Fremdheit, die dieser Aneignung widerstehen. Als solche Entitäten erfordern sie eine andere Art des Umgangs. Wenn Lyotard schreibt, dass etwas im Diskurs gefangen ist, das den Diskurs letztlich sich selbst öffnen lässt, dann bestätigt er, dass das diskursive System immer schon seine eigene De-Systematisierung in sich trägt. Er argumentiert, dass Texte selbst aktiv zu einer Wahrnehmungsveränderung beitragen, und zwar durch ein affektives Pathos, der auf den immer schon bestehenden Doublebind aus Sensualität und Rationalität hinweist. Folglich schreibt Lyotard (2011: 153), dass »das Sehenlernen ein Verlernen des Begreifens erfordert«, und beschreibt damit zugleich seine Vorstellung des Schürfens nicht als begreifend und fixierend, sondern als sensibel gegenüber dem Unsystematischen. Anstatt eines imperialen Stierens stellt Lyotards Schürfen eine responsive ästhetische Haltung dar, die offen für das Pathos des Fremden bleibt und die Möglichkeit des Fremdwerdens der Wahrnehmung selbst in Betracht zieht. Das Eingehen auf das affektive Pathos literarischer Texte und die damit verbundenen fremden Modi der Wahrnehmung erfordern also eine radikale Modifikation des Verhältnisses zwischen den Werken und der institutionalisierten Praxis, die sich deren Analyse widmet. Konsequent gedacht bedeutet dies nichts anderes als eine de-hierarchisierte Interaktion von kritischem Denken und literarischen Texten; eine Interaktion, die für Mignolo (2012: 223), als eine Art Grenzdenken, eine öffnende »Rahmung, in der Literatur nicht als ein (ästhetisches, linguistisches, soziologisches) Studienobjekt erachtet, sondern als Produktion von theoretischem Wissen betrachtet« wird und wo Texte nicht als »Repräsentation von etwas«, sondern als Form der »Reflexion« hinsichtlich »Themen, die den Menschen und die Geschichte betreffen« gelesen werden. Dergestalt können literarische Texte als eine Arena epistemologischen Ungehorsams fungieren und zu einer Restitution von verdrängten oder subalternalisierten Wissensformen beitragen, indem sie, wie Mignolo (2012: 223) es ausdrückt, eine »Transformation von Wissen-als-Repräsentation zu Wissen-als-Performanz und die Aushebelung der zerstörerischen Subjekt/ Objekt-Trennung« vorantreiben. Durch dieses andere Verhältnis behält die Literatur ihre Unabgeschlossenheit und beherbergt das Potenzial der Präsenzen des Fremden, das »sich gegen uns wehrt und subtile aber nicht zu leugnende Forderungen an uns stellt« (Thomson 2011: 22). Dieses Anwesen eröffnet die
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Notwendigkeit, literarische Texte in demütiger Entgrenzung jenseits der etablierten epistemologischen Hegemonie der westlichen Vernunft neu zu sehen.
Schluss Dieser kurz skizzierte Entwurf der Entgrenzung des epistemologischen Rahmens der transnationalen Amerikastudien hofft, einen möglichen Weg zur Umschiffung der Skylla des intellektuellen Imperialismus und der Charybdis des amerikanischen Exzeptionalismus eröffnet zu haben. Es wurde argumentiert, dass das vielversprechende Potenzial des Paradigmas hinsichtlich einer Neuverhandlung der Frage des Fremden jenseits der Ordnungsprinzipien einer Nationalstaatenlogik zunächst eine noch vorhandene Haltung wissenschaftlicher Überlegenheit ablegen muss. Zu diesem Zweck wurde Mignolos Konzept des Grenzdenkens mit dem Fokus auf subalternalisierte Wissensformen als theoretischer Kompass eingeführt. Durch den Bezug auf Waldenfels’ radikale Fremdheit wurde dann ein Verständnis des Fremden erarbeitet, das sich diskursiver Abgeschlossenheit oder fixierender Signifikation widersetzt, ohne dabei die systematische Vereinnahmung vollends abzuschütteln. So wurde eine Form des Fremden aufgezeigt, die sich stets als eine (außer-)ordentliche Präsenz zeigt. Mithilfe weitestgehend missachteter Aspekte poststrukturalistischen Denkens wurde dieses dynamische Anwesen dabei von einer substantiven Form der Präsenz unterschieden, die Gefahr läuft, eine Frontstellung zwischen Bedeutung und Präsenz zu perpetuieren und statische Dichotomien neu zu legitimieren. Durch den Fokus auf eine anwesende Fremdheit wurde versucht, den Jargon der Negativität zu umgehen und stattdessen affirmierende Forderungen des Fremden zu betonen, ohne dabei in logozentrischer Stasis verhaftet zu bleiben. Durch den Verweis auf die Ästhetik wurde gezeigt, dass das Eingehen auf die Präsenzen des Fremden eine Fremdwerdung der Wahrnehmung selbst erfordert. Mittels Spivaks Vorstellung einer kreativen Sabotage durch ein Denken aus der Spannung zwischen Vernunft und Gefühl heraus wurde die Möglichkeit der Wiederbelebung einer vergessenen oder verdrängten Sinn-Sensibilität in Aussicht gestellt. Schließlich wurde Lyotards Figuralität eingeführt, um zu plausibilisieren, wie eine epistemologische Entgrenzung für die Analyse literarischer Texte (als exemplarischem Anwendungsbereich) fruchtbar gemacht werden kann: In Form von (außer-)ordentlichen figuralen Präsenzen innerhalb literarischer Werke ist das Fremde im Stande, seiner Tilgung als Alteritätskonstrukt zuvorzukommen und seine eigene Handlungsmacht zu bewahren. Es ist jedoch klar, dass die tatsächliche Seetauglichkeit und Praktikabilität dieser vorläufigen Vorschläge weiterhin in wiederholten Begegnungen mit dem Fremden noch erprobt werden muss.
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»Remember Wounded Knee«
»R emember W ounded K nee «. S tr ategische R e -A ppropriationen stereot yper R epr äsentationen A merik anischer U reinwohner im politischen P oster 2 Carmen Brosig Dieser Artikel untersucht, wie indigene Appropriationen von hegemonialen Praktiken in den 1960er und 1970er Jahren strategisch dazu benutzt wurden, um stereotype Vorstellungen über amerikanische Ureinwohner und existierende Machtverhältnisse in den USA zu hinterfragen. Die indigene Bürgerrechtsbewegung der USA tat dies nicht zuletzt mit Protestpostern, die auf verschiedenen Ebenen Zusammenhänge zwischen der US-Intervention in Vietnam und Erfahrungen der indigenen Bevölkerung im Rahmen der Kolonisierung des amerikanischen Kontinents und danach herstellten.3 Zwei Feststellungen in der Auseinandersetzung mit der indigenen Bürgerrechtsbewegung und dem Vietnamkrieg sollen in diesem Zusammenhang überprüft werden. Erstens greifen politische Poster indigener Gruppen in den 1960er und 1970er Jahren häufig auf die Fotografie als Medium zurück und manipulieren gezielt stereotype, hegemoniale Repräsentationen von amerikanischen Ureinwohnern (Schwarz 2013: 42). Zweitens wurden während der Besetzung von Wounded Knee 1973 – einer der wichtigsten indigenen Protestaktionen in diesem Zeitraum – nicht nur häufig Vergleiche mit dem Vietnamkrieg bemüht, sondern der Krieg war auch in dem Sinne gegenwärtig, dass sich die Vietnamveteranen unter den Aktivisten Verteidigungstaktiken bedienten, die sie als Soldaten im Vietnamkrieg erlernt hatten. Aufgrund der wiederkehrenden Darstellung des Vietnamkriegs in den politischen Postern indigener Protestgruppen und der Präsenz des Vietnamkriegs während der Besetzung von Wounded Knee sollen diese beiden Sachverhalte auf größere politische und kulturelle Zusammenhänge überprüft werden. Zu diesem Zweck soll zunächst der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Vietnamkriegsbezug der Wounded-Knee-Okkupation sich in der Diskursivierung eines ›war at home‹ niedergeschlagen hat. In einem zweiten Schritt soll diskutiert werden, inwiefern die Verwendung 2 | Trotz größter Bemühungen war es nicht möglich, sämtliche Urheber des in diesem Beitrag reproduzierten Bildmaterials ausfindig zu machen. Viele der Poster befinden sich in der Yanker Poster Collection der Library of Congress in Washington D.C. Im Falle eines Urheberrechtsanspruchs wenden Sie sich bitte an den Verlag. 3 | Patrick Wolfe (2006) stellt einen direkten Zusammenhang zwischen Genoziden und Siedlerkolonialismus her, den er als Logik der Elimination bezeichnet. Dabei geht er insbesondere auf die lebenswichtige Rolle von Land ein, die auch bei der Besetzung von Wounded Knee 1973 eine nicht nur symbolische Rolle spielte.
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fotografischer Elemente in politischen Postern dazu beigetragen hat, maßgeblich durch Fotografien erzeugte oder verfestigte Stereotypisierungen von amerikanischen Ureinwohnern zu subvertieren.
Politische Poster in den 1960er Jahren Die 1960er Jahre in den USA waren geprägt von gesellschaftlichen Umbrüchen, die in zahlreichen Medienformaten thematisiert wurden. Politische Poster erlebten in dieser Zeit einen Aufschwung als visuelle Protestform, insbesondere weil verbesserte Drucktechniken es ermöglichten, sowohl ikonische als auch unbekannte Fotografien ganz oder in Teilen zu reproduzieren und zu zirkulieren. Als signifikantes Beispiel dient hier eine Posterserie der auflagenstarken Mohawk-Zeitung Akwesasne Notes, die eine Vielzahl an Fotografien von Edward S. Curtis als Grundlage für politischen Protest aufgriff. Die Besetzung von soziopolitisch und kulturell wirkmächtigen Räumen hatte sich in den USA seit den Sit-ins der Bürgerrechtsbewegung in Greensboro 1960 bis hin zu den Vietnamkriegsprotesten zu einer gängigen performativen Praxis entwickelt, um den politischen Anliegen unterdrückter Gruppen Gehör zu verschaffen. So besetzten vom 27. Februar bis zum 8. März 1973 mehrere Dutzend Aktivist*innen des American Indian Movement, unter ihnen Angehörige der Oglala Nation, den Ort Wounded Knee im Reservat Pine Ridge in South Dakota. Ziel dieser Aktion war es, den mutmaßlich korrupt-autoritären OglalaStammeshäuptling abzusetzen sowie die Politik der US-Regierung gegenüber der indigenen Bevölkerung – vor allem hinsichtlich der Nicht-Einhaltung von Verträgen – als diskriminierend und rassistisch anzuprangern. Die Okkupation erfuhr großen Zuspruch vonseiten anderer Gruppen, die Solidaritätsveranstaltungen wie z.B. die ›Night of Solidarity with the Indian People‹ in San Francisco organisierten, Poster druckten oder auch Wounded Knee besuchten. Die Besetzung erzeugte nicht zuletzt deshalb ein großes Medienecho, weil die Nixon-Regierung hoffte, dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von dem im März 1973 enthüllten Watergate-Skandal abzulenken (Deloria 2003: 18). Wounded Knee war auch deshalb ein medienwirksamer Schauplatz für eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Aktivist*innen und der Staatsgewalt, weil dort im Jahr 1890 US-Soldaten ein Massaker an etwa 300 Lakota-Sioux verübt hatten. Die Wahl dieses symbol- und erinnerungsträchtigen Ortes als Ort des Widerstandes im Jahr 1973 mag also maßgeblich dazu beigetragen haben, das Massaker ins kollektive Gedächtnis zu rufen. Die Vertrauenskrise großer Teile der Bevölkerung in Bezug auf die staatlichen Institutionen – nicht zuletzt bedingt durch die Watergate-Affäre und den zunehmend unpopulär gewordenen Vietnamkrieg – wurde durch die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Demonstrant*innen und Staatsgewalt noch verstärkt. Mit Blick auf die mediale Wirkkraft der Be-
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setzung konstatiert Vine Deloria: »[…] Wounded Knee had been such a media spectacular that no protest could have had greater impact« (2003: 19).
Lokaler Widerstand als dekoloniales Projekt Die Ereignisse von Wounded Knee 1973 können als Teil großer Dekolonisierungsbestrebungen gelesen werden und stehen damit in direktem Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg. Ob der strukturellen Parallelen der beiden Schauplätze bemerkt Bürgerrechtlerin und Mitglied der Black Panther Party Angela Davis, »that Wounded Knee looked just like a Vietnam battlefield« (zit.n. Holm 1996: 178). Aus Solidarität hatte Davis ursprünglich geplant, die Aktivist*innen in Wounded Knee zu besuchen, wurde aber vom FBI nicht zum Eingang vorgelassen und als »undesirable« (»unerwünscht«) vom Gelände geführt (Chicago Tribune 1973: 7). Davis’ Aussage bestätigte die von vielen Ureinwohnern gezogenen Parallelen zwischen dem seit Jahren andauernden Krieg in Vietnam und dem damit verbundenen imperialistischen Machtanspruch der USA in Südostasien auf der einen Seite und ihrer eigenen Situation auf der anderen. Die Verschleierung dieser Zusammenhänge bringt ein im Text nicht namentlich genannter indigener Vietnamkriegsveteran folgendermaßen auf den Punkt: We went into their country and killed them and took land that wasn’t ours. Just like what the whites did to us. I helped load up ville after ville and pack it off to the resettlement area. Just like when they moved us to the rez [reservation]. We shouldn’t have done that. Browns against browns. That screwed me up, you know. (zit.n. Holm 1996: 148f.)
Kritische Verweise auf Parallelen zwischen der kolonialen Situation von Vietnames*innen und der indigenen Bevölkerung in den USA fanden sich häufig im politischen Protest und der kulturellen Bewegung, die diesen begleitete. Die Okkupation von Wounded Knee und auch generell Bürgerrechtsbewegungen in den USA, der Vietnamkrieg(sprotest) sowie antikolonialistische Bewegungen in Vietnam wurden häufig auf politischen Postern grafisch repräsentiert. Ein in vielen solchen Postern auffindbares Motiv ist die Soldatenreihe in untenstehendem Beispiel (Abb. 1), welche das Massaker von Wounded Knee aus dem Jahr 1890 und die Besetzung von Wounded Knee 1973 visuell verknüpft. Die bedrohlich erscheinende schwarze Reihe von bewaffneten Soldaten im Hintergrund wurde häufig als eine interpiktoriale Referenz in den Postern von amerikanischen Ureinwohnern verwendet4 und entwickelte sich zur wohl bekanntesten ikonografischen Repräsentation der beiden Wounded-Knee-Vorfälle. 4 | Ein weiteres Beispiel wäre etwa ein Poster des American Indian Movement mit der Überschrift »Prevent a 2nd Massacre at Wounded Knee« aus dem Jahr 1973. Das Poster, das das Haupt eines Ureinwohners zeigt, der über der Reihe der Soldaten zu schweben
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Ein von der Zeitung Akwesasne Notes hergestellter und vertriebener Posterdruck (Abb. 2) greift die Reihe der Soldaten im Hintergrund wieder auf. Die Soldaten repräsentieren die durch den Staat ausgeübte Gewalt sowohl im Zusammenhang mit den beiden Ereignissen in Wounded Knee als auch in Vietnam. Das Poster verweist damit auf die Parallelen zwischen der kolonialen Situation der indigenen Bevölkerung in den USA und der vietnamesischen Bevölkerung. Die beiden Gruppen und deren Befreiungsstreben werden auf dem Poster von der depersonalisierten und gesichtslosen Freiheitsstatue separiert, die, zwischen den beiden Gruppen stehend, den Blick für transnationale Solidarität und Zusammenarbeit verstellt. ›Liberty Enlightening the World‹ – so die offizielle Bezeichnung der Freiheitsstatue – verdunkelt hier also vielmehr die Gemeinsamkeiten der beiden Gruppen. Die Freiheitsstatue ist mit den Soldaten im Hintergrund dadurch verbunden, dass die Fackel der ›Freiheit‹ in ihrem erhobenen Arm die Feuer im Hintergrund überlagert, die zum einen die gewaltsamen Vertreibungen der indigenen Bevölkerung und zum anderen den Einsatz von Napalm in Vietnam repräsentieren. Kritik wird hier also durch die Bedeutungsumkehrung der Freiheitsstatue in ein Symbol der Unterdrückung und Unfreiheit geübt. Die mit der US-amerikanischen Flagge farbig ausgefüllte Silhouette der Freiheitsstatue im sonst schwarz-weiß gehaltenen Druck sowie ihre Positionierung im Vordergrund macht sie lesbar als Symbol eines kulturellen, politischen und militärischen Imperialismus und eines widersprüchlichen, da partikularen und interessengeleiteten Freiheitsbegriffes.5
scheint, fordert einen sofortigen Waffenstillstand in Wounded Knee und ruft gleichzeitig dazu auf, lokale Demonstrationen zu besuchen. 5 | Die Inversion amerikanischer Symboliken und ihrer Systemkritik, wie sie hier erfolgt, fordert etwa auch George Lipsitz: »[o]ften, it is not sufficient to stress shared symbols, the legacy of past struggles, or the urgency of impending actions. Building insurgent consciousness entails speaking back to power, subverting its authority, and inverting its icons as a means of authorizing oppositional thinking and behavior« (2001: 76).
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Abb. 1: We Remember Wounded Knee, 1890-1973. Zwischen 1973 und 1980.
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Abb. 2: Ohne Titel. Ca. 1973/74.
Materialität und Räumlichkeit politischer Poster Seit dem material turn hat die Forschung vorwiegend danach gefragt, was Materialität bedingt, und sich damit einer ontologischen Fragestellung nach der (Im-)Materialität der Dinge gewidmet. Erst rezente Studien untersuchen die Unterschiede materieller Eigenschaften sowie die Handlungsmacht der Dinge und betonen, dass Herangehensweisen, die Subjekt und Bewusstsein den Vorrang erteilen immer defizitär bleiben (z.B. Coole/Frost 2010; Kopytoff 1986;
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McDonnell 2010). Arjun Appadurai (1986a: 4) schlägt vor, dass Waren, also Objekte von ökonomischem Wert, auch ein soziales Leben bzw. einen Lebenslauf haben und dass diese »economic objects […] in different regimes of value in space and time« zirkulieren. Dass der Wert dieser Objekte nicht inhärent ist, zeigt sich darin, dass ihnen in je spezifischen sozialen, historischen und kulturellen Kontexten von verschiedenen Subjekten ein je unterschiedlicher Wert zugeschrieben wird. Demzufolge ist der Prozess, Objekte mit den Attributen ›(nicht) nützlich‹ oder ›(nicht) schädlich‹ zu versehen sowie diese Attribute in ›gut‹ oder ›schlecht‹ zu übersetzen, ein Lese- und Kontaktprozess (Ahmed 2004: 6). Diese (Be)Wert(ungs)regime schreiben also Dingen zunächst einen qualitativen, nicht einen quantitativ-ökonomischen Wert zu. Der Leseprozess und die damit verbundene Bewertung der Dinge kommen durch die Wahrnehmung von Materialität ins Spiel. In einer Studie zu einer Kampagne zur Aufklärung über AIDS in Ghana untersucht Terence E. McDonnell unter anderem die Wahrnehmbarkeit (perceptibility) und Lesbarkeit (legibility) von kulturellen Objekten in urbanen Räumen. Im Rückgriff auf Kopytoffs Biografiethese, die davon ausgeht, dass Dinge eine Biografie haben und dass ihr soziales Leben greif bare Effekte auf die Herstellung von Bedeutung hat (1986: 66f.), stellt McDonnell die Besonderheiten eines materiellen Ansatzes heraus: A material approach treats cultural objects as objects […]. Through interactions with people and environments, objects age, decay, and move, along with a host of other actions. These actions and conditions necessarily influence the process of interpretation. Attention to the materiality of symbols embodied in objects opens for consideration how material and symbolic qualities work together to structure meaning. (McDonnell 2010: 1803)
Materielle Eigenschaften kultureller Objekte interagieren also mit dem sie umgebenden physischen Raum und strukturieren somit den interpretativen Kontext für die Betrachter*innen (McDonnell 2010: 1802). Für den überwiegenden Teil der Poster der 1960er und 1970er Jahre – insbesondere Poster von radikalen ethnischen Bewegungen sowie Anti-Kriegsposter, die den imperialistischen Hegemonialanspruch der USA in Südostasien und darüber hinaus zu erodieren suchten – gilt, dass diese vorwiegend gesetzeswidrig in unterschiedlichen Räumen angebracht wurden. Bedingt durch ihre institutions- und regierungskritischen Darstellungen wurden sie oft anonym an Wänden fixiert. Zu den öffentlichen Präsentationsflächen zählten staatliche und institutionelle Gebäude, Gebäude großer Unternehmen, Schulen und Universitäten, das öffentliche Nahverkehrssystem, aber auch Wände und Zäune privater Wohnhäuser. Amerikanische Ureinwohner beanspruchten also einen Raum, in dem sie aufgrund der institutionellen Umsetzung einer auf westlichen Vorstellungen von ›Fortschritt‹ basierenden ›Indian Termination Policy‹ quasi nicht existie-
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ren sollten. Nicht der ›städtische‹ Raum, sondern der ›natürliche‹ Raum war mit der indigenen Bevölkerung konnotiert, nicht zuletzt auch in Edward S. Curtis’ romantisierenden und stereotypen fotografischen Darstellungen von Ureinwohnern als »noble anachronists« und »savage reactionaries« (Schwarz 2013: 42). Mit der Besetzung bestimmter Räume durch politische Plakate geht auch die Besetzung und Re-Appropriierung von ehemals indigenen Territorien einher. Diese Widerstände gegen den Siedlungskolonialismus richteten sich also gegen die von Patrick Wolfe (2006: 387) so genannte Logik der Eliminierung. Florian Tatschner (2015: 11) geht ähnlich wie Wolfe von einer »Native American survivance beyond systemic archival absentification« aus und bezeichnet diese als »active presencing«. Somit kann man sowohl bei der Besetzung von Wounded Knee als auch beim politischen Poster von einer Politik der Präsentifikation sprechen. Für das Ziel, sonst verdeckte transnationale Zusammenhänge und Anliegen von Minderheiten in den Fokus zu rücken, erwiesen sich politische Poster in den 1960er und 1970er Jahren als geeigneter als andere Massenmedien. McDonnell zufolge erreichen Poster eine hohe Effektivität durch wiederholtes Gesehenwerden; Betrachter*innen sind ihnen stärker ausgesetzt als dem Radio oder Fernsehen, bei denen ein Kanalwechsel möglich ist (McDonnell 2010: 1823). Durch massenweise Reproduktion und Ausstellung in öffentlich zugänglichen Räumen kann ein größeres Publikum adressiert werden als etwa bei Ausstellungen in Museen und Galerien: »The windows and walls of small stores and businesses from butcher shops to clothing stores provide public space for a truly popular gallery« (Goldman 1984: 52). Zur Vervielfältigungsmöglichkeit des Kunstwerks schreibt Walter Benjamin bekannterweise Folgendes: »Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet« (Benjamin 1977: 11). Für Susan Sontag (1970: ix) hingegen wird das Poster erst durch die Möglichkeit der Vervielfältigung in die Existenz gehoben: »Unlike a painting, a poster was never meant to exist as a unique object. […] From its conception, the poster is destined to be reproduced, to exist in multiples […].« Poster setzen sich Sontag zufolge in ihrer Intention also deutlich von früheren Kunstformen ab. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern die Reproduzierbarkeit von Postern deren Präsenz tilgt,6 wenn eben gar kein reproduzierbares Original existiert. Die spezifische Präsenz von Postern speist sich trotz ihrer Reproduzierbarkeit aus deren Flüchtigkeit, ihrer Ephemeralität, die 6 | Im Prinzip ist die Annahme, Poster seien re-produzierbar, von vorneherein problematisch, da kein Original existiert, von dem Kopien oder Abzüge hergestellt werden, sondern jedes Poster in diesem Sinne ein ›Original‹ ist. Die Vorlage besteht nur in der Anordnung eines Druckkastens. In materieller Hinsicht ähnelt die Posterproduktion damit der digitalen Fotografie.
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den Betrachter*innen inständig die Notwendigkeit sozialer Transformationen vor Augen führt und auf politische Unterdrückung im Hier und Jetzt hinweist. Zur Unmittelbarkeit von Postern im Vergleich zu Zeitungen schreibt Thomas Benson Folgendes:7 The obviously cheap, local, and immediate materiality of these posters, their ephemerality, their occasional graphic distinction, their vernacular wit, and their anonymity gave the posters an authenticity and force that are unusual. […] They carry a presence, an aura, an eventfulness that would not have been present in the same way had they simply been published [in newspapers] – which might have given them a wider audience but which would have resulted in a different rhetoric. (Benson 2015: 74; Hervorheb. CB)
Mit den Begriffen ›presence‹ und ›aura‹ verwendet Benson Begriffe, die herausstellen, wie der besondere Zusammenhang zwischen der Materialität und der Wirkung der Dinge hergestellt wird, der sich hier im semantischen Feld von Inständigkeit, Dringlichkeit und Flüchtigkeit aufspannen lässt. Auch für Dieter Mersch (2002: 83) zeigt sich das Kunstwerk vermöge seiner Präsenz, die nicht auf seine reine Stofflichkeit zu reduzieren ist, sondern vielmehr die spezifische Weise seiner Evokation beinhaltet. Mit Blick auf das Medium Poster bedeutet dies, dass die Evokation bestimmter Affekte oder Reaktionen – abgesehen vom spezifischen impliziten Wissen der Betrachter*innen – über das Zusammenspiel seiner Materialität und seiner Platzierung erfolgt, denn McDonnell (2010: 1805) zufolge strukturiert die Materialität von Dingen und ihrer Umgebung interpretative Interaktionen (mit): »[d]epending on the unique instantiation of material qualities inherent in an object and the materiality of the context, an object’s materiality may trump symbolic forms of communication such as language […]«. Bilder können Bedeutungen erzeugen, die nicht verlustfrei expliziert und versprachlicht werden können. Arjun Appadurai (1986a: 41) unterscheidet in Bezug auf Waren zwischen einem ›Produktionswissen‹, welches in das Produkt hineingelesen wird, und einem ›Konsumtionswissen‹, welches aus dem Produkt herausgelesen wird. Ihm zufolge divergieren diese Wissensbestände umso mehr, je weiter Produktion und Konsumtion sozial, räumlich und zeitlich auseinanderliegen. Je größer diese Distanzen, desto schwieriger auch der Wissenstransfer. Es wird deutlich, dass beide Wissensformen weder rein technisch oder empirisch oder rein ideologisch oder bewertend konstituiert sein können. Das Verhältnis dieser beiden Wissensformen ist vielmehr ein dialektisches, so Appadurai 7 | Thomas Benson unterhält an der Pennsylvania State University eine Sammlung politischer Poster der 1960er und 1970er Jahre. In dieser Sammlung finden sich insbesondere Poster aus den Posterworkshops der Universitäten der Bay Area, die sich inhaltlich größtenteils mit Friedensfragen und dem Vietnamkrieg beschäftigen.
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(1986a: 41): »Knowledge at both poles has technical, mythological, and evaluative components, and the two poles are susceptible to mutual and dialectical interaction«.8 Appadurai geht somit davon aus, dass für Wissenstransfers von implizitem Wissen nicht unbedingt die Kopräsenz anderer oder Formen der Präsentifikation vonnöten sind, da auch durch Dinge gelernt werden kann. In gewissem Maße gilt dies auch für die Artefakte des Archivs, die die Quelle des Wissens vom Wissenden trennen (Taylor 2003: 19). Wissen kann vermittels Bilder einfacher transnationalisiert werden als durch Texte, die Übersetzungsprozessen unterliegen, da Bilder auch außerhalb der eigenen Sprach- und Kulturgrenzen hinweg intelligibel sein können (wobei dies natürlich keineswegs universell der Fall ist). Susan Sontag (1970: x) zufolge lebt das effektive Poster – welches im Übrigen selten aus ausschließlich bildlichen Komponenten besteht9 – von der Spannung zwischen dem Wunsch, etwas zu sagen (Explizitheit, Wörtlichkeit) und dem Wunsch, zu schweigen (Verkürzung, Kondensierung, Mysterium, Übertreibung). Diese unauflösbare Spannung fängt den nicht fixierbaren Übergang zwischen Explizitheit und Implizitheit ein. An anderer Stelle stellt Sontag (2003: 20) ebenfalls den Unterschied zwischen Schrift und Bild in puncto ›Verstehbarkeit‹ heraus: »In contrast to a written account […] a photograph has only one language and is destined potentially for all.« Nichtsdestotrotz können auch Bilder nur im Kontext oder unter Berücksichtigung kulturspezifischer Implikationen verstanden werden. Insbesondere McDonnell verweist in seiner Auseinandersetzung mit Postern als Straßenwerbung auf die Wichtigkeit ihrer spezifischen materiellen Umgebung: Within any object-setting, the interpretation of AIDS media depends on the interaction between materiality of the object and surrounding environmental conditions. […]. My interest is in material discordance – a mismatch between the material qualities of an object and the physical setting in which it appears. (McDonnell 2010: 1820; Hervorheb. CB)
Eben diese materiellen Diskordanzen verleihen Postern jedoch ihre Produktivität – sie fügen sich nicht nahtlos in den öffentlichen Raum ein. Bei diesen hier auf die Wahrnehmbarkeit (perceptibility) und Lesbarkeit (legibility) von Postern und Billboards rückgebundenen Diskordanzen handelt es sich um genau 8 | Auch Alexis Shotwell (2011: 22f.) nimmt an, dass zwischen implizitem Wissen (hier: mythologisch) und explizitem Wissen (hier: technisch) keine Binärbeziehung besteht, sondern vielmehr eine synekdochische, wobei sich das explizierbare Wissen aus dem impliziten speist. 9 | Poster kommen selten ohne Slogans, Ankündigungen, Aufrufe etc. aus. Oft bestehen Poster gar (fast) ausschließlich aus Text.
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jene »Beunruhigung, die das Gleichmaß des ruhigen Sehens durchbricht« (Waldenfels 1999: 125).10 Phänomenologisch betrachtet provozieren also Brüche und Diskordanzen mehr Aufmerksamkeit als Gleichförmigkeiten. Die Plakatierung freier Flächen mit Vietnamkriegspostern beispielsweise holt einen vermeintlich fernen Krieg in das scheinbar geschützte Hier und Jetzt und stört dieses durch Repräsentationen von Gewalt und Tod. Ähnliches vollzieht sich durch Poster von Amerikanischen Ureinwohnern, die sich Stereotypen der indigenen Bevölkerung als ›naturnah‹, ›vanishing race‹ oder ›noble savages‹ bedienen. Durch die auf der vermeintlichen Opposition ›Stadt/Natur‹ beruhende Inszenierung dieser Stereotype in urbanen Räumen und ihrer dadurch erfolgenden materiellen Aneignung werden diese Alteritätskonstruktionen als falsch und generalisierend entlarvt.
Politische Poster als visuelle Palimpseste Auffallend in der indigenen Posterkunst ist die häufigeVerwendung stereotyper fotografischer Repräsentationen vor allem aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zur Erstellung von »visual palimpsests« (Lidchi/Tsinhnahjinnie 2009a: xvi). Dabei werden vorhandene Repräsentationen in einer Weise verwendet, bei der diese sichtbar bleiben, aber auch erkennbar verändert wurden. Fotografien wurden in Poster auf zwei Weisen eingearbeitet. Zum einen wurden Fotografien speziell für eine bestimmte Werbekampagne hergestellt, beispielsweise für die große Posterkampagne des Committee to Help Unsell the War.11 Zum anderen wurden Fotografien benutzt, die bereits in Zeitungen und im Fernsehen mediales Interesse hervorgerufen hatten. Diese ikonischen Fotografien wurden meist gründlich überarbeitet, zugeschnitten und mit Text versehen, bevor sie in Postern Verwendung fanden. Auf diese Art wurden z.B. Fotografien von Martin Luther King und Malcolm X verwendet und mit Zitaten untermalt. Auch das Poster zum Massaker von My Lai 196812 fällt in diese 10 | Weiter schreibt Waldenfels (1999: 125) zur Blickstörung: »Tritt etwas auf, das die gewohnte Monotonie durchbricht, so wird der Blick aufgestört, alarmiert, stimuliert, möglicherweise gefesselt durch einen ›Blickfang‹, dem wir in die Falle gehen […]« und argumentiert an anderer Stelle, dass dem Blick die Möglichkeit der Veränderung innewohnt: »Blicke können schließlich auf das Hier und Jetzt des Betrachters übergreifen, seine Position erschüttern […]« (Waldenfels 1999: 144). 11 | Für einen detaillierten Überblick zu Antikriegskampagnen im Kontext von Vietnam siehe Hall (1995). 12 | Die Fotografie, die für das Poster mit dem Titel »Q: And Babies? A: And Babies« verwendet wurde, stammt von Ron Haeberle und illustrierte einen Artikel im Life Magazine über die Kriegsverbrechen des amerikanischen Militärs im Dorf My Lai (im Originalartikel wurde fälschlicherweise von Song-My gesprochen).
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Kategorie. Die Verwendung von Fotografien in politischen Postern erwies sich für indigene Aktivist*innen deshalb als wirksam, weil historische Fotografien von Ureinwohnern als ›vanishing race‹ einen hohen Bekanntheitsgrad hatten und darum geeignet waren, um vermeintliches Wissen über indigene Kultur wieder aufzurufen und zu transformieren. Verantwortlich für die Popularität der oftmals manipulierten und grundsätzlich inszenierten Fotografien war der Fotograf und Ethnologe Edward S. Curtis, der zwischen 1907 und 1930 zwanzig Bildbände mit dem Titel The North American Indian publizierte und mit romantisierten, stereotypen Darstellungen vieler verschiedener indigener Ethnien die ›Indianer‹-Fantasien einer ganzen Generation weißer Amerikaner*innen nach der Jahrhundertwende bediente (siehe Curtis 2016). Lidchi und Tsinhnahjinnie (2009a: xivf.) verweisen ebenfalls auf den großen Einfluss von Curtis’ Fotografien auf die indigene Kunst: »[t]hey have inspired new Indigenous photography that subverts the very premise on which the originals were created, while deepening the mutual reference between new work and the archive […].« Gerald Vizenor (2000) diagnostiziert, dass Curtis’ Fotografien heute in der Betrachtung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einen »sense of presence« evozieren, der einem Kult indigenen Gedenkens äußerst nahekommt; auf eine solche Form der Präsenz in der Fotografie verweist auch Elizabeth Edwards (2009: 132): »[t]hese photographic practices emerged from an intense belief in the photographs’ ability to perform a sense of the dynamic presence of the past.« Vizenor merkt außerdem an, dass Curtis sein Fotografiestudio zur Zeit des Massakers von Wounded Knee 1890 und einer sensationalistischen Berichterstattung über das ›Verschwinden‹ der Ureinwohner eröffnete. Curtis’ ästhetisierte Bilder waren das Resultat durchkomponierter Szenen: er fertigte Simulationen einer Realität an, die durch Selektion von allen dem Fotografen zur Verfügung stehenden Mitteln (Bildauf bau, Posen, Licht usw.) kreiert wurden. Vizenor (2000) stellt treffend fest: »The aesthetic poses of natives countered the cruelties of reservations and binaries of savagism and civilization«. Während die Fotografien von Curtis ihren Weg entweder durch den Bildband in private Haushalte oder zu Dokumentationszwecken in die Archive fanden, zierten die Poster, die seine Fotografien als referenzielle Basis verwendeten, öffentliche Räume. Damit erschufen diese Poster eine Materialität auf zwei Ebenen. Zum einen zeigt sich die fotografisch-materielle Dimension dahingehend, dass die Poster mehr als Fotografie denn als Abbildung einer Fotografie wahrgenommen werden. Zum anderen besitzen sie die Materialität von Postern als Poster, denen aufgrund ihrer kurzzeitigen Zirkulation Flüchtigkeit, Vergänglichkeit und Ephemeralität attestiert werden kann. Die bekannteste Posterserie der 1960er und 1970er Jahre, die Edward S. Curtis’ Fotografien palimpsestisch appropriierte, wurde von Akwesasne Notes vertrieben. Die Posterserie (Abb. 3 und 4) integrierte üblicherweise eine Foto-
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grafie von Curtis oder einem seiner Zeitgenossen und mehr oder weniger bekannte Äußerungen oder Gedichte indigener Künstler*innen.13 Abb. 3: Poster von Akwesasne Notes, zwischen 1965 und 1980. Foto eines Pueblo Zuñi Chief, aufgenommen von Edward S. Curtis, 1926.
13 | Kopien der Poster konnten zum mehr oder weniger symbolischen Preis von 50 Cents erworben werden, der zur Erstattung der Druckkosten diente.
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Abb. 4: Poster von Akwesasne Notes, zwischen 1965 und 1980. Foto eines Hụnka-Lowanpi, aufgenommen von Edwards S. Curtis, 1908.
Während hegemoniale Repräsentationen von Ureinwohnern eher ihre Abwesenheit und nicht ihre Anwesenheit ausstellen (Vizenor 2000), zelebrieren indigene Wieder-Aneignungen dieser Repräsentationen die Präsenz von indigenen Personen als politische Akteur*innen. Nicht zuletzt durch die mediale Übersetzung in Poster sowie durch die Besetzung wirkmächtiger Räume – insbesondere durch den Protest in Wounded Knee 1973 – wurde die Vorstellung von Ureinwohnern als ›vanishing race‹ immer weiter dekonstruiert.
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Indigene Soldaten im Vietnamkrieg Im Zusammenhang mit den Dekolonisierungsbewegungen der 1960er Jahre gewannen Praktiken transnationaler Solidarität immer mehr an Bedeutung. Unterdrückung und Rassismus in den USA wurden dem Krieg in Vietnam vergleichend gegenübergestellt. Indigene Männer dienten überproportional häufig im Vietnamkrieg, jedoch erweisen sich die offiziellen Zensusdaten hier aus strukturellen Gründen als unzuverlässig, da das Militär die Anwärter größtenteils selbst in ethnische Gruppen einteilte. Tom Holm (1989: 57) kommt zu dem Schluss, dass zwischen 1966 und 1973 etwa 42.000 Männer indigener Herkunft in Vietnam dienten.14 Während also etwa einer von vier armeetauglichen indigenen Männern für den Kriegsdienst verpflichtet wurde, diente nur einer von zwölf Anwärtern aus der Gesamtbevölkerung:15 »In other words, Indians, like other minority groups, bore a disproportionate share of the war« (Holm 1989: 58). Soldaten indigener Herkunft wurden nicht nur häufiger eingezogen, sondern aufgrund rassistischer Stereotype, die sie als besonders ›naturnah‹ und tapfer auswiesen, auch öfter in Kampfgebiete geschickt als beispielsweise weiße Soldaten (Holm 1989: 61). Das folgende Poster (Abb. 5) zeigt den AIM-Aktivisten und Kiowa-Angehörigen Bobby Onco nach der Besetzung von Wounded Knee, welche mit der Kapitulation der Aktivist*innen und mehreren Toten endete. Tom Holm zufolge, der mit Strong Hearts, Wounded Souls (1996) einen großen Beitrag zur Aufarbeitung der Beteiligung indigener Soldaten am Vietnamkrieg geleistet hat, konnten die indigenen Aktivist*innen Wounded Knee deshalb so lange halten, weil viele der Aktivisten Vietnamkriegsveteranen waren, die von ihrem Wissen über operative Verteidigungstaktiken Gebrauch machten, welches sie sich in Vietnam angeeignet hatten: Significantly, most of the men who dug the trenches, patrolled the perimeter, built the bunkers, and stood long watches in the fighting holes learned their military skills in the jungles and rice paddies of Vietnam. Native American veterans had indeed channeled their feelings of betrayal into aggressive political activism and attempted to reconstruct the actuality of indigenous traditional warrior societies. (Holm 1996: 178f.) 14 | Die Zahl beruht auf Berechnungen, die die Veteranen der einzelnen Stämme addiert. Wahrscheinlich ist, dass eine höhere Zahl an indigenen Männern diente, da diejenigen welche in urbanen Räumen (bzw. nicht in Stämmen) lebten, nicht mitgezählt wurden (Holm 1989: 57). 15 | Holm schreibt: »Approximately one out of four eligible Native Americans served, compared to one out of 12 in the general American population.« Es ist jedoch unklar, ob mit »general« die nicht-indigene Bevölkerung gemeint ist oder alle zu berücksichtigenden Armeetauglichen.
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Akwesasne Notes hatte maßgeblich und regelmäßig über die Hintergründe und gewaltsamen Vorkommnisse von Wounded Knee aus der indigenen Perspektive berichtet. Ein Artikel der Zeitung fasst den Zusammenhang zwischen der Besetzung und der Anwendung bestimmter Kriegstaktiken folgendermaßen zusammen: The young men defending Wounded Knee are militarily skilled and trained. Almost all are Vietnam veterans, and most of those were in the Special Forces – the Green Berets. In Southeast Asia, they learned about guerrilla warfare, courtesy of the U.S. government, and now they are using what they learned for their own people. (Akwesasne Notes, zit.n. Holm 1996: 179)
Auch im Kontext dieser Militarisierung indigener Männer kann ein Zusammenhang zur Subvertierung von Curtis’ Darstellungen von Ureinwohnern hergestellt werden: Während Curtis in seinen Fotografien ein puristisches Bild vom ›Indianer‹ zu generieren suchte, indem er indigene Personen als zivilisationsfern darstellte und bewusst ›westliche‹ Objekte aus seinen Fotografien entfernte,16 unterläuft das Poster in Abbildung 5 bewusst diese Darstellungsstrategie: die Pose mit der Kalaschnikow17 repräsentiert indigenen Widerstand nicht nur gegen die Alterisierung und Konservierung durch die stereotypisierenden Fotografien, sondern auch gegen den US-Imperialismus. Obwohl Onco mit der auf dem Poster zu sehenden Waffe keinen Schuss abgegeben hatte und nicht einmal im Besitz von Munition gewesen war, suggerierten konservative Zeitungen, er hätte die Waffe aus der Volksrepublik China als Schmuggelware erhalten und sei Kommunist. Es stellte sich heraus, dass er die AK-47, wie unter Veteranen üblich, als ›Andenken‹ aus Vietnam mitgebracht hatte (Holm 1996: 177). Das Poster eines indigenen Mannes, der ein automatisches Gewehr emporhält, führt den Betrachter*innen deutlich die Fantasien der durch Curtis propagierten Stereotype von Ureinwohnern als friedliebenden ›noble savages‹ vor Augen und ›ent-täuscht‹ rassistische Vorstellungen von indigener Passivität angesichts eines von Curtis ästhetisierten Genozides (McNeil 2009: 118). Während Curtis’ Fotografien Ureinwohner im Moment ihres angeblichen Verschwindens zeigen, evozieren die Bilder von der Besetzung in Wounded Knee 16 | Ein bekanntes Beispiel für Curtis’ Manipulationen ist »In a Piegan Lodge« von 1911, welches zwei indigene Personen mit verschiedenen Alltagsgegenständen zeigt. Im Originalbild findet sich ein Wecker, der im veröffentlichten Band jedoch herausgeschnitten wurde. 17 | Die Kalaschnikow war in den 1960er Jahren ein beliebtes Symbol antikolonialistischen Widerstands, welches sich u.a. auf Postern kubanischen, russischen, chinesischen und vietnamesischen Ursprungs, aber auch in der Black-Power-Bewegung findet.
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nicht nur einen »sense of presence« (Vizenor 2000) oder eine Form von »active presencing« (Tatschner 2015: 11), sondern auch einen auf die Mobilität der Fotokamera zurückzuführenden »sense of urgency« (Sontag 2003: 24). Abb. 5: Poster »Remember Wounded Knee«, zwischen 1973 und 1980.
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Inter ventionen im Archiv Der materielle Lebenszyklus der in diesem Artikel diskutierten Poster endet jedoch nicht mit der allmählichen Auflösung des American Indian Movement. Die Poster haben neben den Fotografien von Edward S. Curtis Eingang in die Archive gefunden,18 wodurch stereotype Repräsentationen von Ureinwohnern als kolonialistisch entlarvt werden und andere Bilder im Sinne einer Umgestaltung des Archivs an ihre Stelle treten. Somit handelt es sich dabei um eine sprichwörtliche Intervention im Archiv (Lidchi/Tsinhnahjinnie 2009a: xvii), die dabei helfen kann, kollektive Gedächtnisse nachhaltig umzuformen: »[f]or Native communities, archives formerly identified as a place of subjugation are now more frequently the sites of reclamation and retrieval« (Lidchi/Tsinhnahjinnie 2009a: xvii). Die Strategien der (Re-)Appropriation erfolgen auf zwei verschiedenen Ebenen, die Taylor als »Repertoire« und »Archive« bezeichnen würde und welche als miteinander verschränkt gedacht werden müssen. Erstens haben die Aktivist*innen des American Indian Movement das Wissen, welches sie sich als Soldaten in Vietnam angeeignet hatten, gegen das gewaltsame Vorgehen von Polizei und FBI eingesetzt, mit dem Ziel, Kolonialismus und Imperialismus mit den eigenen Mitteln zu bekämpfen. Zweitens fand der Protest unter der Verwendung von politischen Postern statt, die sich als ›Straßenkunst‹ von einem traditionellen, elitär geprägten Kunstbegriff lösten und frühere stereotype fotografische Repräsentationen subvertierten. Menschen indigener Herkunft haben also einen Raum geschaffen, in dem dominante Narrative und Repräsentationen immer wieder von neuem subvertiert werden.
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Autorinnen und Autoren
Aida Bosch lehrt und forscht am Institut für Soziologie der FAU Erlangen Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie und -theorie, Materielle Kultur, Ritualtheorie, Visuelle Soziologie, symbolische Praxis. Aktuelle Publikation: Bosch, Aida/Pfütze, Hermann (Hg.) Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung (Springer VS, 2018). Carmen Brosig ist Doktorandin am Lehrstuhl für Amerikanistik der FAU Erlangen-Nürnberg. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit visueller Protestkultur ethnischer Minderheiten in den USA im Kontext des Vietnamkrieges. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Chicano/a und Latino/a Studies, Affekt- und Emotionstheorie sowie soziale Bewegungen der Sechziger Jahre. Aktuelle Veröffentlichung: »›Branches of the Same Tree‹: Chicano/a Vietnam Solidarity and the Making of Aztlán« in: Lösch, Klaus; Paul, Heike; Zwingenberger, Meike (Hg.): Critical Regionalism (Universitätsverlag Winter, 2016). Marie-Kristin Döbler absolvierte ihren Bachelor of Social Science an der Open University (Milton Keynes/Newcastle, UK) und ihren Master in Soziologie an der Ludwig-Maximilians Universität München, wo sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Für ihr Promotionsprojekt zum Thema NichtPräsenz in Paarbeziehungen wechselte sie an die FAU Erlangen-Nürnberg. Gegenwärtig arbeitet sie in einem vom Bayrischen Staatsministerium geförderten Projekt über Lebensqualität in Alten(pflege)heimen. Aktuelle Veröffentlichungen: Sebald/Döbler (Hg.): »(Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse« (Springer VS). Weitere Beiträge befinden sich im Erscheinen, so z.B. »Paare, Bilder und Blicke« in Wissensrelationen (Beltz Juventa) und »Copresence and Family« in Family and Space (Routledge/Taylor & Francis). Juliane Engel ist Akademische Rätin a.Z. am Lehrstuhl für Kultur und ästhetische Bildung der FAU Erlangen-Nürnberg und ehemalige Postdoktorandin des DFG-Graduiertenkollegs »Präsenz und implizites Wissen«. Ihre Arbeits- und
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Forschungsschwerpunkte: Relationale Raumtheorien: Glokalisierte Lebenswelten von Jugendlichen; Postkoloniale Theorien der Differenz, (Ästhetische) Theorien der Subjektivierung, Materialitätstheoretische Zugänge zu Lern- und Bildungsprozessen. Jüngste Veröffentlichung: »Zum sichtbar Unsichtbaren. Relationale Praktiken der Subjektivation in der Videografieforschung«, in: Chr. Demmer, T. Fuchs, R. Kreitz & Chr. Wiezorek (Hg.), Das Erziehungswissenschaftliche qualitativer Forschung (Barbara Budrich, 2018). Lorenz Engell ist Film- und Fernsehwissenschaftler, Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar sowie Co-Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (Käte Hamburger Kolleg IKKM). Forschungsarbeiten zur Philosophie des Fernsehens und des Films, zur Medienanthropologie, zu operativen Ontologien, zum Mediozän; jüngste Veröffentlichung: »Versetzungen. Das Diorama als Ontographische Apparatur«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 8/2 (2017). Mareike Gebhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der FAU Erlangen-Nürnberg. Förderung durch Emerging Talents Initiative und ehemalige Postdoktorandin des DFG-Graduiertenkollegs 1718. Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Politische und soziologische Theorie, radikale Demokratietheorie, Alterität/Fremdheit und Fluchtforschung. Ihre politikwissenschaftliche Promotion ist unter dem Titel »Politisches Handeln in der postdemokratischen Konstellation. Radikale Demokratietheorie nach Hannah Arendt und Jürgen Habermas« (Nomos 2014) erschienen. Ihre aktuellen Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Alteritätskonstruktionen und Grenzziehungen in liberaldemokratischen Rahmungen, so z.B. »Zwischen Repräsentation und (Real-)Präsenz. Populistische Intervalle und demokratische Temporalstrukturen aus politiktheoretischer Perspektive«, in diskurs 3 (2018). Thomas Khurana ist Heisenberg-Stipendiat am Department of Philosophy der Yale University und Lecturer in Philosophy an der University of Essex. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen: Das Leben der Freiheit. Form und Wirklichkeit der Autonomie (Suhrkamp 2017); Negativität. Kunst – Recht – Politik, hg. gemeinsam mit D. Quadflieg u.a. (Suhrkamp 2018); »Die Kunst der zweiten Natur und die andere Natur der Kunst«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66: 3 (2018). Kay Kirchmann, Lehrstuhl für Medienwissenschaft, FAU Erlangen-Nürnberg, agierte als stellvertretender Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 1718 »Präsenz und implizites Wissen«. Forschungsschwerpunkte: Medialität und Temporalität; Kultur- und Wahrnehmungsgeschichte der Bildmedien; Medientheo-
Autorinnen und Autoren
rie. Aktuelle Publikation: »Sounds and Vision. Geräusche in Jacques Tatis ›Les vacances de M. Hulot‹ und David Lynchs ›Eraserhead‹. In: Sylvia Mieszkowski/ Sigrid Nieberle (Hg.): Unlaute. Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900. (transcript, 2017). Simon Layer promovierte am DFG-Graduiertenkolleg 1718 »Präsenz und implizites Wissen« im Fach Theologie mit einer Arbeit zu »Präsenz der Vollendung. Die transzendentale Bedeutung eschatologischer Hoffnung bei Moltmann und Adorno«; er studiert ev. Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Elke Möller arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt »Glokalisierte Lebenswelten: Rekonstruktion von Modi des ethischen Urteilens im sozialwissenschaftlichen Unterricht« an der FAU Erlangen-Nürnberg und ist ehemalige Kollegiatin des DFG-Graduiertenkollegs 1718 »Präsenz und implizites Wissen«; Forschungsschwerpunkte: Dokumentar- und Essayfilm, Medialität von individuellen und kollektiven Gedächtniskulturen, Theorien der Praxis, Videographie. Aktuelle Publikation: »Complexity ›before‹ Quality – Der Vorspann als Verweisspiel und strukturierendes Sinnbild von Serien« (zus. mit Christoph Ernst). Laura von Ostrowski studierte Indologie, Religionswissenschaft und Romanistik an der LMU München und war bis 2018 Stipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg »Präsenz und implizites Wissen« mit ihrem Promotionsprojekt »Das Yogasūtra als multimodale Wissensform im Ashtanga Yoga. Eine empirische Studie«. Ihre Forschungsinteressen sind: Yoga Studies, Religionsästhetik und Körperwissen. Aktuelle Publikation: »Somatische Religion. Ein postsäkulares Phänomen?«, in: Verwandlungen. Vom Über-Setzen religiöser Signifikanten in der Moderne (Hg. Stefanie Burkhardt und Simon Wiesgickl), erschienen bei Kohlhammer. Hans Ulrich Reck ist Philosoph, Kunsthistoriker, Kurator, Publizist und seit 1995 Professor für Kunstgeschichte im medialen Kontext an der Kunsthochschule für Medien Köln. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen und Kommunikationsdesign an der Universität/Gesamthochschule Wuppertal. Zentrale Arbeitsschwerpunkte betreffen das Spannungsfeld zwischen Kunst, Medien und visueller Kultur, die Kunst als Medientheorie, das Syndrom Kreativität sowie die Kulturgeschichte und das Begriffsfeld ›Traum‹. Zuletzt publizierte er: »Pier Paolo Pasolini – Poetisch Philosophisches Porträt« (Doppel-AudioCD 2012), »Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens« (2010).
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Zeitlichkeit und Materialität
Florian Tatschner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Amerikanistik an der FAU Erlangen-Nürnberg und ehemaliger Kollegiat des DFGGraduiertenkollegs 1718 »Präsenz und implizites Wissen«. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf poststrukturalistischen und postkolonialen Theorien, transnationalen Ansätzen innerhalb der American Studies sowie der Verhandlung des Potenzials einer Politik der Hoffnung in U.S. amerikanischen Diskursen. Seine Dissertation The Other Presences: Reading Literature Other-wise after the Transnational Turn in American Studies erscheint im Frühjahr 2019 bei Dartmouth College Press. Sein jüngster Aufsatz »Dekolonisierte Eschatologie: Ein Versuch der Veränderung christlicher Zeitlichkeitsvorstellungen« ist Anfang 2018 im Band Postkoloniale Theologien II: Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum (Hg. Andreas Nehring und Simon Wiesgickl) bei Kohlhammer erschienen. Laura Vorberg, Doktorandin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Medienkommunikation, medien- und kulturwissenschaftliche Wahlkampfforschung, US-amerikanischer Medienwahlkampf, (digitale) Medien- und Demokratieforschung aus systemtheoretischer Perspektive. Jüngste Veröffentlichung: »The Political Reality of the (Mass) Media? Twitter-Discourse on the Eighth Republican Presidential Primary Debate 2016 and the Effects on the Social and Public Memory« in (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse. Hg. Gerd Sebald und Marie Kristin Döbler (Springer VS 2018). Nicole Wiedenmann ist Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der FAU Erlangen Nürnberg. Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Kunst- und Medienwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Konstanz und Promotion mit Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes mit einem Dissertationsprojekt zur Revolutionsfotografie im 20. Jhd. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Fototheorie, -geschichte und -analyse, Medien und Kulturelles Gedächtnis, Politische Ikonographie, Visual History. Jüngste Veröffentlichungen: »Mediengeschichte und/als Sozialgeschichte in der TV-Serie DOWNTON ABBEY«, in: E. Lersch/R. Viehoff (Hg.), SPIEL. Eine Zeitschrift für Medienkultur. Sonderheft zum Thema »Geschichte als TV-Serie/History as TV-serial« (2016). Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert – Zwischen Dokumentation, Agitation und Memoration (Herbert von Halem, erscheint 2019). Isa Wortelkamp, Tanz- und Theaterwissenschaftlerin, Heisenberg-Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Tanzfotografie der Moderne, Aufführungs- und Bewegungsanalyse, Interferenzen von künstlerischen
Autorinnen und Autoren
und wissenschaftlichen Verfahren des Tanzes und des Theaters. Veröffentlichungen: Expanded Writing (Revolver, 2018, Herausgabe gemeinsam mit Daniela Hahn, Juliane Laitzsch und Sophia New), Tanzfotografie – Historiografische Reflexionen der Moderne (transcript, 2015, Hg. gemeinsam mit Tessa Jahn und Eike Wittrock), Bewegung Lesen. Bewegung Schreiben (Revolver, 2012, Hg.), Das Buch der Angewandten Theaterwissenschaft, (Alexander, 2012, Hg. gemeinsam mit Annemarie Matzke und Christel Weiler). Christoph Wulf ist Professor für Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität Berlin; Autor, Koautor und Herausgeber zahlreicher Bücher mit Übersetzungen in mehr als fünfzehn Sprachen; Vizepräsident der Deutschen UNESCO und verschiedene Gastprofessuren in allen Teilen der Welt. Forschungsschwerpunkte: Historisch-kulturelle Anthropologie, Pädagogische Anthropologie, ästhetische und interkulturelle Bildung, Performativitäts- und Ritualforschung, Emotionsforschung, Mimesis- und Imaginationsforschung. Publikationen (Auswahl): Anthropology. A Continental Perspective (U of Chicago P, 2013), Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur (transcript, 2014), (Hg.) Exploring Alterity in a Globalized World (Routledge, 2016) oder Begegnungen mit dem Anderen. Orte, Körper und Sinne im Schüleraustausch (Waxmann, 2018); sein aktuelles Buch Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän befindet sich im Druck. Yasemin Yilmaz studierte Soziologie und Anglistik an der FAU Erlangen-Nürnberg und war bis 2018 Stipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg »Präsenz und implizites Wissen«. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der soziologischen Theorie und der Arbeitssoziologie. Aktuelle Veröffentlichung: »Die affektive Seite des Interaktionsrituals. Emotionen und Hintergrundaffekte in Durkheims zentralen Konzepten der sozialen Tatsache und der kollektiven Efferveszenz«, in: Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen (Hg. Larissa Pfaller und Basil Wiese, Springer, 2018). Anna Zeitler, Doktorandin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg, Forschungsschwerpunkte: Medien- und Fernsehtheorie, Medienereignisse und digitale/soziale Medien. Promotionsprojekt zum Thema »Störung der Bilder – Bilder der Störung. Das Medienereignis zwischen Fest und Katastrophe«. Aktuelle Publikation: »#MediatedMemories: Twitter und die Terroranschläge von Paris im kollektiven Gedächtnis«, in: Gerd Sebald/Marie-Kristin Döbler (Hg.), (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse (Springer, 2018).
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de