Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat: Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Stephan Kirste / Helen Brugger [1 ed.] 9783428540969, 9783428140961

Der Band enthält Untersuchungen zu zentralen Fragen des liberal-kommunitaristischen Rechtsstaats und legt zugleich Zeugn

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German Pages 402 Year 2013

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Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat: Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Stephan Kirste / Helen Brugger [1 ed.]
 9783428540969, 9783428140961

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1252

WINFRIED BRUGGER

Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat Gesammelte Aufsätze Herausgegeben von Stephan Kirste Helen Brugger

Duncker & Humblot · Berlin

WINFRIED BRUGGER

Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1252

WINFRIED BRUGGER

Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat Gesammelte Aufsätze

Herausgegeben von Stephan Kirste Helen Brugger

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14096-1 (Print) ISBN 978-3-428-54096-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84096-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort „Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat“ ist eine Sammlung von Aufsätzen Winfried Bruggers aus den Jahren 1998 bis zu einem nach seinem Tod erschienenen Beitrag über Georg Jellinek. Die Arbeiten wurden noch von ihm selbst für die Veröffentlichung bestimmt. So hat die Sammlung auch den Charakter eines wissenschaftlichen Vermächtnisses seines breiten rechtsphilosophischen, verfassungsrechtlichen und verfassungsvergleichenden Schaffens. Entsprechend wurden die Aufsätze auf dem rechtlichen und sachlichen Stand ihrer Erstveröffentlichung belassen. Die Herausgeber danken Herrn Dr. Florian Simon für die Aufnahme dieses Bandes in das Programm des Verlages Duncker & Humblot, womit auch noch einmal die jahrelange gute Zusammenarbeit gewürdigt wird. Besonderer Dank gilt der langjährigen „Lehrstuhlmanagerin“ Winfried Bruggers, Frau Ingrid Baumbusch, die mit der bewährten Sorgfalt auch diese Texte noch einmal für die Veröffentlichung durchgesehen hat. Heidelberg und Salzburg im März 2013

Helen Brugger und Stephan Kirste

Inhaltsverzeichnis Einleitung. Von Stephan Kirste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Teil 1: Integration zwischen Abstraktion und Konkretion § 1 Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

I. Das anthropologische Kreuz der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

II. Menschenwürdetheorien: ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1. Würde vom Einzelwesen Mensch oder der Menschheit her gesehen . . . . . . .

40

2. Würde als Ergebnis sozialer Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

III. Zur Integrationsleistung des Kreuzes der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

IV. Vom Aktionskreuz zum Interaktionskreuz der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . .

47

V. Die kulturelle Umformung von Aktion und Interaktion im Kreuz der Entscheidung: Enkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

VI. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

I. Charakterisierung und normativer Status des Begriffs Gemeinwohl . . . . . . . . . .

61

II. Das Gemeinwohl und die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates . . . . . .

66

1. Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

2. Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

3. Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

4. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

8

Inhaltsverzeichnis III. Prozeduren der Gemeinwohlkonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

IV. Ebenen der Gemeinwohlverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

V. Zum Verhältnis der Gemeinwohlelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . .

82

I. Geschichte und Positivierung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

II. Von fundamentalen Interessen zum Menschenbild der Menschenrechte . . . . . . .

87

III. Das Menschenbild der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

1. Eigenständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

2. Sinnhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

3. Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

4. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

5. Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

IV. Funktionsweisen der Menschenbildformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Teil 2: Kommunikation zwischen Integration und Konfrontation § 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche: Von strikter Trennung und Distanz über gegenseitiges Entgegenkommen bis zu Nähe, Unterstützung und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

I. Zur Verbindung von Religionsverfassungsrecht und Staatskirchenrecht in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

II. Staat-Kirche-Modelle in Konkurrenz zu Scheidung, Religionsfreiheit und Religionsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

III. Scheidungs- und Trennungsmodelle von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen und die Unterstützung von Religionen in den Scheidungsmodellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

V. Rücksichtnahme auf prägende religiöse Landschaft und deren staatliche Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Inhaltsverzeichnis

9

§ 5 Kants System der Redefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

I. Unstreitiges und Streitiges bei der Redefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

II. Funktionen von Redefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

III. Das Menschenrecht auf Mitteilungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146

IV. Das Bürgerrecht auf politische Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

V. Das Weltbürgerrecht auf freien öffentlichen Vernunftgebrauch . . . . . . . . . . . . . .

154

VI. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

Anhang: Tabelle zum System der Redefreiheit bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

§ 6 Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

I. Streit um die rechtliche Einordnung von Hassrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

II. Das anwendbare Recht und die Abwägungsregeln des BVerfG . . . . . . . . . . . . .

168

III. Analyse streitiger Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

1. Beleidigung von einzelnen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

2. Kollektivbeleidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

3. Einfache und qualifizierte Holocaust-Lügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

I. Aggressive Rede: Der Härtetest für Liberalismus und Meinungsfreiheit . . . . . .

201

II. Strukturierung der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

III. Argumente für einen Vorrang von aggressiver Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206

IV. Argumente für eine Beschränkung von aggressiver Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

V. Aggressive Rede als Beispiel für den Kampf zwischen Liberalismus und Kommunitarismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224

10

Inhaltsverzeichnis Teil 3: Europäische Integration in Statuslehre und Kommunitarismus

§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international. Eine Würdigung und Aktualisierung anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 2011 . . . . . . . . . . . . .

237

I. Vorteile und Nachteile des Klassikerstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

II. Die Sichtweise der juristischen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

III. Zweck, Wert, Gemeinschaft, Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

240

IV. Rechtsethik und Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

V. Zunehmende Subjektivierung und Individualisierung als Bewegung der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

VI. Die Formulierung der Statuslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

VII. Analyse der Statuslehre im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

248

1. Funktionale Sichtweise von staatlicher Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

248

2. Vom Lebensschutz zum komplexen Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . .

249

3. Vom Freiheitsverständnis zum Gleichheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

4. Problem – Lösung, Fortschritt – Kontingenz – Entwicklung, subjektive und objektive Garantien im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

252

VIII. Status vor dem modernen Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

IX. Statusverhältnisse unterhalb der Staatsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

X. Neue Status: Status culturalis und oecologicus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

1. Exklusivität der vier Status? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

2. Status oecologicus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

262

3. Status culturalis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

XI. Status oberhalb des Staates: Status europaeus und Status universalis? . . . . . . . .

266

1. Vom Staat zur Staatengemeinschaft und zum Staatensystem . . . . . . . . . . . . .

266

2. Souveränität zu stark, zu schwach, zu partikularistisch . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

XII. Schaubild: Eine aktualisierte Version von Georg Jellineks Statuslehre . . . . . . . .

273

Inhaltsverzeichnis

11

§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus und zu seiner Bedeutung für die Verfassung Deutschlands und Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

I. Entstehung und Autoren des Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

II. Drei Kernpunkte des Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus . . . . . . . . . . .

279

IV. Menschenbild, Gesellschafts- und Staatsverständnis in der liberalen Erfahrung und in der liberalen Gesellschaftsvertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282

V. Die kommunitaristische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

284

VI. Kommunitarismus und Einigung Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Teil 4: Hard Cases § 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

I. Vormoderne Sichtweisen von Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

308

II. Moderne Staatszwecklehren in der Gesellschaftsvertragstheorie . . . . . . . . . . . .

316

III. Wandlungen von Polizei, Rechtsstaat und Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324

IV. Anschlussfähigkeit des klassischen Theorierahmens für die Ordnungsprobleme der Gegenwart? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

V. Freiheit und Sicherheit im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

VI. Das Beispiel Volksverhetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

VII. Das Beispiel Parteiverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

341

§ 11 Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das Kreuz in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . .

348

I. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihre leitenden Prämissen

348

II. Kommunitarismus und Liberalismus oder Kommunitarismus gegen Liberalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

356

12

Inhaltsverzeichnis III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus . . . . . . . . . . .

360

1. Menschenbild, Gesellschafts- und Staatsverständnis in der liberalen Erfahrung und in der liberalen Gesellschaftsvertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

360

2. Die kommunitaristische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363

IV. Zur Neutralität des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

1. Der neue Rawls und der Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

2. Das Beispiel Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

380

3. Das Beispiel weltanschaulich-religiöse Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

§ 12 Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter? . . . . . . . . . . .

391

I. Was sagen die Rechtsnormen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392

II. Die Antwort des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

III. Ein zweiter Blick auf die Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

394

IV. Der Grundvertrag zwischen Bürger und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

V. Dammbruch nach innen und außen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

397

VI. Deontologie versus Konsequentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399

VII. Weitere Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399

VIII. Zur Rolle der Polizisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

400

Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

401

Einleitung Von Stephan Kirste Das Werk Winfried Bruggers ist breit angelegt. Facettenreich sind die behandelten rechtsphilosophischen, staatstheoretischen und rechtdogmatischen Fragen. Interdisziplinär ist die Analyse der Einflussfaktoren auf das positive Recht. Pluralistisch, integrativ und zugleich streng systematisierend sind die philosophischen Konzepte, die Brugger zur Bewältigung dieser Fragen heranzieht. Das weite Spektrum der von ihm behandelten rechtsphilosophischen Fragen1 reichte von der Methodenlehre des Rechts2 über die Menschen-3 und Grundrechte4 1 Dies zeigte sich etwa bei der Konzeption des Sammelbandes Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2. Auflage Frankfurt/Main 2009, hrsg. v. Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. 2 Winfried Brugger, Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, Heidelberg 1991; ders., Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts. Neue Fassung 42 (1994), S. 571 – 593; ders., Legal Methods, Schools of Jurisprudence, and Anthropology. Some Remarks From a German Point of View, in: American Journal of Comparative Law 42 (1994), S. 395 – 421, Nachdruck (gekürzt) in: Mary Ann Glendon/Michael W. Gordon/Christopher Osakwe, Comparative Legal Traditions: Text, Materials and Cases on the Civil Law, Common Law, and Socialist Law Traditions, 2nd ed. 1994, S. 230 – 241, Nachdruck (gekürzt) in: Norman Dorsen/Michel Rosenfeld/András Sajó/Susanne Baer, Comparative Constitutionalism, St. Paul, Minn. 2003, S. 143 – 147; ders., Konkretisierung des Rechts und Methoden der Auslegung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), S. 1 – 34. 3 Winfried Brugger, Menschenrechtsethos und Verantwortungspolitik. Max Webers Beitrag zur Analyse und Begründung der Menschenrechte, Freiburg/München 1980; ders., Sozialwissenschaftliche Analyse und menschenrechtliches Begründungsdenken. Eine Skizze im Anschluß an Max Webers Werk, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 356 – 377; ders., Max Weber und die Menschenrechte als Ethos der Moderne, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl/Straßburg 1981, S. 223 – 240; ders., Max Weber and Human Rights as Ethos of the Modern Era, in: Philosophy and Social Criticism, vol. 9 (1982), S. 257 – 280; ders., Können Utilitaristen subjektive Rechte ernst nehmen?, in: Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für Erich Heintel zum 70. Geburtstag, hrsg. von Herta Nagl-Docekal, Wien 1982, Band 2, S. 213 – 227; ders., Menschenrechte im modernen Staat, in: Archiv des öffentlichen Rechts 114 (1989), S. 537 – 588; ders., Stufen der Begründung von Menschenrechten, in: Der Staat 31 (1992), S. 19 – 38; ders., Menschenrechte von Flüchtlingen in universalistischer und kommunitaristischer Sicht, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 80 (1994), S. 318 – 334; ders., Das Menschenbild der Menschenrechte, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), S. 121 – 134; ders., Der Schutz körperlicher Unversehrtheit im Menschenbild der Menschenrechte, in: Sibylle van der Walt/Christoph Menke (Hrsg.), Die Unversehrtheit des Körpers. Geschichte und Theorie eines elementaren Menschenrechts, Frankfurt/New York

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Stephan Kirste

bis zum Gemeinwohl.5 Schon hier wird die Amerikaorientierung Bruggers offenbar6, die zum US-amerikanischen Verfassungsrecht als einem seiner Arbeitsschwerpunkte und zu seiner Anerkennung als hochkompetenter Experte in diesem Bereich führte.7 2007, S. 237 – 252; Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten, in: Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hrsg.), Vom Rechte, das mit uns geboren ist. Aktuelle Probleme des Naturrechts, Freiburg i. Br. 2007, S. 216 – 247. 4 Winfried Brugger, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Archiv des öffentlichen Rechts 108 (1983), S. 25 – 67; ders., Elemente verfassungsliberaler Grundrechtstheorie, in: Juristenzeitung 1987, S. 633 – 640; ders., Angloamerikanischer Einfluß auf die Grundrechtsentwicklung in Deutschland, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX: Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg, 3. Auflage 2011, S. 121 – 186. 5 Winfried Brugger/Michael Anderheiden/Stephan Kirste (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002; Winfried Brugger, Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht, in: Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 45 – 72; ders., Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht an der Jahrtausendwende. Das Beispiel Europäische Gemeinschaft, in: Peter-Christian MüllerGraff/Herbert Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft. Signaturen und Herausforderungen zum Jahrtausendbeginn, Heidelberg 2001, S. 15 – 34; ders., Gemeinwohl – material und prozedural, in: Stefan Gosepath/Jean-Christoph Merle (Hrsg.), Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, München 2002, S. 23 – 38 und zuletzt: ders., Gemeinwohl im Kontext des modernen Staates, in: Rolf Gröschner/Oliver Lembcke (Hrsg.), Freistaatlichkeit. Prinzipien eines europäischen Republikanismus, Tübingen 2011, S. 139 – 162. 6 Dies zeigt sich etwa in der Habilitationsschrift: Winfried Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Tübingen 1987; ferner: ders., Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage München 2001; ders., Persönlichkeitsentfaltung als Grundwert der amerikanischen Verfassung. Dargestellt am Beispiel des Streits um den Schutz von Abtreibung und Homosexualität, Heidelberg 1994; ders., Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, Berlin 2002; ders., Verfassungsgerichtspolitik à la USA, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1987, S. 52 – 61; ders., Recht und Rasse in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, in: Juristenzeitung 1989, S. 809 – 817. Nachdruck in: Mannheimer Hefte 36 (1989), S. 39 – 50; ders., Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, in: Ralf Dreier, (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft Nr. 37), Stuttgart 1990, S. 173 – 192; ders., Ein amerikanischer Vorschlag zur Kontrolle von Diätenerhöhungen, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1992, S. 321 f.; ders., Neuere Entwicklungen in der Abtreibungsrechtsprechung der USA, in: Juristenzeitung 1992, S. 911 f.; ders., Amerikanische Verfassungstheorie, in: Der Staat 39 (2000), S. 425 – 453; ders., Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen Verfassung und des Grundgesetzes, in: Archiv des öffentlichen Rechts 126 (2001), S. 337 – 402; ders., Die US-Verfassung im Vergleich zum Grundgesetz, in: Knud Krakau/Franz Streng (Hrsg.), Konflikt der Rechtskulturen? Die USA und Deutschland im Vergleich. American and German Legal Cultures. Contrast, Conflict, Convergence? Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2003, S. 49 – 66; ders., Comment on Roger Errera, Freedom of Speech in Europe and in the USA, and on Frederick Schauer, Freedom of Expression Adjudication in Europe and in the United States: A Case Study in Comparative Constitutional Architecture, in: Georg Nolte (ed.), European and US Constitutionalism (Collection Science and Technique of Democracy, No. 37, Council of Europe Publishing), 2005, S. 69 – 74. 7 Aber nicht nur zu Rechtsfragen; vielmehr war ihm die amerikanische Kultur insgesamt ein Anliegen, Ludwig Leyendecker/Chuck Abernathy, In Memoriam Winfried Brugger, in: DAJVNewsletter 2011, S. 2 f.

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Es waren vor allem die Freiheit der Rede und die Freiheit der Meinung, die Brugger durch sein Werk hindurch beschäftigten.8 Daneben und auch in Spannung hierzu untersuchte er die Bedeutung der Menschenwürde für die Fundierung des Rechts.9 In 8 Winfried Brugger, Meinungsfreiheit im Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Johannes Schwartländer/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, Kehl/Straßburg 1986, S. 219 – 245; ders., Freiheit der Meinung und Organisation der Meinungsfreiheit. Eine liberale Konzeption der geistigen Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 GG, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1987, S. 189 – 200, 225 – 236; ders., Der Kampf der Meinungen, in: Johannes Schwartländer/Eibe Riedel (Hrsg.), Neue Medien und Meinungsfreiheit im nationalen und internationalen Kontext, Kehl am Rhein/ Straßburg 1990, S. 143 – 168; ders., Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur Redefreiheit, in: Hans-Joachim Cremer u. a. (Hrsg.), Der Staat als Mitglied der völkerrechtlichen Staatengesellschaft und der Europäischen Union. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u. a. 2002, S. 681 – 702; ders., Ban on or Protection of Hate Speech? Some Observations Based on German and American Law, in: Tulane European and Civil Law Forum 17 (2002), S. 1 – 21; ders., The Treatment of Hate Speech in German Constitutional Law, in: Eibe Riedel (ed.), Stocktaking in German Public Law. German Reports on Public Law. Presented to the XVI. International Congress on Comparative Law, Brisbane, 14 to 20 July 2002, 2002, S. 117 – 151; ders., Verbot oder Schutz von Haßrede? Ein Streit zwischen Deutschland und Amerika, in: Newsletter der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung (DAJV) 27 (2002), S. 33 – 37; ders., Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht, in: Der Staat 42 (2003), S. 77 – 109; ders., Verbot oder Schutz von Haßrede? Ein Konflikt zwischen Deutschland und Amerika, in: Jus humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, hrsg. von Dieter Dölling, 2003, S. 383 – 397; ders., Verbot oder Schutz von Haßrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Verfassungsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), S. 372 – 411; ders., Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Ein Streit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts N.F. 52 (2004), S. 513 – 556; ders., Comment on Roger Errera, Freedom of Speech in Europe and in the USA, and on Frederick Schauer, Freedom of Expression Adjudication in Europe and in the United States: A Case Study in Comparative Constitutional Architecture, in: Georg Nolte (ed.), European and US Constitutionalism (Collection Science and Technique of Democracy, No. 37, Council of Europe Publishing), 2005, S. 69 – 74; ders., Haßrede, Beleidigung, Volksverhetzung, in: Juristische Arbeitsblätter 2006, S. 687 – 692; ders., Protection or Prohibition of Aggressive Speech? Arguments from the Liberal and Communitarian Perspectives, in: Paul van Seters (ed.), Communitarianism in Law and Society, 2006, S. 163 – 200; ders., Artikel Meinungsfreiheit, in: Stefan Huster/Reinhard Zintl (Hrsg.), Verfassungsrecht nach 60 Jahren. Das Grundgesetz von A bis Z, Baden-Baden 2009, S. 111 – 117; ders., Schutz oder Verbot von Hassrede? Ein Streit zwischen Amerika und Deutschland, in: Philipp Gassert/Detlef Junker/ Wilfried Mausbach/Martin Thunert (Hrsg.), Was Amerika ausmacht. Multidisziplinäre Perspektiven, Stuttgart 2009, S. 115 – 128. 9 Winfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, Baden-Baden 1997; ders./Heiner Bielefeldt/Klaus Dicke, Recht und Würde des Menschen. Johannes Schwartländer zum 70. Geburtstag, Würzburg 1992; ders., Pluralismus und Menschenwürde im Werk von William James, in: Heiner Bielefeldt/Winfried Brugger/Klaus Dicke (Hrsg.), Würde und Recht des Menschen. Festschrift für Johannes Schwartländer, Würzburg 1992, S. 15 – 34; ders., Menschenwürde im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, in: Jahrbuch des öffentliches Rechts. Neue Folge, Band 56 (2008), S. 95 – 124; ders., Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung, in: Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hrsg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, Freiburg/Basel/Wien 2008, S. 49 – 93; ders., Menschenwürde aus dem Blickwinkel des anthropologischen Kreuzes der Ent-

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der Staatstheorie ging es ihm vor allem um die philosophische Legitimation der Verfassung10, die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit11, das Staat-KircheVerhältnis12 etwa beim Problem des Kreuzes in der Schule13 und die Frage der Vereinbarkeit oder des Antagonismus zwischen Freiheit und Sicherheit.14 Bruggers scheidung, in: Matthias Jung/Hans Joas (Hrsg.), Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, Baden-Baden 2008, S. 19 – 50; ders., Würde, Freiheit und Verantwortung im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, in: Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf (Hrsg.), Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, Heidelberg 2010, S. 345 – 375; ders., Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, in: Carl Friedrich Gethmann/J. Carl Bottek/S. Hiekel (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Kolloquienbeiträge des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie vom 15.–19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen, Hamburg 2011, S. 331 – 348. 10 Winfried Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 1996. 11 Brugger (Fn. 6) 1987; ders., Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1994), S. 319 – 347; ders., Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v. Madison, in: Werner Kremp (Hrsg.), 24. Februar 1803. Die Erfindung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Folgen, 2003, S. 9 – 22; ders., Der Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Marbury v. Madison, in: Newsletter der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung 28 (2003), S. 10 – 16; ders., Der Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Marbury v. Madison, in: Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker, hrsg. von Manfred Berg/Philipp Gassert, 2004, S. 115 – 136. 12 Winfried Brugger/Michael Karayanni (eds.), Religion in the Public Sphere. A Comparative Analysis of German, Israeli, American and International Law, Berlin 2007; Winfried Brugger, Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche: Von strikter Trennung und Distanz über gegenseitiges Entgegenkommen bis zu Nähe, Unterstützung und Kooperation, in: Archiv des öffentlichen Rechts 132 (2007), S. 4 – 43; ders., Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation. Staat-Kirche-Modelle und ihr Verhältnis zur Religionsfreiheit, in: Hans Joas/ Klaus Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, S. 253 – 283; ders., Trennung, Gleichheit, Nähe. Drei Staat-Kirche-Modelle, in: Astrid Reuter/Hans G. Kippenberg (Hrsg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, Göttingen 2010, S. 119 – 143; ders., Distanz, Gleichheit, Nähe. Drei Staat-Kirche-Modelle (in russischer Sprache), in: Religiovedenie 2009, Heft 4, S. 135 – 143; ders., Die Staat-Kirche-Modelle von Trennung, Gleichheit und Nähe, in: Coexistence, Cooperation and Solidarity. Liber Amicorum Rüdiger Wolfrum, Volume II, hrsg. von Holger P. Hestermeyer/Doris König/Nele Matz-Lück/Volker Röben/Anja Seibert-Fohr/ Peter-Tobias Stoll/Silja Vöneky, Leiden 2012, S. 1897 – 1908. 13 Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, Baden-Baden 1998; Winfried Brugger, Das Kreuz in der Schule aus kommunitaristischer Sicht, in: ZiF-Mitteilungen 3/1997, S. 9 – 14; ders., Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das Kreuz in der Schule, in: Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule – Zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, Baden-Baden 1998, S. 109 – 154; ders., Liberaler Kommunitarismus im Grundgesetz. Eine Theorieskizze und das Kreuz in der Schule als praktisches Beispiel, in: Waldemar Schreckenberger (Hrsg.), Die Idee des Rechts und soziale Verantwortung als Handlungsgrundlage der modernen Staatenwelt, Speyer 2010 (Speyerer Arbeitshefte Nr. 199), S. 63 – 86. 14 Winfried Brugger, Freiheit und Sicherheit. Eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen, Baden-Baden 2004; ders., Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte

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Theorie „schwebte nicht über den Wassern“ des positiven Rechts, sondern berücksichtigte dieses bei der Theoriebildung. Rechtsdogmatisch befasste sich Brugger mit den Grundrechten und dem Polizeirecht15 oder staatlichen Ersatzleistungen.16 Seit 1994 berichtete er im Newsletter der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung laufend über neuere Entwicklungen der Rechtsprechung des U. S. Supreme Court. Ein beträchtlicher Teil seines Werks besteht in der eingehenden Auseinandersetzung mit anderen Denkern. Das betrifft nicht nur entsprechende Aufsätze, sondern auch eine Vielzahl von Rezensionen und Rezensionsabhandlungen, die Rückschlüsse über Einflüsse auf sein Werk zulassen. Für sich selbst hatte er früh begonnen, Exzerpte und Zusammenfassungen von klassischen Autoren der Rechts- und Sozialphilosophie anzulegen und darüber auch im Kreis von Freunden und Kollegen im Studium und seiner Assistenzzeit in Tübingen zu referieren. Daraus entstanden dann Besprechungen in Zeitschriften. Arbeiten von17 und über18 Klassiker der Rechtsphilosophie diskutierte er ebenso wie moderne deutsche19 und amerikanische Rechts-20 unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 63 (2004), S. 101 – 150. 15 Etwa: Winfried Brugger, Rasterfahndung im Rechtsstaat, in: Festschrift für Erik Jayme, hrsg. von Heinz-Peter Mansel u. a., Band II, 2004, S. 1037 – 1050. 16 Winfried Brugger, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch – Wildwuchs oder Baustein im System der Staatshaftung für rechtswidriges Verwaltungshandeln?, in: Archiv des öffentlichen Rechts 112 (1987), S. 389 – 448; ders., Verfassungswidrigkeit der planakzessorischen Enteignung nach § 85 Abs. 1 Nr. 1 und § 87 BBauG (=BauGB), in: Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht 1987, S. 60 – 65; ders., Zum Zusammenspiel von Prinzipien und Regeln im Bereich der Rechtsfortbildung. Das Beispiel Folgenbeseitigungsanspruch, in: Bernd Schilcher/Peter Koller/Bernd-Christian Funk (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 221 – 244. 17 Winfried Brugger, Wilhelm Henke, Recht und Staat, in: Juristenzeitung 1989, S. 482 f.; ders., Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 3. Auflage, in: Juristenzeitung 60 (2005), S. 565. 18 Winfried Brugger, Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechtsund Staatsphilosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), S. 409 – 411; ders., Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 74 (1988), S. 277 – 279; ders., Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 1989, S. 246 – 248; ders., Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, in: Juristenzeitung 1991, S. 918 f.; ders., Hans-Joachim Koch u. a. (Hrsg.), Theorien der Gerechtigkeit, in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), S. 490 – 493; ders., Walter Reese-Schäfer, Politische Theorie heute. Neuere Tendenzen und Entwicklungen, in: Der Staat 39 (2000), S. 625 f.; ders., Peter Niesen, Kants Theorie der Redefreiheit, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 93 (2007), S. 148 – 150. 19 Winfried Brugger, Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990), S. 491 – 495; ders., Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit. Defizite eines Begriffs, in: Juristenzeitung 1993, S. 354 f.; ders., Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Überlegungen zum Verhältnis von verfassungsrechtlicher Ausstrahlungswirkung und Eigenständigkeit des „einfachen“ Rechts, in: Der Staat 40 (2001), S. 489 – 492; ders., Armin Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? Zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts, in: Juristenzeitung 58 (2003), S. 144; ders., Winfried Hassemer, Erscheinungsformen des modernen Rechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts 133 (2008), S. 267 – 273.

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und Verfassungstheoretiker21, mit einer gewissen Vorliebe für liberale22 und kommunitaristische23 Autoren. Insbesondere Arbeiten zur Rechtsvergleichung mit dem amerikanischen Verfassungsrecht24, zu Menschenrechten25, Gerechtigkeit26, Staat20 Beispielsweise: Winfried Brugger, Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 67 (1981), S. 558 – 561; ders., Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, in: Philosophische Rundschau 30 (1983), S. 303 – 306; ders., Ronald Dworkin, Law’s Empire, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 73 (1987), S. 416 – 419. 21 Winfried Brugger, Bruce A. Ackerman, Social Justice in the Liberal State, in: Philosophische Rundschau 30 (1983), S. 282 – 291; ders., Bruce A. Ackerman, Reconstructing American Law, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1986, S. 157; ders., Terry Pinkard, Democratic Liberalism and Social Union, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 74 (1988), S. 418 – 420; ders., Philip Bobbitt, Constitutional Interpretation, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 79 (1993), S. 449 – 451; ders., David Beatty, Constitutional Law in Theory and Practice, in: American Journal of Comparative Law 46 (1998), S. 583 – 591; ders., Mark Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, in: Der Staat 39 (2000), S. 135 – 137. 22 Winfried Brugger, Gerald F. Gaus, The Modern Liberal Theory of Man, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), S. 407 – 409; ders., Gottfried Dietze, Reiner Liberalismus; ders., Konservativer Liberalismus in Amerika; ders., Liberaler Kommentar zur amerikanischen Verfassung, in: Juristenzeitung 1988, S. 1119 f.; ders., Wolfgang Kersting, Der liberale Liberalismus, in: Juristenzeitung 2006, S. 1120 f.. 23 Winfried Brugger, Charles E. Larmore, Patterns of Moral Complexity, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 76 (1990), S. 431 – 433; ders., Michael Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83 (1997), S. 451 – 454; ders., Amitai Etzioni (Hrsg.), The Essential Communitarian Reader, in: Der Staat 39 (2000), S. 311 – 314; ders., Philip Selznick, The Communitarian Persuasion, in: Der Staat 42 (2003), S. 149 – 152; ders., Thomas Mohrs (Morus?), Weltbürgerlicher Kommunitarismus. Zeitgeistkonträre Anregungen zu einer konkreten Utopie, in: Der Staat 44 (2005), S. 146 – 151. 24 Winfried Brugger, Peter Schulz, Ursprünge unserer Freiheit. Von der Amerikanischen Revolution zum Bonner Grundgesetz, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 437; ders., David S. Clark/Tugrul Ansay (eds.), Introduction to the Law of the United States, in: Neue Juristische Wochenschrift 1994, S. 1146; ders., Horst Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert: Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), S. 674 f.; ders., Vicki Jackson/Mark Tushnet, Comparative Constitutional Law, in: Der Staat 39 (2000), S. 484 – 486; ders., Lászlo Sólyom/Georg Brunner, Constitutional Judiciary in a New Democracy. The Hungarian Constitutional Court, in: Der Staat 40 (2001), S. 644 f.; ders., Ulrich Fülbier, Die Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika unter spezieller Berücksichtigung der jeweiligen Methodik der Verfassungsinterpretation, in: Die öffentliche Verwaltung 58 (2005), S. 309 f.; ders., Jeffrey Goldsworthy, ed., Interpreting Constitutions. A Comparative Study, in: Der Staat 45 (2006), S. 628 – 631; ders., Thomas Gerrith Funke, Die Religionsfreiheit im Verfassungsrecht der USA, in: Newsletter der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung (DAJV) 32 (2007), S. 52 f. 25 Winfried Brugger, Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 630 – 636; ders., Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 636 f.; ders., Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen, säkulare Gestalt, christliches Verständnis, in: Soziologische Revue 12 (1989), S. 402 – 404; ders., James Nickel, Making Sense of Human Rights. Philosophical Perspectives on the Universal Declaration of

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lichkeit27 und Staatsaufgaben28, zum Gemeinwohl29, der Verfassungsgerichtsbarkeit30 und immer wieder auch zu Grenzfragen des Rechts31 haben sein Interesse erregt; ebenso waren ihm die Werte, die nationale und supranationale Gesellschaften

Human Rights, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 75 (1989), S. 415 – 417; ders., Mary Ann Glendon, Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse, in: Juristenzeitung 1992, S. 411 f.; ders., Erhard Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz. Zwei Essays, in: Der Staat 33 (1994), S. 637 – 641; ders., Ralph Alexander Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, in: Der Staat 34 (1995), S. 619 – 621; ders., Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 124 (1999), S. 310 – 313; ders., Karl-Heinz Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation. Die Erzeugung von Sozialkapital durch Institutionen, in: Juristenzeitung 23 (2004), S. 1169 f.; ders., Albrecht Weber, Menschenrechte. Texte und Fallpraxis, in: Der Staat 44 (2005), S. 323; ders., Martin Hochhuth, Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, in: Die öffentliche Verwaltung 2008, S. 737 f. 26 Winfried Brugger, Hans-Joachim Koch u. a. (Hrsg.), Theorien der Gerechtigkeit, in: Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), S. 490 – 493; ders., Reinhold Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, in: Juristenzeitung 1994, S. 954 f.; ders., Christoph Demmerling/Thomas Rentsch (Hrsg.), Die Gegenwart der Gerechtigkeit. Diskurse zwischen Recht, praktischer Philosophie und Politik, in: Der Staat 35 (1996), S. 651 f.; ders., Micha Brumlik, Gerechtigkeit zwischen den Generationen, in: Der Staat 36 (1997), S. 309 – 312; ders., Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, in: Der Staat 37 (1998), S. 466 f.; ders., Rudolf Weiler/Akira Mizunami (Hrsg.), Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung. Die Tugend der Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung, in: Der Staat 40 (2001), S. 459 – 461; ders., Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, in: Juristenzeitung 57 (2002), S. 709; ders., Jean-Christophe Merle (Hrsg.), Globale Gerechtigkeit. Global Justice, in: Der Staat 46 (2007), S. 300 – 302. 27 Winfried Brugger, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, in: Juristenzeitung 63 (2008), S. 1043. 28 Winfried Brugger, Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts; ders. (Hrsg.), Staatsaufgaben, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 82 (1996), S. 139 – 143; ders., Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, in: Der Staat 38 (1999), S. 139 – 143; ders., Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat, im Bundesstaat und in der Europäischen Union, in: Der Staat 42 (2003), S. 473 – 477. 29 Winfried Brugger, Peter Koslowski (Hrsg.), Das Gemeinwohl zwischen Universalismus und Partikularismus, in: Der Staat 39 (2000), S. 307 – 311. 30 Winfried Brugger, Peter Lerche, Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderen Situationen, in: Der Staat 41 (2002), S. 656 – 658; ders., Astrid Hauser, Der Europäische Gerichtshof und der U.S. Supreme Court, in: Der Staat 47 (2008), S. 654 f. 31 Winfried Brugger, Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Rechtsstaat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, in: Der Staat 44 (2005), S. 155 – 158; ders., Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, in: Der Staat 45 (2006), S. 441 – 444; ders., Jens Eisfeld, Liberalismus und Konservativismus. Die USamerikanische Diskussion um die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen durch Gerichtsurteil, in: Juristenzeitung 2006, S. 963; ders., Josef Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, in: Der Staat 47 (2008), S. 130 – 132.

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zusammenhalten32, und damit einhergehend die Wirkungskreise der Rechtssoziologie33 und -politik34 ein Anliegen. Wiederholt besprach er Arbeiten des ihm in seiner enzyklopädischen Ausrichtung wissenschaftsverwandten Peter Häberle.35 Winfried Bruggers Rechts- und Staatsphilosophie will die Phänomene des modernen Verfassungsstaats westlicher Prägung, ausgehend vom Vergleich der positiven Rechtsordnungen, in ihrer moralisch-ideellen, sozialwissenschaftlich und anthropologisch realen und historischen Beeinflussung erfassen und ordnen. Bei aller Bedeutung des positiven Rechts und seiner wissenschaftlichen Bearbeitung durch die Rechtsdogmatik lässt sich das soziale Phänomen nur unter Berücksichtigung dieser vielfältigen Einflüsse verstehen. Dieses Verstehen bedeutet für ihn ebenfalls nicht einfach die Übernahme einer mit starken Wertungen verbundenen Philosophie oder Weltanschauung. In seinem vielgestaltigen Werk finden sich eingehende Auseinandersetzungen mit Marx36 ebenso wie mit Rawls37, mit Selznick38 ebenso wie mit Dworkin39 und mit Hegel40 ebenso wie mit Kant41 und dem Pluralismus Ernst 32 Winfried Brugger, Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat 38 (1999), S. 311 f.; ders., Josef Isensee (Hrsg.), Solidarität in Knappheit. Zum Problem der Priorität, in: Der Staat 38 (1999), S. 477 – 480; ders., Gabriele Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung. Über den rechtlichen Umgang mit kultureller Differenz, in: Der Staat 40 (2001), S. 303 – 307; ders., Dieter Holtmann/Peter Riemer (Hrsg.), Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, in: Der Staat 43 (2004), S. 486 – 490; ders., Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, in: Der Staat 45 (2006), S. 308 f. 33 Winfried Brugger, Michael Bock, Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht 1985, S. 45 – 48; ders., Rudolf Mellinghaus/Hans-Heinrich Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodologie, Gentechnologie, Internationales Verwaltungsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 114 (1989), S. 149 – 158. 34 Winfried Brugger, Dieter Grimm/Werner Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, in: Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 342 f. 35 Winfried Brugger, Peter Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, in: Juristenzeitung 1995, S. 1005 f.; ders., Alexander Blankenagel/Ingolf Pernice/Helmuth SchulzeFielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt. Liber Amicorum für Peter Häberle, in: Archiv des öffentlichen Rechts 130 (2005), S. 336 – 341. 36 Schon in: Winfried Brugger, Marx und das Rechtsverständnis in der DDR, in: Recht in Ost und West 22 (1978), S. 101 – 110. 37 Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 293 ff. 38 Winfried Brugger, Philip Selznick, The Communitarian Persuasion, in: Der Staat 42 (2003), S. 149 – 152; ders., The Moral Commonwealth. Zur Verfassung von Gesellschaft und Staat aus Sicht des Kommunitarismus, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 84 (2001), S. 149 – 181. 39 Winfried Brugger, Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 67 (1981), S. 558 – 561; ders., Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71 (1985), S. 123 – 128; ders., Ronald Dworkin, Law’s Empire, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 73 (1987), S. 416 – 419; ders., Das Reich der Rechtszwecke. Zu Ronald Dworkins Rechtsphilosophie, in: Dimensionen menschlicher Freiheit. Johannes Schwartländer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Heiner Bielefeldt/Winfried Brugger/Klaus Dicke, Tübingen 1988, S. 109 – 120.

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Fraenkels.42 Das geschieht nicht aus einem Eklektizismus oder Synkretismus heraus, sondern einerseits weil Brugger auch die Theoriebildung selbst beobachtet, und andererseits weil er zur Begründung konkreter normativer Aussagen dem politischen und rechtlichen Prozess und anderen Diskursen vertraut. Bei aller Fülle der herangezogenen Philosophen, Psychologen, Anthropologen und Soziologen fällt aber auf, dass die neukantianisch inspirierten Theoretiker im Zentrum stehen. In der Rechtsphilosophie spielt Radbruch eine herausgehobene Rolle; in der Soziologie ist es Max Weber43, und in der Staatstheorie ist Brugger bis zuletzt in besonderer Weise Georg Jellinek44 verpflichtet. Die Theoriegebäude dieser drei Denker lassen sich gewiss nicht vollständig auf den Neukantianismus zurückführen; für alle bildet aber dessen südwestdeutsche – oder eben „Heidelberger“ – Schule einen wichtigen Bezugspunkt ihres wissenschaftlichen Denkens. So auch für Brugger selbst. Dieser Einfluss zeigt sich etwa darin, dass Brugger immer wieder Modelle als Bedingungen der Erkenntnis des Rechts entwickelt. Zu erwähnen sind etwa das Dreisäulenmodell des Gemeinwohls, Modelle des Staat- und Kirche-Verhältnisses45 und insbesondere das „Anthropologische Kreuz der Entscheidung“.46 40 Hierzu Stephan Kirste, Die ,Rose im Kreuze der Gegenwart‘ und das ,anthropologische Kreuz der Entscheidung‘ – das Bild des Kreuzes bei Hegel und Brugger, in: Hans Joas/Matthias Jung (Hrsg.), Über das Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, Baden-Baden 2008, S. 67 – 94. 41 Winfried Brugger, Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie, in: Juristenzeitung 1991, S. 893 – 900; ders., Kants System der Redefreiheit, in: Der Staat 46 (2007), S. 515 – 540. 42 Winfried Brugger, Radikaler und geläuterter Pluralismus, in: Der Staat 29 (1990), S. 497 – 520; ders., Theorie und Verfassung des Pluralismus. Eine Skizze im Anschluß an Ernst Fraenkel, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 529 – 561; ders., The Common Good and Pluralism in the Modern Constitutional State, in: Pluralism and Law. Proceedings of the 20th World Congress of the Association of Legal and Social Philosophy (IVR) in Amsterdam 2001, Arend Soeteman (ed.), (ARSP-Beiheft Nr. 90) 2004, S. 32 – 43. 43 So schon in der Dissertation Bruggers 1980 (Fn. 3); ders. 1980, S. 356 – 377; ders. 1981, S. 223 – 240; ders. 1982, S. 257 – 280; ders., Max Weber und der American Way of Life, in: Stimmen der Zeit 1983, S. 779 – 784. 44 Winfried Brugger, Existenz, Freiheit und Ordnung. Von Werner Maihofer zu Georg Jellinek und zurück, in: Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags, hrsg. von Stephan Kirste/Gerhard Sprenger, Berlin 2010, S. 152 – 169; ders., Georg Jellinek als Sozialtheoretiker und Kommunitarist, in: Der Staat 49 (2010), S. 405 – 434; ders., Georg Jellineks Statuslehre: national und international. Eine Würdigung und Aktualisierung anläßlich seines 100. Todestages im Jahr 2011, in: Archiv des öffentlichen Rechts 136 (2011), S. 1 – 43. 45 Vgl. bereits o. Fn. 12. 46 Winfried Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, Baden-Baden 2005. Zweite, erweiterte Auflage 2008 (Übersetzung ins brasilianische Portugiesisch, in Vorbereitung); ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, in: Juristische Schulung 1996, S. 674 – 682; ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung und die Verfassung Europas, in: Klaus Grupp/Ulrich Hufeld (Hrsg.), Recht, Kultur, Finanzen. Festschrift für Reinhard Mußgnug zum 70. Geburtstag, 2005, S. 329 – 339; ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, in: Zeitschrift für Politik 52 (2005), S. 261 – 272; ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, in: Universitas 60 (2005),

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Auf der Basis dieser Modelle erfolgte nicht nur die Erfassung, Ordnung und Systematisierung, die bis hin zur Schematisierung – im Kantischen Sinn – ging; sie war zudem Ausgangspunkt einer Kritik verschiedener Modelle. Auch hier tritt Bruggers Humanismus zutage: Er kritisiert nicht die inhaltlich „falschen“, sondern diejenigen Auffassungen, die vor dem Hintergrund seines inkludierenden Modells einseitig und reduktionistisch erscheinen. Es ging ihm in der Kritik also um den Blick aufs Ganze, der einzelnen Theorien verlorengegangen sei. Um dies zu vermeiden, lotet er strukturverflochtene Konsense, Übereinstimmungen in „Kernbereichen“ aus und entwickelt selbst immer wieder Integrationsformeln. Integrativ wirkte Brugger auch als akademischer Lehrer. Das bezieht sich nicht nur auf die Förderung von Studenten durch Einbeziehung in die Lehrstuhlarbeit und im akademischen Unterricht, wo er zur Veranschaulichung eines Arguments schon mal „über Tische und Bänke gehen“ konnte.47 Ein großes Anliegen war ihm die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch eine Vielzahl von Doktoranden, Habilitanden sowie die Unterstützung von weiteren wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, die er ab 2007 bereitwillig nach dem Tod seines engen FaS. 350 – 361 (Übers. ins brasilianische Portugiesisch: A cruz antropológica da decisão, in: Direito Estado e Sociedade, No. 37 [Jul./Dez. 2010], hrsg. von Pontifícia Universidade Católica do Rio de Janeiro, S. 181 – 192); ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung und die sozialwissenschaftliche Handlungstheorie, in: Wissenschaft, Religion und Recht. Festschrift zum 85. Geburtstag von Hans Albert, hrsg. von Eric Hilgendorf , 2006, S. 341 – 358; ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Erziehung und Literatur, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 82 (2006), S. 311 – 321; ders., Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, in: Zivil- und Wirtschaftsrecht im Europäischen und Globalen Kontext. Festschrift für Norbert Horn zum 70. Geburtstag, hrsg. von Klaus Peter Berger u. a., 2006, S. 1039 – 1050; ders., Vergangenheitsbewältigung im Kreuz der Entscheidung, in: Humboldt-Forum-Recht, Internetpublikation: www.humboldt-forum-recht.de, Heft 9, 2006; ders., „Kreuz“, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 2007, S. 182 – 188; ders., Politikverständnisse und Vergangenheitsbewältigung im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, in: Waldemar Schreckenberger (Hrsg.), Recht, Staat und kulturelle Entwicklung, 2007 (Speyerer Arbeitshefte Nr. 191), S. 79 – 96; ders., Dignity, Rights, and Philosophy of Law within the Anthropological Cross of Decision-Making, in: 9 German Law Journal No 10 (1 October 2008), Internetpublikation: www.germanlawjournal.com (Übersetzung ins Türkische: Antropolojik Karar Kavs¸ag˘ı’nda Haysiyet, Haklar Ve Hukuk Felsefesi, in: Uluslararası Sosyal Aras¸tırmalar Dergisi [The Journal of International Social Research], Volume 2/8, Summer 2009, Internetpublikation: http://www.sosyalarastirmalar.com/cilt2/sayi8pdf/brugger_imamoglu.pdf); ders., Würde, Freiheit und Verantwortung im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, in: Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf (Hrsg.), Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, Heidelberg 2010, S. 345 – 375; ders., Liberaler Kommunitarismus im Grundgesetz. Eine Theorieskizze und das Kreuz in der Schule als praktisches Beispiel, in: Waldemar Schreckenberger (Hrsg.), Die Idee des Rechts und soziale Verantwortung als Handlungsgrundlage der modernen Staatenwelt, Speyer 2010 (Speyerer Arbeitshefte Nr. 199), S. 63 – 86; ders., Dignidade, Direitos e Filosofia do Direito na perspectiva antropológica da cruz da tomada de decisão, in: Direitos Sociais & Políticas Publicas, Desafios contemporâneos, vol. 10 (2010), S. 2985 – 3009. 47 Vgl. hierzu den Nachruf von Michael Anderheiden, Auf dem Weg zur Erfüllungsgestalt (zugleich Nachruf auf W. Brugger), StudRZ 2011, Heft 1, S. 3 – 16.

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kultätskollegen Görg Haverkate übernahm.48 Schließlich galt dies auch bei seiner Publikationstätigkeit, die immer von dem Bestreben getragen war, sich möglichst präzise, einfach verständlich und anschaulich auszudrücken. Dies setzte er entsprechend nicht nur in den üblichen juristischen und philosophischen Zeitschriften im In- und Ausland, sondern auch in verschiedenen Ausbildungszeitschriften49 um. Der thematischen Ausrichtung und der Breite seines Ansatzes entsprach es freilich, dass „seine“ Zeitschrift, für die er viele Jahre als Mitherausgeber wirkte, der STAAT war.50 Dass Brugger enzyklopädisch war, dass er integrativ sowohl die Realverhältnisse des Rechts als auch die Theorien dachte, bedeutete nicht, dass er Grenzfragen aus dem Weg gegangen wäre.51 Das betrifft auch und gerade das Thema der Folter. Dabei ging es nicht um eine Profilierung durch das Sensationelle, und auch der Tabubruch gegen dieses langjährige Anathema der Rechtswissenschaft zielte letztlich auf ihre rechtsstaatliche Bewertung und nicht notwendig auf ihre Rechtfertigung. Der Rechtsstaat dürfe seine Augen davor nicht verschließen und müsse Stellung beziehen. Das war Bruggers Hauptanliegen: das Wachrütteln gegenüber einer echten rechtlichen Konfliktlage von „Würde gegen Würde“, die zu einer scheinbar paradoxen Abwägung des absoluten Werts der Menschenwürde führe. Sein eigener Lösungsansatz war ihm gegenüber diesem aufklärerischen Hauptinteresse nachrangig. Von dieser Bereitschaft, sich aus wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Notwendigkeit auch kontroversen Themen und schwierigen Entscheidungen zuzuwenden, zeugt die Zusammenstellung dieses Bandes. Dem dialektischen Dreischritt der Konfrontation, ihrer kommunikativen Vermittlung, die schließlich zur Integration führt, folgend, spiegeln sich die angesprochenen Themen und Theorien des Werkes von Brugger in den hier vorgelegten 48 Michael Anderheiden, Anspruchsvoll und konziliant. Zum Tode des Heidelberger Rechtswissenschaftlers Winfried Brugger, in: Rhein-Neckar-Zeitung v. 3. 12. 2010, S. 13. 49 Winfried Brugger, Der Atomkraftwerksunfall. Praktischer Fall aus dem öffentlichen Recht, in: Juristische Schulung 1982, S. 766 – 772; ders., Das umstrittene Amnestiegesetz. Praktischer Fall aus dem öffentlichen Recht, in: Juristische Schulung 1984, S. 793 – 799; ders., Die anstößige Straßenumbenennung. Praktischer Fall aus dem öffentlichen Recht, in: Juristische Schulung 1990, S. 566 – 570; ders., Das störende Kreuz in der Schule. Praktischer Fall aus dem öffentlichen Recht, in: Juristische Schulung 1996, S. 233 – 240; ders., Die veröffentliche Ermittlungsakte. Examensklausur aus dem Öffentlichen Recht, in: Verwaltungsblätter BadenWürttemberg 1998, S. 237 f., 274 – 278; ders., Gestalt und Begründung des Folgenbeseitigungsanspruchs, in: Juristische Schulung 1999, S. 625 – 632; ders., Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v. Madison, in: Juristische Schulung 2003, S. 320 – 325; ders., Haßrede, Beleidigung, Volksverhetzung, in: Juristische Arbeitsblätter 2006, S. 687 – 692; ders./Jan Schaefer, Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Examensfall im Öffentlichen Recht, in: Juristische Schulung 2009, S. 640 – 645. 50 Ernst-Wolfgang Böckenförde/Armin von Bogdandy/Rolf Grawert/Johannes Kunisch/ Christoph Möllers/Fritz Ossenbühl/Walter Pauly/Helmut Quaritsch/Barbara Stollberg-Rilinger/Andreas Voßkuhle/Rainer Wahl, In memoriam Winfried Brugger, in: Der Staat 1/2011, S. 1. 51 Winfried Brugger/Görg Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, Stuttgart 2002.

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Aufsätzen. Ihre Auswahl und Anordnung folgt fast unverändert der von ihm hinterlassenen Konzeption. Im ersten Beitrag analysiert Brugger die Würde des Menschen in anthropologischer Hinsicht („Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung“). Er bedient sich hierzu des von ihm in einer Reihe von Publikationen entwickelten „Anthropologischen Kreuzes der Entscheidung“. Dieser Idealtypus war sicherlich das wirkmächtigste Bild Bruggers.52 Das Kreuz zeigt die konfligierende Entscheidungssituation des Menschen an: Es muss Ideale mit den realen Bedingungen und Bedürfnissen (Vertikale) auf der Zeitschiene von Zukunft und Vergangenheit (Horizontale) integrieren. Als Person bezieht er sich auf diese Dimensionen und versteht sich aus diesen heraus. Seine Würde ist es, dass eben dies anerkannt wird. Die verschiedenen Würdetheorien akzentuieren mal mehr die eine, mal mehr die andere Dimension des Kreuzes. „Gemeinwohl“ war ein Thema, das Winfried Brugger über viele Jahre aus den verschiedensten Perspektiven heraus beschäftigte. Der hier aufgenommene Beitrag („Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit“) analysiert das Gemeinwohl als Leitidee des modernen westlichen Verfassungsstaates. Diese Leitidee muss hinreichend abstrakt sein, um alle Staaten dieses Modells erfassen zu können, und doch auch hinreichend konkret, damit aus seiner Analyse Gewinne für die Praxis gezogen werden können. Sie kann also nicht eine „starke“ einer liberalen, kommunitaristischen oder anderen Weltanschauung verpflichtete, substantialistische Theorie des Gemeinwohls voraussetzen, sondern muss die Idee auch auf der Basis verfassungsvergleichender Argumente aus dem positiven Recht heraus entwickeln. Grundlage ist eine an Gustav Radbruch anknüpfende Unterscheidung von drei Säulen des Gemeinwohls, nämlich der Rechtssicherheit, der Legitimität und der Zweckmäßigkeit. Die Konkretisierung dieses Gemeinwohls verläuft in den demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Prozeduren. Das Menschenbild der Menschenrechte ist gekennzeichnet durch die Kategorien der Eigenständigkeit, Sinnhaftigkeit und der auch gegenüber anderen verantwortlichen Lebensführung. Brugger rekonstruiert dieses Menschenbild auf der Grundlage von Verfassungen, Menschenrechtserklärungen und Menschenrechtskonventionen und möchte damit ein für alle Kulturen der Welt gültiges Modell entwerfen („Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten“). Dabei ist sich Brugger durchaus der Gefahren eines vorschnellen Postulats der Universalität der Menschenrechte bewusst und geht vom historischen Stand der Menschenrechtsentwicklung ebenso aus, wie er ein hinreichend abstraktes Modell entwirft, das verschiedene partikulare Menschenrechtsbilder aufgreifen kann. In die Kategorien des Menschenbildes können dann die heterogenen Menschenrechte eingeordnet und

52 Matthias Jung/Hans Joas (Hrsg.), Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, Baden-Baden 2008.

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Konflikte zwischen ihnen durch Abwägung und praktische Konkordanz gelöst werden. Verschiedene Staat-Kirche-Modelle stellt der Beitrag „Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche“ vor. Auf der Basis philosophischer, historischer und rechtlicher Argumente entwickelt Brugger hier ein Schema von sechs möglichen Verhältnissen zwischen Staat und Kirche. Gemessen am Kriterium von Distanz und Nähe, reicht das Spektrum von einer Feindschaft zwischen Staat und Kirche über Trennung und Rücksichtnahme bis hin zu einer materiellen Einheit von Staat und Kirche. In dieses Modell werden sodann die verschiedenen verfassungsrechtlichen Regelungen des Staatskirchenrechts anhand exemplarischer Staaten – im Zentrum stehen die USA und die Bundesrepublik Deutschland – eingeordnet. Dieser Rahmen ermöglicht die Diskussion verschiedener Probleme der Modelle wie die Behandlung von Schulgebeten oder des Kreuzes im Klassenraum, religiöse Eidesformeln, staatliche finanzielle Unterstützungsleistungen, des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und des Sonn- und Feiertagsschutzes. In den letzten Jahren hat sich Winfried Brugger besonders intensiv mit den Kommunikationsgrundrechten in ihrer philosophischen Begründung und ihrer verfassungsrechtlichen Ausprägung im Vergleich zwischen den USA und Deutschland auseinandergesetzt. Hiervon zeugen drei Beiträge im vorliegenden Sammelband. Die Redefreiheit ist ein fundamentales Grundrecht – nicht nur im ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, sondern auch im Grundgesetz im Rahmen der Meinungsfreiheit. Allerdings wird die konkrete Bedeutung der Rede in den USA auch an den Folgen der Rede für die politische Auseinandersetzung beurteilt; das ist nicht Kants Position, der die Redefreiheit formal aus der Autonomie begründet („Kants System der Redefreiheit“). Diese Unterschiede analsiert Brugger und fächert sie von einem Extrem – formal autonom – bis zum anderen – konsequentialistisch wie in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court – auf. Kants Konzeption kann als ausgesprochen liberal bezeichnet werden. In den praktischen Konsequenzen treffen sich freilich Rechtsprechung des obersten Gerichts der USA und Kant insbesondere im Gedanken der Privilegierung des „öffentlichen Vernunftgebrauchs“, bei dem auch in der amerikanischen Rechtsprechung noch das Aufklärungspathos des Öffentlichen mitschwingt, auch wenn sie sich in der Begründung deutlich unterscheiden. Angesichts dieser besonderen Bedeutung der Meinungs- bzw. Redefreiheit innerhalb der Grundrechte stellt sich die Frage, wie mit extremen Formen wie etwa dem Aufruf zu Gewalt, der Diffamierung von Personen, grob anstößigen oder stark beleidigenden Reden umzugehen ist. Brugger diskutiert diese Fragen in zwei Aufsätzen: „Verbot oder Schutz von Hassrede. Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht“ und „Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht“. Zwar lassen sich in den westlichen Verfassungsstaaten die beiden extremen Konzeptionen – die Hassrede wird nie geschützt oder sie wird immer geschützt – von vorneherein ausschließen. Dennoch sind aufgrund der Menschenwürde als Höchstwert im Grund-

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gesetz wichtige Differenzen zwischen den USA und Deutschland auszumachen. Brugger erläutert die unterschiedlichen Lösungen, die in beiden Rechtsordnungen gefunden werden, anhand von fünf Beispielen, die jeweils aus der Position diesseits und jenseits des Atlantiks beleuchtet werden. Danach ergibt sich zwar kein Pascalsches „Unfreiheit diesseits des Atlantiks – Freiheit jenseits“, aber ein doch signifikant anderer Umgang mit starken Individual-, Kollektivbeleidigungen sowie einfachen und qualifizierten Holocaust-Leugnungen. Auch der dritte Beitrag zu den Kommunikationsgrundrechten diskutiert die Grenzen der freien Rede. Diesmal geht es aber um die Einordnung verschiedener Beurteilungen der Beschränkbarkeit der Meinungsäußerung durch die beiden wichtigsten, die nord-amerikanische philosophische Debatte gegenwärtig prägenden Strömungen des Kommunitarismus und des Liberalismus. Brugger hatte, inspiriert durch seinen soziologischen Lehrer in Berkeley, Philip Selznick, über viele Jahre diese beiden Strömungen beobachtet und erheblich dazu beigetragen, dass sie auch in Deutschland rezipiert wurden.53 Tendenziell streitet die liberale Auffassung für einen freien Markt der Meinungen als Verfahren der Wahrheitsermittlung im Sinn J. S. Mills. Gegen ihn darf nur dann regulierend eingeschritten werden, wenn die Äußerung in den Markt eingreift und diesen Austausch selbst behindert, wie bei fighting words. Der Kommunitarist hingegen berücksichtigt die von der Meinungsäußerung betroffenen und ggf. auch diskreditierten Werte und neigt eher dazu, die Freiheit zu deren Schutz zu beschränken. Entsprechend dem Spektrum von Auffassungen zwischen einem konservativen, über einen liberalen Kommunitarismus hin zu verschiedenen liberalen Ansichten, erwachsen aber auch höchst unterschiedliche Einschätzungen über die Beschränkbarkeit der freien Rede, die von Brugger anhand einschlägiger Rechtsprechung offengelegt werden. Zwei Arbeiten loten den Beitrag der Rechts- und Staatsphilosophie zum Verständnis der Europäischen Integration aus. Durch seine letzten Jahre begleitete Georg Jellinek Winfried Brugger.54 Die beiden Rechts- und Staatstheoretiker verbinden in ihrer jeweils etwa 60jährigen Lebenszeit viele gemeinsame Themen wie die Menschenrechte55, die Verfassungsvergleichung56, Recht und Religion, Verfassungsgerichtsbarkeit.57 Seine Zeit am Max-Weber-Kolleg in Erfurt widmete Brugger u. a. einer Allgemeinen Staatslehre58, die jedoch – leider – Fragment geblieben ist. Vor allem einigt sie aber die breite, auch Erkenntnisse der Sozialwissenschaften ein53 Vgl. die erwähnten Arbeiten von Winfried Brugger oben Fn. 22 und 23, 37 und 38 sowie ders. 2010 (Fn. 44), S. 405 ff. 54 Vgl. o. Fn. 44. 55 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. München 1919; Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. durchgesehene Aufl. Tübingen 1905. 56 Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung, Tübingen 1887, S. 1 – 180. 57 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. 58 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Darmstadt 1959.

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beziehende Forschungsmethode.59 Brugger wie Jellinek arbeiten mit Idealtypen und haben ein starkes Bedürfnis nach Systematisierungen. Bruggers eigenem Ansatz kommt besonders die Statuslehre Jellineks entgegen. In dem hier aufgenommenen Aufsatz („Georg Jellineks Statuslehre: national und international. Eine Würdigung und Aktualisierung anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 2011“) greift Brugger Jellineks Einteilung in status subiectionis, status negativus, status positivus und status activus auf. Wie dieser sieht auch Brugger den Status als Möglichkeit, sowohl Freiheit als auch Einbindung des Einzelnen in den Staat zu erfassen. Bruggers Aktualisierung besteht zunächst darin, dass er die Anschlussfähigkeit von Jellineks Theorie mit modernen Rechts- und Staatstheorien etwa von Jürgen Habermas oder Ronald Dworkin zeigt. Sodann erweitert er den Kanon von vier Status, den Jellinek als abgeschlossen ansah, um einen status europaeus, einen status universalis, einen status oecologicus und einen status culturalis. Der zweite, den Fragen der Europäischen Integration gewidmete Aufsatz erläutert die Perspektiven, die kommunitaristische Orientierungen zulassen („Zur Rationalität des Kommunitarismus und zu seiner Bedeutung für die Verfassung Deutschlands und Europas“). Diese Strömung ist in den USA als Gegenbewegung zu einem als überzogen verstandenen Rationalismus, Konstruktivismus, Individualismus und Universalismus in der liberalen Philosophie von John Rawls entstanden. Sie stellt wieder stärker den Gemeinschaftsbezug des Menschen heraus. Nach den Kriterien Gemeinschaftsbindung oder -distanz, Freiheitsverständnis, traditioneller oder Konventionsmoral, Konzeption der Person und weiteren Aspekten unterscheidet Brugger hier eine Bandbreite von konservativem über liberalem bis hin zu universalistischem und egalitärem Kommunitarismus. Die EU trägt der Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen dadurch Rechnung, dass sie seine Vergemeinschaftung in verschiedenen Assoziationen und Institutionen wie der Ehe schützt. Die Entwicklung der Union unterfällt nicht der Kritik, sie sei am Reißbrett durch abstrakte Rationalität konstruiert worden; vielmehr hat sie sich ganz im Sinne kommunitaristischer Entwicklungsmodelle inkrementell geformt. Und auch dem Ziel der immer engeren Union wissen kommunitaristische Forderungen nachzugehen, indem die relative Selbständigkeit der historisch gewachsenen Gemeinschaften bis hin zu den Mitgliedschaften geachtet wird und ihnen über das Subsidiaritätsprinzip auch wichtige Aufgaben verbleiben. „Hard Cases“ hat Winfried Brugger noch selbst den letzten Teil der vorliegenden Aufsatzsammlung überschrieben. In diesen drei Beiträgen diskutiert er Themen, die in der Bevölkerung und auch in der Wissenschaft heftig umstritten waren und z. T. noch sind. Gerade weil die Fragen heikel sind und an die Grenzen des Rechts gehen, darf sich die Wissenschaft ihnen nicht entziehen.60 Aus diesem Grund hat sich 59 Georg Jellinek, Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878, S. 1 ff. 60 Teilweise wurde schon die Debatte über derartige Fragen selbst als problematisch angesehen. So zur Folter etwa Rainer Hamm, Schluss der Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot!, in: NJW 2003, S. 946 – 947.

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Stephan Kirste

Brugger mit Freiheit und Sicherheit, mit dem Kreuz in der Schule und schließlich mit der Aussageerzwingung und der Frage, ob hierfür in eng umgrenzten Fällen Folter angewendet werden dürfe, beschäftigt. Bruggers Antworten auf das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit61, das Kreuz in der Schule62 und die Folter63 waren und sind auch heute noch Teil einer lebendigen Debatte um Grenzziehungen. „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staatsund Verfassungsverständnisse“ ist Bruggers 2003 gehaltener Vortrag auf der Staatsrechtlehrertagung in Hamburg. Darin geht er zunächst der Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen Freiheit und Sicherheit in ihren Grundzügen nach und bestimmt dessen normative Bewältigung als eine zentrale Aufgabe des Staates seit dem Mittelalter. Aus verfassungsgeschichtlichen und verfassungstheoretischen Ausführungen, die beide auch die nordamerikanische Entwicklung berücksichtigen, werden die verfassungs- und europarechtlichen Konsequenzen entwickelt. Die Beispiele der Volksverhetzung und des Parteienverbots dienen der Veranschaulichung. Die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kreuz in der öffentlichen Schule hatte 1995 eine breite Debatte über die Neutralität des Staates im 61

Vgl. zu Freiheit und Sicherheit: VVdStRL 63 (2004), S. 191 ff. Hierzu etwa der Beitrag von Stefan Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht, in: Brugger/Huster (Fn. 13), S. 69 ff. und weitere Beiträge in dem Sammelband. 63 Aktuell zur Diskussion auch: Catarina Cristina Herbst, Die lebensrettende Aussageerzwingung, Berlin 2001, S. 243 ff.; Florian Lamprecht, Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?, Paderborn 2010; Anja Katarina Weilert, Grundlagen und Grenzen des Folterverbotes in verschiedenen Rechtskreisen, Heidelberg (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 200) 2009, S. 190 f.; Christian Adam, Gefahrabwendungsfolter und Menschenwürde im Lichte des Unabwägbarkeitsdogmas des Art. 1 Abs. 1 GG, Frankfurt (Schriften zum deutschen und europäischen öffentlichen Recht Band 17) 2007; kritisch etwa: Heinz Georg Bamberger/Dietmar Moll, Folter im Rechtsstaat, in: Recht u Politik 2007, 142 – 152; Luis Greco, Die Regeln hinter der Ausnahme. Gedanken zur Folter in sog ticking time bombKonstellationen, in: Goltdammers Archiv 2007, S. 628 – 643; Frank Selbmann, Die Rechtsfigur der Rettungsfolter und das Völkerrecht, in: NJ 2005, S. 300 – 301; Günter Jerouschek, Gefahrenabwendungsfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeilich legitimierter Zwangseinsatz?, in: JuS 2005, S. 296 – 302; Stefan Braum, Erosion der Menschenwürde – Auf dem Weg zur Bundesfolterordnung (BFO)?, in: KritV 2005, S. 282 – 298; Frank Saliger, Absolutes im Strafprozess? Über das Folterverbot, seine Verletzung und die Folgen seiner Verletzung, in: ZStW 116 (2004) S. 35 – 65; Anette Guckelberger, Zulässigkeit von Polizeifolter, in: VBlBW 2004, S. 121 – 127; Peer Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, in: NVwZ 2004, S. 1405 – 1409; Reinhard Marx, Folter – eine zulässige polizeiliche Präventionsmaßnahme?, in: KJ 2004, S. 278 – 304. Im Ergebnis im Sinne Bruggers etwa: Knut Amelung, „Rettungsfolter“ und Menschenwürde, in: JR 2012, S. 18 – 20; Rolf Dietrich Herzberg, Folter und Menschenwürde, in: JZ 2005, S. 321 – 328, S. 322; Bernd Schünemann, Kommentar zur Abhandlung von Luis Greco, Goltdammers Archiv 2007, S. 644 – 647; Christian Fahl, Neue sozialethische Einschränkung der Notwehr: Folter, in: Jura 2007, S. 743 – 750; Eric Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, in: JZ 2004, S. 331 – 339, bes. 336 ff.; Fabian Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, in: DÖV 2003, S. 873 – 882. 62

Einleitung

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Bildungswesen entfacht.64 Brugger deckt dieses Thema von liberal-universalistisch bis hin zu konservativ-kommunitaristisch raumgreifend ab („Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das Kreuz in der Schule“). Während der konservative Kommunitarismus das damalige Bayerische Schulgesetz rechtfertigt, steht der liberale Kommunitarismus auf Seiten des Bundesverfassungsgerichts. Der letzte Aufsatz widmet sich anhand des Frankfurter Entführungsfalls aus dem Jahr 2002 der Frage, ob in derartigen Fällen nicht eine genau bezeichnete Ausnahme vom absoluten Verbot der Folter zu machen sei („Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?“). Hier äußert sich „kein politischer Extremist“65. Brugger analysiert vielmehr die Antworten des Völker-, Verfassungs-, Straf- und Polizeirechts in zwei Durchgängen: Der erste rekonstruiert die h.M. zum Thema; der zweite hinterfragt sie kritisch. Brugger gelangt zu einer besonderen Schutzpflicht des Staates für das Leben, die sich aus der Legitimation von öffentlicher Herrschaft überhaupt ableitet. Er verweist ferner darauf, dass nicht nur der Staat die Würde des Entführers beeinträchtige, wenn er unter Drohung körperlicher Schmerzen zu einer Aussage gezwungen werden soll, sondern dass auch dieser selbst eine Würdeverletzung begehe, wenn er nämlich das Opfer für seine übersteigerten Erwerbsinteressen instrumentalisiere. Abschließend prüft er weitere Einwände gegenüber einer eng begrenzten Zulassung von Folter zur Aussageerzwingung. Die hier vorgelegten Aufsätze ummanteln noch ein – letztes – Mal die wichtigsten Themen im Werk Winfried Bruggers und belegen den Gewinn seines methodischen Zugriffs darauf. Sie zeigen zugleich die Bausteine zu den größeren Werken, die Brugger für die nächsten Jahre geplant hatte. Sein früher Tod hat deren Ausarbeitung verhindert. Sein thematisch offener, wissenschaftlich integrativer und systematisierender Ansatz, der Toleranz mit Mut zur Diskussion delikater Fragen von Staat und Recht verband, sucht seinesgleichen.66 So bleiben die hier abgedruckten Arbeiten Anregungen und Aufforderungen zu weiterem Forschen.

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BVerfGE 93, S. 1 ff. – Kruzifix. Stefan Huster, Nachruf: Winfried Brugger, in: JZ 2011, S. 36. 66 Huster (Fn. 65), S. 36; Anderheiden (Fn. 47); Anderheiden (Fn. 48), S. 13; Stephan Kirste, Nachruf. Zum Tode von Winfried Brugger, in: AöR 136 (2011), S. 162 – 165; ders., Nachruf. Im Kreuz der Entscheidung – Zum Tode von Winfried Brugger, in: ARSP 97 (2011), S. 125 – 128; Übers. ins Ukrainische: ;YabcV BcVeQ^, 2YTd^ 3phVb\QS. 3Y^eaYU 2aoTTVa [Q[ ]lb\YcV\m Y hV\_SV[ (1950 – 2010), in: @A?2ý6=9 @A?2ý6=9 Eüý?B?Eü( @A131 – =wW^Qa_U^YZ hQb_`Yb (Philosophy of Law Issues. An international Journal), Vol. VIII-IX 2012, S. 479 – 482. 65

Teil 1: Integration zwischen Abstraktion und Konkretion

§ 1 Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung I. Das anthropologische Kreuz der Entscheidung Der Begriff der Menschenwürde ist philosophisch, theologisch und juristisch unstreitig so zentral, wie er in der Ausdeutung umstritten ist.1 Fast aus jeder Disziplin sind Zugänge zu ihm möglich; fast jede Disziplin weist implizit oder explizit eine längere Begriffsgeschichte des Begriffs Menschenwürde oder ihn umkreisender Leitideen wie Freiheit und Gleichheit auf. Lässt sich hier noch gemeinsame Orientierung finden, oder löst sich der Begriff in Differenz und Kontingenz auf? Ich schlage ein anthropologisches Verständnis von Würde vor, das zwar nicht alle Interpretationskonflikte lösen kann, aber trotzdem bei der Suche nach gemeinsamen Anknüpfungspunkten wichtige Orientierungshilfe bietet.2 Nach anthropologischen Grundlagen von Würde zu suchen, bietet sich schon aufgrund der Tatsache an, dass wir alle ja davon ausgehen, dass Würde jedem Menschen, und zumeist schon als Mensch, ohne weiteres Zutun, zukommt. Gleichwohl ist mit Skepsis zu rechnen. Theorien über das „Wesen“ des Menschen tendieren dazu, entweder metaphysisch aufgeladen zu sein oder aber in Gefahr zu stehen, einem empirischen Reduktionismus zu frönen. Anthropologische Untersuchungen stehen deshalb oft in Verdacht, „zu viel“ vorauszusetzen oder „zu wenig“ zu thematisieren. Lässt sich hier eine „Mitte“ oder „Vermittlung“ finden, die mehr ist als ein Normal- oder Mittelmaß von dem, was Menschen so treiben? These dieses Aufsatzes ist es, dass eine solche Synthese möglich ist, wenn man einen Zugang über diejenigen Situationen im menschlichen Leben sucht, die zu Entscheidungsnöten führen; von ihnen aus kann man zu einer Systematisierung dieser spezifischen menschlichen Not und ihrer Bewältigung weitergehen. Solche Situationen sind mit einem „anthropologischen Kreuz der Entscheidung“ behaftet. Dieser Begriff schließt an die deutsche Sprach1

Überblicke etwa bei Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, 2006; Horst Dreier, Art. 1 I, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band I, 2. Auflage 2004, Teil A; Kurt Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004; Wilfried Härle/Reiner Preul (Hrsg.), Menschenwürde (Marburger Jahrbuch Theologie XVII), 2005; Petra Bahr/Hans Michael Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006. 2 Ich erweitere hier Gedanken, die ich in meinem Buch „Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht“, 2005, entwickelt habe. Zu dieser Konzeption auch Matthias Jung/Hans Joas (Hrsg.), Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, 2008.

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

wendung „Es ist ein Kreuz mit“ einer bestimmten Situation oder Person an, die ursprünglich das Leiden Christi am Kreuz im Blick hatte. Seit langem aber hat sich der Ausdruck in der Umgangssprache veralltäglicht und verbreitet. Er meint nun alle Entscheidungen, bei denen der Akteur hin- und hergerissen ist. Präziser verortet: Es ist immer dann ein „Kreuz“ mit einer Entscheidung, wenn der Handelnde unterschiedliche Impulse oder Wertungen in sich spürt und es gleichzeitig um eine Entscheidung geht, die (1) moralisch heikel, (2) konsequenzenreich und/oder (3) identitätsrelevant ist.3 Eine nähere Analyse des Hin- und Hergerissenseins macht deutlich, dass sich die unterschiedlichen Motive und Reflexionen in der Bewertung und Vornahme einer zu treffenden Handlung visuell in zwei Reflexionsstränge ausgliedern lassen. Horizontal haben wir es mit der Zeitschiene zu tun, die den Menschen vor den Tieren auszeichnet. Tiere sind, um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen, „kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks“.4 Menschen dagegen sind charakterisiert durch „Instinktarmut, Weltoffenheit und Zeitöffnung“.5 Der Mensch, und nur der Mensch, lebt, versteht sich, kommuniziert und handelt in der Zeitspanne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bis hin zum Wissen um den Tod.6 Nur ihm eignet die Gabe der Selbstreflexion und ein autobiographisches Gedächtnis, das im Laufe des Lebenszyklus zu einem Lebens3 Gegenkategorie sind Handlungen, die solche Entscheidungsnöte nicht aufkommen lassen, also Routinen, die wir für viele Vollzüge im Alltag entwickelt und internalisiert haben. Auch diese sind „spezifisch menschlich“, weil Ausdruck gelungener Problembewältigung im Großen und Kleinen. Nie ist jedoch ausgeschlossen, dass Umstände eintreten, in denen bisherige Gewohnheiten versagen und Aufmerksamkeit für eine neue Handlungsausrichtung vonnöten ist. Dann führt der Weg wieder in Richtung des Kreuzes der Entscheidung. Auf der anderen Seite des Kreuzes der Entscheidung, in Richtung extreme Zuspitzung der genannten drei Indikatoren, stehen Situationen, die in der Philosophie des Existentialismus oder der Grenzerfahrung beschrieben sind. 4 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie (1873 – 74), in: NietzscheWerke, Band 1 (1986), hrsg. von K. Schlechta, S. 211. 5 Friedrich H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 2. Auflage 1990, Kap. 1 „Zur Anthropologie des Handelns“, S. 21, unter Aufnahme von Motiven von Arnold Gehlen, wonach die Antriebssphäre der Menschen keinen Automatismus zwischen Triebregung, Appetenzverhalten, Verhaltensauslöser und Vollzug kennt; vielmehr sind sie auf Erfahrungsbildung und Wirklichkeitskonstruktion angewiesen, um ihr Verhalten zu steuern und als Handeln zu orientieren. 6 Zu Ersterem siehe Wilfried Härle, Menschenwürde – konkret und grundsätzlich, in: Härle/ Preul (Fn. 1), S. 135, 155: „In der Gesamtheit des geschaffenen Seienden ist die Spezies ,Mensch’ die einzige, von der wir wissen, daß sie – in Gestalt ihrer einzelnen Individuen und in überindividuellen Gemeinschaften – dazu in der Lage ist, ihre eigene Kontingenz zu erkennen, nach dem Woher, Wohin und Wozu, also nach Ursprung, Ziel und Sinn des geschaffenen Seienden zu fragen und sich zu ihm – in Verehrung oder Ablehnung – zu verhalten.“ Gleich nach dieser horizontalen Reflexion spricht Härle von dem vertikalen „Angelegtsein auf religiösweltanschauliche Kommunikation“, das die Spezies Mensch vor Tieren mit Würde ausstatte. Zu Letzterem als Teil der Würde des Menschen siehe Gabriel Marcel, Die Menschenwürde und ihr existentieller Grund, 1965, S. 163: „Tatsache …, daß der Mensch das einzige uns bekannte Wesen ist, das sich sterblich weiß“.

I. Das anthropologische Kreuz der Entscheidung

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plan ausgeformt wird. Er allein formuliert wahlweise in den Kategorien des Perfekt, des Präsens oder des Futur, vom Phänomen des Konjunktivs ganz zu schweigen: In „hätte, könnte, würde“ denkt und bewertet nur der Mensch. Bei jeder schwierigen Entscheidung, mit der es ein Kreuz ist, bedrängt den Menschen von hinten die Vergangenheit seiner persönlichen Kindheits-, Bildungs- und Erlebnisgeschichte; im Blick nach vorn muss er die Optionen von alternativen Zielen, möglichen Mitteln und Wegen dahin abschätzen, und zwar sowohl mit Blick auf bisherige Kontinuitätslinien seiner Biographie als auch in Bezug auf die Erfolgsaussichten der Handlung bei den von ihr Betroffenen. Vertikal lassen sich Motive und Argumente bei schwierigen Entscheidungslagen identifizieren, die, visuell gesprochen, von unten und von oben kommen. Von unten melden sich Grundbedürfnisse. Darunter sind diejenigen Antriebe und Anlagen von Menschen zu verstehen, die mehr oder weniger universell bei allen Menschen auf Achtung und Sicherung drängen, was wiederum auf eine Ausstattung der Natur und damit eine anthropologische Konstante schließen lässt. Allerdings ist diese Naturausstattung nicht wie bei Tieren mit einem eingebauten Umsetzungsprogramm für Weg, Objekt und Ziel ausgestattet und in eine artspezifische Umwelt hineingebannt. Zwar lernen und spielen und wählen auch höherentwickelte Tierarten aus, aber, abgesehen von dem graduell geringeren Grad dieser, wie lange gesagt wurde, „typisch menschlichen“ Eigenschaften, liegt hier trotzdem eine kategoriale Differenz vor. Die Abgrenzung ergibt sich zum einen durch die schon angesprochene Weltöffnung nur der Menschen hin zu einem bewussten und verlängerten Zeithorizont entweder realen oder imaginierten Zuschnitts. Zum anderen sind offenbar nur die Menschen in der Lage, im visuellen Blick nach oben zu Idealen und Werten des Guten, Schönen, Gerechten und Transzendenten die Grundbedürfnisse in vielgestaltiger Weise aufzunehmen, zu deuten und umzuformen: sprachlich, symbolisch, organisatorisch, normativ.7 Kants Stichwort hierfür ist: Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren, Moralisieren.8 Sigmund Freud hat diese Vertikalschiene in den Kategorien von Es, Ich und Über-Ich thematisiert.9 Das ist ein plausibler Denkrahmen, wenn man nicht aus dem Auge verliert, dass dasjenige, was Freud „Es“ nennt, im Rahmen der Grundbedürfnisse die gesamte Naturausstattung der Menschen umfasst, 7 Tenbruck (Fn. 5), S. 17, hält fest, „daß die praktische Daseinsbewältigung auch eine geistige Daseinsdeutung verlangt“, jedenfalls möglich macht. Das gilt selbst für die „natürlichsten“ menschlichen Tätigkeiten, wie z. B. unser Verständnis von Nahrungsaufnahme vom gierigen „Fressen“ über konventionelles „Essen“ bis zum exquisiten „Speisen“ oder die vielfältigen Arten und Ausdeutungen der Sexualität deutlich machen. Siehe die Bemerkungen von Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, 1999, S. 58 ff. Die Bedeutung von Interpretation in Interaktion mit anderen Menschen hat der Symbolische Interaktionismus von George Herbert Mead und Herbert Blumer herausgestellt. Siehe dazu Hans Joas/Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie, 2004, 6. Vorlesung. 8 Hierzu die zusammenfassende Darstellung dieser kantischen Motive bei Gerhard Funke, Kants Stichwort für unsere Aufgabe: Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren, Moralisieren, in: ders., Von der Aktualität Kants, 1979, S. 120 ff. 9 Dazu näher Brugger (Fn. 2), S. 27, 32 f.

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

die bei den meisten, wenn nicht allen Menschen nach Anerkennung, Befriedigung und Sicherung drängt.10 Dazu gehören Bedürfnisse wie Lebenserhaltung, Tätigkeit, Erlebnis und Genuss, Gesellung (von Liebe und Familie über emotionale Geborgenheit bis zu größeren Zusammenschlüssen), Freiheit, Erwerben und Haben, Erkenntnis, Ästhetik, Wahrheit, Transzendenz (Metaphysik, Religion).11 In dem Anspruch auf Achtung dieser Bedürfnisse äußert sich die Fragilität der Behauptung von personaler und persönlicher Identität im sozialen Umfeld; in dem Sicherungsbedürfnis kommt das Wissen darüber zum Vorschein, dass viele Entfaltungsformen im sozialen Zusammenleben der gemeinsamen Organisation bedürfen.12 Im aufrechten Gang finden wir nicht nur eine Weitung des menschlichen Blickes, sondern auch den körperlichen Ausdruck spezifisch menschlicher Entscheidungsnot13 : In herausfordernden Situationen muss „Kreuz“, Rückgrat gezeigt werden! Der Mensch, so lässt sich in Entscheidungen, mit denen es ein Kreuz ist, lernen, steht in der Mitte dieser zwei visualisierten Reflexionsschienen. Er steht mit Körper und Geist, Leib und Seele, Herz und Verstand genau an dem Punkt, wo sich die Horizontale mit ihrer Zeit- und Mittel-Zweck-Reflexion und die Vertikale mit ihrer Sein-Sollen-Reflexion auf die nach wie vor verbleibende Naturausstattung kreuzen.14 Objektiv bedrängen den Menschen in schwierigen Entscheidungssituationen Motive und Argumente aus den vier Richtungen, die aber nicht in die gleiche 10 Mit anderen Worten: Hier wird nicht die uneingeschränkte und detaillierte Übernahme von Freuds Triebtheorie, etwa zum Verhältnis von Eros und Thanatos, vorausgesetzt. 11 Die Liste ist, leicht gekürzt, an Ernst-Joachim Lampe, Grenzen des Rechtspositivismus. Eine rechtsanthropologische Untersuchung, 1988, S. 25 f., angelehnt, der die einschlägige Literatur zusammenfasst. Siehe die ähnlichen Formulierungen bei Nussbaum (Fn. 7), S. 49 ff., sowie Philip Selznick, The Moral Commonwealth, 1992, S. 96. 12 Das Sicherheitsbedürfnis wird bei Lampe, a.a.O., genannt. Das Achtungsbedürfnis wird indirekt angesprochen durch das Bedürfnis nach Verwirklichung des Eigenwertes sowie das sozietäre Bedürfnis. Die Interessen an Achtung und Sicherheit beziehen sich auf andere Bedürfnisse und sind Antwort auf die Fragilität deren Entwicklung nach innen (Achtung) bzw. deren Befriedigung nach außen (Sicherheit). Was für die Einzelperson gilt, kann auch für die in Abschnitt V genannten Kulturen von Menschenwürde gelten. Auch kulturelle Identitäten können nach Achtung verlangen, insbesondere wenn sie – etwa im Kampf der Kulturen oder Wirtschaftssysteme – fragil, bedroht sind oder sich so empfinden. Vgl. dazu den unten Fn. 37 genannten Band von Charles Taylor und Selznick (Fn. 11), Kap. 4: Plurality and Relativism, z. B. S. 94: „the main point of relativism is a moral lesson: all people need and deserve respect despite their different habits and cultures“. 13 Dazu näher Matthias Jung, Einleitung, in: Jung/Joas (Fn. 2) mit dem Hinweis auf den Kant-Text „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“, sowie Thomas Fuchs, Die Würde des menschlichen Leibes, Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hrsg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2008, mit Hinweis auf die HegelStelle in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, § 410, S. 186 in der Suhrkamp-Theorie-Werkausgabe Band 10, 1970. 14 Diese „Mitte“ ist eine etwas andere als die in Menschenwürdediskussionen oft vertretene „mittlere Linie des Personalismus“. Dazu exemplarisch Günter Dürig in seiner einflußreichen Erstkommentierung von Art. 1 Abs. 1 GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, der diesen zwischen Individualismus und Kollektivismus angesiedelt sind, a.a.O., Rn. 47. In der Sache ergeben sich viele Überschneidungen.

I. Das anthropologische Kreuz der Entscheidung

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Richtung weisen15, sondern in Spannung zueinander stehen, sich vielleicht sogar widersprechen – zwischen den vier Perspektiven, aber auch innerhalb der einzelnen Perspektiven!16 Das macht die Entscheidung zu einem „Kreuz“ und den Entscheidungsträger zum „Subjekt“, denn wer anders als der Handelnde selbst spürt die Qual der Wahl, die Gott oder die Natur oder die Evolution für ihn, den Menschen, getroffen hat, nämlich die Wahl der Qual der Entscheidungsfindung und Handlungsausdeutung.17 Er, der Mensch, trägt die Verantwortung für die Entscheidung, die er letztendlich trifft; ihn trifft die Zurechnung. Daran knüpft die soziale Umwelt an; daran knüpft auch die gesamte Rechtsordnung an, soweit nicht ganz außergewöhnliche Konstellationen vorliegen, in denen die Bedrängnis durch äußere Faktoren (Zwang, Druck) oder innere Lagen (etwa seelische Krankheiten) so groß ist, dass eine Zurechnung der Handlung gerade zu diesem Individuum als einer abwägungsfähigen Person wegfallen muss.18 Der Akteur im anthropologischen Kreuz der Entscheidung . Sozialisation Interaktion Enkulturation

Persönliche Ideale, Werte; das ideale Ich, Selbst

Rückwärts:

Entscheidung in der Gegenwart Das wahre, eigentliche Ich, Selbst

Wo komme ich her? Vergangenheit Sozialisation Interaktion Enkulturation

Aufwärts:

Abwärts: Antriebe, Bedürfnisse; das empirische Ich, Selbst

Sozialisation Interaktion Enkulturation Vorwärts: Wer will ich sein? Zukunft Sozialisation Interaktion Enkulturation

15 Soweit alle Überlegungen in die gleiche Richtung zeigen, ist es „kein Kreuz“ mit der Entscheidung. Diese versteht sich vielmehr von selbst und wird dann oft, soweit es um wiederkehrende Situationen geht, internalisiert und routinisiert. Dazu schon oben Fn. 3. 16 Mehrere Grundbedürfnisse können sich widersprechen, genauso wie mehrere Ideale (etwa bezogen auf Familie oder Beruf). Ferner kann sich ein Mensch im Blick auf seine eigene Herkunft und Biographie manchmal mehrere Geschichten erzählen. Im Blick nach vorn, in die Zukunft, können sich mehrere Optionen eröffnen. Zum Glück ist es nicht mit allen Entscheidungen ein „solches Kreuz“, und nicht umsonst wird manchmal das Lob der Routine gesungen. 17 Diese phänomenologische Beschreibung von uns selbst trifft unabhängig von den umstrittenen Ergebnissen der neueren Hirnforschung zu. Siehe dazu das eindrückliche Kapitel von Tenbruck (Fn. 5), S. 24 ff. über den Lastcharakter der menschlichen Handlung sowie Thomas Fuchs, Das Gehirn, ein Beziehungsorgan, 2007. 18 Siehe beispielsweise § 20 Strafgesetzbuch. Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

Man sieht deutlich, wie der Personbegriff im Kreuz der Entscheidung verankert ist. Er knüpft in einem weiteren Sinn an die Reflexions- sowie Selektionsfähigkeit des Menschen gerade als Menschen an; hierin liegt seine artspezifische Anlage. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass dieses Gattungsmerkmal in jedem Exemplar der Gattung, in jedem Individuum, angelegt ist und unter Normalvoraussetzungen jedenfalls beim erwachsenen Menschen zugrundegelegt werden kann. Allgemeine Person und besondere Persönlichkeit lassen sich unterscheiden.19 Erstere ist eine Anlage und Würde verleihende Qualität der Gattung Mensch, die in den Formen der Reflexionsfähigkeit und moralischen Ansprechbarkeit in den einzelnen Menschen zutage tritt. Zur Persönlichkeit wird der Mensch durch die besondere Art und Weise, wie er sich im Kreuz der Entscheidung, also geprägt durch seinen spezifischen Mix von Grundbedürfnissen, durch gerade seine Autobiographie, durch gerade seine Auffassung der ihn leitenden Ideale und Werte im Blick nach vorn seine Identität schafft und im Laufe der Zeit umschafft.20 Das mag angepasster und standardisierter geschehen (als Sohn seiner Zeit oder Tochter ihrer Mutter) oder kreativer vorgenommen werden (durch Sinnverleihen und Stellungnehmen); es kann perennierender oder flüchtiger (traditional oder postmodern) geschehen; Persönlichkeitsbildung kann freiwillig oder erzwungen sein, letzteres etwa in Situationen langdauernder Isolation.21 Auf jeden Fall ist ein jeder 19 Die beiden Begriffe werden nicht immer unterschieden. Bei Kant ist der Tendenz nach Person mit Wille und Persönlichkeit mit Willkür bzw. Maximenbildung gekoppelt. Siehe auch das folgende Zitat mit einer treffenden Beschreibung von Persönlichkeitsbildung, aber bezogen auf den Personbegriff, von Klaus Tanner, Ethik in der Medizin, Ärzteblatt Sachsen 12/2002, S. 571, 574: „Eine Person ist immer mehr als die naturwissenschaftlich faßbaren Daten ihrer Existenz. Sie hat eine Lebensgeschichte, die sich aufbaut aus einem Verhältnis zu sich selbst, zur körperlichen wie zur geistigen Dimension der Existenz, wie aus den Beziehungen zu den Mitmenschen und der Umwelt. Zur Person gehört die Vergangenheit wie ihre Zukunft, die Hoffnungen wie die Ängste, die damit verbunden sind.“ 20 Siehe Tenbruck (Fn. 5), S. 31: „In der Deutung unserer Empfindungen legen wir somit unsere Identität fest, versuchen uns klarzuwerden über das, wofür wir stehen, was wir wollen, wünschen oder brauchen, so daß die Deutung unserer Empfindungen zugleich die Ausbildung und Durchordnung unserer Präferenzen ist.“ Man kann für die Unterscheidung von Person und Persönlichkeit auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anführen, das in seiner amtlichen Entscheidungssammlung BVerfGE 5, 85, 204 folgendermaßen formuliert: „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert … Der Mensch ist danach eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ,Persönlichkeit’.“ Verantwortung weist auf die Vernunft (Moralfähigkeit) in einem jeden Menschen an sich hin; in deren Rahmen soll sich dann die individuelle Persönlichkeit entwickeln können, wie exemplarisch Schutzbereich (Persönlichkeitsentfaltung) und Schranke von Art. 2 Abs. 1 GG (Rechte anderer) zeigen. Ähnliche Verweisungen zwischen Person und Persönlichkeit finden sich auch in der Menschenbildformel des Gerichts, etwa in BVerfGE 4, 15 f. 21 Die in Österreich im Alter von 10 Jahren entführte Natascha Kampusch, die dann acht Jahre in einem engen Kellerverlies eingesperrt wurde, bevor sie sich 2006 befreien konnte, schildert ihre Persönlichkeitsentwicklung wie folgt: „Ja, also ich war nicht einsam. In meinem Herzen war meine Familie. Und glückliche Erinnerungen waren immer bei mir. Und ich hab’ mir eines Tages geschworen, daß ich älter werde, stärker und kräftiger, um mich eines Tages befreien zu können. Ich hab’ sozusagen mit meinem späteren Ich einen Pakt geschlossen. Daß es

II. Menschenwürdetheorien: ein Überblick

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Mensch in seinem mehr oder weniger reflektierten Selbstverständnis von dem, was ihn prägt und ausmacht, ein unauswechselbares Individuum.22 Das schließt nicht aus, sondern ein, dass beim Blick auf alle Menschen „Persönlichkeit“ ein Merkmal sowohl des Individuums als auch eine Anlage der Gattung ist. Wenn wir so die Würde des Menschen im Kreuz der Entscheidung verstehen, dann sehen wir klar den Zusammenhang von Würde mit den leitenden Rechtsbegriffen von Person, Persönlichkeit, Verantwortung und Zurechnung. Dann erklärt sich, warum Verfassungen und Menschenrechtspakte die Persönlichkeit und Handlungsfreiheit der Menschen schützen. Die Persönlichkeit ist unauswechselbar, weil sie sich notwendigerweise aus der Ich-Perspektive wahrnimmt – selbst „Otto Normalverbraucher“ ist also aus seiner Binnenperspektive ein Unikat! Handlungsfreiheit meint nicht kausale Nichtdeterminiertheit von Handlung, sondern umschließt vielfältige Beeinflussungen unseres Verhaltens von innen und außen, aber eben auch das Recht, in der Bewertung und Auswahl von Handlungen in dem „Vierspalt“ von Gefühlen und Perspektiven eine eigene, gerade für den Akteur passende Wahl zu treffen.23 Die Gleichheit aller Menschen ergibt sich aus dieser Anlage aller Menschen zum Personsein und Persönlichkeitswerden. Wenn es das ist, was uns vom Tier und der übrigen Natur unterscheidet, und nicht Hautfarbe, Rasse, Geschlecht oder sonstige unveränderliche Persönlichkeitsmerkmale, dann bietet es sich an, den Schutz der Gleichheit „als Mensch“ an eben dieser Anlage festzumachen. Für diese Grundachtung sollten wir nicht darauf abstellen, ob der Einzelne immer und überall in der Lage ist, reflektiert, artikuliert, verantwortlich und individualisiert aufzutreten und zu handeln, obwohl diese Fähigkeiten für die Zuerkennung von Hochachtung bedeutsam sind.

II. Menschenwürdetheorien: ein Überblick Nachdem der erste Durchgang deutlich gemacht hat, wie sich die bekanntesten Topoi von Würde im Kreuz der Entscheidung widerspiegeln und systematisieren lassen, soll in einem zweiten Durchgang geprüft werden, wie sich das Kreuz der kommen würde und das kleine zwölfjährige Mädchen befreien würde.“ Zitiert nach: Mein hauptsächlicher Wunsch ist die Freiheit. Auszüge aus dem Gespräch des ORF-Journalisten Christoph Feuerstein mit dem österreichischen Entführungsopfer Natascha Kampusch, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. September 2006, S. 7. 22 „Authentizität“, ein im Zusammenhang mit Identitätstheorien oft benutzter Terminus, der meist auch als Ideal verstanden wird, meint in diesem Sinn die Übereinstimmung des Handelns mit der im Kreuz der Entscheidung im Laufe eines Lebens geprägten „Persönlichkeit“, die eben einen individuellen Mix von Autobiographie, Bedürfnissen, Idealen und Wegen der Präferenzbefriedigung darstellt. 23 Zu dieser individuellen „Passung“ für die Persönlichkeit wie deren allgemeiner „Verantwortung“ anderen gegenüber, als Person, siehe Brugger (Fn. 2), S. 40 ff., 181 ff.; Matthias Jung, Moralische Selbstbildung und normative Ethik, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2004, S. 67, 71 f.

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

Entscheidung im Hinblick auf die wichtigsten Theorien der Menschenwürde positioniert.24 Zwei analytisch unterscheidbare, letztlich aber praktisch zusammenhängende Deutungsansätze sind zu erkennen: Würde als eine apriorische Voraus-Setzung und als eine aposteriorische Dimension der Verwirklichung unter oft prekären sozialen Voraussetzungen. Theorien der Menschenwürde 1. Würde als im einzelnen Menschen/der Menschheit vorausgesetzte Anlage, Qualität

a) Würde als Mitgift eines jeden Menschen. Von Gott gegeben. Mensch als Geschöpf Gottes

b) Würde als Autonomie. Vernunftnatur der Menschen. Kant. Mensch als Person

c) Würde als Entwurfsvermögen der Menschen, als Bildner und Gestalter. Pico. Mensch als Persönlichkeit

2. Würde als Ergebnis sozialer Interaktion

a) Würde als Ergebnis individueller Darstellungsleistung in sozialen Systemen. Luhmann

b) Würde als gegenseitiges Versprechen der Achtung, Anerkennung und Solidarität. Hofmann

c) Würde in Sozialisation, Interaktion und Kultur eingebettet. Häberle

1. Würde vom Einzelwesen Mensch oder der Menschheit her gesehen Hier wird jedem Menschen als Mensch oder der Menschheit in der Person eines jeden Menschen eine Anlage oder Qualität zugeschrieben, die ihn vor der übrigen Natur und sonstigen Lebewesen, insbesondere Tieren, auszeichnet und damit seine Würde begründet. Würde wird apriorisch vorausgesetzt, nicht aposteriorisch von seinesgleichen verliehen oder gegeben; sie ist ein Faktum, kein Faciendum. Diese Würde muss der Mensch in sich selbst erkennen und achten; dazu sind auch die Mitmenschen und ist die staatliche Gewalt verpflichtet. Die Würde im Menschlichen schließt so Unmenschliches wie Außermenschliches aus.25 Diese Sichtweise tritt in drei Hauptvarianten auf: a) Die Würde des Menschen wird etwa als Geschenk oder Mitgift angesehen. Dann wird ein Schenker oder Schöpfer mitgedacht, etwa der christliche Gott26, der 24 Zu betonen ist, dass meine Selektion sich primär auf juristische Würdekonzeptionen erstreckt, die zahlreich und kontrovers sind, auch was ihre Gliederung oder Systematisierung darstellt. In diesem Sinne ist die folgende kurze Zusammenfassung, auch in Schaubildform, zwar nicht die einzig mögliche, sicher aber eine zentrale Möglichkeit, Würdeaspekte zu gliedern. 25 Zu dieser Formulierung siehe Werner Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 28. 26 Hierzu m.w.N. Dreier (Fn. 1), Rn. 5 f.; Härle (Fn. 6), S. 155 ff. zur Auslegung der ImagoDei-Formel vor allem als „Statthalter Gottes“ und „In-Beziehung-und-Gemeinschaft-mit-Gott-

II. Menschenwürdetheorien: ein Überblick

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den Menschen geschaffen hat.27 „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (1. Mose 1,27). Als Geschöpf oder Ebenbild Gottes kommt ihm eine Dimension der Unverfügbarkeit zu, die ihn rein menschlicher Verfügung etwa in Form von Erniedrigung, Unterdrückung und Ausbeutung entzieht.28 Die Gottesebenbildlichkeit macht den Menschen nicht göttlich, setzt ihn aber in eine relationale Beziehung mit Gott, in der für jeden Menschen Zutrauen, Gottes- wie Menschenliebe möglich wird. Sein Fürsorgeauftrag erstreckt sich auf uns selbst, jeden anderen wie die gesamte Natur, aber in freier Wahl, die der Mensch auch verfehlen kann. Sie eröffnet ihm zudem eine Dimension der Ausdeutung der eigenen Existenz, die Irdisches sorgend umfasst, aber eben darüber hinausgeht und Transzendenz der Immanenz der Welt möglich macht.29 So tun sich Sinndeutungen auf, die selbst noch Krankheit, Leiden und Tod überschreiten können. b) Die Würde des Menschen wird auch im Sinne der Möglichkeit und Aufgabe vernünftiger Selbstbestimmung, als Autonomie verstanden. Kant ist der herausragende Repräsentant dieser Sichtweise. Der Mensch ist für ihn nicht nur ein empirisches Wesen mit dem Drang zum Überleben und Gutleben. Der Mensch ist auch und vor allem ein freies Vernunftwesen, das seine Willkür, seine subjektiven Handlungsmaximen, seinen Entfaltungsdrang auf seine Legitimität im Hinblick auf alle anderen Menschen prüfen kann und muss – weil eben diese Anlage und Aufgabe alle Menschen gleichermaßen prägt und sie aus der Gattung aller Lebewesen herStehen“. Zu den biblischen und vorgängigen jüdischen Konzeptionen von „Imago Dei“ siehe auch Yair Lorberbaum, Blood and the image of god: On the sanctity of life in biblical and early rabbinic law, myth, and ritual, in: David Kretzmer/Eckart Klein (eds.), The concept of human dignity in human rights discourse, 2002, S. 55 ff. 27 Schenker kann auch die „Natur“ sein. Dann ist der Mensch „von Natur aus“ mit Würde begabt, die dann weiter zu spezifizieren ist, etwa als „Vernunft- und Geistwesen“, wie dies in Variante b geschieht. 28 Siehe Philip Selznick, The Communitarian Persuasion, 2002, S. 143, zu einem Grundgedanken von Buddhismus, Hinduismus, Judaismus, Islam und Christentum: „In each person a spark of divinity is found, which is a way of saying each person has intrinsic worth“; Lorberbaum (Fn. 26), S. 56: „However we interpret the term ,image‘, all those interpretations share the assumption that there is a divine ,spark‘, as it were, in human beings. This element establishes man’s humanity and grants him unique status among the creatures in God’s creation, or in other words, his dignity.“ 29 Siehe die Zusammenfassung von Gottesebenbildlichkeit in www.christl-spiritualität.de/ glaubenskurs/o43.htm: „,Gottesebenbildlichkeit‘ zeigt sich am tiefsten darin, daß jeder Mensch in einem Beziehungsgeflecht steht, das ein unvollkommenes und gefährdetes Abbild der Beziehung zwischen Vater, Sohn und Hl. Geist ist. (1) Die Beziehung zu Gott ist der Grund unseres Da-Seins, in ihr erkennen wir erst, warum wir sind bzw. so sind. Sie verleiht uns eine unzerstörbare Würde, die ihrerseits die Gleichheit aller Menschen und die Heiligkeit jedes menschlichen Lebens begründet … (2) Unsere Partnerschaft mit Gott spiegelt sich in den Beziehungen untereinander. Beide sollen von Liebe geprägt sein: Gottes- wie Nächstenliebe … (3) Jeder Mensch steht in einer Beziehung zur übrigen Schöpfung … [in] Fürsorge und Verantwortung. (4) Schließlich steht jeder Mensch in einer Beziehung zu sich selbst … Wir haben nicht nur eine Außen-, sondern auch eine Innenseite. In ihr nehmen wir unseren Wert als einmaliger, unverwechselbarer Mensch wahr; in ihr werden wir uns der Verantwortung für unser eigenes Tun und Lassen bewußt. Darin wurzeln Selbstachtung und Selbstliebe.“

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

aushebt. Sie setzen sich nicht nur Zwecke, sondern weil und insofern sie dies auf eine Art und Weise tun, die sie vor sich selbst und vor anderen verantworten können und die auch eine Staatsgewalt vor ihnen rechtfertigen muss, sind sie Selbstzweck, Person. Alles andere in der Welt hat einen Preis, nur der Mensch hat Würde.30 Deshalb ist seine freie Entfaltung, soweit sie reziprok die Entfaltung aller anderen achtet, ein Menschenrecht, das alle staatliche Gewalt bindet und zum Schutz verpflichtet. c) Kantisches Personsein, Würdehaben ist über den subjektiven Maximen der Lebensführung – dem individuellen Lebensplan – angesiedelt: als genereller, unpersönlicher Prüfungsmaßstab allgemeiner Zumutbarkeit oder gegenseitiger Reziprozität, der von der individuellen Gestaltungsmacht der Individuen gerade abstrahiert. Das ist anders in Würdekonzeptionen, die jeden einzelnen Menschen gerade als Bildner und Gestalter verstehen, wie bei vielen Renaissancedenkern, etwa Pico della Mirandola.31 Hier wird die Anlage und Aufgabe der Menschen vor allem darin gesehen, eine Ordnung hervorzubringen, die für sie als Einzelwesen und in Gemeinschaften, auch politischer Art, passt, die ihnen freie und gleiche Selbstverwirklichung gestattet, Individualität hervorruft und Exzellenzmaßstäbe provoziert. Nur dem Menschen ist es „gegeben …, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will“. In ihm liegen die „Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art“.32 In solchen Konzeptionen wechselt die Emphase von anonymer, gattungs30 Siehe etwa Kant, Metaphysik der Sitten, in der Tugendlehre im Kapitel über die Kriecherei, Akademieausgabe Band VI, S. 434 f.: „Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über jeden Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“ Im zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert Kant: „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jeden Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ Und: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ In der Reclam-Ausgabe 1972, S. 78, 87. Weitere Nachweise bei Dreier (Fn. 1), Rn. 12; Mario A. Cattaneo, Menschenwürde bei Kant, in: Seelmann (Fn. 1), S. 24 ff. 31 Nachweise bei Rolf Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, S. 29 ff., der das Wort von „plastes et fictor“ als Bildner und Gestalter übersetzt und im Begriff Entwurfsvermögen zusammenfasst. Siehe zu Picos ganz im Kreuz der Entscheidung „zukunftsgerichteter“ Auffassung auch Stephan Kirste, Zeit und Rechtsethik, in: Michael Fischer u. a. (Hrsg.), Rechtsethik, 2007, S. 93 ff. Einen Überblick über Pico, Francesco Petrarca und Giannozzo Manetti gibt Eckhardt Keßler, Menschenwürde in der Renaissance, in: Anne Siegetsleitner/Nikolaus Knoepffler (Hrsg.), Menschenwürde im interkulturellen Dialog, 2005, S. 41, 49 ff. 32 Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, in der Übersetzung von H. W. Rüssel, 3. Auflage 1992, S. 11.

II. Menschenwürdetheorien: ein Überblick

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bezogener, kantischer „Person“ zu individueller, auch gemeinschaftsbezogener, sich selbst schaffender und umschaffender „Persönlichkeit“.33

2. Würde als Ergebnis sozialer Interaktion Hier geht es nicht so sehr um im Menschsein als solchem angelegte Potentiale oder Qualitäten, die vor aller Persönlichkeitsprägung oder Handlung eine Unterscheidung von Mensch und Nicht-Mensch oder guter und böser Handlung oder bloßer Nachahmung und kreativer Schöpfung erlauben. Vielmehr wandelt sich Würde von einer kategorialen „Voraussetzung“ zu einem kontingenten und kontextualisierten „Resultat“, von einem Vorgegebenen zu einem Aufgegebenen. Würde entsteht erst oder kommt erst dann zum Vorschein, wenn sie sich im sozialen und kulturellen Zusammenhang bewährt, also menschenwürdige Verhältnisse sachlicher und persönlicher Art hervorbringt. Wiederum lassen sich drei Hauptvarianten unterscheiden. a) Soziale Ordnungen existieren vor den nachwachsenden Menschen. Sie entwickeln Verständigungs-, Deutungs-, und Erwartungssysteme, die sich für die Einzelnen in Rollenverständnissen konkretisieren. Mit diesen wird das in eine Gesellschaft hineingeborene Individuum immer schon konfrontiert, bevor es Person oder Persönlichkeit werden und als solche agieren kann. Soziale Verhältnisse und Systeme sind nach Niklas Luhmann34 kein nachträgliches Anderes zu einem vorgängigen Individuum mit ontologisch, für sich existierender Freiheit und Würde oder einem isolierbaren Selbst. Freiheit und Würde repräsentieren für ihn die äußere und die innere Ebene der gelungenen Selbstdarstellung in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten. Gelungen ist die Selbstdarstellung, wenn die jeweilige Rolle sowohl kontextgerecht, der Persönlichkeit des Agierenden angemessen wie für die Umwelt verständlich ausgefüllt wird. So wird der Mensch „die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt“.35 „Selbstdarstellung ist jener Vorgang, der den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden lässt und ihn damit in seiner

33 Ohne Pico-Bezug erhellend beschrieben von Terry Pinkard, Democratic Liberalism and Social Union, 1987, Kap. 2, zusammenfassend S. 27: „In these social unions we have not merely ideals of the person but also of personality“. Man kann auch sagen: Der Person entspricht ein Begriff universeller Moral, der Persönlichkeit ein Begriff partikularisierter Ethik des individuell und gemeinschaftlich guten Lebens. Siehe a.a.O.: „Only within social unions do we have ethics and not just morality. It is in social unions that the thicker conception of the self emerges; in it we have, along with the set of rights, duties, and permissions, the nexus of ideals of human flourishing, of what is the proper life in that context.“ 34 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 3. Auflage 1986, Kap. 4: Die Individualisierung der Selbstdarstellung: Würde und Freiheit, S. 53 ff. 35 Luhmann, a.a.O., S. 60.

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Menschlichkeit konstituiert. Ohne Erfolg in der Selbstdarstellung, ohne Würde, kann er seine Persönlichkeit nicht benutzen.“36 b) Während Person und Persönlichkeit bei Luhmann sich vorrangig über Systemanforderungen an Darstellung und Verhalten konstituieren, mit von Situation zu Situation und von System zu System variierenden Möglichkeiten individueller Kreativität, liegt der Schwerpunkt in Anerkennungstheorien anders. Das wird etwa bei Hasso Hofmann deutlich.37 Zwar dominiert auch hier die soziale Perspektive der Beziehung der Menschen zueinander in den unterschiedlichsten Formen von Vergemeinschaftung, doch wird die Systemeinbindung überschritten durch Rückgang auf den Akt gegenseitiger Achtung, Anerkennung, Integration und Solidarität, sei es in Beziehungen grundlegender, auf jeden Menschen als Person bezogener Achtung, oder darauf aufbauender, auf einzelne Menschen als herausragende Persönlichkeiten bezogener Hochachtung.38 Kommunikation in Relation steht hier im Vordergrund39, aber nicht systembezogen oder im Sinne der Selbstdarstellung, sondern der Bindung in Gemeinschaft mit dem Versprechen, sich gegenseitig zu achten und fördern. Man könnte sagen: Die zunächst unter 1. dargestellten, auf den Einzelmenschen oder die Menschheit abstellenden Würdekonzeptionen unterliegen in der Anerkennungstheorie einer soziologisch-normativen Transformation: Würde konstituiert sich in konkreten Gemeinschaften, die auf dem gegenseitigen Versprechen der Anerkennung der (a) Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, (b) der Autonomie eines jeden Menschen und/oder (c) seiner Kreativität und Gestaltungskraft beruhen. Der Unterschied liegt in der Koppelung des schon für das Einzelwesen Mensch möglichen „Erkennens“ mit dem auf sich wie andere bezogenen „Anerkennen“ des jeweiligen Verständnisses von Menschsein als Gattungsperson und individuelle Persönlichkeit. Der Unterschied liegt ferner in der Kontextualisierung der Würdebeziehungen: Diese sind kontingent, von gegenseitigen Zuschreibungen und Bindungen an Versprechen abhängig. c) Die Kulturtheorie der Menschenwürde von Peter Häberle40 schließlich knüpft an alle vorgenannten Menschenwürdeverständnisse an und stellt sie in den Ge36 Luhmann, a.a.O., S. 69. Zu dem vielen Rollen inhärenten, aber auch schon vor jedem Rollenverständnis angesiedelten leibbezogenen Begriff der Würde des Menschen und seiner Darstellung siehe den Beitrag von Thomas Fuchs (Fn. 13). 37 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts 118 (1993), S. 353 ff. Aus sozialphilosophischer Sicht siehe etwa Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 1994; Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2. Auflage 1993. 38 Siehe Hofmann, a.a.O., S. 370. 39 Hofmann, a.a.O., S. 364: „Jedenfalls im Rechtssinn ist Würde … kein Substanz-, Qualitäts- oder Leistungs-, sondern ein Relations- oder Kommunikationsbegriff.“ 40 Siehe Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage 2004, Band II, § 22, insbesondere D. Der eigene Ansatz: I. Menschenwürde, Kultur, Persönlichkeit, Rn. 46 ff.

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samtzusammenhang von kulturspezifischen, auch religiösen Verständnissen von Personsein und gelungener Persönlichkeitsentfaltung ein. Hier liegt die Betonung weniger auf der Selbstdarstellung oder der relationalen Anerkennung und stärker auf der Herausbildung und Fortentwicklung von Erfüllungsgestalten individueller Lebensführung, sozialer Interaktion und Organisation sowie angemessener Rechtsherrschaft.41 Solche „Identitäten“ werden von Recht und Staat teils hervorgebracht oder geformt, teils von den Mitgliedern der Gesellschaft an das Recht herangetragen, mit dem Anspruch auf Anerkennung. Wichtig ist für Häberle, dass es neben partikularen und flüchtigen Identitäten auch konstante, perioden- und kulturkreisüberschreitende und in diesem Sinne universelle Person-, Persönlichkeits- und somit auch Menschenwürdekonzeptionen gibt, an die das Recht, auch ein Europa- und Weltrecht, anschließen kann.42 So wird die vom negativen Verletzungsvorgang von Menschenwürde her gedachte „Objektformel … zur Subjektformel; der Verfassungsstaat verwirklicht Menschenwürde, indem er die Bürger zum Subjekt ihres Handelns macht“.43 Diese Subjekthaftigkeit schließt den Du-Bezug, die Anerkennungsrelation, genauso ein wie die Verantwortlichkeit aller Menschen für alle Menschen, heute und für künftige Generationen.44

III. Zur Integrationsleistung des Kreuzes der Entscheidung 1. Schaut man auf die drei Haupttypen von juristischen Menschenwürdetheorien mit dem Schwerpunkt auf der Einzelperson oder auch der Gattung Mensch als solcher, also auf die in der Tabelle unter 1. angesprochenen Deutungsansätze, dann erkennt man, dass das Kreuz der Entscheidung allen drei Varianten eine Heimat bietet. Würde als Mitgift eines Schöpfergottes anzusehen, kann nicht von jedem verlangt werden, weil das in freier Zuwendung den Glauben an einen solchen Schöpfer oder an eine sonstige letzte Wahrheit, Begründung oder Offenbarung 41 Häberle zitiert a.a.O., Rn. 48 ff. „Identitätskonzepte“ u. a. der Wissenssoziologie, des Symbolischen Interaktionismus, der Systemtheorie und verweist auf Autoren wie Parsons, Berger/Luckmann, Mead und Luhmann. Im Detail gibt es zwischen diesen Autoren natürlich Unterschiede, wie Joas/Knöbl (Fn. 7) deutlich machen. 42 Häberle erwähnt a.a.O., Rn. 49 keine Beispiele, nur Literatur, die Beispiele kommen dann, bezogen auf Art. 1 Abs. 1 GG, ab Rn. 56. Zu den „cultural universals“ siehe Selznick (Fn. 11), S. 96: „A long list of ,moral universals‘ could be drawn up, including the fact of morality itself, which includes subordination of individual inclination to the perceived welfare of the group; the ideal of preserving human life; looking to the welfare of close relatives; prohibiting murder and theft, valuing affection and companionship; reciprocity in helping and being helped; and hospitality.“ Zu den Gründen, warum es zu solchen kommt, siehe S. 97 f. Zur „psychic unity of mankind“ S. 99 ff., 134, 484. 43 Häberle, a.a.O., Rn. 52. 44 Siehe a.a.O., Rn. 54 zu Art. 7 Abs. 1 S. 2 Verfassung von Brandenburg („Jeder schuldet jedem die Achtung seiner Würde“) und Rn. 55 zur „Generationenperspektive“.

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

voraussetzt.45 Aber dass die Transzendenz eine spezifische Möglichkeit des Menschen, aller Menschen darstellt, zeigt die Tatsache, dass solche Vorstellungen jedenfalls seit unvordenklicher Zeit das Selbstverständnis gerade und nur von Menschen geprägt haben.46 Würde als Autonomie im Sinne Kants ist schon im die Persönlichkeit umfassenden und eingrenzenden Personbegriff angesprochen worden; beide Ebenen treffen sich im Kreuzungspunkt der vier Reflexionsebenen des Kreuzes der Entscheidung; sie stellen den Zusammenhang aller Menschen als Menschen wie als besondere Persönlichkeiten her. Würde als Bildner und Gestalter des Menschen selbst (und dann auch der Welt) ergibt sich ohne weiteres aus der Notwendigkeit der Selbstformung gerade dieses einen Individuums in „hard cases“47, auch wenn diese Selbstformung nicht immer ein kreatives, sondern öfter auch ein angepasstes Individuum, ja manchmal sogar einen „Massenmenschen“ hervorbringt. Jedenfalls für einige existentielle Entscheidungslagen im Leben, etwa bezüglich Partner, Beruf, Krankheit und Tod, wird aber auch ein solcher „Normalbürger“ die Qual der Wahl einer unabweisbar anstehenden Entscheidung erleiden. 2. Was Würde als soziale Leistung angeht, also die in der Tabelle unter 2. genannten Interpretationsansätze, so sind zwei Teilaspekte dieser Sicht schon angesprochen worden: Es ergibt erstens mehr Sinn, die Gattungsqualität der Menschen im Hinblick auf Personsein und Persönlichkeitsbildung produktiv mit ihrer individuellen Entfaltung zu verbinden, also ihre Potentialität und Aktualität verstärkend zu verknüpfen, als im Versagensfall der individuellen Persönlichkeitsdarstellung die Würde der Person mitentfallen zu lassen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass wir bei misslungener familiärer, professioneller, künstlerischer oder sonstiger Selbstdarstellung keine Hochachtung von Seiten anderer erwarten können, aber das sollte

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An diesem Punkt sind die Religionsfreiheit und die Scheidung von (weltlichem) Staat und (geistlicher) Kirche als Schutz der Selbstbestimmung im transzendenten Bereich und in der Gewissensbildung angesiedelt. Siehe Winfried Brugger, Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche, Archiv des öffentlichen Rechts 132 (2007), S. 4 ff. 46 Siehe Shmuel Eisenstadt, Die Achsenzeit in der Weltgeschichte, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, S. 40 ff., der vorachsenzeitliche Kulturen und Achsenkulturen unterscheidet. Diese bildeten „sich während der Zeit 500 v. Chr. bis zum Aufstieg des Islam heraus… In dieser Zeit entstanden neue ontologische Visionen, Vorstellungen von einer Spannung zwischen der transzendenten und der weltlichen Ordnung, und dies in vielen Teilen der Welt: im alten Israel, im Judentum des Zweiten Tempels und im Christentum; im alten Griechenland; nur teilweise im zarathustrischen Iran; im frühen kaiserlichen China; in Hinduismus und Buddhismus; und, schon nach der eigentlichen Achsenzeit, im Islam“ (S. 40). Die achsenzeitliche Sichtweise „erzeugte eine starke Neigung, das weltliche Leben, etwa die soziale Ordnung, die Persönlichkeit sowie die kulturellen Tätigkeiten, neu zu gestalten. Zum anderen weckte sie ein Bewußtsein davon, daß es eine Welt jenseits der Grenzen der jeweiligen Gesellschaft gebe, eine Welt gleichsam, die der Gestaltung offenstehe“ (S. 42). Man sieht deutlich den Bezug zur Würde als Bildner und Gestalter, bezogen auf die Einzelperson, aber auch die sozialen Verhältnisse. 47 „Hard cases“, Kap. 4 in Ronald Dworkins „Taking Rights Seriously“, 1978, stellen das juristische Pendant zu Entscheidungen im Kreuz der Entscheidung dar.

IV. Vom Aktionskreuz zum Interaktionskreuz der Entscheidung

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nicht ausreichen, die einer Person geschuldete Grundachtung entfallen zu lassen.48 Die Luhmannsche Auffassung, die Würde an reale Darstellungsleistung koppelt, ist insoweit einzuschränken.49 Zweitens sollten die Anlagen des Menschen zur Entfaltung kommen können; sie verdienen im sozialen Gefüge wie in der Rechtsordnung „Achtung und Schutz“, wie Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG für die Menschenwürde festlegt. Damit ist auch schon der Kerngedanke der Anerkennungstheorie angesprochen.

IV. Vom Aktionskreuz zum Interaktionskreuz der Entscheidung Wenn die Würde selbst, oder jedenfalls ihre Verwirklichung und Repräsentation, von der Achtung und Förderung anderer Akteure abhängt, dann findet auch diese Sichtweise eine Erklärung im Kreuz der Entscheidung.50 Denn der oder die anderen Menschen im Umkreis des Akteurs sind zwar zunächst dessen „Umwelt“, aber eben auch eigenständige Akteure in ihrem Kreuz der Entscheidung. In der realen Welt stehen Menschen nicht isoliert nebeneinander, sondern agieren miteinander und ergänzen oder konfrontieren sich mit ihren je eigenen Deutungen, Wertungen und Handlungen.51 Aktion ist, vom Rückzug ins Private zur Meditation, Reflexion und

48 Hochachtung und Grundachtung oder soziale (äußere) Ehre und (innere) Menschenehre werden auch im Strafrecht bei den Beleidigungsdelikten der §§ 185 ff. Strafgesetzbuch unterschieden. Siehe dazu Winfried Brugger, Verbot oder Schutz von Haßrede, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), S. 372, 383 f. 49 Dass Luhmanns Analyse dem Kreuz der Entscheidung nicht so fern steht, ergibt sich in „Grundrechte als Institution“ (Fn. 34), S. 61 Fn. 24 daraus, dass er selbst nicht glaubt, im Rahmen dieser Untersuchung eine „adäquate psychologische Persönlichkeitstheorie“ geboten zu haben; er habe auf den „wohl wichtigsten Problemkomplex dieser Theorie“, die „Fragen der internen Differenzierung der Persönlichkeitsstruktur“, verzichtet. Dann verweist er auf dafür einschlägige Arbeiten von Freud und George H. Mead und diagnostiziert: „Ohne selbst eine strukturell differenzierte Einheit zu sein, könnte die menschliche Persönlichkeit sich nicht in einer differenzierten Umwelt als relatives System konstituieren.“ Das „Kreuz der Entscheidung“ liefert eine solche ausdifferenzierte Einheitssicht. Dass das Recht auf Achtung würdiger Selbstdarstellung wichtig, wenngleich nicht das Ganze der Menschenwürde ist, zeigt sich immer wieder in Situationen von außen erzwungener Entwürdigung, wie zum Beispiel bei den Folterbildern aus dem irakischen Gefängnis in Abu Ghraib. Dazu auch Fuchs (Fn. 13). 50 Das meint: Zusätzlich zu den im Vorigen genannten Schritten von Gattung zu Einzelmensch, von Person zu Persönlichkeit und von Anlage zu Verwirklichung zunächst in eigener Person sowie dann auch im sozialen Zusammenhang, von dem in diesem Abschnitt die Rede ist. 51 Die Formulierung macht deutlich, dass der Schwerpunkt der Darstellung bei Jugendlichen und Erwachsenen liegt, also jenseits der frühkindlichen und kindlichen Sozialisation, die zunächst von Einheit statt Zweiheit und Affektion statt Kognition ausgeht. Die Sozialisation ist aber im realen Leben wie im Kreuz der Entscheidung (Biographie, Blick nach hinten) von zentraler Bedeutung. Hierzu näher Axel Honneth, Verdinglichung, 2005, Kap. III, und hierzu die Besprechung von Winfried Brugger, ARSP 93 (2007), S. 587 ff.

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auch Vorbereitung auf das Nach-außen-Treten abgesehen52, Interaktion.53 Diese kann eingeübt, problemlos, befriedigend oder aber auch kreativ und konflikthaft sein.54 Das ruft dann im Zweifelsfall Recht und Staat auf den Plan mit der Aufgabe der gewaltfreien und möglichst produktiven Bewältigung solcher Krisen.55 Wie auch immer, in solchen Interaktionen wird vorausgesetzt, dass jeder Akteur als ein eigenständiger Träger von Deutung, Bewertung und Handlung zählt und darin frei und gleich und auf Reziprozität angelegt ist. Darin kommt der Anspruch auf Achtung seiner Würde zum Ausdruck. Das gilt im Kreuz der Entscheidung grundsätzlich für alle vier Perspektiven: im Hinblick auf die Grundbedürfnisse – etwa die auf Leiblichkeit bezogenen Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Ruhe, Fortpflanzung, Sexualität. Es gilt aber auch in Bezug auf das biographische Selbstverständnis in Form der vergangenheitsinformierten und gleichzeitig zukunftsorientierten Identität und Authentizität samt den darin verarbeiteten Idealen. In solcher Interaktion steckt ein konsentierter Kern, aber auch der Kern für viele streitige Fragen: Der Konsens erstreckt sich auf die grundsätzliche Anerkennung der Wichtigkeit der in den vier Perspektiven auftauchenden Aspekte von Personsein und Persönlichkeitsentfaltung für alle Menschen in Aktion, gleichermaßen. Juristisch könnte man sagen: Im Blick auf den Einzelakteur mit seinem Kreuz der Entscheidung erschließen sich einschlägige „Rechte auf“ Achtung und Schutz. Das „Recht auf“ erschließt aber noch nicht den Adressaten der Verpflichtung, das „Recht gegen“; es präzisiert auch noch nicht den konkreten Umfang der beidseitigen oder mehrseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen.56 Hier beginnen oft der Dissens und die Konkurrenz von Geben und Nehmen, von Fragen der angemessenen Reaktion auf Verletzungen von Moral und Recht ganz abgesehen. Solche Konkurrenzen löst das Kreuz der Entscheidung im Detail so wenig wie eine schlichte Berufung auf die

52 Damit sind die beiden wesentlichen Gründe für den Schutz von Privatsphäre angesprochen: Menschen können und wollen, jedenfalls vorübergehend, „für sich“ sein, in der Intimsphäre oder in der vita contemplativa, oder aber sich in Privatheit auf die Darstellung des Selbst in Öffentlichkeit vorbereiten. Es verwundert nicht, dass bei Luhmann das letztgenannte Element im Vordergrund steht: Fn. 34, S. 67. 53 Darauf liegt der Schwerpunkt im Symbolischen Interaktionismus (oben Fn. 7), der die hier im Kreuz der Entscheidung analytisch getrennten Ebenen von Sozialisation, Interaktion und Enkulturation in ihrer praktischen Verwobenheit näher analysiert. 54 Zu Kategorisierungen dieser Interaktionsformen siehe etwa Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 16 ff. (Gewaltgemeinschaft, Kooperationsgemeinschaft, Gemeinschaft von Not und Leid); Honneth (Fn. 37), S. 211 (drei Formen der Anerkennung: emotionale Zuwendung, kognitive Achtung, soziale Wertschätzung – mit entsprechenden Missachtungsformen) und Selznick (unten Fn. 65). 55 Zur Sicherung von Gewaltfreiheit als unbestrittener Grundaufgabe von Staatlichkeit siehe Luhmann (Fn. 34), S. 56 f.; Winfried Brugger, Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 39, 45. 56 Zu diesen Aspekten eines vollständigen juristischen Rechts siehe Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, § 4 III. Anders formuliert: Erst wenn klar ist, wer was wann von wem und wie verlangen kann, ist mit ausreichender Sicherheit ein subjektives Recht gewährleistet.

IV. Vom Aktionskreuz zum Interaktionskreuz der Entscheidung

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Würde aller Menschen; es bedarf zusätzlicher Abwägungen. Drei Voraussetzungen zur Lösung solcher Konfliktlagen lassen sich aber benennen: (1) Zunächst sollten bei solchen Abwägungsentscheidungen grundsätzlich alle Menschen als betroffene Personen und Persönlichkeiten ein Recht zur Mitsprache haben und gehört werden. Das führt politisch zur Demokratie als Menschenrecht sowie zu vorgelagerten Kommunikationsrechten wie Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit. (2) Weiterhin bietet sich neben diesem Prozedurargument inhaltlich ein Kernoder Wesensgehaltsargument an: Jedenfalls ein Basiselement der jeweiligen vier Perspektiven des Kreuzes sollte geachtet und – von dann noch näher zu spezifizierenden anderen Akteuren – gefördert werden. Dazu einige Beispiele, die sich im Kreuz der Entscheidung aufdrängen und typischerweise auch in modernen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen garantiert sind: Im Blick nach unten geht es um die Organisation der Sicherung des Existenzminimums eines jeden Menschen, im Blick nach oben etwa um die Absicherung eines Freiraums für Religion und Weltanschauung. Wesentlich im Blick in die Vergangenheit, nach hinten, ist z. B. die Achtung und Förderung der Instanzen von Ehe und Familie, in denen wir unsere Biographie entwickeln. Im Blick nach vorn ist die Anerkennung jedenfalls eines Bereichs von eigener Zukunftsplanung und Zweckwahl zu sichern. Man kann diese vier Reflexionsebenen auch zusammenfassen und formulieren: Für die Achtung der Würde der Menschen ist es wesentlich, dass jedenfalls im Kernbereich ihre Integrität gesichert ist, sowohl im Hinblick auf ihre Physis und körperliche Bedürftigkeit als auch die Psyche oder Identität, die sich der Mensch im Laufe seiner Lebensgeschichte bildet.57 (3) Schließlich bedarf die konkrete Abwägung von Fordern und Leisten, Geben und Nehmen einer Berücksichtigung der Sphären von Interaktion mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen von Nah- bis Ferngemeinschaft, von Emotion bis „rational choice“, von sektoralen und spezifischen bis zu universellen Zusammengehörigkeitsaspekten.58 Eine solche gestufte Sphärentheorie von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung bietet zum Beispiel der liberale Kommunitarismus, der den Eigenstand oder Selbstzweckcharakter eines jeden Menschen anerkennt, jedoch dann auf eine angemessene Abschichtung und gegenseitige Ergänzung der jewei57

Zur Integrität als hier passender Formel siehe Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, 2005; Tiedemann (Fn. 1), Kap. VII, und Sibylle van der Walt/ Christoph Menke (Hrsg.), Die Unversehrtheit des Körpers, 2007. Verbindet man dieses Integritätsinteresse mit dem kulturellen Integrationsinteresse, ist man bei der Theorie des liberalen Kommunitarismus angelangt, dessen Motto „integrity and integration“ lautet. Siehe Selznick (Fn. 11), S. 7, 33 f., 36, 70, 193, 212 ff., 322, 369. Auch im Recht wird Integrität geschützt: Brugger (Fn. 2), Kap. XX 3. Siehe ferner die Entsprechungen dieses Arguments zu meiner Menschenbildformel in „Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten“, in: Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hrsg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, 2007, S. 216, 234 f. 58 Dazu schon einige Hinweise oben Fn. 54.

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ligen Vergemeinschaftungsformen mit den unterschiedlichen Berechtigungen und Verpflichtungen abzielt.59 Dass wir hier zur Abwehr von Totalitarismen Sphären trennen und Gewalten teilen müssen, ist grund- und menschenrechtlich unstreitig.60 Die im Recht anerkannte Differenzierung von „Staat und Gesellschaft“61 sowie die Menschenrechte als Abwehrrechte beugen Souveränitätsanmaßungen vor und sind gleichzeitig Ausdruck der Pluralität von Lebensformen, in denen Menschen leben und Sinn und Erfüllung finden können. Menschen in jeder dieser Gemeinschaften, auch und gerade in Näheverhältnissen, sind freilich auch Gefährdungen unterworfen, etwa durch Gewalt gegen Ehepartner oder durch Verwahrlosung von Kindern in Familien, so dass hier, wie schon angesprochen, Recht und Staat demokratisch Kontrolle ausüben dürfen und müssen.

V. Die kulturelle Umformung von Aktion und Interaktion im Kreuz der Entscheidung: Enkulturation Die Auseinandersetzung um die Maßstäbe für gelungene Interaktion und deren Festlegung geschieht nicht auf einer tabula rasa, sondern ist immer schon kulturell vorgeformt. Das ist der richtige Kern der Kulturtheorie von Würde. Da die Menschen, anders als Tiere, nicht weitgehend in ihrem Handeln vorprogrammiert sind, sondern, auf Basisdispositionen und Grundbedürfnissen aufbauend, selbst erfahrungsgeprägte Handlungsschemata festlegen62, wachsen wir immer schon in einer mehr oder weniger verdichteten und strukturierten Welt von Deutungsmustern auf, die aus auch bei Tieren vorfindbarer Sozialität nur in menschlichen Gemeinschaften vorfindbare Kulturalität macht.63 Diese reicht von der Agrikultur bis zur Hochkultur, 59 Hierzu neben Fn. 57 Brugger (Fn. 56), §§ 11 – 13 und die oben Fn. 11 und 28 zitierten Schriften von Philip Selznick. Eine solche Theorie nimmt, wie Selznick (Fn. 11), S. 360 ff. darlegt, die Elemente von „historicity, identity, mutuality, plurality, autonomy, participation, integration“ auf, die sich alle schon im Kreuz der Entscheidung wiederfinden, dann aber in Bezug auf das Gemeinschaftsleben weiterentwickelt werden. 60 Siehe aus sozialphilosophischer Sicht Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, 1992 (Original: Spheres of Justice, 1983), und Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral, 1997, Teil 3: Differenzierungstheorien der Moral – Die neuen Grenzgötter. 61 Siehe die Zusammenstellung klassischer Texte von Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1976. 62 Siehe Selznick (Fn. 11), S. 130: „Human biology cannot account for specific ways of feeding, mating, competing, fighting, or helping. There is no genetic program for warfare, none for the complex realities of violence or love.“ 63 Siehe eindrücklich Tenbruck (Fn. 5), Kap. 2: Der Mensch: ein Kulturwesen, S. 45 ff.; ferner Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, 2001, S. 436 f. Man kann auch an den Schritt in Talcott Parsons’ Sozialtheorie in „Toward a General Theory of Action“ (1951) und „The Social System“ (1951) sowie späteren Schriften vom Persönlichkeitssystem über das Sozialsystem zum Kultursystem denken. Hier entspricht diesem Schritt die Stufung der Analyse von

V. Enkulturation

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von der Sozialisation im Nahbereich über Bearbeitung der Natur in Wirtschaft und die Ordnung des sozialen Zusammenlebens in Politik und Recht bis zu deren Deutung in Kunst, Metaphysik, Religion und Literatur. Das Faktum Kultur tritt in allen menschlichen Gemeinschaften auf, sozusagen gleichermaßen. Aber die vielen Einzelkulturen messen nicht notwendig mit gleichem Maß. Im Laufe der Entwicklung, also in der kollektiven Horizontalen des Kreuzes der Entscheidung, haben die Gruppen, Völker und Länder in der vertikalen Reflexion variierende Maßstäbe von Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung der vielfältigen Grundbedürfnisse64 entwickelt; gleichzeitig haben sie partiell unterschiedliche Organisationsformen von Lebenssicherung über Wohlstandssicherung bis zu Exzellenzmaßstäben geschaffen.65 Wie die Interaktionen konkreter Menschen treffen auch die Kulturen aufeinander. Dann ergeben sich inhaltliche Überschneidungen, vielleicht sogar „cultural universals“, aber auch konkurrierende und im schlimmsten Fall gegensätzliche Deutungen von Bearbeitung, Ordnung und Deutung der Welt, bis hin zu möglichen „clashes of cultures“66, generell oder in speziellen Bereichen, wie etwa in der Einstellung zur Sexualität zwischen westlicher Liberalität und islamischer Zurückhaltung.67 Im Bereich der „Bearbeitung“ der Natur ist etwa zu denken an den Umgang mit Wasser, Klima und Rohstoffen; bei der „Ordnung“ der sozialen Verhältnisse ist z. B. streitig, ob und wie Globalisierung weltweit mehr positive oder negative Auswirkungen mit sich bringt; bei den „Deutungsfragen“ geht es unter anderem um die angemessene Rolle von Religion im Verhältnis zur weltlichen Gewalt.68 Auch hier ist es wiederum die Aufgabe des Rechts, und nun vor allem des Völkerrechts, für Gewaltfreiheit zu sorgen, Krieg zu verhindern, aber eben möglichst auch Friedfertigkeit und Kooperation zu sichern. der Aktion des Handelnden über Interaktion zu Enkulturation. Zu Parsons’ Entwicklung siehe Joas/Knöbl (Fn. 7), 2. und 3. Vorlesung, z. B. S. 98 f., 111 f., ferner ebenda die 6. Vorlesung zum Symbolischen Interaktionismus, der schon in Fn. 7 und 53 erwähnt wurde. 64 Zu diesen kantischen Stichworten schon oben Fn. 8. 65 Hierzu informativ Selznick (Fn. 11), S. 91 („group survival“ und „valued ways of life“), 96 ff. (97: Unterschied zwischen „to survive“ und „flourish“), 102, 110, 124, 130, 260, 537, der die „funktionelle Ebene“ der für alle in Gemeinschaft lebenden Menschen grundlegenden Aufgabe von Lebenssicherung überhaupt von der „kulturspezifischen“ Vielfalt der Lebensformen im Hinblick auf deren Ausformung, quantitative Verbesserung, qualitative Einordnung und symbolische Auszeichnung unterscheidet. An anderer Stelle (S. 208) spricht er ebenso erhellend von den beiden Grundaufgaben menschlicher Organisation, „to guard against“ erwartbare Übel oder Versuchungen als Mindestaufgabe, verbunden mit der Ermöglichung dessen, was Menschen sich erhoffen und in Form von „master ideals“ anstreben können, what they can aspire to. 66 Siehe hierzu den Bestseller von Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order, 1996. Zu den „cultural universals“ schon oben Fn. 31, 45. 67 Hierzu John Vinocur, Politicus: Sex as a flash point in clash of civilizations, International Herald Tribune vom 4. September 2006, S. 2, unter Hinweis auf John Updike, Terrorist, 2006, und Max Gallo, Les Fanatiques, 2006, die diese Diskrepanz literarisch ausleuchten. 68 Hierzu näher Brugger (Fn. 45).

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

Den Kulturen selbst „Würde“ zuzusprechen, ist nicht produktiv, denn sie sind allemal Produkte menschlicher Kreation und Organisation im Kreuz der Entscheidung.69 Soweit sie allerdings wirkkräftige Produkte sind, die sich über lange Zeit entwickelt haben, ohne Gewalt ausgekommen sind oder diese zumindest rechtsstaatlich gezähmt haben, und soweit die Kulturen einen aufweisbaren Nexus zur Bereicherung unseres Verständnisses vom Leben in der vertikalen und horizontalen Dimension haben, spricht eine Vermutung der Vernünftigkeit oder Legitimität für sie.70 Das schließt eine Evolution und Pluralität der einschlägigen Konzeptionen etwa von Ehe, Familie, Solidarität, Recht, Staat nicht aus, solange wir „nicht außerhalb der Geschichte“, also ohne Berücksichtigung der horizontalen Verständigungsschiene, und „außerhalb unserer Basisverständnisse von individueller und kollektiver Identität“, also unter Wegfall der vertikalen Rechtfertigungsschiene unserer Grundbedürfnisse, vorgehen.71 Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bleiben möglich, etwa stärkere Betonungen von Tradition gegenüber größerer Emphase auf Zukunftsplanung72, oder Rufe nach mehr Realismus gegenüber Bestärkungen menschlicher und gesellschaftlicher Idealität.73 Soweit Kulturen sich in diesem Sinne bewährt haben, kann und soll und muss ihnen nach mancher Ansicht ein gewisser Eigenwert zukommen, der sie zu Schöpfern und die in ihr Aufwachsenden zu Geschöpfen dieser Kultur macht. Aber absoluter Selbstwert74 kommt ihnen nicht zu; sie 69 Siehe Joas/Knöbl (Fn. 7), S. 183 zur „Interpretationsabhängigkeit von Werten und Normen“ und S. 202 ff. zur Interpretationsabhängigkeit von Organisationen. 70 Die Vermutung würde sich darauf beziehen, dass diese Ordnungen in Bezug auf unsere Grundbedürfnisse zu einer angemessenen „Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung“ geführt haben. Zu diesem Kantischen Motto schon oben Fn. 8 sowie ähnlich Tenbruck (Fn. 5), S. 52: „Jede Gesellschaft benötigt und besitzt einen Fundes gemeinsamer Wirklichkeitsverständnisse und bildet ihre charakteristischen Vorstellungen über Mensch und Natur wie die sonstigen Mächte und Ordnungen aus, die das Denken der Menschen jeweils charakteristisch fundieren, limitieren und legitimieren.“ 71 Diese Analysen ex negativo spielen z. B. bei der oft vertretenen Überlegung eine Rolle, dass, wenn schon dasjenige, was die Gerechtigkeit gebiete, im Positiven streitig sei, man jedenfalls dasjenige ausschließen solle, was klar ungerecht (oder „geschichtsvergessen“) sei. Zu den Gesichtspunkten des „geistigen Horizonts“ und der „historischen Situation“ auch Maihofer (Fn. 25), S. 10. 72 Hier geht es um unterschiedliche Freiheits- und Rationalitätsverständnisse, etwa das „englische“ gegen das „französische“ Rationalitätsverständnis oder Liberalismus gegen Konservatismus. So Friedrich von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 3. Auflage 1991, Kap. 4: Freiheit, Vernunft und Überlieferung, S. 65 ff., und Nachwort: Konservativismus und Liberalismus, S. 481 ff. 73 Hier kann man etwa an unterschiedliche Politikverständnisse, auch in einzelnen Ländern, denken: Machtvolle Interessenpolitik gegen prinzipienorientierte Idealpolitik ohne Durchsetzungswillen. Siehe zu dieser umstrittenen These Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, 2003. 74 So, in Abweichung von der kantischen Terminologie, Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 4. Auflage 1977, Kap. 4: Transzendenzen, S. 14 ff., mit einer Beschreibung von Stufen kultureller Verdichtung und Institutionalisierung von (1) instrumentellem Daseinswert (erfasst Dinge als Gegenstand aktueller und potentieller Bedürfnisbefriedigung jeder Art), (2) Selbstwert im Dasein (vermittelte Bedürfnisbefriedigung in Bezug auf Dinge oder Verhältnisse,

VI. Rückblick und Ausblick

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sind, kantisch gesprochen, keine Selbstzwecke, das können nur Menschen, Personen und Persönlichkeiten sein, wie das Kreuz der Entscheidung zeigt, in dem nur sie sich verstehen, deuten, bewerten und handeln, individuell wie kollektiv.

VI. Rückblick und Ausblick Damit lässt sich die Leistungsfähigkeit des Kreuzes der Entscheidung im Positiven wie Negativen festhalten: Positiv ist seine Integrationsfunktion in Bezug auf die wichtigsten Ansätze zur Deutung der Menschenwürde, die sie gleichzeitig anthropologisch fundiert. Sie ist, wenn man so will, eine Ensembletheorie der Menschenwürde75, aber eben eine systematisierte, architektonisch in die vier Perspektiven von Wertung und Entscheidung ausdifferenzierte Theorie.76 So wird deutlich, dass „aktionistisch“ sowohl Bedürfnisansätze (im Blick nach unten), Identitätsansätze (im Blick nach hinten und oben), kantische Vernunftansätze (im Blick nach oben zur Moralität), religiöse Ansätze (in der Deutung des Blicks nach oben als Transzendenz) wie Kreativitätsansätze (in der produktiven Kreuzung der vier Perspektiven) eine Verortung finden; der Blick auf das Kreuz weist auf die für jeden Menschen wichtige Dimension all dieser Würdeaspekte hin! Das Gleiche gilt „interaktionistisch“ für die Ausgestaltung von Anerkennungsverhältnissen zwischen den Menschen in einschlägigen Lebensformen und Organisationen, samt deren „kulturalistischer“ Ausdeutung und Verdichtung in symbolischen Formen und Gestalten des „objektiven Geistes“ im weitest möglichen Sinn. Das Kreuz der Entscheidung zeigt auch auf, dass der Schritt von der Würde der Gattung Mensch über die Würde der Person bis zur Würde des unauswechselbaren Individuums möglich und sinnvoll ist.77 Das Kreuz der Entscheidung ist für alle diese Ebenen relevant, als universelle Anlage und persönliche Aufgabe wie manchmal auch als individuelle Leistung. Trotzdem darf von der Formel nicht zu viel verlangt werden. Sie schließt manche Antworten aus und lässt viele offen. Sie weist Würdetheorien als einseitig und reduktiv aus, die nur auf einen Gesichtspunkt setzen und

von denen aus man handelt), und (3) Selbstwert im absoluten Sinn (Verhältnisse oder Ideen, von denen aus man handelt, bis zum absoluten Verzicht etwa auf das Grundbedürfnis Leben). 75 Zu diesem Begriff siehe Eric Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde, Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), S. 137, 148 ff. mit einer Aufzählung von Grundbedürfnissen als Menschenrechten, die den oben Fn. 11 genannten Punkten ähnlich ist. 76 Nussbaum (Fn. 7), S. 59 ff. spricht von den „architektonischen Funktionen“ der menschlichen Fähigkeiten von „praktischer Vernunft“ und „Verbundenheit mit anderen Menschen“. Das entspricht hier der Unterscheidung von „Aktion“ im Kreuz der Entscheidung und „Interaktion“, wobei die „praktische Vernunft“ hier vierdimensional ausgelegt wird. 77 So auch das BVerfG, E 87, 209, 228: „Menschenwürde … ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen.“

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diesen verabsolutieren78, etwa das Grundbedürfnis nach Leben und Leidensfreiheit, oder die Geistnatur, oder die bloße Gestaltungsmacht im Mittel-Zweck-Denken, statt den anderen Aspekten auch Gewicht einzuräumen.79 Das Kreuz der Entscheidung schließt auch Theorien aus, die dem gleichen Status aller Menschen mit ihren „vier Seelen“ in der Brust eines jeden keine Rechnung tragen. Von daher sind z. B. Theorien rassischer Überlegenheit abzulehnen. Es exkludiert auch Theorien, die im Rahmen der Perspektiven eine Perspektive ganz entfallen lassen wollen, wie z. B. die Fragilität und Verletzbarkeit aller Menschen in ihrer Körperlichkeit und Psyche; diese jeden Menschen betreffende Verletzbarkeit führt zu den Postulaten der Achtung der körperlichen und psychischen Integrität und schließt schlimme Demütigungen oder Folterungen aus. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Das gilt weniger in dem Sinn, dass die einschlägigen Argumente nicht im Kreuz der Entscheidung verankert werden könnten, das ja nicht nur vier Perspektiven hat, sondern innerhalb einer jeden der Perspektiven viele unterschiedliche Deutungen von Herkunft, Zukunft, Idealität und Grundbedürfnissen zulässt. Offen ist vielmehr die konkrete Gewichtung einzelner Aspekte in den vier Perspektiven: Das trifft schon für den Einzelnen zu, der zumindest untergründig permanent damit beschäftigt ist, seine spannungsreichen Präferenzen zu deuten und zu ordnen.80 In diesem Prozess gewinnt er gerade seine Persönlichkeit! Umso mehr trifft dies für Kollisionen von Deutungen, Wertungen und Entscheidungen zwischen Akteuren individueller und kollektiver Art zu, etwa wenn Leben gegen Leben oder Würde gegen Würde steht.81 Solche konkreten Abwägungen werden durch das Kreuz der Entscheidung und meist auch durch eine einzelne Würdetheorie nicht abschließend getroffen, da diese ja relativ abstrakte und zunächst für sich stehende, also entkontextualisierte Wertungen enthalten. 78 Parallel zu dieser Systematisierung von Menschenwürde im Kreuz der Entscheidung habe ich eine Systematisierung des „Menschenbildes der Menschenrechte“ entworfen, die wie hier auf eine interne Ausdifferenzierung einschlägiger Elemente abhebt und Vereinseitigungen abwehrt. Siehe Brugger (Fn. 57). 79 Dieser negativen Ausschlussfunktion entspricht eine positive Anleitungsfunktion: Gerade in der Ausgliederung der vier Perspektiven, aller vier Perspektiven, ist Menschenwürde unverkürzt zu verstehen. Eine Vereinseitigung von Würde auf Geist hin mag man auf den ersten Blick in Günter Dürigs bekannter Definition sehen: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten“: Erstkommentierung des Art. 1 I GG in Maunz/Dürig (Fn. 14), Rn. 18. Das Umfeld der Definition macht aber deutlich, dass Dürig i.S.d. hier dargestellten Theorien alle drei Varianten des Typus I integriert, sich gegen exklusivierende Leistungstheorien wendet und die körperliche Natur des Menschen nicht vernachlässigt. 80 Siehe Tenbruck (Fn. 5), S. 17, 24 ff., 28 ff. 81 Siehe Brugger (Fn. 56), § 18 und BVerfGE 115, 118; NJW 2006, S. 751 ff. zur Nichtigkeit des Luftsicherheitsgesetzes wegen dessen Ermöglichung des Abschusses von Flugzeugen, die von Terroristen als Waffe zur Tötung vieler anderer Menschen benutzt werden, da das Grundgesetz eine Abwägung von Leben (der durch das Flugzeug bedrohten Menschen) gegen Leben (der Passagiere im Flugzeug) nicht gestatte.

VI. Rückblick und Ausblick

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Hier muss notwendigerweise eine Kontextualisierung und Prozeduralisierung über Verfassungs- und Gesetzgebung einsetzen, deren Konkretionsaufgabe allerdings vom gleichen Recht aller Betroffenen oder Staatsbürger auf Deutung, Abwägung und Mitwirkung getragen ist und immer den Wesensgehalt des einschlägigen Aspekts achten sollte.82 Wenn das Kreuz der Entscheidung insoweit auch keine Detailergebnisse determiniert, so ist es doch hilfreich bei der topischen Suche nach einschlägigen Aspekten bei der Problemlösung. Dazu abschließend noch einige Illustrationen: (1) Sollte ein Adoptivkind ein Grundrecht auf Kenntnis seiner Abstammung zur Erforschung seiner genetischen Identität haben? Im Kreuz der Entscheidung ist klar, dass aus dem Blick nach unten, zu der Naturbasis dieses Menschen, sowie dessen Identität, die sich in der Horizontalen des Kreuzes der Entscheidung bildet, die Relevanz dieser Kenntnis folgt. Man muss aber die Situation der Adoptivfamilie dazunehmen. Die Adoptivfamilie, die die sonstigen Grundbedürfnisse des Kindes befriedigt, ihm die Welt von Werten erschließt und eine eigene – soziale statt genetische – Identitätslinie anbietet, kann möglicherweise aus ihrer Sicht ein Interesse an der Anonymität der genetischen Eltern haben – je nach Lage der Dinge. Was hier Vorrang hat, kann das Kreuz der Entscheidung nicht für alle Fälle festlegen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hat ein adoptiertes Kind grundsätzlich ein Recht auf Kenntnis seiner genetischen Abstammung, sofern die entsprechenden Fakten vorliegen.83 Das ist eine aus Gesichtspunkten der Würde wie des Kreuzes der Entscheidung vertretbare, wenngleich nicht unbedingt immer die einzige richtige Lösung. (2) Das Kreuz der Entscheidung ist nicht spezifisch genug, um über die Folgen von Rechtsverletzungen etwas Präzises sagen zu können, etwa über Art und Dauer einer Strafe. Dazu bedarf es zusätzlicher Straftheorien und eines Blickes auf die Umstände des Falls. Klar ist aber Folgendes: Wer einen Mord begeht, wer also i.S.d. § 211 Strafgesetzbuch das Leben eines anderen Menschen aus verwerflichen Beweggründen vernichtet und damit auch die vitale Basis seiner Würde zerstört, muss ernsthafte Sanktionen erwarten. Ob eine solche Sanktion zur Todesstrafe oder zwingend zur lebenslangen Freiheitsstrafe oder nur zu einer „grundsätzlich“ le82

Dazu schon oben im Text nach Fn. 56. Siehe BVerfGE 79, 256, 268 f.: „Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann … Verständnis und Entfaltung der Individualität sind aber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung. Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt sie auch im Bewußtsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein.“ Ganz im Sinne des „Blicks zurück“ im Kreuz der Entscheidung formuliert das Gericht: „Als Individualisierungsmerkmal gehört die Abstammung zur Persönlichkeit …“ (a.a.O.). „Daher umfaßt das Persönlichkeitsrecht auch die Kenntnis der eigenen Abstammung“. Zu möglichen Komplikationen dieses Rechts siehe Dreier (Fn. 1), Art. 1 I Rn. 93 und Art. 2 I Rn. 77. 83

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benslangen Freiheitsstrafe führt, die aber in der Regel dann nur 15 Jahre beträgt, kann das Kreuz der Entscheidung nicht für sich genommen entscheiden. Es kann aber zumindest auf die aktionsbezogene, eigenbezügliche Dimension des Täters in seinem Selbstverständnis im Rahmen der vier Entscheidungsperspektiven und auf die Relevanz der Motivlage, den Vorsatz und die Schuld des Täters hinweisen. Es kann interaktionistisch, fremdbezüglich, auf die Verletzungsdimension und die Auswirkungen auf das Opfer wie seine Verwandten sowie die Bevölkerung generell hinweisen. Schließlich kann es auf die Relevanz der kulturellen Ebene aufmerksam machen, etwa Argumente von effektiver Rechtsbewahrung durch die Tötung des Täters eingrenzen durch den Hinweis auf die drohende Verrohung bei Zulassung der Todesstrafe. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf die für Mord in § 211 Strafgesetzbuch zwingend vorgesehene lebenslange Freiheitsstrafe entschieden, dass diese zwar verfassungsgemäß sei, aber in der Regel nach 15 Jahren einer Überprüfung bedarf, die oft mit einer vorzeitigen Entlassung endet. Das Kreuz der Entscheidung kann erklären, warum dieses verfassungsgerichtliche Urteil84 „einschlägig“, wenngleich in der Abwägung nicht zwingend dominierend ist: Die Personalität der Menschen umfasst die grundsätzliche Möglichkeit, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Wer eine schlimme Straftat begeht, hat damit konkret und individuell versagt; er hat sich aber nicht generell der Möglichkeit und Aufgabe enthoben, künftighin, nach Verbüßung der gerechten Strafe, sich rechtsgetreu zu verhalten und das Lebensrecht anderer zu achten. Zudem ist die Zukunftsdimension eine der auszeichnenden Qualitäten des menschlichen Lebens. Ein Straftäter, dem man eine Zukunft durch lebenslange Haft gänzlich „versperrt“, den man somit in einen Teil seiner Vergangenheit „einsperrt“, verliert damit einen Teil seiner Menschlichkeit, seiner Würde. Das zu vermeiden, zählt sicher zu den „einschlägigen“ Überlegungen, wenngleich dieses Argument nicht immer die entscheidende Antwort gibt – soweit nach Entlassung weitere Straftaten drohen, kommen konkurrierende Gesichtspunkte zum Tragen. (3) Aus dem Kreuz der Entscheidung ergibt sich im Blick nach unten, dass die Bedürfnisstruktur der Menschen, soweit sie mit Bedrohung oder Entbehrung im Hinblick auf Leib und Leben zu tun hat85, zum Menschen dazugehört. Aber sie ist eben ein Charakteristikum, das der Mensch mit den Tieren teilt, das ihn nicht auszeichnet. Weder Mensch noch Tier sollten gequält werden, ihre körperliche Integrität sollte grundsätzlich geachtet werden, trotzdem essen wir Tiere, aber nicht Menschen. 84 Siehe BVerfGE 45, 187, 227 ff. unter explizitem Rekurs auf körperliche und psychische Integrität (Fn. 57) als Teil von Menschenwürde (Leitsatz 2), auf die Zukunftsdimension von menschlichem Leben (S. 229), aber auch auf die Kontextualisierung dessen, was Menschenwürde jeweils gebietet (ebenda). Die Vorgaben des BVerfG sind inzwischen in §§ 57 a und b StGB eingearbeitet. Danach wird die lebenslange Freiheitsstrafe in der Regel nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt, soweit nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten oder dessen Gefährlichkeit die weitere Vollstreckung gebietet. Ausführlicher hierzu Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 1), Art. 2 II Rn. 108 ff. 85 Grundbedürfnisse umfassen aber mehr als das! Siehe oben Fn. 11 f., unter anderem zum speziellen Charakter von „Achtung“ und „Sicherheit“ als Bedürfnis.

VI. Rückblick und Ausblick

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Das lässt sich nur erklären und vielleicht rechtfertigen, wenn man Würde nicht nur über körperliche „Leidensfähigkeit“ und „Schmerzempfinden“ definiert, sondern eben Reflexivität, Individualität und Identität hinzunimmt, wenn man also, mit anderen Worten gesagt, Vertikale und Horizontale des Kreuzes der Entscheidung aufeinander bezieht.86 Damit lässt sich auch der Streit über die „höchsten“ oder „eigentlichen“ Aspekte von Würde und Grund- und Menschenrechten verorten: In diesem Streit kann man eher nach oben, zur Transzendenz oder der Geistnatur nur der Menschen, schauen, oder aber nach unten zu Leib und Leben blicken, an deren Schutz alle lebenden Wesen hängen. Aus Sicht des Kreuzes der Entscheidung bringen solche Hierarchisierungen wenig, denn beides gehört notwendig zum menschlichen Leben dazu, samt der in der Vertikaldimension der Reflexion noch fehlenden Ebene von Biographie und Zukunftsplanung. Je nach den Umständen kann mehr die eine oder die andere Dimension gefährdet sein. (4) Menschenwürde kann man zweifellos über die Möglichkeit zur Präferenzbildung definieren, wenn man darunter unbewusste oder bewusste Interessen im Rahmen eines menschlichen Lebens oder, anspruchsvoller, Lebensplans versteht. Aber so einleuchtend das ist, so blass bleiben utilitaristische oder präferenztheoretische Ansätze, weil sie auf der Basisebene der Begriffsbildung das ausschalten, was im Kreuz der Entscheidung als „vier Seelen in der Brust“ eines jeden Menschen thematisiert wird: spezifische und qualitativ unterschiedliche, „phänomenerschließende“87 Präferenzen im Hinblick auf Herkunft, Zukunft, Grundbedürfnisse und Ideale.88 Jede Perspektive hat ihr eigenes Gesicht und Gewicht, in jeder Perspektive wie zwischen den vier Perspektiven gibt es vielfältige Weisen der Ausdeutung, die sich teils verstärken, teils indifferent gegeneinander sind, teils in Spannung zueinander stehen. Erst in diesem Gesamtspektrum, aus dem das Drama menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens gestrickt ist, gewinnen Präferenzen Farbe, Gestalt und Dringlichkeit. 86 Das tut selbst der ansonsten Tiere und Menschen wegen gleicher Leidensfähigkeit auf die gleiche Stufe stellende Peter Singer, z. B. in dem Buch Animal Liberation, 1975. Dort heißt es z. B. in der Überschrift zu Kap. 1: „The ethical principle on which human equality rests requires us to extend equal consideration to animals too“. Daraufhin befragt, warum das so sein solle, antwortete Singer: „The question is not Can they reason? Nor Can they talk? But, Can they suffer?“, zitiert nach: Profile Peter Singer, The Guardian vom 22. Juli 2005, Beilage S. 16 ff. Trotzdem, sagte Singer, würde er in einem Notfall, bei dem sowohl ein Tier als auch ein Mensch im Leben bedroht ist, das Menschenleben retten. Warum? „When it comes to a question of taking life, or allowing life to end, it matters whether a being is the kind who can see that he or she is the same being who exists now, who existed in the past, and who will exist in the future. Such a being has more to lose than a being incapable of understanding this.“ Damit nimmt er Bezug auf die Horizontale des Kreuzes der Entscheidung; er hätte auch noch die Vertikale benennen sollen. 87 So Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, 1992, S. 213, auch in: Sozialtheorie (Fn. 7), S. 707, unter Hinweis auf die Gefahr von Sozialtheorien, letztlich alle Handlungstypen und die in Handeln eben auch auffindbare Kreativität einer „Residualkategorie“ wie z. B. „Präferenzen“ unterzuordnen. 88 Dazu Brugger (Fn. 2), Abschnitt XIII 1.

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

(5) Zu den Grenzen der Leistung des Kreuzes der Entscheidung gehören nicht nur Lagen, in denen auf beiden Seiten und im kulturellen Kontext Würdeaspekte oder Perspektiven des Kreuzes in Spannung zueinander treten; solche Spannungen verstärken sich noch, wenn es um Ausdehnungen oder Analogien in Bezug auf die Träger von Menschenwürde oder Situationen ihrer Verletzung geht. Personell ist hier an Vorwirkungen und Nachwirkungen des Kernträgers von Menschenwürde, des schon geborenen und noch nicht gestorbenen Menschen zu denken, also etwa die Frage, ob und, falls ja, ab wann dem vorgeburtlichen Leben Würde und damit der in der Rechtsordnung in Art. 1 Abs. 1 GG vorgesehene absolute Würdeschutz zukommen soll: ab Befruchtung der Eizelle, ab Nidation, ab Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs, ab Geburt? Die Antwort auf diese Frage hängt von konkreten Würde- und Menschenverständnissen ab. Das einschlägige Spektrum umfasst Konzeptionen, die schon im vorgeburtlichen, ja pränidativen Leben die Anlage zur Personalität oder zum Ebenbild Gottes als entscheidend ansehen und damit den absoluten Würdeschutz des Art. 1 Abs. 1 GG zur Geltung kommen lassen, über Ansätze, die auf Schmerzempfindlichkeit abstellen, bis zu individuellen Leistungskonzeptionen von Würde als Darstellung, die den Würdeschutz nur oder im Schwerpunkt bei gelungener sozialer Selbstdarstellung beginnen lassen wollen.89 All diese Auffassungen werden von Menschen im Kreuz ihrer Deutung und Entscheidung vertreten, gehören also zum Spektrum möglicher Würdeverständnisse, wenngleich aus hier dargelegter Sicht die expansiveren Ansätze plausibler sind, die restriktiven dagegen einseitig im Hinblick auf die Bedeutung aller vier Perspektiven. Wenn eine Gesellschaft wie die bundesrepublikanische prägende Mehrheitsvorstellungen entwickelt und sich hierin Würdeverständnisse formen, auf die sich mehrere Würdetheorien einigen können, dann ist es „kein Kreuz“ mit einer verbindlichen Konkretion von Würde. Hinter dem Inhaltskonsens (der kein Begründungskonsens sein muss) steht dann, im Kreuz der Entscheidung gesprochen, eine Übereinstimmung, eine gegenseitige Verstärkung der vier Perspektiven. Das ist ein starkes Argument für einen effektiven Schutz der betroffenen Aspekte.90 Bei Vor- und Nachwirkungen von Würde lässt sich dieser Konsens jedoch nicht diagnostizieren. Die Extrempositionen auf beiden Seiten sind einerseits Beharren auf einem expansiven Würdeverständnis mit weiter Vor- und Nachwirkung in Kopplung mit abwägungsfestem Schutz, andererseits Verzicht auf die Berufung auf Würde in solchen Fällen und Zurückstufung des absoluten Würdeschutzes auf den Kernträger „geborener Mensch“ und die Kernkonstellation „Willkür, Entrechtung, viehische 89

Siehe die Darstellungen bei Dreier (Fn. 1), Rn. 66 ff., 77 ff. Mit anderen Worten: Das Kreuz der Entscheidung bietet eine Systematisierung des von John Rawls so benannten „übergreifenden Konsenses“: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 2003, § 11, S. 64: „Damit ist gemeint, dass die politische Diskussion von den vernünftigen, wiewohl entgegengesetzten religiösen, philosophischen und moralischen Lehren getragen wird, die eine erhebliche Anhängerschaft gewinnen und sich von einer Generation zur nächsten langfristig halten. Das ist nach meiner Überzeugung die vernünftigste Grundlage der politischen und sozialen Einheit, die den Bürgern einer demokratischen Gesellschaft zu Gebote steht.“ 90

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Behandlung“.91 Aus Sicht des Kreuzes der Entscheidung ist eine Vor- und Nachwirkung von Würde nicht ausgeschlossen; sie wäre Teil einer für sich genommen plausiblen Optimierungsstrategie: Anlagen sollen zur Geltung kommen. Doch ist genauso sicher, dass es auf die Umstände der Situation ankommt. Eine Relativierung nicht unbedingt in „Würde“, aber in Art und Umfang des Schutzes von Würde liegt dann im Bereich des Möglichen, zumindest des Vertretbaren, wenn auf beiden Seiten Argumente aus den vier Perspektiven des Kreuzes der Entscheidung vorgebracht werden können. Man denke an die Kollision von Lebensrecht des Embryos und Lebensplanung der gebärunwilligen Schwangeren.92 Für den Embryo geht es um alles oder nichts; für die abtreibungswillige Schwangere nur um mehr oder weniger, aber eben aus ihrer im Kreuz der Entscheidung unauswechselbaren Sicht um ein klares Mehr an Persönlichkeitsentfaltung, so dass „Leben“ eines „vorwirkenden Trägers“ von Würde gegen „Persönlichkeitsentfaltung“ im Kernbereich eines „klaren Trägers“ von Würde steht. Ein tragisches Kreuz der Entscheidung, bei dem es letztlich darauf ankommen wird, welcher kollektive Entscheidungsträger (Legislative oder Verfassungsgericht) in Bezug auf die Handlungsfreiräume der Schwangeren im Rahmen all dieser einschlägigen Argumente das Verbindliche festsetzt – im Rahmen einer spezifischen, „starken“ Konzeption von Würde bzw. der insoweit mitgedachten Abwägung im Kreuz der Entscheidung. Ähnlich ist die Lage bei der frühembryonalen und Stammzellforschung.93 Hier steht auf der einen Seite eine befruchtete Eizelle, die die Anlage zur Entwicklung von Personalität und Individualität hat, aber von deren voller Entwicklung, also dem Kernfall von Würdeträger, noch weit entfernt ist. Auf der anderen Seite stehen Forschungsinteressen, die darauf abzielen, mit Hilfe der Stammzellen die Gesundheit und das Leben vieler Kernträger von Menschenwürde zu retten – aber die Erfüllung dieser Erwartung ist auch noch weit entfernt. Wieder ein schlimmes Kreuz der Entscheidung – jedenfalls für diejenigen, die im Sinne der absoluten Werttheorien von Würde und einer christlichen Deutung den absoluten Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG schon weit vor der Geburt beginnen lassen wollen. Die Tatsache, dass die deutsche Rechtsordnung Abtreibung (also den schon weiter gediehenen Menschen) oft zulässt, die pränidative Embryonen- und Stammzellforschung (in der der Betroffene in einem weit früheren Entwicklungsstadium steht) aber weitgehend verbietet, wird von manchen als Wertungswiderspruch angesehen.94 Sie zeigt auf jeden Fall, dass im Kreuz der Entscheidung nicht nur eine Entscheidung vertreten werden kann, sondern oft mehrere. Es bietet eben einen topischen und gleichzeitig visuell systematisierten Analyse- und Orientierungsrahmen für einschlägige Argumente, nicht aber „die einzig richtige Lösung“, der alle zustimmen 91

Dazu Dreier (Fn. 1), Rn. 82. Siehe BVerfGE 39, 1; 88, 203 und Winfried Brugger, Demokratie, Freiheit und Gleichheit, 2002, §§ 7 und 8 mit einem Vergleich der deutschen und US-amerikanischen Verfassungsgerichtsurteile zur Abtreibung. 93 Überblick bei Dreier (Fn. 1), Rn. 99 ff. 94 Nachweise hierzu bei Dreier (Fn. 1), Rn. 69 f., 86. 92

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§ 1 Menschenwürde im anthropologischen Kreuz

würden. Solche Lösungen sind sowieso selten verfügbar, wie das Kreuz der Entscheidung schon für das individuelle Leben in allen „hard cases“ zeigt; umso weniger sind solche Konsense in kollektiven politischen Auseinandersetzungen zu erwarten. Kein Weg führt hier an Prozeduralisierung und Kompromissbildung vorbei. Zum Schluss: Das nur die Menschen bedrängende Kreuz der Entscheidung führt einem jeden von uns vor Augen, worin unsere Würde besteht: in der von der Natur, Gott oder der Evolution für alle Menschen getroffenen Wahl der Qual der Entscheidungsnotwendigkeit in problematischen Situationen, die für uns gleichzeitig zur Qual der Wahl von Handlungsoptionen führt. Man mag dieses anthropologische Datum mit den Begriffen Last, Lust, Privileg, Freiheit, Verantwortung, Kreativität und/oder Bindung etikettieren – unter welchem Aspekt auch immer man diese Situation thematisiert, sie trifft einen jeden von uns in der Gattung Mensch, als Person wie auch als Individuum, als unverwechselbare Persönlichkeit. In diesem Sinne trifft zu, was ein altes deutsches Sprichwort in die Worte kleidet: „Im Creutz lernt sich der Mensch erst selber recht kennen.“95

95 Deutsches Sprichwörterlexikon, hrsg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander, 2. Band, 1870, Sp. 1607, unter Nr. 59.

§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit I. Charakterisierung und normativer Status des Begriffs Gemeinwohl Gemeinwohl ist eine der meistbeschworenen und gleichzeitig meistkritisierten Leitideen des Staates. Das macht eine Beschäftigung mit diesem Leitbegriff zu einer ambivalenten Angelegenheit, ja vielleicht zu einem sinnlosen Unterfangen, denn je nach Standpunkt kann man den Begriff als zu leer, zu voll oder ideologisch einstufen. Doch ist übertriebene Skepsis nicht angebracht, denn es ist durchaus möglich, Leistung und Grenze des Gemeinwohlbegriffs näher zu bestimmen.1 Das soll im Folgenden zunächst durch einige Klarstellungen zu Begriff und Funktion des Gemeinwohlbegriffs im modernen Staat geschehen; daran schließt sich eine Analyse der für diesen Staatstypus charakteristischen Gemeinwohlkonzeption an, die nicht lediglich Verfassungsprinzipien addiert, sondern den inneren Bauplan moderner Staatsverfassungen entwickelt. Dieser Bauplan ist einerseits so konkret, dass er gerade die Charakteristika des modernen Staates in ihrer Verwobenheit vor Augen führt; andererseits ist er so abstrakt gehalten, dass er erlaubt, den Pluralismus der vorfindbaren modernen westlichen Verfassungen als interne Ausdifferenzierung zu thematisieren und deren Schwerpunktsetzungen zu lokalisieren. Die zu entwickelnde Konzeption ist, ihrem Gegenstandsbereich, den modernen Verfassungen, entsprechend, komplex. Das wird sich daran zeigen, dass wir drei Ebenen von Gemeinwohl unterscheiden müssen. Der abschließende Teil des Aufsatzes skizziert, welche Verhältnisbestimmungen zwischen den einzelnen Teilen des Gemeinwohlkonzepts möglich sind und auch tatsächlich in der Verfassungs- und Rechtswelt vorkommen. Einleitend skizziere ich fünf definitorische und funktionelle Charakteristika des Gemeinwohlbegriffs.

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Der Vortrag beruht auf folgenden Aufsätzen des Verfassers: Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 319 ff.; Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze: Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), S. 1 ff., nachgedruckt in: Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, 1999, Kap. 2; Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht, in: Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch, hrsg. von Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff, sowie den in Fn. 4 genannten Artikeln.

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

(1) Der Begriff Gemeinwohl hat zwei Elemente: erstens Wohl, Gut oder Interesse und zweitens Allgemein oder Gemeinsam. Es geht also um eine Mehrzahl oder Vielzahl von Menschen, die etwas Gemeinsames verbindet und die nach einem Gemeinsamen, dem gemeinsamen Wohl, streben. In diesem weiten Sinn2 ist es möglich, vom Gemeinwohl etwa der Familie oder der Religionsgemeinschaft oder aber eines Staates zu sprechen.3 Je nachdem, um welche Art von menschlicher Gemeinschaft es geht, steht aber ein anderes Gut im Vordergrund. Hier geht es um politisch-rechtliche Organisationen. (2) Die Vorstellungen über die Ziele und Strukturen politischer Verbände und die Berücksichtigung der Interessen der in ihnen verfassten Personen wandeln sich im Laufe der Geschichte – man denke nur an die Zeitspanne von der griechischen Polis bis zu der partiell entstaatlichten Postmoderne. Deshalb ist der historische Typus von politischer Organisation zu präzisieren, dessen Gemeinwohlverständnis untersucht werden soll. Hier steht der moderne Verfassungsstaat westlicher Prägung im Vordergrund, der sich seit dem Beginn der Neuzeit entwickelt hat. Seit den bürgerlichen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts können wir diesen Typus charakterisieren durch die Merkmale Verfassungsurkunde, Demokratie, Gewaltenteilung und Grundrechte. Typizität heißt erstens, dass nicht alle diese Merkmale in jedem Fall gegeben sein müssen, wie das Beispiel des United Kingdom zeigt, das keine den kontinentaleuropäischen Staaten oder den USA vergleichbare schriftliche Verfassungsurkunde kennt. Typizität heißt zweitens, dass im Rahmen des Grundmodells Entwicklungsmöglichkeiten bestehen, weitere Merkmale also hinzutreten können. In Deutschland etwa ist das Sozialstaatsprinzip im Text der Verfassung enthalten, anders als in der US-Verfassung; viele neuere Verfassungen enthalten Kulturstaatsund Ökologieklauseln. Typizität heißt drittens, dass das Referenzsubjekt „moderner westlicher Staat“ zwar die wichtigste, weil geschichtlich bedeutsamste Ausprägung gemeinwohlförderlicher politisch-rechtlicher Organisation ist, nicht aber unbedingt die einzige. In Bezug auf die Europäische Union stellt sich die Frage, ob und inwieweit sie nicht nur dem Typus „Staat“ entspricht, sondern auch dem hinter dem

2 Diese „schwache“, offene Definition nimmt noch keine Stellung zu den Fragen der Erkenntnis und der Durchsetzung des Gemeinwohls, zum apriorischen oder aposteriorischen Charakter des Gemeinwohls, zum Verhältnis des Wohls Einzelner zum Wohl des Ganzen, zu Präzisierungen von Wohl (etwa durch Selbsterhaltung, Wahlfreiheit, Vervollkommnung). Dazu bedarf es „stärkerer“, ausgefeilterer Gemeinwohlkonzeptionen. Die Geschichte des Gemeinwohldenkens gibt unterschiedliche Gewichtungen der angesprochenen Punkte zu erkennen. Vgl. die Artikel Gemeinwohl, in: Histor. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 247 ff. (Roman Herzog); Herder-Staatslexikon, Görres-Gesellschaft (Hrsg.), 7. Aufl. 1995, Bd. 2, Sp. 857 ff. (Walter Kerber, Alexander Schwan, Alexander Hollerbach); Lexikon der Politik, Bd. 1: Politische Theorien, hrsg. v. Dieter Nohlen, 1995, S. 137 ff. 3 Vgl. zu diesen drei Gegenstandsbereichen den Band von Peter Koslowski (Hrsg.), Das Gemeinwohl zwischen Universalismus und Partikularismus, 1999.

I. Charakterisierung und normativer Status des Begriffs Gemeinwohl

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modernen westlichen Staat stehenden Gemeinwohlverständnis.4 Gleiches gilt für die Rechtsorganisationen des Völkerrechts.5 (3) Was den normativen Status des Begriffs Gemeinwohl angeht, ist zu unterscheiden. Zum Teil wird der Begriff im positiven Recht benutzt. Im Grundgesetz etwa ist eine „Enteignung“ „nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig“ (Art. 14 Abs. 3 S. 1). An dieser Stelle ist der Begriff also ein verfassungsrechtlicher, an anderen Stellen der positiven Rechtsordnung müsste man ihn etwa als Rechtsbegriff auf der Stufe des Parlamentsgesetzes oder der Verordnung einstufen.6 Als solcher positivrechtlicher Begriff ist Gemeinwohl nicht Vorgabe für positives Recht, sondern Teil des positiven Rechts und mit den üblichen Methoden auszulegen. Anders stellt sich die Lage dar, wenn der Begriff etwa in der Präambel der Verfassung steht, wie in den USA. Dort heißt es: „We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America.“ Diese Formulierung macht deutlich, dass Gemeinwohl eine Zielbestimmung des dann folgenden ganzen Verfassungsrechtssystems ist. Gemeinwohl umfasst und überragt also einzelne konkrete Ausformulierungen im positiven Recht, bedarf aber der Konkretisierung im Verfassungsrecht und einfachen Recht. Nimmt man diese Präambelformulierung, so steht man vor einer weiteren Frage: Soll Gemeinwohl auf „general Welfare“, etwa im Sinne ökonomischen Wohlergehens, reduziert sein oder als Integrationsformel aller genannten Leitlinien fungieren? Beide Begriffsbestimmungen sind möglich und je nach Kontext sinnvoll. Hier soll Gemeinwohl umfassend gemeint sein, nur so kann der Begriff dem Typus moderner westlicher Staat mit den schon genannten Merkmalen gerecht werden. Der normative Status lässt sich also wie folgt beschreiben: Gemeinwohl wird als höchstes und umfassendes Ziel vorausgesetzt, muss aber durch Verfassungsorgane festgesetzt und in der Gesamtrechtsordnung durchgesetzt werden. Es besteht demnach eine Spannung zwischen der Vorgegebenheit des unbestimmten Leitbegriffs Gemeinwohl und der Aufgegebenheit seiner Konkretion im 4 Vgl. Winfried Brugger, Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht an der Jahrtausendwende. Das Beispiel Europäische Gemeinschaft, in: Peter-Christian Müller-Graff/Herbert Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft. Signaturen und Herausforderungen zum Jahrtausendbeginn, 2000, S. 15 ff.; Christian Calliess, Gemeinwohl in der Europäischen Union – Über den Staaten- und Verfassungsverbund zum Gemeinwohl, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/ Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, BadenBaden 2002, S. 173 ff. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Oeter, Gemeinwohl in der Völkerrechtsgemeinschaft, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 215 ff. 6 Vgl. dazu den Beitrag von Stephan Kirste, Die Realisierung von Gemeinwohl durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 327 ff.

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

Rahmen der Verfassung und der sonstigen Rechtsordnung. Wie kann Gemeinwohl ein Maßstab für das positive Recht sein, wenn das Maß nicht präzise ist? Ein Ausweg aus dieser Situation wäre gegeben, wenn wir von allen akzeptierte vor- und außerrechtliche Maßstäbe hätten, die klare Vorgaben für die höchsten Ziele der Rechtsordnung, also das Gemeinwohl, benennen würden. Das könnte etwa ein alle überzeugendes und gleichzeitig detailliertes Naturrecht oder eine unumstrittene Vorstellung von Gerechtigkeit sein. Solches ist aber, wie ich hier unterstellen will, nicht verfügbar: Wir kennen zwar Theorien von Naturrecht und Gerechtigkeit, aber es sind immer schon mehrere Theorien, die untereinander jedenfalls partiell in Konkurrenz stehen und zudem meistens der notwendigen Präzision entbehren.7 Man könnte deshalb folgern, dass der Begriff des Gemeinwohls keine sinnvolle Anleitungsfunktion für Verfassung und Recht übernehmen kann, sondern als rein rhetorisch oder gar manipulativ einzustufen ist. Doch wäre das voreilig. Wir haben eine Weise der Konstruktion und Verwendung des Gemeinwohlbegriffs bislang nicht thematisiert, die einerseits bescheidener als eine vor- und außerrechtliche Konstruktion von Naturrecht oder Gerechtigkeit ist, andererseits aber den Vorbildcharakter des Begriffs bewahrt. Damit ist keine platonische oder theologische Überhöhung der Ziele des positiven Rechts gemeint, sondern eine Reflexion auf das bestmögliche Verständnis der Konstruktionsprinzipien, die dem Typus moderner Verfassungsstaat unterliegen. Eine solche Reflexion setzt die Kenntnis einschlägiger Verfassungen voraus, die dem Typus zuzurechnen sind.8 Zu den tragenden Konstruktionsprinzipien zählen dann diejenigen übergreifenden Bauelemente, die dem Gesamten Halt, Identität und für die Mitglieder des politischen Gemeinwesens Attraktivität verleihen. (4) Die Konstruktion dieser Prinzipien kann zweierlei Gestalt annehmen. Man kann offener und unbestimmter eine „schwache“ Gemeinwohlkonzeption entwerfen oder anspruchsvoller und bestimmter eine „starke“ Gemeinwohlkonzeption entwickeln.9 Die erstgenannte offenere Gemeinwohlkonzeption analysiert zwar das Gesamtsystem des Typus, ist aber in der Spezifikation nicht zu genau, um möglichst viele der konkreten Verfassungen des Typus erfassen sowie weniger entwickelte von stärker entwickelten Modellen unterscheiden zu können; der Gemeinwohlbegriff ist dann ein Integrationskonzept. Die zweitgenannte, anspruchsvollere Gemeinwohlkonzeption knüpft mit ihrem Bauplan von vornherein an höher entwickelte, vielleicht sogar an das aus Sicht des Konstrukteurs höchstentwickelte Verfassungsmodell an – etwa im Sinne von „Das Grundgesetz, die beste Verfassung der Welt …“. Das hätte zur Folge, dass weniger oder anders entwickelte Verfassungen als gemeinwohlin7 Vgl. z. B. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1980, mit einer Darstellung konkurrierender Naturrechtslehren. 8 Die Verfassungen, die mir als „Konstruktionsmaterial“ vor Augen standen, waren vor allem das Grundgesetz und die Verfassung der USA, daneben die Europäische Union. 9 Die Unterscheidung ist angelehnt an, aber nicht identisch mit „definition“ und „theory“ bei Philippe Nonet/Philip Selznick, Law and Society in Transition. Toward Responsive Law, 1978, S. 9 ff.

I. Charakterisierung und normativer Status des Begriffs Gemeinwohl

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different, wenn nicht sogar gemeinwohlverfehlend einzustufen wären. Ähnliche Abstufungen, Herabstufungen können eintreten, wenn man von vornherein einen spezifischen, anspruchsvollen Typus politischer Theorie als Messlatte für gelungenen Konstitutionalismus nimmt, wie etwa „starke“ Versionen von Liberalismus, Konservativismus, Pluralismus, Sozialismus etc. Solche anspruchsvollen und einseitigen Festlegungen von politischen Leitbildern können Verfassungszwist herbeiführen. Dann droht politische Desintegration. Um das zu vermeiden, werden bei Verfassungsentwürfen oft Formelkompromisse in den Text eingeführt, die jedenfalls Oberflächenkonsens herbeiführen können. Konzepte wie Würde, Freiheit und Gleichheit sind konsensfähig; der Dissens rührt dann daher, dass Personen, Gruppen und Staatsorgane erst bei ihrer Auslegung „stärkere“, einseitigere Konzeptionen benutzen. Mein Vorschlag ist, die „schwächere“ Gemeinwohlkonzeption zu wählen, weil es von ihr aus einfacher ist, im Rahmen des Grundtypus die vielen Varianten von modernen Verfassungsstaaten oder neue Formen transnationaler Rechtsorganisation zu thematisieren, ohne das diesen Staaten und Rechtsorganisationen Gemeinsame aus den Augen zu verlieren. Das schließt andere Verwendungen des Gemeinwohlbegriffs nicht aus, sondern ein; diese sind, je nachdem, wo sie angesiedelt sind, Konkretisierungen des allgemeineren Gemeinwohlbegriffs, müssen sich also in dessen Licht verstehen lassen, ohne dass die allgemeinen Vorgaben die konkrete Ausgestaltung, etwa bei der Enteignung zum allgemeinen Wohl, im Detail determinieren würden. (5) Ein so verstandener Gemeinwohlbegriff hat eine spezielle Normativität. Der Begriff ist einerseits induktiv aus dem positiven Recht heraus entwickelt, hat also rechtspositiven und, soweit diese Rechtsordnungen faktisch gelten, auch empirischen Charakter. Andererseits überschreitet der Begriff die Ebene der Rechtspositivität, weil er das positivrechtliche Material nicht nur akkumuliert, sondern unter einer Idealgestalt rekonstruiert. Damit hat er auch einen optimierenden Charakter. Zudem stammt der Begriff Gemeinwohl zumindest auch aus der Gesellschaft und deren Normvorstellungen bzw. wird von dieser her geprägt. Damit lässt er sich nicht auf die Bedeutungen reduzieren, die Staatsorgane oder Normen des positiven Rechts zu einer bestimmten Zeit darunter verstehen. Der Begriff hat eine Transzendenz in der Immanenz.10 Von ihm aus ist sowohl Affirmation wie Kritik möglich. Solche Beurteilungen kommen entweder intern, bei der Interpretation von Rechtsbegriffen mit Gemeinwohlbezug zum Ausdruck, oder werden extern an Rechtsnormen herangetragen, etwa als Kritik am bestehenden Recht wegen Verfehlung des Gemeinwohlbezugs. Geht man von diesen fünf Klarstellungen aus, dann ist der Streit um Fruchtbarkeit oder Fruchtlosigkeit des Gemeinwohlbegriffs zumindest entschärft, denn oft beruht der Dissens auf einer mangelnden Unterscheidung der einschlägigen Ebenen. Hier 10 Das ist eine Wortprägung von Welzel (Fn. 7), S. 238, 242, bei der Behandlung des Ertrags von Naturrechtslehren.

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

geht es um das Gemeinwohl in modernen Verfassungsstaaten und aus diesen heraus sich entwickelnden Formen transnationaler Politikorganisation. Gemeinwohl dient als Erfüllungsgestalt der wesentlichen Konstruktionsprinzipien dieses Politiktypus. Seine Begriffselemente sind aus dem genannten Typus heraus zu entwickeln. Dies soll auf eine Art und Weise geschehen, die den Bauplan des modernen Verfassungsstaats erhellt, gleichzeitig aber offen ist für unterschiedliche Varianten dieses Typus von Rechtsorganisation. Wenn Gemeinwohl diesen Kriterien genügen soll, wie ist es dann zu formulieren?

II. Das Gemeinwohl und die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates Gemeinwohl wird am besten verstanden, wenn man zunächst die drei Begriffsschichten oder Säulen von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit unterscheidet11, dann für jede der drei Ebenen einschlägige Konkretisierungsverfahren benennt sowie abschließend drei Regelungsebenen herausarbeitet.

1. Rechtssicherheit Rechtsnormen konkretisieren die Idee der Rechtssicherheit vor allem12 in vierfacher Hinsicht: a) Zur Rechtssicherheit gehört Bedeutungssicherheit aller rechtlicher Normen, von welchem Gesetzgeber und aus welcher Periode die Normen auch immer stammen, und für alle Rechtssubjekte, die wissen müssen, woran sie sich zu halten haben, welches Verhalten vom Staat belohnt oder bestraft wird. Bedeutungssicherheit setzt zunächst Zugänglichkeit und Verständlichkeit der einzelnen Normen voraus. Für die Normen untereinander wird zumindest Widerspruchsfreiheit vor11 In meinen Artikeln über das Gemeinwohl folge ich zum Teil Gustav Radbruch, der in seiner „Rechtsphilosophie“ (1932, Studienausgabe 1999, hrsg. von Ralf Dreier/Stanley L. Paulson, Kap. 9, S. 73 ff.) drei Elemente der Rechtsidee unterscheidet: Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit. Zu Radbruch vgl. meinen Beitrag in: Staat-Souveränität-Verfassung (Fn. 1), Abschnitte II. und III. Es gibt auch Parallelen zu Max Webers Rationalitätsbegriffen, wie die folgenden Ausführungen deutlich machen. In der Konzeptualisierung von Peter Koller, Das Konzept des Gemeinwohls, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/ Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, BadenBaden 2002, S. 41 ff., fehlt die Rechtssicherheit. Das rührt daher, dass Koller den Begriff für den Bereich von Politik entwickelt, die auf Rechtssetzung hinausläuft, das Stadium rechtlicher Verbindlichkeit aber noch nicht erreicht hat. Weiterhin entwickelt Koller den Gemeinwohlbegriff in Kontrast zur Gerechtigkeit; beide fallen unter „Legitimität“. Der hier vertretene Legitimitätsbegriff ist enger, dafür ist der Gemeinwohlbegriff weiter gefasst. 12 Vollständigkeit der Beschreibung wird nicht in Anspruch genommen. Je nach Konkretionsstufe lässt sich der Begriff anders und genauer fassen.

II. Das Gemeinwohl und die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates

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Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht Die drei Säulen des Gemeinwohls 1. Rechtssicherheit – formale Rationalität – rechtliche Kohärenz

2. Legitimität – materiale Rationalität – ethische Kohärenz

a) Bedeutungssicherheit b) Befolgungssicherheit c) Stabilität d) Funktionsabgrenzung

a) Gute Ziele/Zwecke b) Gerechte Regelungen (Insbesondere über Politikziele und Grundrechte)

Hervorgehoben in Rechtspositivismus

3. Zweckmäßigkeit – Zweckrationalität – empirische Kohärenz a) Validität empirischer Annahmen und Analyse betroffener Interessen b) Mittel-Zweck- und Kosten-Nutzen-Effizienz c) Berücksichtigung der Sachstrukturen

Hervorgehoben in Rechtsidealismus

Hervorgehoben in Rechtsrealismus

Prozeduren der Gemeinwohlkonkretisierung 1. Juristischer Diskurs Insbesondere: Gewaltenteilige Verfahren von Rechtssetzung und -kontrolle

2. Politischer und moralischer Diskurs Insbesondere: Öffentliche Meinungsbildung und Demokratie

3. Sozialwissenschaftlicher Diskurs Insbesondere: Wissenschaftliche Politikberatung

Ebenen von Gemeinwohlkonkretisierung 1. Lebensbereiche

3.

2. Rechtsregeln und Rechtsprinzipien

2.

3. Präjudizien

1.

ausgesetzt, besser noch Verträglichkeit, günstigstenfalls Einheit im Sinne gegenseitiger Kompatibilität und Unterstützung. Ein wichtiger Weg zur Ermittlung der Bedeutung von Rechtsnormen ergibt sich aus ihrem systematischen Zusammenhang, den der Interpret – das ist der betroffene Bürger, Politiker oder Jurist – im Hin- und Herwenden des Blickes zwischen den für sein Problem einschlägigen Prinzipien und Regeln des Rechts ins Auge fassen kann. b) Wichtig für eine jede Rechtsordnung ist es auch, dass geltendes Recht – jedenfalls im Regelfall – nicht nur gesetzt, sondern im Bedarfsfall auch durchgesetzt wird, notfalls mit Zwang, durch einen eigens dafür vorgesehenen Stab von Exekutivorganen. Nehmen Fälle offener Verweigerung von Rechtsgehorsam zu oder gibt der Gesetzgeber zu erkennen, dass ein bestimmtes Gesetz eher symbolischen oder appellativen Charakter hat, als dass es einen realen Geltungs- und Befolgungsan-

68

§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

spruch stellt, lässt sich soziologisch daran zweifeln, ob hier „geltendes“ Recht vorliegt. c) Rechtssicherheit kommt auch zustande durch klare und stabile Regelungen, die lange gelten und sich im Rechtsbewusstsein der Bevölkerung verankern können. Soweit doch neu entschieden werden muss, sollten die neuen Regelungen eindeutig sein und die Art und Weise des Abweichens vom früheren Rechtszustand deutlich erkennen lassen. Auf jeden Fall sollte im Interesse der Rechtssicherheit Vorsicht walten vor überstürzten Anordnungen, die dann bald wieder zu erneuten Änderungen führen und so zur Orientierungslosigkeit des Rechtsbewusstseins beitragen. d) Rechtssicherheit wird ferner durch klaren Zuschnitt und deutliche Abgrenzung der Zuständigkeiten der einzelnen Zweige der Staatsgewalt – Gewaltenteilung – gefördert. Wenn klar ist, wie etwa legislative zu judikativen Kompetenzen stehen, kann sich das Volk und können sich die betroffenen Staatsorgane auf ihre jeweiligen Rechte und Pflichten einstellen und bleiben Konflikte berechenbar. Diese vier Dimensionen der Rechtssicherheit lassen sich als semantisch, empirisch, temporal und institutionell oder funktionell bezeichnen. Ihr widerspruchsfreies Zusammenwirken führt zu einer konsistenten Rechtsordnung. Soweit sich die einzelnen Elemente ergänzen und systemimmanent unterstützen, kann man von der internen Kohärenz13 der Rechtsordnung sprechen. Rechtssysteminterne Konsistenz und Kohärenz bilden das „master ideal“ der Legalität. Die Positivität des Rechts wird am klarsten durch die beiden ersten Elemente der Setzung und Durchsetzung von Recht gekennzeichnet. Doch bilden diese beiden Ebenen in Verbindung mit der Stabilitätsfunktion von Normen und der klaren Zuständigkeitsabgrenzung von Organen einen sachlichen Zusammenhang: Alle diese Elemente führen nämlich zu Sicherheit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung. Sicherheit und Berechenbarkeit sind das zentrale Anliegen des Rechtspositivismus als einer bedeutsamen Strömung der Rechtstheorie. Ungeachtet der vielen Ausformungen rechtspositivistischer Theorien, die im Detail durchaus differieren14, erwarten alle Rechtspositivismen von einem modernen Rechtssystem vor allem sichere, berechenbare Regelungen, die, von den zuständigen Organen erlassen, dem Bürger deutlich vor Augen führen, was von ihm erwartet wird: „Denn eine der typischen Funktionen des Rechts, im Gegensatz zur Sittlichkeit, besteht darin, … [Regeln] einzuführen, um die Gewißheit und Voraussagbarkeit des Rechts zu ma-

13 Genauer zu Kohärenztheorien des Rechts bzw. der Rechtsrechtfertigung Klaus Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz für eine Theorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 20 (1989), S. 163 ff. Vgl. auch Kaarlo Tuori, Legitimität des modernen Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), S. 221 ff., der interne Rationalität, Gegenstandsrationalität und normative Rationalität unterscheidet und damit auf die hier entwickelten drei Säulen des Gemeinwohls anspielt. 14 Vgl. Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 2. Aufl. 1992.

II. Das Gemeinwohl und die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates

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ximieren …“.15 Man könnte diese positivistische Betonung auf interner Konsistenz und Kohärenz aller Normen, Funktionen und Organe im Rechtssystem mit Max Weber auch als Optimierung rechtssystemspezifischer formaler Rationalität beschreiben. Deren Merkmal ist größtmögliche Berechenbarkeit, Planbarkeit und Vorhersehbarkeit in einem bestimmten Organisationsbereich.16

2. Legitimität Staatsorgane wollen mit den von ihnen erlassenen Rechtsnormen die Bürger nicht nur zu einem bestimmten Verhalten zwingen, sondern appellieren implizit oder explizit an deren freiwilligen Gehorsam. Gerade dazu dient die Behauptung, eine bestimmte Regelung müsse im öffentlichen Interesse getroffen werden und diene dem Gemeinwohl! Wie ernst oder heuchlerisch immer solche Appelle gemeint sind, auf jeden Fall erlauben sie den Rechtsunterworfenen, das faktische Regime an den in Anspruch genommenen Leitideen zu messen. Dann liegt die Folgerung nahe, dass die Rechtsnormen Integration und Konsens der Bürger anzielen. Konsens ist aber nur zu erwarten, wenn die getroffenen oder in Aussicht genommenen Regelungen legitim sind. Nur dann werden sie von den Bürgern als Ausformungen des Gemeinwohls angesehen werden. Legitimität ist wie Rechtssicherheit für sich genommen ein periodenübergreifender Begriff. Seine einzelnen Facetten sind aber stärker geschichts- und kulturgebunden, zumindest was konkrete Ausformungen und Gewichtungen angeht. Max Webers berühmte Typologie der Legitimitätsformen verdeutlicht dies. In § 7 der Soziologischen Grundbegriffe formuliert er: „Legitime Geltung kann einer Ordnung von den Handelnden zugeschrieben werden: a) kraft Tradition: Geltung des immer Gewesenen; b) kraft affektuellen (insbesondere: emotionalen) Glaubens: Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen; c) kraft wertrationalen Glaubens: Geltung des als absolut gültig Erschlossenen; d) kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird. Diese Legalität [(d)] kann [den Beteiligten] als legitim gelten … kraft Vereinbarung der Interessenten für diese; … kraft Oktroyierung (auf Grund einer als legitim geltenden Herrschaft von Menschen über Menschen) und Fügsamkeit.“17

15 Herbert Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 316. Vgl. auch Philip Selznick, The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community, 1992, S. 50: „The most striking feature of positivism – social, legal, logical – is a quest for determinacy … The precise meaning, the operational indicator, the definite objective – these are watchwords of a positivist program.“ 16 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 44, 94, 128, 166, 174, 505. 17 Weber (Fn. 16), S. 19.

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

Im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung politischer Organisation wechselt die Bedeutung dieser Gesichtspunkte.18 Hier soll eine Unterscheidung eingebracht werden, die im Rahmen des Streits zwischen Liberalismus und Kommunitarismus prominent vertreten wird. Die materiale Legitimität einer staatlichen Entscheidung kann sich darauf beziehen, dass das jeweilige Ziel gut und/oder gerecht ist. Mit dieser Unterscheidung ist – vor allen Konkretisierungen – Folgendes gemeint: Kollektive Entscheidungen, wie sie für moderne Staaten üblich sind, werden im politischen Prozess immer auch material verteidigt, wie die Berufung auf öffentliches Interesse und Gemeinwohl belegt. Kein Entscheidungsträger begnügt sich mit dem Argument: Wir hatten eine Stimme mehr als die anderen! Die materiale Qualität einer Regelung wird oft vorrangig in der Gerechtigkeit gesehen: in den Erfordernissen sozialer Gerechtigkeit oder individueller, auf Leistung beruhender Gerechtigkeit.19 Doch lassen sich nicht alle politischen Entscheidungen auf Gesichtspunkte der Gerechtigkeit reduzieren, deren zentraler Kern das Postulat angemessener, fairer Verteilung von Vorteilen und Lasten ist.20 Oft geht es primär um die Frage: Was ist eine für unser Volk passende, angemessene, gute Politik? Welche Ziele wollen wir verfolgen, welche Programme auflegen? Etwa: Wer wollen wir als deutsches Volk sein, wofür wollen wir stehen? Über einen Zeitraum von 40 Jahren stellte sich in der damaligen Hauptstadt Bonn die Frage: Wollen wir die deutsche Wiedervereinigung ernsthaft betreiben? Wie sollen wir der Aufforderung in der Präambel des deutschen Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“21, nachkommen? Oder, nach der Wiedervereinigung: Wollen wir in Europa ein „Europa der Vaterländer“ oder „Vereinigte Staaten von Europa“ anstreben? Diese Fragen zielen auf gute Politik im Sinne einer Bestimmung gelungener kollektiver Identität ab, nicht oder jedenfalls nicht primär auf faire Verteilung von Vorteilen und Lasten. Im Vordergrund steht ein konkretes, zeit-, kultur- und politikgebundenes Ziel, das manchmal, aber eben nicht immer von der Gerechtigkeit geboten ist. Damit soll nicht geleugnet werden, dass bei der Durchsetzung eines jeden politischen Ziels Gerechtigkeitsfragen auftauchen können, ja in aller Regel unvermeidbar sind. Etwa, um bei den genannten Beispielen zu bleiben: Wieviel Geld sollte Westdeutschland den neuen Ländern zur Verfügung stellen? Sollen die in der DDR-Zeit vorgenommenen Enteignungen rückgängig gemacht oder soll nur entschädigt werden? Darf man insoweit einen Unterschied machen zwischen Enteig18

Vgl. etwa Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1976, Kap. 7 II. Damit sind in Kurzform die Zentralpunkte zweier Konkretisierungen der Gerechtigkeitsidee angesprochen, nämlich des Sozialliberalismus und des ökonomischen Konkurrenzliberalismus. 20 Vgl. dazu mit Nachweisen Brugger, Liberalismus (Fn. 1), S. 329. 21 Dieser Satz galt bis zur Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands. Seit der Grundgesetzänderung vom 23. 9. 1990 (BGBl. II, S. 885, 890) heißt der Satz: „Die Deutschen in den Ländern … haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“ 19

II. Das Gemeinwohl und die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates

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nungen vor und nach 1949? Oder, was Europa betrifft: Wieviel Solidarität schulden die reicheren Staaten der Europäischen Union den ärmeren Staaten? Lässt sich legitimerweise überhaupt eine Unterscheidung treffen zwischen armen Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union? Damit lässt sich festhalten: Gute und gerechte Regelungen sind zwar oft miteinander verknüpft, lassen sich aber nicht immer aufeinander reduzieren. Zu einer Theorie des Gemeinwohls, die die wichtigsten Legitimitätskonzeptionen integriert, gehören also sowohl die Kriterien des Guten wie des Gerechten; stärkere, anspruchsvollere Theorien werden zwischen den beiden Ausformungen von Legitimität genauere Inhalts- und Verhältnisbestimmungen vornehmen. Dies gilt etwa für den Liberalismus, der einen Vorrang des Gerechten vor dem Guten annimmt, während umgekehrt Kommunitaristen in der Regel die Gerechtigkeit als Teil des Guten ansehen oder zumindest die klare Trennung nicht für möglich halten.22 Dies gilt auch für konkrete Verfassungen, die, ohne die Differenzierung zwischen „gut“ und „gerecht“ zu treffen, die wichtigsten Legitimitätskriterien in den Verfassungstext aufnehmen. Blickt man insoweit in das Grundgesetz als Beispielsverfassung des modernen Verfassungsstaates, so kann man Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit als legitimatorische Grundwerte nennen, die in den ersten drei Artikeln an zentraler Stelle genannt werden. Damit gründet diese Verfassung auf dem legitimatorischen Individualismus oder Personalismus, ohne dass die Gemeinschaftsausrichtung des Menschen geleugnet wird.23 Generell sollen Grundrechte in der Abwehrdimension die Fairness, Gerechtigkeit und Zumutbarkeit bei der Durchsetzung demokratisch beschlossener Politikziele oder auch im Verfassungstext genannter Staatsziele wahren. Man kann es auch so sagen: Grundrechtliche Abwehrrechte fungieren als Grenzpfosten für Politikziele. Wenn ihr Mechanismus greift, ist klargestellt, dass entgegen dem ersten Anschein doch kein „gutes“, gemeinwohlförderliches Ziel vorliegt. Das letztendliche Gemeinwohlurteil in Bezug auf Legitimität ist also erst in der zweiten Stufe zu treffen: Auf der ersten Stufe verfolgt die Politik ein bestimmtes Ziel, behauptet dessen Gemeinwohlförderlichkeit, und beschließt mit demokratischer Mehrheit; in der zweiten Stufe wird diese Behauptung, die wegen der demokratischen Absicherung auch eine gewisse Vermutung der Richtigkeit mit sich führt, noch einmal geprüft auf Zumutbarkeit bzw. Gerechtigkeit. Erst danach ist die Legitimitätsfrage wirklich beantwortet.24 22 Zu diesen beiden Positionen siehe die Aufsätze einerseits von Stefan Huster, andererseits von Winfried Brugger, in: Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit über das Kreuz in der Schule. Zur Neutralität des Staates im religiös-weltanschaulichen Bereich, 1998, S. 69 ff., 109 ff. 23 Letzteres ergibt sich daraus, dass das Grundgesetz auch Gemeinschaftsformen wie Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 4) sowie Ehe und Familie (Art. 6) gewährleistet und schützt. Zur Verbindung der „liberalen“ und der „kommunitaristischen“ Ausrichtung des Grundgesetzes siehe auch die Menschenbildformel des Bundesverfassungsgerichts, nachgewiesen und erörtert bei Brugger, Liberalismus (Fn. 1), § 3. 24 Von der Seite des Bürgers aus gilt Ähnliches: Auch dieser tritt bei seiner Freiheitsentfaltung implizit oder explizit mit dem Anspruch auf, seine Aktionen seien zumindest gemeinwohlverträglich; ob das aber stimmt, ist erst nach näherer Prüfung mit konkurrierenden

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

Legitimitätstheorien, die die Gesichtspunkte „gute“ bzw. „gerechte Regelungen“ zum Wohle der Gemeinschaft differenziert entwickeln und darin das vorrangige Gemeinwohlerfordernis sehen, kann man auch als Theorien bezeichnen, denen die praktische oder materiale Rationalität25 der Rechtsordnung am wichtigsten ist. Bei ihnen muss sich die interne Konsistenz und Kohärenz von Rechtsnormen, Staatsfunktionen und Staatsorganen dem Inhalt nach ausrichten an moralisch-ethischen Kriterien. Ethische Kohärenz und Rechtsidealismus sind die Leitbilder. Zum so verstandenen Idealismus gehören alle Naturrechts- und Vernunftrechtskonzeptionen. Diese bestehen darauf, dass das positive Recht der Natur des Menschen – worin immer diese bestehen mag – entsprechen muss oder ihr zumindest nicht widersprechen darf, und dass die Vernunft in mehr bestehen muss als im bloß instinktiven Vollzug empfundener Bedürfnisse. Hierzu zählen auch alle Theorien utilitaristischer Prägung, die in unterschiedlichen Varianten die faktischen Interessen der Menschen, deren Präferenzen und den Wohlstand der Bevölkerung als entscheidende Merkmale richtigen Rechts und staatlichen Handelns ansehen.

3. Zweckmäßigkeit Rechtsregelungen, die klar und eindeutig an der Legitimität ausgerichtet sind, können das Gemeinwohl immer noch verfehlen, wenn sie den Wirklichkeitsbezug ihrer Regelungen, ihr empirisches und soziales Substrat, nicht beachten und berücksichtigen, denn: „Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln.“26 Auch die Effektivität der Normverwirklichung hängt von der Welt, „so wie sie ist“, ab; an ihr darf man nicht achtlos vorübergehen. Die Natur der Sache ist zu berücksichtigen. An dieser klassischen Redeweise ist nichts auszusetzen, wenn man sie im Sinne der Analyse der konkreten Strukturen und nicht der Postulierung eines metaphysischen, zeit- und

individuellen oder öffentlichen Belangen festzustellen. Operationalisiert ist dieser Gedanke in der Grundrechtsprüfung: Erst wird die Eröffnung des Schutzbereichs geprüft, anschließend die einschlägige Grundrechtsschranke. 25 Vgl. Max Webers Bestimmung materialer Rationalität: Diese „bedeutet ja gerade: dass Normen anderer qualitativer Dignität als logische Generalisierungen von abstrakten Sinndeutungen auf die Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluss haben sollen: ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen …“: Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 16), S. 397. Vgl. auch ebd., S. 45: „ethische, politische, utilitarische, hedonische, ständische, egalitäre oder irgendwelche andere Forderungen …“. Anders als Weber unterscheide ich zwischen der Wahl der Zwecke (Legitimität, materiales Gemeinwohl) und der Zweckmäßigkeit der Regelungen bei feststehenden Zwecken (hier: 3. Säule des Gemeinwohls). 26 BVerfGE 34, 269 (288).

II. Das Gemeinwohl und die drei Säulen des modernen Verfassungsstaates

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kulturenthobenen Wesens der jeweiligen Sache – etwa von Familie, Religion, Wirtschaft, Solidarität usw. – versteht, an die das Recht regulierend herantritt.27 Damit wird nicht einer kritiklosen „Normativität des Faktischen“ das Wort geredet. Nicht alles, was Menschen, Gruppen oder Staaten faktisch tun, ist deswegen schon gut und gerecht. Macht ist nicht gleich Recht. Doch ist auch die Alternative verfehlt: Normative Postulate oder Gerechtigkeitsforderungen verbürgen nicht für sich schon Gemeinwohlförderlichkeit. Sollen setzt Können, Gerechtigkeit setzt Zumutbarkeit und Planung setzt Wissen um die einschlägigen Verhältnisse voraus. Zudem sind angesichts der Knappheit vieler begehrter Ressourcen Sparsamkeit und Effizienz wichtige Gemeinwohlelemente. Damit können wir einige wichtige Elemente von Zweckmäßigkeit oder, wenn man so will, Praktikabilität oder instrumenteller bzw. Mittel-Zweck-Rationalität28 benennen: a) Rechtsentscheidungen sollten von zutreffenden Daten und Einschätzungen des jeweiligen Wirklichkeitsbereichs und der betroffenen Interessen ausgehen. Ohne empirische „Unterfütterung“ bleibt jeder Regulierungsversuch ein Hirngespinst. b) Die Voraussetzungen und Folgen rechtlicher Regulierung sind zu bedenken. Was sind die voraussehbaren Folgen, wie steht es mit immer möglichen nichtbedachten Konsequenzen? Was sind die Kosten, was die Vorteile einer neuen Regelung oder des Verzichts auf eine solche, bezogen auf den einschlägigen Bereich, auf andere Lebenswelten, ökonomisch, sozial, rechtlich, moralisch usw.? Angesichts der Knappheit der meisten begehrten Güter sind die effektivsten, kostengünstigsten Lösungen anzustreben. c) Effektivität setzt immer auch die angemessene Berücksichtigung der Leitideen der zu regelnden Bereiche, der „Natur der Sache“ voraus. In jedem Lebensbereich geht es um eine andere Erfüllungsgestalt, und an dieser darf das Recht jedenfalls nicht achtlos vorübergehen, will es sich nicht seiner Wirkung (und, damit verbunden, seiner Legitimität) berauben.

27 Hier ist der Anknüpfungspunkt für institutionentheoretische oder systemtheoretische Bestimmungen von Gemeinwohl, die an der „idée directrice“ bzw. dem Code des jeweiligen gesellschaftlichen Subsystems ansetzen. Vgl. zur Systemtheorie den Beitrag von Detlef Horster, Gemeinwohl als Kontingenzformel. Die systemtheoretische Sicht, in: Winfried Brugger/ Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 245 ff. 28 Vgl. Max Webers Bestimmung von Zweckrationalität: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt“: Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 16), S. 13. Wie die Formulierung deutlich macht, ist Webers Zweckrationalität sozusagen in sich gespalten: Der eine Teil ist die Mittel-Zweck-Nebenfolgen-Analyse bei gegebenem Zweck; dies wird hier Zweckmäßigkeit, instrumentelle oder Mittel-Zweck-Rationalität genannt. Der andere Teil ist die Zweckreflexion und Zweckfestsetzung, die Teil der zur Legitimität gehörenden materialen Rationalität ist.

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

Theorien, die diese Gesichtspunkte als entscheidend für ein gut funktionierendes Rechtssystem ansehen, kann man dem Rechtsrealismus, Rechtsinstrumentalismus oder der ökonomischen Theorie des Rechts29 zurechnen. Darunter ist eine Haltung zu verstehen, die, unter Voraussetzung feststehender, also rechtssicherer (und unterstellt: akzeptabler, legitimer) Zwecke und auf den Postulaten der Mittel-ZweckRationalität aufbauend, die sozialregulierende Funktion des Rechts vor allem von der Wahl der besten, geeignetsten, kostengünstigsten Mittel abhängen sieht. Einschlägiges Stichwort ist: Recht als Sozialtechnologie. Prominente Ausformungen dieses Theorietyps sind etwa der von Hans Albert vertretene kritische Rationalismus sowie die ökonomische Theorie des Rechts in ihren diversen Varianten, etwa der Public choice-Theorie oder der Chicagoer Schule von Law and Economics.30

4. Beispiele Dass das Drei-Säulen-Modell mit seiner internen Differenzierung zur Erkenntnis des modernen Staates beiträgt, liegt auf der Hand31: Was die Rechtssicherheit angeht, so wird Bedeutungssicherheit durch die textliche Spezifizierung des geltenden Rechts im Rahmen des Stufenbaus der Rechtsordnung geleistet und späterhin durch richterliche Konkretisierung im Rahmen gelungener Funktionsabgrenzungen vollendet. Befolgungssicherheit kommt durch die Möglichkeit staatlicher Durchsetzung geltenden Rechts zustande.32 Stabilität wird erreicht über die Geltung in der Zeit, insbesondere der Verfassung, aber auch notwendig werdende Neufestlegungen des bindenden Rechts. Zu den Legitimitätskriterien des modernen Verfassungsstaates gehören zeit- und kulturgebundene kollektive Politikziele (wie die schon angesprochene Wiedervereinigung Deutschlands sowie die europäische Einigung), ferner grundrechtliche Garantien. Die Zweckmäßigkeit kommt im Verfassungsrecht vor allem dadurch zustande, dass sinnvolle Funktionsabgrenzungen vorgenommen werden: Ausschluss von Tyrannei sowie effektive Aufgabenerledigung durch das am

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Dies ist eine Grobeinteilung und soll Unterschiede zwischen den Theorien nicht leugnen. So verbindet die ökonomische Theorie des Rechts etwa Legitimitätsfragen und Effektivitätsfragen, weil für sie in der Ebene der Zweckfestlegung ökonomische Gesichtspunkte der Wohlstandssteigerung und der bestmöglichen Präferenzbefriedigung vorrangig sind. 30 Vgl. z. B. Hans Albert, Erkenntnis, Recht und soziale Ordnung, ARSP Beiheft Nr. 44, 1991, S. 16 ff., 21 ff.; Hans Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 1995; James M. Buchanan, The Limits of Liberty, 1975; Richard A. Posner, The Economics of Justice, 1981. 31 Vgl. meine oben Fn. 1, 4 genannten Artikel, die viele Beispiele enthalten. 32 Zu den Abschwächungen in Bezug auf Bedeutungs- und Durchsetzungssicherheit im Europarecht und im Völkerrecht siehe die Beiträge von Calliess (Fn. 4), S. 173 ff. und Oeter (Fn. 5), S. 215 ff. Hinter der Zurückhaltung der Nationalstaaten, insbesondere die Durchsetzungskomponente transnational voll zur Ausformung kommen zu lassen, steht deren nach wie vor starker Wille, die Kompetenz-Kompetenz bzw. die Souveränität im Konfliktfall bei sich selbst zu behaupten.

III. Prozeduren der Gemeinwohlkonkretisierung

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besten geeignete Organ sind die Stichworte.33 Ferner wird bei Grundrechtseingriffen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Mittel im Hinblick auf den relevanten (unterstellt: legitimen) Zweck geprüft.34

III. Prozeduren der Gemeinwohlkonkretisierung Die bisherigen Erörterungen gingen von den materialen Zielen von Recht und Staat im Rahmen des Gemeinwohlbegriffs aus, haben aber noch nicht die Frage beantwortet, auf welche Art und Weise die notwendigen Konkretionen35 von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit getroffen werden können. Auf positivrechtlicher Ebene kommen hier Verfassung und Gesetz ins Spiel, doch bedürfen deren Festsetzungen selbst noch einer vorgelagerten Reflexionsstufe. Diese stellt das prozedurale Ergänzungselement zu den materialen Elementen von Gemeinwohl dar. Der Legitimitätsanforderung, gute und gerechte Regelungen zu erlassen, entspricht die Notwendigkeit der Eröffnung eines moralischen Reflexions-, offenen Argumentations- und politischen Entscheidungsprozesses. Was die Öffentlichkeit betrifft, muss auch öffentlich diskutiert werden, bevor darüber entschieden wird. Entscheidungsträger im modernen Staat sind alle Betroffenen, alle Bürger, das Staatsvolk.36 Die Entscheidung muss demokratisch getroffen werden. So können, vermittelt über Medien und Parteien und die entsprechenden Grundrechte in der Verfassung, alle zu Wort kommen und idealerweise viele Meinungen berücksichtigt werden. Weil in Bezug auf dasjenige, was in konkreten Situationen für ein bestimmtes Problem eine gute und gerechte Entscheidung ist, oft Dissens herrscht, dient das demokratische Entscheidungsverfahren auch dazu, diese Streitigkeiten zu kanalisieren und rechtsverbindlich – also bedeutungs- und durchsetzungssicher – zu entscheiden. Damit wird Licht geworfen auf das fruchtbare Wechselspiel von De33 Vgl. zu dieser Begründung von checks and balances zum Beispiel Justice Jackson, concurring in Youngstown Sheet and Tube Co. v. Sawyer, 343 U.S. 579, 635 (1952): „While the Constitution diffuses power the better to secure liberty, it also contemplates that practice will integrate the dispersed powers into a workable governemnt. It enjoins upon its branches separateness but interdependence, autonomy but reciprocity.“ Ähnlich das deutsche BVerfG in BVerfGE 68, 1 (86). 34 Vgl. ausführlich hierzu Christoph Engel, Das legitime Ziel als Element des Übermaßverbots. Gemeinwohl als Frage der Verfassungsdogmatik, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/ Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, BadenBaden 2002, S. 103 ff. 35 „Konkretionen“ meint, dass je nach Bereich und Problem manchmal oder auch oft Kerngehalte der Elemente des Gemeinwohls praktisch unbestritten sind, so dass man dann in der Spannung von Vorgegebenheit und Aufgegebenheit argumentiert und entscheidet. Selten wird eines der Verfassungselemente bis ins Detail hinein von allen unhinterfragbar als der Rechtssicherheit, der Legitimität oder der Zweckmäßigkeit förderlich eingestuft werden. 36 Hinter dieser Stufung von nicht-identischen Begriffen steckt natürlich ein weiteres Entscheidungsproblem, wenn man an Entscheidungen im Asylbereich oder im staatlichen Innenbereich denkt, soweit Ausländer betroffen sind, die nicht politisch mitbestimmen.

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mokratie und Rechtspositivismus: Die Streitigkeiten der Öffentlichkeit und des politischen Prozesses werden partizipatorisch beigelegt und entschieden. Sicherheit tritt an die Stelle von Unsicherheit, jedenfalls vorläufig. Rechtsfrieden wird hergestellt. Unter welchen Voraussetzungen kann man realistischerweise annehmen, dass die Minderheit Entscheidungen der Mehrheit akzeptiert? Offenbar nur, falls die Minderheit davon ausgehen kann, dass die Mehrheit sich mit ihren Entscheidungen innerhalb eines Rahmens nachvollziehbarer, vertretbarer, wenngleich umstrittener Ausdeutungen von materialer Legitimität hält, die von anderen unvertretbaren Ausdeutungen geschieden ist. Ferner muss rechtliche Gewähr dafür bestehen, dass solche unvertretbaren und dann willkürlichen Regelungen der Minderheit nicht aufgezwungen werden.37 Hier geht es aber nicht mehr um das Prozedere, sondern um materiale Grenzen für die inhaltlichen Ergebnisse des Diskurses, vor allem durch grundrechtliche Abwehrrechte. Damit sind wir beim juristischen Diskurs angelangt, also der prozeduralen Ergänzung zu den materialen Elementen der ersten Säule des Gemeinwohls, die den Kern des Rechtspositivismus bildet. Hier geht es um die Festlegung und Einrichtung von Organen, Funktionen, Kompetenzen und Verfahrensregelungen im engeren Sinne (Antragsberechtigte, Formen, Fristen etc.) zur Festlegung dessen, was als Recht gelten soll; ferner kommen hier spezifische Argumentationsweisen – Auslegungsmethoden – ins Spiel. In einem minimalen Sinne könnte man vom Vorliegen eines juristischen Verfahrens schon ausgehen, wenn gälte: „Was immer Souverän X bestimmt, soll rechtens sein.“ Im modernen Staat sind wir über solche Ansätze weit hinausgelangt: Es gibt mehrere Organe – vor allem Legislative, Exekutive, Judikative – mit unterschiedlichen Kompetenzen und spezifischen Verfahrensregeln. Weiterhin werden grundlegende Legitimitätsfragen verfassungsrechtlicher Art von Verfassungsgerichten überprüft, die insoweit über dem Gesetzgeber, aber unter der Verfassung und dem von ihr angezielten Gemeinwohlverständnis stehen.38 Dies führt zum dritten Diskurs, dem sozialwissenschaftlichen Expertendiskurs als Ergänzungsebene der dritten Säule des Gemeinwohls, in der es um Zweckmäßigkeit geht. Hier sind Verfahren einzurichten, die Umfang, Grad und Ausmaß der empirischen Betroffenheit von Menschen durch geplante oder existierende Rechtsregelungen testen; die deren Kosten und Nutzen überschlagen, besser noch berechnen; die Gewähr dafür bieten, dass man weiß, wovon man spricht, wenn man spezifische Bereiche wie Wirtschaft, Erziehung, Religion etc. reguliert. Die zureichende Kenntnis zumindest der erstgenannten Punkte wird man weder von Juristen noch von Rechtsbetroffenen erwarten können. Letztere werden zwar in der Regel Vermu37 Näher zu dieser Unterscheidung Brugger (Fn. 1), Liberalismus, S. 107 f., 154 f., 235 f., 333 ff. 457 ff. 38 Zu den insoweit vorhandenen partiellen Abschwächungen im Europarecht und Völkerrecht siehe die Beiträge von Calliess (Fn. 4), S. 173 ff. und Oeter (Fn. 5), S. 215 ff. und Brugger (Fn. 4).

IV. Ebenen der Gemeinwohlverwirklichung

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tungen in Form von Hoffnungen und Befürchtungen haben, doch über Alltagserfahrungsregeln werden diese oft nicht hinausgehen. Deshalb braucht Politik wissenschaftliche Politikberatung.39 Und im Parlament sollten Politiker aus allen Lebensbereichen nicht nur deshalb sitzen, weil damit deren Interessen besser, weil gerechter repräsentiert sind (das ist ein Legitimitätserfordernis), sondern weil damit auch mehr Sachverstand zum Zuge kommen kann. Auch im Rechtssystem ist die Erreichung rechtsrealistischer Annahmen keine Selbstverständlichkeit; sie muss organisiert werden. Dass die Daten eines Falles einem Gericht korrekt vorliegen, ist kein Faktum, sondern ein Faziendum. Diesem Ziel dient die Einrichtung von Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsregeln in Prozessgesetzen. Ob die Berücksichtigung von Nutzen und Kosten einer bestimmten Rechtsnorm von den Richtern zu überprüfen ist oder ob sie diese Frage als von der Legislative vorentschieden unberücksichtigt lassen sollten, ist ebenfalls eine schwierige Frage, die aus dem Arrangement der drei Gewalten heraus zu treffen ist. Gewaltenteilung dient nach klassischer Auffassung der Eliminierung staatlicher Willkürherrschaft, also einem Legitimationskriterium. Aus dem gegenseitigen Verweisungsverhältnis der drei Säulen des Gemeinwohls ergibt sich aber, dass auch Optimierungsgesichtspunkte der effektiven Aufgabenerledigung, also Anforderungen von Zweckmäßigkeit, berücksichtigt werden sollten. Auf jeden Fall wird deutlich, dass in der Prozedurebene zwei Expertendiskurse – der sozialwissenschaftliche und der juristische – neben einem Allgemeindiskurs – den die Bürger über die Legitimation von Rechtsregelungen führen – stehen und dass alle miteinander integrativ verwoben sind. So sollen Input, Prozedur und Output gemeinwohlförderlich aufeinander bezogen werden. Und so kann man sich einen Reim auf den Spruch machen, dass die Staatsmacht auf den Volkswillen zurückgeführt werden muss, aber nicht vom Volk ausgeübt werden sollte: Die Legitimitätsüberzeugungen des Volkes sollen das Fundament sein, aber auf ihm aufbauend bedarf es der Eliten, der Experten, um im umfassenden Sinne gemeinwohlförderliche Entscheidungen zu treffen!

IV. Ebenen der Gemeinwohlverwirklichung Damit sind wir bei einer dritten Stufe der Gemeinwohlproblematik angekommen, die nicht die Ziele und Prozeduren, sondern den Abstraktions- oder Konkretionsgrad 39 Diese umfasst ökonomischen Sachverstand, der klärt, welche Güter privatwirtschaftlich zur Verfügung gestellt werden, und welche Güter der Staat als „öffentliche Güter“ bereitstellen muss. Vgl. dazu die Beiträge von Gebhard Kirchgässner, Gemeinwohl in der Spannung von Wirtschaft und politischer Organisation: Bemerkungen aus ökonomischer Perspektive, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 289 ff. und Michael Anderheiden, Gemeinwohlförderung durch die Bereitstellung kollektiver Güter, ebenda, S. 391 ff.

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von Rechtsregelungen betrifft. Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit sollen im gesamten Gebäude des Rechts erreicht werden; das ist der Anspruch eines modernen, vernünftigen, rationalen Rechtssystems. Dieses reicht aber von (1) den einzelnen Lebens- und Handlungsbereichen selbst – etwa der Rechts-, Wirtschaftsoder Bildungsordnung – über die (2) für diese einzelnen Bereiche konstitutiven Prinzipien und Regeln – etwa zur Produktion von guten und gerechten Rechtsnormen, von Gütern und Leistungen, von informierten und flexiblen jungen Menschen – bis hin (3) zu einzelnen, konkrete Problemfälle betreffenden Entscheidungen – etwa Verwaltungsakten, Preisfestsetzungen und Abschlusszeugnissen. Diese drei Ebenen lassen sich gedanklich trennen. Wichtig ist aber auch ihr Zusammenhang im Rahmen der Gemeinwohlorientierung moderner Rechtsordnungen. Wer nur den Einzelfall sieht, wenn er „richtig“, „angemessen“ entscheiden will, steht in Gefahr, das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Einseitigkeit droht, im Extremfall Dezisionismus; ferner kann die Rechtsordnung nicht unbegrenzt ins Detail jedes Einzelfalles gehen – das wäre zu teuer, deshalb benötigt man das Instrument der Typisierung. Wer nur das Gesamtbild sieht, wird in Versuchung geraten, die Einzelfälle in ihrer Variabilität als Störfaktor statt als Material zur Konstruktion eines Gesamtbildes zu sehen. Wer zu stark aus einer intuitiven Gesamtschau eines Regelungsbereichs denkt und fühlt, wird Schwierigkeiten haben, dessen Leitideen in Prinzipien und Regeln auszuformulieren und damit handhabbar, operationabel zu machen für die Erledigung der ja meist vielfältigen und komplexen Aufgaben. Wenn wir in der Reihung der Gemeinwohlebenen vom Sachbereich über die Normebene bis hin zum Einzelfall vorgegangen sind, so versteht sich diese Reihung, wenn man von Rechtssystemen spricht, nicht ohne weiteres. Sie ist nur typisch für Rechtsordnungen wie die deutsche, die primär vom Kodifikationsdenken geprägt sind. Kodifikatorische Rechtsordnungen behaupten, große Lebensbereiche vollständig, richtig und zweckmäßig regeln zu können. Es gibt aber neben den „code law systems“ noch andere Rechtsfamilien, insbesondere „case law systems“ bzw. „common law systems“ wie etwa das amerikanische Rechtssystem. Dieses verfährt sozusagen umgekehrt40: Im Common Law beginnt das Recht mit dem Einzelfall und dem Präjudiz. Die richtige gerichtliche Entscheidung der Einzelfälle führt zwar zu Normen, doch sind für Fallrechtsjuristen die abstrakten Normen, insbesondere die Prinzipien, von nicht so großer Bedeutung wie für Kodifikationsjuristen; sie sind Arbeitshypothesen, die aber umgestoßen oder revidiert werden können, wenn der nächste Einzelfall zu seiner angemessenen Lösung nach einer anderen Entscheidung verlangt. Noch geringer ist dementsprechend die Rolle von Leitideen ganzer Lebensbereiche.41 Selbst wenn der Gesetzgeber tätig geworden ist – was auch in 40

Vgl. zusammenfassend zu den Unterschieden Charles Abernathy, Law in the United States, 1995, S. 18 f.; James Herget, Contemporary German Legal Philosophy, 1996, S. 114 ff.; Peter Hay, Einführung in das amerikanische Recht, 3. Aufl. 1990, Kap. 1 C. 41 Dies ist selbstverständlich eine idealtypische Einteilung, die nicht ausschließt, dass einzelne Autoren, Gesetze oder Rechtsphilosophien in den USA kodifikatorisch bzw. in Deutschland fallrechtsorientiert sind.

V. Zum Verhältnis der Gemeinwohlelemente

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Fallrechtssystemen zunehmend vorkommt –, wird „Recht“ nach wie vor vorrangig als „Recht im Einzelfall“ verstanden: „Nicht die Gesetzesvorschrift, sondern die richterliche ,Glosse‘ ist anzuwendendes Recht.“42 Die Tatsache, dass es solche unterschiedlichen Gewichtungen in Rechtsordnungen gibt, verweist wiederum auf die unterschiedliche kulturelle Ausprägung und Gewichtung des Gemeinwohlkonzepts. Allerdings wissen alle einsichtigen Kommentatoren sowohl von Fallrechts- wie Kodifikationssystemen darum, dass zur angemessenen Lösung von Rechtsfällen in einer modernen Rechtsordnung die Berücksichtigung aller drei Ebenen gehört.43 Auch hier begegnen wir wieder einer Integrationsthese, die unterschiedliche Gewichtungen nicht aus-, sondern einschließt. Soweit in der Moderne Tendenzen zur Annäherung von Common Law und Code Law diagnostiziert werden, spricht man von einer Konvergenzthese.

V. Zum Verhältnis der Gemeinwohlelemente Erst in der Gesamtschau dieser Leitideen wird der Anspruch eines wohlgeordneten, funktionierenden modernen Rechtssystems deutlich: Die „richtige“ Entscheidung lässt sich kennzeichnen als eine Entscheidung, die auf allen Stufen rechtlicher Regelung das beste Verhältnis der drei Gemeinwohlelemente trifft. Es ist evident, dass damit ein optimales Rechtssystem anvisiert wird, dem sich reale Rechtsordnungen nur annähern können. Trotzdem ist dieser Hinweis kein Anzeichen eines unverbesserlichen Optimismus oder gar eines wirklichkeitsfremden Utopismus. Ganz im Gegenteil sind die Gemeinwohlaspekte realistischer Ausdruck der praktischen Rechtswelt: Rechtskritik stützt sich meist auf den Vorwurf, dass die angegriffene staatliche Maßnahme eines der Gemeinwohlelemente oder mehrere derselben übersieht, missversteht oder falsch gewichtet!44 Es geht darum, dass die angegriffenen Maßnahmen „kein Recht“ seien oder zwar den Gesetzen entsprechen, aber ungenau, ungerecht oder unzweckmäßig seien. Wenn das aber so ist, muss eine jede realistische Rechts- und Verfassungslehre diese normative Kritik ernst nehmen 42

Hay (Fn. 40), S. 10. Vgl. hierzu, neben den Hinweisen in Fn. 40, Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 171, 239; Winfried Brugger, Legal Interpretation, Schools of Jurisprudence, and Anthropology: Some Remarks From a German Point of View, American Journal of Comparative Law 42 (1994), S. 395 ff.; ders., Concretization of Law and Statutory Interpretation, Tulane European and Civil Law Forum 11 (1996), S. 207 ff. 44 Vgl. als Beispiel Chaim Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 139 f.: „Die Kritik [am Recht] wird die Sittlichkeit, die Gesetzmäßigkeit, die Regelhaftigkeit im weitesten Sinne, die Nützlichkeit und Geeignetheit eines Verhaltens, einer Entscheidung, einer ausgeführten oder vorgeschlagenen Maßnahme betreffen. Damit diese Kritik möglich wird, bedarf es notwendigerweise einer vorläufigen Zustimmung … zu Normen und Zielen, in deren Namen die Kritik vorgetragen wird.“ 43

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§ 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept

und versuchen, sie im Rahmen ihrer konkreten Ausgestaltung positiv zu thematisieren. Genau dies tut das hier entwickelte Gemeinwohlverständnis. Die einzelnen Elemente von Gemeinwohl stellen für sich genommen wichtige Teilstücke zur Konstruktion einer vollentwickelten, attraktiven Rechtsordnung aus Sicht der Gegenwart dar. In diesem Sinne ist die hier gegebene Darstellung weder neu noch besonders originell. Es gibt andere Staats- und Verfassungslehren oder Rechtsphilosophien, die der Sache nach mehr oder weniger die gleichen Elemente thematisieren. Für den hier gewählten Ansatz ist erstens charakteristisch, dass die Elemente einer attraktiven Rechtsordnung im Rahmen des Gemeinwohlkonzepts rekonstruiert werden, und dass dieses Konzept zweitens als Integrationsformel entwickelt wird. Integrationsformel meint, dass nur eine gewisse Systematisierung erfolgt in Form der drei Säulen des Gemeinwohls sowie der Unterscheidung von Elementen, Prozeduren und Ebenen. Diese drei Stufen lassen sich analytisch unterscheiden, hängen aber der Sache nach zusammen. Über diese „schwache“ Systematisierung hinaus trifft die hier entwickelte Theorie keine Aussagen. Sie will gerade durch diese Offenheit für stärkere, anspruchsvollere Theorien des Gemeinwohls und für den Pluralismus konkreter Verfassungstheorien und Verfassungen deutlich machen, wo deren Platz in dem umgreifenden Gemeinwohlkonzept liegt.45 So lassen sich deren unterschiedliche Schwerpunktbildungen erkennen; gleichzeitig wird ein Argumentationsrahmen für mögliche Verständigung geboten.46 Schließlich hat diese Systematisierung auch eine gewisse präskriptive Komponente: Keines der genannten Systemelemente darf gänzlich entfallen; dann läge ein klarer Fall von Gemeinwohlschädlichkeit vor. Abschließend ist noch auf eine allgemeine Charakteristik der Gemeinwohlaspekte hinzuweisen, die vor aller Konkretion in den Überlegungshorizont eingestellt werden muss: Die einzelnen Gemeinwohlaspekte können in konkreten Fällen drei Arten von Beziehung bilden: Sie können sich gegenseitig unterstützen; sie können indifferent gegeneinander sein; sie können sich widersprechen. Im erstgenannten Fall liegt eine einfache Entscheidung vor, die sich sozusagen von selbst ergibt. Im Rechtsbereich wären dies Entscheidungen oder institutionelle Arrangements, die optimal gemeinwohlförderlich sind. Wenn etwa Gleichheit der Kern von Gerechtigkeit ist und eine Verfassung demgemäß die Gleichheit als zentralen Verfassungswert verankert wie das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1, dann liegt im Sinne der drei Säulen des Gemeinwohls (1) eine rechtssichere Entscheidung vor, die (2) einen zentralen Legitimitätswert widerspiegelt und die darüber hinaus (3) auch Vorhersehbarkeit, also Effizienz sichert, wenn und insoweit eben Gleiches gleich und 45 Meine eigene „starke“ Legitimationstheorie nenne ich „Verfassungsliberalismus“, „geläuterten Pluralismus“ und „liberalen Kommunitarismus“, vgl. Brugger, Liberalismus (Fn. 1), §§ 7, 9 – 11. Diese der Sache nach sich nahestehenden politischen Theorien lassen sich alle im Grundgesetz nachweisen. 46 Solche Integrationskonzepte habe ich in Brugger, Liberalismus (Fn. 1), §§ 1 und 3, auch für die Anthropologie menschlichen Handelns und für das Menschenbild der Menschenrechte entworfen.

V. Zum Verhältnis der Gemeinwohlelemente

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Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Kein Wunder, dass sich in allen modernen Verfassungen Gleichheitsmaßstäbe finden!47 Ein zweites Beispiel: Moderne Verfassungen enthalten immer eine gewaltenteilige Staatsstruktur. Warum? Das lässt sich anhand der drei Säulen des Gemeinwohls nachvollziehen: Die Trennung der Gewalten führt (1) zur Klarheit, welches Staatsorgan für welche Aufgaben zuständig ist. (2) So werden Souveränitätsanmaßungen einer der drei Gewalten abgewiesen; die Freiheit der Bürger als ein Legitimitätskriterium kommt zur Geltung. (3) Schließlich kann durch eine kluge Zuweisung von Kompetenzen eine effektive Wahrnehmung legitimer Staatsaufgaben gefördert werden.48 Soweit die Gemeinwohlelemente bei einer konkreten Entscheidung sich indifferent zueinander verhalten, werden in der Regel mehrere Optionen als gemeinwohlförderlich vorstellbar sein. Dazu gehören etwa Fragen wie: Soll eine Demokratie parlamentarisch oder präsidial organisiert werden? Soll das Verfassungsgericht ein separates Gericht sein oder den Abschluss der regulären Gerichtsbarkeit bilden? Je indifferenter die Gemeinwohlprinzipien in solchen Fragen sind, desto mehr werden Faktoren wie geschichtliche Lage und politischer Wille die entscheidende Rolle spielen – legitimerweise. Schwieriger ist der Fall der internen Spannung oder gar des Widerspruchs. Für moderne Gesellschaften ist es unausweichlich, dass über eine Vielzahl von Problemen unterschiedliche Legitimitätsvorstellungen vorherrschen – man denke nur an die Stichworte Neutralität des Staates im religiösen Bereich (Schulkreuz), soziale Gerechtigkeit, Strafzwecke, Asyl und Einwanderung. Was ist in solchen Lagen zu tun? Die Politik muss sich über das Rechtssystem entscheiden, was oft heißt: im Wissen, dass eine Minderheit die getroffene Lösung als ungerecht und illegitim ansieht. Die Rechtsphilosophie kann in solchen Fällen konzeptioneller Spannung versuchen, jedenfalls im Bereich der übergreifenden Konzeptionen – also durch Berufung auf das Gemeinwohl als solches oder unstreitige sonstige Begriffe wie Würde, Freiheit und Gleichheit – den Oberflächenkonsens zu verdeutlichen. Ferner sollte sie herausarbeiten, ob und inwieweit die konkreten Konzeptionen zur Ausdeutung solcher Integrationskriterien in ihren Konsequenzen jedenfalls in Kernbereichen übereinstimmen.49 Letzteres ist Gott sei Dank oft der Fall, denn ohne solche partiellen Überlappungen wäre es undenkbar, dass die streitenden Gruppen sich einem prozeduralen Entscheidungsmechanismus wie der Demokratie unterwerfen, bei dem es Verlierer geben muss. Wenn dann noch eine Zusatzkontrolle in Form von verfassungsgerichtlich überwachten Grundrechten vorhanden ist, ist der Standard erreicht, der, wenn er denn funktioniert, den Gemeinwohlstandard moderner politischer Organisation formuliert.

47 Die Komplikation kommt dadurch zustande, dass zu klären ist, was die „wesentlichen“ Gleich- oder Ungleichbehandlungsaspekte sind. 48 Vgl. schon oben Fn. 33. 49 Vgl. Brugger, Liberalismus (Fn. 1), S. 111 ff.

§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten Bei Diskussionen über Menschenrechte geht es meistens um konkrete, streitige Abwägungsfragen. Zum Beispiel: Verstößt die Todesstrafe oder die lebenslange Freiheitsstrafe gegen die Menschenrechte? Ist es eine Verletzung der Menschenrechte, wenn man Menschen in armen Staaten verhungern lässt? Gebieten es die Menschenrechte, tödlich verfeindete Bürgerkriegsparteien zu befrieden, notfalls mit Waffengewalt von außen? Das positive Recht gibt viele Antworten auf solche Fragen, vor allem in nationalen Grundrechtskatalogen und in regionalen oder universalen Menschenrechtspakten, aber auch in sonstigem Völkerrecht, etwa der Charta der Vereinten Nationen. Jedoch lässt sich nicht jeder Menschenrechtsstreit durch Verweis auf das positive Recht schlichten: Manchmal versagt das Recht eine Antwort, manchmal gibt es eine aus Sicht Betroffener unangemessene, nämlich unzweckmäßige oder ungerechte Antwort, oft ist die Auslegung zwischen den Parteien umstritten, beispielsweise bei der Frage, ob es zur Persönlichkeitsentfaltung einer schwangeren Frau gehören soll, ein unerwünschtes Kind abzutreiben, wann immer sie das will. Solche Auseinandersetzungen um die Existenz oder die Auslegung von Menschenrechten spiegeln in aller Regel Dispute zwischen unterschiedlichen Personen, Gruppen, Kulturen und Nationen wider. Sie alle berufen sich gleichermaßen auf die universelle Geltung der Menschenrechte, aber in der konkreten Auslegung urteilen sie nicht mit gleichem Maß über das, was als Menschenrecht zählen sollte, welches Gewicht einem konkreten Menschenrecht im Konfliktfall beigemessen werden sollte und wie bestimmte Leitbegriffe wie Freiheit, Gleichheit und Würde ausgelegt werden sollten. Wie kann man solche Spannungen auflösen? Eine erste Möglichkeit ist es, politisch zu argumentieren und zu entscheiden – staatenintern, im Rahmen des Verfassungsrechts, und zwischenstaatlich, im Rahmen des Völkerrechts. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, im positiven Recht verankerte Menschenrechte kunstgerecht auszulegen – eine Kunst, deren Beherrschung Juristen sich rühmen. Eine dritte Möglichkeit ist es, im Rahmen einer philosophischen Analyse unter Rekurs auf das positive Recht darzulegen, wie die Spannung zwischen universellem Anspruch und partikularer, nämlich kulturgebundener Auslegung thematisiert und ansatzweise gelöst werden kann. Hier soll der dritte Weg eingeschlagen werden. Er führt über die Entwicklung eines im positiven Grundrechts- und Menschenrechtsbestand selbst aufweisbaren Menschenbildes, von dem ich hoffe, dass sich in ihm alle Kulturen der

I. Geschichte und Positivierung der Menschenrechte

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Welt wiederentdecken können, so dass zumindest ein gemeinsamer Gesprächsrahmen verfügbar ist.

I. Geschichte und Positivierung der Menschenrechte Vom Menschenbild der Menschenrechte zu sprechen, hat Vorteile und Nachteile. Der Rekurs auf das Menschenbild verspricht eine zusammenfassende, ganzheitliche Sicht der Menschenrechte. Das ist angesichts der Vielzahl dessen, was heute als Menschenrecht positivrechtlich anerkannt1 oder eingefordert wird2, ein Vorteil, denn so kann eine gedankliche Konzentration auf das Universelle im Partikularen und das Verbindende im Trennenden erfolgen. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch die Besinnung auf das in den Menschenrechten verkörperte Menschenbild eine Art Vermenschlichung und Personalisierung der Reflexion angezielt wird, die der intellektuellen Analyse der Menschenrechte eine Basis emotionaler Ansprechbarkeit zur Seite stellt, in Form einer „Gestalt“ mit menschlichen Zügen, in der sich jeder erkennen können soll.3 Der Nachteil der Reflexion auf das Menschenbild der Menschenrechte besteht vor allem in der naheliegenden Gefahr ihrer ideologischen Instrumentalisierung und Okkupierung durch eine der betroffenen Kulturen oder Nationen. Eine jede Kultur ist geprägt von „Bildern“ im Hinblick auf Menschen als solche oder auch Menschen in speziellen Rollen, die mehr und anders sind als photographische Abbilder lebender Personen – man denke an Begriffsbildungen wie homo faber, oeconomicus, oecologicus, ludens oder vita activa, contemplativa und viele weitere, vergleichbare Begriffsbildungen.4 Solche Menschenbilder haben meist einen Bezug im Leben: Sie 1

Vgl. den Überblick bei Ulrich Fastenrath/Bruno Simma (Hrsg.), Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz, 5. Auflage 2004. Im Einzelnen differiert die rechtliche Verbindlichkeit der dort angeführten Texte: Sie reichen von Erklärungen supranationaler Institutionen bis zu bindendem Völkervertragsrecht und zu Völkergewohnheitsrecht. Hierzu Karl J. Partsch, Vorund Nachteile einer Regionalisierung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1989, S. 1 ff. 2 Wann immer ein eingeforderter Anspruch von Politik und Recht nicht anerkannt wird, liegt die Tendenz nahe, zu einem „höheren Recht“ hinaufzusteigen, und dazu bieten sich Grundrechte, Menschenrechte und Menschenwürde an, die alle nationalstaatlich wie völkerrechtlich als Maßstab und Grenze von „einfachen Gesetzen“, politisch beschlossenen Parlamentsgesetzen, dienen. Siehe z. B. Klaus Tanner, Menschenwürde im Dauertest, Zeitschrift für evangelische Ethik 45 (2001), S. 1 zur Menschenwürde als „Mehrzweckwaffe“. 3 Diese „Vermenschlichung“ geht in der hier anzustellenden, letztlich doch systematischen Analyse natürlich nicht so weit wie Ansätze der Untersuchung und Verstärkung von Menschenrechten, die genuin narrativ sind und konkrete Unrechtserfahrungen und deren Verarbeitung über Wertbildungs- und Wertbindungsprozesse vorstellen. Hierzu exemplarisch Hans Joas, Die Sakralität der Person, 2011. 4 In Ergänzung zu solchen Begriffsbildungen gibt es eine umfangreiche Literatur, die sich mit „Menschenbildern“ allgemein, im historischen Kontext bzw. Kontextwechsel oder in be-

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

sind empirisch unterfüttert, wir erkennen die „Typen“ wieder, aber wertneutral werden sie selten vorgestellt. Sie sind werthaft konnotiert, manchmal abschreckend, oft aber auch als Vorbilder dessen, was die jeweilige Kultur hochhält, was sie als anstrebenswertes Ziel von Persönlichkeitsentfaltung ansieht.5 Wird eine einzelne dieser kulturprägenden Leitideen im weltweiten Gespräch absolut gesetzt und vorbehaltlos gegen andere, konkurrierende Welt- und Menschenbilder verteidigt, so wird es zu keiner Verständigung kommen. Der Kalte Krieg beispielsweise war nicht nur ein Wettrüsten zwischen Ost und West, sondern auch ein Menschenbildkonflikt: zwischen dem sozialistischen und dem westlichen Menschenbild.6 Bei einer Nichtverständigung bleibt es dann – wenn es gut geht – beim negativen Frieden der bloßen Abgrenzung; wenn die Entwicklung in solchen ideologischen Konkurrenzen aus dem Ruder läuft, kann es auch zu kriegerischen Missionierungen kommen. Ein positiver Friede im Sinne der allmählichen Annäherung der Staaten und Völker, zumindest im Sinne des zunehmenden gegenseitigen Verständnisses, kommt so jedenfalls nicht zustande.7 Wie kann man die Vorteile der Reflexion auf das Menschenbild der Menschenrechte wahrnehmen und gleichzeitig die Nachteile vermeiden? Der Ausweg liegt in der Berücksichtigung einerseits der wichtigsten Stadien der Menschenrechtsentwicklung, andererseits des gegenwärtig bestehenden Spektrums an Menschenrechtspakten und -deklarationen. Der inzwischen zweihundertjährige Kampf um die stimmten Lebensbereichen beschäftigt. Siehe hierzu exemplarisch einige neuere Titel, die starken Bezug zum Recht haben: Arno Baruzzi, Europäisches Menschenbild und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1979; Jan Michael Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995; Ulrich Becker, Das Menschenbild des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996; Peter Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 3. Auflage 2005; Karl Heinz Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, 2005. 5 Philip Selznick, Sociology and Natural Law, Natural Law Forum 6 (1961), S. 84 ff. spricht insoweit von „master ideals“, Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 1990, S. 106, 113, 176, 184, 192, 243 von „Erfüllungsgestalten“. 6 Das haben vorausschauend schon Karl Marx und Friedrich Engels treffend hervorgehoben: Vorrede zu: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, 1969, S. 13: „Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von dem Normalmenschen usw. haben sie ihre Verhältnisse eingerichtet. Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, den eingebildeten Wesen, unter deren Joch sie verkümmern.“ 7 Zu diesen beiden Perspektiven siehe Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werke, Preußische Akademieausgabe Bd. VIII, S. 341, 367: „[Die Natur] bedient sich zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen, die zwar den Hang zum wechselseitigen Haß und Vorwand zum Krieg bei sich führt, aber doch bei anwachsender Cultur und der allmählichen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Prinzipien zum Einverständnisse in einem Frieden leitet, der nicht … durch Schwächung aller Kräfte, sondern durch ihr Gleichgewicht im lebhaftesten Eifer derselben hervorgebracht und gesichert wird.“

I. Geschichte und Positivierung der Menschenrechte

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Menschenrechte war zwar zunächst ein Kind der westlichen Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen in Europa und Nordamerika.8 Seither aber hat sich die Berufung auf menschenrechtliche Garantien so ausgeweitet, dass im Gesamtüberblick aller einschlägigen Erklärungen keine der Weltkulturen und auch keiner der politischen Machtblöcke ein Monopol in der Interpretation der Menschenrechtsidee mehr für sich in Anspruch nehmen kann. Wenn also eine Bestimmung des Menschenbildes überhaupt Aussicht auf universelle Anerkennung erheben will, so darf sie nicht von vornherein Ausdruck nur einer der konkurrierenden Weltanschauungen sein; sie muss sowohl die Geschichte der Menschenrechte als auch ihren gegenwärtigen Positivierungsstand berücksichtigen. Die Geschichte der Entwicklung der Menschenrechtsidee lässt sich im Wesentlichen in drei Stadien einteilen: die Erstgenerations-, die Zweitgenerations- und die Drittgenerationsrechte.9 Die Erstgenerationsrechte wurden vor allem in den amerikanischen und französischen Menschenrechtskatalogen des ausgehenden 18. Jahrhunderts eingefordert. Sie konzentrieren sich auf die Gewährleistung negativer Abwehrrechte gegen den Staat und demokratischer Mitwirkungsrechte im Staat. Der deutsche Rechtswissenschaftler Georg Jellinek hat diese beiden ersten Arten von Rechten treffend dem status negativus und dem status activus zugerechnet.10 Zu den Abwehrrechten zählen etwa Justizgarantien und der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum. Zu den demokratischen Mitwirkungsrechten sind insbesondere politische Wahlrechte, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu rechnen. Im 19. Jahrhundert trat dann eine Verschiebung des Schwerpunktes der Menschenrechtsforderungen ein. Ausgelöst vor allem durch die Probleme der industriellen Revolution, die von Sozialisten und Kommunisten analysiert und bekämpft wurden, traten die Menschenrechte der zweiten Generation in den Mittelpunkt der politischen Diskussion. Darunter fallen wirtschaftliche und soziale Rechte zur Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse angesichts drohender Verelendung 8 Natürlich hat der politisch-rechtliche Kampf um Menschenrechte eine weit längere ideengeschichtliche Geschichte, auf die hier aber nicht eingegangen wird. 9 Vgl. hierzu etwa Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 1978; Hasso Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, Juristische Schulung 1988, S. 841 ff.; insbesondere zur oben verwendeten Terminologie Eibe Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, Europäische Grundrechte Zeitschrift 1989, S. 9 ff. Riedel macht auf die Gefahr eines Missverständnisses bei der Benutzung des Generationenbegriffs aufmerksam: Die dritte Generation ist nicht „besser“ oder „höher“ als die beiden vorhergehenden Generationen; sie „hebt“ diese, um mit Hegel zu sprechen, „nicht auf“; vielmehr handelt es sich primär um eine geschichtliche Sicht, ein idealtypisches Abfolgeraster, weswegen er für den Begriff „Dimension“ statt „Generation“ votiert. 10 Vgl. Georg Jellinek, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, 2. Auflage 1905, Kap. VII-X. Georg Jellineks Statuslehre, die vergleichbar dem Drei-GenerationenSchema eine Darstellung der Entwicklung der Menschenrechte samt der entsprechenden Institutionalisierungsmechanismen enthält, erreicht zwar aufgrund ihres Entstehungszeitpunktes am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr das ganze 20. Jahrhundert; sie kann aber durchaus auf diese Entwicklungen hin aktualisiert werden. Siehe dazu die von mir vorgenommene Aktualisierung seiner Statuslehre, in Tabellenform im Anhang dargestellt.

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

weiter Teile der arbeitenden Bevölkerung. Innerhalb dieser Bewegung sind zwei Gruppen zu unterscheiden: Die revolutionäre Richtung wird vor allem durch den Marxismus-Leninismus repräsentiert; sie will eine Ablösung des Kapitalismus durch den Kommunismus erreichen. Die reformistische Richtung, die in Deutschland etwa durch Autoren wie Lorenz von Stein und Hermann Heller repräsentiert wird, setzte sich für einen Kapitalismus mit menschlichem Gesicht, die soziale Marktwirtschaft ein; diese Konzeption ist inzwischen in vielen Teilen der Welt auf dem Vormarsch. Hier steht der status positivus im Zentrum.11 Im 20. Jahrhundert ergeben sich zwei weitere Bedeutungsverschiebungen in der Menschenrechtsdiskussion. Zum einen kommt es vor allem im Anschluss an den 2. Weltkrieg zu einer Universalisierung des Menschenrechtsgedankens. Am sinnfälligsten tritt dies in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948 zutage, die nicht mehr nur auf den europäisch-amerikanischen Raum abzielt, sondern „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“12 verkörpern will. Damit haben die Menschenrechte endgültig den status universalis erreicht. Zum anderen wird in den letzten zwei Jahrzehnten eine Ausdehnung der Menschenrechte auf weitere Kreise gefordert. Während bislang nur Individuen als Menschenrechtssubjekte angesehen worden waren, fordern nunmehr insbesondere die Staaten der Dritten Welt, auch Volksgruppen und Staaten selbst bestimmte Menschenrechte zugunsten der durch sie repräsentierten Mitglieder zuzusprechen. Zu diesen sogenannten Drittgenerationsrechten zählen vor allem die von den ärmeren Staaten eingeklagten Rechte auf Entwicklung, Frieden und Schutz der Umwelt sowie das Recht auf Teilhabe am „gemeinsamen Erbe der Menschheit“, womit die Reichtümer des Tiefseegrundes, aber auch das sonstige natürliche und kulturelle Erbe der Welt und die Nutzung des Weltraums gemeint sind. Wendet man den Blick von der geschichtlichen Entwicklung zum heutigen Stand der Positivierung von Menschenrechten, so ist man mit einer kaum mehr zu übersehenden Fülle von Erklärungen und Pakten konfrontiert. Die einschlägigen Texte haben teils universalen, teils regionalen Charakter13. Inhaltlich beziehen sie sich auf (1) allgemeine Regelungen, (2) das Selbstbestimmungsrecht und den Gedanken der Entwicklung, (3) das Verbot von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, (4) Diskriminierungsverbote, (5) das Verbot von Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel, (6) Flüchtlinge, Asyl, Staatenlosigkeit, Mehrstaatigkeit und Ausländer, (7) die Behandlung von Einzelnen, inbesondere von Inhaftierten und Gefangenen durch Verwaltung und Justizbehörden, (8) Soziales, (9) Arbeit, einschließlich Vereinigungsfreiheit und Freizügigkeit, (10) Heirat und Fa-

11

Im Sinne der in Fn. 10 erwähnten Terminologie von Georg Jellinek. Präambel. Abgedruckt als Nr. 2 der oben Fn. 1 erwähnten Sammlung. 13 Der Sache nach definieren und schützen natürlich auch die Grundrechte der nationalen Verfassungen die Menschenrechte, soweit diese allen Menschen und nicht nur Staatsbürgern zugutekommen. 12

II. Von fundamentalen Interessen zum Menschenbild der Menschenrechte

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milie, Rechte des Kindes, (11) Presse- und Informationsfreiheit, (12) Datenschutz, (13) das Recht auf Wehrdienstverweigerung und (14) das Kriegsrecht.14

II. Von fundamentalen Interessen zum Menschenbild der Menschenrechte Überblickt man dieses weite Feld an Rechten, dann steht die Schwierigkeit einer ganzheitlichen Sichtweise von Menschenrechten klar vor Augen. Die Schwierigkeit des Unterfangens darf aber nicht von dem Versuch einer philosophischen Reflexion abhalten, die eine Klärung des Anliegens möglichst mit einer Beschreibung der Verankerung der Menschenrechte verbinden und gleichzeitig Hinweise auf abzuwehrende Manipulationen und Ideologisierungen enthalten sollte. Wo und wie soll die Reflexion ansetzen? In der Philosophie gibt es dazu viele Vorschläge. Nur einige können hier erwähnt werden. Ein erster Ansatz, das von Ernst-Joachim Lampe entwickelte „negative Naturrecht“, geht von der anthropologischen Bedürfnis- und Interessenstruktur des Menschen aus, die eine jede Rechtsordnung jedenfalls im Großen und Ganzen respektieren muss, wenn sie sich auf Dauer halten und menschen-gemäß sein will.15 Zu den Grundbedürfnissen aller Menschen zählen, so Lampe nach Durchsicht der einschlägigen Literatur16, unter anderem das Selbsterhaltungs- und das Sicherheitsbedürfnis. Beide sind Voraussetzung dafür, dass weitere Grundbedürfnisse wie etwa nach Liebe, Familie, Freiheit und Schaffen, Gesellung, Erwerb und Besitz, Wahrheit, Metaphysik und Religion verwirklicht werden können. Eine verwandte, von dem englischen Rechtstheoretiker H. L. A. Hart entwickelte Sicht, die vom „Minimalgehalt des Naturrechts“ ausgeht, bestimmt Grunddaten der menschlichen und mitmenschlichen Existenz. Darunter sollen menschliche Verletzbarkeit, approximative Gleichheit, begrenzter Altruismus, begrenzte Mittel sowie begrenztes Verstehen und begrenzte Willensstärke fallen, auf die das Recht qua „Natur“ der Menschen Rücksicht nehmen muss.17 Daraus ergibt sich zum Beispiel, dass Rechtsordnungen Privatgewalt ausschließen und die eigene Gewalt rechtsstaatlich mäßigen müssen; dass sozialer Schutz gleichzeitig geboten, aber auch nicht überzogen werden darf; sowie dass die Nutznießer von Rechten auch an deren Kosten beteiligt werden sollten.

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So die Einteilung der Texte bei Fastenrath/Simma (Fn. 1). Vgl. Ernst-Joachim Lampe, Grenzen des Rechtspositivismus. Eine anthropologische Untersuchung, 1988, S. 42 ff., 50, 198. 16 Ebenda S. 25 f. mit einer Liste von 17 Grundbedürfnissen. 17 Vgl. H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, Kap. IX 2, S. 266 ff.: „Der Minimalinhalt des Naturrechts“. 15

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

John Rawls analysiert in seiner Theorie der Gerechtigkeit natürliche und gesellschaftliche Grundgüter, an deren Existenz oder Zurverfügungstellung alle Individuen ein gleiches Interesse haben, wie unterschiedlich ansonsten die Lebenspläne sein mögen.18 Hier wird also zusätzlich zu den bisher genannten Gesichtspunkten der anthropologischen Bedürfnisstruktur sowie den Grunddaten des menschlichen Zusammenlebens eine auf Gleichheit in Diversität aufbauende Überlegung vorgeschlagen. All diese Konzeptionen stellen moderne, detaillierte Ausarbeitungen oder Transformationen der klassischen Natur- und Vernunftrechtlehre dar, die ja ebenfalls schon in leicht wechselnder Gestalt und Betonung auf Leben, Freiheit und Eigentum als Fundamentalinteressen hingewiesen hatte.19 Von all diesen Bestimmungen fundamentaler Menschheitsinteressen lassen sich Brücken schlagen zum oben genannten Korpus moderner Menschenrechte. Des Näheren wäre dann zu prüfen, welche der genannten Theorien das zu thematisierende Material an Menschenrechten am umfassendsten und überzeugendsten darstellen und rechtfertigen kann. Hier soll ein etwas anderer Weg vorgeschlagen werden, der die Einschlägigkeit und Leistungskraft der genannten Theorien zur Bestimmung fundamentaler Interessen nicht leugnet, diese jedoch noch einmal in eine Menschenbildformel einstellen und dadurch „vermenschlichen“ will.20 Das Verfahren zu dieser Bestimmung des Menschenbildes der Menschenrechte ist dabei angelehnt an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das in Bezug auf das Grundgesetz öfters vom Menschenbild des Grundgesetzes gesprochen hat, um eine konkrete grundrechtliche Abwägung zwischen Staat und Bürger insbesondere im Menschenwürdebereich oder zwischen Grundrechtsansprüchen von Bürgern noch einmal überschlägig zu rechtfertigen. Die spezifische Abwägungsaufgabe für das Bundesverfassungsgericht besteht in der Auflösung der Spannung zwischen dem oder den sich auf ein Grundrecht berufenden Bürger(n) und dem in dieses Grundrecht eingreifenden Staat; dieser darf in das Grundrecht eingreifen, wenn er die für das jeweilige Grundrecht einschlägige Grundrechtsschranke und sonstige Maßstäbe, insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip, beachtet. Tut er dies nicht, wird aus dem Grundrechtseingriff eine verfassungswidrige Grundrechtsverletzung, die das Gericht aufhebt. Wenn das Bundesverfassungsgericht sich in solchen Fällen auch auf das Men18 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, deutsche Taschenbuchausgabe 1979, Nr. 11, S. 83, Nr. 15, S. 111 ff. 19 Näher hierzu Heiner Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftsvertragstheorien, 1990; Winfried Brugger, Freiheit und Sicherheit, 2004, Kap. III. 20 Neben diesem Analyserahmen haben ich in anderen Schriften eine zweite „Formel“, besser: „Metapher“ benutzt, um das Anliegen von Menschenrechten, Menschenwürde und Menschenbildern zu klären. Siehe Winfried Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, 2005, sowie den Aufsatz: Menschenwürde im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, Jahrbuch des öffentlichen Rechts N. F., Bd. 56 (2008), S. 95 – 124.

II. Von fundamentalen Interessen zum Menschenbild der Menschenrechte

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schenbild des Grundgesetzes beruft, so will es damit nicht die kurz beschriebene juristische Stufenprüfung von „Schutzbereich, Eingriff, Schranke, Verhältnismäßigkeit“ ersetzen21; vielmehr will das Gericht über diese Schritte hinaus die Gesamtabwägung veranschaulichen, personalisieren und den Betroffenen appellartig vor Augen führen: „Für Menschen dieser Art besteht die Möglichkeit, unsere Abwägung nachzuvollziehen und zu akzeptieren.“22 Dazu nimmt das Gericht die Gesamtheit der grundrechtlichen Schutzbereiche wie auch der jeweiligen im öffentlichen Interesse vorgesehenen Beschränkungsvorbehalte in den Blick und formuliert das dieser Gesamtsicht entsprechende Bild des Menschen. Repräsentativ ist etwa folgende Formulierung: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“.23 Diese Methode der Reflexion lässt sich auch für die Analyse des Menschenbildes der Menschenrechte fruchtbar machen. Sie hat den Vorteil, dass sie die Gesamtheit der Menschenrechte ins Visier nimmt. Sie kann aber auch die Spannungen zwischen konkurrierenden Menschenrechtsansprüchen und die Notwendigkeit, manchmal zugunsten von überwiegenden Gemeinwohlinteressen in Individualrechte eingreifen zu müssen, thematisieren.24 Ferner steht sie der Arbeitsweise des Juristen nahe, der mit positivierten Menschenrechten zu tun hat und auf eine philosophische Klärung des Grundanliegens der Menschenrechte angewiesen ist. Die Aufgabe der Reflexion ist auch hier, im Blick auf alle Schutzbereiche und alle Schranken der Menschenrechte eine Formel zu entwickeln, die einerseits möglichst alle Rechtspositionen abdeckt, andererseits aber doch auch so kurz und prägnant ist, dass sie als philosophische Formel und nicht bloß als aggregierende Formulierung erkennbar und benutzbar ist. Von einer solchen Formel darf man freilich nicht eine präzise Lösung aller Menschenrechtskonflikte erwarten. Sie soll „nur“ auf die wichtigsten Leitlinien zur Lösung des Konflikts aufmerksam machen, was nicht „alles“, aber weit mehr als „nichts“ ist, weil so jedenfalls Vereinseitigungen von Berufungen auf Menschenrechte argumentativ entgegengewirkt wird.

21 Siehe exemplarisch zu dieser Kritik Horst Dreier, in: ders., Kommentar zum Grundgesetz, 2. Auflage 2004, Art. 1 I, Rn. 168: „Gerade weil der irrlichternde Charakter der Menschenbild-Formel konkret faßbarer rechtsdogmatischer Konturen entbehrt, lassen sich geradezu beliebige Bezugnahmen herstellen.“ Liest man die Menschenbildformel im hier dargestellten Licht, verliert diese Kritik an Gewicht. 22 Wer an der Unterstellung für das vom Gericht Gewollte Zweifel hat, für den gilt immer noch das abgeschwächte Argument: So, wie oben geschildert, lässt sich der Rekurs auf ein „Menschenbild des Grundgesetzes“ am besten verstehen. 23 Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band 4, S. 7, 15 f. Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 65, 1, 44. 24 Die meisten positivierten Grund- und Menschenrechte enthalten Beschränkungsmöglichkeiten.

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

III. Das Menschenbild der Menschenrechte Mein Vorschlag ist, das Menschenbild der Menschenrechte zu bestimmen als eigenständige, sinnhafte und verantwortliche Lebensführung.25 Diese Formel hat fünf Elemente, die im Folgenden kurz erläutert werden. Anschließend erkläre ich ihren Zusammenhang und ihre Funktionsweise im Zwiespalt zwischen universellem Anspruch und kulturspezifischer Interpretation der Menschenrechte.

1. Eigenständigkeit Damit ist die Möglichkeit des Menschen bezeichnet, eine Ich-Perspektive zu entwickeln, sich Ziele zu setzen, einen individuellen Lebensplan zu entwickeln, zu verfolgen und argumentativ zu verteidigen. Dieser Lebensplan wird bis zu einem gewissen Grad Ausdruck der empirischen Natur des Menschen sein, also auf Grundbedürfnisse Rücksicht nehmen müssen26; funktionale Imperative wie etwa der Trieb zum Überleben und die soziale Abhängigkeit beim Aufwachsen reichen aber nicht aus, um die Eigenständigkeit des Menschen zu thematisieren. In ihr geht es auch um die spezifische Art und Weise, in der der Mensch als Individuum Stellung bezieht zu den der menschlichen Natur inhärenten Antrieben und Neigungen27, und diese Stellungnahme kann positiv, produktiv und bestärkend, wie negativ, beschränkend sein. Des Näheren lassen sich im Rahmen von Eigenständigkeit zwei Fallgruppen unterscheiden: a) In der Zielgerichtetheit des Menschen kommt seine Wahlfreiheit zum Ausdruck. Bereiche, auf die sich die Wahlfreiheit erstrecken kann, reichen von Berufswahl und Religionswahl bis zu Partnerwahl und Wahl politischer Parteien; all das sind Entscheidungen, die menschenrechtlich geschützt sind. Dabei meint „Wahlfreiheit“ nicht beliebiges Wählen, gar willkürliches Entscheiden aus dem „Nichts“; oft wird die Wahl Ausdruck einer Loyalität oder Zuneigung zu einer Person oder

25 Siehe zu früheren, kürzeren Darstellungen dieser Formel Winfried Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, § 37 III (für das Menschenbild der amerikanischen Verfassung); Elemente liberaler Grundrechtstheorie, Juristenzeitung 1987, S. 633, 637 f. (für das Menschenbild des Grundgesetzes); Staatszwecke im Verfassungsstaat, Neue Juristische Wochenschrift 1989, S. 2425, 2433 ff. (für das Menschenbild im modernen Verfassungsstaat); Menschenrechte im modernen Staat, Archiv des öffentlichen Rechts 114 (1989), S. 537, 578 ff.; Stufen der Begründung von Menschenrechten, Der Staat 31 (1992), S. 19, 22 ff. (für die Menschenrechtsproblematik). Die genannten Aufsätze sind in meinem Sammelband „Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus“, 1999, nachgedruckt. 26 Hierzu etwa die Arbeiten von Lampe (Fn. 15), Hart (Fn. 17) und Rawls (Fn. 18). 27 Hierzu näher etwa Selznick (Fn. 5), S. 90 f., sowie ders., The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community, 1992, S. 91 f., 124, 130 u. ö. mit der erhellenden Unterscheidung von allgemeiner Aufgabe von „survival“ und persönlichkeits- und kulturgebundenem „flourishing“.

III. Das Menschenbild der Menschenrechte

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Sache sein oder aus einer gefühlten Bindung erfolgen.28 Wie immer sie aussieht, sie wird jedenfalls bei moralisch schwierigen, extrem konsequenzenreichen oder identitätsbestimmenden Wahlakten Ausdruck gerade dieses Individuums sein.29 b) Solche Wahlen sind dem einzelnen Menschen normalerweise auch zuzurechnen.30 Das heißt: Der Mensch darf nicht nur die Vorteile seiner Lebensentscheidungen genießen; er ist auch für das Risiko des Scheiterns zuständig – Selbstsorge ist mit Fürsorge und Vorsorge für die eigene Person verbunden. Die Selbstverantwortlichkeit ist die Rückseite der Wahlfreiheit.

2. Sinnhaftigkeit Dieses Element erinnert an die grundlegende anthropologische Tatsache, dass die individuelle wie gruppen-, volks- oder gattungsmäßige Entwicklung des Menschen und seiner Gemeinschaften von der jeweiligen Kultur getragen wird. Kultur ist die zweite Natur des Menschen. Die Menschen müssen sich wegen der mehr oder weniger weitreichenden Entbindung von biologischer Determination ihre Welt selbst entwerfen und bauen. Sie müssen sich für ihr Leben selbst „programmieren“, und Programm im Sinne der Anleitung für das Erstrebenswerte wie das zu Vermeidende ist die jeweilige überkommene Kultur.31 Sie enthält mehr oder weniger weitreichende und verbindliche Deutungen und Vorgaben sowohl für das „gute Leben“ als Einzelund Gemeinschaftswesen als auch die Maßstäbe gerechter Verteilung von Vorteilen und Lasten.32 Das meint nicht, dass Kultur den individuellen Menschen und seine 28

Siehe Wilfried Härle, Art. Mensch, Abschnitt VII: Dogmatisch und Ethisch, in: Religion und Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage 2002, Band 5, Sp. 1068 zum Verständnis des Begriffs „Wählen“ im Lichte von Selbst-, Fremd- und Umweltrelation und entsprechender Bindung bzw. Verbindung. 29 Zum Charakteristikum der zuletzt angesprochenen Entscheidungen siehe mein Buch über das anthropologische Kreuz der Entscheidung (Fn. 20). 30 Der Ausnahmefall wird in den Rechtsordnungen durch Normen über Zurechnungs- oder Schuldunfähigkeit geregelt. 31 Vgl. neben Lampe (Fn. 15) Friedrich H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 2. Auflage 1990, Teil I. sowie den oben Fn. 27 angesprochenen Unterschied zwischen dem naturgegebenen Drang zu „survival“ und dem kulturimprägnierten „flourishing“. Siehe auch die klassische Formulierung von Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 12. Auflage 1978, S. 9: Der Mensch als „ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ,Bild‘, eine Deutungsformel notwendig ist.“ „Ob sich der Mensch als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied … ausmachen …“. 32 Das drückt sich auch in den Rechtsordungen aus, vor allem in Staatszielbestimmungen und in den Grundrechten, denen neben der individualrechtlichen Ebene (hier: Eigenständigkeit) eine objektivrechtliche Dimension (hier: Sinnhaftigkeit) zugesprochen wird, in der den kulturellen Objektivationen ein Existenzrecht und Förderung zukommt, etwa als „Kulturstaat“. Siehe beispielsweise Band 65 der Vereinigungen der Dt. Staatsrechtslehrer von 2006 über „Kultur und Wissenschaft“.

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

Entfaltung notwendigerweise determiniert, wohl aber, dass die Kultur immer einen – engeren oder weiteren – Horizont von Entfaltungsperspektiven bereitstellt, auf den sich das Individuum selbst dann noch, ja gerade dann in seinem Verhalten einstellen muss, wenn es von diesen präferierten Möglichkeiten abweichen will.33

3. Verantwortlichkeit Selbstverantwortlichkeit ist schon unter Punkt 1 b thematisiert worden. In einem nicht primär auf das eigene Leben bezogenen, sondern relationalen Sinn umfasst Verantwortlichkeit aber drei weitere Elemente: a) Gegenseitigkeit: Wer immer sich auf Rechte und Freiheiten beruft, muss anderen Personen, die in der gleichen Situation stehen, die gleichen Rechte und Freiheiten zugestehen. Dies ist die logische Konsequenz der Berufung auf allgemeine Rechte: Menschenrechte sind eben nicht Staatsbürgerrechte oder auf sonstige beschränkte Gruppen bezogene Rechtspositionen. Jenseits der Logik basieren Menschenrechte auf der Akzeptanz und Anerkennung gegenseitiger Berechtigung und Verpflichtung, dem Reziprozitätsprinzip.34 Keiner steht als Mensch a priori über oder unter dem anderen, alle haben grundsätzlich gleichen Anspruch auf GrundAchtung als Menschen und nicht Sachen oder Tiere; Hoch-Achtung dagegen kann je nach Tugend oder Leistung der betreffenden Personen in unterschiedlichem Maß verteilt werden; das schließen Menschenrechte nicht aus. b) Verantwortlichkeit meint aber auch das Einstehenmüssen für Rechtsverstöße. Eine Gesellschaft, die sich rechtlich verfasst, muss darauf achten, dass Rechte nicht nur postuliert, sondern auch geachtet und im Verletzungsfalle wiederhergestellt oder ausgeglichen werden.35 Diesem Ziel dienen in modernen Rechtsordnungen etwa das Deliktsrecht, das unerlaubte Rechtsverletzungen mit Schadensersatzpflichten koppelt, und das Kondiktionenrecht, das rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen mit Herausgabepflichten verbindet; hierher gehört natürlich auch das gesamte Strafrecht. Man kann es verallgemeinernd auch so sagen: Der Schutz der Integrität von Person 33 Siehe Holmer Steinfath, Orientierung am Guten. Praktisches Überlegen und die Konstitution von Personen, 2001, S. 437 mit dem Hinweis, „dass sozial vorgegebene Deutungsmuster generelle Muster sind, die immer erst individuell anzueignen und so in ein je besonderes Leben zu integrieren sind, dass sie dabei modelliert und verändert werden. Außerdem verfügen Personen häufig über eine Kreativität, die ihnen zumindest partiell auch die Schöpfung gänzlich neuer Deutungsmuster erlaubt.“ 34 Klassische Formulierung bei Immanuel Kant in der Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46, Preußische Akademieausgabe Band VI, 1968, S. 314: „bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im Volk in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er ebenso rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann“. Zur „Anerkennung“ als hier einschlägiger Kategorie etwa Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 2003. 35 Dieser Gedanke wird in der Free-Rider-Problematik deutlich, auf die schon H.L.A. Hart in dem Text nach Fn. 17 anspielt.

III. Das Menschenbild der Menschenrechte

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und Persönlichkeit in den hier auseinandergelegten fünf Elementen wird durch das Recht vorbeugend – durch Präventionsrecht – wie nachträglich – durch Reaktionsrecht – bewerkstelligt.36 c) Verantwortlichkeit umfasst schließlich soziale Verantwortlichkeiten für die Fälle, in denen es den Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft zugemutet werden kann, das Risiko des Scheiterns von Lebensplänen einzelner Individuen nicht diesen selbst, sondern der gesamten Gemeinschaft aufzubürden. Hierher gehören Vorkehrungen, die den „Wert der Freiheit“ gegenüber dem Recht auf Freiheit bzw. Eigenständigkeit für Individuen nicht zu weit auseinanderfallen lassen.37 Mittel sind vor allem die Verschaffung von Besitz und Bildung, noch allgemeiner formuliert, die Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen mit dem Ziel, Armen und Schwachen und sonstigen Personen, die sich im gesellschaftlichen Behauptungskampf nicht durchsetzen können, reale Chancengleichheit einzuräumen. Auch innerhalb des Staatsverbandes gibt es vielerlei Gemeinschaften, die sich um Wohl und Wehe ihrer Mitglieder kümmern und kümmern sollten, angefangen von der Familie über die Religionsgemeinschaft bis zum Berufsverband. Jenseits des Staatsverbandes gibt es die Völker- oder Weltgemeinschaft, deren arme und schwache Mitglieder ebenfalls um Hilfe und Unterstützung ersuchen und die auch Gehör finden sollten.38

4. Leben Lebensführung setzt zunächst den Schutz des Lebens voraus: Das Leben ist zwar nicht alles, aber ohne das Leben ist alles andere nichts. Überleben ist zweifellos ein vitales Interesse eines jeden Menschen, das nur in Ausnahmesituationen wie etwa einer Selbstverbrennung als Akt politischen Widerstandes geopfert wird. In der politischen Philosophie gibt es Theorien, die das Überlebensinteresse als alles andere übertrumpfendes Ziel staatlicher Legitimität postulieren.39 Juristisch gesprochen kommen hier das Recht auf Leben40 sowie sonstige Rechte auf Achtung der körperlichen Integrität sowie die klassischen Habeas-Corpus-Rechte und justizstaatlichen Rechte ins Spiel – der formelle Rechtsstaat nach deutscher Sicht, die „rule of 36

Hierzu näher Brugger, Kreuz der Entscheidung (Fn. 20), Kap. XX 3. Eine Formulierung in Anlehnung an Rawls (Fn. 18), Nr. 32, S. 232 f. 38 Zur genaueren Abgrenzung dieser unterschiedlichen Gemeinschaften bedarf es einer „Sphärentheorie“ von Verantwortung, wie sie zum Beispiel im Subsidiaritätsdenken und im liberalen Kommunitarismus entworfen wird. Siehe exemplarisch Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, Kap. 5, und Brugger, Liberalismus (Fn. 25), Kap. 11. Eine Menschenbildformel allein kann diesen Punkt nur als relevant ausweisen, aber nicht zureichend entfalten. 39 Prominentestes Beispiel ist Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, hrsg. von Iring Fetscher, 1966, Teil I, Kap. 13, S. 96: Unterwerfung unter die Staatsgewalt zur Vermeidung dessen, „was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes …“. 40 Siehe etwa Art. 2 Abs. 2 GG und zur Bedeutung des Lebensschutzes BVerfGE 115, 118, 152. 37

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

law“ bzw. der „due process of law“ in amerikanischer Terminologie. In der neueren Diskussion zur Legitimierung von Staatlichkeit und in zahlreichen Rechtsnormen wird zunehmend der weitere Lebensraum des Menschen als schutzbedürftig ausgewiesen; diesem ökologischen Anliegen lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass man unter „Leben“ auch die natürlichen Grundlagen dieses Lebens fallen lässt – unbelebte wie belebte Natur.41

5. Lebensführung Lebensführung stellt das abschließende und zusammenfassende Element des menschenrechtlichen Menschenbildes dar. Sie impliziert über (4.) die bloße Möglichkeit des Überlebens und den Schutz des Lebens hinaus zumindest ein Mindestmaß an Freiheit für die Einnahme einer Ich-Perspektive und einen individuellen Lebensplan (1.).42 Identitätsimprägnierte Entscheidungen werden immer durch die jeweilige Kultur informiert und oft an ihr orientiert sein (2.); in einigen Fällen wird das Individuum auch von traditionellen Vorgaben abweichen. Das lässt sich nie ausschließen, schließlich ist der Mensch sowohl Geschöpf als auch Schöpfer der Kultur. Auf jeden Fall schält sich in diesem gegenseitigen Verweisungsverhältnis das heraus, was Persönlichkeit oder authentische Selbstverwirklichung genannt werden sollte.43 Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die jeweilige Kultur auch die Maßstäbe gegenseitigen Gebens und Nehmens und individueller Zurechenbarkeit enthalten wird. Da wir hier von menschenrechtlich geprägten Kulturen sprechen, werden in diesen auch (3.) die vier Dimensionen der Verantwortlichkeit als ethischer Komponente thematisiert und ausgedeutet sein. Jemand, der sich diesen Kriterien stellt und seine Lebensführung an ihnen ausrichtet, legitimiert damit auch seine Handlungen. In dieser verantwortlichen Selbstbestimmung kommt die Würde des Menschen zum Ausdruck. Eine eigenverantwortliche, sinnhafte und verantwortliche Lebensführung lässt sich aber auch als Anlage der Gattung Mensch selbst verstehen, womit Würde allen Menschen als Menschen zukommt, auch wenn sie nicht in der Lage sein sollten, ihr Verhalten immer an den genannten Prinzipien auszurichten.44 41 Das führt dann zur Folgefrage, ob man für diesen weiten Begriff von „Leben“ noch anthropozentrisch das menschliche Leben im Mittelpunkt positioniert oder aber dieses mehr oder weniger gleichwertig in Öko- und Biozentrik aufgehen sieht. 42 Das meint das Bundesverfassungsgericht, wenn es oben Fn. 23 vom Schutz des „Eigenwerts“ der Person spricht. 43 Vgl. Terry Pinkard, Democratic Liberalism and Social Union, 1987, Kap. 1, insbes. S. 12, 27. 44 Hierzu näher Härle (Fn. 28), Sp. 1071 f. mit christlich inspirierten Formulierungen, die aber für jedes Menschenbild und jedes Menschenrechtsverständnis gelten, die an den oben genannten Leitlinien ausgerichtet sind. Härle spricht davon, dass „Eigenständigkeit“ auf „Ethik“ und „Ethos“ abzielt, „auf bewußte Reflexion [einer] regelgeleiteten Lebensführung“, ohne dass diese Ausrichtung faktisch immer praktiziert worden sein muss – Würde ist in diesem Sinne keine (bzw.: nicht nur oder nicht immer eine) Leistung, sondern eine ethisch-kulturelle und oft religiöse Voraus-Setzung. Zur Anerkennung dieser Voraussetzung siehe auch Tanner (Fn. 2), S. 5.

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Das Menschenbild der Menschenrechte 1. Eigenständige 2. sinnhafte

3. verantwortliche

4. Lebens-

umfasst a) Wahlfreiheit

umfasst Kultur und Tradition, die Wahlfreiheiten a) ermöglichen und

a) umfasst 1. b)

a) umfasst umfasst Lebensschutz a) 1. bis 4. analytisch

b) Selbstverantwortlichkeit

b) beschränken b) Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten c) Haftung für Rechtsverletzungen

b) im weiteren Sinne Ökologie

5. Führung

b) Achtung von 1. bis 4. präskriptiv trotz c) unterschiedlicher Gewichtung in den Kulturen

d) soziale Verantwortlichkeit

In welcher Weise lässt sich diese Formel in Menschenrechtsdiskussionen benutzen? Was sind ihre Stärken, was ihre Schwächen?

IV. Funktionsweisen der Menschenbildformel Ausgangspunkt der Antwort auf diese Fragen ist die in Abschnitt I angesprochene Entwicklung und Positivierung der Menschenrechte. In der Formel können die meisten der heute gewährleisteten oder eingeforderten Menschenrechte thematisiert werden. Das sei kurz anhand der drei Menschenrechtsgenerationen dargelegt: Die Erstgenerationsrechte konzentrieren sich um die Eigenständigkeit des Menschen: freie Wahl in wirtschaftlicher, kommunikativer und sozialer Hinsicht und Mitbestimmung im politischen Bereich. Voraussetzung hierfür ist der Lebensschutz. Wichtigste positivrechtliche Verankerung dieser Erstgenerationsrechte ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966.45 Die Zweitgenerationsrechte setzen vor allem an der sozialen Verantwortlichkeit füreinander an; diese soll auf die Bedürftigkeit des Menschen reagieren, etwa bei Armut und Krankheit. Wichtige positivrechtliche Verankerungen dieser Rechte sind etwa der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966 und die Europäische Sozialcharta vom 18. 10. 1961.46 Die Drittgenerationsrechte nehmen die Gedanken der Eigenständigkeit und sozialen Verantwortung auf, binden sie aber stärker in die jeweilige Tradition des Rechte einfordernden Volkes oder Staates ein, der in den Status des Menschenrechtsträgers 45 46

Abgedruckt als Nr. 8 in der oben Fn. 1 erwähnten Sammlung. Abgedruckt als Nr. 11 und 42 in der oben Fn. 1 erwähnten Sammlung.

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

rückt – treuhänderisch für die durch den jeweiligen Verband mediatisierten Staatsbürger.47 Die Menschenbildformel ist also in Bezug auf die bestehenden Menschenrechtserklärungen umfassend, integrativ und nicht einseitig einer Philosophie oder einer Kultur verpflichtet. Die Formel lässt sich analytisch verwenden. In dieser Funktion wird untersucht, ob und bis zu welchem Grad eine Menschenrechtserklärung oder ein nationaler Grundrechtskatalog (aber auch ein Parteiprogramm, eine Regierung, ein Gericht oder ein Philosoph) das eine oder das andere Moment betont oder zurückstellt. So wird im Rahmen der Formel etwa deutlich, dass eine ökonomisch-liberale Sicht von Gesellschaft mehr oder weniger in Analogie zu den Erstgenerationsrechten die Eigenständigkeit der Individuen betont, auf deren Einsatz und Wettbewerb setzt, weil von diesem größtmöglicher gesamtgesellschaftlicher Nutzen und auch eine grundsätzlich gerechte Verteilung der Güter erwartet werden; jedenfalls haben Gesichtspunkte staatlicher sozialer Verantwortlichkeit nur subsidiäre Bedeutung. Eine stärker sozialstaatliche Sicht des Liberalismus wird demgegenüber betonen, dass die nachteiligen Ausgangslagen vieler Individuen für den gesellschaftlichen Wettbewerb nicht diesen zugerechnet werden können. Weil es demnach am Kriterium der „Selbstverantwortlichkeit“ für die schlechte soziale Lage fehle, müsse der Staat als Sozialstaat für mehr Chancengleichheit sorgen.48 Der Sozialismus und der Kommunismus gehen über diese reformistische Sozialstaatssicht noch hinaus und sehen den Menschen als Gattungswesen, dessen Erfüllung vor allem von der Aufhebung der totalen Verelendung der eigentlichen Menschheitsklasse, des Proletariats, abhänge. Hier liegt eine weitgehende Leugnung der Selbstverantwortlichkeit des Menschen als Individuum vor; das Sinnhaftigkeitsmoment ist im Marxismus verwissenschaftlicht (Basis-Überbau-Theorem) und vergeschichtlicht (die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen) worden: In der Hand des Proletariats, angeleitet durch die marxistisch-leninistische Einheitspartei, liegt die Verantwortung für den Einstieg in die eigentliche Geschichte des Menschen, die nach der Expropriation der Expropriateure beginnt.49 Der Kommunitarismus betont das Moment der Sinnhaftigkeit: Individuelle Wahlentscheidungen in Isolation von der umgebenden Kultur müssen weitgehend scheitern; oft, vielleicht sogar meist verfehlen sie, was sie 47 Zum gegenwärtigen Umfang dieser Drittgenerationsrechte siehe die Nachweise bei Riedel (Fn. 9). Eine wichtige Untergruppe sind Minderheitenrechte, die Minderheitsgruppen gegenüber herrschenden Gruppen in Staaten einfordern. Hierzu näher Eibe Riedel, Menschenrechte als Gruppenrechte auf der Grundlage kollektiver Unrechtserfahrungen, in: HansRichard Reuter (Hrsg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, 1999, S. 295 ff. 48 So lassen sich in gekürzter Form die Positionen von Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (o. J.) und John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Fn. 18) kontrastieren. Hierzu auch anhand der unterschiedlichen Liberalismus- und Pluralismuskonzeptionen Brugger, Liberalismus (Fn. 25), §§ 7, 9 und 10 IX. 49 Zur Marxschen Theorie siehe insoweit Winfried Brugger, Menschenrechtsethos und Verantwortungspolitik. Max Webers Beitrag zur Analyse und Begründung der Menschenrechte, 1980, § 6 III; ders., Kreuz der Entscheidung (Fn. 20), Kap. XIX.

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anzielen: Erfüllung und Zufriedenheit. Wir müssen lernen, sagt diese Theorie, unsere Lebensformen nicht nur instrumentell, als Mittel für außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke anzusehen, sondern ihnen einen gewissen Eigenwert einzuräumen, der sich mit der Zweckwahl der Individuen vermitteln muss.50 Mit anderen Worten: Die Ausdifferenzierung der fünf Elemente der Menschenbildformel erlaubt es komparativ, Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaftstheorien, Partei- und Regierungsprogrammen und Menschenrechtspositionen herauszuarbeiten; darin liegt ihre analytische Leistungsfähigkeit. Was aber soll geschehen, wenn sich unterschiedliche Positionen gegenüberstehen? Dann ändert sich die Perspektive von Deskription und Analyse zu normativer Bestimmung. Eines ist aus den bisherigen Erörterungen klar: Eine ideologische Verwendung des Menschenrechtsgedankens liegt vor, wenn eine Sichtweise alle anderen Positionen dominieren oder ausschalten will51; das hieße nämlich, dass zum Beispiel nur die Menschenrechte der ersten oder der zweiten oder der dritten Generation anerkannt würden; oder dass nur der Pakt über bürgerliche und politische, nicht aber der über soziale und kulturelle Rechte Achtung verdient. Eine solche Vorgehensweise wäre Ausdruck eines Kulturimperialismus; so kann dem universellen Anspruch des Menschenrechtsgedankens nicht Rechnung getragen werden. Wie aber dann? Mein Vorschlag ist, die fünf Elemente der Menschenbildformel als gleichursprünglich52 für das Verständnis der Menschenrechte anzusehen. In ihnen sind Grunddaten der menschlichen Existenz angesprochen, die alle zur Führung eines menschenwürdigen Lebens gehören. Das heißt aber nicht, dass sie alle gleich gewichtet werden müssten. Da die Kultur die zweite Natur des Menschen ist, die konkreten Kulturen aber in ihren Selbstverständnissen differieren, muss es möglich sein, in der Gewichtung der einzelnen Elemente voneinander abzuweichen. Das ist der berechtigte Kern des Partikularismus im Menschenrechtsdenken, der sich positivrechtlich über die Schutzbereichsbestimmungen und Einschränkungsvorbehalte einzelner Menschenrechte sowie bei der Regionalisierung des Menschenrechtsschutzes Wirkung verschafft. Zur Bewahrung des Universalismus der Menschenrechtsidee ist es aber notwendig, dass keines dieser fünf Elemente gänzlich von einem andern oder mehreren anderen dominiert oder ausgeschaltet wird. Der Wesensgehalt eines jeden Elements, in dem gleichzeitig sein Menschenwürdegehalt 50 Zum hier einschlägigen „liberalen Kommunitarismus“ siehe Selznick, Commonwealth (Fn. 27), und Brugger, Liberalismus (Fn. 25), § 11. 51 Zu diesem Verständnis von „Ideologie“ siehe Brugger, Liberalismus (Fn. 25), § 1 III; entsprechende Überlegungen finden sich in Brugger, Kreuz der Entscheidung (Fn. 20), Kap. IX, X, XII und S. 184 f. 52 Zur Begriff der Gleichursprünglichkeit siehe Rentsch (Fn. 5), S. 95 f.: „,Gleichursprünglich‘ sind Konstitutionsaspekte zu nennen, wenn sie 1. voneinander unableitbar sind, wenn sie 2. in ihrem Verständnis irreduzibel aufeinander sind, und wenn sie 3. nur miteinander und durch einander verständlich, und nicht aus noch einem anderen Zug der Grundsituation ,ableitbar‘ sind. Anders gesagt: Die Aspekte müssen sich als unverzichtbar füreinander aufzeigen lassen.“ Ähnlichkeit besteht hier auch zu dem Härleschen Begriff von „relationaler Verfaßtheit des Menschen“ (Fn. 28), Sp. 1068 f.

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steckt, ist von jedem politischen Programm und jeder Regierung zu achten. Dieser Gedanke der Gleichursprünglichkeit und der Achtung des Wesensgehalts der fünf Elemente der Menschenbildformel ist beispielhaft ausgedrückt in Art. 30 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Keine Bestimmung der vorliegenden Erklärung darf so ausgelegt werden, dass sich daraus für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht ergibt, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, welche auf die Vernichtung der in dieser Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten abzielen.“ Noch einmal anders gesagt: Alle Elemente der Menschenbildformel sind wegen ihrer Gleichursprünglichkeit in praktischer Konkordanz aufeinander zu beziehen; Abwägungen zwischen den einzelnen Elementen lassen sich zwar nicht vermeiden; sie sind aber so vorzunehmen, dass jedes der Elemente autonomer Lebensgestaltung noch im Kern geachtet bleibt.53 Hat ein solches normatives Postulat Aussicht auf Akzeptanz im Menschenrechtsdisput? Das ist eine offene Frage. Jedenfalls sind zwei Dinge klar. Zum einen: Wollte man das Menschenbild oder den Kerngedanken der Menschenrechte auf einer noch abstrakteren Ebene als der hier vorgeschlagenen bestimmen – etwa durch die Berufung auf die „Freiheit“ oder „Gleichheit“ der Menschen54 –, könnte vielleicht ein Mehr an Akzeptanz erreicht werden. Diese Akzeptanz würde aber durch divergierende Ausdeutungen des Leitbegriffs deutlich entwertet, so dass realistischerweise nur von einem Oberflächenkonsens die Rede sein kann, der manchmal mehr verhüllt als enthüllt. Zum anderen: Entschlösse man sich zu einer Menschenrechtsbestimmung auf einer konkreteren Stufe der Reflexion als der hier vorgeschlagenen, nähme die Gefahr zu, dass die kulturellen Unterschiede in der Interpretation der Menschenrechte voll durchschlagen: Die jeweilige (westliche, östliche, individualistische, traditionalistische usw.) Konzeption von Menschenrechten nähme dann in Anspruch, die Idee der Menschenrechte selbst zu verkörpern; damit könnte realistischerweise von einem universellen Anspruch der Menschenrechte nicht mehr die Rede sein. Hält man sich diese beiden Alternativen vor Augen, erkennt man die vergleichsweise große Chance auf Akzeptanz der hier vorgeschlagenen Menschenbildformel: In ihr kann sich jede Kultur zu einem Teil wiedererkennen. Zwar wird jedem Kultur53 Dieser Gedanke findet sich auch im nationalen Verfassungsrecht. Siehe Art. 19 Abs. 2 GG und zum „Menschenwürdegehalt“ in den Grundrechten Dreier (Fn. 21), Rn. 163 ff. Siehe ferner Lampe (Fn. 15), S. 49: „In ihrem Kern, ihrem ,Wesens‘gehalt bleiben [die Grundrechte] absolute Menschenrechte; in ihrer normativen Ausgestaltung dagegen werden sie zu Kulturprodukten.“ Die Menschenbildformel allein, für sich genommen, beantwortet nicht die Frage, was bei erheblichen Verletzungen der mit den fünf Elementen verbundenen Schutzgüter durch Private geschehen soll, etwa bei Mord. Soll dann die Todesstrafe oder eine wirklich lebenslange Freiheitsstrafe ausgeschlossen sein? Die Antworten auf diese Fragen differieren, wie jeder weiß. Aber dass aus dem Menschenbild der Menschenrechte einschlägige (wenngleich die Antwort nicht notwendig determinierende) Argumente gewonnen werden können, ist evident. 54 Siehe etwa den Streit über die Priorität von Freiheit (John Rawls) oder Gleichheit (Ronald Dworkin), dargestellt bei Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, Kap. 6: Justice and Rights, inbes. S. 178 ff.

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und Rechtskreis das im Rahmen der „eigenständigen, sinnhaften und verantwortlichen Lebensführung“ mögliche Spektrum an Menschenrechten zu eng oder zu weit sein, zu viele oder zu wenige, zu vage oder zu spezifische Menschenrechte umfassen oder angreifbare Schwerpunkte setzen; doch muss sich keine der betroffenen Kulturen verleugnen, wenn sie in einen Menschenrechtsdialog eintritt. Eine jede von ihnen muss vermutlich Kompromisse schließen und partiell Perspektiven anderer Nationen und Völker übernehmen, will man sich einigen. Das ist zwar keine Garantie für Konsens, aber die bestmögliche Ausgangslage für eine Einigung oder, falls diese nicht zustande kommt, zumindest für ein gewisses Verständnis selbst im Konfliktfall. Ein solches Verständnis ist eine wichtige Voraussetzung für die Bewahrung zumindest des negativen Friedens, der friedlichen Koexistenz auf Distanz. Die mit der Formel verknüpfte Unbestimmtheit ist, wie die vorhergehenden Ausführungen im Grunde schon deutlich machen, nicht unbedingt eine Schwäche, sondern eher eine Stärke: Jedes der angeführten Elemente ist, normtheoretisch gesprochen, ein Prinzip oder ein Wert, der einer Richtung und Gewichtung zugänglich ist, im Rahmen des unabdingbaren Kerngehalts, der in jeder Interpretation geachtet werden muss. Es handelt sich bei den einzelnen Elementen also nicht um Regeln, für die ein Alles-oder-Nichts-Prinzip gilt: Entweder die „Eigenständigkeit“ (oder „Sinnhaftigkeit“ oder …) wird voll geachtet oder voll außer Kraft gesetzt.55 Ein solches Regelmodell der Menschenrechte, das auf Bedeutungssicherheit und Durchsetzungssicherheit abstellt, lässt sich im Rahmen des hier entwickelten Prinzipienmodells von „eigenständiger, sinnhafter und verantwortlicher Lebensführung“ nur in einem staatlichen Zusammenhang annäherungsweise verwirklichen, der in seinen Strukturen und gesellschaftlichen Voraussetzungen mehr oder weniger westlichen Demokratien entspricht. Vielleicht gilt das auch noch im Zusammenhang der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber schon da wird den einzelnen Staaten in gewissen Bereichen ein Interpretationsspielraum zugestanden.56 Im weltweiten Kontext jedenfalls ist eine gewisse Flexibilität in Interpretation und Durchsetzung bzw. Durchsetzungsmodus der Menschenrechte nicht unbedingt ein bleibender Geburtsfehler, sondern kann genauso gut eine Voraussetzung für reale Akzeptanz in den betreffenden Kulturen sein. Ein letzter Einwand könnte daran anknüpfen, dass die hier vorgeschlagene Formulierung zwar sowohl universelle Elemente wie kulturspezifische Menschen- und 55 Zum Unterschied von Regeln und Prinzipien siehe Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Taschenbuchausgabe 1986, Kap. 3. Dort S. 125 ff. auch zu der hier nicht problematisierten Frage der vielen unterschiedlichen Wertbegriffe. Für die Zwecke dieser Argumentation kann es dabei bleiben, dass „Prinzipien und Werte … einerseits deontologischen und … andererseits axiologischen Charakter“ haben (S. 133). 56 Vgl. zum „margin of appreciation“ Eibe Riedel, Die Meinungsfreiheit als Menschenrecht und ihre Verbürgung durch die Europäische Menschenrechtskonvention – Ansätze zu einer internationalen Menschenrechtsordnung, in: Johannes Schwartländer/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, 1986, S. 275, 288.

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

Weltbilder berücksichtigt, aber letztlich doch stehen bleibt vor einer direkten Übernahme der in der jeweiligen Kultur wichtigsten weltanschaulichen und religiösen Werthaltungen. Gerade deren Motivation, könnte man monieren, sei aber notwendig, um Menschenrechte nicht nur zu formulieren, sondern im praktischen Verhalten der Menschen zur Wirkung kommen zu lassen. Der Vorwurf des Stehenbleibens vor der kulturspezifischen „Letztbegründung“ trifft zu, darf aber nicht als Schwäche der Argumentation verstanden werden: Würde die Menschenbildformel eine der kulturspezifischen Letztbegründungen direkt inkorporieren und von ihr ununterscheidbar werden, so läge genau die Art von Ideologisierung vor, die im weltweiten Menschenrechtsdiskurs den einen voll befriedigt und alle anderen ausschließt.57 Um diese Instrumentalisierung zu vermeiden, muss eine jede Menschenbildformel, die wirklich auf universelle Akzeptanz setzt, sozusagen eine „vorletzte Begründungsstufe“ anzielen, an die die jeweiligen Kulturen und Religionen mit ihren Letztdeutungen anschließen können.58 Genau in diesem Sinn sollte „eigenständige, sinnhafte und verantwortliche Lebensführung“ verstanden werden: als die Gestalt der Menschenrechte, die mehrere Gestaltungen zulässt, im Rahmen des in den Unterschieden allen Gemeinsamen. . . . . .

57

Dieser Punkt war auch bei dem Streit um die Formulierung der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG bedeutsam. Siehe Dreier (Fn. 21), Rn. 21 und Tanner (Fn. 2), S. 3: „Die historische Genese der Idee der Menschenwürde ist, wie von Vertretern der Kirche und Theologen immer wieder betont wird, verknüpft mit christlichen Grundüberzeugungen. Die Etablierung als Fundamentalnorm unserer politischen Ordnung ist allerdings das Ergebnis eines bewußten Verzichts auf einseitige Begründungsstrategien im Parlamentarischen Rat und der daran sich anschließenden Rechtsprechung.“ 58 Zur Unterscheidung von letzter und vorletzter Begründung siehe Eibe Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 349 ff. Man kann hier auch an die politische, nicht metaphysische Deutung von John Rawls’ Theorie der Menschenrechte denken, die Rawls in seinen späteren Schriften bevorzugt hat: John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, hrsg. von Wilfried Hinsch, Taschenbuchausgabe 1994, Kap. 4 – 6. Siehe auch die entsprechenden Unterscheidungen zwischen Konventionalmoral und kritischer Moral in Brugger, Liberalismus (Fn. 25), S. 110 ff.

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Anhang59 Eine aktualisierte Fassung von Georg Jellineks Statuslehre60 Staat-Bürger-VerSchutzgut/ hältnis/ Problem: Unsicherheit durch Menschenbildfokus 1. Souveränität/ Bürger im status subiectionis

Leben / Machtzersplitterung, Bürgerkrieg, Anarchie

Lösung: Sicherung durch

Vertreter

Jean Bodin, Territorialstaat, Fürsten-, dann Staatssouve- Thomas Hobbes ränität, Nationalstaat, Säkularisierung Gewaltenteilung, Abwehrrechte, Rechtsstaat, zum Teil Föderalismus, Selbst(vor)sorge

Montesquieu, John Locke, Immanuel Kant, Federalist Papers

3. Demokratie / Bürger im status activus

Grundrechte auf KomPolitische Freiheit zu / Souveränitätsanmaßungen, politi- munikation, politische Partizipation, Volkssche Entmündigung souveränität

J.-J. Rousseau Immanuel Kant

4. Sozialstaat / Bürger im status positivus

Gesellschaftliche Freiheit zu / Souveränitätsindifferenz: Verarmung, soziale Ausbeutung der Schwachen

Sozialversicherung, Soziale Rechte in Verfassung oder Gesetzgebung

Lorenz von Stein Hermann Heller John Rawls

5. Ökologischer Staat / Bürger im status oecologicus

Ökologische Lebens- und Freiheitsvoraussetzungen / Umweltzerstörung

Ressourcenschutz, Schutz der öffentlichen Umweltgüter, Staatsziel Umweltschutz

Hans Jonas, Theorie ökonom. Externalitäten, „Von Anthropo- zu Biound Ökozentrik“

6. Kulturstaat / Bürger im status culturalis

Kulturelle Entfaltungsvoraussetzungen / Kälte, Anonymität des Gemeinschaftslebens

Staatsziel Kultur, objektive Grundrechtsfunktionen zur Unterstützung reicher Lebenswelten

Georg Jellinek, Peter Häberle

7. Transnationalität I/ Bürger im status Europaeus

Freiheit im nationalen politischen Verband / Souveränitätsdefizite, Nationalstaaten in Europa zu schwach, zu stark, zu partikularistisch

Europarecht: Eingliederung in Europäische Gemeinschaft/ Union EMRK

Europaidee: W. Churchill, J. Monnet, R. Schuman, W. Hallstein u. a.

Freiheit von / Souveränitäts2. Liberalität / Bürger im status li- anmaßungen, Bevormundung bertatis, negativus in der Gesellschaft: Religion, Wirtschaft, Privatsphäre

59 60

Siehe oben Fn. 10. Aus: Brugger, Freiheit (Fn. 19), S. 49, ergänzt.

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§ 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten

Eine aktualisierte Fassung von Georg Jellineks Statuslehre (Fortsetzung) Staat-Bürger-VerSchutzgut/ hältnis/ Problem: Unsicherheit durch Menschenbildfokus 8. Transnationalität II / Bürger im status universalis

Freiheit im Staatenverbund / Nationalstaaten, EU in der Welt zu schwach, zu stark, zu partikularistisch

Lösung: Sicherung durch

Vertreter

Völkerrecht: Eingliederung in internationale Organisationen, Menschenrechtspakte

Universalmoral: Eine Welt/ Menschheit Immanuel Kant, John Rawls, Jürgen Habermas

Teil 2: Kommunikation zwischen Integration und Konfrontation

§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche: Von strikter Trennung und Distanz über gegenseitiges Entgegenkommen bis zu Nähe, Unterstützung und Kooperation* I. Zur Verbindung von Religionsverfassungsrecht und Staatskirchenrecht in der Moderne Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut in freiheitlichen Gemeinwesen. Grundrechte schützen sie, Einschränkungen seitens der öffentlichen Gewalt bedürfen zwingender Gründe. So soll das in totalitären und autoritären Regimen bedrängte religiöse Gewissen geschützt und in seiner Entfaltung von Pressionen freigestellt werden. Das gilt nicht nur in der Abwehrdimension, sondern konsequenterweise auch in der Gleichheitsebene: Denn diese Freiheit ist keine Freiheit mehr zu einer staatlicherseits vorgegebenen oder präferierten, sondern einer von Gläubigen selbst gewählten und praktizierten Religion, in gleicher Anerkennung und mit gleichem Schutzgrad ausgestattet wie jede andere. Der Staat darf zwischen den Religionen und Kirchen und auch zwischen Religion und Nichtreligion keinen Unterschied machen, nicht diskriminieren. Rein von der Religionsfreiheit als individuelles und kollektiv ausgeübtes Freiheits- und Gleichheitsgrundrecht aus gesehen, hat solches „Religionsverfassungsrecht“ klaren Vorrang vor strukturellen, organisatorischen Normen staatskirchenrechtlichen Charakters.1 „Staatskirchenrecht“ mag es geben, aber nur als Ergänzung und in den Grenzen des Religionsverfassungsrechts. Das stellt kein Problem dar, soweit beide Normebenen zum gleichen Resultat führen. Anders ist es im Konfliktfall. Dann darf das organisatorische Staatskirchenrecht die Freiheits- und Gleichheitsansprüche der Gläubigen jeder Couleur und der Nichtgläubigen nicht *

Erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 21. Februar 2006 am Wissenschaftskolleg zu Berlin gehalten hat. 1 Zur neueren Auseinandersetzung in der deutschen Rechtswissenschaft zwischen den beiden Ansätzen siehe Chr. Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, vor allem im Zweiten Teil. Siehe etwa S. 127 mit der Abgrenzung von „institutionelle Konzeption des Staat-Kirche-Verhältnisses, die durch grundrechtliche Erwägungen zur Behandlung von Religion im Verfassungsrecht überlagert wird“. Siehe auch H. M. Heinig/Chr. Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007. Hier wird nur ein Strang von „Religionsverfassungsrecht“ hervorgehoben, der Minderheiten stärkende Strang; der Begriff erlaubt auch andere, expansivere Deutungen, wie der genannte Band verdeutlicht.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

relativieren, etwa zur Bewahrung und Stärkung einer vom Staatskirchenrecht favorisierten partikularen Glaubensrichtung im „Nähefall“ oder aber auch im „Fernefall“ zur Abwehr von Religion in einem laizistisch geprägten Staat. Minderheitenschutz steht im Religonsverfassungsrecht vor Mehrheitsprägung.2 So konsequent diese Sichtweise ist, verkürzt sie doch die kulturelle und rechtliche Komplexität der Fragen, die sich im Staat-Kirche-Religion-Verhältnis stellen. Denn sowohl das grundrechtliche als auch das staatsorganisatorische Verständnis des Staat-KircheVerhältnisses bauen auf personalen wie systemischen Vorverständnissen auf, die nicht so klar und eindeutig sind und vor allem nicht so evident nur eine Sichtweise zulassen, wie dies die Prämissen des individuell-egalitären Religionsverfassungsrechts andeuten. Im Grundrechtsverständnis zeigt sich die Komplexität der Fragen etwa daran, dass die „Religion“ von anderen, verwandten Aktivitäten wie z. B. Meinungsfreiheit und Erwerbsfreiheit zu unterscheiden ist.3 Weiterhin ist zu klären, wie weit dieser starke Schutz in den einzelnen Aktivitäten reichen soll, etwa in der Ausübung von Druck, gar Zwang zum Beitritt oder Nichtaustritt.4 Bei der Beantwortung beider Grundrechtsfragen sind unausweichlich und gleichzeitig Organisations- und Strukturfragen in Bezug auf die legitimen Zwecke von Staatsorganisation (Abwehr von Gewalt, weltliches und/oder geistiges Wohl) und die Abgrenzung von Systembereichen (Glaube, Wirtschaft, Politik) zu beantworten. Ferner geht es immer auch um Fragen kollektiver Identität, etwa die eher religiöse oder eher säkulare Prägung des Gemeinwesens, aus dessen „Geist“ (Prinzipien) heraus dann der „Buchstabe“ (Regeln) verbindlichen Rechts zu entwickeln ist.5 Generell ist das Grundrecht auf Religionsfreiheit systemisch verbunden mit der organisatorischen Scheidung oder Trennung von politischem System und Glaubensorganisationen. Historisch ist der Ruf nach Glaubens- und Religionsfreiheit entstanden aus Verhältnissen enger Verbundenheit von einer Religion und deren 2 Beispiele neben Fn. 1 unten Fn. 9 (Pabel), 18 (Gey) und 58, ferner M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Komm. zum Grundgesetz, 2. Auflage 2004, Art. 4 Rn. 32 in Bezug auf Religionsfreiheit und -gleichheit in der EMRK: „Art. 9 i.V.m. 14 EMRK [verpflichten] die Mitgliedstaaten auf einen hinreichenden Diskriminierungs- als Minderheitenschutz, der in laizistischen und staatskirchlichen Systemen von sich aus nicht immer gewährleistet ist.“ Es geht hier um Dominanzansprüche zwischen zwei unterschiedlichen Normarten und Regelungstechniken und letztlich auch Systembestandteilen, nämlich zwei konkurrierenden Subsystemen: Nationales Staatsorganisationsrecht einerseits, nationale Grundrechte und internationale Menschenrechte andererseits. Je nach dem gewählten Vorrang wird die Bedeutung des anderen Normtyps relativiert (er darf der prioritären Norm nicht mehr widersprechen) oder gar marginalisiert und instrumentalisiert (er muss deren Regelung optimieren). 3 Siehe Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 7. Auflage 2004, Art. 4 Rn. 6; Lee v. Weisman, 505 U.S. 577, 591 f. (1992). 4 Siehe BVerfGE 12, 1 (Glaubenswerbung). 5 Ein Beispiel ist der Streit um die Formulierung des Verfassungsvertrags der EU in Bezug auf die Integration eines Gottesbezugs. Siehe G. Robbers, Die Präambel der Verfassung für Europa. Ein Entwurf, in: A. Blankenagel/I. Pernice/H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt. FS Peter Häberle zum 70. Geburtstag, 2004, S. 251 ff.

I. Religionsverfassungsrecht und Staatskirchenrecht in der Moderne

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Identifikation mit der öffentlichen Gewalt. John Locke betonte schon 1695 in seinem Toleranzbrief die Notwendigkeit, diese Bereiche zu unterscheiden und eine passende Abgrenzung zu finden.6 In Europa war dies zunächst die im Papsttum organisierte Christenheit in Zusammenwirken mit dem Kaiser, eine christliche „Doppelspitze“ mit gegenseitigem Dominanzanspruch.7 Die Reformation spaltete das gemeinsame christliche Fundament in mehrere Konfessionen, die sich selbst wiederum in Form von mehr oder weniger autoritären Staatskirchen oder Identifikationen von weltlichen Herrschern mit Katholizismus oder Protestantismus organisierten.8 In Reaktion auf deren religiöse Bevormundungen und Pressionen erhob sich dann machtvoll der Ruf nach Rückzug des Staates aus dem Bereich von Glaubensüberzeugungen oder doch jedenfalls der staatlichen Erzwingung von Glauben.9 So wurde letztlich eine 6 Siehe J. Locke, A Letter Concerning Toleration, 1695, hier zitiert nach M. W. McConnell/J. H. Garvey/Th. C. Berg (eds.), Religion and the Constitution, 2002, S. 49: „I esteem it above all things necessary to distinguish exactly the business of civil government from that of religion and to settle the just bounds that lie between the one and the other.“ Locke erwähnt auch die unterschiedlichen Kernanliegen der beiden: „the interest of men’s soul, and, on the other side, a care of the commonwealth“ (S. 50). 7 Siehe etwa E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat-Gesellschaft-Freiheit, 1976, Kap. 2; Walter (Fn. 1), Erster Teil. 8 Für das Reich ist dies allgemein bekannt durch das Prinzip des „cuius regio, eius religio“ in den einzelnen Territorien und das landesherrliche Kirchenregiment; dazu Walter (Fn. 1), S. 26 f., 33 f. Weniger bekannt ist, dass auch viele der neugegründeten Staaten in Nordamerika noch mehr oder weniger autoritäre protestantische Staatskirchen hatten. Siehe U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BR Deutschland und den USA unter spezieller Berücksichtigung der jeweiligen Methoden der Verfassungsinterpretation, 2003, § 4 II; D. P. Kommers/J. E. Finn/G. J. Jacobsohn, American Constitutional Law, 2. Auflage 2004, Band II, S. 454, 458 f.; Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 8 ff. (1947). 9 Oder auch des Rückzugs einer dominanten Religion aus dem Bereich des Staates, der sich in Reaktion auf solche Übergriffe dann „laizistisch“ versteht. So im Beispiel Frankreich und tendenziell auch sonstigen früher stark katholisch geprägten Ländern. Siehe Chr. Gusy, Kopftuch, Laizismus, Neutralität, KritV 87 (2004), S. 153, 155 f.; Walter (Fn. 1), Erster Teil, Kap. 3; Zweiter Teil, Kap. 6 zu Frankreich, etwa S. 69: „Schlagwortartig … kann man sagen, daß die in Frankreich vorherrschende republikanische Idee die Befreiung des Staates von der Kirche im Auge hatte (weswegen man das französische Modell als antiklerikal oder auch etatistisch bezeichnen kann), während die Perspektive der Einwanderer in den USA umgekehrt die einer Befreiung der Kirche vom Staat war, um so Raum für Religionsausübung in der Gesellschaft zu schaffen (weswegen der amerikanische Weg hier als liberal bezeichnet wird).“ Zum Fall des Laizismus bzw. der Säkularität in der Türkei siehe I. Turan, Religion and Political Culture in Turkey, in: R. Tapper (ed.), Islam in Modern Turkey, 1992, S. 31 ff.; S. Dokupil, The Separation of Mosque and State: Islam and Democracy in Modern Turkey, Virginia Law Review 105 (2002 – 2003), S. 53 ff. Dort kontrolliert der Staat trotz des offiziellen Säkularismus des Gemeinwesens viele Aspekte von Religionsausübung, teils fördernd, teils beschränkend, wie etwa beim Verbot des Tragens des islamischen Kopftuchs in staatlichen Bildungseinrichtungen. Letzteres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als rechtmäßig angesehen. Siehe die Entscheidung Leyla Sahin gegen Türkei vom 29. Juni 2004, abgedruckt in Europäische Grundrechte Zeitschrift 2005, S. 31 ff.; ebenda S. 12 ff. besprochen von K. Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus. Pabel analysiert korrekt den Gewinn des laizistischen Organisationsgrundsatzes der Verfassung der Türkei gegen die Religionsfreiheit der Kopf-

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

systemische Scheidung von Staat und Religion/Kirche etabliert, abgestützt durch entsprechende organisatorische und grundrechtliche Normen in den Verfassungen. Die Verfassung der USA formuliert diese beiden Ebenen im 1. Zusatzartikel durch eine sogenannte „Nichteinrichtungsklausel“ in Richtung einer Staatskirche sowie durch die Verankerung der Religionsfreiheit.10 Ähnlich schließt das Grundgesetz in dem in die Verfassung integrierten Art. 137 Abs. 1 WRV eine Staatskirche aus und gewährt in Art. 4 GG die Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle, worin ein Gleichheitsmoment schon angelegt ist. Welche Folgerungen sich daraus für das kollektive Identitätsverständnis eines Landes ergeben – man denke an die Bedeutungsvielfalt des Terminus „Säkularität“ oder „Säkularisierung“11 –, steht damit noch nicht fest, denn in Bezug auf diese Frage sind Rechtsnormen „nur“ wichtige Randbedingungen; Identitätsverständnisse sind aber aus der Mitte eines Gemeinwesens entstandene verdichtete Selbst- und Fremddeutungen, die nicht ohne weiteres der Steuerung durch Recht unterliegen. Sieht man die beiden Normtypen zusammen, so stellt sich das Staat-Kirche/Religion-Verhältnis tabellarisch wie folgt dar: Zusammenhang von Strukturnorm und Grundrecht bei grundsätzlicher Scheidung von Staat und Kirche . I. Staat-Kirche-Verhältnis

1. Unabhängigkeit 2. Neutralität 3. Gleichbehandlung 4. Nichtidentifikation

II. Religionsfreiheit als Grundrecht

1. Freiheitsrecht: kein Zwang 2. Gleichheitsrecht: keine Diskriminierung

tuchträgerin: „In Umsetzung dieses Prinzips [des Laizismus] können … Grundrechtsbeschränkungen … zulässig sein“ (S. 16). 10 Das First Amendment lautet: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof …“. 11 Siehe Böckenförde (Fn. 7), S. 43 (Säkularisation als „der Entzug oder die Entlassung einer Sache, eines Territoriums oder einer Institution aus kirchlich-geistlicher Observanz und Herrschaft“); Dokupil (Fn. 9), S. 128 („,secularism‘ continues to be defined [in Turkey] simply as the absence of religious control over the government rather than as the disestablishment of religion“); J. Casanova, Public Religions in the Modern World, 1994, Kap. 1 (the differentiation and secularization of society; the decline of religion thesis; the privatization of religion thesis); Turan (Fn. 9), S. 33 mit fünf an Donald Smith angelehnten Säkularisationsverständnissen: „(1) polity separation secularization …; (2) polity expansion secularization …; (3) political culture secularization …; (4) political process secularization …; (5) polity dominance secularization“; Lee v. Weisman, unten Fn. 103.

II. Staat-Kirche-Modelle

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II. Staat-Kirche-Modelle in Konkurrenz zu Scheidung, Religionsfreiheit und Religionsgleichheit Dieser „westliche“, freiheitliche, heute in vielen modernen Verfassungen und Menschenrechtspakten verankerte Traditionsstrang lässt sich zunächst durch Eliminierung zweier Staat-Kirche-Modelle charakterisieren, die sozusagen an den beiden Enden einer Sechser-Unterscheidung12 stehen. Sechs Modelle zur Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche . 1. Feindschaft zwischen Staat und Kirche

2. Strikte Trennung in Theorie und Praxis

4. 3. Scheidung und Trennung und Rücksichtnahme partielle Zusammenarbeit

5. Formelle Einheit von Kirche und Staat

6. Materielle Einheit von Kirche und Staat

Zum einen ist das aggressive atheistische Feindschafts-Modell ausgeschlossen, das in Religion und Glaube das Opium des Volkes13 sieht und das die Staatsgewalt dazu benutzt, diese Selbsttäuschung der Menschen zu verhindern. Solche Tendenzen beherrschten die meisten Regime des realen Sozialismus. Eine repräsentative Formulierung dieses Modells findet sich in Art. 37 der Verfassung von Albanien aus dem Jahr 1976: „Der Staat erkennt keinerlei Religion an und unterstützt und entfaltet die atheistische Propaganda, um in den Menschen die wissenschaftliche materialistische Weltanschauung zu verwurzeln.“ Implizit oder explizit vertreten solche aggressiven Feindschaftssysteme allerdings selbst oft religiöse Ansprüche, indem sie die Transzendenz menschlicher Daseinsdeutung in die Immanenz weltlicher Wissenschaft14 12

Zu dieser Unterscheidung ausführlicher W. Brugger, On the Relationship Between Structural Norms and Constitutional Rights in Church-State-Relations, in: W. Brugger/ M. Karayanni (eds.), Religion and the Public Sphere. A Comparative Analysis of German, Israeli, American and International Law, 2007; Sh. Shetreet, The Model of State and Church Relations and Its Impact on the Protection of Freedom of Conscience and Religion: A Comparative Analysis and Case Study of Israel, in: ebenda, Abschnitt 1. Siehe auch die Systematiken bei K. Daniel/W. Cole Durham, Religious Identity as a Component of National Identity: Implications for Emerging Church-State Relations in the Former Socialist Bloc, in: A. Sajó/Sh. Avineri (eds.), The Law of Religious Identity. Models for Post-Communism, 1999, S. 117, 118 ff.; W. Cole Durham, Perspectives on Religious Liberty: A Comparative Framework, in: J. D. van der Vyver/J. Witte (eds.), Religious Human Rights in Global Perspective: Legal Perspectives, 1996, auch in: V. C. Jackson/M.Tushnet (eds.), Comparative Constitutional Law, 1999, S. 1157 ff. 13 Siehe K. Marx, Aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1843/44). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, 1968, S. 155 ff., 208: „Das religiöse Elend ist in einem Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur … Sie ist das Opium des Volkes.“ 14 Zur Scheidung von Immanenz und Transzendenz in der Kulturgeschichte und damit zur Eröffnung spezifisch religiösen Denkens siehe die Untersuchung von Sh. N. Eisenstadt über

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

hineinzwingen wollten15 und sie ja faktisch auch oft hineinzwangen: durch Druck und Zwang bis zu gewaltsamen Umerziehungen und Vernichtungen. Anders liegen die Verhältnisse in laizistischen Staaten wie etwa Frankreich, deren Strukturentscheidung für eine religionsfreie Staatlichkeit als Reaktion gegen ein Überhandnehmen religiösen, in Frankreich: katholischen, Einflusses auf die öffentliche Gewalt anzusehen ist.16 Dort herrscht typischerweise von staatlicher Seite aus zwar nicht Feindschaft, aber doch vielerorts systemisches, „antiklerikales“ Misstrauen gegen Religion an sich und insbesondere die dominante Religion vor.17 Die strikte strukturelle Trennung kann dann grundrechtliche Entfaltungsansprüche, wie etwa religiös motiviertes Kopftuchtragen in der Schule, übertrumpfen und beschränken18, was im „religionsverfassungsrechtlichen“ Verständnis nicht möglich ist. Im Laizismus gewinnt das „Staatskirchenrecht“ sozusagen in umgekehrter Richtung: Nicht in Anerkennung und Betonung von Nähe zu Religion an sich oder einer bestimmten Glaubensrichtung, sondern in Hervorhebung der Unterschiede und Distanz, auch wenn das im Einzelfall nicht zum Besten beider ist. Auf der anderen Seite des Spektrums von möglichen Staat-Kirche-Verhältnissen steht das materielle Einheitsmodell von Staat und Religion/Kirche. Dieses Modell herrschte im europäischen Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein vor in Form der christlichen Einheits- oder später Konfessionsausrichtung des Reiches bzw. der einzelnen Territorien. Total war die Einheit nicht, denn organisatorisch und personell bildeten Papsttum und Kaiser bzw. späterhin die katholische und die protestantischen „Die Achsenzeit der Weltgeschichte“, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, S. 40 ff. 15 Deutlich bei Marx, siehe W. Brugger, Marx und das Rechtsverständnis in der DDR, Recht in Ost in West 22 (1978), S. 101, 107 f. Klassiker hierzu: K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 8. Auflage 1990, Kap. 2. 16 Prägnant R. Rémond, L’Anticléricalisme en France de 1815 à nos jours, 2. Auflage 1999, S. 23 ff. zu den Motiven für den vor allem gegen den Katholizismus gerichteten Antiklerikalismus: „L’Église menace l’État, la nation, les individus, la famille.“ Die Religionsferne Frankreichs ist freilich in der Praxis bei weitem nicht so strikt, wie das der Verfassungsgrundsatz der Laizität in Art. 2 der Verfassung von 1958 andeutet. Dazu näher B. Basevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, in: G. Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995, S. 127 ff., insbesondere S. 138 ff. zu Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und S. 149 ff. zu indirekten Hilfen des Staates, etwa in Bezug auf die Bezahlung mancher Geistlicher. 17 Siehe schon oben Fn. 9. 18 Hierzu M. Troper, The problem of the Islamic veil and the principle of school neutrality in France, in: A. Sajó/Sh. Avineri (eds.), The Law of Religious Identity. Models for Post-Communism, 1999, S. 89 ff. Zu dem Gesetz der französischen Nationalversammlung vom 10. Februar 2004 mit dem Verbot, auffällige religiöse Abzeichen oder Kleidung zu tragen, siehe St. G. Gey, Free Will, Religious Liberty, and a Partial Defense of the French Approach to Religious Expression in Public Schools, Houston Law Review 42 (2005), S. 1 ff. Zum grundrechtsbeschränkenden Charakter der Säkularität bzw. Laizität insoweit ebenda S. 16 („the law is a clear limitation on religious expression“) und schon oben Fn. 9 zum vergleichbaren Fall der Türkei.

II. Staat-Kirche-Modelle

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Kirchen und die weltlichen Herrscher jedenfalls nicht immer und überall einheitliche Entitäten, aber in der Identifikation mit den kirchlichen Botschaften und einzelnen, auch rechtlichen Bewehrungen lagen deutlich Unionselemente vor. Dieses Identifikationsmodell ist bei uns, aber nicht überall, abgelöst durch Scheidungsmodelle mit Religionsfreiheit. In manchen islamischen Staaten besteht eine enge organisatorische, personelle und inhaltliche Beziehung zwischen den beiden Mächten. Soweit diese Union eng ist und in der Praxis durchgesetzt wird, etwa durch Abschreckung des Religionswechsels oder der Unterstellung des positiven Rechts unter religiöse Gebote, sind dies Formen von Theokratie, die weder Demokratie, Pluralismus noch Religionsfreiheit rechtssicher verbürgen. Sozusagen zwischen struktureller Scheidung und Identifikation angesiedelt sind formelle Einheitsmodelle von Staat und Kirche, die deswegen „formell“ sind, weil und soweit sie materiell weitgehend Religionsfreiheit und jedenfalls begrenzt auch Religionsgleichheit rechtlich verbürgen. Zu denken ist etwa an die National- oder Staatskirchensysteme von Großbritannien, Griechenland oder Israel.19 Für all diese Länder ist bezeichnend, dass sie formell eine Kirche als Staats- oder Landeskirche gewohnheitsrechtlich oder statutorisch hervorheben oder sogar in der Verfassung so bezeichnen. So fungiert etwa der jeweilige Monarch als Oberhaupt der Church of England, der bei Amtsantritt schwören muss, die etablierte Staatskirche zu schützen. In Griechenland etabliert Art. 3 der Verfassung von 1975 die Orthodoxe Kirche als vorherrschende Religion20, der im Vergleich zu anderen Religionen mehrere Privilegien zustehen, etwa in Bezug auf die finanzielle Unterstützung orthodoxer Priester. In Israel besteht schon durch den Staatsgründungsakt ein Bezug zum Judentum: Der Staat Israel sollte eine Heimstatt für alle Juden der Welt sein, wobei der Begriff eine wenn auch vielleicht nicht exklusiv, so doch stark religiöse Komponente hat. Trotzdem sind die personellen und organisatorischen Identifikationen und Überschneidungen nicht umfänglich, sondern in der Sache beschränkt.21 Vor allem aber soll trotz der Auszeichnung einer bestimmten Glaubensrichtung weitgehend Religionsfreiheit und auch partiell Religionsgleichheit herrschen. Exemplarisch formuliert Art. 13 Abs. 1 der Verfassung Griechenlands: „Die Freiheit des religiösen Gewissens ist unverletzlich. Die Ausübung der individuellen und der politischen Rechte hängt nicht von den religiösen Anschauungen eines jeden ab.“

19

Siehe dazu die Landesberichte in dem Sammelband von G. Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995, S. 333 ff. zu Großbritannien (David McClean) und S. 79 ff. zu Griechenland (Ch. Papastathis). Zu Israel siehe die einschlägigen Beiträge in Brugger/Karayanni (Fn. 12). 20 Art. 3 Abs. 1 S. 1 heißt: „Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der ÖstlichOrthodoxen Kirche Christi.“ 21 Sie existieren aber, teils umfänglich (im materiellen Einheitsmodell), teils beschränkt (im formellen Einheitsmodell), und institutionell verankert. Siehe die Zusammenstellung von Beispielen bei McConnell u. a. (Fn. 6), S. 848 f. unter dem Stichwort „Institutional Participation in Policy Making“.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Ob und wie weit die strukturellen Verknüpfungen zwischen den Bereichen von Staats- und Kirchen- bzw. Glaubensorganisation reichen bzw. ob und wie weit Religionsfreiheit für alle Glaubensrichtungen oder auch sonstige weltanschauliche Positionen faktisch gewährt und rechtlich verbürgt wird, hängt natürlich von den konkreten Umständen in den einschlägigen Ländern ab.22 So wird etwa in der Verfassung des Irak aus dem Jahr 2005 in Art. 2 der Islam als „offizielle Religion des Staates“ und als „fundamentale Quelle der Gesetze“ bezeichnet, was deutlich auf eine formelle und materielle Einheit von Staatsgewalt und Islam hinweist. Etwas später gewährt der gleiche Artikel „volle religiöse Rechte aller Individuen auf Religionsfreiheit und Ausübung der Religion etwa für Christen“ sowie zwei weitere Religionen. Umrahmt wird diese Verbürgung durch eine „Garantie der islamischen Identität der Mehrheit der Bewohner des Irak“. Man sieht deutlich die Spannung zwischen dem primär formellen und dem auch materiellen Einheitsmodell: Wohin die Reise geht, wird erst die Zukunft zeigen, wenn Religionskonflikte auftreten und Spannungen zwischen islamischer Identität und den genannten – und auch anderen – Religionen auftreten.

III. Scheidungs- und Trennungsmodelle von Staat und Kirche Staat-Kirche-Systeme werden auch unter den Titeln Scheidung oder Trennung diskutiert. Diese Systeme tendieren grundrechtlich zu einer starken Betonung von Religionsfreiheit und Religionsgleichheit unter Einschluss von Weltanschauungen nichtreligiöser Ausrichtung. Doch existieren auch hier, wie schon beim Einheitsmodell, mehrere Varianten. Meistens wird idealtypisch unterschieden zwischen dem Trennungs- und dem Kooperationsmodell23 bzw., konkreter, dem US-amerikanischen Trennungsmodell und dem deutschen Modell von „hinkender Trennung“ oder auch „Trennung und Kooperation“.24 Dabei wird manchmal übersehen, dass in den USA seit langem zwei unterschiedliche Trennungsmodelle miteinander konkurrieren, von denen mal das eine, mal das andere in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court eine Mehrheit der Richterstimmen erringt; daneben ist eine dritte US-Position zu erwähnen, die starke Bezüge zum deutschen System von Scheidung und Kooperation hat. Letzteres stellt das vierte Modell dar. 22 Mit anderen Worten: Die hier gegebene Typenbeschreibung ist noch keine Soziologie des Staat-Kirche-Verhältnisses, sondern gibt Hinweise für die relevanten Fragen in dieser Hinsicht. 23 Siehe etwa G. Robbers, Staat und Kirche in der Europäischen Union, in dem gleichnamigen, von ihm hrsg. Sammelband, 1995, S. 351, 352 f.: Trennungssysteme, Kooperationssysteme mit grundsätzlicher Trennung, und Staatskirchensysteme. 24 Siehe etwa A. Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Auflage 1996, § 38 III 2, S. 396: „Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten als ein klassisches Beispiel für ein Regime strikter Trennung von Staat und Kirche. Immer wieder werden die staatskirchenrechtlichen Einzelheiten in Deutschland an der Elle der ganz anderen Verhältnisse der USA gemessen.“

III. Scheidungs- und Trennungsmodelle von Staat und Kirche

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Das erste Modell verknüpft „strikte Trennung in Theorie und Praxis“, das zweite Modell ist „strikt in der Theorie, aber entgegenkommend (oder kompromissbereit) in der Praxis“. Deren Vertreter sind Separatisten („separationists“) und Akkommodisten („accommodationists“).25 Erstere benutzen Thomas Jeffersons Begriff vom „wall of separation“ zwischen Staat und Kirche26 zur Umschreibung der Nichteinrichtungsklausel im First Amendment und meinen damit auch einen undurchlässigen Trennungswall; letztere benutzen diese Metapher seltener, sehen jedenfalls den Wall nicht als so hoch und undurchdringbar an. In der Gruppe der Akkommodisten gibt es immer wieder einzelne Richter, die die Benutzung der Trennungswalltheorie als Basis für die Interpretation der Nichteinrichtungsklausel als falsch einschätzen und ein noch größeres Entgegenkommen für Religion oder gar Christentum und entsprechende Kooperationen und Förderungen als verfassungsgemäß ansehen. Diese Position soll hier das US-Kooperationsmodell genannt werden. Es hat zwei Ausprägungen, zum einen ein Madison-Modell, zum anderen ein Story-Cooley-Modell. Obwohl das Kooperationsmodell bislang keine Mehrheit im Supreme Court gefunden hat, ist es für Deutschland und sonstige Staat-Kirche-Systeme von Scheidung und Kooperation von besonderem Interesse, weil es eben zu den letztgenannten Systemen eine in der Wissenschaft oft nicht bemerkte Brücke schlägt. Dies ist auch deshalb relevant, weil manche Beobachter der jüngeren Staat-Kirche-Entwicklung in der Europäischen Union eine Konvergenztendenz einerseits weg von Staatskirchen, andererseits weg vom strikten Trennungsmodell und hin zu einem Modell von Scheidung, Berücksichtigung und Kooperation sehen27; schon deshalb sollte man auf die konzeptionellen Feinheiten von Staat-Kirche-Modellen achten – sie schlagen sich schließlich in für ganze Bevölkerungen bewegenden und oft streitigen Abgrenzungen nieder. (1) Nach dem strikten Trennungsmodell sind alle, auch marginale Annäherungen zwischen Staat und Glaube/Kirche verfassungswidrig, und das Verbot der Annäherung erstreckt sich auf die Ebenen von Personal, Organisation, Raum und Bot-

25

Siehe Kommers u. a. (Fn. 8), S. 459, und die entsprechenden Artikel in: Th. Anglim, Religion and the Law. A Dictionary, 1999, S. 32 ff., 312 ff. 26 Siehe Th. Jefferson, Letter to a Committee of the Danbury Baptist Association vom 1. Januar 1802, abgedruckt in McConnell u. a. (Fn. 6), S. 54 f.: „I contemplate with sovereign reverence that act of the whole American people which declared that their legislature should ,make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof,‘ thus building a wall of separation between Church and State.“ Es ist historisch umstritten und eher unwahrscheinlich, dass dies eine korrekte Sichtweise der Gründer der amerikanischen Verfassung war. Siehe bei Fn. 31 ff. 27 Siehe C. D. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 12 f., unter Hinweis auf G. Robbers, VVDStRL 59, 231 (257): „In staatskirchlichen Systemen wird die Kirche rechtlich oder zumindest faktisch zunehmend verselbständigt; in Staaten, die die Religion völlig aus dem öffentlichen Leben verbannen wollten, kehrt sie mit aller Macht an ihren angestammten Platz zurück.“ Siehe auch Robbers (Fn. 23), S. 353.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

schaft.28 Die personellen Träger von staatlichen Aufgaben und kirchlicher Botschaft müssen deutlich getrennt sein, am besten schon im Status, aber jedenfalls in der Funktion. Organisatorisches Zusammenwirken muss unterbunden werden. Die kirchlichen und die staatlichen Räume sind zu trennen. Schon der Hauch einer Identifikation der beiden Akteure bzw. Ebenen ist verboten. Glauben hat mit Transzendenz, Heil und Erlösung zu tun, Religionen und Kirchen organisieren die Verkündung einer bestimmten Heilsbotschaft; der Staat dagegen ist für das weltliche Wohl, und nur dieses, zuständig. Man kann dieses Modell auch „Distanzmodell“ nennen, denn Staat und Kirche sollen sich zum gegenseitigen Besten möglichst fern voneinander halten; so gedeihen sie am besten. Damit haben die Religionen und Kirchen die größte Unabhängigkeit und Freiheit in dem, was sie glauben und verkünden wollen, und so sind sie rechtlich für den Staat alle „gleich“, nämlich „gleich gültig“, aber eben auch „gleichgültig“. Ob die Kirchen klein oder groß, arm oder reich, radikal oder angepasst sind, kümmert den Staat nicht und darf ihn auch nicht beschäftigen. Eine jede Glaubensrichtung und Kirche muss sich auf dem Markt der Deutung und Verheißung selbst behaupten. Elemente des strikten Trennungsmodells . Strikte Trennung von Staat und Kirche bezieht sich auf

1. Inhaltliche Botschaften des Staates (Wohl statt Heil) 2. Lokalitäten (staatliche versus religiöse Gebäude) 3. Organisation (keine Zusammenarbeit) 4. Personal (Träger öffentlicher und geistlicher Autorität)

Verfassungswidrig

Direkte und indirekte, starke und schwache Annäherungen und Unterstützungen

Resultat für Privatbereich

Starke positive und negative Religionsfreiheit

Resultat für öffentlichen Bereich Starke positive und negative Religionsfreiheit Resultat für staatlichen Bereich

Maximierte negative Religionsfreiheit gegen staatliche Bevormundung; Nutzen für „radikale“ und/oder abgelehnte Religionen

(2) Nach dem akkommodierenden Modell übertreibt das strikte Trennungsmodell die Distanzforderungen; diese werden mit Misstrauen betrachtet und eigentlich schon als Feindschaft eingestuft. Zwar sollten auch nach dieser „entgegenkommenden“ Sicht die beiden Bereiche organisatorisch, personell, botschaftsmäßig und vielleicht auch räumlich getrennt sein, aber dies gilt nicht als absolute Regel, sondern „nur“ als flexibler Grundsatz. Ausnahmen sind möglich, wenngleich begrün28 Siehe z. B. Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 19, Justice Jackson, dissenting: „complete and uncompromising separation of Church from State“, 26: „absolute terms, and its strength is its rigidity“; Justice Rutledge, dissenting, 31: „complete and permanent separation“. Die strukturelle Striktheit wird auch daran deutlich, dass sie keinen Zwang auf die subjektive Religionsfreiheit voraussetzt; siehe Lee v. Weisman, 505 U.S. 577, 604 f. (1992). Weitere Nachweise bei Brugger (Fn. 12) und in den folgenden Beispielsfällen, soweit sie die strikte Trennung vertreten.

III. Scheidungs- und Trennungsmodelle von Staat und Kirche

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dungsbedürftig. Der generelle Grund für die Zulässigkeit von Ausnahmen und damit jedenfalls gewisse Relativierungen von Trennung, Religionsfreiheit und Religionsgleichheit liegt in dem Rücksichtnehmen auf die religiöse Prägung des Landes.29 Das heißt in den USA eine Doppelprägung durch Christentum (und jedenfalls lange vor allem Protestantismus) als Mehrheitsreligion einerseits und durch Religionsfreiheit für alle Glaubensrichtungen andererseits30, denn eine der Grunderfahrungen der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents bestand im „bedrängten religiösen Gewissen“ vieler Europäer, die aus ihren engen, armen und religiös bevormundenden Verhältnissen auswanderten. Die beiden durchaus in Spannung zueinander stehenden Auffassungen drücken sich in den die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court prägenden Linien aus. Soweit die „Religionsfreiheit“ als dominant angesehen wird, führt dies zu Maximierung von Freiheit und Gleichheit aller Religionen und Weltanschauungen, verbunden mit dem Distanzerfordernis. Damit sind schon marginale Eingriffe und Ungleichbehandlungen unzulässiger Zwang und verfassungswidrige Diskriminierung. Soweit beide Traditionen verknüpft und in Ausgleich gebracht werden sollen, liegt das akkommodierende Modell vor. Die „Berücksichtigung“ und Annäherung von Staat und Kirche erstreckt sich schwerpunktmäßig auf folgende Punkte: „Religion“ an sich wird als auch vom Staat anerkennungswürdiger (statt in klarer Distanz zu haltender, „privater“) Faktor eingestuft, ferner soll nicht jede staatliche Kenntnisnahme und Anerkennung von Christentum oder Religion verfassungswidrig sein; es bedarf mehr als marginaler, nämlich deutlicher Eingriffe und Ungleichbehandlungen. Soweit sich solche Anerkennungen unterhalb oder jenseits der eigentlichen Glaubensbotschaft bewegen, sozusagen „säkularisiert“ sind oder aber „zivilreligiösen“ Charakter angenommen – also sich in das allgemeine Moralbewusstsein hineingearbeitet – haben, wird noch kein verfassungswidriger Freiheits- oder Gleichheitseingriff angenommen oder eine zu starke Identifikation unterstellt. Die Haltung den Religionen gegenüber ist generell wohlwollend, freundlich, entgegenkommend, ja auch unterstützend. (3) Hier ist der Punkt, wo der – nicht in jeder Entscheidung des Supreme Court klar zu erkennende – Übergang vom akkommodierenden System zum US-Kooperationssystem liegt. Dieses hat, wie schon erwähnt, noch keine Mehrheit im Supreme Court gefunden, wird aber vor allem von Justice (später Chief Justice) Rehnquist31 29

Auch beim strikten Trennungsmodell sind Ausnahmen möglich, allerdings aus einem anderen Grund: der gleichzeitig eigentlich angezielten größtmöglichen Freiheit und Gleichheit aller Religionen. Dazu unten Fn. 47. 30 Diese Doppelausrichtung kommt gut in einem frühen repräsentativen Text zum Ausdruck, Art. 16 der Virginia Declaration of Rights von 1776, hier zitiert nach McConnell u. a. (Fn. 6), S. 59: „That Religion … can be directed only by reason and conviction, not by force or violence: and therefore, all men are equally entitled to the free exercise of religion, according to the dictates of conscience; and that it is the mutual duty of all to practise Christian forbearance, love, and charity, towards each other.“ 31 Siehe vor allem seinen Dissent in Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 91 ff. (1985).

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und in Abwandlungen auch von den Richtern Scalia und Thomas vertreten32. Der Sache nach geht es um die „staatskirchenrechtliche“ Frage, welches Verständnis der Nichteinrichtungsklausel des First Amendment zu unterlegen ist. Rehnquist hält die von den Separatisten unter Hinweis auf Thomas Jefferson seit 194733 vertretene Trennungswalltheorie zwischen Staat und Kirche für verfassungsgeschichtlich klar irrig; in ihr liege eine richterliche Anmaßung, Verfassungspolitik statt Verfassungsrecht.34 Er verweist auf die einflussreichen Beiträge von James Madison während der Amtszeit des Ersten Kongresses35, der auf Drängen der Anti-Federalists eine Bill of Rights auszuarbeiten hatte.36 Danach sollte die Nichteinrichtungsklausel lediglich die staatliche Etablierung einer Nationalkirche sowie staatlichen Zwang zu religiösen Bekenntnissen oder gegen solche ausschließen sowie Bevorzugungen zwischen einzelnen Sekten als Gefährdung des öffentlichen Friedens illegalisieren. Nicht ausgeschlossen wären demnach Bevorzugungen von Religion gegenüber Nichtreligion (etwa Atheismus oder Kommunismus) oder neutrale Förderungen von Religion, vielleicht sogar in Aufhebung des räumlichen Distanzerfordernisses der Trennungstheorien.37 Nach den ebenfalls von Rehnquist zitierten Verfassungs-

32

Nachweise bei Walter (Fn. 1), S. 140 ff. In Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 16 (1947). Dort wurde als Präzedenzfall Bezug genommen auf eine einzige weitere Entscheidung, Reynolds v. United States, 98 U.S. 145, 164 (1879), die aber schwerpunktmäßig nicht die Establishment-Klausel behandelte. 34 Im Hintergrund steht hier der Streit zwischen verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung und verfassungsgerichtlichem Aktivismus. Erstere beschränkt tendenziell die Macht des Gerichts, um die politische Verantwortlichkeit des Volkes und der Legislative in den Vordergrund zu rücken; letzterer hat weniger Hemmungen, die Verfassung per Richterspruch „auf den neuesten Stand zu bringen“, insbesondere wenn es um den Schutz von Minderheitsrechten geht. In diesem Sinne kann man die Benutzung der Trennungswallformel 1947 in Everson (Fn. 33) als Versuch des Supreme Court ansehen, der zunehmenden Multireligiosität des amerikanischen Gemeinwesens Rechnung zu tragen. Für Vertreter von „judicial restraint“ wäre dafür die Politik zuständig, soweit sich aus der Verfassung nicht klare Hinweise für eine gerichtliche Kompetenz ergeben. In Deutschland zählt die Kreuz-Entscheidung BVerfGE 93, 1 zur erstgenannten Position, die Kopftuch-Entscheidung BVerfGE 108, 282 zur letzteren, verknüpft mit der Auflage an die Politik, per Gesetz zu entscheiden. 35 Dieser spätere James Madison ist von dem früheren James Madison zu unterscheiden, der als Vertreter des Staates Virgina 1785 für eine striktere Trennung eingetreten war und in seiner „Memorial and Remonstrance Against Religious Assessments“ insbesondere gegen Steuererhebungen zugunsten von Priestergehältern eingetreten war. Siehe Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 12 f., 63 ff. (mit Abdruck des Textes) (1947); Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 97 f. (1985). 36 Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 92 ff. (1984). 37 Siehe a.a.O., 95, 98 (Madison „saw the [First] Amendment as designed to prohibit the establishment of a national religion, and perhaps to prevent discrimination among sects. He did not see it as requiring neutrality on the part of government between religion and irreligion); 99 (The First Amendment „was definitely not concerned about whether the Government might aid all religions even-handedly“), 100, 106, 113. Siehe speziell zur Kritik an der räumlichen Trennungsthese 111 mit Fallbeispielen. 33

III. Scheidungs- und Trennungsmodelle von Staat und Kirche

117

rechtsgrößen Joseph Story und Thomas Cooley38 sollten solche Annäherungen nicht nur in Bezug auf „Religion an sich“ möglich sein, sondern sogar in Bezug auf das alle Sekten umfassende Christentum als Einheitsreligion des Gesamtlandes, natürlich immer unter Beachtung des Zwangsverbots und der Sektengleichbehandlung (unter Christen). Eine alternative Sichtweise der Ziele der amerikanischen Nichteinrichtungsklausel: Scheidung, Kooperation und Unterstützung . 1. Verfassungswidrig nach Madison im Bereich der Staat-Kirche-Struktur:

Einrichtung einer Staatskirche oder Staatsreligion

2. Verfassungswidrig nach Madison im Bereich des Freiheitsrechts:

Staatlicher Zwang zu oder gegen Religionsausübung

3. Verfassungswidrig nach Madison im Bereich des Gleichheitsrechts:

Diskriminierung zwischen Sekten/Religionen, aber Wert von Religion

4. Aber nach Madison verfassungsgemäß:

Vorrang von Religion gegenüber Nichtreligion

5. Nach Story und Cooley ebenfalls verfassungsgemäß:

Förderung des Christentums, soweit Zwang gegenüber Andersdenkenden vermieden wird

Will man die Unterschiede dieser US-Auffassungen zusammenfassen, so bietet sich der Lemon-Test an, ein vom Supreme Court 1971 in der Entscheidung Lemon v. Kurtzman39 entworfener Prüfungskatalog, der die einschlägigen Verfassungsfragen benennt und den der Supreme Court entweder direkt oder in (später hier noch darzustellenden) Abwandlungen seither in ständiger Rechtsprechung anwendet, unter

38 A.a.O., 104 ff.: „Probably at the time of …the amendment now under consideration [First Amendment], the general if not universal sentiment in America was, that Christianity ought to receive encouragement from the State so far as was not incompatible with the private rights of conscience and the freedom of religious worship“ (104, Storey); „No principle of constitutional law is violated when thanksgiving or fast days are appointed; when chaplains are designated for the army and navy; when legislative sessions are opened with prayer or the reading of the Scriptures, or when religious teaching is encouraged by a general exemption of the houses of religious worship from taxation for the support of State government. Undoubtedly the spirit of the Constitution will require … that care be taken to avoid discrimination in favour of or against one religious denomination or sect“ (105 f., Cooley). Joseph Story, ein Harvard-Professor, war von 1811 bis 1945 Justice am Supreme Court, Thomas Cooley war von 1864 bis 1884 Richter am Michigan Supreme Court und Autor der einflussreichen Studie „Treatise on the Constitutional Limitations which Rest upon the Legislative Power of the States of the American Union“ von 1868. 39 Lemon v. Kurtzman, 403 U.S. 602 (1971). Der gleich im Text zitierte Dreistufentest findet sich auf S. 612 f.: „first, the statute must have a secular legislative purpose; second, its principle or primary effect must be one that neither advances nor inhibits religion; finally, the statute must not foster ,an excessive entanglement with religion‘.“

118

§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Protest der Vertreter der US-Kooperationssicht, die sowohl die Trennungswalltheorie als auch den Lemon-Test für verfassungsgeschichtlich falsch ansehen.40 Danach sind im Rahmen des Trennungsmodells strukturell verfassungswidrig Regelungen, deren (1) Ziel oder (2) Konsequenz exklusiv oder primär die Förderung von Religion an sich oder einer bestimmten Religion ist, oder die (3) zu einer exzessiven oder starken organisatorischen Verwicklung von Staat und Kirche/Religion führen. Umgekehrt wären verfassungsgemäß solche Regelungen, bei denen diese (1) Ziele oder (2) Effekte nichtexistent oder marginal sind oder wo die (3) organisatorischen Berührungen fehlen oder schwach sind. Je nach Ausgangspunkt – strikt oder akkommodierend – wird man leichter oder schwerer zur Verfassungswidrigkeit kommen. Grund hierfür ist zum einen, dass bei der Formulierung der drei Ebenen von (1) Ziel, (2) Effekt und (3) Organisation scheinbar von „exklusiv säkularer“, „nur noch primär säkularer“ zu „nicht exzessiv verwoben“ fortgeschritten wird, in Abschwächungsschritten. Dies spiegelt sich aber in der Rechtsprechung so nicht wider, jedenfalls nicht konsistent; oft scheinen auf allen drei Ebenen exklusive oder primäre säkulare Bezüge oder starke Verwicklungen verboten zu sein, schwächere oder sekundäre aber nicht, aber auch das ist nicht so klar. Auch schwache Annäherungen oder Unterstützungen sind jedenfalls nach strikter Trennungssicht zu vermeiden. Grund hierfür ist zum anderen, dass die Zwecke von staatlichen Regelungen wie auch die Deutungen von Symbolen oft unklar oder vielfältig sind, genauso wie die Effekte oft nur vermutet oder überschlägig prognostiziert werden können. Das gibt den jeweiligen Richtermehrheiten einigen interpretativen Spielraum. Bei der Einschätzung organisatorischer oder räumlicher Nähe wird man ebenfalls mehrere Sichtweisen einnehmen können, zum Beispiel nach Status oder Funktion der Person. Tendenziell wird aber die strikte Trennungssicht im Rahmen dieses dreistufigen Tests auf Exklusivität säkularer Zwecke und Effekte beharren und schon marginale Annäherungen als verfassungswidrig ansehen, oder aber sie wird eine mehr als schwache oder marginale religiöse Prägung in Ziel, Zweck oder Zusammenwirken eher diagnostizieren als Vertreter von Akkommodation. Anders natürlich die Vertreter der US-Kooperationsthese: Für diese ist die Anerkennung und Förderung von Religion, vielleicht sogar speziell des Christentums, verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen, soweit kein (deutlicher, erheblicher) Zwang angewendet wird; das Gleichheitserfordernis ist in zwei Stufen relativiert: Religion vor Nichtreligion ist möglich, vielleicht sogar Christentum vor anderen Religionen.

40 Zur Kritik des Lemon-Tests siehe Rehnquist in Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 108 ff. (1984): „The Lemon test has no more grounding in the history of the First Amendment than does the wall theory upon which it rests“ (110). Der Test führe zu „unworkable plurality opinions“ (110), „consistent unpredictability“ (112). Der US-Verfassungsrechtsexperte D. Kommers benutzte gegenüber dem Autor die eingängige Formulierung, der Lemon-Test werde von den beiden Hauptkonkurrenten, den „separationists“ und den „accommodationists“ (Fn. 25), wie ein „Akkordeon“ angewendet.

III. Scheidungs- und Trennungsmodelle von Staat und Kirche

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Elemente des Lemon-Tests I. Verfassungswidrige Regelung

II. Verfassungsgemäße Regelung

1. Exklusives oder primäres Ziel ist Förderung von (einer) Religion, oder

1. Ziel der Förderung von (einer) Religion ist sekundär oder marginal

2. Exklusiver oder primärer Effekt ist Förderung von (einer) Religion, oder

2. Dieser Effekt ist sekundär oder marginal oder nichtexistent

3. Exzessive oder starke organisatorische Verwicklung von Staat und Kirche/ Religion

3. Nur schwache oder marginale organisatorische Berührungen

(4) Das deutsche Staat-Kirche-System ist ein „hinkendes“ Trennungssystem, das noch weiter gehende Annäherungen vorsieht als das „akkommodierende“ amerikanische System: nicht nur Toleranz und Berücksichtigung sowie eine „freundliche“ Scheidung der Bereiche, sondern auch Kooperationen vielfältiger Art vertraglicher oder gesetzlicher Art.41 Die Zusammenarbeit erstreckt sich zwar nicht auf genuin Religiöses wie etwa die Heilsbotschaft oder Gottesdienste, aber doch auf Gebiete, in denen eine Mischlage von religiösen/kirchlichen und weltlichen/säkularen Interessen besteht: karitative und generell soziale Hilfen für Arme, Schwache, Junge und Alte, die Betreibung von Krankenhäusern, die Administration von Friedhöfen, der Zugang von Glaubensvertretern zu Gläubigen in Armee und Gefängnissen u. a. m.42 Religionsgemeinschaften können nach Art. 137 Abs. 5 WRV sogar den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen, wenn sie diesen bei Grundgesetzerlass schon hatten oder nunmehr erlangen wollen und dazu die erforderliche Größe, Mitgliederzahl und Mindestloyalität gegenüber dem Grundgesetz besitzen. Das gliedert diese Religionen zwar nicht dem Staat und seiner Hierarchie ein, verleiht ihnen aber einige staatsähnliche Privilegien wie etwa das Recht, Beamte zu beschäftigen, oder die Disziplinar- und Gerichtsgewalt. Schließlich ist in Deutschland, 41 Siehe B. Jeand’Heur/St. Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rn. 30 f., 44, 161; A. Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Auflage 1996, § 10. 42 Wenngleich die Kooperationen in den USA zwischen Staat und Kirchen weniger häufig sind als in Deutschland, gab es doch im sozialen und medizinischen Bereich schon immer Annäherungen; diese nehmen sogar seit etwa einem Jahrzehnt deutlich zu. Siehe die Nachweise bei St. Muckel/M. Ogorek, Staatliche Kirchen- und Religionsförderung in Deutschland und den USA, DÖV 2003, S. 305 ff.; McConnell u. a. (Fn. 6), Kap. IV C, D, E, vor allem zum Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act von 1966, Public Law No. 104 – 93, § 104, abgedruckt in 42 U.S.C. § 604 A. Hierher gehört auch die Förderung von Kirchen (neben anderen karitativen oder sozialen Organisationen) durch Steuererleichterungen, McConnell u. a. (Fn. 6), S. 480 f., 849 ff., 902 ff. Siehe schon Justice Rehnquist in Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 106 (1985) unter Zitation des Verfassungsgeschichtlers Th. Cooley: „This public recognition of religious worship, however, is not based entirely, perhaps not even mainly, upon a sense of what is due to the Supreme Being himself as the author of all good and of all law; but the same reasons of state policy which induce the government to aid institutions of charity and seminaries of instruction will incline it also to foster religious worship and religious institutions, as conservators of the public morals and valuable, if not indispensable, assistants to the preservation of the public order.“

120

§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

anders als in den USA, Religionsunterricht in den meisten staatlichen Schulen ordentliches Lehrfach. Grund für dieses Entgegenkommen und die Kooperation bzw. umgekehrt die Abwendung vom Distanzmodell ist in Deutschland (ähnlich wie in den USA bei den „accommodationists“) der Wunsch und der Wille, eine prägende religiöse Ausrichtung vor allem durch die beiden großen christlichen Konfessionen und das dahinter liegende allgemeine Christentum staatlicherseits anzuerkennen. Der Begriff „anerkennen“ kann sich entweder als „schwache Unterstützung von Religion an sich oder auch des Christentums“ darstellen oder als „deskriptive Anerkennung der prägenden geschichtlichen Kraft“ des Christentums ohne normative Komponente verstanden werden.43 Das deutsche System verbleibt grundsätzlich, wie das US-Berücksichtigungs- und das US-Kooperationsmodell, im Rahmen von struktureller Scheidung von Staat und Kirche, also den Prinzipien von Nichtidentifikation, Neutralität, Gleichheit, Nichtidentifikation, und von Religionsfreiheit und Religionsgleichheit. Aber wie die genannten US-Systeme, und in einigen der genannten Punkte noch stärker, geht der Staat auf die Religionsgesellschaften und Religionsgemeinschaften zu, fördert sie und gliedert sie sogar partiell ein. Letzteres ist nach keiner der drei geschilderten US-Auffassungen gefordert oder auch nur verfassungsrechtlich möglich. Darin liegen Abschwächungen von Identifikation und Distanzierung, was potentiell auch gewisse Relativierungen bei der Striktheit der Freiheits- und Gleichheits- und Neutralitätsanforderungen mit sich bringen kann. Im Sinne des Lemon-Tests lässt sich im deutschen Modell eine klare Abschwächung des Gebots organisatorischer Trennung erkennen.

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen und die Unterstützung von Religionen in den Scheidungsmodellen Dürfen Träger öffentlicher Gewalt in den geschilderten Scheidungsmodellen religiöse Symbole verwenden oder staatlichen Raum schaffen für Religion an sich oder bestimmte Religionen? Da es in den Beispielsländern vor allem um christlich geprägte Länder geht44, können die Fragen spezifischer gestellt werden: Dürfen sie 43

Siehe BVerfGE 52, 223, 240 (Schulgebet): „Wenn der Staat … das Schulgebet außerhalb der Religionsstunde als religiöse Übung und als ,schulische Veranstaltung‘ zuläßt, so fördert er allerdings die Anschauung des Christentums und damit ein religiöses Element in der Schule, das über die religiösen Bezüge hinausgeht, die sich aus der Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors des Christentums (BVerfGE 41, 29, 52) ergeben.“ 44 Wie die bisherigen Bemerkungen durch den Bezug auf eine weit verstandene Religionsfreiheit schon deutlich machten, ist natürlich in der Sache immer auch der konkurrierende Wertestrang zu beachten: Freiheit, Liberalität, Aufklärung. Ferner ist darauf aufmerksam zu machen, dass die im Folgenden gegebenen Beispiele christlicher Einfärbung natürlich nur als ein Beispiel für Kulturen mit einer dominanten Religion stehen. Was hier gesagt wird, muss ebenso oder jedenfalls ähnlich etwa für islamisch geprägte Länder gelten, die sich strukturell

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen

121

Kreuze oder Tafeln mit den Zehn Geboten in Gerichtssälen, Schulen und auf Regierungsgelände zulassen oder gar verbindlich vorsehen, „Christliche Gemeinschaftsschulen“ einrichten, Gebete oder Schweigeminuten vor dem Unterricht zulassen oder organisieren, Weihnachtsdekorationen auf staatlichem Gelände aufstellen mit christlichen Symbolen oder Szenen, etwa einer Darstellung der Geburt Christi im Stall oder einem „Christbaum“? Darf ein Gemeinwesen Münzen oder Geldscheine mit einem Hinweis auf Gott drucken? Sollte es der Legislative erlaubt sein, die Sitzungsperiode mit einer Anrufung Gottes zu verknüpfen? Darf ein Staat zu Beginn des Schulunterrichts eine Loyalitätsformel auf die Nationalflagge von den Schülern aufsagen lassen, wenn dort Gottesbezüge enthalten sind? All diese Fälle stellen reale Streitfälle dar, die vom Bundesverfassungsgericht oder vom U.S. Supreme Court entschieden worden sind. Die Fallentscheidung hängt davon ab, welches der drei bzw. vier genannten Modelle als Maßstab genommen wird. Die Verfassungstexte der USA und Deutschlands selbst entscheiden diese Fälle nicht eindeutig; dazu sind sie zu unspezifisch. Sie schließen nur eine Staatskirche aus und verbürgen Religionsfreiheit und grundsätzliche Religionsgleichheit; für weitere Spezifizierungen braucht es Modelle von Staat-Kirche-Beziehungen, die die Textbasis in der einen oder anderen Richtung deuten. Das geschichtlich von den Verfassungsgründern Gewollte ist in der Regel umstritten, und selbst wenn es eindeutig ist, streiten sich die Verfassungsrichter über die Notwendigkeit und ihre institutionelle Kompetenz, das damals Gewollte auf das heute sinnvollerweise Intendierte fortzuschreiben und notfalls auch umzuschreiben, vor allem wegen der größeren Multireligiosität.45 Mit anderen Worten: Der Objektivität richterlicher Erkenntnis sind Grenzen gesetzt, die die richterliche Gestaltung anhand von übergreifenden Vorverständnissen eines „richtigen“ Religionsverfassungs- oder Staatskirchenrechts ermöglichen, ja geradezu herausfordern. Klären wir die Rolle und die näheren Kriterien der vier Staat-Kirche-Konzeptionen, damit die wesentlichen Argumente für die Entscheidung der genannten Fälle vor Augen treten: Das strikte Trennungsmodell arbeitet strukturell eigentlich mit dem verfassungsrechtlichen Erfordernis strikter Trennung und Distanz von Botschaft, Personal, Organisation und Raum.46 Wenn es in der Praxis des Lebens und des Supreme Court trotzdem gelegentlich zu Abschwächungen kommt, so „nur“ deshalb, weil die strikten Trennungsmodelle gleichzeitig auch freie und gleiche religiöse Entfaltung entbinden sollen.47 Und wenn die Sachverhalte so sind, dass auf den gleichen für Scheidung oder Trennung von Staat und Religion in einer der dargestellten Varianten entscheiden. 45 Dazu schon oben Fn. 34. 46 Siehe schon oben Fn. 26, 28, 37 und mit weiteren Nachweisen Brugger (Fn. 12). 47 Die Rechtsprechung des Supreme Court birgt eine Vielzahl von solchen Spannungsfällen, bei denen man darüber streiten kann, ob die jeweilige Mehrheit (oder Minderheit) die strikte oder entgegenkommende Sichtweise vertritt. Nicht alle diese Fälle können hier dargestellt

122

§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Sachverhalt beide Normen Anwendung finden, die Situation aber nicht in zwei Teile „Distanz“ und „religiöse Entfaltung“ trennbar ist, dann ist auch nach der strikten Trennungssicht ein gewisses Entgegenkommen notwendig. So ist zum Beispiel „strukturell“ ein religiöser Eid bei Amtsantritt von Staatsrepräsentanten ein klarer Verstoß gegen das Distanzgebot und die personelle Trennung, aber sie muss wegen des gleichzeitigen Einwirkens und der Nichtausschaltbarkeit der Freiheit zum religiösen Bekenntnis geduldet werden – bei der Amtseinführung, nicht in Permanenz bei der Ausübung des Amtes, und schon gar nicht erzwungen.48 Dagegen ist eine räumliche Trennung von Staat und Kirche nach dem strikten Verständnis des Wall of Separation geboten: Religiöse Veranstaltungen in Form kultischer Akte oder „Messen“ in Schulen stellen einen klaren Verstoß gegen das räumliche, organisatorische und je nach Sachlage auch personelle Distanz- und Trennungsgebot dar.49 Der Grund ist einfach nachzuvollziehen: Solche Veranstaltungen kann jede Religion separat anbieten, und die dann vorhandene Distanz vom staatlichen Gebäude repräsentiert dann auch eine Distanz von staatlicher Kontrolle: gut für die Religion, insbesondere wenn sie radikale oder unerwünschte Botschaften vertritt!50 Dies gilt auch für Religionsunterricht in staatlichen Schulen, gar als ordentliches Lehrfach. Auch wenn dieser „frei“ und „gleich“ für alle Religionen erlaubt würde, läge darin eine klare Unterstützung von Religion an sich, die gegen alle drei Elemente des Lemon-Tests verstößt. Das räumliche Trennungsgebot im Schulbereich gilt nach überwiegender Ansicht in den USA auch nach dem Akkommodationsmodell, obwohl die zahlreichen freiheits- und gleichheitsrechtlich motivierten Ausnahmeregelungen als Indiz einer strukturellen Öffnung verstanden

werden, nur einige wenige, allerdings repräsentative Entscheidungen. Neben religiöser Entfaltung ist im kommunikativen Bereich oft auch die Bedeutung der Redefreiheit im First Amendment ein Faktor, der den Ausschluss von religiösen Sprechern oder Botschaften auf staatlichem Gelände (etwa einer staatlichen Universität oder auch Schule) aus freiheitsrechtlichen und gleichheitsrechtlichen Gründen ausschließt, sofern säkulare Redner und Botschaften zugelassen werden. Dazu einige Hinweise unten Fn. 51. 48 So ist die Praxis und Rechtslage in den USA und Deutschland. Siehe Torcaso v. Watkins, 367 U.S. 488 (1961) (Verbot des Zwangs bei religiösem Eid) und repräsentativ Art. 56 und 64 Abs. 2 GG, ferner unten Fn. 61. 49 Siehe insbesondere McCollum v. Clauson, 343 U.S. 306 (1952) (Vertreter von Religionen dürfen in staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht erteilen); „entgegenkommender“ ist Agostini v. Felton, 521 U.S. 203 (1997), wonach staatlich besoldete Lehrer in religiös orientierten Schulen Kompensationsunterricht für besonders benachteiligte Schüler geben dürfen, soweit das entsprechende Programm sich neutral und säkular an alle Schulen und die entsprechenden Schüler richtet. Siehe ferner die aus Gründen der Redefreiheit oder Nichtdiskriminierung akzeptierten Ausnahmen vom Gebot räumlicher Trennung in Fn. 51. 50 Siehe die Bemerkung des dissentierenden Justice Jackson in Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 27 (1947) zu den damals in den USA mancherorts unbeliebten Katholiken und katholischen Schulen: Die strikte Trennung von Staat und Kirche „alone assures Catholics the right to maintain these schools at all when predominant local sentiment would forbid them“.

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen

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werden könnten.51 Im Rahmen des US-Kooperationsmodells dagegen kann man durchaus für ein räumliches Entgegenkommen eintreten.52 Ebenfalls verboten nach dem strikten Trennungsmodell wären finanzielle Unterstützungen jeder Art, nicht nur Subventionen genuin religiöser Betätigung, sondern auch „säkularer“ Art wie etwa beim Transport von Schülern von ihren Wohnungen zu staatlichen und religiös ausgerichteten Schulen.53 Man mag sagen, dass solche Annäherungen und Hilfestellungen marginal und säkular sowie neutral zwischen Staat und Religion sind; trotzdem verstoßen sie gegen das Gebot, eigentlich schon den Hauch von Annäherung und Unterstützung zu vermeiden, um auch langfristige oder indirekte Abhängigkeiten finanzieller Art auszuschließen. Dagegen wäre eine solche neutrale Subvention nach der „entgegenkommenden“ und jeder „kooperierenden“ Sichtweise verfassungsgemäß54: Deren Versagung würde eher Feindschaft gegenüber Religion indizieren; solange die Subvention für säkulare wie kirchliche Schulen gleichermaßen angeboten wird und im Übrigen eine klassische Staatsaufgabe wie Straßensicherheit und Lebensschutz darstellt, liegt im Sinne des Lemon-Tests nach allen drei Kriterien nur eine schwache, akzeptable Komponente von Religionsförderung vor. Nach entgegenkommender und kooperierender Sicht sind auch Steuerverschonungen akzeptabel, soweit sie „gleich“ angeboten und insbesondere auch sonstigen säkularen, vor allem karitativen und sozialen Organisationen gewährt werden.55 Wie sieht es mit einer staatlichen Weihnachtsdekoration im Stadtpark aus, die einen Weihnachtsbaum und eine Krippenszene umfasst? Nach der strikten Trennungssicht wäre der in den USA Christmas Tree genannte Weihnachtsbaum ein Verfassungsverstoß gegen das Trennungsprinzip. Es fehlt die nötige Distanz, und der 51 Siehe schon oben Fn. 37 am Ende, Fn. 49, ferner Widmar v. Vincent, 454 U.S. 263 (1981) (keine Diskriminierung religiöser Gruppen, wenn andere Gruppen auf staatlichem Universitätsgelände sprechen dürfen); Board of Education v. Mergens, 496 U.S. 226 (1990) (Vergleichbarer Fall auf High School-Ebene); Lamb’s Chapel v. Center Moriches Union Free School District, 508 U.S. 384 (1993) (Vergleichbarer Fall für staatliches Schulgelände bei Zulassung von Personen aus der Öffentlichkeit); Rosenberger v. Rector and Visitors of the University of Virginia, 515 U.S. 819 (1995) (Vergleichbarer Fall des Ausschlusses von Diskriminierung von religiösen Gruppen, wenn eine Hochschule Studentenpublikationen nichtreligiösen Charakters unterstützt); Good News Club v. Milford Central School, 121 S.Ct. 2093 (2001) (Vergleichbarer Fall des Ausschlusses eines christlichen Clubs vom Schulgelände nach Ende des Schulunterrichts, obwohl andere Gruppen zugelassen worden waren). 52 Das wird deutlich im Dissent des Richters Stewart in Engel v. Vitale, 370 U.S. 421, 444 ff. (1962), der anders als die Mehrheit ein christliches Schulgebet in einer staatlichen Schule als zulässig ansieht und sich dabei auf „the spiritual heritage of our Nation“ (445), die vielen Gelegenheiten der Anrufung von Gott durch staatliche Institutionen Amerikas (446 ff.) und auf den religiösen Charakter der USA beruft: „We are a religious people whose institutions presuppose a Supreme Being“ (450). 53 Siehe die Minderheitsrichter in Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 18 ff. (1947). 54 So sah es demgemäß auch die Mehrheit in Everson, trotz der Benutzung der Metapher vom „wall of separation“. 55 Siehe schon oben Fn. 42.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Hauch von „Christ“ in „Christmas Tree“ signalisiert schon die verbotene Identifikation von Staat und Christentum.56 Um so mehr würde dies für die Krippenszene gelten. Noch schlimmer wäre eine Präsentation im genuin staatlichen Raum, etwa im Gericht oder im Regierungssitz.57 Selbst wenn die Stadt um den Weihnachtsbaum und die Krippenszene herum die Symbole weiterer Religionen und kommerzielle oder politisch-säkulare Botschaften wie etwa einen „Salut für die Freiheit“ drapierte, läge Verfassungswidrigkeit vor. Zwar wäre die Religionsfreiheit der Besucher des Parks nicht oder höchst marginal betroffen (sie könnten leicht den Blick abwenden, wenn sie den Stadtpark betreten), und die gleichheitswidrige Parteinahme wäre ziemlich neutralisiert und jedenfalls partiell säkularisiert (aber eben nicht ganz!), doch fehlt es nach der strikten Trennungssicht trotzdem an der nötigen – nämlich umfänglichen – Distanz zwischen Staat und Religion. Daran sieht man, dass das strikte strukturelle Trennungs- und Distanzgebot in seiner Absolutheit über nicht vorliegende Freiheits- und Gleichheitseingriffe oder bei deren Vorliegen dann vielleicht gegebene Rechtfertigung hinausgehen, ja diese übertrumpfen kann!58 Anders würde die entgegenkommende und kooperierende US-Scheidungssicht entscheiden: Für sie haben Weihnachten und der Christbaum und die Krippenszene zwar christliche Ursprünge, aber diese sind kulturell so weitgehend akzeptiert und als Teil der allgemeinen Feiertagskultur geworden, dass, wenn überhaupt, dann in Ziel und Effekt und Organisation nur schwache, noch hinnehmbare christliche Unterstützungen vorliegen. Jedenfalls gilt dies, wenn der Kontext der Ausstellung zusätzlich zu den christlichen Ausstellungsgegenständen noch Symbole anderer Religionen oder säkulare Botschaften umfasst. Das müsste auch für die Rechtslage in Deutschland gelten.59 Man kann dieses Ergebnis auch anhand einer Variante des Lemon-Tests überprüfen, die Justice Sandra Day O’Connor vorgeschlagen hat und die meist als Unterstützungstest („endorsement test“) bezeichnet wird. Danach liegen verfassungswidrige Unterstützungen von Religion/Kirche dann vor, (1) wenn durch intensive Zusammenarbeit der beiden Organisationen deren Unabhängigkeit voneinander bedroht wird und so Religion auf Staat (oder umgekehrt) Einfluss nehmen kann, 56

So Justice Brennan in seinem Votum in Allegheny County v. ACLU, 492 U.S. 573, 639 (1989): „In my view, this attempt to take the ,Christmas‘ out of the Christmas Tree is unconvincing.“ Für deutsche Ohren mag dies übertrieben klingen, das Thema ist aber in den USA hochumstritten. 57 Siehe Allegheny County v. ACLU, 492 U.S. 573 (1989): Verbot einer Krippendarstellung auf Gerichtsgebäude. 58 Klar ausgedrückt ist dies in Engel v. Vitale, 370 U.S. 421, 430 (1962), in dem der Supreme Court ein staatlich angeleitetes Schulgebet ausschloss, auch wenn dieses freiwillig und diskriminierungsfrei vorgetragen würde: „Neither the fact that the prayer may be denominationally neutral nor the fact that its observance on the part of the students is voluntary can serve to free it from the limitations of the Establishment Clause … The Establishment Clause … does not depend upon any showing of direct governmental compulsion …“. 59 Ein direkter BVerfG-Fall dazu existiert nicht; das ergibt sich aber aus den Überlegungen zur Christlichen Gemeinschaftsschule, unten Fn. 80 ff.

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen

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ferner wenn dadurch (2) der politische Einfluss nicht mehr anhand des Bürgerstatus, sondern der Religionszugehörigkeit bemessen wird und sich so religiös bestimmte Insider- und Outsidergruppen bilden.60 Transformation des Lemon-Tests in den Unterstützungstest (O’Connor-Test 1) . I. Strukturebene: Nichteinrichtung

II. Grundrechtsebene: Religionsfreiheit

Organisatorische Vermischung von Staat und Indikator für starken Zwang; äußerer und Kirche ist verfassungswidrig, wird gesehen innerer Zwang kombiniert (verfassungswidrige Freiheitsverletzung) als Indikator für politischen Outsiderstatus der Inhaltliche Unterstützung von (einer) Religion ist verfassungswidrig, wird gesehen Anhänger der nicht-unterstützten Religion oder Kirche (verfassungswidrige als Ungleichbehandlung)

Man sieht deutlich, wie sich organisatorische und grundrechtliche Kriterien vermischen. Der Unterstützungstest findet sich zum Beispiel im Grundgesetz wieder in Art. 3 Abs. 3 und 33 Abs. 3 GG, die die Systeme von Religion und Staat trennen und Machtasymmetrien verhindern wollen; eine Parallelvorschrift findet sich in Art. VI Abs. 3 der US-Verfassung.61 In Bezug auf die Weihnachtsausstellungen ist klar, dass keine erheblichen organisatorischen Verwicklungen zu befürchten sind und dass nach akkommodierender Sicht jedenfalls keine starken Insider-Outsider-Kategorien mit politischen Einflussmöglichkeiten gebildet werden. Anhänger strikter Trennung sehen dies natürlich anders: Zum einen fehlt schon die erforderliche Distanz zwischen Staat und Religion, zum anderen kann man gar nicht alle Religionen gleichrangig symbolisch repräsentieren, wird immer eine Hervorhebung eintreten und damit ansatzweise Insider- gegen Outsiderreligion abgegrenzt. Da schon der Hauch von Ungleichbehandlung für eine Verfassungswidrigkeit ausreicht, dürften solche Ausstellungen staatlicherseits nicht stattfinden. 60

Siehe Lynch v. Donnelly, 465 U.S. 668, 687 f. (1984) (zustimmendes Votum): „The Establishment Clause prohibits government from making adherence to a religion relevant in any way to a person’s standing in the political community. Government can run afoul of that prohibition in two principal ways. One is excessive entanglement with religious institutions, which may interfere with the independence of the institutions, give the institutions access to government or governmental powers not fully shared by nonadherents of the religion, and foster the creation of political constituencies defined along religious lines … The second and more direct infringement is government endorsement or disapproval or religion. Endorsement sends a message to nonadherents that they are outsiders, not full members of the political community, and an accompanying message to adherents that they are insiders, favored members of the political community. Disapproval sends the opposite message.“ Auf Insider-Outsider-Gesichtspunkte stellt auch das BVerfG ab. Siehe etwa die Schulgebetsentscheidung BVerfGE 52, 223, 248 f. und vorher schon BVerfGE 41, 29, 62 ff. (Christliche Gemeinschaftsschule). 61 Danach sind alle Inhaber von staatlichen Ämtern durch „Oath or Affirmation“ auf die Bundesverfassung zu verpflichten, „but no religious Test shall ever be required as a Qualification to any Office or public Trust under the United States“. Siehe schon oben Fn. 48.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Justice O’Connor hat noch einen weiteren Prüfungstest für Symbole vorgeschlagen, den man Symbol-Test (oder O’Connor-Test 2) nennen kann.62 Danach darf der Staat religiöse Symbole nur dann verwenden (oder sonstige Verkörperungen unterstützen), wenn (1) das Symbol in dem Land eine lange Geschichte und vielfältige Verbreitung hat, wenn (2) kein Gebets- oder Verehrungskontext vorliegt, wenn (3) nicht auf einen spezifischen Gott oder eine spezifische Religion verwiesen wird und wenn schließlich (4) der religiöse Gehalt angesichts der Umstände gering ist. (5) All das soll aus Sicht eines verständigen Beobachters (letztlich: des Verfassungsgerichts) geprüft werden. Auch hier sieht man deutlich, wie strukturellsystemische Elemente von Tradition und Säkularität (1 und 2) mit Gleichheits- und Freiheitsanforderungen (3 und 4) gekoppelt sind. Punkt 5 weist feinsinnig auf die Erkenntnis- und Machtansprüche des Gerichts hin: Verbindlich „verständig“ ist letztlich nur dessen Mehrheit! Transformation des Lemon-Tests in den Symbol-Test (O’Connor-Test 2) . II. Verfassungsrechtlich unzulässig, wenn I. Verfassungsrechtlich zulässige Unterstützungen von religiösen Symbolen bei auch nur eines der folgenden Elemente gegeben ist Vorliegen von 1 bis 4 1. Lange Geschichte, weite Verbreitung

1. Neues Symbol, partikulare Verbreitung

2. Kein Gebets- oder Verehrungskontext

2. Gebets- oder Verehrungskontext

3. Keine Bezugnahme auf partikulare Religion

3. Bezugnahme auf einzelne Religion

4. Minimaler religiöser Gehalt

4. Starker religiöser Gehalt

5. Jeweils beurteilt aus Sicht eines verständigen Beobachters (des Gerichts)

5. Aber auch hier gilt das Urteil des verständigen Beobachters (nicht „the heckler’s veto“)

Angewandt auf die Weihnachtsausstellungen, sieht man deutlich, dass in Bezug auf die Elemente 1 und 2 keine verfassungsrechtlichen Probleme vorliegen. Ein entgegenkommender Verfassungsrechtler wird auch das Element 4 bejahen, während ein Vertreter strikter Trennung dazu neigen wird, jedenfalls in der Krippenszene mit der Jungfrauengeburt mehr als einen minimalen religiösen Gehalt zu sehen.63 Heikel 62 Siehe Elk Grove Unified School District v. Newdow, 542 U.S. 1, 37 ff. (2004) zu (1) history and ubiquity, (2) absence of worship or prayer, (3) absence of reference to particular religion, (4) minimal religious content, (5) reasonable observer. Ähnlich der Vorschlag von W. Brugger, Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus, in: ders./S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, S. 109, 147 ff. 63 Wer schon das Wort „Christmas“ in „Christmas Tree“ als religiös ansieht, wie Justice Brennan (Fn. 56), für den wird bei der Jungfrauengeburt nichts anderes gelten. Er hält in seinem Dissent in Lynch v. Donnelly, 465 U.S. 668, 700, 708 (1984), denn auch konsequent fest, für ihn stelle die Geburtsszene „sectarian exclusivity“ dar, die eine Heilsbotschaft Jesu für die Welt enthalte, einen „path toward salvation and redemption … one of the central elements of

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen

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ist der Punkt 3: Wird durch Christbaum und Krippendarstellung schwerpunktmäßig auf und nur auf das Christentum verwiesen? Eigentlich ja, somit müsste sicher nach strikter Trennungssicht und vielleicht nach akkommodierender Sicht Verfassungswidrigkeit vorliegen; nur ein Bezug auf einen „Gattungsgott“ (was immer das sein mag) könnte Verfassungsgemäßheit herbeiführen.64 Hilfestellung für eine Einstufung als verfassungsmäßig leistet hier auch die Kategorie des „ceremonial deism“, der Berufungen auf „Gott“, „Schöpfer“ und Ähnliches enthalten kann und darf, diese aber als in der allgemeinen Feiertagskultur aufgehoben oder aufgegangen ansieht.65 Die US-Kooperationssicht gibt insoweit deutlichere Kriterien vor: „Religion“ darf vor Nichtreligion stehen (Madison), vielleicht sogar Christentum vor anderen Religionen (Story/Cooley). Denkbar wäre es allerdings, die Szenen primär als eine geschichtliche Erinnerung und weniger als eine normative Unterstützung zu sehen. Man kann also auch bei diesem Test eher strikt oder eher entgegenkommend interpretativ vorgehen – verfassungspolitisch gestalten.66 Entgegenkommend ist zum Beispiel die staatliche „Auszeichnung“ des Sonntags als Nichtarbeitstag in den USA und Deutschland. Was wird damit gefördert? Je nach der religiösen Zusammensetzung und dem religiösen Engagement des Landes zumindest auch, wenn nicht sogar überwiegend der Kirchenbesuch von Christen. Nach dem Lemon-Test müsste dies nach Ziel und Effekt eigentlich verboten sein; ferner liegt nach strikter Sicht des Unterstützungs-Tests eigentlich eine Insider-OutsiderFormation vor. Trotzdem hat der Supreme Court dies als verfassungsgemäß ange-

Christian dogma“. Das erinnert an die Analyse der Bedeutung des Kreuzes im deutschen Kreuzin-der-Schule-Fall BVerfGE 93, 1, 19 f. 64 Man sieht hier, dass der O’Connor-Test 1 von 2 differiert: Nach 1 wäre die Darstellung eher zulässig als nach 2. O’Connor geht in der Entscheidung Elk Grove auch nicht von der Krippendarstellung, sondern von dem amerikanischen Pledge of Allegiance aus, der eine kurzen Hinweis auf „a nation under God“ enthält. Dies sieht die Richterin als akzeptablen Hinweis auf einen generischen Gott an, auch wenn nicht alle Religionen einen Gott als Schöpfer postulieren. Siehe Elk Grove (Fn. 62), 42 und näher auch unten Fn. 99. 65 So Justice O’Connor in Elk Grove Unified School District v. Newdow, 542 U.S. 1, 36 (2004), zustimmende Meinung. Bei „ceremonial deism“ (37) geht es um „solemnizing public occasions, expressing confidence in the future, and encouraging the recognition of what is worthy of appreciation in society“ (36). Man könnte natürlich genauso gut sagen, Ziel und Effekt einer Weihnachtsausstellung seien plural, ein religiöses, christliches Element sei auch enthalten, und dieses würde „schwach“ unterstützt, also ohne deutliche/erhebliche Freiheitszwänge, Diskriminierungen oder Identifizierungen. Und das sei in einem akkommodierenden Modell zulässig. Siehe die entsprechende Argumentation im deutschen Schulgebetsfall, oben Fn. 43. 66 Je nachdem, wie man den Zweck versteht, wie man den Effekt prognostiziert, auf wen es dabei ankommen soll: einen Beobachter, der sich religiös bevormundet oder diskriminiert fühlt, die Mehrheit der Beobachter, den „Durchschnittsbetrachter“, den „verständigen und informierten Betrachter“ (das ist die offizielle Sicht des Supreme Court, aber diese läuft letztlich auf Richtermehrheiten hinaus). Angesichts der Vieldeutigkeit aller Symbole ist kaum auszuschließen, dass für unterschiedliche (aktuelle oder potentielle?) Betrachter unterschiedliche Deutungen vorkommen.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

sehen.67 Er hätte dafür den zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht formulierten Symbol-Test benutzen können. Der Sache nach formuliert das Gericht die Gründe, die in den in das Grundgesetz inkorporierten Art. 139 WRV eingegangen sind: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Durch das Adjektiv „seelisch“ wird die nach diesem Test in Element 3 verbotene Referenz auf „christlich“ vermieden, also jedenfalls auf Textoberflächenebene die Neutralität gewahrt, Diskriminierung vermieden.68 Für dieses Entgegenkommen in Richtung prägende Glaubensrichtung lassen sich auch pragmatische Gründe finden (ein Ruhetag ist nötig, man kann nicht für jede Religion einen wöchentlichen Ruhetag vorsehen) und realistische Gründe vorbringen (Christen gehen nicht den ganzen Tag in die Kirche, sondern ruhen sich aus oder gehen sonstigen nichtreligiösen Beschäftigungen nach, wie die Nichtchristen auch). Durch eine solche Regelung wird auch die Religionsfreiheit der vielen Christen berücksichtigt; das stellt ein plausibles Argument für die Berücksichtigungsfähigkeit auch auf struktureller Ebene dar.69 Wie steht es mit Religionsunterricht in staatlichen Schulen? In Deutschland ist dies in Art. 7 Abs. 3 GG vorgesehen, im Regelfall sogar als ordentliches Lehrfach. Ein Freiheitsverstoß ist das nicht, solange, wie vorgesehen, weder Lehrer noch Schüler zum Religionsunterricht gegen ihren Willen verpflichtet werden. Und ein Gleichheitsverstoß liegt ebenfalls nicht vor, weil die Vorschrift für alle Religionen offen ist, soweit sie bestimmte organisatorische und nichtdiskriminierende Voraussetzungen erfüllen. Wenn ein Verfassungsproblem vorliegt, dann in Bezug auf das strukturelle Distanz- und Trennungsgebot. Dieses gilt nach den strikteren Trennungssichten in den USA, aber für den Religionsunterricht in staatlichen Schulen laut verfassungstextlicher Anordnung nicht im Grundgesetz. Daran sieht man, dass in Deutschland eine freiheits- und gleichheitsverträgliche Förderung von Religion an sich bzw. allen Religionen gleichermaßen als Ziel und Effekt gegen die Erfordernisse des amerikanischen Lemon-Tests zulässig ist; dies gilt auch für die dafür notwendige organisatorische Abstimmung. Im amerikanischen Trennungsmodell ist solches in der strikten Variante sicher ausgeschlossen, in der akkommodierenden Sichtweise vermutlich auch, jedenfalls wenn man den Lemon-Test benutzt. Der Grund ist, dass es hier um eine Förderung von genuiner Religion geht und nicht um neutralisierte oder säkularisierte „zivilreligiöse“ Ausprägungen oder entsprechende kontextuelle Ausweitungen von Religion. Denkbar wäre es jedoch nach der US-Kooperationssicht, die räumliche Trennung in den Fällen zu relativieren, in denen funktionell, in der Sache, klar bleibt, ob der Staat weltlichen Unterricht erteilt oder aber nur einen 67 Siehe McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420 (1961). Dort auf S. 431 ff. findet sich eine ausführliche Analyse des Säkularisierungsprozesses des Sonntags vom christlichen Gebetszum allgemeinen Erholungstag. 68 Ähnliche semantische Diplomatie lässt sich auch in Amerika beobachten, wo die entsprechenden Gesetze unter „Sunday Closing Laws“ diskutiert werden, also auch ein Titelbezug zu Christentum vermieden wird. Siehe McConnell u. a. (Fn. 6), S. 721 ff. 69 Diese Argumente finden sich auch McGowan (Fn. 67).

IV. Die staatliche Verwendung von religiösen Symbolen

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Zugang eröffnet für gläubige Schüler und Lehrer in Form des Religionsunterrichts. Dies wäre dann eine Art von funktionellem Trennungswall innerhalb des Schulgeländes, gestuft z. B. nach Zeit (innerhalb oder außerhalb des normalen Unterrichts), Ort (etwa spezielle Räume für religiöse Unterrichtung) und Akteur (staatlicher Lehrer oder Vertreter einer Religion).70 Ähnliches muss auch für vorgegebene religiöse Gebete (in der Praxis: meist der prägenden Religion, in unseren Beispielsfällen) christlicher Provenienz vor oder zu Beginn der Schule gelten. Freiheitsrechtlich müssen solche Regelungen Zwang zum Gebet ausschließen, gleichheitsrechtlich müssen Diskriminierungen von Schülern, die nicht teilnehmen wollen, ausgeschlossen werden.71 Wenn das geschieht, wie steht es dann mit strukturellen Trennungsgeboten? Wenn, wie in Deutschland, Religion in Schule hineingetragen werden darf, dann ist es wenn auch nicht zwingend, so doch verfassungsrechtlich vertretbar, ein christliches Gebet in staatlichen Schulen unter Aufsicht eines Lehrers zu Beginn des Unterrichts vorzusehen, denn hier sind deutliche Relativierungen struktureller Scheidung möglich, ist mehr Rücksichtnahme auf weitverbreitete Religionen wie das Christentum zulässig. Gleiches gälte für die USKooperationssicht, zumindest in der christlichen Story-Cooley-Variante. Dabei ist zu beachten, dass eine solche Veranstaltung mehr ist als eine deskriptive Anerkennung einer geschichtlich bedeutsamen Religion; sie unterstützt in einem schwachen – d. h. freiheitsrechtlich und gleichheitsrechtlich gewisse, wenn auch nicht erhebliche Belastungen mit sich führenden – Sinn die prägende Religion als etwas Anerkennenswertes, Gutes.72 Nach beiden amerikanischen Trennungspositionen liegt hierin eine zu große Nähe, Identifikation und Parteinahme vor: Nach der strikten Trennungsauffassung ist dies ein klarer Fall von Verfassungswidrigkeit, nach dem Lemon-Test läge in Bezug auf Ziel und Effekt primär eine verbotene Unterstützung gerade einer Religion vor, die auch noch mit einer organisatorischen Anleitung durch den Lehrer verknüpft ist.73 Nach dem Symboltest von O’Connor würde Bezug genommen auf eine bestimmte Religion. Anders könnte man die Sachlage sehen, wenn der Staat zu Beginn des Unterrichts eine Schweigeminute für Gebet oder Meditation vorsieht.74 Dann liegt bei Freiwilligkeit kein Eingriff in die Religionsfreiheit vor; gleichheitsrechtlich wird keine Religion oder Weltanschauung privilegiert oder benachteiligt. Wie steht es mit dem strukturellen Trennungs- und Distanzgebot? Für Vertreter strikter Trennung liegt eigentlich eine Distanzverletzung vor, die man höchstens ausnahmsweise mit dem 70 Einen gewissen Schritt in diese Richtung stellt die Zulassung von „separiertem“ staatlichem Kompensationsunterricht an religiösen Schulen dar, oben Fn. 49 zu Agostini v. Felton, 521 U.S. 203 (1997) und weitere Beispiele in Fn. 51. 71 Siehe den deutschen Schulgebetsfall, BVerfGE 52, 223 und das gleichlautende Gebot im O’Connorschen Unterstützungstest, oben nach Fn. 60. 72 Siehe schon oben Fn. 43 das Zitat aus BVerfGE 52, 223, 238 f. und das O’Connor-Zitat Fn. 65. 73 Siehe den amerikanischen Parallelfall Engel v. Vitale, 370 U.S. 421 (1962). 74 Siehe den Moment-of-Silence-Fall Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38 (1985).

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Argument zulassen könnte, dass Religionsfreiheit und Religionsgleichheit eigentlich von dem Arrangement profitieren würden. Das Gegenargument wäre: Beten oder meditieren kann man auch außerhalb der Schule, und wenn auch schon der Hauch von Annäherung vermieden werden soll, sollte eine solche Schweigeminute auch verboten sein. Vertreter der Akkommodierung, die das Distanzgebot relativieren, könnten mit der Schweigeminute leben. Wenn sie das in dem realen Fall trotzdem nicht taten, so deshalb, weil im Sinne des Lemon-Kriteriums aus Sicht der Mehrheit des Supreme Court klar war, dass die Legislative bei dem Erlass der Regelung eigentlich das Gebet und damit Religion vor Nichtreligion bevorzugen wollte.75 Das reichte zu einem Verdikt der Verfassungswidrigkeit aus. Aus deutscher Sicht ist das keine überzeugende Lösung, denn wenn der Wortlaut der Regelung neutral gefasst ist und wenn man davon ausgeht, dass die Staatsorgane – die Lehrer in der Schule – die Gesetze so umsetzen wie geschrieben, sollte eine Heilung eigentlich möglich sein.76 Nach US-Kooperationssicht ist eine solche Schweigeminute verfassungsrechtlich unproblematisch.77 Nicht um Schweigen, sondern um eine Graduierungsfeier einer Schule ging es in Lee v. Weisman.78 Dort trug ein von der Schulleitung ausgesuchter Rabbi eine kurze Danksagung und einen Segensspruch mit einem Gottesbezug vor. Die Danksagung erwähnte zwar den „God of the Free“, war im Übrigen aber an säkularen amerikanischen Werten wie Minderheitenschutz, Demokratie und Rechtsstaat ausgerichtet. Die soziale Erwartung an die Teilnehmer der Feier war, dass sie sich bei der Danksagung erheben, aber bei Sitzenbleiben waren keine formalen Sanktionen zu befürchten. Für die „strikte“ Mehrheit des Supreme Court war dies schon eine Verletzung des Distanzgebots und auch eine Freiheits- und Gleichheitsverletzung, Zwang zu Religiösem für Nichtreligiöse, in deutscher Terminologie: eine verfassungswidrige „faktische“ Grundrechtsverletzung.79 Für die entgegenkommendere Minderheit des Gerichts dagegen war die Danksagung Teil der amerikanischen Feierkultur und der allgemeinen Tradition, ohne dass eine religiöse Mitwirkung der Schüler erzwungen oder eine Diskriminierung verursacht wurde. Vielmehr werde so an die Toleranz aller appelliert, also eine wünschenswerte Tugend ins Spiel gebracht. Aus Sicht der US-Kooperationssicht wie des deutschen Verfassungsrechts kommt 75

Siehe Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 55 ff. (1985). Diese Sichtweise liegt dem deutschen Schulgebetsfall zugrunde. Siehe BVerfGE 52, 223, 249 ff. Aufgabe der Lehrer ist es, Zwang und Diskriminierung auszuschließen. 77 Siehe die Minderheitssicht in Wallace v. Jaffree, 472, 38, 84 ff. (1985). 78 Lee v. Weisman, 505 U.S. 577 (1992). 79 Dies ist eine der Leitentscheidungen für den „coercion test“, die amerikanische Variante der deutschen Diskussion darüber, ob und in welchem Umfang „faktische Grundrechtseingriffe“ wie etwa „peer pressure“ klassischen Grundrechtseingriffen gleichzustellen sind. Siehe Lee v. Weisman, 505 U.S. 577, 592 ff. (1992); McConnell u. a. (Fn. 6), S. 630 ff., 654 ff. Ob man hierbei schon marginalen, schwachen faktischen Druck ausreichen lässt oder aber stärkere Zwänge (oder Diskriminierungen) fordert, hängt von der Einstellung zu der Struktur des Verhältnisses von Staat und Kirche ab. Vertreter strikter Trennung gehen schon bei ersterem von Unzulässigkeit aus, Vertreter von Akkommodation und Kooperation verlangen letzteres. 76

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man zum gleichen Ergebnis: Diese Annäherung ist verfassungsrechtlich noch hinzunehmen. Es war eine schulische Feier, kein Gottesdienst; die kurze religiöse, aber nicht sektiererische Anrufung Gottes war inklusiv gestaltet, kurz und eingebettet in säkulare, politische Werte; deutliche Grade von Zwang oder Diskriminierung waren nicht zu erkennen. Einen staatlichen Schultyp „Christliche Gemeinschaftsschule“ einzurichten, ist in Deutschland laut BVerfG verfassungsrechtlich zulässig80, nach den beiden vorherrschenden amerikanischen Trennungsauffassungen eigentlich verboten, aus den eben genannten Gründen. Auch in Deutschland hat das auf den ersten Blick etwas Kontraintuitives: eine Pflichtschule für alle Schüler, ob gläubig oder nichtgläubig, ob Christen oder Nichtchristen? Das klingt freiheitsrechtlich nach Zwang zum Christentum, gleichheitsrechtlich nach Diskriminierung Andersdenkender und strukturell nach materieller Identifikation von Staat und Christentum. Doch hat das BVerfG in seinen einschlägigen Entscheidungen gerade diese bedenklichen Punkte ausgeschaltet durch eine interpretative Rettungsaktion, die das genuin Christliche aus der Christlichen Gemeinschaftsschule herausgenommen hat; damit sind die verfassungsrechtlichen Bedenken verschwunden, jedenfalls gemildert. Es muss nämlich laut Gericht Gewähr dafür bestehen, dass in diesem Schultyp kein Zwang zum christlichen Glauben ausgeübt wird, dass Andersdenkende gleich geachtet werden und dass die Bezüge auf das Christentum sich primär auf dessen kulturelle Bedeutung für unser Gemeinwesen beziehen, sich also nicht auf spezifische Glaubensgehalte erstrecken.81 Innerhalb dieser Kriterien sieht es das BVerfG aber als erlaubt an, „auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung“82 Rücksicht zu nehmen, diese also wohlwollend zu fördern, im Rahmen der genannten Grenzsetzungen. Man kann diese Kriterien leicht auf den Lemon-Test beziehen: Durch diese interpretative Rettungsaktion liegt weder in Ziel noch Effekt eine Unterstützung spezifisch christlicher Gehalte vor; vielmehr sind es auch, ja eigentlich primär, säkularisierte, zivilreligiöse oder allgemein kulturelle Dimensionen von Christentum, die in diesem Schultyp zwang- und diskriminierungsfrei präsentiert werden sollen. Damit kann man aus US-Sicht diesen Fall einer differenzierten Lösung zuführen: Nach strikter Trennungssicht reichen schon schwache Annäherungen und Unterstützungen zwischen Staat und (einer) Religion für eine Verfassungswidrigkeit aus; nach akkommodierender Sicht könnte man, wenn man die Vorgaben des BVerfG ernst nimmt, zu einer Zulässigkeit kommen, da es prioritär um eine Unterstützung der „kulturellen“ oder „zivilreligiösen“ und nicht der genuin „religiösen“ Gehalte des Christentums geht. Problem wäre allerdings, dass der ursprüngliche Zweck der Einrichtung von Christlichen Gemeinschaftsschulen doch stärker genuin christlich geprägt war, denn sonst wäre die Rekonstruktion des BVerfG nicht notwendig ge80 81 82

Siehe BVerfGE 41, 29, 65, 88 (Christliche Gemeinschaftsschule). Siehe ebenda, 51 ff., zusammenfassend 64. Ebenda 51.

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wesen. Das heißt: Nach dem Lemon-Test lag ursprünglich eine starke Förderung des Christentums als Intention vor; damit wäre dieser Schultyp von vornherein mit dem Makel der Verfassungswidrigkeit behaftet.83 Wenn man dem US-Kooperationsmodell folgt, so wäre eine Christliche Gemeinschaftsschule auf jeden Fall nach der Story/Cooley-Version, vielleicht auch nach der Madison-Version zulässig. Wie steht es mit einem Kreuz an der Wand einer staatlichen Schule? Nach der strikten amerikanischen Trennungsauffassung liegt hier sicher eine zu große Nähe zwischen einem christlichen Symbol und einem staatlichen Zusammenhang, der Pflichtschule, vor.84 Nach der strikten Trennungssicht wäre sogar eine „neutrale“ Ausstellung aller möglichen oder in der Klasse vertretenen religiösen Symbole verboten, weil sie Staat und Religion an sich in deutlicher Distanz halten will. Nach dem Lemon-Test in seiner engen Lesart liegt bei der Präsentation von Kreuz vermutlich mehr als eine marginale Unterstützung von christlichen Schülern in Ziel und Effekt vor; wenn auch nur eines dieser Kriterien zutrifft, führt das zur Verfassungswidrigkeit. Freiheitsrechtlich liegt entweder kein Zwang oder höchstens marginal eine Einwirkung vor, solange das Kreuz nicht aktiv im Unterricht eingesetzt werden. Gleichheitsrechtlich liegt jedenfalls keine offenbare Diskriminierung Andersdenkender vor, solange es um eine rein passive Präsentation geht, denn dann kann diese Darstellung alles Mögliche sein, von einer Erinnerung an eine prägende Tradition bis zu einer indirekten Unterstützung derjenigen Schüler, die darin ihr eigenes Bekenntnis sehen. Hier sieht man freilich auch schon die Interpretationsoffenheit: Wer eher von der strikten Trennung her denkt, wird entsprechende „marginale“ Beinflussungen oder Ungleichbehandlungen schon als freiheits- oder gleichheitswidrig einstufen. So urteilte die Mehrheit des BVerfG im Kreuz-Fall, die (1) sich vorrangig auf die genuin religiöse Komponente des Kreuzes festlegte, (2) diesem eine missionarische und appellative Komponente zusprach, die (3) unausweichbar sei und, obwohl passiv an der Wand hängend, (4) die negative Religionsfreiheit der Nichtchristen zu stark faktisch beinträchtige.85 Wer dagegen eher akkommodierend oder kooperierend eingestellt ist, wie das BVerfG etwa im Schulgebets- und Christliche-Gemeinschaftsschule-Fall und die Minderheit des Gerichts im Kreuz-Fall86, wird stärkere Rücksichtnahmen auf die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung als vertretbar ansehen. Er wird noch keine Verletzung von Religionsfreiheit, -gleichheit oder struktureller Scheidung vorliegen sehen. Solange das Kreuz vom Staat passiv verwendet wird, mehrere Deutungen zulässt, von denen einige nicht genuin christlich sind (von „ein Stück Holz“ über das Kreuz als Symbol für Leiden und Unrecht bis zur christlichen Botschaft von Tod und Auferstehung), und solange „Erinnerung“ und 83

Siehe die entsprechende Argumentation in dem Moment-of-Silence-Fall, oben Fn. 74. Dies ergibt sich sowohl aus den allgemeinen Merkmalen der Trennungssicht (Fn. 25, 26, 28) als auch aus den gleich noch zu erörternden Fällen zu den Zehn Geboten. 85 Siehe BVerfGE 93, 1, 19 ff. 86 Siehe schon oben bei Fn. 71 ff., 80 ff. und BVerfGE 93, 1, 25 ff. 84

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„Unterstützung“ sich die Waage halten, letzteres jedenfalls nicht klar dominiert, wird nach deutscher und amerikanischer akkommodierender Sichtweise auch eine Verfassungsgemäßheit vorliegen können.87 Dies gilt umso mehr für die US-Kooperationssicht. Wie steht es mit einem Plakat mit den Zehn Geboten in staatlichen Schulen, das in einer kaum zu leugnenden starken Dimension genuin christliche Gehalte zum Ausdruck bringt? Nach der strikten Trennungssicht, nach der schon marginale Annäherungen und Unterstützungen ausgeschlossen sind, sind hier keine Rettungsaktionen wie im BVerfG-Fall der Christlichen Gemeinschaftsschule denkbar.88 Anders ist dies nach akkommodierender89 und kooperierender deutscher und amerikanischer Sichtweise.90 Hier könnte man im Rahmen der Zehn Gebote diejenigen Gebote wie etwa das Tötungs- und Diebstahlsverbot hervorheben, die auch säkular im Recht aufgenommen worden sind und sich „zivilreligiös“ in die Moral des Landes hineingearbeitet haben.91 Soweit der Kontext ergibt, dass auf diesen Geboten die 87 So hat das BVerfG für das Kreuz im Gerichtssaal entschieden, solange nicht ein Verfahrensbeteiligter dagegen protestiert, weil er nicht „unter dem Kreuz“ staatlich verbindliche Entscheidungen hinnehmen will: BVerfGE 35, 366, 373 ff. Das BVerfG lehnte eine Entscheidung der strukturellen Frage ab, wies aber doch darauf hin, dass ein Kreuz im Gerichtssaal nicht unbedingt eine Identifikation bedeutet, sondern als Schwurgegenstand verstanden werden kann. Ferner deutete es an, dass für weite Kreise doch eher eine marginale, hinnehmbare Nähe vorliege: „das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt von ihnen weder eine eigene Identifizierung mit den darin verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten“. Mit anderen Worten: Das Gericht scheint doch strukturell von Verfassungsmäßigkeit auszugehen. Wenn allerdings, wie in diesem Fall, ein Beteiligter widerspricht, ist aus freiheitsrechtlichen Gründen, wegen des gefühlten Zwangs der betroffenen Person, das Kreuz abzunehmen oder wegzustellen, auch wenn es um „verhältnismäßig geringfügige Beeinträchtigungen“ (376) geht. Für die US-Rechtsprechung liegt jedenfalls nach der strikten und vielleicht auch nach der akkommodierenden Trennungssicht ein zu staatlicher Zusammenhang vor. Vgl. die Krippenentscheidung County of Allegheny v. ACLU, 492 U.S. 573 (1989): Unzulässigkeit der Krippendarstellung während der Weihnachtszeit im Gerichtsgebäude – in dieser Entscheidung gewann die Fraktion der strikte(re)n Trennung. In eine ähnliche Richtung geht McCreary v. ACLU (Fn. 92). 88 So die Mehrheit des Supreme Court in Stone v. Graham, 449 U.S. 39 (1980). 89 So der Dissent in dieser Entscheidung von Richter Rehnquist, 43 ff. Das Plakat in dem Fall war versehen mit folgender Erklärung: „The secular application of the Ten Commandments is clearly seen in its adoption as the fundamental legal code of Western Civilization and the Common Law of the United States.“ 90 Der Parallelfall ist das Kreuz im Gerichtssaal, BVerfGE 35, 373, oben Fn. 87. Dort spricht das Gericht auf S. 374 die Möglichkeit an, durch explizite Hinweise auf das Kreuz-Symbol als Schwurgegenstand für Verfahrensbeteiligte mit religiöser Bindung Zweifel über die Berechtigung von Kreuzen in Gerichtssälen auszuräumen, entscheidet die Frage aber letztlich nicht. 91 Dieses Argument findet sich schon in McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420, 442 (1961) wieder, allerdings in einem anderen Zusammenhang, dem Sonntagsarbeitsverbot: „The Establishment Clause does not ban federal or state regulation of conduct whose reason or effect merely happens to coincide or harmonize with the tenets of some or all religions …. Thus, for temporal reasons, murder is illegal. And the fact that this agrees with the dictates of the JudeoChristian religions … does not invalidate the regulation. So too with the questions of adultery

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Priorität liegt, könnte man auch im Rahmen des Lemon-Tests Entgegenkommen zeigen. Ähnliches gilt für die Ergänzung der Zehn Gebote mit anderen, säkularen Texten oder Ereignissen, die ein Gesamtspektrum der moralischen und religiösen Grundlagen des Landes präsentieren; dann lägen gleichheitsrechtlich jedenfalls weitreichende Neutralisierungen vor und wäre die Nähe des Staatswesens mit dem Christentum nicht so eng; freiheitsrechtlich lägen, wenn überhaupt, nur marginale Einflussnahmen vor.92 Was ist verfassungsrechtlich zu einer schulischen Integration eines patriotischen Textes zu sagen, der zu Beginn des Unterrichts unter Anleitung eines Lehrers aufzusagen ist und der dazu nicht bereiten Schülern die Möglichkeit eröffnet, zu schweigen oder der Rezitation fernzubleiben? Darum ging es in dem Pledge-ofAllegiance-Fall des Supreme Court93, dessen Mehrheit sich allerdings unter Berufung auf ein fehlendes Zulässigkeitserfordernis vor einer Entscheidung in der Sache drückte. Immerhin: Das Untergericht sah hierin eine Verletzung der notwendigen Staat-Kirche-Trennung94, während die Supreme Court-Richter Rehnquist und O’Connor in ihren zustimmenden Voten zur Sache selbst sprachen und keine solche Verletzung vorliegen sahen. Der Fall hat Ähnlichkeiten zum deutschen Schulgebetsfall, insoweit nicht nur, wie beim Kreuz oder den Zehn Geboten an der Schulwand, ein passives Zeichen vorliegt, sondern etwas positiv zu rezitieren ist, sofern man sich nicht davon abwenden will. Liegt aber beim Pledge of Allegiance, der im Staat Kalifornien an Grundschulen zu rezitieren war, ein Gebet vor? Der Text heißt: „I pledge allegiance to the Flag of the United States of America, and to the Republic for which it stands, one Nation under God, indivisible, with liberty and justice for all.“95 Hier zeigt sich die Ähnlichkeit zu den Krippenfällen und den Zehn-GeboteFällen: Der religiöse Anteil der Botschaft/Ausstellung ist umringt von andersartigen, hier: säkularen Bekundungen des politisch-rechtlichen Ethos des Landes. Zudem gibt es eine lange Geschichte der Berufung auf Gott in politischen Proklamationen, etwa herausragender Präsidenten wie George Washington und Abraham Lincoln, die and polygamy …. The same could be said of theft, fraud, etc., because those offenses were also proscribed in the Decalogue … .“ 92 Siehe die beiden neuesten Zehn-Gebote-Entscheidungen des Supreme Court, die allerdings nicht staatliche Schulen betrafen. In Van Orden v. Perry, 125 S.Ct. 2854 (2005) wurde ein steinernes Monument mit dem eingemeißelten Text der Zehn Gebote auf dem Gelände des texanischen Regierungssitzes für verfassungsgemäß erklärt, das von zahlreichen anderen, säkularen Darstellungen von historischem Gewicht umgeben war. Dagegen hielt eine Mehrheit des Supreme Court eine erst vor einigen Jahren erfolgte Präsentation der Zehn Gebote in Gerichtsgebäuden für verfassungswidrig: McCreary v. ACLU, 125 S.Ct. 2722 (2005). Argument: Die Gesetzgebungsgeschichte gebe klar das Ziel zu erkennen, das Christentum zu fördern. Dieses illegitime Ziel i.S.d. Lemon-Tests werde durch die Präsentation anderer, säkularer Symbole und Dokumente (wie etwa der Unabhängigkeitserklärung) nicht geheilt. Das erinnert an den Moment-of-Silence-Fall (Fn. 74) und ist aus den dort genannten Gründen für deutsche Juristen nicht überzeugend. 93 542 U.S. 1 (2004). 94 Siehe Newdow v. United States Congress, 328 F.3d 466 (C.A. 9 2003). 95 Siehe 542 U.S. 1, 25 (2004); der Text ist statutorisch festgelegt in 4 U.S.C. § 4.

V. Rücksichtnahme auf prägende religiöse Landschaft

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dann 1942 dazu geführt hat, dass der Treueschwur auf die Flagge legislativ festgelegt wurde; die Berufung „under God“ wurde allerdings erst in Zeiten des kalten Krieges als Reaktion auf den atheistischen Kommunismus eingeführt.96 Geht man von einer strikten Trennung und dem Distanzgebot aus, wie das tendenziell das Untergericht tat, ist das Ergebnis klar: Hier liegt eine unzulässige Annäherung von Staat und Religion in Form von „under God“ vor, unter dem klar der jüdisch-christliche Gott zu verstehen ist. Ferner wird freiheitsrechtlich sublimer Zwang auf die Schüler ausgeübt, an dem Bekenntnis teilzunehmen, und liegt auch ein gleichheitsrechtlicher Verstoß gegen Nichtreligionen (z. B. Kommunismus) oder nichtchristliche und nichtjüdische Religionen vor. Für Akkommodisten ist die Sachlage anders: Berufungen auf Gott bilden einen wichtigen Teil der amerikanischen Politik und Identität; wenn sie nicht in der Kirche geschehen, sondern als Teil einer patriotischen Übung veranstaltet werden und zudem der Textkontext enthüllt, dass die Flagge als Repräsentation des politischen Gemeinwesens im Vordergrund steht, dann geht es weder um die Einrichtung einer Staatskirche noch um Verehrung und Gebet, sondern um Patriotismus unter Einschluss einer historisch gewichtigen Traditionslinie, dass nämlich Amerika sich nicht nur als „land of the free and the home of the brave“97 versteht, sondern auch als ein religiös, durch Gottesfurcht geprägtes Land. So sieht es Chief Justice Rehnquist.98 So sieht es auch Justice O’Connor99, die den schon dargestellten Symbol-Test anwendet und zu dem Schluss kommt, dass hier die für eine Verfassungsmäßigkeit notwendigen Kriterien von weiter Verbreitung, fehlendem Gebetskontext, minimalem religiösen Gehalt sowie fehlender Bezugnahme auf eine spezifische Religion vorliegen. Wenn das stimmt, dann muss Gleiches gelten für sonstige in nichtreligiösen Zusammenhängen verwendete Gottesbezüge wie auf Münzen und Geldscheinen.100

V. Rücksichtnahme auf prägende religiöse Landschaft und deren staatliche Unterstützung Wenn man die vorhergehenden Fälle Revue passieren lässt, dann sieht man deutlich, dass sich die heikelsten Probleme dort ergeben, wo Träger staatlicher Gewalt trotz eines grundsätzlichen Bekenntnisses zur Scheidung von Staat und 96

Nachweise zu alldem in 542 U.S. 1, 25 f. (2004). So sagt es die Nationalhymne, siehe den Text in Elk Grove , a.a.O., 30. 98 A.a.O., 18 ff. Er nennt die Worte „under God“ einen deskriptiven Satz, 33. Das wird man kaum sagen können. Denn gerade der Kontext des gesamten Pledge of Allegiance enthüllt, dass hier auf etwas Gutes, Attaktives, Loyalitätsverdienendes verwiesen werden soll! 99 A.a.O., 33 ff. 100 Das ist in den USA wohl unbestritten. Beispiel bei Rehnquist, a.a.O., 29 f. Dazu gehören auch Anrufungen von Gott bei Eröffnung der Sitzungsperiode des Supreme Court und des Kongresses, siehe Rehnquist, a.a.O., und Marsh v. Chambers, 463 U.S. 783 (1983). 97

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

Religion/Kirche Nähe demonstrieren wollen zur prägenden religiösen Landschaft des Landes. Soweit dieses Land sowieso multireligiös und weltanschaulich bunt geprägt ist, werden sich vermutlich keine erheblichen Diskriminierungsprobleme ergeben. Soweit aber das Land historisch durch eine Religion geprägt ist, wie das in den USA und Deutschland mit dem Christentum101 der Fall ist, in Ausgleich und Spannung mit den Konkurrenzsträngen Aufklärung und Liberalismus, ergeben sich schwierige Probleme. Sollte man in einer solchen Lage trotz der grundsätzlichen Verschiedenheit der beiden Bereiche eher die Aufbauverhältnisse von Religion, Moral und Recht betonen und vorhandene Affinitäten jedenfalls nicht vorsätzlich trennen, vielleicht sogar unterstützen?102 Weil die Ressource Staatsbürgerethos und deren Verankerung in Moral und Transzendenz oder in einer für das Land geschichtsträchtigen und identitätsprägenden Religion knapp ist und jede Unterstützung brauchen kann? Das würden Vertreter von Akkommodation und Kooperation sagen. Oder sollte man angesichts der Pluralität von Religionen in einem Land und der Vielfalt von Denominationen innerhalb einer jeden Großreligion lieber auf Trennung und Distanz setzen? Und wenn schon nicht auf Distanz, sondern Nähe, dann jedenfalls in strikter Gleichbehandlung? Das würden Vertreter des strikten Trennungsmodells befürworten, mit dem Argument, letztlich würde so am besten Streit vermieden und jedenfalls staatlicher Friede gefördert; dies sei auch am besten für Religion wie Staat.103 101 Die Bezeichnungen der partikularen amerikanischen Religionstradition wechseln zwischen „christlich“ und – in neueren Entscheidungen zunehmend – „christlich-jüdisch“; siehe etwa Fn. 91 und Lee v. Weisman, 505 U.S. 577, 589 (1992). 102 Siehe in einem allgemeineren Kontext zum Prinzip von „continuity“, das von John Dewey ausgearbeitet worden ist, Ph. Selznick, The Moral Commonwealth, 1992, S. 28 f. („Sociology looks to the continuities of life, to how things fit together and are interdependent, and it finds in these continuities the primordial sources of obligation and responsibility“, 29), 436, 474 f. und ders., The Communitarian Persuasion, 2002, S. 7, 14, 136 f. (gegen „pernicious dualisms“). Dies ist die Haltung des BVerfG im Fall zur Christlichen Gemeinschaftsschule, oben Fn. 80 zu BVerfGE 41, 51. Siehe dort auch 60: „Der Landesgesetzgeber kann der Tatsache, daß die Mehrzahl der Staatsbürger einer christlichen Kirche angehört, Rechnung tragen. Es ist ihm nicht verwehrt, die Übereinstimmung von Schule und Elternhaus in religiöser Beziehung soweit als möglich aufrechtzuerhalten.“ Gleich anschließend betont das Gericht, dass andere Religionen und Weltanschauungen dadurch nicht aus der Schule gedrängt werden dürften. Je nach Interpretation kann man auch das berühmte Zitat von E.-W. Böckenförde hier verwenden: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“: Fn. 7, S. 60. Sicher: nicht garantieren, aber vielleicht „schwach“ fördern oder jedenfalls das Band zwischen Religion-Moral-Recht, soweit es Frieden stiftet, nicht bewusst abtrennen? Das widerspricht jedenfalls nicht den folgenden Sätzen von Böckenförde, die nur Druck mit „Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebotes“ ausschließen. 103 Repräsentativ die beiden Minderheitsvoten von Justice Jackson und Justice Rutledge in Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 18 ff., 28 ff. (1947): „complete separation between the state and religion is best for the state and best for religion“ (59). „[It] is only by observing [this strict separation] rigidly that the state can maintain its neutrality and avoid partisanship in the dissensions inevitable when sect opposes sect over demands for public moneys to further religious education, teaching or training in any form or degree, directly or indirectly“ (59). Siehe ferner Lee v. Weisman, 505 U.S. 577, 608 f. (1992): „we have recognized that ,religion flourishes

V. Rücksichtnahme auf prägende religiöse Landschaft

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Wie gesehen zieht sich dieser Streit durch die einschlägigen Problemfälle in den USA und Deutschland. Beide Länder sind durch ihre Geschichte partikular geprägt, wobei die Unterschiede zwischen den beiden Ländern nicht so dramatisch sind, wie dies oft gesehen wird. Die Unterschiede jedenfalls in Bezug auf die „beste Politik“ in beiden Ländern kreisen um ähnliche Fragen: mehr oder weniger Trennung, mehr oder weniger Gleichbehandlung, Vorrang minderheitsorientiertes Religionsverfassungsrecht oder traditionsorientiertes, stärker in Richtung Religion und Christentum deutendes Staatskirchenrecht? Die Verfassungstexte in den USA und Deutschland selbst verlangen nicht eindeutig und unbestritten ein striktes Trennungsmodell von Staat und Kirche; sie schließen lediglich eine Staatskirche aus, verlangen Religionsund Weltanschauungsfreiheit für jeden und verbieten jedenfalls harte rechtliche Ungleichbehandlungen. Selbst wo, wie in Art. 3 Abs. 3 GG, Benachteiligungen aufgrund von religiösen Anschauungen anscheinend strikt verboten sind, lässt sich interpretativ genügend Spielraum finden, denn die im Lemon-Test für die USA geltenden Prüfungsgesichtspunkte „Zweck und Effekt der Regelung“ erlauben in aller Regel auch in Deutschland, zwischen primären und sekundären, direkten und indirekten, erheblichen oder marginalen, religiösen und säkularisierten, kulturellen, zivilreligiösen Zielen und Konsequenzen zu unterscheiden und, wenn man will, gewisse Relativierungen einzubauen. Das heißt: Die einschlägigen Normen erlauben, je nach politischer und richterlicher Wahl, ein Mehr oder Weniger an Distanz und eine gewisse Relativierung von Neutralität, soweit auf der Regulierungsseite grundsätzlich verfassungsrechtlich legitime Gründe vorliegen. Zählt dazu die traditionelle, hier: christliche Prägung, in anderen Ländern: etwa eine islamische Prägung? In den USA wird dies von Akkommodisten bejaht. So sehen es auch die Vertreter von Kooperation in beiden Ländern, allerdings unter Einschränkungen: Die Kernbereiche und Kernfunktionen von Staat und Religion/Kirche müssen getrennt sein. Das ist eine Zwei-Reiche-Lehre, die selbst noch im Modell formeller Einheit von Staat und Kirche geachtet wird, jedenfalls partiell. Aber außerhalb des Kernbereichs von weltlichem Wohl und geistigem Heil samt der dafür zuständigen Organisationen sind zur Wahrung der Aufbauverhältnisse von Religion-Moral-Recht und wegen der produktiven Funktionen von Religionen auch für säkulare Anliegen etwa im kariin greater purity, without than with the aid of Government.‘ … When the government favors a particular religion or sect, the disadvantage to all others is obvious, but even the favored religion may fear being ,tainted … with a corrosive secularism‘ …The favored religion may be compromised as political figures reshape the religion’s beliefs for their own purposes; it may be reformed as government largesse brings government regulation. Keeping religion in the hands of private groups minimizes state intrusion on religious choice and best enables each religion to ,flourish according to the zeal of its adherents and the appeal of its dogma‘.“ Es ist allerdings möglich, das Distanzmoment im Trennungsmodell sozusagen durch strikte Gleichbehandlung zu relativieren. Dann ist es z. B. verfassungsgemäß, das Kreuz in einer staatlichen Schule aufzuhängen – soweit alle anderen in der Klasse/Schule vorfindlichen Religionen ebenfalls mit ihren Symbolen repräsentiert sind. So etwa St. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 235 ff. und in These 20, S. 681 f. In dieser Sichtweise dominiert der Gedanke von Neutralität/Gleichheit die Freiheits- und Trennungsdimension von Distanz.

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§ 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche

tativen und sozialen Bereich Annäherungen zulässig, soweit kein ernsthafter Zwang oder keine erhebliche Diskriminierung vorliegt und keine neuen „Religionskriege“ oder sonstige ernsthafte Zwiste zu fürchten sind.104 Wer diese Sicht für plausibel hält, für den liegen in den folgenden Punkten Hinweise für verfassungsrechtlich noch akzeptable Annäherungen zwischen Staat und Kirche/Religion bzw. Abschwächungen von Gleichheit und Neutralität105: Säkularisierung religiöser Symbole; Ausbreitung einer Religion in das zivilreligiöse, sittliche Fundament eines Volkes; traditionelle Bevorzugung der prägenden Religion bei Festen oder in Feiertagsregelungen106 ; „schwache“ statt „starke“ Unterstützungen; passive Darstellung statt aktiver Benutzung, gar unter Zwang; Unterscheidung Kinder/Jugendliche-Erwachsene.107 Wer diese Sicht nicht für plausibel hält, für den sind auch schon geringe Annäherungen, Identifikationen oder Förderungen von Religion an sich oder gar einer bestimmten Religion verfassungsrechtlich verdächtig, ja eigentlich verfassungswidrig. Eines ist jedenfalls festzuhalten: Die „entgegenkommende“ und die „kooperative“ Scheidungssicht sind nicht imperial auf die Verbreitung des Christentums weltweit bezogen. Die hier vorgestellten Beispiels- und Streitfälle sind verallgemeinerungsfähig: auf alle Gemeinwesen, die wirklich stark und geschichtsmächtig durch eine partikulare Glaubensrichtung geprägt worden und die heutzutage mit Forderungen konfrontiert sind, vom materialen Einheitsmodell von Staat und Kirche zum formellen Einheitsmodell überzugehen oder gar sich in eine grundsätzliche Scheidung der beiden Bereiche hineinzuwagen.108 104 Ob „Trennung“, „Akkommodation“ oder „Kooperation“ von Staat und Kirche eher zu Frieden oder Krieg führt, ist eine Kontextfrage. Das hängt von kontingenten Randbedingungen ab, die in jedem Land unterschiedlich sein können und die faktisch z. B. auch davon abhängen, ob in der Kommunikationskultur eines Landes die eine oder andere Version des Staat-KircheVerhältnisses als unzumutbar und Anlass für Widerstand „verkauft“ werden kann. 105 „Verfassungsrechtlich noch akzeptabel“ ist natürlich zu unterscheiden von „bester Verfassungspolitik“, die der Gesetzgeber betreiben sollte. Soweit deren Ziel „Integration“ ist, kann dieser Begriff religionspolitisch eher auf Bewahrung bisheriger Aufbauverhältnisse von (etwa traditionell verbreiteter) Religion oder aber auf die stärkere Einbeziehung neuer (vor allem Minderheits-)Religionen abzielen. Der Integrationsbegriff spiegelt also die im Text dargestellten Spannungen zwischen den einzelnen Scheidungsmodellen wider. 106 Je nach Sichtweise wird dies auch für Berufungen auf „Gott“ in Präambeln gelten, wie sie im Grundgesetz und vielen deutschen Landesverfassungen zu finden sind. Auch diese kann man eher als „Erinnerung“ oder „Unterstützung“, als allgemeinen Hinweis auf einen „Gattungsgott“ (Fn. 64) oder gar „Transzendenz allgemein“ oder aber als bezogen auf den christlichen Gott ansehen, usw. Siehe dazu die Darstellung bei Horst Dreier, in: ders., Komm. zum Grundgesetz, 2. Auflage 2004, Präambel Rn. 15, 25 ff. 107 Letzteres ist hier nicht ausdrücklich erörtert worden, gehört aber zum Arsenal der Argumente besonders in den Schulfällen: Sollten Schüler vor religiöser Beeinflussung besonders geschützt oder ihr gegenüber gerade zur Offenheit aufgefordert werden? Anhänger strikter Trennung vertreten ersteres, solche von Kooperation vertreten letzteres, wie insbesondere die deutsche Regelung in Art. 7 Abs. 3 GG deutlich macht: Religion als Lehrfach in der staatlichen Schule, auf freiwilliger Grundlage. 108 Siehe den Hinweis oben Fn. 44.

V. Rücksichtnahme auf prägende religiöse Landschaft

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Letztlich werden in der Entscheidung dieser Fragen Motive wirksam, die aus der allgemeinen Demokratiediskussion bekannt sind. Dass in der Demokratie Mehrheiten zunächst einmal gewinnen müssen, ist allgemein akzeptiert. Aber ob man in den Mehrheiten instinktiv ein Mehr an Unterdrückung oder einen Gewinn an Gemeinwohl sieht, ist damit nicht entschieden.109 Wer Mehrheit vor allem mit einer Tyrannei der Majorität in Verbindung bringt, wird grundrechtlich und verfassungsgerichtlich für eine Ausdehnung von Minderheitenrechten eintreten. Umgekehrt sind die Auffassungen und Beweislasten bei Befürwortern der Mehrheitssicht: Diese repräsentiert erst einmal die Vermutung der Vernünftigkeit, die nicht durch jedes marginale Verdachtsmoment zunichte gemacht werden kann. Auf Staat-Kirche-Probleme bezogen: Vertreter der minderheitenorientierten „religionsverfassungsrechtlichen“ Sicht werden eine Maximierung von individuellen und kollektiven Freiheits- und Gleichheitsrechten auf Kosten des majoritätsgeprägten Staatskirchenrechts einfordern, ob letzteres nun religionsnah, also bei uns „christlich“, oder religionsfern, also „laizistisch“ ist. Wer umgekehrt in Mehrheitstraditionen und im Staatskirchenrecht tendenziell „geronnene geschichtliche Vernunft“, passenden Ausgleich zwischen Bewahrung und Innovation, Wahrheitsansprüchen und Friedenswahrung sieht, wird im Nähemodell politische und rechtliche Bezugnahmen und „schwache“ Unterstützungen solcher Traditionen, selbst religiöser Art, als sinnvoll, zumindest vertretbar ansehen, soweit harter Zwang und schlimme Diskriminierung vermieden werden. Anders im Fernemodell: Dort wird wegen der Befürchtung, maximierte Religionsfreiheit könnte zu Zwang und Diskriminierung durch eine religionsdominierte Politik führen, organisatorisch gerade eine strikte Trennung und eine deutliche Distanz zwischen Staat und Religion/Kirche festgelegt.

109 Zu diesen Unterschieden siehe Winfried Brugger , Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, in: ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, S. 253, 258 ff.

§ 5 Kants System der Redefreiheit I. Unstreitiges und Streitiges bei der Redefreiheit In liberalen Staaten ist anerkannt, dass die Redefreiheit grundrechtlich garantiert sein muss, um auch, ja gerade von vorherrschenden Auffassungen abweichende Meinungen zu schützen. Menschenrechtskonventionen ergänzen diesen nationalstaatlichen Schutz kommunikativer Freiheit auf der internationalen Ebene. Zudem wird die Redefreiheit weithin als ein besonders wichtiges Grund- und Menschenrecht eingeordnet. Für die USA, wo „freedom of speech“ nicht nur das erste Grundrecht der Bill of Rights ist, sondern zudem noch ohne Einschränkungsvorbehalt garantiert wird, ist das ganz unbestritten.1 Aber auch in Deutschland gilt dem Grundsatz nach nichts anderes, wie das Lüth-Urteil des BVerfG durch Verweis auf ein Zitat des USRichters Cardozo deutlich macht: Die Meinungsfreiheit „ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ,the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom‘.“2 Ähnliches gilt für die Europäische Menschenrechtskonvention. Dort ist die Meinungsfreiheit in Art. 10 geschützt und jede Art von Einschränkung muss sich anhand des Kriteriums der Verträglichkeit mit einer pluralistischen Demokratie rechtfertigen lassen.3 Ob nun mit oder ohne Schrankenvorbehalt textlich garantiert, immer gilt: Für Einschränkungen von freier Rede sind besonders starke Gründe notwendig, und wenn die staatliche Gewalt per „Sonderrecht“ gerade gegen „Meinung“ oder gar eine bestimmte Meinung vorgehen, also bestimmte Ansichten favorisieren, andere unterdrücken will, liegt Verfassungswidrigkeit nahe.4 1 Klassiker hierzu: Edmond Cahn, The Firstness of the First Amendment, 65 Yale L.J. 464 (1956), nachgedruckt in ders.: Confronting Injustice, 1966, S. 86 ff. s. hierzu auch rechtsvergleichend Edward J. Eberle, Dignity and Liberty. Constitutional Visions in Germany and the United States, Westport/Conn. 2002, Kap. VII. 2 BVerfGE 7, 198 (208). 3 Siehe etwa EGMR (Große Kammer), Urteil vom 17. 12. 2004, Pedersen u. Baadsgaard/ Dänemark, Nr. 71, NJW 2006, S. 1645 ff. 4 Der Staat muss sich, wie Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zeigt (keine Benachteiligung wegen der „politischen Anschauungen“), neutral verhalten. Tut er dies nicht, liegt „government favoritism“ vor. Solcher ist, wie man in den USA umgangssprachlich, aber in der Sache treffend sagt, eine Todsünde, mit großer Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. Siehe Kathleen Sullivan, Freedom of Expression in the United States. Past and Present, in: Thomas R. Hensley (ed.), The Boundaries of Freedom of Expression and Order in American Democracy, Kent/ Ohio 2001, S. 1 (9): „[V]iewpoint discrimination by the government is the cardinal First Amendment sin, all the more when it is directed against political dissent … Under this approach, one may express

I. Unstreitiges und Streitiges bei der Redefreiheit

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Trotz dieses verfassungsrechtlichen Bollwerks und der liberalen Anerkennung abweichender Ansichten sind Art und Umfang der Redefreiheit immer wieder und in neuerer Zeit immer mehr umstritten, wie die Auseinandersetzungen um Hassrede oder um Ehren- und Religionsschutz gegen heftige Kritik und beißende Satire zeigen.5 Angesichts dieser Lage bietet sich zur Einschätzung der Rolle von Redefreiheit im gesellschaftlichen und politischen Leben ein Blick auf die liberalen Klassiker der Redefreiheit an, von denen Immanuel Kant und John Stuart Mill die zwei prominentesten sind. John Stuart Mills Beitrag in Kap. II seiner Abhandlung „Über die Freiheit“ von 1859 ist allseits bekannt und in Rechtsphilosophie und Staatstheorie vielfach analysiert worden.6 Immanuel Kants Beitrag zur Redefreiheit dagegen wird zwar vielfach hervorgehoben, bislang jedoch meistens als einheitliche Konzeption analysiert. Das zeigt sich daran, dass Kants Leitbegriffe von der Freiheit der Feder als Palladium der Volksrechte oder von der Publizität aller Normen als Legitimationskriterium öffentlicher Gewalt oder von der Gedankenfreiheit als Bedingung von Mündigkeit zwar oft zitiert werden, aber eben als Ausdruck des gleichen, uniformen Prinzips von gegenseitigem Freiheitsschutz gelten. So richtig das ist, tendiert diese Sichtweise doch dazu, wichtige Binnenunterscheidungen der Kantischen Theorie von Kommunikationsfreiheit zu übersehen. Bei Kant lässt sich eine explizite Dreiany idea one wants as long as it remains on the side of the mind/body line, no matter how unpatriotic and no matter how far beyond the pale it might seem in civilized society.“ 5 Im Frühjahr 2006 erhob sich ein (zum Teil staatlich gelenkter) Sturm der Entrüstung in der islamischen Welt gegen abfällige Mohammed-Karikaturen in der dänischen Presse. Ende Juni forderte Edmund Stoiber, der Ministerpräsident von Bayern, früher einsetzende Bestrafungen von Gotteslästerung im Rahmen des § 166 StGB, der bislang mit Rücksicht auf die Rolle von Meinungs- und Kunstfreiheit nur zurückhaltend eingesetzt wird. Siehe dazu die Nachweise bei Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, § 17. 6 Siehe die Zusammenfassung dieses Kapitels von Mills Über Freiheit, Ausgabe von Borries, 1969, S. 64 f., wonach „das geistige Wohlergehen der Menschheit“ „aus vier bestimmten Gründen notwendig ist“: „Erstens: Wenn irgendeine Meinung zum Schweigen gezwungen ist, kann diese Meinung, soviel wir mit Sicherheit wissen können, wahr sein. Das leugnen, heißt, unsere eigene Unfehlbarkeit annehmen. Zweitens: Wenn die zum Schweigen verurteilte Meinung ein Irrtum ist, kann sie doch, und tut das sehr häufig, einen Teil Wahrheit enthalten. Und da die allgemeine oder vorherrschende Meinung über irgendeinen Gegenstand selten oder niemals die ganze Wahrheit ist, hat der Rest der Wahrheit nur durch den Zusammenstoß entgegengesetzter Meinungen eine Chance, zur Geltung zu kommen. Drittens: Sogar wenn die als gültig anerkannte Meinung nicht nur wahr, sondern die ganze Wahrheit ist, werden die meisten derer, die sie annehmen, sie in der Art eines Vorurteils besitzen, mit geringem Verständnis oder Gefühl für ihre vernünftigen Gründe, falls sie es nicht erträgt, heftig und ernsthaft angefochten zu werden, und tatsächlich angefochten wird. Und nicht nur dies, sondern – viertens – der Sinn der Lehre selbst gerät in Gefahr, verloren oder geschwächt und seiner lebendigen Wirkung auf den Charakter und das Verhalten beraubt zu werden: das Dogma wird zum bloßen formalen Bekenntnis, das unfähig ist, Gutes zu wirken, aber eine innere Belastung darstellt und das Wachsen jeder wirklichen und tief empfundenen Überzeugung aus Vernunft oder persönlicher Erfahrung verhindert.“ Die Nähe dieses Ansatzes zu kantischen Ideen wird bei Norbert Hinske, Pluralismus und Publikationsfreiheit im Denken Kants, in: Johannes Schwartländer/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit. Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA; 1986, S. 31 ff., zusammenfassend S. 48 f., deutlich.

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§ 5 Kants System der Redefreiheit

Ebenen-Theorie von Redearten und implizit eine zweistufige Funktionsanalyse von Redefreiheit finden, die ein weit differenzierteres und zudem noch höchst aktuelles Bild von Redefreiheit bieten. Dieses Redefreiheitstableau kann erhellend als Folie zur Einschätzung positivrechtlicher Regelungen auf Schutz- wie Schrankenseite von kommunikativer Freiheit dienen.7

II. Funktionen von Redefreiheit Warum die Redefreiheit als besonders wichtiges Grundrecht gilt, ist am besten durch eine Funktionsanalyse zu erklären, die einen zweiteiligen8 bzw., bei näherem Hinsehen, einen vierteiligen Charakter hat. 1. Zunächst sollte man die Redefreiheit vom Redner aus betrachten: Wird sein Wunsch zur Äußerung im Vorfeld behindert, etwa durch Zensur, oder nachträglich bestraft, etwa wegen Beleidigung, kommt es zu einer Beeinträchtigung seiner expressiven Freiheit. Redefreiheitsgarantien bezwecken den Schutz menschlicher Autonomie in gegenseitiger Kommunikation. Im Rahmen einer sprecherautonomen Betrachtungsweise sind die Interessen der Hörer der Rede – der unmittelbar Angesprochenen oder des allgemeinen Publikums – ausgeblendet. Bei dieser isolationistischen Sicht sollte eine Analyse von Redefreiheit allerdings nicht stehenbleiben. Werden die Interessen der Hörer eingeblendet, so steht diesen natürlich aktiv auch ein Rederecht zu, und reaktiv können sie ein Gegenrederecht geltend machen, gar in Form eines „Rechts zum Gegenschlag“9. Das Hörer-Rede-Recht ist zunächst einmal ein solches formaler Gleichheit; das Recht stellt es dem Publikum frei, auf Rede Gegenrede folgen zu lassen, fördert oder erwartet oder erzwingt dies aber nicht.

7 Ich bin hierbei von Peter Niesen, Kants Theorie der Redefreiheit, 2005, inspiriert worden, der ausführlichere Nachweise zu dieser Drei-Stufen-Theorie enthält, als ich sie hier darlegen kann. Sehr informativ ist auch der Aufsatz von Hinske (Fn. 6). 8 Hierzu einprägsam schon die oben Fn. 2 zitierte Lüth-Entscheidung mit einer Formulierung, die in ständiger Rspr. wiederholt wird, ebd., 208: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt (un des droits les plus précieux de l’homme nach Art. 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist …“. Siehe etwa auch BVerfGE 82, 272 (281): „Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die Meinungsfreiheit sowohl im Interesse der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen, mit der sie eng verbunden ist, als auch im Interesse des demokratischen Prozesses, für den sie konstitutive Bedeutung hat.“ Zu diesen Funktionsanalysen auch Winfried Brugger, Neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur Redefreiheit, FS Helmut Steinberger, 2002, S. 681 (682 ff.); ders., Freiheit der Meinung und Organisation der Meinungsfreiheit, EuGRZ 1987, S. 189 (197 ff.). 9 Siehe BVerfGE 12, 113 (132); 54, 129 (138).

II. Funktionen von Redefreiheit

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Sprecher wie Hörer als mögliche Gegenredner scheinen sozusagen als isolierte Autonomie- und Kommunikationsträger auf. Ein Schritt von formaler Rechtsgleichheit zu materialer Rechtsgleichheit liegt vor, wenn die Kommunikationsverhältnisse auf beiden Seiten auf ihre Gleichgewichtigkeit oder auf ihre Chancengleichheit untersucht werden und bei Asymmetrie von staatlicher Seite aus Ausgleichsmaßnahmen folgen, um den Wert der Freiheit und gleichen Teilhabe an Kommunikation im Recht auf Gleichheit zu verstärken.10 Dann dient das Prinzip sozialer Gerechtigkeit bzw. das Sozialstaatsprinzip nicht mehr nur zur rein finanziellen Stärkung von Armen, Schwachen und Unterdrückten, sondern zu deren kommunikativer Stärkung durch positive Maßnahmen, etwa durch Subventionierung von Minderheitspublikationen11, oder es führt zu negativen Ausgrenzungen, etwa zu Abschreckung oder Verbot aggressiver Rede gegen diese Minderheiten.12 2. Außer nach der formalen und materialen Gegenseitigkeit der Autonomieposition in sozialer Kommunikation lässt sich auch danach fragen, ob die Rede für den oder die anderen, die Gesellschaft im allgemeinen oder das politische System im besonderen13 positive oder negative Effekte hat, zur Optimierung oder Gefährdung 10

Näher hierzu John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Taschenbuchausgabe 1975, Nr. 32. Der Wert der Freiheit wird nach Rawls beeinträchtigt bei „Unfähigkeit, von Rechten und Möglichkeiten Gebrauch zu machen, etwa wegen Armut, Unwissenheit oder sonstigen Mängeln“ (S. 232). 11 Angedeutet vom BVerfG jedenfalls für den Fall drohender Verzerrungen des Kommunikationsprozesses in BVerfGE 20,162 (176): Es ließe sich im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 GG „an eine Pflicht des Staates denken, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten“. 12 Diese beiden unterschiedlichen Autonomiekonzeptionen habe ich in meinem Aufsatz „Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Ein Streit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland“, JöR N.F. 52 (2003), S. 513 ff., in den Abschnitten III und IV ausführlich beschrieben. Die formale Sicht ist die in den USA herrschende Position, die materiale Position stellt die Minderheitsansicht in den USA und tendenziell die h.M. in Deutschland dar. 13 Die Leistung der Redefreiheit für die Einrichtung und Kontrolle demokratischer (wie auch jeder sonstigen Art von) Herrschaft wird besonders von der „republikanischen Tradition“ der Redefreiheitsphilosophien hervorgehoben. Siehe exemplarisch Alexander Meiklejohn, Free Speech and Its Relation to Self-Government, 1948, ferner oben Fn. 8 zu BVerfGE 82, 272 (281). Ein Analogon in Deutschland bildet die „demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie“. Siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, Kap. „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“, S. 221 (235 ff.). Das Lernargument braucht aber nicht auf Politik beschränkt zu werden. Im gesamten klassischen Liberalismus war dieses Argument noch auf die Gesellschaft (den Markt) bezogen. Schließlich bedarf es auch für individuelle Persönlichkeitsentfaltung des Lernens über das Hören möglicher Lebensentwürfe. Je nachdem, welche Ebene besonders betont wird, wird dort ein Plus an Schutz legitimiert, dem gegenüber die anderen Lernebenen ein Minus haben. So wird in der „republikanischen Tradition“, die in vielen Staaten vorherrscht, politische Rede privilegiert, ökonomische Rede dagegen (etwas) schwächer geschützt. Das sind kontingente Einschätzungen, die auch anders getroffen werden könnten, weil das Lern- und Optimierungsargument eben weiter gefasst ist, im Grunde auf alle

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§ 5 Kants System der Redefreiheit

der Entscheidungsbildung beiträgt. So ist es etwa plausibel zu unterstellen, dass die Mitteilung von – wahren – Tatsachen einen Lerneffekt herbeiführt, für den Einzelnen, soziale Kollektive oder das System der Demokratie. Für falsche Behauptungen trifft dies in der Regel nicht zu, und bei zweifelhaften Behauptungen hängt vieles davon ab, ob man einer Vermutungsregel „im Zweifel lieber mehr als weniger Rede“ oder aber „im Zweifel für staatliche Kontrolle“ etwa über Sorgfalts- oder Darlegungspflichten folgt.14 Bei normativen Urteilen über die Qualität von bestehenden oder vorgeschlagenen Rechtsregeln anhand der Kategorien gut/schlecht oder gerecht/ungerecht wird man den Lerneffekt nicht anhand eines feststehenden und – im idealen Fall – abfragbaren Datums (wie bei der Korrektheit einer Tatsachenaussage) feststellen können15, sondern der Prozess der Auseinandersetzung um diese Kategorien wird selbst zu deren Klärung beitragen müssen: Wertungen etwa über (Un-)Gerechtigkeit sind menschliche Konstrukte, die aus realen Problemen entstehen und anhand der konkreten Erfahrungen und Beurteilungen dann erfolgreich (oder auch nicht) in die Leitbegriffe übertragen und als „funded experience“16 dort gespeichert werden müssen; Gleiches gilt für identitätsbezogene „gute“ oder „schlechte“ Erfahrungen. Schließlich tritt bei der Optimierungsebene von Redefreiheit ein zweifaches institutionelles Beurteilungsproblem auf. Bei der materialen Autonomieebene geht es um die Beurteilung der Frage, wann denn ein „ausgeglichenes, faires“ Verhältnis beidseitiger Redechancen besteht und welche Rechtsorgane dies zu beurteilen und erforderlichenfalls zu korrigieren haben.17 Bei der folgenorientierten Optimierungsebene müssen ebenfalls Rechtsorgane einschätzen, welche Konsequenzen Ebenen zielt, bei denen Urteile und Entscheidungen kontingent aus einer Mehrzahl von Möglichkeiten getroffen werden müssen. 14 Ersteres ist die Linie der US-Verfassungsrechtswissenschaft, Letzteres jedenfalls tendenziell die deutsche Position. Siehe dazu meinen schon oben Fn. 12 zitierten Artikel. 15 Deswegen bezeichnen die Verfassungsgerichte solche normativen Evaluationen nicht als wahrheitsfähig; wahrheits- bzw. widerlegungsfähig sind nur Tatsachenbehauptungen. Siehe exemplarisch BVerfGE 90, 1 (14 f.): „Werturteile sind … geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, emotional oder rational ist“, m.w.N. Dagegen gilt: „Soweit unrichtige Tatsachenbehauptungen nicht schon von vornherein außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verbleiben, sind sie Einschränkungen aufgrund von allgemeinen Gesetzen leichter zugänglich als das Äußern einer Meinung“: BVerfGE 61, 1 (8). 16 Hierzu näher Philip Selznick, The Moral Commonwealth, Berkeley 1992, S. 37, 40, 129, 289, 403. 17 Selbst wenn man diese sozialstaatliche Konzeption von Meinungsfreiheit als vorzugswürdig ansieht, liegt die Gefahr doch auf der Hand: Soll man wirklich, statt sich die Meinungen zu allen möglichen Problemen von unten nach oben, von Gesellschaft zum Staat bilden zu lassen, auf von Mehrheiten betriebene staatliche Interventionen setzen, die ihrerseits oft ihre partikularen Interessen verfolgen, also „Partei“ und nicht „neutraler Schiedsrichter“ sind? Und wie unterscheidet man diejenigen Meinungen, die „zu Recht“ Minderheitsmeinungen sind, von solchen, die Förderung verdienen? Droht hier nicht staatlicher Paternalismus über jeweilige Mehrheitsmeinungen, gegen die doch gerade die Meinungsfreiheit schützen soll?

II. Funktionen von Redefreiheit

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(möglicherweise, wahrscheinlicherweise, sicher?) eintreten und ob diese Konsequenzen förderlich (Argument für Schutz) oder schädlich (Argument für Regulierung oder Verbot) sind, für wen der Effekt eintritt (unmittelbarer Adressat, Publikum im Allgemeinen, ein bestimmtes System – die Demokratie, der Markt), ab welchem Gewissheitsgrad an Schaden bzw. ab welchem Eingriffsgrad welcher staatliche Eingriff (Regulierung oder Verbot der Botschaft selbst oder deren Form) gerechtfertigt ist und wer dafür letztlich zuständig ist: der Gesetzgeber oder das Verfassungsgericht. Führt man sich diese Beziehungen vor Augen, kann man zwei Konzeptionen von gegenseitiger Kommunikationsfreiheit mit interner Binnendifferenzierung erkennen: (1 a) Die formal-autonome Konzeption von Redefreiheit, die nur an der rechtlich gesicherten Äußerung des Redners und Gegenredners, ja aller möglichen Redner ansetzt. Was immer der Sprecher äußert, seine Äußerung ist stark, ja besonders stark zu schützen, weil sie Ausdruck seiner unverwechselbaren und unauswechselbaren Persönlichkeit und Würde ist. Autonomie, so verstanden, setzt die Betonung mehr auf expressive Selbstsetzung und Artikulation als auf gegenseitig verträgliche und annehmbare Kommunikation. (1 b) Die material-autonome Position, die bei Ungleichgewichten und Asymmetrien kommunikativer Macht zwischen Sprecher und Hörer aus Gleichheitsgesichtspunkten für einen Ausgleich sorgt, damit das Recht der Autonomie auf beiden Seiten nicht nur formal existiert, sondern der Wert des Rechts auf kommunikative Autonomie auf beiden Seiten zur Geltung kommt. In beiden Varianten wird zunächst von der Wirkung des Inhalts der Meinung abstrahiert; die Meinungen des Redners wie des Gegenredners bzw. aller Redner stehen sozusagen allein für sich, als schutzwürdige Ausdrücke der jeweiligen Persönlichkeiten. (2) Die konsequentialistische, lernorientierte Position, die (a) enger, „republikanisch“, vorrangig auf das politische System, die Demokratie, abstellt, oder (b) extensiver gleichgewichtiges Lernen im Privaten, Gesellschaftlichen und Politischen ermöglichen will. Innerhalb beider Konzeptionen ist zwischen förderlichen und schädlichen Konsequenzen sowie zwischen politischen und gerichtlichen Kompetenzen zu solcher Beurteilung zu unterscheiden, samt den daraus folgenden unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen einer Stärkung oder Schwächung geschützter Rede. Für das Verhältnis der beiden Funktionsebenen schließt sich die Frage an, ob die einzelnen Funktionsleistungen der Redefreiheit (1) sich gegenseitig verstärken, was zu besonders starkem Schutz führt: verfassungsrechtliche „speech plus“, (2) sich indifferent zueinander verhalten, was ein Argument für starken Schutz der Rede ist: „speech“, (3) in Spannung oder gar in Widerspruch zueinander stehen, was Vorrangprobleme mit sich bringt und tendenziell zu verfassungsrechtlicher „speech minus“18 führt: zu leichter regelbarer oder gar verbietbarer Rede oder im Grenzfall zu

18 Die drei englischen Ausdrücke habe ich aus der US-Diskussion bezogen, wo „speech plus“ allerdings oft für symbolische Rede (Flaggenverbrennen etc.) eingesetzt wird. Hier ist erhöhter rechtlicher Schutz gemeint.

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„non-speech“, rechtlich nicht-geschützter Rede.19 Man kann statt der dreistufigen auch eine zweistufige Abgrenzung treffen: hochwertige gegenüber minder- oder geringerwertiger Rede („high-value versus low value speech“20). Dogmatisch umgesetzt werden diese unterschiedlichen Schutzstufen dann über die übliche Ausgliederung des juristischen Prüfprogramms in „Schutzbereich“, „Eingriff“ und diesen eventuell rechtfertigende „Schranken“. Nach diesen ersten Unterscheidungen kann nun Kants System der Redefreiheit21 vorgestellt werden, das aus drei Redearten und Rederechten besteht: einem Menschenrecht auf Mitteilungsfreiheit (III.), einem Bürgerrecht auf politische Redefreiheit (IV.) und einem Weltbürgerrecht auf einen freien öffentlichen Vernunftgebrauch (V.). Diesen drei Kommunikationsrechten entsprechen drei unterschiedliche Mündigkeitskonzeptionen: die Rechtsmündigkeit (III.), die Wahlmündigkeit (IV.) und die aufgeklärte Mündigkeit (V.).22

III. Das Menschenrecht auf Mitteilungsfreiheit Die Mitteilungsfreiheit ist nach Kant ein angeborenes Recht und basiert auf der Freiheit vor der Nötigung durch andere, sprich der gegenseitig verträglichen Freiheitsausübung als Grundprinzip des Rechts und seiner Aufgabe des Schutzes menschlicher Autonomie. „Die angeborne Gleichheit, d.i. die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines unbescholtenen Menschen (iusti), weil er vor allem rechtlichen Act keinem Unrecht gethan hat; endlich auch die Befugniß, das gegen andere zu thun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; dergleichen ist, ihnen bloß seine Gedanken mitzutheilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig …, weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht … alle diese Befugnisse liegen schon im Prinzip der angebornen Freiheit und 19 Siehe die exemplarische Diskussion dieser Ebenen in R.A.V. v. City of St. Paul, 505 U.S. 377, 382 ff., 399 ff., 417 ff. (1992). 20 Auch diese Ausdrücke stammen aus der US-Diskussion, siehe die Nachweise in der vorherigen Fn. Der Sache nach finden sich die Kategorien in allen modernen Verfassungen und Menschenrechtspakten. 21 Kants Schriften werden, soweit nicht anders vermerkt, nach der Preußischen AkademieTextausgabe (AA), Berlin 1968, im Text unter den folgenden Abkürzungen zitiert: MS: Metaphysik der Sitten; Gem.: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; Streit: Der Streit der Fakultäten; Aufkl.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?; ZeF: Zum ewigen Frieden; KpV: Kritik der praktischen Vernunft; KdU: Kritik der Urteilskraft. 22 Die Darstellung folgt weitgehend Niesen (Fn. 7), S. 23 ff., 251 ff. Siehe auch die Tabelle im Anhang.

III. Das Menschenrecht auf Mitteilungsfreiheit

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sind wirklich von ihr nicht (als Glieder der Eintheilung unter einem höheren Rechtsbegriff) unterschieden“ (MS, AA VI 237 f.). Diese Mitteilungsfreiheit ist inhaltlich umfänglich, sie deckt alle möglichen Ausdrucksformen ab, gegenständlich umfasst sie Politisches und Privates, Rationales und Emotionales, Verallgemeinerungsfähiges und Nicht-Verallgemeinerungsfähiges – was immer einem auf der Zunge liegt.23 Sie ist Ausdruck menschlicher Kommunikationsfähigkeit, der individuellen Befindlichkeit und des Lebensplans des Redners. Redenkönnen ist wie Sichbewegenkönnen oder sich auf andere unverbindlich oder verbindlich (Versprechen, Vertrag) Einlassenkönnen für Kant eine natürliche, angeborene Freiheit. Sie folgt aus der doppelten Entbindung des Menschen von instinktueller tierischer Willkür einerseits und von heteronomer menschlicher Willkür in individueller oder organisierter Form andererseits; so werden Wahlfreiheit und eigenes Glücksstreben sowie die Möglichkeit und der Rechtsanspruch auf individuelle Zwecktätigkeit freigesetzt. Niemand soll dem Menschen vorschreiben, wie er glücklich werden soll; seine Urteile darüber sind höchstpersönlich, nicht einer Vertretung zugänglich; deshalb ist eines jeden Menschen praktische Freiheit zu schützen, in Realhandlungen wie Sprechhandlungen. Wo ergeben sich Grenzen für die Mitteilungsfreiheit bei einer solch weiten Schutzbereichsbestimmung? Einer ersten Begrenzung ist die Äußerungsfreiheit dort zugänglich, wo die Gegenseitigkeitsstruktur von Rechtsmündigkeit als Anspruch auf Autonomie auf beiden Seiten bedroht wird. Wo die Rechtsmündigkeit der Angesprochenen nicht vorausgesetzt werden kann, wo ihnen die eigene Zwecksetzungsfähigkeit abgeht, sie also zu der Botschaft der Mitteilung nicht informiert und i.d.S. autonom „ja“ oder „nein“ sagen können, ist eine Einschränkung möglich und je nach Staatsverständnis auch geboten. Das trifft etwa zu bei Mitteilungen und Ansichten, die über Druck, Drohung, Ausbeutung, Manipulation oder unter Ausnutzung der Schwäche oder Minderjährigkeit des Adressaten ihre Wirkung entfalten.24 Bei all diesen Fällen fehlt es in Kants Worten an der realen Möglichkeit für die Hörer, sich des kommunikativ Angesonnenen entweder „annehmen“ oder nicht annehmen zu können. Bemerkenswert ist, dass Kant die beidseitige Autonomie von Sprecher und Hörer konsequentialistisch koppelt: Die Botschaft soll ankommen und Wirkung entfalten beim Hörer.25 Mögliche schädliche Auswirkungen sind so lange irrelevant, 23 Sie umfasst also, verfassungsrechtlich gesprochen, den gesamten weiten Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Dazu schon oben Fn. 15. 24 Dazu gehören im positiven Recht etwa Regelungen der Anfechtung von Willenserklärungen bei Täuschung oder Regelungen zum Jugendschutz. Siehe auch § 138 Abs. 2 BGB, wonach insbesondere ein Rechtsgeschäft nichtig ist, „durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen“ Vorteile bekommt, „die in einem auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung stehen“. 25 Das ist in der Rechtsprechung der Gerichte auch anerkannt. Siehe z. B. BVerfGE 7, 198 Leitsatz 6: „Das Grundrecht des Art. 5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.“

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wie der Hörer einigermaßen informiert, autonom sich selbst in seinem Verhalten und Argumentieren darauf einstellen kann. Es wird die „integrity of thought processes“ geschützt, und zwar nach Kant bis zur Lüge des Sprechers, solange der Schaden des Hörers nur auf seiner Leichtgläubigkeit beruht und er sich etwa sozial lächerlich macht; anders ist es nach Kant, wenn durch eine Lüge ein Schaden eingetreten ist, der „einem anderen unmittelbar an seinem Rechte Abbruch thut“ (MS, AA VI 238 Anm.)26, wie etwa bei einem durch Täuschung herbeigeführten Vertragsabschluss.27 Kant sieht die Unbescholtenheit der Menschen als Gegenrecht zur Mitteilungsfreiheit, woraus eine Gleichgewichtigkeit des Ehrenschutzes resultiert.28 Anders als bei einer physischen Verletzung fließt bei einer Beleidigung oder Verleumdung zwar kein Blut; der Angegriffene kann aber sehr wohl „innere Verletzungen“ erleiden.29 Ebenso wichtig wie der innere Schmerz30 ist der soziale Schaden, der durch Minderung oder Leugnung der Unbescholtenheit von Menschen eintreten kann. Der gute Ruf ist schließlich in der Regel kein Zufall, sondern hart erarbeitet und auch unentbehrlich zur sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Anerkennung. Die gegenseitige Anerkennung der Unbescholtenheit und somit die Ausschaltung von übler Nachrede ist nach Kant ein gegenseitiges Respektierungsbündnis, das wir uns bis zum Beweis des Gegenteils – und sogar über den Tod hinaus – schulden.31 Jede andere Sichtweise müsste im Mitmenschen erst einmal einen Schurken oder Betrüger

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Siehe auch ebd. 429 f. und 466 zur Üblen Nachrede. Zum Prinzip der „integrity of thought processes“ siehe Christina E. Wells, Reinvigorating Autonomy: Freedom and Responsibility in the Supreme Court’s First Amendment Jurisprudence, Harv.C.R.-C.L.Rev. 32 (1997), S. 159 (169). Wells sieht diesen Kantischen Gedanken in vielen Teilen der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court anerkannt. Vgl. zusammenfassend S. 194: „As a legal matter, we can and should regulate vicious and hateful speech when it amounts to an invasion of our thought processes. Such circumstances might include imposing punishment on hate speech when it falls within the rubric of fighting words, incitement to riot, intentional infliction of emotional distress and intimidation.“ 28 In diesem Sinne kann man auch das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Schutz der persönlichen Ehre in Art. 5 Abs. 1 und 2 GG sehen. Die in der folgenden Fn. genannten Autoren werfen dem BVerfG freilich vor, es betone zu sehr den Schutz der Meinungsfreiheit. Das BVerfG sieht dies anders, wie etwa BVerfGE 93, 266 (293) f.; 99, 185 (196 ff.) deutlich machen. 29 Darauf weisen hin Martin Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, S. 1897 ff.; Josef Isensee, Grundrecht auf Ehre, FS Martin Kriele, 1997, S. 5 ff. 30 Für manche mag der innere Schmerz wichtiger als der äußere (wirtschaftliche oder politische) Schaden sein. Reichspräsident Friedrich Ebert soll nach einem Beleidigungsprozess, in dem er sich nicht gänzlich gegen den Vorwurf des Landesverrats hatte verteidigen können, gesagt haben: „Der seelische Schmerz peinigt schlimmer. Sie haben mich politisch umgebracht, nun wollen sie mich auch noch moralisch morden. Das überlebe ich nicht.“ Zitiert in Heinrich Senfft, Schmäher vor Gericht. Persönlichkeitsschutz und öffentliche Meinung in Deutschland, 1994, S. 7. 31 Siehe MS, AA VI 295: „Nun ist aber der gute Name ein angeborenes äußeres, obzwar ideales Mein und Dein, was dem Subjekt als einer Person anhängt … und so ist jeder Versuch, [es] nach dem Tode in übele falsche Nachrede zu bringen, immer bedenklich …“; siehe ferner 429 f. und 466. 27

III. Das Menschenrecht auf Mitteilungsfreiheit

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sehen, also grundlos die normative Unterstellung von Unbescholtenheit i.S.v. rechtmäßigem Verhalten eliminieren.32 Weiterhin verträgt sich die Mitteilungsfreiheit auch nicht mit der Leugnung des Menschenwürdestatus der Hörer, da dieser ja Voraussetzung zur Beurteilung des in der Mitteilung Angesonnenen ist. Wenn also jemand einem anderen mit seiner Botschaft den Menschenstatus abspricht, ihn einem Tier gleichstellt, das man „abschlachten“ kann, oder einem Schädling, den man „vertreiben“ oder „ausrotten“ kann, oder ihm die generelle Fähigkeit abspricht, sich für gut oder böse zu entscheiden, dann verdient eine solche Botschaft nach Kant keinen Schutz.33 „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen … blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden … so kann er auch nicht der … nothwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln, d.i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen …“.34 Schließlich verdient die Mitteilungsfreiheit auch dort keinen Schutz, wo sie aufgrund der konkreten Situation umzuschlagen droht in Tätlichkeiten oder nicht mehr autonom reflektierbare Antworten auf die Botschaft. Das sind in Kants Terminologie Fälle von „wörtlicher oder thätlicher Widerstand“ (Gem., AA VIII 305), die vor allem bei politisch bedeutsamer Rede aktuell werden35, aber auch hier schon relevant sind. Zu denken ist etwa an einen Aufruf zu kriminellen Taten oder wenn jemand in einem voll besetzten Theater „Feuer“ ruft.36 Dies ist, positivrechtlich ausgedrückt, das Feld der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, des Umschlags von Kommunikation in schadenverursachende Aktion, der „fighting words“37 und der Anstiftung zu Straftaten.38 32 Der gute Ruf ist in Deutschland wie den USA geschützt gegen schädliche und unwahre Tatsachenbehauptungen. Gegen bloße normative Herunterstufungen hilft allerdings nur das deutsche Recht, nicht das amerikanische. Siehe meinen oben Fn. 12 erwähnten Aufsatz. 33 Die positivrechtliche Parallele hierzu zeigt sich im strafrechtlichen Ehrenschutz, der den „sozialen“ und den „menschlichen Achtungsanspruch“ bzw. den „äußeren“ und „inneren Achtungsanspruch“ schützt. Der letztgenannte entspricht dem oben beschriebenen Status. Siehe z. B. Lackner/Kühl, StGB, 24. Auflage 2001, Vor § 185 Rn. 1. 34 MS, AA VI 422. 35 Weitere Erläuterungen deshalb im nächsten Abschnitt. 36 Berühmtes Beispiel aus dem US-Verfassungsrecht. Siehe Schenck v. United States, 249 U.S. 47, 52 (1919). 37 Darunter sind im US-Verfassungsrecht schlimme Beleidigungen in Face-to-Face-Situationen zu verstehen, bei denen jeder vernünftige Mensch „zurückschlagen“ statt „zurückargumentieren“ würde. 38 Anstiftung zu Straftaten ist in allen Rechtsordnungen strafbar. Polizeirechtlich, bei der präventiven Verhinderung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Ländern, was die Unmittelbarkeit der drohenden Gefahr angeht. In den USA wird eine solche „clear and present danger“ verlangt, in Deutschland muss

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Ansonsten aber darf der Sprecher äußern, was und wie er es will. Solange der Hörer „autonom“, in eigener Einschätzung und Zwecksetzung, Stellung beziehen kann zu der Botschaft, wird seine Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung nicht geschmälert und muss er bzw. die Rechtsordnung die Äußerungsfreiheit des Redners achten.

IV. Das Bürgerrecht auf politische Rede Das Bürgerrecht auf politische Redefreiheit bezieht sich auf Staatsbürger im bürgerlichen Zustand, also den öffentlich-rechtlich, vertikal organisierten Rechtszustand, der auf dem horizontalen Naturzustand bzw. dem provisorisch-rechtlichen privatrechtlichen Zustand aufbaut.39 Hier sind alle Bürger mit staatlich organisiertem Zwang konfrontiert, der notfalls Rechtsnormen durchsetzt – Rechtsnormen, die so oder auch anders sein könnten, deren Kontingenz die Notwendigkeit menschlicher Beurteilung, Einrichtung und Absicherung mit sich führt. Damit sie inhaltlich so ausfallen, dass sie als „eigene“, autonome Rechtsnormen entweder wirklich gesetzt werden (in der volkssouveränen Demokratie) oder aber zumindest so angesehen werden können, als ob sie aus dem Volkswillen entsprungen wären (im autokratischen Staat, wie etwa zu Kants Zeiten), bedarf es der politischen Redefreiheit. Nach Kant muss „dem Staatsbürger, und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst, die Befugniß zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen … Also ist die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung worin man lebt … (und dahin beschränken sich auch die Federn einander von selbst, damit sie nicht ihre Freiheit verlieren) – das einzige Palladium der Volksrechte“ (Gem., AA XIII 304). Unter „politische Rede“ fallen sinnvollerweise alle Auseinandersetzungen, die (weiter) möglicherweise oder (enger) absehbar zu Rechtsnormen und also möglicherweise staatlichem Zwang führen, nicht aber sonstige, etwa private oder rein kulturelle Streitigkeiten, bei denen das Schwert der Staatsmacht nicht wenigstens im Hintergrund droht.40 Politisch in diesem Sinne kann etwa auch ein symbolischer Akt wie eine Verbrennung der Nationalflagge sein.

die Gefahr nicht immer imminent sein. Es kann schon früher, auch gegen Meinungen, eingeschritten werden, etwa gegen Neonazibotschaften. Siehe § 15 Versammlungsgesetz und hierzu die Arbeit von Jan Schaefer, Versammlungsverbote wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung, 2007. Steht Kant eher der engen amerikanischen oder der weiteren deutschen Auffassung nahe? Folgende Stelle aus MS, AA VI 307 weist auf Letzteres hin: „es ist nicht nöthig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht“. 39 Vgl. den Aufbau der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten: Erster Teil: Privatrecht, Zweiter Teil: Öffentliches Recht. 40 So überzeugend Niesen (Fn. 7), S. 131 ff.

IV. Das Bürgerrecht auf politische Rede

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Politische Rede verdient nach Kant aus drei Gründen einen Sonderstatus an Schutz:41 erstens wegen der Intensität des drohenden Eingriffs: organisierter Zwang der öffentlichen Gewalt. Zweitens kommt hier der Gleichheitsstatus aller Bürger im Rahmen der Kantischen Trias von „Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit“ ins Spiel: Kein Bürger soll den anderen durch Rechtszwang zu etwas verbinden können, dem er selbst nicht auch unterworfen ist.42 Drittens ist der Sonderstatus politischer Rede konsequentialistisch begründet: Die Demokratie ist normativ und informationell auf individuelle wie kollektive Lernprozesse angewiesen: zur informierten Wahl von Volksvertretern (für Kant noch keine reale Möglichkeit), zur Gerechtigkeitskontrolle von Gesetzen bzw. Gesetzentwürfen (im Mittelpunkt bei Kant) sowie zur Kontrolle deren Zweckmäßigkeit (von Kant abgewiesen).43 Im Rahmen der drei Rechtsprinzipien des bürgerlichen Zustandes öffentlicher Gesetzgebung sind die ersten beiden schon angesprochen worden: Das Freiheitsprinzip wird geachtet, wenn die öffentlichen Zwangsgesetze entweder real oder wenigstens fiktiv als unsere eigenen erlassen worden sind bzw. so angesehen werden können. Die Gleichheit liegt in der Gegenseitigkeit der Rechtsverpflichtung, die ständische Asymmetrien eliminiert und Meritokratie etabliert. Die Selbstständigkeit scheint nicht integrierend, sondern ausschließend zu wirken: Unselbstständig, und damit für Kant keine Aktivbürger, denen politische Redefreiheit zur Beurteilung der Gerechtigkeit der Rechtsordnung zukommt, sind etwa Behinderte, Kinder, Frauen und ökonomisch abhängig Beschäftigte.44 Was Kants Exklusionsthese aus dem politischen Aktivstand leitet, ist die Überlegung, dass es Personengruppen gibt, deren natürliche oder ökonomische Lage in so große Abhängigkeiten führt45, dass „ihre

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So sehen das auch die meisten Verfassungsgerichte. Siehe oben Fn. 13 und etwa BVerfGE 7, 198 (208): „Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben“. Das Gericht schwankt zwischen einem engeren „politischen“ und einem weiteren „öffentlichkeitsbedeutsamen“ Begriff von Rede, der etwa in BVerfGE 102, 347 (363) angesprochen ist; diese Schwankungen bilden die Paralelle zu dem bei Fn. 40 Gesagten. 42 Siehe Gem., AA VIII 290 ff. 43 Siehe Gem. AA VIII 306: Abgrenzung des „Staatsrechts“ als Recht gegenseitiger Freiheitsbeschränkung vom „Wohl- oder Übelbefinden, das ihnen daraus entspringen mag …“. Letzteres gründet für Kant „bloß auf Erfahrung“, ersteres „auf Prinzipien a priori“ (ebd.). Siehe auch das eindrückliche Beispiel einer vom Herrscher auferlegten Kriegssteuer, Gem., AA VIII 297 Anm. Wenn die Untertanen klagen, dass diese „drückend“, gar „ungerecht“ ist, „weil etwa der Krieg ihrer Meinung nach unnöthig“ sei, dann zählt dieses Argument nach Kant nicht. Die Einschätzung einer solchen Kontingenz (Zweckmäßigkeit) obliegt dem Herrscher. Für die Untertanen hält Kant fest: „das sind sie nicht berechtigt zu beurtheilen“. Aus heutiger Sicht beruhen beide Ebenen auf Erfahrungsurteilen, so dass die politische Rede sich auf Zweckmäßigkeit wie Rechtmäßigkeit bzw. Gerechtigkeit, also alle Gemeinwohlprobleme, erstrecken sollte; so sieht es auch das moderne Staatsrecht. Siehe dazu etwa Winfried Brugger, Gemeinwohl als Ziel von Staat und Recht, FS Helmut Quaritsch, 2000, S. 45 ff. 44 Siehe Gem., AA VIII 295; MS, AA VI 314 f. 45 Sie werden „von anderen Individuen befehligt oder beschützt“: MS, AA VI 315.

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Stimme der bloße Nachhall der Stimmen ihrer Ernährer“46 oder sonstigen Vorgesetzten ist, sie also gar nicht eigenständig Zwecke setzen und Gerechtigkeitsurteile abgeben können. Sie haben sozusagen wenn schon kein „falsches Bewusstsein“, so doch nur ein „gedoppeltes“, kein authentisches, reflexionsfähiges Bewusstsein ihrer Identität und Interessenlage. Falls es i.S.d. Freiheits- und Gleichheitsdimension tatsächlich vorrangig darauf ankommt, ob die vom Rechtszwang betroffenen Menschen, wenn auch nur in Ansätzen, sich ein Urteil darüber bilden können, ob die Gesetze für sie gerecht oder ungerecht sind, so spricht vieles dafür, die Grenze für die politische Rede als Bürgerrecht weiter zu ziehen, als dies Kant selbst tut: Warum sollen Frauen und abhängig Beschäftigte oder auch Kinder ab einem bestimmten Alter oder oft auch Behinderte nicht reales oder vermeintliches Unrecht empfinden und rügen können? Ist man schließlich, anders als Kant47, ein Vertreter sozialen Ausgleichs, hier bezogen auf material-autonome Redefreiheit, so wird man auch zu einer Pflicht des Staates kommen, mittels des Rechts dafür zu sorgen, dass ökonomisch abhängig Beschäftigte nicht faktisch entrechtet, sondern rechtlich gestärkt werden (etwa durch Gewerkschaften) und Bildung für alle als wichtiges Staatsziel fungiert.48 Immerhin weist „Selbständigkeit“ als Staatsbürgerkriterium auf eine wichtige Mündigkeitsdimension hin: Anders als bei der generellen Rechtsmündigkeit, die schon bei der Mitteilungsfreiheit als generelle Ressource aller Menschen im Hinblick auf das formale Recht zur Zwecksetzung wirkt, geht es hier um die Wahlmündigkeit als empirische Staatsbürgerqualifikation: Sie setzt die reale Motivation und das konkrete Vermögen voraus, Identität und Interesse für das eigene Leben zu formulieren und in Gerechtigkeitsurteilen zur Geltung zu bringen.49 Bei der politischen Rede koppelt Kant das Autonomieargument stark mit dem lernorientierten Optimierungsargument, allerdings nur in Bezug auf Gerechtigkeitsund nicht auf Zweckmäßigkeitsurteile: Kant spricht von dem Recht, die eigenen Gerechtigkeitsurteile „öffentlich bekannt zu machen“ (Gem., AAVIII 304) und sein Recht zu suchen, indem „allgemeine und öffentliche Urtheile“ (Gem., AAVIII 305) 46 So zwar nicht Kant selbst, aber der Kantianer Ernst Gottlob Morgenbesser 1800, zitiert in: Niesen (Fn. 7), S. 197. 47 Kant ist kein Vertreter sozialstaatlicher Chancenverstärkung als Element sozialer Gerechtigkeit, also i.S.d. oben II. genannten Unterscheidungen auch kein Vertreter material-autonomer Redefreiheit, die zu einer Pflicht zur Verstärkung von Minderheitenbotschaften kommt. Siehe Gem., AA VIII 291 f.: „Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat … besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit der Menge und den Graden des Besitzthums nach, es sei an körperlicher oder Geistesüberlebenheit über Andere, oder an Glücksgütern und an Rechten überhaupt …“. 48 Hierzu etwa Winfried Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, § 6, S. 143 ff., 156 ff. 49 Siehe Niesen (Fn. 7), S. 253: „Die Mündigkeitskonzeption der Selbständigkeit, die Privatautonomie, reagiert auf den Umstand, daß natürliche und Rechtsmündigkeit zwar hinreichende Voraussetzungen, nicht aber hinreichende Motivationen dafür sind, eine unabhängige Konzeption des Glücks zu wählen und zu verteidigen.“

IV. Das Bürgerrecht auf politische Rede

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gefällt werden, „welches durch keinen andern Weg als den der Publizität geschehen kann … So verhindert ein Verbot der Publizität den Fortschritt eines Volkes zum Besseren …“ (Streit AA VII 89).50 Die Verallgemeinerbarkeit oder jedenfalls der Ausschluss des Widerstands51 aller steht bei Kant als formales Kriterium im Vordergrund, nicht so sehr der Schutz vorpolitischer materialer Rechte wie etwa „Leben, Freiheit, Eigentum“.52 Was Grenzen der politischen Rede angeht, so ist hier auf der Gegenseite der Ehrenschutz in politischen Auseinandersetzungen eventuell geringer, geht es doch um staatlichen Zwang und dessen Zumutbarkeit unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten. Sie darf aber nicht in Anstiftung zu kriminellen Taten oder „Rottierung“ (Streit, AAVII 86 Anm.) enden oder den „Same[n] des Aufruhrs“ (Streit, AAVII 34 Anm.) legen, denn Kant zieht eine scharfe Grenze zwischen dem Gehorsam für das geltende Recht als Voraussetzung der Vermeidung des Rückfalls in den Naturzustand, den „Zustand der Anarchie mit allen ihren Greueln“ (Gem., AA VIII 302 Anm.) und der Kritik am vermeintlichen oder realen Unrecht (aber nicht der Unzweckmäßigkeit) des positiven Rechts. Kant schließt „Widergesetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung“ (Gem., AA VIII 299) in Worten und Werken aus, wobei „Worte“ nur solche sind, die aufwiegelnden Charakter haben, also in Taten und Widerstand umzuschlagen drohen. „In allen Fällen [, in denen es streitig ist, ob eine bestimmte Regelung vom Volk hätte über sich selbst beschlossen werden dürfen,] können zwar allgemeine und öffentliche Urtheile darüber gefällt, nie aber wörtlicher oder thätlicher Widerstand dagegen aufgeboten werden“ (Gem., AA VIII 305). Wichtig ist, dass Kant diese Freiheit der politischen Rede schon im autoritären Staat als unabdingbar ansieht; der historische Nachteil Kants, Leben und Schreiben im monarchischen Staat, wirkt sich als Vorteil aus: Das erwünschte Heraustreten aller autokratischen Staaten aus der Bevormundung der Bürger hin zur Anerkennung ihrer Freiheit und Gleichheit findet hier schon einen exzellenten Vorkämpfer und führt zu einer Art Transformationstheorie. Aus der natürlichen Mitteilungsfreiheit als Menschenrecht und aus der vernunftmäßig und konsensuell vorauszusetzenden Freiheit und Gleichheit aller Bürger eines Staates folgt eben, dass der zu seiner Zeit im monarchischen Preußen und zu unserer Zeit noch in vielen Staaten vorherrschende autokratische Herrschaftsstil nur ein Übergangsstadium politischer Herrschaft sein kann: Schon vor Einrichtung einer Demokratie sollen die Herrscher so „für das Volk“ handeln, „als ob“ ihre Gesetze aus der möglichen Zustimmung aller 50

Dazu auch zahlreiche Nachweise bei Hinske (Fn. 6). Siehe Gem., AA VIII 297: Probierstein für die Ungerechtigkeit eines Gesetzes ist, „daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Zustimmung geben könnte …“. 52 So mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber Locke und Nozick Niesen (Fn. 7), S. 143 f. Jedoch gibt es auch bei Kant materiale Einschläge, wie etwa das schon oben erwähnte Recht auf Schutz der Ehre sowie das Prinzip gegenseitig verträglicher Freiheit als Rechtsprinzip. Deren konkrete Umsetzung im politischen, bürgerlichen Zustand allerdings wird dem genannten formalen Prinzip unterworfen. 51

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§ 5 Kants System der Redefreiheit

resultierten; schon in diesem Stadium muss es dem Volk möglich sein, zu deren Gerechtigkeit Stellung zu beziehen – bei gleichzeitiger Achtung und Respektierung der Gesetze. Die hieraus folgende Spannung zwischen dem fiktiven und dem realen Volksurteil über die Gerechtigkeit der politischen Ordnung wendet Kant produktiv in die Geschichte hinein: Nur so kann der Schritt zur (in seiner Terminologie) Republik, zum Gemeinwohl aller getan werden, in dem Gerechtigkeit Recht strukturiert und in deren Grenzen Zwang determiniert, und nicht umgekehrt Zwang Recht definiert und Recht Gerechtigkeit etabliert.53

V. Das Weltbürgerrecht auf freien öffentlichen Vernunftgebrauch Den Abschluss findet die Trias an Rederechten für den Menschen im öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft: „[D]er öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern“ (Aufkl., AA VIII 37). Hier stehen autonomie- und lernfördernde Leistungen von Argumentation für des Sprechers Mündigkeit, aber auch und gerade auch für das allgemeine Publikum im Vordergrund. Zu „dieser Freiheit aber wird nichts erfordert als Freiheit; … nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (Aufkl., AAVIII 36). Der öffentliche Vernunftgebrauch braucht sich nach Kant nicht auf Politik zu erstrecken. Das ist ein wichtiges Feld, aber bei weitem nicht das einzige. Dazu gehören auch „Religionssachen … Künste und Wissenschaften“ (Aufkl., AA VIII 41), rechtlich gesprochen Art. 4 und 5 Abs. 3 GG, kurz: alle menschlichen Lebensbereiche, in denen wir vom Vorhandensein oder der Schaffung eines Gemeinsinnes profitieren und unsere Vorstellungen von menschlicher Autonomie und gelungener Persönlichkeitsentfaltung korrigieren und erweitern können, durch Reinigung von Irrtümern54 und durch Schritte „aus der Rohigkeit heraus“ (Aufkl., AA VIII 41).55 Ein gewisses Raisonnement gehört allerdings dazu, denn „Erzählen und Scherzen“ (KpV, AA V 153) allein reicht nicht aus, während das natürliche Recht auf Mitteilung dies sehr wohl umfasst.

53 Hier ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zu Hobbes und Nietzsche. Zu Hobbes siehe Leviathan, 1651, Kap. 15 („Bevor man deshalb von ,gerecht‘ und ,ungerecht‘ reden kann, muß es eine Zwangsgewalt geben … Eine solche Macht gibt es aber vor Errichtung eines Staates nicht“); zu Nietzsche Philippe Nonet, What Is Positive Law, 100 Yale L.J. 100 (1980), S. 667 ff. 54 Siehe Aufkl., AA VIII 39. 55 Hierzu ausführlich Hinske (Fn. 6), etwa S. 43, 46. Die Parallelen dieser Gedanken zur Nr. 10 der Federalist Papers, in der von der Aufgabe „to refine and enlarge the public views“ die Rede ist, sind verblüffend. Sie betreffen bei Kant auch die persönlichen Einschätzungen gelungenen Lebens.

V. Das Weltbürgerrecht auf freien öffentlichen Vernunftgebrauch

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Dieser öffentliche Vernunftgebrauch ist allerdings nicht wie das Mitteilungsrecht ein natürliches oder Menschenrecht oder wie die politische Rede ein Statusrecht des Staatsbürgers. Er ist gekoppelt an die Existenz einer „Weltbürgergesellschaft“ (Streit, AAVII 92) im Rahmen der Weltgeschichte; diese soziale Eingebundenheit in den vor-juridischen und vor-staatlichen Weltverband von Menschen als Weltbürgern56 im Rahmen einer allen gemeinsamen Zivilisationsgeschichte ist es, die gerade wegen deren Irregularität und gelegentlichen Rückschlägen einen Anspruch auf das öffentliche Raisonnieren begründet. In diesem Bereich darf jeder „für sich“, aber eben auch stellvertretend „für andere“ und „mit anderen“, über eigenes und fremdes Recht und Gemeinwohl und den Fortschritt sprechen: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt …“ (ZeF, AAVIII 360).57 Man könnte auch sagen, dass im öffentlichen Vernunftgebrauch der beste Platz ist zur Präsentation von repräsentativen Unrechtserfahrungen58, die den weltweiten Verbund von Menschen als sozialen Wesen der Politik vor Augen halten. Von hier führt der Weg klar zu Kommunikationsgrundrechten als Menschenrechten und nicht nur als Staatsbürgerrechten. „Vernunft“-Gebrauch könnte, im Sinne von Kants Moralphilosophie verstanden, auf den moralisch raisonnierten und legitimierten Redegebrauch abstellen, also auf die Verallgemeinerbarkeit der Maximen jeweiliger Äußerungen. Doch gebraucht Kant den Begriff hier weiter: Er umfasst Verstand und Vernunft sowie außer der klar raisonnierenden Spezialistenkommunikation auch den gemeinen Vernunftgebrauch59 aller Menschen, die selbst, für sich, aber auch für andere denken und dabei zumindest in Ansätzen argumentativ verfahren. In Kants drei Prinzipien des gemeinen Menschenverstandes ist dies klar ausgedrückt: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes anderen denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilsfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart“ (KdU, AA V 294). Anders gesagt: Es geht um 1. Verstand, 2. Urteilskraft und 3. Vernunft.60 Der Pluralismus der Perspektiven in der 56

Siehe etwa folgende Anmerkung aus Kants Anthropologie, abgedruckt bei Hinske (Fn. 6), S. 44: „Dem Egoisten kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ 57 Eindrücklich auch Kants Bemerkungen zur Aufnahme der französischen Revolution: Streit, AA VII 85 ff.: Ein solches Ereignis „vergißt sich nicht mehr“ (88). 58 Näher zu dieser Konzeption Brugger, Liberalismus (Fn. 48), S. 18, 102, 109 f., 115, 129 f., 140, 291 ff., 303, 309, 459. 59 Ausführlich Hinske (Fn. 6), S. 40 ff., 42 ff. 60 Siehe KdU, AA V 295.

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öffentlichen Auseinandersetzung garantiert hier für Kant eine Annäherung an Wahrheit und Richtigkeit der Ergebnisse der Kommunikation61; in diesem Sinne ist Kant ein früher Vertreter der Pluralismustheorie62 und weist den Weg in Richtung der Diskurstheorie, die unter idealen Kommunikationsbedingungen Wahrheit und Richtigkeit anzielt.63 Anders als der öffentliche Vernunftgebrauch darf der private Gebrauch der Vernunft nach Kant stark geregelt werden. Damit spielt er auf denjenigen Gebrauch an, „den [jemand] in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf“ (Aufkl., AA VIII 37). Er erwähnt vor allem Lehrer, Offiziere und Geistliche. Die Verwendung des Begriffs „privat“ könnte verstanden werden als „auf ein bestimmtes Individuum“ bezogen oder „im Privaten“ angesiedelt, doch beides steht nicht im Mittelpunkt von Kants Argumentation. Vielmehr lassen sich zwei andere Überlegungen aufweisen. Die erste wird durch den Hinweis auf „Posten“ und „Amt“ verdeutlicht. Wenn jemand für einen anderen spricht, sozusagen nur dessen Sprachrohr ist, und zudem sich in dessen Auftrag und auf Weisung äußert, dann stehen dessen Interessen und Botschaften im Mittelpunkt. Von eigener Vernunft lässt sich kaum sprechen, höchstens von dem öffentlichen Raisonnement des Auftraggebers, der durch den Beauftragten spricht. Das hat Kant klar gesehen, wobei er noch nicht, wie heute üblich, zwischen öffentlich-rechtlichen Sonderstatusverhältnissen und privatrechtlichen Indienstnahmen unterscheidet. Für beide Einordnungen gilt auch im modernen Recht64 : Die Organisationszwecke begrenzen die expressiven Rechte der diesen Gebilden eingeordneten Personen. Deren Grundrechte werden allerdings durch den Eintritt in die Organisation nicht generell eliminiert, sondern nur soweit das Amt oder die Organisation dies erfordert. In den anderen Bereichen bleibt der Amtswalter normaler Grundrechtsträger, Kant würde sagen: im Rechte seiner Mitteilungs- und politischen Redefreiheit sowie als öffentlich Raisonnierender, was insbesondere bei gelehrigen Schriftstücken Achtung verdient.65 Vieles hängt hier davon ab, wie der personale vom Amtsstatus der be61

So auch das BVerfG etwa im KPD-Verbotsurteil, E 5, 85 (197 ff.). So mit vielen Nachweisen Hinske (Fn. 6), S. 40 ff. Kant unterscheidet noch nicht zwischen der Wahrheit von Tatsachenaussagen und der Richtigkeit von normativen Urteilen. Die Pluralismustheorie führt im Kommunikationsbereich zu Theorien, die die Fruchtbarkeit eines „Kampfes/Wettbewerbes der Meinungen“ untersuchen. Dazu mein gleichnamiger Artikel in: Liberalismus (Fn. 48), § 19. 63 Dass in diesem Prozess öffentlichen Raisonnierens nicht die Richtigkeit der Ergebnisse garantiert sein kann, wie dies die neuere Diskurstheorie für das Raisonnieren unter idealen Bedingungen behauptet (Robert Alexy, Jürgen Habermas), ergibt sich bei Kant schon daraus, dass er einen Platz für den Irrtum hat, dessen Kommunikation im gegenseitigen Verkehr voraussetzt, dass man den Irrenden nicht grundsätzlich für verstandes- oder vernunftlos hält: „Denn spricht man seinem Gegner in einem gewissen Urtheile … allen Verstand ab, wie will man ihn dann darüber verständigen, daß er geirrt habe?“ (MdS, AA VI 463). 64 Siehe Wolfgang Loschelder, Grundrechte im Sonderstatus, HdbStR V, 1992, § 123. 65 Siehe Aufkl., AA VIII 37 f.; „gelehrige Schriftstücke“ verweist auf dasjenige, was heute unter die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG fallen würde. 62

V. Das Weltbürgerrecht auf freien öffentlichen Vernunftgebrauch

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treffenden Person zu unterscheiden ist (Beispiel: die Kopftuch tragende Lehrerin) und wie weit der letztgenannte Status den erstgenannten einschränken darf (etwa über Mäßigungspflichten für Lehrer). Ein damit zusammenhängender Gesichtspunkt ist derjenige asymmetrischer Herrschaftsverhältnisse zwischen Auftraggeber/Arbeitgeber und Beauftragtem/Arbeitnehmer: Letztere „dürfen“ nicht sprechen, sie „müssen“; und der Inhalt der Botschaft ist nicht „autonom“, sondern „heteronom“. Deutlich tritt hervor, dass in solchen Situationen nicht die Freiheits- und Gleichheits- und Selbstständigkeitsstruktur vorliegt, die Kant für gegenseitige kommunikative Autonomisierung und kollektives Lernen voraussetzt. In diesem Sinne lässt sich öffentlicher Vernunftgebrauch zusammenfassen als Kommunikation, die stattfindet in Situationen (1) nicht-geheimer, (2) symmetrischer66, (3) freiwilliger (nicht aufgezwungener) Kommunikation, die (4) ohne den Vorbehalt auskommt, beim Scheitern des Austauschs auf autoritäre oder gewaltsame Arten der Konfliktbearbeitung zurückzufallen.67 In der Friedensschrift und der Aufklärungsschrift macht Kant einige für die Wissenschaftsdisziplinen anregende bzw. auch anstößige Bemerkungen: Wie ist der öffentliche Vernunftgebrauch unter den Fächern verteilt, die das Argumentieren „fabrikenmäßig“ (Streit, AAVII 17) organisieren? Kant unterscheidet – ironisierend, provozierend? – Theologie, Jura und Medizin als obere Disziplinen von der Philosophie als unterer Disziplin. Obwohl in allen Fächern für Gelehrsamkeit zuständig, sieht Kant deutliche Unterschiede in der Kompetenz zum öffentlichen Raisonnement. Die oberen Fakultäten sind wegen ihrer Bedeutung für die Führung der Regierungsgeschäfte „durch einen Vertrag mit der Regierung“ (Streit, AA VII 19) auf gelehrige Botendienste für ihre Vertragspartner verpflichtet, stellen sozusagen einen Fall von Outsourcing von Expertise dar. Der biblische Theologe schöpft „seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht, der Arzneigelehrte seine … Heilmethode nicht aus der Physik der menschlichen Körpers, sondern aus der Medicinalordnung“ (Streit, AA VII 23). Von deren Vertretern wird, was immer diese privat oder als Bürger denken mögen, eine „künstliche Einhelligkeit“ (Aufkl., AA VIII 37) mit der Regierung erwartet: „Hier ist es … nicht erlaubt, zu räsonniren; sondern man muß gehorchen“ (ebd.). Günstiger steht da die philosophische Fakultät da. Sie ist in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig. Sie muss, „weil sie für die Wahrheit der Lehren [steht], die sie aufnehmen oder auch nur einräumen soll 66 An diesem Punkt freilich widerstreiten sich die oben II. 1. und IV. dargestellte „formale“ und „materiale“ Autonomiekonzeption sowie die exklusivierende und die inklusivierende Selbständigkeitskonzeption: bei den Redefreiheitstheorien wie bei Kant! Siehe auch noch unten Abschnitt VI. 7. und 8. 67 So Niesen (Fn. 7), S. 234. Punkt (4) verweist in der Rspr. auf die Grenzen des Schutzes von Boykotten sowie generell auf die vom BVerfG vielfach betonte Tatsache, dass die Meinungsfreiheit auf einen Überzeugungsprozess und nicht Unterwerfungsprozess abzielt. Siehe z. B. BVerfGE 25, 256 (265).

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… in so fern als frei und nur unter der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Regierung stehend gedacht werden“ (Streit, AA VII 27). Sie hat „keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurtheilen“ (Streit, AA VII 19 f.). Ferner braucht sie keine Befehle von Seiten der Regierung zu befolgen: „Sie kann von der Regierung, ohne dass diese ihrer eigentlichen, wesentlichen Absicht zuwider handle, nicht mit einem Interdikt belegt werden“ (Streit, AAVII 28). Unter heutigen Bedingungen verschafft die Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG allen Wissenschaften Spielraum in Wahrheitsfragen, und Anklänge an die Erwünschtheit einer solchen Politik finden sich schon bei Kant, zwar für die Philosophie formuliert, aber zweckmäßigerweise für alle Wissenschaftsdisziplinen intendiert: Ohne freie wissenschaftsinterne Reflexion kann „die Regierung von dem, was ihr selbst ersprießlich oder nachtheilig sein dürfte, nicht hinreichend belehrt werden …“ (Streit, AA VII 35). Intern bleibt allerdings für Juristen der Unterschied zwischen der Erklärung der Anwendung des positiven Rechts und dessen rechtsphilosophischer Beurteilung bestehen; und die Grenze der Verfassungstreue in Art. 5 Abs. 3 GG sichert dies für Grenzfälle ab.68

VI. Rückblick und Ausblick 1. Kants System der Redefreiheit weist sowohl Verbindendes als auch Trennendes zur rechtlichen Meinungsfreiheitsdogmatik auf: Seine drei Redearten spiegeln sich nicht in separaten Kategorien des Schutzbereichs wider; verfassungsrechtliche oder völkerrechtliche Redefreiheitsgarantien decken vielmehr das Gesamt dieser Redearten ab. Trotzdem lassen sich die drei Redearten für die Ausformung einer expressiven Freiheitsgarantie nutzbar machen: Die Mitteilungsfreiheit und der öffentliche Gebrauch der Vernunft führen zu einem jedem Menschen zustehenden Menschenrecht; das steht in Übereinstimmung mit den entsprechenden Meinungsfreiheitsgarantien. Die politische Redefreiheit als systemisch auf Aktivbürger bezogene expressive Freiheit kann, wie bei Kant selbst, zur Exklusion von Passivbürgern oder Nichtbürgern, oder, bezogen auf Staatsangehörigkeitsfragen, auf ein Staatsbürgerrecht statt auf ein Menschenrecht zulaufen.69 Doch zwingend ist dies nicht: Man kann statt auf Exklusion auf Inklusion setzen, wenn man, wie gesehen, auf die Möglichkeit der Beurteilung der politischen Verhältnisse auch durch „Passivbürger“ abstellt; für Nichtbürger, Ausländer, kann man den gleichen Schluss ziehen eben aufgrund der besonders freiheitseingrenzenden Folgen von staatlichen

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Auch dazu findet sich schon eine einschlägige Bemerkung Kants. Die „unbeschränkte Freiheit [der Mitglieder der oberen Fakultäten], alle [ihre] Meinungen ins Publicum zu schreien, [muß] theils der Regierung, teils aber auch [dem] Publicum selbst gefährlich werden …“: Streit, AA VII 33. 69 Für die Redefreiheit trifft dies verfassungs- und völkerrechtlich nicht zu. Aber die Versammlungsfreiheit ist zum Beispiel im Grundgesetz Deutschen vorbehalten, Art. 8 GG.

VI. Rückblick und Ausblick

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Zwangsgesetzen.70 Moderne Redefreiheitsgarantien nehmen hierzu eine expansive Haltung ein: Wozu auch immer die Rede dient – sie wird einem jeden Menschen zugestanden. 2. Typischerweise wird die Redefreiheit auch als ein besonders wichtiges Recht angesehen. Ein Grund hierfür ist kantischer Art: Verbindend ist die Basis der „menschlichen Freiheit“ in Handlung (Art. 2 Abs. 1 GG) als allgemeinstes Rechtsprinzip, aber auch in der vor der Handlung angesiedelten Kommunikation über die Identität und Urteilsmaßstäbe der die Handlung wählenden Persönlichkeit (Art. 5 Abs. 1 GG).71 Damit kommt der Meinungsbildung die Priorität gegenüber der Handlungswahl zu. Die Kontingenzerfahrung pluralistischer und für Änderung offener Urteilsmaßstäbe prägt die menschliche Existenz, die psychologisch auf Kommunikation drängt und auf diese auch angewiesen ist zur Herausbildung von Maßstäben in Fragen privater wie gesellschaftlicher und politischer Lebensführung. In allen Bereichen und bei allen Redearten geht es um Autonomie und gleichzeitig auch um das Lernen und Optimieren bzw. das Vermeiden von Schaden durch Fehlurteile. Allerdings sind die Akzente bei den drei Redearten anders gesetzt: 3. Bei der Mitteilungsfreiheit steht das allgemeinmenschliche Mitteilungsbedürfnis im Vordergrund; deren Schutz gründet in der generellen Fähigkeit aller Menschen zur Zwecksetzung und deren moralischer Reflexion; dies hat die Rechtsordnung anzuerkennen. Die Konsequenzen zählen für die Frage der Schutzwürdigkeit nur „von der Grenze her“, bei Eingriffen in die Kommunikationsstruktur, die auf der gegenseitigen Fähigkeit beruht, informiert „ja“ oder „nein“ zu der Botschaft zu sagen und so den guten oder möglicherweise schädlichen Effekt der Rede autonom zu kontrollieren. Bei Jugendlichen und bei Ehrverletzungen Dritten gegenüber wird dies ebensowenig der Fall sein wie bei Manipulationen von Meinungsbildung, die zu Rechtsschaden, etwa durch Täuschung beim Kaufvertrag, führt. Dann darf und sollte die Rechtsordnung eingreifen, wie das Art. 5 Abs. 2 GG tut, der genau diese drei Schranken der Meinungsfreiheit nennt: Jugendschutz, Schutz der persönlichen Ehre und Beschränkungsmöglichkeit durch „allgemeine Gesetze“, die jedenfalls dann vorliegen, wenn Zweck der Regelung nicht das Verbot einer Meinung als solcher ist, sondern der Schutz etwa von Verbrauchern vor Manipulation in der Meinungsbildung. 4. Bei dieser wie auch den anderen Redearten grenzt Kant deutlich Kommunikation von Handlung ab. Zur Ersteren gehört die öffentliche Rede, das Raisonnement, das kritische Wort und die schriftliche Publikation, bei den Letzteren sind insbesondere problematisch Aufrufe zur kriminellen Tat, zum Widerstand oder zur 70

Ob man nicht nur die Redefreiheit jedem Menschen sichern, sondern auch ein Wahlrecht für alle faktisch von Gesetzgebung betroffenen Menschen, also auch Ausländer, einräumen sollte, und falls ja, unter welchen Bedingungen, ist bekanntlich umstritten. Kants Ansicht hierzu wird dargestellt von Rainer Keil, Kants Demokratieverständnis und Ausländerwahlrechte heute, 2006. 71 Siehe das Lüth-Zitat oben Fn. 2.

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Revolution. Die Redefreiheit soll Überzeugungen Ausdruck verleihen oder zu deren Bildung beitragen; davon getrennt sind daraus möglicherweise folgende Taten zu sehen. Letztere sind dem geltenden Recht strikt unterworfen und können bei dessen Übertretung sanktioniert werden; Erstere soll dazu dienen, dass das geltende Recht gerecht ausgestaltet ist, so dass gerade kein Mensch und Bürger Widerstand leisten und das Recht verletzen muss. Auch diese Gedanken sind ins moderne Recht integriert: Überzeugungsbildung und Handlungsanstiftung gehören zwei unterschiedlichen Rechtswelten an. Erstere ist für den Einzelnen und das Gemeinwesen wichtig, weswegen die Informationsfreiheit, wie Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 10 Abs. 1 EMRK zeigen, Teil des positivrechtlichen Systems von Meinungsfreiheit ist. Letztere ist an die engeren Grenzen der Kontrolle menschlicher Taten gebunden, in deren Umkreis z. B. die Anstiftung polizeirechtlich oder strafrechtlich sanktioniert werden kann. Das gilt zum Beispiel für „fighting words“, das US-amerikanische Pendant zu „wörtlicher oder thätlicher Widerstand“ bei Kant.72 5. Kant privilegiert politische Rede. Deren Schutz ist besonders wichtig, weil die öffentliche Gewalt Zwang organisiert, um das Recht auch Widerstrebenden gegenüber effektiv zu machen, und diese als „gleich Unterworfene“ ja Möglichkeiten haben müssen, trotzdem die Freiheitsverträglichkeit der Zwangsgesetze, deren Gerechtigkeit, zu kontrollieren. Für Probleme des „nur“ guten Lebens oder der Zweckmäßigkeit will Kant dies nicht gelten lassen; hier müssen die Freiheiten der anderen Redearten einspringen, die die Mitteilungsfreiheit und den öffentlichen Gebrauch der Vernunft zwar auch „stark“, aber wohl nicht „besonders stark“ schützen. Im modernen Recht finden wir hier eine Parallele und einen Unterschied: Die meisten Rechtsordnungen geben wie Kant politischer Rede einen Sonderstatus; allerdings reduzieren sie diese Redeart nicht auf Fragen von Gerechtigkeit und Freiheitsverträglichkeit; sie umfassen auch die politische Streitigkeit von Zweckmäßigkeitsfragen (etwa welche Arten von Sozialsystemen besser oder schlechter sind) oder Fragen guten Lebens (etwa ob Ehe und Familie als Lebensformen besonderen Schutz verdienen).73 Die kantische Unterscheidung gründet auf der anfechtbaren Prämisse, dass Freiheits- und Gerechtigkeitsurteile, weil in der Vernunftbegabung aller Menschen angesiedelt, über die Verallgemeinerungsreflexion objektiv beantwortbar und rechtlich erzwingbar sind, während bei Fragen des guten Lebens, der Glückseligkeit, der Subjektivismus des eigenen Identitätsentwurfs vorherrsche74, der einer Zwangsregelung nicht unterstellt werden dürfe und deshalb wohl auch nicht einer besonders stark abgeschirmten freien Reflexionssphäre bedarf. 6. Der Gedanke des weltweit öffentlichen Gebrauchs der Vernunft als Voraussetzung gegenseitiger persönlicher Aufklärung und Mündigkeit wie der Aufklärung der Länder, Völker und Systeme weltweit ist ein besonders produktiver kantischer 72

Siehe oben vor Fn. 35 sowie Fn. 37, ferner zu den Grenzen politischer Rede bei Fn. 52 ff. Das ergibt sich aus der weiten Fassung des Schutzbereichs, oben Fn. 8, 15, sowie zu Kant bei und in Fn. 43. 74 Siehe etwa Gem., AA VIII 298; MS, AA VI 318. 73

VI. Rückblick und Ausblick

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Gedanke: Hier geht es um Verbesserung unserer Lebensbedingungen als Bürger einer gemeinsamen Welt, als Weltbürger in einer Weltgesellschaft, ohne dass diesem Status ein uniformer Staatsbürgerstatus in einem Weltstaat entspräche.75 Weil eben zu Kants Zeiten schon ansatzweise und heute umfänglich alles mit allem zusammenhängt und die gegenseitigen Kenntnisse (Internet) und Einflussnahmen (ökonomische Globalisierung, Klima, Terror, Krieg, Umwelt) immer mehr zunehmen, sind wir auch immer stärker darauf angewiesen, von anderen zu „lernen“, technologisch, kulturell, normativ und in Bezug auf die bei allen Maßnahmen auf dem Spiel stehenden Identitätsgewinne oder -verluste. Kants Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs bietet eine klassische Formulierung dieses Sachverhaltes und der Voraussetzungen für eine Hoffnung auf Besserung, auf allseitige Aufklärung. 7. Bei Kant wie bei jedem Redefreiheitstheoretiker lässt sich analytisch der Autonomiegedanke, für Redner und Hörer getrennt, unterscheiden von den Konsequenzen, die die Botschaft zwischen den beiden (oder mehreren) Personen erzeugt.76 Real wird in dem Moment, in dem die Botschaft „ankommt“, eine Reaktion erzeugt, die von Weghören über Indifferenz bis zu Zustimmung und Ablehnung, von Optimierung bis zu Dezimierung des Selbststandes des Hörers in seinem oder im Urteil anderer reichen kann. Das gilt für alle drei kantischen Redearten. Trotzdem lässt sich die konsequentialistische Ebene (Was folgt aus der Botschaft: Gutes oder Schlechtes, Gerechtes oder Ungerechtes?) von dem Blick auf und der Entscheidung für formale oder materiale Autonomie in Kommunikation trennen (Soll es auf die formalrechtliche oder material gleiche oder zumindest chancengleiche Kommunikationsmacht auf beiden Seiten ankommen?).77 Man sieht deutlich, dass in der Auswahl und Kombination dieser Gesichtspunkte bzw. Prognoseebenen viele Optionen offenstehen, die sich auch in der Rechtsprechung der Länder unterschiedlich darstellen. Am deutlichsten wird dies bei der Beantwortung der Frage, ob das üblicherweise bei ökonomischen Ungleichheiten als Korrektiv eingesetzte Sozialstaatsprinzip (bzw., bei dessen Fehlen im Verfassungstext, ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit) über diese Ebenen hinaus auch für staatliche Ausgleichsmaßnahmen kommunikativer Art eingesetzt werden soll: Vertreter formaler Autonomie und des Gedankens der Selbststärkung durch Rede lehnen dies eher ab (USA), Vertreter materialer Autonomie und der Fremdstärkung durch staatliches Kommunikationsmanagement sehen das eher positiv (Deutschland).78 8. Wie steht Kant zur Spannung zwischen formalem und materialem Autonomiegedanken im Akt der Kommunikation? Wie seine Akzeptanz selbst großer Un75 Diesen von Kant formulierten Gedanken hat Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, aufgenommen und zu einer differenzierten Theorie von Staatsbürger, Kontinentbürger und Weltbürger ausgebaut. 76 Siehe oben Abschnitt II. 77 Dies wird von Niesen (Fn. 7) nicht deutlich genug herausgearbeitet. 78 Nachweise oben Fn. 10 – 12, 14. Hinzunehmen muss man hierzu noch tendenziell unterschiedliche Vorstellungen über die Leistungskraft eines „Marktes der Meinungen“. Dazu oben Fn. 62.

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§ 5 Kants System der Redefreiheit

gleichheiten in materiellen und geistigen Gütern indiziert79, ist Kant eher ein Anhänger bloß formaler kommunikativer Autonomie. Dass auf der Hörerseite eventuell ein Individuum sich seine Meinung bilden muss, das bildungsmäßig schlechtere Ausgangschancen hat und einer politischen Minderheit angehört, ist für Kant unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht entscheidend, solange der Sprecher nicht manipulativ in die formal gleichen Rechte eingreift, durch (1) Bestreitung des Menschenstatus oder des (2) sozialen Status des anderen oder durch (3) rechtserhebliche Untergrabung der Reflexionsprozesses des Hörers.80 Genauso wie für die Achtung der drei Rechtsprinzipien Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit ausreichend ist, dass sich die Unselbstständigen und Passivbürger durch eigene Anstrengung hocharbeiten können in den Status der Selbständigen und Aktivbürger, muss dies für Kant kommunikativ gelten: Er würde, in Anlehnung an Ernst Bloch gesprochen, den „aufrechten kommunikativen Gang“81 einfordern. An einer Stelle spricht Kant selbst von der Alternative, „ob man emanzipiert wird oder sich selbst emanzipiert“.82 Soziale Gerechtigkeit und ein daraus folgendes Sozialstaatsprinzip umfasst bei ihm weder finanzielle noch kommunikative Ausgleichsmaßnahmen fördernder (Geld) oder einschränkender Art (Verbote). Damit ist es unwahrscheinlich, dass sich aus Kants Trias von Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit heutzutage Argumente für eine pluralistische Besetzung von Rundfunkräten in öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten83 oder generell für ein pluralistisch geordnetes Massenmedienwesen ergeben. Schaut man allerdings auf den Wert, den Kant im öffentlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft dem Gemeinsinn und der Pluralität von Perspektiven zur Rektifizierung und Erweiterung aller menschlichen Urteile zuspricht84, so werden darauf bezogene gesetzgeberische Maßnahmen vielleicht nicht aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten geboten sein, aber zweifellos „gut“ begründet und „zweckmäßig“ für Integration und Annäherung an Wahrheit und Richtigkeit sein können.85 9. Von solchen materialen Ausgleichspflichten im Kommunikationsprozess, die in modernen Rechtsordnungen zum Teil vertreten und positiviert werden, sind die 79

Zitat oben Fn. 47. Siehe oben bei Fn. 24 ff. 81 Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Taschenbuchausgabe 1961, S. 12, 14, zum „aufrechten Gang“ und hierzu auch Brugger (Fn. 12), S. 543. 82 Kant, Handschriftlicher Nachlaß, AA XXIII 279, zitiert und interpretiert bei Marc Schütze, Subjektive Rechte und personale Identität, 2004, S. 171. Für diese Sicht der Dinge spricht auch „Was ist Aufklärung“, wie eindrücklich die Eingangssätze deutlich machen. Selbstverschuldet ist danach die Unmündigkeit, wenn „die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude!“, AA VIII 35. 83 Beispiel bei Niesen (Fn. 7), S. 236 Fn. 363. 84 Oben bei Fn. 55 ff. 85 In diesen Zusammenhang gehören auch Bemerkungen Kants, die sonstige sozialstaatliche Aktivitäten von Herrschern angehen. Diese sind zwar nicht aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten geboten, dürfen aber trotzdem getroffen werden zur inneren Stabilisierung des Gemeinwesens. Siehe Gem., AA VIII 298; MS AA VI 326. 80

VI. Rückblick und Ausblick

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konsequentialistischen Fragen nach Förderung oder Schädigung von Personen (Einzelner oder Gruppen) oder Handlungssystemen (insbesondere Ökonomie und Politik) analytisch zu unterscheiden, obwohl sie in der Praxis oft und auch bei Redetheoretikern manchmal zusammenhängen oder nicht immer getrennt werden, auch bei Kant nicht. Nimmt man etwa das Mundtotmachen in Form des „silencing“86, das aggressive Rede von Mehrheiten gegen Minderheiten haben kann – etwa von Weißen gegen Schwarze („Nigger!“) oder von Männern gegen Frauen (Pornographie) –, dann sieht man, wie verwoben die materiale Autonomie mit dem konsequentialistischen Argument ist. Trotzdem sollte man fragen: Wie gewiss ist die Konsequenz der kommunikativen Einschüchterung der Dunkelhäutigen und Frauen (oder anderer Minderheitsgruppen)? Schließlich steht ihnen, obwohl Minderheit bzw. (bei den Frauen) Minderheitsansicht (zur Sexualität), das formal gleiche Recht der Gegenrede zu. Reicht das nicht aus? Sollten wir nicht erwarten, dass jede Minderheitsgruppe, die sich unterdrückt fühlt, aufsteht und die Stimme erhebt? Das wäre die Konsequenz des „aufrechten Gangs“, verbunden mit der formellen Autonomiesicht. Dann erwarten wir einen „Kampf ums Recht“87 bzw. einen „Kampf um Anerkennung“88, in dem mögliche oder sogar wahrscheinliche Konsequenzen von Herabwürdigung nicht ohne weiteres regulierbar oder verbietbar sind, jedenfalls was bloße Unwerturteile ohne Tatsachenunterfütterung angeht. Dann spricht vielleicht89 mehr gegen als für den Schutz von gutem Ruf oder eventuell sogar der kommunikativen Respektierung des Menschenstatus.90 Das gälte jedenfalls für Situationen, in denen rhetorische Gegenwehr möglich und zumutbar ist91, insbesondere Vorkehrungen gegen den Umschlag von rhetorischer zu tätlicher Aggression getroffen sind. Anders sieht dies natürlich das materiale Autonomiemodell, dem jedes nichttriviale Defizit an gleicher Ausdruckmacht als Autonomieeingriff erscheint und das demgemäß dann nicht nur keine Gegenwehr erwartet, sondern sich fürsorglich, paternalistisch für staatliche Umverteilung und Gleichverteilung an kommunikativer Macht einsetzt und dafür die Möglichkeit schädlicher Konsequenzen für die Selbstachtung von rhetorisch angegriffenen Personen und Gruppen ausreichen lässt. 86 Beispiel aus Niesen (Fn. 7), S. 237, der zu schnell davon ausgeht, dass solche Kommunikationen „Negationsmöglichkeiten abschneiden und Widerspruch ersticken“. Siehe Brugger (Fn. 12), S. 522 f., 527 ff., 536 ff., 542 ff. 87 Siehe die bekannte Schrift von Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht, Vortrag 1872. 88 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 2002. 89 Das Wörtchen „vielleicht“ ist eingefügt, weil es bei den Konsequenzen nicht nur um direkte Schäden bei den rhetorisch Angegriffenen geht, sondern auch um die hier nicht erörterte Frage, wer denn für die Wahrung einer gewissen Zivilität in kommunikativen Auseinandersetzungen zuständig sein soll: die „Gesellschaft“ oder der „Staat“? 90 Siehe meinen Artikel oben Fn. 12, insbesondere Abschnitt VI. 91 Dies ist z. B. nicht der Fall bei schädigenden Äußerungen von Massenmedien gegenüber Privatpersonen, weswegen die Landespressegesetze einen Gegendarstellungsanspruch enthalten. Darauf weist zu Recht Niesen (Fn. 7), S. 235, hin.

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§ 5 Kants System der Redefreiheit

Anhang: Tabelle zum System der Redefreiheit bei Kant Rollen des Menschen als Rechtsperson

Ebene der Redefreiheit

Konzeption der Mündigkeit

Mensch als Mitglied der Menschengemeinschaft

Mitteilungsfreiheit Rechtsmündigkeit als generelle Zwecksetzungsautonomie

Autonomie als genereller Anspruch auf Achtung

Staatsbürger als Mitglied der politischen Gemeinschaft

Politische Redefreiheit

Autonomie als Anspruch auf Achtung im konkreten Wahlvermögen

Wahlmündigkeit i.S.d. empirischen Selbständigkeit zur Interessen- und Gerechtigkeitsargumentation

Weltbürger als Mitglied Freier öffentlicher Aufgeklärte Mündigkeit. der Weltbürgergesellschaft Vernunftgebrauch Weltweite und gegenseitige Wahl und Verteidigung von Lebensplänen und Gerechtigkeit

Konzeption der Autonomie

Autonomie als Fortschrittsideal und anzustrebender Wert allseitiger Mündigkeit

§ 6 Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht* I. Streit um die rechtliche Einordnung von Hassrede Die Meinungsfreiheit wird in liberalen Staaten traditionell hochgehalten. Grundrechte schützen sie und Verfassungsgerichte betonen ihren hervorgehobenen Stellenwert. Gilt das auch noch, wenn es sich bei den Äußerungen um umstrittene und anstößige Minderheitenansichten handelt, die die Mehrheit empörend findet? Auch dann ist die Meinungsfreiheit in modernen Rechtsordnungen verfassungsrechtlich geschützt, ja gerade dann, denn die Mehrheitsmeinung braucht keinen Grundrechtsschutz, sie ist kulturell verankert und politisch abgesichert. Es ist die von der herrschenden Sicht abweichende Meinung, die Schutz gegen Mehrheitsunterdrückung braucht – und auch verdient. So sehen es Klassiker der Meinungsfreiheit. Voltaire, prominenter Vertreter der französischen Aufklärung, vertrat die Auffassung: „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde Ihr Recht, Ihre Meinung zu äußern, bis zum letzten verteidigen.“1 John Stuart Mill legte 1859 in seiner Schrift „Über Freiheit“ eine vehemente Verteidigung der freien Rede vor.2 Der englische Philosoph Bertrand Russell betonte: „Es ist ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, dass größere Gruppen, ja sogar Mehrheiten, Toleranz gegenüber abweichenden Gruppierungen üben, wie klein diese immer sein mögen und wie groß die Empörung der großen Gruppen und Mehrheiten auch sein mag. In einer Demokratie ist es notwendig, dass die Bürger lernen, solche Empörungen auszuhalten.“3 Ganz in *

Deutsche Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im Herbstsemester 2001 an mehreren Rechtsfakultäten der USA gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 1 Oft wird dies als wörtliches Zitat Voltaires angesehen. Simon Lee, The Cost of Free Speech, 1990, S. 3, weist darauf hin, dass dies eine nachträgliche Zusammenfassung von Voltaires Philosophie ist. Zu diesem Zitat auch Anja Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, 2001, S. 21; Stephen J. Roth, The Laws of Six Countries: An Analytical Comparison, in: Louis Greenspan/Cyril Levitt (Hrsg.), Under the Shadow of Weimar. Democracy, Law, and Racial Incitement in Six Countries, 1993, S. 177 (181). 2 On Liberty, 1859. Deutsche Übersetzung etwa in der Übertragung von Achim v. Borries, 1969. Vgl. vor allem Kap. 2, zusammenfassend S. 64 f. 3 Zitiert in: John Dewey/Horace M. Kallen (Hrsg.), The Bertrand Russell Case, 1941, S. 183, hier zitiert nach Harry M. Bracken, Freedom of Speech. Words Are Not Deeds, 1994, S. 32. Übersetzung von Winfried Brugger. Aufgeklärte Sozialisten betonen diesen Punkt ebenfalls, vgl. Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, in: dies., Politische Schriften III,

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§ 6 Verbot oder Schutz von Hassrede?

diesem Sinne urteilen Verfassungsgerichte. So betont der Supreme Court der Vereinigten Staaten, dass „anstößige Rede“ über den 1. Zusatzartikel, der die Redefreiheit verankert4, geschützt ist5, und nichts anderes hören wir vom Bundesverfassungsgericht: Auch eine „überzogene oder gar ausfällige Kritik“ fällt unter die Meinungsfreiheit.6 Gilt dies auch noch, wenn es sich um Hassrede handelt? Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst näher auf den Begriff einzugehen. „Hate Speech“ umfasst „Äußerungen …, die geeignet sind, eine Person oder eine Gruppe zu beschimpfen, einzuschüchtern oder zu belästigen sowie solche, die geeignet sind, zu Gewalt, Haß oder Diskriminierung aufzurufen.“ Grund für den Hass oder die Diskriminierung ist meist „Rasse, Religion, Geschlecht oder sexuelle Orientierung.“7 Deshalb wird das Thema Hassrede auch unter Rassenhetze behandelt.8 Zwar liefert diese Definition noch kein konkretes Anschauungsmaterial, das man offensichtlich braucht, um Hassrede von „normal“ anstößiger Rede zu unterscheiden, aber immerhin lässt sich so nachvollziehen, warum diese Art von Rede vielleicht keinen Schutz verdient: Warum sollte eine Rechtsordnung, die Bürger integrieren oder jedenfalls friedliche Zustände sichern will, Hass schützen? Hass schürt Unfrieden, kann zu Gewalt führen. Dann liegt der Schluss nahe, dass statt Rede „Handlung“ vorliegt, und Handlungen können leichter vom Staat reguliert werden als Werturteile.9 Von dieser Sicht ausgehend, wäre Hassrede, statt als „normal“ anstößige Rede hrsg. von Ossip K. Flechtheim, 1968, S. 106 (134): „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden.“ Oliver Wendell Holmes bemerkte einmal, dass es „not free thought for those who agree with us, but freedom for the thought that we hate“ sei, was den Wert der Redefreiheit ausmache: United States v. Schwimmer, 279 U.S. 644, 654 f. (1929), abweichende Meinung. 4 Amendment 1 formuliert: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peacably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.“ Der Zusatzartikel garantiert mehrere Grundrechte, die im Grundgesetz unter Art. 4, 5, 8 und 17 fallen. 5 Vgl. generell zum Schutz von „offensive speech“ Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Auflage 2001, § 14 IV. 6 BVerfGE 93, 266 (294) – Soldaten sind Mörder. 7 So Zimmer (Fn. 1), S. 17 m.w.N. Vgl. auch Roth (Fn. 1), S. 194: „The grounds on which incitement to hatred is outlawed are usually color, race, religion, ethnic origin and national origin. However, there are variations …“. Siehe ferner unten Fn. 21 zu § 130 III StGB, Fn. 39 zu R.A.V und Fn. 63 zu „Soldaten sind Mörder“. 8 So bei Friedrich Kübler, Rassenhetze und Meinungsfreiheit, AöR 125 (2000), S. 109 ff. Rechtlicher Hintergrund ist insbesondere das 1969 in Kraft getretene Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Art von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966, dem auch die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist. Vgl. BGBl. 1969 II S. 962. 9 Soweit statt Rede „Handlung“ vorliegt, kommt das allgemeine Freiheitsrecht zur Anwendung. Vgl. auch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit auf friedliche Versammlungen in Art. 8 GG und im 1. Zusatzartikel der US-Verfassung, oben Fn. 4.

I. Streit um die rechtliche Einordnung von Hassrede

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auch oder sogar vorrangig geschützt zu sein, weniger oder gar nicht als „Rede“ geschützt. Im Überblick betrachtet, lässt sich die Haltung aufgeklärter Rechtsstaaten und des Völkerrechts10 gegenüber Hassrede weder auf „immer geschützt“ noch auf „nie geschützt“ reduzieren. Vielmehr kommt das Recht ihr manchmal zu Hilfe, manchmal nicht. Aber im weltweiten Vergleich lassen sich zwei Staatengruppen ausmachen, die klare Akzente für und gegen Hassrede setzen.11 Das Verfassungsrecht der USA schützt „hate speech“ fast immer, auch wenn solche Rede erhebliche Kosten für die Würde, Ehre, Gleichheit der Angegriffenen oder die Zivilität der öffentlichen Auseinandersetzung und den öffentlichen Frieden mit sich bringt. Grund hierfür ist, dass das US-Verfassungsrecht auch bei Hassrede primär Rede vorliegen sieht, die wiederum, verglichen mit konkurrierenden Werten, in fast allen Fällen als „vorrangiges Recht“ eingestuft wird: Rede, die Anstoß erregt, soll mit Gegenrede beantwortet werden, nicht mit staatlicher Regulierung. Deutschland, die Mitgliedstaaten des Europarats, Kanada (um nur einige wichtige Länder zu nennen) sowie das Völkerrecht sehen dagegen bei Hassrede eher Hass als Rede vorliegen und versagen Rede einen generellen Vorrang vor dem Schutz von Würde, Ehre, Gleichheit, Zivilität und öffentlichem Frieden. Es handelt sich bei diesen Unterschieden nicht um juristische Petitessen, sondern um gegensätzliche Legitimierungsstrategien im Systemvergleich von Staaten, die alle unter „demokratischer Rechtsstaat“ firmieren. Wo genau zeigen sich die Unterschiede, was steckt hinter diesem tiefen kulturellen Graben zwischen den USA und den meisten anderen aufgeklärten Rechtsstaaten? Dieser Frage soll im Folgenden anhand des deutschen Verfassungs- und Strafrechts nachgegangen werden, wobei man die deutsche Haltung im Großen und Ganzen als die außerhalb Amerikas herrschende Ansicht – also die Weltsicht – verstehen kann12; als Kontrast ziehe ich das Verfassungsrecht der USA heran.13 Um die Differenzen zu illustrieren, benutze ich einen hypothetischen Fall, der aber, wie sich zeigen wird, nicht ganz aus dem Blauen gegriffen ist. Nehmen wir an, wir sitzen eines schönen Nachmittags auf den Stufen des Kapitols in Washington, D.C. Plötzlich wird die Stille unterbrochen. Eine Demonstrantin hält ein Plakat in die Höhe und erhebt ihre Stimme: „Wacht auf, Ihr müden Massen. Ich verkünde Euch 10

Ausführlich hierzu Zimmer (Fn. 1). Nachweise bei Winfried Brugger, Constitutional Treatment of Hate Speech, in: Eibe H. Riedel (Hrsg.), Stocktaking in German Public Law. German Reports on Public Law, presented to the XIV. International Congress on Comparative Law, Brisbane, 14 – 20 July 2002, 2002, S. 117 ff. 12 Vgl. aus umgekehrter Sichtweise Roth (Fn. 1), S. 186: „[We] have, in regard to straight incitement or group libel laws, a situation of ,United States v. the rest of the world’, and this is not only true of the legal situation but also of political opinion.“ 13 Es versteht sich von selbst, dass in einem Vortrag zu einem solch komplexen Thema manches Detail nicht zur Sprache kommt; ferner ist klar, dass es sowohl in Deutschland als auch in den USA Kritik an der herrschenden Meinung gibt, die hier im Vordergrund steht. Vgl. auch die ausführliche Darstellung von Edward J. Eberle, Dignity and Liberty. Constitutional Visions in Germany and the United States, 2002, Kap. 7: Freedom of Expression. 11

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fünf Botschaften, und Ihr tut gut daran, sie zur Kenntnis zu nehmen und zu billigen! Die erste Botschaft ist: Unser Präsident ist ein Schwein. Damit Ihr versteht, was ich sagen will, habe ich auf meinem Plakat zwei Bilder gemalt. Auf dem einen Bild seht Ihr unseren Präsidenten als Schwein, das mit einem anderen Schwein kopuliert; das zweite Schwein, wie leicht zu erkennen ist, trägt eine Richterrobe. Das andere Bild zur Veranschaulichung meiner Botschaft zeigt den Präsidenten in einer Toilette in einer erotischen Pose mit seiner Mutter. Die zweite Botschaft ist: Alle unsere Soldaten sind Mörder! Die dritte Botschaft lautet: Schluss mit der Invasion und Überfremdung unseres Landes durch diese kriminellen Ausländer, die unsere Freiheit und unser Eigentum bedrohen und uns mit Drogen überschwemmen! Viertens verkünde ich: Der Holocaust hat niemals stattgefunden! Und fünftens sage ich Euch: Afro-Amerikaner benutzen in den USA die Sklavereilüge genauso, wie Juden in Deutschland die Auschwitzlüge benutzen, um sich politische und finanzielle Vorteile zu verschaffen. Dagegen muss etwas unternommen werden!“ Wären diese fünf Botschaften grundrechtlich geschützt oder nicht? Das hängt von den schon angedeuteten Differenzen ab. In den USA fallen alle diese Botschaften unter den Schutz der Redefreiheit und setzen sich auch gegenüber konkurrierenden Interessen durch. Die gleichen Worte, auf den Stufen des Reichstags in Berlin oder anderswo in Deutschland geäußert, wären Straftaten, und die Berufung auf die Meinungsfreiheit würde daran nichts ändern. Die Äußerungen stellten entweder schon keine Meinungen im verfassungsrechtlichen Sinn dar, oder qualifizierten sich zwar als solche, würden aber durch konkurrierende verfassungsrechtliche Interessen zurückgedrängt, weil es sich um Hassrede oder um hassredeähnliche Äußerungen handelt. Wo, wie und warum ergeben sich diese Unterschiede?

II. Das anwendbare Recht und die Abwägungsregeln des BVerfG Das Grundgesetz enthält wie alle modernen Verfassungen ein Grundrecht der Redefreiheit. Art. 5 I formuliert: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten …“. Diese Vorschrift wird in Art. 5 selbst sowie in den Art. 4, 8, 9 und 21 GG umrankt von anderen Kommunikationsfreiheiten, die einen freien Kommunikationsfluss absichern, sei es über religiös-weltanschauliche, massenmediale, wissenschaftliche oder künstlerische Äußerungen, die allein oder in Versammlungen, Vereinigungen oder politischen Parteien abgegeben werden. Dogmatisch gibt es zwischen diesen Artikeln auf Schutzbereichs- wie Schrankenseite gewisse Unterschiede, die aber für die Diskussion von Hassrede kaum bedeutsam sind, weil es im Endeffekt immer auf die Abwägung konkurrierender Verfassungsrechtspositionen ankommt und insbesondere auf die Bedeutung

II. Das anwendbare Recht und die Abwägungsregeln des BVerfG

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von Meinungsfreiheit abzustellen ist.14 Unter Meinung versteht das BVerfG Aussagen, die „durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt sind … Für sie ist das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend … Insofern lassen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. [Es kommt nicht darauf an,] ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird … Eine Meinungsäußerung verliert den grundrechtlichen Schutz nicht dadurch, dass sie scharf oder verletzend formuliert ist …“.15 Das BVerfG weist wie der U.S. Supreme Court Argumente zurück, wonach Worte, die verletzen, schon gar nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, sondern als (sozusagen tätliche) Attacke dem leichter einschränkbaren allgemeinen Freiheitsrecht zugeordnet werden.16 Während diese Zuordnung von verletzenden Worten zur Redefreiheit in Amerika aufgrund des generellen Vorrangs von jeder Art von Rede vor anderen Verfassungswerten in fast allen Fällen das Ergebnis vorherbestimmt, trifft in Deutschland eher das Gegenteil zu. Die stark meinungsfreiheitsfreundliche, ja gar libertär klingende Bestimmung des Schutzbereichs verspricht weit mehr, als sie hält17, denn bei wirklich verletzenden, die Mehrheit empörenden Meinungsäußerungen wird über die einschlägigen Grundrechtsschranken ein Großteil dessen zurückgenommen, was vorher bei der Bestimmung des Schutzbereichs als grundsätzlich schutzwürdig eingestuft wurde. Exemplarisch soll dies anhand von zwei Normen dargestellt werden, die für die Lösung der fünf Ausgangsfälle eine entscheidende Rolle spielen: Beleidigung und Volksverhetzung im Strafgesetzbuch. Der 14. Abschnitt im StGB befasst sich mit „Beleidigung“, wobei der Begriff in der Überschrift in einem weiteren Sinn zu verstehen ist als der engere § 185: „Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe … bestraft.“ Beleidigung als Abschnittsüberschrift umfasst die §§ 185 bis 200 StGB, also etwa auch die Üble Nachrede des § 186 StGB und die Verleumdung des § 187 StGB, während § 185 StGB diese beiden Normen gerade ausschließt. Geschützt ist in diesen Vorschriften die Ehre, die dem inneren oder allgemeinen Achtungsanspruch des Menschen einerseits, dem sozialen Gel14 Vgl. etwa die Brokdorf-Entscheidung des BVerfG, E 69, 315 (344 f.), und den Beschluss zur Strauß-Karikatur, BVerfGE 75, 369 (386 ff.). 15 BVerfGE 90, 241 (247) – Auschwitzlüge. St. Rspr. 16 Zu dieser Ansicht vgl. Mari Matsuda u. a., Words that Wound: Critical Race Theory, Assaultive Speech, and the First Amendment, 1994. Kritisch zur Gleichsetzung von verletzenden Worten und Verletzung bzw. Tätlichkeit aus linguistischer Sicht Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, 1998. 17 Man könnte sagen, dass dies durch die notwendige Unterscheidung von Schutzbereich und Schranke bedingt ist, doch scheint mir, dass es insoweit doch unterschiedliche Grade von Auseinanderfallen zwischen dem „grundsätzlich“ und dem „letztendlich“ geschützten Verhalten gibt, und dass bei Hassrede das Auseinanderfallen besonders groß ist. Geht es vielleicht um Mitnahme rhetorischer Effekte ohne entsprechenden Substanzwert?

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tungsanspruch des Menschen andererseits zukommt. Eine Beleidigung liegt vor, wenn diese Ehre durch die Kundgabe eigener Missachtung oder Nichtachtung angegriffen wird.18 Hassrede sowohl gegen einzelne Personen als auch gegen Gruppen und Kollektive kann unter diese Vorschriften fallen. Neben den die Ehre schützenden Vorschriften enthält das StGB im 7. Abschnitt „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“, von denen hier die Volksverhetzung des § 130 StGB behandelt wird, weil sie für die Bestrafung von Hassrede besonders illustrativ ist.19 Die Vorschrift sieht in Abs. 1 folgendes vor: „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert, oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Abs. 2 bestraft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe „1. Schriften …, die zum Hass gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer dadurch angreifen, dass Teile der Bevölkerung oder eine vorbezeichnete Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden“, soweit diese Schriften in näher bezeichneter Weise unter das Publikum gebracht werden. Dieser Absatz ist deshalb interessant, weil er implizit eine Konkretion der schon zuvor bezeichneten Hassgründe im Rahmen von Hassrede bereitstellt.20 Absatz 3 des § 130 StGB schließlich pönalisiert AuschwitzLügen jeder Art: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220 a StGB Abs. 121 bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.“ Der Absatz wurde 1994 in das Strafgesetzbuch aufgenommen, um alle Arten von Auschwitzlügen effektiv zu kriminalisieren, sogar die bloße Leugnung des Holocaust; nach der zuvor geltenden Rechtslage war dies nicht immer der Fall.22 18

Vgl. Lackner/Kühl, StGB, 24. Auflage 2001,Vor § 185 Rn. 1 und § 185 Rn. 4. Daneben sind für Hassrede vor allem bedeutsam die §§ 84 ff., 109 d, 111, 130 a, 131, 189, 194 StGB. Zu diesen wie weiteren Vorschriften siehe Albin Eser, The Law of Incitement and the Use of Speech to Incite Others to Commit Criminal Acts: German Law in Comparative Perspective, in: David Kretzmer/Francine Kershman Hazan (Hrsg.), Freedom of Speech and Incitement Against Democracy, 2000, S. 119 ff. 20 Vgl. oben Fn. 7. 21 § 220 a StGB stellt den Völkermord unter Bestrafung. 22 Vgl. Thomas Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, 2000, S. 139 ff.; Eric Stein, History Against Free Speech: The New German Law Against the „Auschwitz“ and Other „Lies“, 85 Michigan Law Review 277 (1986); Juliane Wetzel, The Judicial Treatment of Incitement Against Ethnic Groups and of the Denial of National Socialist Mass Murder in the Federal Republic of Germany, in: Greenspan/Levitt (Fn. 1), S. 83 ff.; Klaus Günther, The Denial of the Holocaust: Employing Criminal Law to Combat Anti-Semitism in Germany, Tel 19

II. Das anwendbare Recht und die Abwägungsregeln des BVerfG

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Diese Sanktionierungen von Hassrede sind von der Rechtsprechung als verfassungsgemäß eingestuft worden.23 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung kommt auf zwei Ebenen zustande: einer abstrakten und einer konkreten.24 Abstrakt verweist das BVerfG auf Verfassungsnormen, die ein Gegengewicht zur Meinungsfreiheit bilden und konkurrierende Interessen schützen. Im Vordergrund stehen der Schutz der Menschenwürde der durch Hassrede Angegriffenen (Art. 1 I), das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 I), Gleichheit (Art. 3 I) und Ehrenschutz der Attackierten sowie der Jugendschutz (Art. 5 II); den Hintergrund bilden der Menschenrechtsschutz (Art. 1 II) und die Öffnung des Grundgesetzes für internationale Anliegen (Art. 24, 25, 59 II), über die die einschlägigen Pakte etwa zur Eliminierung von Rassismus25 Eingang in die Abwägung konkurrierender Interessen finden. Auf dieser abstrakten Ebene der Abwägung von Normen finden sich also deutliche Gegengewichte zu einer Verabsolutierung von Meinungsfreiheit. Hier ergibt sich ein erster Unterschied zur US-Verfassung. In dieser ist die Redefreiheit nicht einer von mehreren Grundrechtsartikeln, sondern in Anordnung und Wichtigkeit der erste Artikel der Bill of Rights.26 Ihn umgibt in Amerika die Aura, die bei uns die Menschenwürde in Anspruch nimmt, ja Menschenwürde wird von vielen als durch den aufrechten kommunikativen Gang konstituiert angesehen.27 Ferner enthält das First Amendment keine expliziten Schranken; das stärkt den Eindruck

Aviv University Studies in Law 15 (2000), S. 51 ff. Auf S. 55 wird das Motiv der Gesetzgebung genannt: „The impetus for new legislation … was based on two factors: 1) the need to prevent anti-Semitism; and 2) Germany’s eagerness to show the rest of the world that the new Republic does take measures against it.“ Letzteres führt zu der Frage, in welchem Umfang außenpolitische Belange den Grundrechtsschutz einengen dürfen. Dass solche Überlegungen insbesondere bei den deutschen Obergerichten in Hassredefällen eine Rolle spielen, vermutet Stein, a.a.O., S. 299 nach Durchsicht der Rechtsprechung. 23 Gleiches gilt für die vielen anderen Verbote, die sich in anderen Vorschriften finden. Dazu schon oben Fn. 11. Jedenfalls ist bislang keine dieser Vorschriften für verfassungswidrig erklärt worden. 24 Zu dieser Unterscheidung Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1697 (1701 f.), auch zu dem Kontrast zu den U.S.A. 25 Vgl. oben Fn. 8. 26 Vgl. oben Fn. 4, 5. 27 Illustrativ ist die Entscheidung West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624, 642 (1943), in der der Supreme Court eine Verpflichtung von Schülern zum Salutieren vor der Nationalflagge als verfassungswidrig erklärte. Rechtstechnisch geht es um eine Variante der Redefreiheit in Form des Rechts auf Nichtäußerung, berühmt geworden ist die Entscheidung aber über diesen Aspekt hinaus durch folgende vielzitierte Passage: „[If] there is any fixed star in our constitutional constellation, it is that no official, high or petty, can prescribe what shall be orthodox in politics, nationalism, religion, or other matters of opinion or force citizens to confess by word or act their faith therein.“ Verallgemeinert: Der Staat muss in Bezug auf gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse neutral sein; diese sollen frei sein. Vgl. auch Eberle (Fn. 13), S. 191 f. , 231, 235 und unten Fn. 38 f.

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eines besonders wichtigen, gegenüber anderen Interessen vorrangigen Rechts.28 Weiterhin ist in der Verfassung der USA die internationale Einbindung weit schwächer ausgeprägt.29 Schließlich gibt es keine ausdrückliche Verankerung der Menschenwürde und des Ehrenschutzes.30 Was die konkrete Abwägung angeht, so hat das BVerfG fallgruppenbezogene Regeln entwickelt. „Danach beansprucht die Meinungsfreiheit keineswegs den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz … Vielmehr geht bei Meinungsäußerungen, die als Formalbeleidigung oder Schmähung anzusehen sind, der Persönlichkeitsschutz der Meinungsfreiheit regelmäßig vor … Bei Meinungsäußerungen, die mit Tatsachenbehauptungen verbunden sind, kann die Schutzwürdigkeit vom Wahrheitsgehalt der ihnen zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen abhängen. Sind diese erwiesen unwahr, tritt die Meinungsfreiheit ebenfalls regelmäßig zurück … Im übrigen kommt es darauf an, welches Rechtsgut im Einzelfall den Vorzug verdient. Dabei ist aber zu beachten, daß in Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren, eine Vermutung zugunsten der freien Rede spricht …“.31 Auf dieser konkreten Ebene der Abwägung wird der Unterschied zwischen Deutschland und Amerika noch deutlicher. In den USA ist die Meinungsfreiheit in aller Regel, von ganz engen, noch anzusprechenden Ausnahmen abgesehen, das gegenüber anderen Interessen und Verfassungswerten vorrangige Recht. In Deutschland dagegen ist Persönlichkeitsschutz und dahinter stehende Menschenwürde wichtiger. Bei deren Verletzung, bei Formalbeleidigung und Schmähung und unwahren Behauptungen tritt die Freiheit der Rede zurück. Trotzdem will das BVerfG nicht auf den traditionellen Sonderstatus von freier Rede verzichten, der sich in der Rhetorik aller demokratischen Rechtsstaaten wiederfindet.32 Den Ausweg findet das Gericht über die These, die Meinungsfreiheit sei zwar kein generell vorrangiges, aber ein speziell bedeutsames Grundrecht. In der Lüth-Entscheidung findet sich die grundlegende Formulierung: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt … Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der 28

Vgl. zur absolutistischen Lesart des First Amendment Brugger, Einführung (Fn. 5), S. 158. 29 Vgl. Winfried Brugger, Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen Verfassung und des Grundgesetzes, AöR 126 (2001), S. 337 (396 ff.). 30 Ganz so einseitig ist das Bild freilich nicht. Grenzen der Meinungsfreiheit finden sich zwar nicht im Text des First Amendment, aber in der Rspr. des Supreme Court, worauf noch einzugehen sein wird. Rassische Gleichberechtigung ist ein Wert, den die amerikanische Verfassung vor allem in den Zusatzartikeln 13 bis 15 unterstützt, und der 14. Zusatzartikel enthält ein allgemeines Gleichheitsrecht. 31 BVerfGE 90, 241 (248) – Auschwitzlüge, m.w.N. Siehe auch BVerfGE 93, 266 (293 f.) – Soldaten sind Mörder – zur Rolle der Menschenwürde. 32 Vgl. exemplarisch Fn. 1 – 3.

II. Das anwendbare Recht und die Abwägungsregeln des BVerfG

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Meinungen, der ihr Lebenselement ist … Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ,the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom‘ (Cardozo).“33 In dieser Formulierung wie an vielen anderen Stellen34 wird eine auf zwei Ebenen angesiedelte Funktionsanalyse von Meinungsfreiheit deutlich, über die der spezielle Rang abgesichert wird: Zum einen ist die Äußerung von Meinung konstitutiv für Menschsein und damit für jeden Menschen als solchen, unabhängig von einer Bewertung der Folgen, die die Äußerung für andere oder das Gemeinwesen haben. Zum anderen stellt das Gericht auch auf die Folgen ab. Je nachdem, ob diese für das grundgesetzliche Gemeinwesen als demokratischer Rechtsstaat positiv oder negativ sind, ist an besonders starken oder weniger ausgeprägten Schutz für Rede zu denken. Am klarsten wird diese Überlegung im Fall öffentlichkeitsbedeutsamer, politischer Rede: Der Schutz solcher Rede ist historisch und systematisch der Kern von Meinungsfreiheit. Sie verdient besonders starken Schutz; amerikanisch gesprochen handelt es sich um „high-value speech“. Die beiden Argumente können sich unterstützen oder in Spannung zueinander stehen, wie gerade noch am Beispiel Hassrede zu zeigen sein wird. Dogmatisch umgeformt führen diese Funktionsüberlegungen das BVerfG zu drei Folgen: Bei Einschränkungen der Meinungsfreiheit insbesondere über die Schranke der „allgemeinen Gesetze“ in Art. 5 II GG genügt nicht jedes „normale“ öffentliche Interesse; vielmehr müssen die Schranken „in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt.“35 Zweitens setzt ein „allgemeines“ Gesetz in der Regel voraus, dass das Gesetz sich nicht gegen Meinung an sich oder eine spezielle Meinung richtet; allerdings ist solches „Sonderrecht gegen Meinung“ nicht immer ausgeschlossen. Ausnahmen hält das BVerfG für möglich, und unter diese Ausnahmen fallen die zahlreichen Sanktionen gegen Hassrede.36 Drittens müssen im Rahmen dieser Wechselwirkung zwischen Schutz und Beschränkung von Äußerung die Gerichte bei einer vom Staat regulierten oder sanktionierten Meinung eben dieser Meinung auch eine freiheitsfreundliche Interpretation zukommen lassen. Soweit eine Äußerung mehrere Deutungen zulässt, dürfen die Exekutivorgane und letztlich die Gerichte von der illegalen Bedeutungsvariante nur dann ausgehen, wenn sie

33 BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. St. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 69, 315 (344 ff.) – Brokdorf – mit parallelen Äußerungen zur Versammlungsfreiheit. 34 Vgl. etwa BVerfGE 82, 272 (281); 85, 23 (31); Grimm (Fn. 24), S. 1698; Hans Peter Bull, Freiheit und Grenzen des politischen Meinungskampfes, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 163 ff.; Winfried Brugger, Freiheit der Meinung und Organisation der Meinungsfreiheit, EuGRZ 14 (1987), S. 189 (197 f.). 35 BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. 36 Nachweise oben Fn. 11.

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§ 6 Verbot oder Schutz von Hassrede?

zuvor andere, gleichfalls mögliche, legale Deutungen überzeugend ausgeschlossen haben.37 Im amerikanischen Verfassungsrecht werden diese drei Punkte aufgenommen, aber zugunsten der Meinungsfreiheit noch verschärft: Die Redefreiheit ist nicht nur ein „besonders wichtiges“, sondern ein in fast allen Fällen „vorrangiges“ Recht. Sonderrecht gegen Meinung hat demnach nicht nur eine gewisse verfassungsrechtliche Verdächtigkeit, die dann doch in nicht wenigen Fällen überwunden werden kann, sondern „viewpoint discrimination“ ist wirklich verdächtig und führt in aller Regel zur Verfassungswidrigkeit. Nicht wenige Autoren bezeichnen solches Meinungssonderrecht („favoritism“) als „Todsünde“, auch wenn diese mit bester Absicht begangen wird, nämlich um Hassrede zu eliminieren.38 Im dritten Punkt, der freiheitsfreundlichen Auslegung von vom Staat sanktionierten Äußerungen, besteht keine Differenz.39

III. Analyse streitiger Fälle Nach dieser Skizze der Dogmatik der Meinungsfreiheit wenden wir uns einschlägigen Fallgruppen zu.

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Vgl. etwa BVerfGE 82, 272 (280 f.) – Zwangsdemokrat. Vgl. Kathleen Sullivan, Freedom of Expression in the United States: Past and Present, in: Thomas R. Hensley (Hrsg.), The Boundaries of Freedom of Expression and Order in American Democracy, 2001, S. 1 (9): „[V]iewpoint discrimination by the government is the cardinal First Amendment sin, all the more when it is directed against political dissent … Unter this approach, one may express any idea one wants as long as it remains on the side of the mind/body line, no matter how unpatriotic and no matter how far beyond the pale it might seem in civilized society.“ Siehe auch James Weinstein, Hate Speech, Pornography, and the Radical Attack on Free Speech Doctrine, 1999, S. 54; Eberle (Fn. 13), S. 234 und R.A.V. v. City of St. Paul, 505 U.S. 377 (1992). In dieser Entscheidung erklärte der Supreme Court eine städtische Satzung für verfassungswidrig, die ein Verbot enthalten hatte gegen „the display of a burning cross, a swastika, or other symbol that one knows or has reason to know ,arouses anger, alarm or resentment in others‘ on the basis of race, color, creed, religion, or gender“. Die letztgenannten Kriteren entsprechen den üblichen Kriterien von Hassrede, vgl. oben Fn. 7. Genau dieses Element von „viewpoint discrimination“ war nach Auffassung des Supreme Court der Grund für die Verletzung der Redefreiheit. Der Träger öffentlicher Gewalt wollte einige Standpunkte sanktionieren, andere nicht. „Displays containing abusive invective, no matter how vicious or severe, are permissible unless they are addressed to one of the specified disfavored topics. Those who wish to use ,fighting words‘ in connection with other ideas – to express hostility, for example, on the basis of political affiliation, union membership, or homosexuality – are not covered. The First Amendment does not permit St. Paul to impose special prohibitions on those speakers who express views on disfavored subjects“ (S. 391). „The point of the First Amendment is that majority preferences must be expressed in some fashion other than silencing speech on the basis of its content“ (S. 391). 39 Das wird etwa daran deutlich, dass der Supreme Court großzügig verfährt, wenn es um die Frage geht, unter welchen Bedingungen „symbolische Rede“, zum Beispiel das Verbrennen von Nationalflaggen, unter die Redefreiheit fällt. Siehe Brugger, Einführung (Fn. 5), § 14 VI. 38

III. Analyse streitiger Fälle

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1. Beleidigung von einzelnen Personen Hassrede richtet sich meist gegen Kollektive oder Individuen als Mitglieder solcher Kollektive. Doch kann sich exzessive Kritik, die jedenfalls im Umkreis von Hassrede angesiedelt ist, auch gegen einzelne Personen richten und nach deutschem Recht strafbar sein, wenn sie sich als Beleidigung im Sinne von § 185 StGB darstellt. Beleidigung ist nach herrschender Meinung ein illegaler Angriff auf die Ehre einer Person durch Kundgabe eigener Missachtung oder Nichtachtung.40 Der Begriff bekommt deutlichere Konturen, wenn man drei unterschiedliche Arten von Ehre unterscheidet, die Angriffspunkt verbaler Attacken werden können.41 (1) Im elementarsten Sinn umschreibt Ehre den Personstatus eines jeden Menschen. Respekt verdient jede Person, unabhängig davon, ob sie etwas leistet, wieviel sie leistet oder ob sie sich „etwas geleistet“ hat, etwa als Straftäter. Dies ist der Achtungsanspruch, der jedem Menschen gleichermaßen zukommt und dessen Kernschutz in Art. 1 I GG liegt. Verletzt ist diese Ebene von Ehre, und eine Beleidigung liegt vor, wenn einem Menschen über eine Äußerung dieser elementare Achtungsanspruch bestritten wird. Im Zentrum stehen demnach verbale Attacken, die dem Angegriffenen den Menschenstatus bestreiten, etwa in Form von Theorien rassischer Über- und Unterlegenheit, oder wenn eine Person mit Tieren gleichgestellt und dadurch der Menschenwürdestatus bestritten wird. (2) Die zweite Ebene von Ehre bezieht sich auf die Bewahrung und den Schutz von Minimalanforderungen im gegenseitigen Umgang. Hier geht es „allgemein“ um elementare zivile Umgangsformen sowie um die Beachtung „besonderer“ sozialer Rollen und Stellungen durch entsprechende Kommunikationsformen, ohne dass man wirklich meinen muss, was man sagt.42 Kernpunkt ist der soziale Achtungsanspruch, der verfassungsrechtlich vor allem im Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I GG angesiedelt ist. Dieser soziale Achtungsanspruch kann verletzt sein und eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB liegt vor, wenn abwertende Urteile ausgesprochen oder Charaktermängel vorgeworfen werden. Beispiele sind etwa der als „Scheißbulle“ titulierte Polizist oder das als „Lump“ und „Idiot“ bezeichnete Gegenüber. Ein Grenzfall zwischen Ebene (1) und (2) liegt vor bei der Bezeichnung eines Körperbehinderten

40 Nachweise oben Fn. 19 und bei Schönke/Schröder, StGB, 26. Auflage 2001, Vor § 185 Rn. 1 und § 185 Rn. 2. 41 Meist wird im Strafrecht nur zwischen zwei Arten von Ehren unterschieden, dem allgemeinen Menschheitsanspruch und dem sozialen Geltungsanspruch. Die hier vertretene Differenzierung nimmt diese Unterscheidung auf, verfeinert sie aber etwas. 42 Deshalb nennt James Q. Whitman, Enforcing Civility and Respect: Three Societies, 109 Yale Law Journal 1279 (2000), S. 1290, 1292, 1337, 1382 dies „outward show of respect“. Historisch und philosophisch liegt der Schwerpunkt von Ehre in Fallgruppe (1) bei allgemeiner (Menschen-)Würde und in Fallgruppe (2) bei besonderen (ehemals ständischen) Würdigkeiten, die inzwischen bei uns zu allgemeinen Zivilitätsnormen hochgezont wurden. Dazu noch unten Fn. 52 f. und zu der genannten Unterscheidung auch Josef Isensee, Grundrechte auf Ehre, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 5 f., 8 f., 21 f.

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als „Krüppel“.43 Ein Grenzfall zwischen Strafbarkeit und Nichtstrafbarkeit liegt vor, wenn das Gegenüber statt mit „Sie“ mit „Du“ angesprochen oder wenn ein Professor nicht als solcher betitelt wird. Diese Fälle reichen je nach Gericht und Kontext schon in den Bereich der nichtstrafbaren bloßen Unhöflichkeit oder Taktlosigkeit hinein, eine Strafbarkeit kann aber auch hier nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.44 (3) Die dritte Ebene von Ehre kommt dann ins Spiel, wenn Tatsachen behauptet werden, die den sozialen Geltungsanspruch, die Reputation des Angegriffenen dadurch beeinträchtigen, dass die Umwelt oder ein Teil derselben vor dem Hintergrund einer solchen Behauptung „mit so einer Person“ nichts mehr zu tun haben oder keine Geschäfte mehr abschließen will.45 Verfassungsrechtlich geht es ebenfalls um das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I GG; im Hintergrund steht in den Fällen, in denen Ansehen und Einkommen verknüpft sind, Art. 12 GG, das Grundrecht auf ungehinderte berufliche Entfaltung und Gelderwerb. Strafrechtlich wird hier der Schritt getan vom § 185 StGB, der solche schädlichen Tatsachenbehauptungen nur zwischen Äußerer und Angesprochenem umfasst, zu den §§ 186 und 187 StGB, die solche Behauptungen als Beleidigung im weiteren Sinn unter Strafe stellen, soweit Üble Nachrede oder Verleumdung vorliegt. Dies ist etwa der Fall, wenn jemandem nachgesagt wird, er habe eine Straftat oder schlimme moralische Verfehlungen begangen.46 Damit kommen wir zum ersten Ausgangsfall. Dort hatte die Demonstrantin den Präsidenten ein Schwein genannt und zur Veranschaulichung ein Plakat gemalt, auf dem zum einen der Präsident als Schwein dargestellt war, das mit einem anderen Schwein in der Robe der Justiz kopuliert; zum anderen wurde der Präsident auf der Toilette in einer erotischen Pose mit seiner Mutter dargestellt. Die Bezeichnung als Schwein und das erstgenannte Bild deuten evident auf eine öffentlichkeitsbedeutsame und politische Problematik hin. Auch ohne genauere Untersuchung des Vorfalls weiß man: Dem Präsidenten wird eine Manipulation der Justiz vorgeworfen oder zugetraut. Solche Kritik zu schützen, ist das Kernanliegen der Meinungsfreiheit, die im Strafgesetzbuch dadurch auf Normebene eingebunden wird, dass § 193 StGB die „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ schützt, worunter die Aktualisierung der Meinungsfreiheit fällt. Als öffentlichkeitsbedeutsame Äußerung sollte diese Äußerung stark geschützt sein, und nach amerikanischer Auffassung wäre sie dies auch; sie würde sich gegen den Achtungsanspruch des Präsidenten durchsetzen. Anders 43 Vgl. BVerfGE 86, 1 (13): „Heute wird die Anrede eines Menschen mit dem Wort ,Krüppel‘ als Demütigung verstanden. Er wird damit zum minderwertigen Menschen gestempelt.“ 44 Vgl. Schönke/Schröder (Fn. 40), § 185 Rn. 13. 45 Letztlich geht es um die Selbstverfügung über das Bild, das man als Individuum der Öffentlichkeit präsentieren will, und den Schutz vor dessen Verfälschung durch Zuschreibung falscher Tatsachenbehauptungen. Vgl. BVerfGE 54, 148 (155). 46 Eine weitere Kampffront ist der Privatsphärenschutz, der ebenfalls über Art. 1 I und 2 I GG abgesichert ist. Nicht jedes private Detail darf in die Öffentlichkeit gezerrt werden, auch wenn es wahr ist. Zum Privatsphärenschutz siehe Isensee (Fn. 42), S. 19, 39 f.

III. Analyse streitiger Fälle

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jedoch das BVerfG in dem Franz-Josef-Strauß-Karikaturfall, der den realen Hintergrund des hypothetischen Falles bildet. Das BVerfG sieht in diesem Fall eine Schmähkritik vorliegen, die, obwohl als Kunst unter Art. 5 III GG fallend, letztlich grundrechtlich nicht abgedeckt wird; die Schranke „Persönlichkeitsrecht“ in Verbindung mit der Menschenwürde des Angegriffenen bekommt den Vorrang zugesprochen. In den Worten des Gerichts: „Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass für Karikaturen Übertreibungen ,strukturtypisch‘ sind und Personen, die … im öffentlichen Leben stehen, in verstärktem Maße Zielscheibe öffentlicher, auch satirischer Kritik sind, überschreiten die Darstellungen bei weitem die Grenze des Zumutbaren … Dem Beschwerdeführer ging es … anders als in den üblichen Darstellungen nicht nur darum, bestimmte Charakterzüge oder die Physiognomie eines Menschen durch die Tiergestalt zu kennzeichnen oder zu überspitzen, beabsichtigt war offenkundig ein Angriff auf die personale Würde des Karikierten. Nicht seine menschlichen Züge, seine persönlichen Eigenarten, sollten dem Betrachter durch die gewählte Verfremdung nahegebracht werden. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass er ausgesprochen ,tierische‘ Wesenszüge habe und sich entsprechend benehme. Gerade die Darstellung sexuellen Verhaltens, das beim Menschen auch heute noch zum schutzwürdigen Kern seines Intimlebens gehört, sollte den Betroffenen als Person entwerten, ihn seiner Würde als Mensch entkleiden. Damit missachtet der Beschwerdeführer ihn in einer Weise, die eine Rechtsordnung, welche die Würde des Menschen als obersten Wert anerkennt, missbilligen muss.“47 Wenn wir dieser Argumentation des BVerfG folgen, dann wäre auch die zweite Zeichnung der Demonstrantin eine strafbare Beleidigung. Anders sähe dies der amerikanische Supreme Court, wie der Fall Hustler Magazine v. Falwell zu erkennen gibt, der Pate für den fiktiven Fall gestanden hat.48 Dort hatte ein Untergericht dem Kläger Jerry Falwell, einem Fernsehprediger und damit einer Person zwar nicht der Politik, aber des öffentlichen Lebens, ein hohes Schmerzensgeld zugesprochen für die vorsätzliche Zufügung seelischer Leiden („intentional infliction of emotional distress“) durch Hustler Magazine. Diese im Umfang stark umstrittene Anspruchsgrundlage baut nicht auf der Behauptung und dem Nachweis falscher Tatsachenbehauptungen auf, sondern auf der Tatsache, dass manche Worte wirklich

47 BVerfGE 75, 369 (379 f.) – Strauß-Karikatur. Amerikanische Verfassungsrechtler, die diesen Fall geschildert bekommen, sehen ganz andere Evidenzen: Hier liege offensichtlich ein politisches (Un-)Werturteil vor und keine sexuelle Beleidigung; diesem Politiker werde ein schweinischer gleich schlimmer, manipulativer Umgang mit der Justiz vorgeworfen oder zugemutet. Ein solches Urteil zu äußern, müsse auf jeden Fall verfassungsrechtlich gewährleistet sein. 48 Vgl. 485 U.S. 46 (1988). Der Strauß-Fall und der Falwell-Fall werden ausführlich verglichen von Georg Nolte, Falwell v. Strauss: Die rechtlichen Grenzen politischer Satire in den USA und der Bundesrepublik, Europäische Grundrechte Zeitschrift 15 (1988), S. 253 ff.; siehe auch Grimm (Fn. 24), S. 1701 f.

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verletzen49 – das Gericht hatte der Parodie50 nicht die Behauptung unterstellt, Jerry Falwell habe tatsächlich sexuelle Beziehungen mit seiner Mutter gepflegt. Das Urteil wurde vom Supreme Court aber aufgehoben. Das Oberste Gericht sah mit der Vorinstanz keine Tatsachenbehauptung vorliegen, die – der deutschen Fallgruppe (3) entsprechend – zu einer Verurteilung als „Diffamierung“ („defamation“) hätte führen können, sondern ein krasses, exzessives Werturteil. Die Karikaturisten trauten offenbar – dem Strauß-Fall ähnlich – Jerry Falwell alles Mögliche zu und hielten gar nichts von seinem Charakter und seinen Predigten zur Sexualmoral. Solche Urteile darf man nach dem Supreme Court treffen, jedenfalls gegenüber in der Öffentlichkeit stehenden Personen. Deren Ehrenschutz setzt sich gegenüber exzessiver Kritik, auch Schmähkritik, nicht durch, vielmehr muss die öffentliche Auseinandersetzung offen und robust geführt werden können, damit ja keine möglicherweise relevante Kritik aus dem Markplatz der Meinungen ausgeschlossen wird. Grenze ist nur „defamation“ im Sinne der oben genannten Fallgruppe (3). Die deutschen Ehrfallgruppen (1) menschlicher Achtungsanspruch an sich und (2) sozialer Geltungsanspruch gegenüber überzogenen (aber ohne tatsächliche Grundlage aufgestellten) Werturteilen gibt es in den USA nicht oder jedenfalls nur in marginaler Ausprägung.51 Wie die beiden Vergleichsfälle belegen, ergeben sich die Differenzen zwischen Deutschland und Amerika vor allem bei stark negativen Werturteilen anderen gegenüber, die den Angegriffenen wirklich treffen. Es handelt sich entweder um bloße Werturteile ohne unterstützende Tatsachenbehauptungen, oder solche werden zwar mitgenannt oder impliziert, treten aber gegenüber dem abwertenden Urteil so stark in den Hintergrund, dass das Urteil zur Häme wird und nach deutscher Auffassung dann dem Ehrschutz weichen muss, während das amerikanische Verfassungsrecht das genau umgekehrt sieht. Textlich lässt sich diese Differenz mit der schon erwähnten Tatsache erklären, dass das Grundgesetz, anders als die US-Verfassung, in der Abwägung zwischen Meinungsäußerung und Ehre/Würde deutlichere Akzente auf die letztgenannten Positionen setzt. Historisch sieht sich das deutsche Verfassungsrecht durch den Nationalsozialismus gerechtfertigt oder gar genötigt, dem Schutz der 49

Vgl. oben Fn. 16. Es handelte sich um ein erfundenes Interview mit Jerry Falwell mit einem beigefügten Foto. In Kleinbuchstaben am Seitenende wurde das Interview als Parodie bezeichnet, die man nicht ernst nehmen solle. 51 Ausnahmen betreffen aggressive oder sexuelle Rede am Arbeitsplatz, die zur Einschüchterung der Attackierten führt, oder ernsthafte Drohungen mit Gewalt. Versuche, an Universitäten „hate speech codes“ zu etablieren, sind zum großen Teil gescheitert, vgl. Milton Heumann/Thomas W. Church (Hrsg.), Hate Speech on Campus, 1997. Zum Schutz selbst nationalsozialistischer Propaganda siehe Collin v. Smith, 578 F.2nd 1197 (1978). Anders als „hate speech“ können „hate crimes“ streng, ja strenger als sonstige Straftaten bestraft werden, vgl. Brugger, Einführung (Fn. 5), S. 175. Letzteres mag deutschen Juristen inkonsequent erscheinen, lässt sich aber auf die für Amerika grundlegende Differenz zwischen Rede und Handlung („speech“ versus „conduct“) zurückführen, vgl. oben Fn. 38 zu Sullivan. Deutlich wird der Unterschied auch anhand der Bezeichnung als Krüppel (Fn. 43): „[One] can say ,white son of a bitch, I’ll kill you‘ in America, but one cannot call someone a cripple in Germany“: Eberle (Fn. 13), S. 232. 50

III. Analyse streitiger Fälle

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Menschenwürde besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Kulturell schließlich baut Deutschland, wie die zweite Kategorie von Ehre und Beleidigung zeigt, auf einer Tradition auf, die Elementarbestandteile von Zivilität im gegenseitigen Umgang nicht nur gesellschaftlich schätzt und verfassungsrechtlich hochhält, sondern zur Vermeidung von Verletzungsfällen auch strafrechtlich sanktioniert.52 Man könnte auch sagen: Deutschland benutzt das Strafrecht, um die äußere Zivilität des Umgangs vorsorglich hochzuzonen, etwa im Sinne der Maxime: Jeder Bürger ist in Ansätzen ein Aristokrat mit den entsprechenden Umgangsformen, auch wenn durch diese staatlich durchgesetzte Zivilität in einigen wenigen oder auch zahlreichen Fällen die Offenheit und Robustheit kommunikativer Auseinandersetzung leidet.53 Auf der Strecke bleibt manchmal oder auch öfter die Spontaneität der Auseinandersetzung, und weniger Gebildete oder Disziplinierte haben eher das Nachsehen – ein Gleichheitsverstoß gegenüber dem „einfachen Volk“? Zudem wird die Ernsthaftigkeit der traditionellen Behauptung, das Strafrecht sei nur „ultima ratio“54, relativiert. In den USA hält sich das Recht aus solchen Zivilitätskonflikten heraus. Diese Konflikte sollen in der Gesellschaft und nicht per Staatsgewalt gelöst werden. Man könnte auch sagen: Das Recht zont nicht hoch, sondern herunter: Jeder hat das Recht, grob zu sein.55 Das bringt zwar Kosten für soziale und manchmal auch allgemeinmenschliche Achtungsansprüche mit sich, soweit nicht gesellschaftliche Normen Zivilität durchsetzen, verbürgt aber andererseits, dass keine möglicherweise bedeutsame Meinung verloren geht.56 Implizit mutet das Recht und muten die Gerichte der Öffentlichkeit auch zu, zwischen „dem Rechten“ im Sinne des Moral und Sitt52

Dazu ausführlich die Untersuchung von Whitman (Fn. 42). Zu dieser Terminologie des „leveling up and down“ und zu dem aristokratischen Hintergrund der deutschen Ehrebene (2) ausführlich Whitman (Fn. 42), S. 1285, 1384 ff., dessen Einseitigkeit darin liegt, dass er die Bedeutung der Ebene (1) von Ehre in Deutschland etwas zu gering einschätzt. 54 Hierzu im Zusammenhang mit Hassrede Eser (Fn. 19), S. 141, 145. 55 Dies ist ein wesentlicher Gesichtspunkt von Kritikern in Deutschland, die das deutsche Ehrenschutzrecht nicht, wie in diesem Vergleich mit dem amerikanischen Recht, als zu ehrenlastig, sondern als zu meinungsfreiheitsfreundlich ansehen: Die Ehre eines jeden müsse gegen Grobheiten und Rohheiten individueller wie massenmedialer Attacken geschützt werden. Vgl. repräsentativ Isensee (Fn. 42), S. 37, 45 und weitere Nachweise bei Bull (Fn. 34), S. 179 ff., der auch auf die Spannungen hinweist zwischen Konfliktoffenheit (S. 164, 168) und der Maxime „fortiter in re, suaviter in modo“ (S. 172 f.). 56 Political correctness im gesellschaftlichen Umgang kennt man in den USA wie in Deutschland. Mein Eindruck ist aber, dass deren Rolle in den USA weit größer ist. Möglicherweise erklärt sich das aus der geringeren Rolle rechtlicher Sanktion; diese Vakanz von Staat muss die Gesellschaft kompensieren. Solche Überlegungen gehören einerseits zur ultima ratioProblematik des Strafrechts, andererseits zur angemessenen Abgrenzung von „Staat und Gesellschaft“. Deutschland erweist sich in seinem Ehrenschutzrecht als deutlich staatslastiger als Amerika. Isensee (Fn. 42), S. 46 spricht vorrechtliche Regulierungsebenen an, freilich ohne „amerikanische“ Folgen zu ziehen. Hier müsste man des Näheren begrifflich zwischen „PC“ und anderen Sozialnormen unterscheiden und empirisch untersuchen, ob und wie die einzelnen Normtypen wirken. 53

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lichkeit Entsprechenden und „dem Recht“ zu unterscheiden; nicht alles, was man tun darf, sollte man auch tun.57 Zudem sind die Gerichte in weit weniger Fällen als in Deutschland gezwungen, sich in das oft unentwirrbare und unvorhersehbare Dickicht von Auseinandersetzungen zwischen Ehransprüchen und Äußerungsrechten zu begeben.58 Solche Auseinandersetzungen um den zwischen den Bürgern erwartbaren Respekt nehmen in multikulturellen Gesellschaften noch zu: Die amerikanische Antwort auf diese Entwicklung ist: Das müssen die Mitglieder dieser Gruppen und – wie gleich noch erörtert wird – auch diese Gruppen selbst unter sich ausmachen; das Recht hält sich in aller Regel zurück59 ; das deutsche Ehrenrecht dagegen mischt sich ein und will mit dem Strafrecht Ehrverletzungen vielgestaltiger Art abschrecken und notfalls auch bestrafen.

2. Kollektivbeleidigung Kollektivbeleidigung kann in Deutschland nach den §§ 185 ff. StGB bestraft werden, aber auch unter den Volksverhetzungsparagraphen fallen. Personenmehrheiten sind unter bestimmten Voraussetzungen beleidigungsfähig. Entweder handelt es sich bei der angegriffenen Gruppe um eine Organisation, die (1) eine anerkannte soziale Aufgabe erfüllt, (2) einen einheitlichen Willen bilden und nach außen umsetzen kann und (3) vom Bestand ihrer Mitglieder unabhängig ist. Dann liegt in einer verbalen Attacke, die eine Ehrverletzung darstellt, eine „Kollektivbeleidigung“ im engeren Sinn. Oder es handelt sich um eine Kollektivbeleidigung im weiteren Sinn oder „Sammelbeleidigung“. Diese ist im Grunde eine Ansammlung von vielen Individualbeleidigungen, bei der die Ehre eines jeden unter der Sammelbezeichnung angegriffen wird. Es muss aber wirklich eine Attacke auf die persönliche Ehre eines jeden vorliegen, und nicht nur mancher, vieler oder typischer Vertreter der Gruppe, weil es ansonsten bei der Beleidigung von Einzelnen unter einer Kollektiv- oder Sammelbezeichnung an der Bestimmbarkeit und Individualisierbarkeit des Ehrangriffs fehlt. Umgesetzt auf die Strafrechtsdogmatik führt dies zu der Anforderung, dass die Gruppe von der Allgemeinheit deutlich abgegrenzt sein muss, was in der Regel nur bei Minderheitsgruppen der Fall sein dürfte.60

57 So betont der Supreme Court in der R.A.V.-Entscheidung (Fn. 38) etwa, Staat und Gesellchaft könnten sicher etwas gegen Rassenhetze tun, aber eben nicht durch rechtliche Sanktionierung unliebsamer Botschaften. 58 Eine eindrucksvolle Liste von „beleidigenden“ Äußerungen i.S.d. § 185 StGB findet sich bei Whitman (Fn. 42), S. 1304 ff., der von „Rabelaisian dimensions“ (S. 1305) spricht und meint: „Americans will see an incomprehensible insensitivity to the value of free speech …“ (S. 1306). 59 Vgl. Roth (Fn. 1), S. 179 f. 60 Vgl. Wandres (Fn. 22), S. 202 ff.; Schönke/Schröder (Fn. 40), § 185 Rn. 3 ff.; Lackner/ Kühl (Fn. 18), Vor § 185 Rn. 2 ff.

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Diese strafrechtlichen Überlegungen hat das BVerfG für die verfassungsrechtliche Überprüfung von strafrechtlich sanktionierten Ehrbegriffen übernommen.61 Es hat auch eine Klarstellung vorgenommen: In der Tat setze eine Kollektivbeleidigung i.w.S. eine kleinere, überschaubare Gruppe voraus. Denkbar sei aber auch eine Kollektivbeleidigung von größeren Gruppen, „insbesondere dann, wenn die Äußerungen an ethnische, rassische, körperliche oder geistige Merkmale anknüpfen, aus denen die Minderwertigkeit einer ganzen Personengruppe und damit zugleich jedes einzelnen Angehörigen abgeleitet wird“.62 Das führt zum zweiten Ausgangsfall, in dem die Demonstrantin „Alle unsere Soldaten sind Mörder“ verkündet hatte. Liegt darin eine strafbare Kollektivbeleidigung, die von der Meinungsfreiheit nicht abgedeckt ist? Der Ausgangsfall ist dem realen Soldaten-sind-Mörder-Fall63 ähnlich, weicht aber in einem Detail ab: Nicht „Soldaten sind Mörder“ ist die Botschaft, sondern „Alle unsere Soldaten sind Mörder“. Das kann nach der Rechtsprechung des BVerfG den entscheidenden Unterschied machen. In dem realen Fall hatte das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit einer Kollektivbeleidigung unter anderem mit dem Argument verneint, bei „Soldaten sind Mörder“ sei nicht klar, ob nur und ob alle Soldaten der Bundeswehr oder ob auch andere Soldaten, vielleicht sogar alle Soldaten der Welt gemeint gewesen seien. Zur Individualisierung einer Kollektivbeleidigung bedürfe es aber der in dem Fall nicht vorhandenen bzw. vom Strafgericht nicht überzeugend nachgewiesenen Spezifizierung der Attackierten. In dem Ausgangsfall wird dieser Zweifel durch die Formulierung „Alle unsere Soldaten“ beseitigt. Dann gälte nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass „die Strafgerichte von Verfassungs wegen nicht gehindert [wären], in den (aktiven) Soldaten der Bundeswehr eine hinreichend überschaubare Gruppe zu sehen, so dass eine auf sie bezogene Äußerung auch jeden einzelnen Angehörigen der Bundeswehr kränken kann, wenn sie an ein Merkmal anknüpft, das ersichtlich oder zumindest typisch auf alle Mitglieder des Kollektivs zutrifft.“64 Die Kränkung liegt in der Bezeichnung als Mörder. Das interpretiert das Gericht nicht als Angriff auf den Personstatus, als rechtstechnische Behauptung einer Straftat nach § 211 StGB oder als bloße Diffamierung ohne sachlichen Grund bzw. Schmähkritik, sondern – meinungsfreiheitsfreundlich – als Auseinandersetzung „um die Frage, ob Krieg und Kriegsdienst und die damit verbundene Tötung von Menschen sittlich gerechtfertigt sind oder nicht“. „Bei dem Widerstreit von Wehrbereitschaft und Pazifismus handelt es sich um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, bei der eine Vermutung zugunsten der Redefreiheit spricht.“65 Aus 61

Vgl. BVerfGE 93, 266 (299 ff.) – Soldaten sind Mörder. A.a.O., 304. Hier wird der Konnex hergestellt zwischen der Sammelbeleidigung und der Definition von Hassrede. Vgl. schon oben Fn. 7. 63 Vgl. die vorherigen Fn. 64 A.a.O., 302. Relativierend zur sonst vertretenen Sicht ist die Erwähnung von „zumindest typisch“. 65 A.a.O., 303 bzw. 303 f. 62

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seiner Sicht spricht mehr für eine vielleicht überzogene, exzessive, aber in der Sache – im Soldatengeschäft gründende – Kritik, die grundrechtlich erlaubt sein sollte. Das Nichtvorliegen einer Schmähkritik schließe freilich eine sonstige Ehrverletzung nicht aus.66 Damit wird eine gewisse Brücke gebaut zu den strafgerichtlichen Urteilen und dem Sondervotum, die in der Bezeichnung als Mörder die Gleichstellung der Soldaten mit Schwerstkriminellen nicht nur abstrakt, sondern auch im konkreten Fall gesehen hatten, die weit über das legitime Ziel politischer Kritik hinausschieße, wenn nicht sogar eine Schmähkritik darstelle. In den USA könnte die Aussage „Alle unsere Soldaten sind Mörder“ nicht als Kollektivbeleidigung bestraft werden. Die Begründung wäre ziemlich einfach: Zum ersten wird nur „defamation“ vom Schutz der Redefreiheit ausgenommen, was in diesem Fall die faktische Behauptung voraussetzt, dass eine bestimmte Person „Mord“ oder vielleicht noch „Totschlag“ begangen hat; die bloße Behauptung, das Soldatengeschäft liege moralisch auf der gleichen Stufe wie Töten oder Morden, würde nicht ausreichen. Ferner existiert in den USA die Kategorie der Kollektivbeleidigung nicht, es müssten wirklich einzelne Personen auftreten, die vergleichbar den §§ 186 und 187 StGB „diffamiert“ worden sind. Das Fehlen der Kategorie Kollektivbeleidigung in den USA wird auch illustriert durch einen vergleichenden Blick auf die Volksverhetzung in § 130 StGB.67 Diese Strafvorschrift, die „Teile der Bevölkerung“ (Abs. 1) oder nationale, rassische, religiöse oder durch das Volkstum bestimmte Gruppen (Abs. 2) vor näher bezeichneten rhetorischen Attacken schützen soll, hat starke Ähnlichkeiten mit der Kollektivbeleidigung der §§ 185 ff., doch ist das geschützte Rechtsgut letztlich ein anderes: der öffentliche Friede. Es soll ein Volksverhetzungsklima verhindert werden, das Volksverhetzungsstraftaten fördert.68 Oder anders gesagt: Die Vorschrift geht davon aus, dass „hate speech“ zu „hate crimes“ führen kann, und will diese Gefahr einer Gefahr69 mindern. Es handelt sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das, strafrechtlich gesprochen, deutlich vor der drohenden Straftat oder deren Anstiftung liegt. Gewisse Ähnlichkeiten bestehen mit der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten i.S.d. § 111 StGB. § 130 geht aber mit den meisten Varianten über diese Vorschrift hinaus: „(1) Anstiftung, (2) öffentliche Aufforderung zu Straftaten und (3) Volksverhetzung [stehen] zueinander in einem Stufenverhältnis, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass der für die Tatbestandserfüllung erforderliche Konkretisierungsgrad der Aufforderung hinsichtlich Tat, Täter und Opfer in der Reihenfolge der Aufzählung immer weiter abnimmt, um sich schließlich bei der Volksverhetzung auf 66 A.a.O., 304. Das bezieht sich offenbar auf die weiter oben angesprochene Ebene (2) des Ehrbegriffs. 67 Text oben bei Fn. 20. 68 Vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage 2001, § 130 Rn. 1 a: „Durch § 130 sollen bereits bestimmte Handlungen, auch solche im Vorfeld der Gewalt, die Hassgefühle wecken und dadurch zu aggressivem Fehlverhalten führen und ein gewaltförderndes Klima begünstigen können, wirksamer bekämpft werden.“ 69 So treffend Wandres (Fn. 22), S. 221. Vgl. auch BGHSt 46, 212 (218 ff.).

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die Bestimmung der Gruppe zu beschränken, der ein potentielles Opfer aus Sicht des Hetzenden angehören soll. Die Fragen ,Was soll denn dem Opfer angetan werden?‘ (konkrete Tat) und ,Wer soll es tun?‘ (konkreter Täter) bleiben hingegen, abgesehen von nebulösen Andeutungen, unbeantwortet.“70 Diese Vorschrift stellt eine weitreichende Einschränkung der Redefreiheit dar, soweit eine Äußerung aggressive Züge hat und gegen Gruppen gerichtet ist. Im Grunde ist § 130 StGB ein Strafrechtsschwert zur Kontrolle der politischen Wetterlage, ein Klimadelikt.71 Nach amerikanischer Ansicht liegt in solcher „Meinungsdiskriminierung“ die Todsünde in Bezug auf die Respektierung von Redefreiheit. Es besteht kein Zweifel, dass diese Vorschrift jedenfalls nach neuerer Auffassung in den USA verfassungswidrig wäre. Anderes gilt für eine ältere Sichtweise, wie der Fall Beauharnais v. Illinois aus dem Jahr 1952 illustriert. Beauharnais war Präsident der Liga Weißer Kreis und hatte in dieser Funktion eine Petition verbreitet, in der der Bürgermeister und der Stadtrat von Chicago dazu aufgerufen wurden, „to halt the further encroachment, harassment and invasion of white people, their property, neighborhoods and persons by the Negro“. Das Flugblatt rief die „one million self respecting white people in Chicago“ dazu auf, sich zusammenzuschließen und fügte hinzu: „If persuasion and the need to prevent the white race from becoming mongrelized by the negro will not unite us, then the aggressions, [rapes], robberies, knives, guns and marijuana of the negro surely will.“ Dem Flugblatt war ein Anmeldeformular für die Liga Weißer Kreis beigefügt.72 Beauharnais wurde nach einem dem deutschen Volksverhetzungsparagraphen ähnlichen Statut des Staates Illinois verurteilt. Dieses verbot die Verteilung von Material, das „portrays depravity, criminality, unchastity, or lack of virtue of a class of citizens, of any race, color, creed or religion which said publication … exposes the citizens of any race, color, creed or religion to contempt, derision, or obloquy or which is productive of breach of the peace or riots.“ Der Supreme Court bestätigte die Verurteilung und ging von der Verfassungsmäßigkeit der Strafvorschrift aus. Justice Frankfurter hielt fest: „No one will [dispute] that it is libelous to falsely accuse another with being a rapist, robber, carrier of knives and guns, and user of marijuana … [This being so,] if an utterance directed at an individual may be the subject of criminal sanctions, we cannot deny to a State [the right] to punish the same utterance directed at a defined group, unless we can say that this is a willful and purposeless restriction unrelated to the peace and well-being of the State.“73 Damit war die Zulässigkeit der Kollektivbeleidigung im Grunde den gleichen Regeln unterstellt wie

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Wandres (Fn. 22), S. 211. Dieser Begriff taucht tatsächlich im Schrifttum auf. Vgl. Zimmer (Fn. 1), S. 18, 21 und implizit an vielen anderen Stellen, sowie weitere Nachweise bei Lackner/Kühl (Fn. 18), § 130 Rn. 1; Tröndle/Fischer (Fn. 68), § 130 Rn. 1 a (Fn. 68), 8, 18; BGHSt 46, 212 (221 f.). 72 343 U.S. 250, 252 (1952). 73 A.a.O., 257. 71

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die Individualbeleidigung und in eine Straftat vom Typ „breach of the peace“ eingekleidet. Der Supreme Court hat Beauharnais v. Illinois niemals formell außer Kraft gesetzt. Faktisch aber ist die Entscheidung durch die neuere Rechtsprechung marginalisiert und im Grunde bedeutungslos gemacht worden. Seit langem geht der Supreme Court davon aus, aggressive Äußerungen gegen Individuen wie Kollektive könnten nur dann kriminalisiert werden, wenn sie zu der klaren und gegenwärtigen Gefahr eines illegalen Aktes führten oder wenn die Äußerung in der konkreten Situation den Umschlag von Wort zu Tätlichkeit erwarten lässt („fighting words“). In neueren Entscheidungen sagt das Gericht, der Staat dürfe die allgemeine Befürwortung von Gewalt oder Illegalität nur dann kriminalisieren, wenn „such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action and is likely to incite or produce such action“.74 Nach dieser Rechtsprechung wären große Teile des § 130 StGB sowie das Illinois-Statut verfassungswidrig, und die „Rassenhetze“ von Herrn Beauharnais wäre im Rahmen der Redefreiheit geschützt. Das gilt auch für die dritte Botschaft unserer Demonstrantin, die dem Beauharnais-Sachverhalt nachempfunden ist, allerdings ohne die dort erwähnte Mischlingsund Bastardargumentation („mongrelized“): „Schluß mit der Invasion unseres Landes durch diese kriminellen Ausländer, die unsere Freiheit und unser Eigentum bedrohen und uns mit Drogen überschwemmen.“ Diese Botschaft wäre in Deutschland nicht geschützt, sondern kriminalisiert als Volksverhetzung nach § 130 I StGB.75 Zwar sind sachliche Berichterstattungen über die Kriminalität von bestimmten Teilen der Bevölkerung erlaubt, selbst wenn sie geeignet sind, ein feindseliges Klima gegen bestimmte Gruppen zu schaffen oder zu verstärken, und insgeheim vielleicht sogar in böser Absicht erfolgen.76 Aber „sachlich“ in dem hiermit vorausgesetzten Sinn war die Kritik nicht, sondern pauschal und nach deutscher Rechtsprechung diffamierend77, weil sie Teile der Gruppen generell mit den ge-

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Sogenannter Brandenburg-Test, nach Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969). Es handelt sich um eine Variante des zuvor genannten „clear and present danger test“. Vgl. als neueres Beispiel Planned Parenthood v. American Coalition of Life Activists, 244 F.3rd 1007 (9th Cir. 2001): Die Lebensschutzorganisation hatte die Adressen von Abtreibungsärzten ins Internet gestellt und zu Protest (nicht aber explizit zu Gewalt) aufgefordert. Gegen einige dieser Ärzte wurden Anschläge verübt. Trotzdem fiel die Internet-Seite unter den Schutz der Redefreiheit. Das Gericht wählte eine redefreundliche Interpretation der Botschaft. Eine Aufforderung zu einer Straftat hätte eine explizite Aufforderung sein müssen; solches der Website implizit zu unterlegen, hielt das Gericht für ausgeschlossen angesichts der Tatsache, dass es um eine hochstreitige öffentliche Angelegenheit – Abtreibung – ging. 75 Eventuell kommt auch eine Strafbarkeit nach den §§ 185 und 186 StGB in Form der Kollektivbeleidigung in Betracht. 76 So Schönke/Schröder (Fn. 40), § 130 Rn. 5 a. 77 Vgl. Tröndle/Fischer (Fn. 68), § 130 Rn. 11: „Gemeint ist [mit Aufstacheln zum Hass] … ausländerfeindliche Propaganda in Form von pauschalen Diffamierungen und Diskriminierungen.“

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nannten Gruppen gleichstellt und mit dem Makel des Straftäters und Drogenhändlers versieht.78 Welche Überlegungen stehen hinter der Rechtsprechung der USA, die dem deutschen Rechtsverständnis deutlich widerspricht? Mehrere Gründe lassen sich anführen79 : Erstens gehen die Amerikaner davon aus, dass in einem Wettbewerb von Meinungen oder Tatsachenbehauptungen die „guten“ Meinungen und „wahren“ Behauptungen sich gegenüber den „schlechten“ Meinungen und „unwahren“ Behauptungen durchsetzen werden80, während in Deutschland der kollektive Instinkt entgegengesetzt ist. Etwas überspitzt, aber in der Sache durchaus treffend formuliert: „Die Schreckgespenster der Volksverhetzung [in Deutschland] heißen ,Pogrom‘, ,Massaker‘ und ,Genozid‘.“81 Der Kontrast wird anhand der Beauharnais-Fallgestaltung und der dritten Botschaft unserer Demonstrantin deutlich: Wenn die Behauptungen über die Kriminalitätsraten von Farbigen oder Ausländern und deren Lebensführung nicht stimmen, wird sich das nach der neueren amerikanischen Auffassung zur Redefreiheit im Laufe einer offenen Diskussion schon herausstellen. Ein solches Ergebnis, wenngleich über verbale Attacken erkauft, ist nach US-Sicht letztlich integrativer als das in Deutschland schnell gezückte Strafrechtsschwert. Und soweit die Daten stimmen oder lediglich übertrieben sind, wird in vielleicht überzogener Wertung jedenfalls ein öffentlich bedeutsames Problem diskutiert; das muss in einer freiheitlichen Demokratie möglich sein. Zweitens haben Amerikaner mit dieser Art von aggressiver Rede nicht nur schlechte, sondern auch positive, befreiende Erfahrungen gemacht: Es sind ja schließlich nicht nur Mehrheiten oder von der Mehrheit unterstützte oder geduldete Minderheiten, die gegen andere Gruppen hetzen, sondern unterdrückte Minderheiten haben über eine expansive Sicht der Meinungsfreiheit ebenfalls die Möglichkeit, auf 78 Vgl. als vergleichbare deutsche Fälle VG Frankfurt, Beschluss vom 22. 2. 1993, NJW 1993, S. 2067 und hierzu die Kritik von Gerd Roellecke, Keine Freiheit den Feinden der Freiheit, NJW 1993, S. 3306 ff.; ferner die Bestrafung des Gedichts „Der Asylbetrüger in Deutschland“, BayObLG, Beschluss vom 31. 1. 1994, NJW 1994, S. 952. Nicht alle Urteile bevorzugen den kollektiven Ehrenschutz und die Volksverhetzung so stark wie die vorgenannten. Vgl. als Gegenbeispiele etwa die Beschlüsse der 1. Kammer des BVerfG vom 24. 3. 2001 (1 BvQ 13/01), 7. 4. 2001 (1 BvQ 17/01), 12.4. 2001 (1 BvQ 19/01), 1.5. 2001 (1 BvQ 22/ 01), abgedruckt in NJW 2001, S. 2069 ff., und hierzu die Besprechung von Ulrich Battis/Klaus Joachim Grigoleit, Die Entwicklung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes. Eine Analyse der neuen BVerfG-Entscheidungen, NJW 2001, S. 2051 ff. 79 Es handelt sich um eine Zusammenfassung einschlägiger Punkte aus der amerikanischen Diskussion. Ausführlicher hierzu Winfried Brugger, Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht, in diesem Band § 7, S. 201 ff. 80 Vgl. etwa Roth (Fn. 1), S. 180. 81 Wandres (Fn. 22), S. 212. Er fährt fort: „Der Tatbestand der Volksverhetzung richtet sich daher im Kern gegen Verhaltensweisen, die bei denkbar ungünstigem Verlauf geeignet sein könnten, erneut einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutschen Boden zu bereiten.“ Vgl. auch BGHSt 46, 212 (221, 224).

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ihre Probleme mit drastischen Worten hinzuweisen. Das ist in den USA etwa während der Bürgerrechtsbewegung oder während des Vietnam-Kriegs auch geschehen.82 In Deutschland dagegen wird Hassrede nur von möglichen negativen Folgen her gesehen. Drittens bewegt Amerikaner ein tiefgreifendes Misstrauen gegen die Staatsorgane, denen sie im Zweifel nicht zutrauen, in jedem Fall oder jedenfalls langfristig „gute“ von „schlechten“ Meinungen abzugrenzen; solche Differenzierungen sollten besser in der Gesellschaft zwischen allen Gruppen herausgefunden werden.83 Deutschland dagegen ist, trotz der schlechten Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit, weit staatsvertrauender. Ein etatistischer Grundton in Dur herrscht vor. Das drückt sich in der schon angesprochenen unterschiedlichen Behandlung von „Sonderrecht gegen Meinung“ aus: Während „Meinungsdiskriminierung“ jeder Art, auch gutmeinender Art, in den USA eine verfassungsrechtliche Todsünde darstellt84, ist solches Sonderrecht in Deutschland gegenüber „bösen Meinungen“ durchaus akzeptabel, wie die Verfassungsmäßigkeit der Normen gegen Hassrede zeigt. Schließlich führt – viertens – in Amerika der stärkere Schutz von Meinungsfreiheit gegenüber Ehre und Würde dazu, dass im Zweifel bei Hass-Rede die Amerikaner mehr auf Rede – das sachliche Anliegen – schauen, und die damit verbundene Aggression als notwendiges Übel, oft als psychologisch verständliches Anzeichen der Empörung, in Kauf nehmen. Es gilt die Maxime: Urteilen ist mit Fühlen verbunden, und starke Beurteilungen führen tendenziell zu intensiven Gefühlen, auch von Empörung, Ablehnung und Hass – Gefühlen, die rechtlich kaum unterscheidbar sind, ohne dass Vorurteile von jeweils interessierter Seite dazutreten.85 Beides verbindet und verstärkt sich oft noch bei Kollektiv(vor)urteilen.86 Das 82

Vgl. etwa Roth (Fn. 4), S. 184 f.; Sullivan (Fn. 38), S. 4. Vgl. etwa Barry Steinhardt, Hate Speech, in: Yaman Akdemiz/Clive Walker/David Wall (eds.), The Internet, Law, and Society, 2000, S. 249 (250), unter Hinweis auf den Supreme Court Justice Stevens: „As a matter of constitutional tradition, in the absence of evidence to the contrary, we presume that governmental regulation of the content of speech is more likely to interfere with the free exchange of ideas than to encourage it. The interest in encouraging freedom of expression in a democratic society outweighs any theoretical but unproven benefit of censorship.“ Siehe auch Eberle (Fn. 13), S. 234; Butler (Fn. 16), S. 138 ff. 84 Vgl. Fn. 39. 85 Vgl. Cohen v. California , 403 U.S. 15 (1971); in Planned Parenthood (Fn. 74), S. 1019 spricht das Gericht von dem „well-recognized [free speech] principle that political statements are inherently prone to exaggeration and hyperbole“. Ein Beispiel für „interessierte Vorurteile“ mag genügen: Alle politischen Parteien berufen sich gern auf die „mündigen Bürger“ zur Unterstützung ihrer Position; die mündigen Bürger wandeln sich aber schnell zu „dumpfen Stammtischbrüdern“, wenn der politische Wind gegen die vertretene Parteilinie weht. Vgl. auch Mill (Fn. 2), S. 65 f. 86 Vgl. James Weinstein, Hate Speech, Viewpoint Neutrality, and the American Concept of Democracy, in: Hensley (Fn. 38), S. 146, 159 ff.: „[Unlike] libelous statements about individuals (which often have no bearing on public matters), defamatory statements about racial, ethnic, and religious groups are almost always inextricably bound up with some larger social critique, bigoted though it may be … It is particularly difficult to pluck group libel from this 83

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ist nach amerikanischer Sicht der Preis der Freiheit, den alle zu zahlen haben: aufrechter Gang in der öffentlichen Auseinandersetzung87, in Rede und Gegenrede, und Abwehr eines Betroffenheitskults, in dem die Rolle des Opfers und anschließenden Klägers attraktiver erscheinen mag als diejenige des aktiven Streiters um die Achtung, die man für sich und seine Bezugsgruppe einfordert. Deutschland dagegen schaut bei Hass-Rede eher auf das Hasselement und will dieses zugunsten eines expansiven Ehren- und Würdeschutzes eliminieren, auch auf Kosten einer Beschränkung öffentlichkeitsbedeutsamer Kritik.88

3. Einfache und qualifizierte Holocaust-Lügen Die deutsche Rechtsprechung zu Kollektivbeleidigung und Volksverhetzung spitzt sich in der Bestrafung der Holocaust- oder Auschwitz-Lügen zu, weswegen diese Fälle separat dargestellt werden. Zunächst sollten „einfache“ und „qualifizierte“ Holocaust-Lügen unterschieden werden.89 Befürworter der einfachen Auschwitz-Lüge leugnen den Völkermord an den Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft, weswegen man diesen Fall besser als „Holocaust-Leugnung“ bezeichnen sollte. Oder aber sie geben solche Tötungen zu, bestreiten aber die von der zeitgeschichtlichen Forschung genannte Größenordnung von sechs Millionen Opfern oder leugnen, dass diese Tötungen mittels systematischer Vergasungen vorgenommen worden sind. Vertreter dieser Sicht unterschreiben also die von unserer Demonstrantin vorgetragene Botschaft Nr. 4: „Der Holocaust hat niemals stattgefunden.“ Die einfache Auschwitz-Leugnung wird zur qualifizierten Lüge, wenn zusätzliche motivationale oder normative Urteile negativer Art und/oder Handlungsaufrufe debate without impeding a wide area of social critique“ (S. 159). Auf den folgenden Seiten geht Weinstein auf die Beauharnais-Problematik und die Holocaust-Lügen ein. 87 Hierzu Mill (Fn. 2), S. 42; Eberle (Fn. 13), S. 194. Man kann auch an Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Taschenbuchausgabe 1961, denken: „Die Etablierung des aufrechten Gangs, auch gegen gepolsterte, auch gegen umgetaufte, ja retrograde Abhängigkeiten, – es ist ein Postulat aus dem Naturrecht und nirgends woanders her, woanders auch nur findbar“ (S. 12). „Echtes Naturrecht, den vernunfthaft befreiten Willen setzend, war eines des erst zu erkämpfenden Ge-rechten; so meinte es auch keine Gerechtigkeit von oben, die jedem, austeilend oder vergeltend, seine Ration vorschreibt, sondern eine aktive von unten …“ (S. 14). Zu einem ähnlichen Ergebnis aus sprachwissenschaftlicher Sicht kommt Butler (Fn. 16), S. 10, 28, 33 ff., 145, 230. 88 Vgl. Günther (Fn. 22), S. 65, der stärker auf die von Hassrede Betroffenen abstellt und den „powerful psychological impact“ betont, den Hassrede auf „a minority’s self-confidence“ haben kann. Daneben tritt das Verrohungs- und Rekrutierungsargument: Die Zulassung von Hassrede verroht den öffentlichen Diskurs und schreckt viele Bürger vom Engagement in öffentlichen Angelegenheiten ab. Vgl. Isensee (Fn. 42), S. 45. 89 Vgl. Wandres (Fn. 22), S. 96 ff.; Schönke/Schröder (Fn. 42), § 130 Rn. 7; Günther (Fn. 23), S. 58 f. und etwa BGHSt 40, 97 (100 f.).

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dazutreten. Die fünfte Botschaft unserer Demonstrantin verknüpft diese beiden Qualifizierungen, wenn Juden generell und Farbigen in den USA das Motiv der Ausnutzung der „Holocaust-Lüge“ und einer in den USA nicht wirklich vertretenen „Sklaverei-Lüge“ unterstellt wird, sowie ein allgemeiner Handlungsaufruf folgt: „Dagegen muss etwas unternommen werden.“ Keine dieser Äußerungen ist in den USA illegal. Strafrechtliche Verbote vergleichbar dem § 130 III StGB existieren nicht; ferner fehlt, wie schon erwähnt, die Rechtsfigur der Kollektivbeleidigung.90 Handlungsaufrufe allgemeiner Art sind über die Redefreiheit so lange geschützt, wie sie nicht zu einer Straftat auffordern und die Begehung einer solchen dann auch konkret bevorsteht.91 Die Gefahr einer Gefahr durch Rede kann in den USA nicht strafrechtlich sanktioniert werden, höchstens unmittelbar in Tätlichkeiten ausartende Beleidigungen („fighting words“). Rechtlichen Schutz genießen auch Vermutungen oder Behauptungen über die Motive von Individuen oder Gruppen, solange sie nicht unter die enge Kategorie von Diffamierung („defamation“) fallen, die regelmäßig beweisbare oder widerlegbare schädliche Tatsachenbehauptungen über die gesellschaftliche Reputation einzelner Personen voraussetzt. Die Leugnung des Holocaust ist in den USA nicht strafrechtlich sanktioniert, und es ist unwahrscheinlich, viele würden sagen ausgeschlossen, dass der Kongress oder Legislativen der Gliedstaaten versuchen würden, diese Behauptung unter Strafe zu stellen.92 In Deutschland dagegen erfassen die §§ 185 ff. StGB über die Variante Kollektivbeleidigung und § 130 StGB mit dem Verbot der Volksverhetzung sowohl die einfache als auch die qualifizierte Auschwitz-Lüge, und das BVerfG hat gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschriften keine Bedenken erhoben. Das Gericht lässt unrichtige Tatsachenbehauptungen nicht unter den Schutz des Art. 5 I GG fallen, weil diese nicht zur Wahrheit als Ziel der Meinungsfreiheit beitragen könnten, und die Leugnung des Holocaust zählt als evidenter Fall einer solchen erwiesenen Unwahrheit.93 90 Es gibt einige wenige gliedstaatliche Vorschriften, die Hassrede zivil- oder strafrechtlich belangen, vgl. Thomas David Jones, Human Rights: Group Defamation, Freedom of Expression and the Law of Nations, 1998, Kap. IV und Anhänge VII bis IX. Zweifelhaft ist aber, ob diese Vorschriften in einem Prozess, in dem der Redefreiheitsartikel angewendet würde, Bestand hätten. 91 Vgl. oben Fn. 74 zu Brandenburg und Planned Parenthood. 92 Überlegenswert wäre es aber zu prüfen, ob die Leugnung des Holocaust im Rahmen des First Amendment strafrechtlich sanktioniert werden könnte. Immerhin betonte der Supreme Court in Gertz v. Robert Welch, 418 U.S. 323, 340 (1974), dass „there is no Constitutional value in false statements of fact“. Nimmt man diese Äußerung ernst, dann könnte man daran denken, solchen Äußerungen den Charakter als geschützte Rede abzusprechen oder aber ihnen nur beschränkten Schutz zuzusprechen, der durch – individuelle – Ehransprüche vielleicht übertrumpft werden kann. Ich vermute aber, dass der Supreme Court hier keine isolierbare Tatsachenbehauptung, sondern wegen der Komplexität der in dieser Aussage verwobenen Daten und vermutlich damit verbundenen Werturteile von einer Meinung ausgehen würde. Zumindest als Meinung ist nach der h.M. in den USA ein Verbot kaum denkbar. 93 Vgl. BVerfGE 90, 241 (247 f., 249) – Auschwitzlüge.

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Auf den ersten Blick klingt das überzeugend, auf den zweiten Blick melden sich Zweifel, wenn man an die Funktionen der Meinungsfreiheit denkt. Wenn die Verankerung der Meinungsfreiheit der informierten Meinungsbildung aller Bürger dient, ist es dann so evident, dass unwahre Behauptungen nie zur Wahrheit beitragen können? Oder sind Ausnahmen jedenfalls dann denkbar, wenn die Äußerung von falschen Behauptungen zu Widerspruch führt, der in der Öffentlichkeit diskutiert wird und deshalb viele Bürger erreicht? Genau das ist der Effekt bei Auschwitzleugnungen in Deutschland, wie beispielsweise die Empörung im Sommer 2001 zeigte, als Vertreter einer Initiative zur finanziellen Unterstützung eines HolocaustDenkmals in Berlin ein großes Plakat mit einer auf die Auschwitz-Leugnung anspielenden Schlagzeile aufhängten.94 Wenn selbst solche gutgemeinten AuschwitzLeugnungen eine derart breite öffentliche Diskussion hervorrufen, gilt das umso mehr für nicht so klar wohlgesonnene Leugnungen. Der klare und in Deutschland erwartbare Effekt von Holocaust-Leugnungen ist also ein Gewinn für die – schreckliche – Wahrheit: Diejenigen, die vom Holocaust wissen, merken, dass die Wachhaltung dieses Teils der deutschen Geschichte nach wie vor wichtig ist; so wird einer Erstarrung und bloß gebetsmühlenartigen Wiederholung historischer Wahrheiten entgegengewirkt.95 Diejenigen, die vom Holocaust nichts wissen, nichts wissen wollen, ihn verdrängen oder bewusst leugnen, werden durch solche Diskussionen mit dem Völkermord konfrontiert und lernen vielleicht etwas dazu – ein sicherlich erwünschter Integrationseffekt. Was aber ist mit den hartgesottenen Neonazis, den durch nichts zu bewegenden Überzeugungstätern und Judenhassern? Operiert man verfassungsrechtlich wirklich mit diesen Vorstellungen, benutzt man selbst unter Gesichtspunkten von Würde, Persönlichkeitsentfaltung und Gleichheit verdächtige Stereotypen.96 Warum sollte man unterstellen dürfen, dass jeder Rechtsradikale „unverbesserlich“ ist, wenn man selbst überführten Mördern zutraut, sich nach gewisser Zeit zu wandeln und gesetzestreue Bürger zu werden?97 Das Folgenargument des BVerfG – Unwahrheit führt nicht zu Wahrheit – ist also zu 94 Hierzu Günter Bertram, Grenzenlose Volksverhetzung: Lea Roshs Debattenbeitrag, NJW 2002, S. 111 f. 95 Ein klassisch-liberales Argument für Meinungsfreiheit, wie man bei Mill (Fn. 2), S. 45, 49 ff. nachlesen kann, auch in Bezug auf das im Text folgende Argument. 96 Andeutungsweise in diese Richtung argumentiert Günther (Fn. 22), S. 64, der von der Frage spricht, „whether it is even possible to conduct serious public discourse with neo-Nazis or revisionist historians …“. Wenn man erst einmal unhinterfragbar von ihrer Meinung Überzeugte vom öffentlichen Diskurs ausnimmt, müsste das dann nicht gleichermaßen für alle „unverbesserlichen“ Partikularisten und Universalisten, Rechte und Linke gelten? 97 Vgl. die Lebenslänglichen-Entscheidung des BVerfG, E 45, 187. Siehe auch Mill (Fn. 2), S. 43: „Nicht allein oder vornehmlich um der Hervorbringung großer Denker willen ist Freiheit des Denkens erforderlich. Im Gegenteil, sie ist ebenso unerlässlich und sogar noch unerlässlicher, um durchschnittlichen menschlichen Wesen die Erreichung des geistigen Formats zu ermöglichen, dessen sie fähig sind.“ Damit wird nicht geleugnet, dass es Fälle von Fanatismus geben kann, in denen kein Abweichen von der einmal gefassten Überzeugung mehr stattfindet, vgl. a.a.O., S. 63 f. Aber, so Mill, „es ist immer Hoffnung, wenn die Menschen gezwungen sind, beiden Seiten Gehör zu schenken …“ (S. 64).

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simpel: Bei der Auschwitz-Leugnung führte die Unwahrheit wahrscheinlich zu mehr Gutem als Schlechtem für das Gemeinwesen.98 Auch das Würdeargument führt für die Holocaust-Leugnung jedenfalls nicht klar zu einem Argument für Strafbarkeit. Das Würdeargument bei der Meinungsfreiheit führt deren besondere Wichtigkeit auf die Kommunikationsstruktur menschlichen Lebens zurück: Jeder Mensch und nur ein Mensch kann Überzeugungen formen und äußern, und das soll er rechtlich auch dürfen. „Die Sonne der Freiheitsrechte scheint über Gerechte wie Ungerechte“99, Gebildete und Ungebildete. Es geht bei Meinungsfreiheit um einen konstitutiven Bestandteil von Identitätsbildung, unabhängig von dem – gerade eben erörterten – Folgenargument.100 Wenn wir diesen Überlegungen des BVerfG folgen, dann kommt auch dem Leugner des Holocaust diese schützenswerte Würde zu, denn bis zum Beweis des Gegenteils muss das Recht davon ausgehen, dass jemand, der sich in der Öffentlichkeit äußert, dies auch so meint und als „seinen“ Bestandteil zur Diskussion ansieht. Im Rahmen der Schutzzwecke der Meinungsfreiheit spricht also deutlich mehr gegen als für die Strafbarkeit der einfachen Auschwitzlüge. Doch ist damit die Abwägung noch nicht abgeschlossen. Vielleicht gibt es ja wichtigere Gegengründe, die trotz Vorliegens eigentlich schutzwürdiger Rede eine Begrenzung rechtfertigen? Welche Rechte werden durch die Holocaust-Leugnung beeinträchtigt? Es kann zunächst nicht die historische Wahrheit sein, denn die Tatsache des Völkermords an den Juden wird durch seine Leugnung nicht beseitigt; ferner werden auch die Beweise für den Völkermord nicht korrumpiert. Schließlich ist kaum nachvollziehbar, warum das Strafrecht dazu dienen sollte, „historische Wahrheiten“ zu schützen. Üblicherweise und sinnvollerweise werden historische Daten nur dann dem strafrechtlichen Regime unterstellt, wenn es um die Erhebung von für ein Strafverfahren bedeutsamen Fakten durch den Zeugenbeweis geht. All das führt zu der Konsequenz, dass die strafrechtliche Bewehrung der einfachen Auschwitz-Leugnung nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn sie sich als ge98 Vgl. auch Stefan Huster, Das Verbot der „Auschwitzlüge“, die Meinungsfreiheit und das Bundesverfassungsgericht, NJW 1996, S. 487 (490 f.), der auf die Inkonsistenz hinweist, dass die eigentlich „schlimmere“ qualifizierte Auschwitzlüge von Art. 5 I GG erfasst wird, die verglichen damit „weniger schlimme“ einfache Auschwitz-Leugnung dagegen nicht. 99 Isensee (Fn. 42), S. 21. 100 Vgl. oben bei Fn. 34, 93 und Weinstein, Viewpoint Neutrality (Fn. 86), S. 150: „What we find [in the American concept of democracy] is a moral view about the proper relationship between the state and the individual, a precept reflected in the Declaration of Independence and the Enlightenment philosophy that influenced that document. On this view, government must treat each individual as an equal, autonomous, and rational agent. It follows from this precept that each person has a right to persuade others about any matter of public concern; if government prevents a speaker from participating in public discourse because it dislikes or disagrees with the speaker’s worldview, it is not treating the speaker equally with other citizens.“ „[The] fundamental equality precept underlying American free speech means that a racist has the same right within public discourse to try to persuade others to accept his worldview as would someone advocating a higher minimum wage or protesting a war“ (S. 161).

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genüber dem Meinungsfreiheitsargument vorrangige Maßnahme zum Schutz der kollektiven Ehre der Juden in Deutschland bzw. als legitime Sanktion gegen Rassenhetze darstellen lässt. Und in der Tat hat die Rechtsprechung dafür eine Begründung entworfen, die standardmäßig zur verfassungsrechtlichen Verteidigung der Kriminalisierung der Auschwitz-Leugnung herangezogen wird: „Die historische Tatsache selbst, daß Menschen nach den Abstammungskriterien der sog. Nürnberger Gesetze ausgesondert und mit dem Ziel der Ausrottung ihrer Individualität beraubt wurden, weist den in der Bundesrepublik lebenden Juden ein besonderes personales Verhältnis zu ihren Mitbürgern zu; in diesem Verhältnis ist das Geschehene auch heute gegenwärtig. Es gehört zu ihrem personalen Selbstverständnis, als zugehörig zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller anderen besteht, und das Teil ihrer Würde ist. Die Achtung dieses Selbstverständnisses ist für jeden von ihnen geradezu eine der Garantien gegen eine Wiederholung solcher Diskriminierung und eine Grundbedingung für ihr Leben in der Bundesrepublik. Wer jene Vorgänge zu leugnen versucht, spricht jedem einzelnen von ihnen diese persönliche Geltung ab, auf die sie Anspruch haben. Für den Betroffenen bedeutet das die Fortsetzung der Diskriminierung der Menschengruppe, der er zugehört und mit ihr seiner eigenen Person.“101 „Daran ändert sich auch nichts, wenn man berücksichtigt, daß die Einstellung Deutschlands zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und deren politische Folgen … eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage ist. In diesem Fall spricht zwar eine Vermutung für die freie Rede. Doch greift diese weder ein, wenn es sich bei der Äußerung um Formalbeleidigungen oder Schmähungen handelt, noch wenn die kränkende Äußerung auf erwiesen unwahren Tatsachenbehauptungen beruht.“102 Trotz dieser Argumente bestehen Zweifel, warum die bloße Leugnung des Holocaust ein strafwürdiger Ehrangriff für jeden Juden in Deutschland sein soll. Die Zweifel knüpfen zunächst an der Tatsache an, dass jedenfalls kein expliziter Angriff vorliegt. Weder wird den heute in Deutschland lebenden Juden ausdrücklich das Lebensrecht oder der Menschenstatus bestritten, noch liegt der Vorwurf schwerwiegender Charaktermängel vor. Es kann sich also höchstens um eine implizite Attacke auf die Ehre handeln. Für eine solche implizite Attacke bräuchte man dann aber klare, eindeutige Hinweise, die bei der bloßen Aussage „Der Holocaust hat nicht stattgefunden“ schwerlich gegeben sind. Nimmt man dann noch hinzu, dass das BVerfG in ständiger Rechtsprechung den Untergerichten aufgibt, wegen der Bedeutung von Art. 5 GG eine meinungsfreiheitsfreundliche – also legale – Auslegung der strafrechtlich sanktionierten Aussage zu wählen, soweit die strafbare Variante nicht nach sorgfältiger Prüfung im Einzelfall die einzig verbleibende ist, dann wachsen die Zweifel noch, denn die untergerichtliche wie die höchstrichterliche Rechtsprechung scheinen in diesem Fall – entgegen der sonst vertretenen Dogmatik – 101 102

BVerfGE 90, 241 (251 f.) unter Hinweis auf BGHZ 75, 160 (162). A.a.O., S. 254.

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standardmäßig den kollektiven und individuellen Ehrangriff zu unterstellen. Dass dieser nicht so evident ist, zeigen auch die Einzelargumente: (1) Der Holocaust führt das Gericht dazu, ein besonderes moralisches Verhältnis zwischen Juden und nicht-jüdischen Deutschen in eine Rechtspflicht zur Anerkennung des Holocaust umzuwandeln. Über die Kriterien zur Überführung von Moralpflichten in Rechtspflichten kann man trefflich streiten; unleugbar dürfte sein, dass jedenfalls für den Fall, dass das Strafrecht zur Effektivierung der Umsetzung benutzt wird, besonders sorgfältig abgewogen und argumentiert werden muss: Braucht man hier wirklich das Strafrecht, das doch ultima ratio sein sollte? Taugen andere Mittel unterhalb des Strafrechts oder außerhalb des Rechts nicht gleich gut oder besser – Anstand, Sitte, Moral, Bürgertugend?103 Wie steht es mit der doch so breit betriebenen Aufklärung? Ist nicht freiwillige Akzeptanz moralischer Pflichten besser als erzwungene Bezeugung oder drohende Bestrafung? (2) Auf das Selbstverständnis der Juden als Kollektiv zu rekurrieren, ergibt auf der einen Seite Sinn, war es doch genau die Gruppenzugehörigkeit, die während der Nazizeit zur Verfolgung führte. Auf der anderen Seite jedoch wird damit wiederum kollektiv auf ein konstitutives Gruppenverständnis statt auf individuelle Würde eines jeden Menschen als Menschen, egal ob Jude, Farbiger, Deutscher etc., abgestellt. Darin kann man eine Perpetuierung „zugeschriebener“ Gruppenidentität, wenngleich in bester Absicht, sehen, die sicher von manchen, vermutlich von vielen, aber kaum von allen Juden geteilt wird.104 Ist es nicht kontraproduktiv, wenn zur Feststellung der Reichweite des Kreises, der als „Juden“ beleidungsfähig ist, wiederum auf die Kriterien der nationalsozialistischen Zeit zurückzugreifen ist?105 (3) Die vergangene Unterdrückung und Vernichtung soll nach dem BVerfG im Verhältnis zu den Deutschen „auch heute gegenwärtig“ sein. Was das heißt, ist nicht so ganz klar. Wenn es nur um die Erinnerung geht, so wird diese ja durch vielerlei Maßnahmen aufrechterhalten, die noch vor rechtlicher Sanktionierung liegen. Um Letztere geht es aber in der Gerichtsentscheidung: Will das Gericht sagen, dass sich die Juden in Deutschland nicht sicher fühlen können, wenn die Leugnung des Holocaust nicht strafrechtlich sanktioniert wird? Man weiß es nicht so genau, aber nimmt man (4) hinzu, dass das BVerfG in der Tat die Leugnung des damaligen Holocaust als Ehrangriff auf die heute in Deutschland lebenden Juden in Form einer „Wiederholung“ und „Fortsetzung der Diskriminierung“ interpretiert, dann liegt 103

Vgl. oben Fn. 56. Kritisch gegen diese sicher in bester Absicht vorgenommene Zuschreibung einer kollektiven Identität haben sich nicht wenige jüdische Rechtsprofessoren geäußert, als der Verfasser die englische Fassung dieses Vortrags in den USA gehalten hat. 105 Vgl. BGHZ 75, 160 (164 f.). Kritisch hierzu Stein (Fn. 22), S. 304: „It is, to say the least, somewhat bizarre to see the [German] Supreme Court ,apply‘, albeit for this benign purpose, the infamous laws that it had excoriated earlier in the same judgment.“ Positiv dagegen die Deutung bei Natasha Minsker, „I Have a Dream – Never Forget“: When Rhetoric Becomes Law. A Comparison of the Jurisprudence of Race in Germany and the United States, 14 Harvard Black Letter Law Journal 113 (1998), S. 116, 150 ff., 167. 104

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jedenfalls keine meinungsfreiheitsfreundliche Interpretation vor.106 Das Gericht macht keine Anstalten, nicht-strafwürdige Interpretationen der Auschwitz-Leugnung zu diskutieren. Im Gegenteil werden die Argumente sorgfältig so angeordnet, dass im Ergebnis ein Ehrangriff bejaht werden kann. Zusammengefasst stellt diese Rechtsprechung zur einfachen Auschwitz-Leugnung eine klare Abweichung von der üblichen Dogmatik zur Meinungsfreiheit dar. Aber selbst wenn man die vorgebrachten Argumente als überzeugend oder jedenfalls plausibel oder nachvollziehbar ansieht, muss man konstatieren, dass das Gericht mit bester Absicht, aber eben einseitig „Meinungsdiskriminierung“ praktiziert, also, amerikanisch gedacht, die Todsünde gegen die Meinungsfreiheit begeht: Im Vordergrund steht die Menschenwürde der Juden in Deutschland, die expansiv gedeutet wird; nicht einmal angesprochen werden die oben angeführten Würdeargumente, auf die sich jeder Äußerer einer Meinung berufen kann. Der Kontrast wird auch im Vergleich zur Soldaten-sind-Mörder-Entscheidung deutlich: Dort unternahm das Gericht, seiner üblichen Dogmatik folgend, eine sorgfältige Prüfung der inkriminierten Äußerung und fand eine nicht-strafbare Interpretation107; im Holocaust-Fall findet nichts dergleichen statt. Wiederum „Meinungsdiskriminierung“: Pazifismus ist verfassungsrechtlich akzeptabler als Rechtsradikalismus; die Grenzen zwischen politischer Korrektheit, Zeitgeist, Verfassungsrecht und Moral verschwimmen. Und was den Grad an Evidenz für den Ehrangriff angeht: Was immer „Soldaten sind Mörder“ wirklich meint, jedenfalls liegt in dieser Aussage eine deutlichere verbale Attacke und ein klarer umrissener Adressatenkreis vor als bei „Der Holocaust hat nicht stattgefunden.“

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Es liegt dann aber implizit eine nicht erfreuliche Behauptung über die Haltung der Deutschen vor. Denn wenn es nicht nur isoliert um (vielleicht überspitzte) Anforderungen von Sicherheitsgefühl geht, sondern zumindest auch objektiv um Anhaltspunkte für eine Gefahr für das Leben hier lebender Juden, dann liegt in der zitierten Äußerung des BVerfG wie auch in § 130 III StGB in der Variante Holocaust-Leugnung die Behauptung, Deutsche stünden real in der Versuchung und Gefahr, bei Äußerung nazistischer Gedanken wieder zu Nazis zu werden. Gegenüber einem einzelnen Deutschen ausgesprochen, wäre dies eine Beleidigung, wenn man BVerfGE 82, 272 (282) – Zwangsdemokrat – folgt. Eine Kollektivbeleidigung Deutscher scheitert also nicht an der „Kränkung“, sondern daran, dass die Deutschen in Deutschland eine Mehrheit und keine Minderheit bilden. Angesprochen muss mehr als eine Minderheit von Deutschen sein, denn sonst bestünde ja nicht die Gefahr der Verführung durch Nazismus und einer realen Gefahr für Juden. Mehrere amerikanische Juristen haben dem Verfasser gegenüber die Ansicht geäußert, dass es bei der Strafbarkeit der Holocaust-Lügen eigentlich gar nicht um die Juden, sondern um die Deutschen gehe. In eine ähnliche Richtung argumentiert G. Jakobs, zitiert bei Günther (Fn. 22), S. 66: „Nicht von der Ehre der Opfer ist zu reden, sondern von der Unehre der Täter; der Angeklagte hat nicht die Ehre der Juden geleugnet, sondern die Unehre der Deutschen; kein Andenken von Opfern wurde verunglimpft, sondern ein Ansehen von Verbrechern wurde geschönt.“ Wenn das faktisch stimmt, soll das dann zu einer Strafbarkeit ausreichen? 107 Ähnlich meinungsfreiheitsfreundlich auch die Zwangsdemokrat-Entscheidung, BVerfGE 82, 272 ff.

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Falls das alles stimmt, dann bleibt als einzige Möglichkeit zur Rechtfertigung dieser Rechtsprechung eine Sonderfall-These108, die folgende Gestalt hat: „In der Tat, was hier geschieht, folgt nicht der ansonsten gängigen Dogmatik zur Meinungsfreiheit und zum Ehrenschutz, aber der Holocaust stellt in der deutschen Geschichte einen solchen Sonderfall, ein solch schreckliches Versagen des deutschen Gemeinwesens dar, dass besondere Regelungen der beschriebenen Art ausnahmsweise hinzunehmen sind.“ Vieles spricht dafür, dass in der Tat das historische Trauma auch heute noch das deutsche Verfassungsrecht und die deutsche Politik prägt. Nicht anders lässt es sich erklären, dass die 1994 erfolgte Einfügung des § 130 III StGB, der die Auschwitz-Leugnung unter Strafe stellt, von fast allen Politikern und Juristen begrüßt worden ist.109 „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“110 in Form der Abschreckung schon einer Gefahr der Gefahr des Abgleitens des deutschen Gemeinwesens in einen weiteren Holocaust muss als wahre Begründung der Strafbarkeit der einfachen Auschwitz-Leugnung angesehen werden und stellt vielleicht eine Rechtfertigung dar, aber die Last der Begründung scheint mir bislang noch nicht abgetragen zu sein. Dazu gehört meines Erachtens (1) das offene Eingeständnis, dass die einschlägigen Gesetze und Judikate deutlich von der ansonsten geltenden Dogmatik zur Meinungsfreiheit abweichen, dass (2) somit auch angebbare Kosten für die Meinungsfreiheit entstehen, die aber (3) wegen der besonderen Bedeutung des Holocaust für Deutschland ausnahmsweise zu tragen sind. Da es sich um einen Sonderfall handelt, müsste (4) die Staatsrechtswissenschaft darüber nachdenken, ob dieser auf Dauer gestellt sein soll und in welchem Umfang ein Abweichen von freier Diskussion zu rechtfertigen ist.111 (5) Letzteres ist auch deshalb geboten, weil inzwischen mehrere andere Staaten die Holocaust-Leugnung kriminalisiert haben112 und im Völkerrecht insbesondere im Rahmen der UN-Anti-Rassismus-Konvention zum Teil expansive Interpretationen von zu kriminalisierender Hassrede und Rassenhetze vertreten werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die Meinungsfreiheit vom vorrangigen oder besonders wichtigen Grundrecht zu einem Abwägungsgesichtspunkt mutiert.113 Diese Kritik an der Kriminalisierung der Holocaust-Leugnung fällt weg oder wird gemindert, soweit es um qualifizierte Auschwitz-Lügen geht. Diese zeichnen sich, wie schon erwähnt, dadurch aus, dass zusätzlich zur Leugnung oder anstelle einer 108

Zu dieser siehe Wandres (Fn. 22), S. 35 ff., 240. Vgl. auch Roth (Fn. 1), S. 179 und BGHSt 46, 212 (224). 109 Vgl. schon oben Fn. 22. Vereinzelte Kritik haben vor allem Strafrechtler geäußert. 110 Zu diesen Aufrufen umfassend und rechtsvergleichend Minsker (Fn. 105). 111 Eine Andeutung hierzu in BGHZ 75, 160 (166). 112 Nachweise bei Wandres (Fn. 22), S. 142 ff. 113 Dieses kann hier nicht vertieft werden. Vgl. die Übersicht der einschlägigen Rspr. bei Zimmer (Fn. 1), die in Übereinstimmung mit vermutlich der Mehrzahl der Länder und Rechtswissenschaftler außerhalb der USA für einen klaren Vorrang der Eliminierung auch nur möglicherweise rassenhetzender Rede eintritt. Vgl. zudem das oben Fn. 22 angesprochene Problem einer Einschränkung von Grundrechten aus Gründen der Außenpolitik.

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Leugnung des Völkermords an den Juden negative Schlussfolgerungen über den Umgang mit dem Holocaust durch Juden gezogen werden oder dass Handlungsaufrufe sich mit der Geschichts- oder Umgangsdeutung verbinden. Beide Qualifikationen finden sich in der fünften Botschaft unserer Demonstrantin, wenn sie ausruft: „Afro-Amerikaner benutzen in den USA die Sklavereilüge genauso, wie Juden in Deutschland die Auschwitz-Lüge benutzen, um sich politische und finanzielle Vorteile zu verschaffen. Dagegen muss etwas unternommen werden!“ Wie dargelegt, steht diese Behauptung in den USA unter dem Schutz der Redefreiheit; in Deutschland dagegen sind qualifizierte Auschwitz-Lügen über die §§ 185 ff. und 130 StGB kriminalisiert. Art. 5 GG schützt solche Behauptungen nicht, wenn sie kollektive Angriffe auf die Ehre der Juden mit sich bringen, wie in der angeführten Behauptung über die finanzielle und politische Nutzbarmachung von Auschwitz. Die Strafbarkeit qualifizierter Auschwitz-Lügen lässt sich sicher rechtfertigen, wenn die Qualifikation in einem Angriff auf die Würde aller heute in Deutschland lebenden Juden dadurch liegt, dass diesen der gleichberechtigte Menschenstatus abgesprochen wird, insbesondere wenn dazu Argumente rassischer Höher- und Minderwertigkeit bemüht werden. Dann liegt evident die in Abschnitt III. 1. dargestellte Fallgruppe (1) von Ehr- und Würdeverletzung vor, die Basis des deutschen Ehr- und Würdeschutzes ist.114 Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist es legitim, solche Angriffe auch rhetorischer Art zu unterbinden. Dies gilt, selbst wenn man die Deutschen nicht kollektiv als nazismusgefährdet ansieht, denn unabhängig von diesem Folgen- und Prognoseargument liegt dann ein Aufkünden der Symmetrie zwischen dem Würdestatus des Äußerers und dem Würdestatus des Angegriffenen vor.115 Von diesem klaren Ausgangspunkt entfernen sich Schritt für Schritt Fälle, in denen statt eines (1) expliziten Rekurses auf nationalsozialistische Theorien arischer Höherwertigkeit (2) implizit nationalsozialistische Lehren vertreten werden, (3) andere als nazistische Rassentheorien oder (4) sonstige den Menschenstatus bestreitende Theorien vertreten werden. Je weiter man vom Ausgangsfall (1) weggeht und je unklarer wird, ob es noch um (4) den Basisstatus als gleichberechtigter Mensch geht oder aber (5) um Angriffe oder Vorwürfe, die gegen Gruppen und deren Mitglieder in ihrer kulturell-historischen Geprägtheit, in ihrem Staatsbürgerstatus und in ihrem konkreten Verhalten gerichtet sind, desto größer wird die Gefahr einer Kollision mit der Meinungsfreiheit. Art. 5 GG schützt ja offene Auseinandersetzungen auch zwischen Personengruppen, und man sollte nicht naiv unterstellen, es 114 Ich würde also, anders als die US-Rechtsprechung (vgl. oben Fn. 38, 74), diese Ehrfallgruppe beibehalten, allerdings die inkriminierten Äußerungen im Zweifel meinungsfreiheitsfreundlich interpretieren. 115 Auch das weicht etwas von der US-Auffassung ab, die auch bei Nazipropaganda von der Ausgangsprämisse der Redefreiheit – Gegenargumente möglich, also geschützt – ausgeht, und dabei das Gewinnen der besseren Argumente unterstellt, vgl. oben Fn. 38. Meine Einschätzung ist: Wer klar und eindeutig die Basisgleichheit des Adressaten von Rede leugnet, dessen Berufung auf das gleiche Recht wird für diesen Fall geschwächt.

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gebe in modernen Gesellschaften keine ernsthaften Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen, die nach Thematisierung und Lösung verlangten. Zwischen Fallgruppe (4) und (5) liegt der neuralgische Punkt. Hier geht es um die enge oder weite Auslegung von Kollektivbeleidigung im Sinne der Ehrkategorie (2) „sozialer Achtungsanspruch“ einerseits, von Volksverhetzung i.S.v. § 130 I und II StGB andererseits.116 Im Streit befinden sich hier, auf der einen Seite, universalistisch-egalitäre Ansichten, deren Tendenz dahin geht, bei der Auslegung dieser Normen und Institute in möglichst vielen Fällen von strafbaren Angriffen auf Minderheiten durch Kollektivbeleidigung und Volksverhetzung bzw. Rassenhetze auszugehen. Befürworter dieser Sicht sehen oder ziehen keine deutliche Differenz zwischen der (a) Unterscheidung Deutsche-Ausländer, (b) realer oder unterstellter Ausländerfeindlichkeit und (c) Volksverhetzung und Rassenhetze; Ausländer- und Minderheitenkritik wird schnell als ebensolche Feindlichkeit eingestuft.117 Dann ist man schnell bei strafbarer Volksverhetzung und dem Konnex zu den Ausgangsfällen (1) bis (4). Auf der anderen Seite steht die liberale „amerikanische“ Auffassung. Sie weist die Lösung streitiger sozialer Geltungsansprüche, egal ob diese rhetorisch zivilisiert oder aggressiv diskutiert werden, der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu in der Hoffnung, so bessere Integrationsresultate zu erzielen; das Recht wird nur marginal eingesetzt. Ferner geht diese Ansicht im Zweifel davon aus, bei sogenannten Gruppendiffamierungen liege hinter der „Diffamierung“ ein sachliches Anliegen, das zu äußern möglich sein muss, wie empörend auch immer die Mehrheitskultur oder herrschende Elitärkultur oder der Zeitgeist und politische Korrektheit dieses findet.118 Bezogen auf Äußerungen wie „Ausländer sind kriminell“ und „Deutsche sind Neonazis“ oder die Botschaft 3 der Demonstrantin, hieße das nach der letztgenannten Ansicht, dass solche Aussagen in der Regel als Indikatoren realer Probleme eingestuft würden, denen gegenüber sich die Rechtsordnung „neutral“ verhalten sollte, damit sich die mit solchen Aussagen implizit oder explizit verbundenen realen Behauptungen in der öffentlichen Diskussion klären und die Werturteile sich an ihnen abarbeiten können. Das Ergebnis ist dann offen und nicht vorgängig festgelegt auf die Maxime „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. Die zuvor genannte 116

Dazu schon oben Abschnitt II. Ein Beispiel: In „Recht gegen Fremdenfeindlichkeit und andere Ausgrenzungen“, ZRP 2001, S. 500 ff. schildert Susanne Baer die rechtlichen Auswirkungen zweier EG-Richtlinien auf den Schutz vor Diskriminierung in Deutschland. Sie vertritt gleichzeitig ein expansives Verständnis von auszuschließender Benachteiligung von Minderheiten, worunter die „Erfahrung sozialer Ausgrenzung … von Schmerz und Leid“ (S. 501) nicht nur durch Tätlichkeiten, sondern auch durch „Fremdenfeindlichkeit“ (S. 501) gehört, die wiederum „Einschüchterungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen“ (S. 502) umfasst. Der Konflikt mit der Meinungsfreiheit bei harter Kritik an Minderheiten ist offensichtlich, wird aber nicht thematisiert. Sinnfällig ist auch die Tatsache, dass nach der Verf. der „aufrechte Gang“ (oben Fn. 87) nicht erforderlich ist: „[Eine] Gegenwehr der Opfer [darf] nicht verlangt werden …, denn gerade selbstbewußtes Verhalten wird ja durch Diskriminierung verhindert“ (S. 503). 118 Vgl. oben Fn. 38, 55, 74, 85 f. 117

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egalitär-universalistische Auffassung und in Teilen das deutsche Recht neigen eher zur Kriminalisierung als Hassrede und Volksverhetzung, mit Ausnahme der Aussage „Deutsche sind Neonazis“, die mangels Bezugs auf eine Minderheitsgruppe in Deutschland keine Kollektivbeleidigung bildete und, weil sie mehr als einen Teil der Bevölkerung erfasst, wohl auch nicht unter § 130 StGB fiele. Zurück zur qualifizierten Auschwitz-Lüge in Form der Unterstellung manipulativen Umgangs mit dem Holocaust und den in Abschnitt III. 1. erörterten Ehrschutzkategorien119: Soweit kein Fall expliziten (oder ausreichend klaren impliziten) Rekurses auf „rassische Minderwertigkeit“ vorliegt, ist die Bestrafung der Behauptung „böser Motive“, die unter die Ehrkategorie (2) fällt, problematisch. Generell kann man davon ausgehen, dass in öffentlichen Auseinandersetzungen viele Akteure das moralische oder politische Versagen konkurrierender Personen und Organisationen in Gegenwart und Vergangenheit „ausschlachten“, wenn die entsprechenden einseitigen Interpretationen Gewinn versprechen. Das kann je nach Sichtweise angemessen oder manipulativ erscheinen und je nach Sachlage zu entgegenkommenden oder abwehrenden Reaktionen der Angegriffenen führen. Wenn das Versagen eingesehen wird, kann es etwa zu Entschuldigungen oder zu politischem oder finanziellem Entgegenkommen führen – man denke beispielsweise an die Entschuldigung von Regierungen bei der Anti-Rassismus-Konferenz in Durban, Südafrika, im Sommer 2001, für frühere Sklaverei, oder an Reparationszahlungen für das Unrecht, das die Nationalsozialisten nicht nur Juden angetan haben. Aber wie auch immer man den Umgang mit politischem und moralischem Versagen und dessen Folgen in Bezug auf konkrete Fälle einstuft, auf jeden Fall sollte in solchen Fragen, weil es sich um hochpolitische Probleme handelt, eine unverstellte Diskussion ohne Furcht vor Bestrafung für unbequeme Behauptungen oder Forderungen möglich sein. Dem Grundsatz nach ist das auch die Haltung des BVerfG. Warum werden dann ausnahmsweise Behauptungen bestraft, die Rechtsradikale oder Neonazis oder schlicht verwirrte, Beachtung suchende Jugendliche über den Umgang von Juden oder sonstigen Gruppen mit dem Holocaust machen? Vielleicht weil es sich um besonders unbeliebte und verhasste Gruppierungen mit besonders widerwärtigen Botschaften handelt? Das mag ein reales Motiv für Bestrafung sein, aber sollte es ausschlaggebend sein? Daran ist zu zweifeln120, denn worin besteht der Grund für die Bestrafung dieser Art von manipulativem Geschichtsumgang, verglichen mit vielen anderen manipulativen, einseitigen Geschichtsinterpretationen von sonstigen Radikalen, die nicht ganz so anstößig sind, oder von Mainstream-

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Nicht thematisiert wird hier die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, § 189 StGB. Hierzu BGHSt. 40, 97 (104 ff.). 120 Vgl. Fredrik Roggan, Am deutschen Rechtswesen soll die Welt genesen?, KJ 2001, S. 337 zur Bestrafung der Auschwitzlüge nach § 130 StGB: „Allzu leicht möchte man sich der spontanen Reaktion, dass es in diesem Fall ja den ,Richtigen‘ (einen Rechtsextremen) getroffen hat, hingeben.“

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Politikern oder Massenmedien?121 Und weiß man genau, dass einige Juden oder auch sonstige Gruppen den Holocaust nicht für politischen und finanziellen Ausgleich benutzen? Das mag sogar gerechtfertigt und geboten sein. Aber wenn man überhaupt „gerechtfertigterweise“ sagt, ist dann nicht ein Übergang zu „ungerechtfertigterweise“ denkbar, wo immer die Grenze zu ziehen sein mag? Muss man das mögliche Überschreiten einer solchen Grenze nicht diskutieren können? Kaum einer würde das verneinen, wenn es um andere Ereignisse als den Holocaust ginge. Das weist wiederum darauf hin, dass wir die Sonderfall-These brauchen, um diese Art von qualifizierter Auschwitz-Lüge bestrafen zu können. Der Holocaust unterliegt anderen Regeln als den sonst geltenden. Das zeigt sich auch an diesem Punkt: Aussagen wie „Deutsche sind Neonazis“ würde man, üblichen meinungsfreundlichen Auslegungsregeln folgend, nicht so auslegen, dass damit wirklich gesagt werden soll, ein jeder Deutscher, ohne Ausnahme, sei ein Neonazi. Vielmehr würde man sagen: Aus Sicht des Redners sind einige, viele oder zu viele Deutsche Neonazis, aber nicht alle, so dass nicht die persönliche Ehre eines jeden betroffen ist. Damit würde, den gängigen Regeln folgend, eine Kollektivbeleidigung entfallen.122 Bei Aussagen wie in dem Ausgangsfall 5 – „Juden benutzen den Holocaust, um sich politische und finanzielle Vorteile zu verschaffen“ – wird aber eine Kollektivbeleidigung angenommen.123 Warum? Sonderfall kann hier nur heißen: Diese Aussage wird nicht als empirische Behauptung eingestuft – jeder Jude ohne Ausnahme ist gemeint –, sondern als negative Zuschreibung eines Stereotyps, das weder dem Beweis noch der Widerlegung zugänglich ist, sondern eine fremdbestimmte Zuschreibung eines Charakterfehlers darstellt, die auf wirklich jeden Juden gemünzt ist und diesen, was immer er tut oder nicht tut, als Manipulateur einstufen soll.124 Nur mit dieser Konstruktion lässt sich die Strafbarkeit der Aussage begründen. Man mag dies als gerechtfertigt ansehen angesichts einer Vielzahl von Naziliteratur, die genau solche Behauptungen aufgestellt hatte; damit wäre der historische Bezug zur damaligen Willkürherrschaft hergestellt. Aber auch hier lässt sich fragen: Was genau 121 Die Lektüre von Zeitungen liefert genügend Beispiele. Willkürlich herausgegriffen das Thema: Wie wird Deutschland im Geschichtsunterricht des Vereinigten Königreichs dargestellt? Dazu The Economist, 3. November 2001, mit zwei einschlägigen Berichten auf S. 16 und 41: „Teaching History. Achtung! Too many Nazis“ (so der Titel auf S. 41). Dann der Untertitel: „Hitler dominates history teaching in Britain’s schools“. Dargestellt wird die Popularität des Themas des Siegs Englands über die Nationalsozialisten. „This narrow view of history may also give Britons a dangerously warm glow. Mr. Roberts argues that the obsession with Hitler, Stalin and the Tudors and Stuarts [das sind die anderen populären Geschichtsunterrichtsthemen] reflects a preference for ,feelgood history‘ – stories that make the British fell comfortable about themselves.“ Oder: „Über die Funktionalisierung des Holocaust für außenpolitische Zwecke. Erziehungswissenschaftler Brumlik wirbt für eine Nahostdebatte, die sich nicht von Vordergründigem beeindrucken läßt“ – Artikel von Matthias Arning in der Internet-Ausgabe der Frankfurter Rundschau, www.pampa-net.de/docs/Palästina_fr.pdf, Abfrage vom 28. 04. 2013. 122 Siehe oben bei Fn. 60 f. 123 Vgl. BGHSt. 31, 226 (231 f.); 40, 97 (100 f.); 46, 212 (216 ff.); BGHZ 75, 160 (161, 163 f.). 124 Hierzu und zum Folgenden Wandres (Fn. 22), S. 206.

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rechtfertigt die Strafbarkeit? Der Bezug auf den damaligen Kontext „realer Umschlag von Hassrede in Hasskriminalität“? Dann müsste man für das heutige Deutschland eine vergleichbare Prognose wie für Deutschland unter Hitler aufstellen, auf der Prämisse basierend: Im Grunde sind alle Deutsche oder jedenfalls eine Mehrheit von Deutschen Neonazis, und das deutsche Gemeinwesen steht auf tönernen Füßen.125 Oder ist der Bezug das Stereotyp, das des Gegenbeweises nicht fähig ist? Aber können nicht auch Stereotypen anhand konkreter Vorfälle jedenfalls geschwächt oder gestärkt werden126, und müsste man nicht meinungsfreiheitsfreundlich statt der stereotypen Interpretation der Aussage die empirische Interpretation wählen, die jedenfalls nicht jeden Juden in seiner persönlichen Ehre beträfe? Wenn wirklich das Stereotyp im Kopf des Äußerers – die von ihm vorgenommene Zuschreibung, auch gegen vorweisbare Tatsachen – dasjenige ist, das die Strafbarkeit begründet, dann sollte man der Ehrlichkeit halber zugestehen, dass im Grunde ein Fall von Gesinnungsstrafrecht vorliegt.127 Kommen wir zur zweiten Variante der qualifizierten Holocaust-Lüge in der Botschaft Nr. 5, dem allgemeinen Handlungsaufruf – „Dagegen muss etwas unternommen werden“ – , der sich auf die politische und finanzielle Nutzbarmachung des Holocaust durch Juden und andere interessierte Kreise bezieht. Ein solcher allgemeiner Handlungsaufruf, der die gemeinten Mittel (legal oder illegal?) und die Addressaten (gegen wen genau richtet sich der Aufruf, wer soll was tun?) offen lässt, würde in den USA nicht bestraft werden können; er wäre wegen der Redefreiheit geschützt. In Deutschland wäre er strafbar als Volksverhetzung, die ja deutlich vor einer konkreten Anstiftung zu einer Straftat liegt.128 Die Rechtfertigung der Kriminalisierung muss darin liegen, dass hier über eine bloße Beurteilung von Verhaltensweisen oder Motiven hinaus (1. Variante der Botschaft Nr. 5) ein Handlungsaufruf erfolgt und damit die Gefahr illegaler Akte erhöht wird. Es handelt sich 125

Vgl. schon oben Fn. 81 und Ralf Stark, Die Ehre – das ungeschützte Verfassungsgut, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 235 (240): „Würde man [die Vermutungsformeln des Bundesverfassungsgerichts] stets und konsequent anwenden, wären auch die niederträchtigen Hetzkampagnen der Nationalsozialisten als berechtigte Meinungsäußerungen einzustufen. Gleiches würde für die [qualifizierte] ,Auschwitzlüge‘ gelten … Daß dies nicht sein kann, ist evident. Der Verrohung der Sprache darf nicht noch einmal die Verrohung der politischen Sitten und – als Kulmination des Ganzen – eine Zunahme der politischen Gewalt folgen!“ 126 Vgl. Der Spiegel v. 11.12. 2001, Ist Rassismus heilbar?, www.spiegel.de/wissenschaft/ 0,1518,172160,00.html, Abfrage vom 12. 12. 2001, und The Economist v. 15. 12. 2001, Them. The Origins of Racism, S. 71: „The good news is that experiments done by the researchers suggest that [racial] stereotypes are easily dissolved and replaced with others. Racism, in in other words, can be eliminated.“ 127 So der Sache nach Weinstein, Viewpoint Neutrality (Fn. 86), S. 160: „[Group] libel laws punish speakers not so much for making false factual claims as for having a distorted, hateful perspective from which they view facts“. Weinstein bezieht das auch auf die Strafbarkeit von Auschwitz-Lügen. „Gesinnungsstrafrecht“ meint hier nicht, dass keine „Tathandlung“ als Ansatzpunkt vorhanden wäre, sondern dass nach üblichem Verständnis die Tathandlung Art und Umfang der Strafe nicht trägt. 128 Vgl. schon oben bei Fn. 67 ff.

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also um eine unterstellte Verdichtung des Prognoseurteils: Es liegt, wenngleich noch keine konkrete Anstiftung zu einer Straftat außerhalb des § 130 StGB, so doch eine Erhöhung der Gefahr von tätlichen Angriffen generell vor – mehr als die Gefahr der Gefahr, die § 130 StGB ansonsten voraussetzt. Schon eine konkrete Gefahr? Das ist unklar, aber wenn dem so wäre, dann hätte man jedenfalls einen erkennbaren Zusammenhang von „hate speech“ und „hate crime“. Wenn aber im Rahmen des § 130 StGB keine konkrete Gefahr einer spezifischen Straftat durch individualisierbare Personen vorhanden ist und das trotzdem für strafrechtliche Sanktionierung ausreichen soll129, dann muss sich diese Auffassung wohl oder übel wieder auf die besondere Anfälligkeit der deutschen Gesellschaft für Antisemitismus in Wort und Tat beziehen, denn worin sonst sollte die „Qualifikation“ dieser Art von Auschwitz-Lüge liegen? Höchstens noch in der dem § 130 StGB unterliegenden oder unterlegten allgemeinen Feindlichkeit der deutschen Gesellschaft gegenüber jeder Minderheitengruppe, die unter die dort genannten Kriterien fällt, also mehr oder weniger Ausländerfeindlichkeit jeder Art. Falls diese Unterstellungen die korrekte Erklärung für die Strafbarkeit von Handlungsaufrufen gegen Minderheiten im Allgemeinen und Juden im Besonderen sind, dann sollte jedenfalls offen gesagt werden, dass solche Deutungen nicht meinungsfreiheitsfreundlich sind und den üblichen Auslegungskriterien für Art. 5 GG-Fälle widersprechen. Dies entspräche der These, dass in den von § 130 StGB erfassten Fällen innerhalb und außerhalb von Auschwitz-Lügen die Meinungsfreiheit zum Abwägungsgesichtspunkt mutiert, der bei Hassredefällen oder solchen, die diesen ähneln, im Ergebnis oft unterliegt. Vielleicht lässt sich das angesichts der Bedeutung von Zivilität, Ehrenschutz und umfassender Gleichbehandlung rechtfertigen, aber dann sollten die Kosten für eine offene und unverstellte Diskussion öffentlichkeitsbedeutsamer Fragen deutlicher als bisher benannt werden. Dann sollte man die Rhetorik, die für die Gewichtigkeit von Redefreiheit gängigerweise benutzt wird, zurückfahren. Und dann sähe man sich – horribile dictu – mit folgenden Fragen konfrontiert: Steht die Rede von der „besonderen Bedeutung“ der Meinungsfreiheit vielleicht gar nicht in einem Zusammenhang der Stärkung dieses Grundrechts, sondern, verglichen mit der Vorrangdogmatik des U.S. Supreme Court, in einem Konnex der Schwächung der Redefreiheit? Ist der Schutz von Ehre und Würde, Gleichheit und Zivilität die vorrangige Pflicht des Staates, der Anspruch der Bürger auf harte, offene und ungehinderte Diskussion aller die Öffentlichkeit bewegenden Fragen nur ein nachrangiges Recht?

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Im Einzelnen ist hier vieles streitig, wie die Kommentare zu § 130 StGB verdeutlichen. Der Streit hängt mit dem oben Fn. 70 ff. erwähnten Charakter als abstraktes Gefährdungs- und Klimadelikt, mit der weiten und zum Teil unklaren Rechtsgutbestimmung sowie mit dem Konflikt mit der Meinungsfreiheit zusammen – die in § 130 StGB pönalisierten Meinungsäußerungen haben ja in nicht wenigen Fällen zugleich hochpolitischen Charakter.

§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht I. Aggressive Rede: Der Härtetest für Liberalismus und Meinungsfreiheit Die Meinungsfreiheit ist ein Kernstück liberalen Denkens.1 Immanuel Kant spricht vom Palladium der Volksrechte und sieht den Legitimitätstest von Rechtsregelungen in deren Publizität und öffentlicher Zustimmungsfähigkeit.2 Diese Gedanken hat der moderne Rechtsstaat aufgenommen. Er schützt die einschlägigen Kommunikationsfreiheiten durch Grundrechte. Das mag man als bloße Fortsetzung der liberalen Tradition ansehen, doch steckt ein Mehr an Lebenserfahrung hinter der Rechtsform der grundrechtlichen Gewährleistung. Sie ist eigentlich nur notwendig, wenn Gefahr der Unterdrückung droht – Unterdrückung von staatlicher oder auch gesellschaftlicher Seite, die sich in Demokratien ja leicht in politische Mehrheitsentscheidung umsetzt.3 Das weist darauf hin, dass zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien ein offener und unverstellter Wettbewerb aller Meinungen nicht ohne weiteres – quasi naturgesetzlich – zustande kommt. Vielmehr indiziert die grundrechtliche Gewährleistung Streit und die permanente Gefahr der Verführung zur kollektiven Unterdrückung von Meinungen – speziell von Meinungen, die der Zeitgeist als unangemessen, störend, empörend und schockierend ansieht.4 1

Vgl. Kurt Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Gerhard Anschütz/ Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts II, 1932, § 105, S. 651 (652): „Die Freiheit der Meinungsäußerung ist ein Kind des Liberalismus. Sie stammt aus der Zeit, wo die Bürger der Staatsgewalt noch als Untertanen gegenüber standen und noch nicht sagen konnten: ,Der Staat, das sind wir‘.“ Letzteres verweist treffend auf die Präambel der USVerfassung, die mit „We the People“ beginnt. Siehe auch Thomas I. Emerson, Toward a General Theory of the First Amendment: Yale Law Journal 72 (1963), S. 877 ff., hier zitiert nach dem Nachdruck in: Donald E. Lively/Dorothy E. Roberts/Russell L. Weaver (eds.), First Amendment Anthology (im Folgenden: FAA), Cincinnati, Ohio1994, S. 8. 2 Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: Kants Werke VIII, Akademieausgabe 1968, Anhang II, S. 381 ff. 3 Ein weiterer Klassiker der Meinungsfreiheit ist John Stuart Mill, Über Freiheit (1859), Ausgabe v. Borries, 1969, Kap. 2: „Freiheit des Denkens und der Diskussion“, zusammenfassend S. 62 f. 4 Vgl. zum „impulse to censor“ Robert Trager, Freedom of Expression in the 21st Century, 1999, S. 33 ff.; George Kaleb, The Freedom of Worthless and Harmful Speech, in: Bernard

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§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede?

Vielleicht reichen der liberale Instinkt und der Geist der Toleranz im Regelfall aus, um leicht kritische Äußerungen anderer Personen oder Gruppen zu ertragen, doch bei radikal kritischen Äußerungen wird der Wille zur Duldung fragil. Wird radikale Kritik gar aggressiv geäußert, steht der liberale Härtetest bevor: Sollen Toleranz und Duldung auch noch gegenüber Äußerungen gelten, die uns empören, die wir als falsch, ungerecht oder unmoralisch empfinden? Stellen wir uns einen Demonstranten vor, der folgende Botschaften vertritt: (1) „Ausländer, die in Deutschland einreisen und hier Sozialleistungen in Anspruch nehmen, sind Parasiten.“5 (2) „Schluss mit der Invasion und Überfremdung unserer Landes durch diese kriminellen Ausländer, die unsere Freiheit und unser Eigentum bedrohen und uns mit Drogen überschwemmen!“6 (3) Der Demonstrant benutzt bei seinem öffentlichen Auftritt Symbole und Insignien, die in dem jeweiligen Land für Theorien rassischer Überlegenheit und Unterlegenheit stehen – das Hakenkreuz in Deutschland sowie das Ku-Klux-Klan-Kreuz in den USA.7 Wie sollte eine Rechtsordnung mit so aggressiven oder gar hasserfüllten politischen, öffentlichkeitsrelevanten Äußerungen umgehen?8 Hier scheiden sich die Geister.9 Yack (ed.), Liberalism without Illusion, Chicago, Il.1996, S. 220 (221); Mill (Fn. 3); Justice Holmes, dissenting, in Abrams v. United States, 250 U.S. 616, 630 (1919): „Persecution for the expression of opinions seems to me perfectly logical. If you have no doubt of your premises or your power and want a certain result with all your heart you naturally express your wishes in law and sweep away all opposition.“ Anschließend wendet sich Holmes gegen diese Tendenz. 5 Angelehnt an OLG Frankfurt, U. v. 15.8. 2000, NStZ-RR 2000, S. 368 f., und hierzu Walter Kargl, Rechtsextremistische Parolen als Volksverhetzung, Jura 2001, S. 176 ff. 6 Diese Botschaft ist an einen deutschen und einen amerikanischen Fall angelehnt. Vgl. VG Frankfurt, B. v. 22.2. 1993, NJW 1993, S. 2067 f. (Ausschluss einer Wahlzeitung von der Postbeförderung und Strafbarkeit als Volksverhetzung), sowie Beauharnais v. Illinois , 343 U.S. 250 (1952); hierzu Winfried Brugger, Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht, Abschnitt III. 2., in diesem Band S. 165 ff. Ein weiterer, vergleichbarer deutscher Fall ist die strafrechtliche Sanktionierung des Gedichtes „Der Asylbetrüger in Deutschland“ als Volksverhetzung. Vgl. BayObLG, B.v. 31.1. 1994, NJW 1994, S. 952 f.; BayObLG, U.v. 17.8. 1994, NJW 1995, S. 145 f.; OLG Frankfurt, U.v. 11. 5. 1994, NJW 1995, S. 143 f.; BVerwG, U.v. 23.1. 1997, NJW 1997, S. 2341 f. 7 Die Verwendung des Hakenkreuzes ist in Deutschland strafrechtlich verboten, vgl. §§ 86, 86 a StGB. Die durch das Ku-Klux-Klan-Kreuz zum Ausdruck gebrachte Botschaft der Überlegenheit der weißen oder arischen Rasse ist in den USA nicht verboten. Vgl. die sogenannte „Skokie controversy“, in der es um geplante Neonazi-Demonstrationen in einem jüdischen Wohnviertel ging, anschaulich beschrieben in: Donald A. Downs, Nazis in Skokie. Freedom, Community, and the First Amendment, Notre Dame, Ind. 1985, und RAV v. St. Louis, 505 U.S. 377 (1992). 8 Der Aufsatz behandelt nur „politische“ Äußerungen, nicht private oder geschäftliche Auseinandersetzungen. Botschaften (1) und (2) sind durch eine Verknüpfung von Werturteil und Faktenannahmen gekennzeichnet, Botschaft (3) steht für eine isolierte, separate normative Herabsetzung. Auf diese Charakteristika ist im Folgenden noch einzugehen. 9 Beleg dafür ist, dass der oft zitierte Topos „Kampf der Meinungen“ in ganz unterschiedlichem Sinn ausgelegt wird. Die Deutungen reichen von einem Kampf auf Leben und Tod bis zu der optimistischen Annahme, dass die „guten“ Meinungen sich gegenüber den „bösen“

I. Aggressive Rede: Der Härtetest für Liberalismus und Meinungsfreiheit

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Das zeigt sich bei einem überschlägigen Blick auf die Art und Weise, wie moderne Rechtsordnungen auf der nationalen wie internationalen Ebene mit solcher Rede umgehen. Eine Staatengruppe, angeführt von den USA, schützt aggressive Rede oder Hassrede weitgehend, jedenfalls soweit es um gesellschaftlich relevante Äußerungen geht. Eine andere Staatengruppe, zu der etwa Deutschland und die Mitglieder des Europarats gehören10, sowie Menschenrechtspakte im Völkerrecht11 verbieten solche Äußerungen weitgehend. Wir haben also eine Konkurrenz zwischen der, abgekürzt gesprochen, amerikanischen Sicht und der deutschen, europäischen und völkerrechtlichen Auffassung.12 Bezogen auf die drei Beispielsfälle, heißt dies: Die drei Botschaften sind nach deutscher Rechtsauffassung verboten, nach amerikanischer Sicht durch die Redefreiheit geschützt. Der neuralgische Punkt ist die Einschränkung von Äußerungen gerade wegen ihres Inhalts. Solches „Meinungssonderrecht“ ist in einem liberalen Staat grundsätzlich verdächtig. Das Verfassungsrecht trägt dem in der Regel dadurch Rechnung, dass Einschränkungen der Redefreiheit ein „allgemeines Gesetz“ und gerade kein bestimmte Meinungen beschränkendes Gesetz voraussetzen; ferner kann die staatliche Gewalt an das Gebot der Neutralität gegenüber gesellschaftlichen Meinungen gebunden sein.13 Falls wirklich ein Vorrang von Redefreiheit gegenüber anderen Werten gilt, die durch anstößige Rede vielleicht gefährdet sind, sind Verbote von Meinungssonderrecht und Gebote von staatlicher Meinungsneutralität strikt; Veroder „schlechten“ Meinungen durchsetzen werden. Vgl. Winfried Brugger, Der Kampf der Meinungen, in: ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, § 19. 10 Vgl. Bradley A. Appleman, Hate Speech. A Comparison of the Approaches Taken by the United States and Germany, Wisconsin International Law Journal 14 (1996), S. 422 ff.; Sandra Coliver (ed.), Striking a Balance. Hate Speech, Freedom of Expression and Non-Discrimination, 1992; Sionaidh Douglas-Scott, The Hatefulness of Protected Speech. A Comparison of American and European Approaches, William and Mary Bill of Rights Journal 7 (1999), S. 305 ff., und m.w.N. Winfried Brugger, The Treatment of Hate Speech in German Constitutional Law, in: Eibe Riedel (ed.), Stocktaking in German Public Law, 2002, S. 117 ff. 11 Vgl. vor allem das Internationale Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. 3. 1966, BGBl. 1969 II, S. 962 (Rassendiskriminierungskonvention – RDK). Hierzu und zu weiteren einschlägigen Normen und Gesetzen im Völkerrecht Anja Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht. Rassendiskriminierende Äußerungen im Spannungsfeld zwischen Rassendiskriminierungsverbot und Meinungsfreiheit, 2001. 12 Vgl. neben den Nachweisen oben Fn. 6, 10 noch unten Fn. 17 sowie Michel Rosenfeld, Hate Speech in Constitutional Jurisprudence. A Comparative Analysis, Cardozo Law School Public Law Research Paper No. 41, April 21, 2001, SSRN ID265939 code 010412630.pdf, S. 42 vor Fn. 59: „If free speech in the United States is shaped above all by individualism and libertarianism, collective concerns and other values such as honor and dignity lie at the heart of the conceptions of free speech that originate in international covenants or in the constitutional jurisprudence of other Western democracies.“ 13 Vgl. zum Beispiel die Schranke „allgemeine Gesetze“ in Art. 5 Abs. 2 GG für die in Abs. 1 geschützte Meinungsfreiheit sowie Art. 3 Abs. 3 GG: „Niemand darf wegen … seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Zum „allgemeinen Gesetz“ s. Hans Peter Bull, Freiheit und Grenzen des Meinungskampes, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 163 (174 f.).

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stöße dagegen sind in aller Regel verfassungswidrig. So wird in den USA Recht gerade gegen Meinung umgangssprachlich, aber in der Sache durchaus treffend als „Todsünde“ gegen die Meinungsfreiheit eingestuft.14 Gilt dagegen kein Vorrang von Redefreiheit, ist Meinungssonderrecht in manchen oder auch häufigeren Fällen zulässig. Der Staat darf parteilich sein und die Prozesse gesellschaftlicher Meinungsbildung partiell steuern.15 Dann stellt sich die Frage: Welche Formen von anstößiger Rede dürfen oder sollen rechtlich sanktioniert werden? Die Antwort für die deutsche, europäische und internationale Rechtsordnung, also die Weltsicht außerhalb der USA, ist: Besonders anstößige und aggressive und insbesondere hasserfüllte Äußerungen dürfen verboten und strafrechtlich sanktioniert16 werden. Rechtstechnisch führt dies zu Vorschriften, die (1) individuelle und kollektive Ehrverletzungen, (2) Volksverhetzung, (3) Rassenhetze und (4) Diskriminierung bestrafen.17 14 Vgl. Kathleen Sullivan, Freedom of Expression in the United States. Past and Present, in: Thomas R. Hensley (ed.), The Boundaries of Freedom of Expression and Order in American Democracy, Kent, Ohio 2001, S. 1 (9): „[V]iewpoint discrimination by the government is the cardinal First Amendment sin, all the more when it is directed against political dissent … Under this approach, one may express any idea one wants as long as it remains on the side of the mind/ body line, no matter how unpatriotic and no matter how far beyond the pale it might seem in civilized society.“ Vgl. auch unten Fn. 35, 49. 15 So ist die Lage in Deutschland, wie zahlreiche Verbote von aggressiver Rede zeigen, die zwar als Eingriffe in die Meinungsfreiheit eingestuft werden, aber trotzdem als „allgemeine Gesetze“ oder Normen zum Schutz der anderen Schrankengüter (Ehre, Jugendschutz) gelten, trotz ihres Charakters als Sonderrecht gegen Meinung. Vgl. die Nachweise bei Brugger (Fn. 10), Abschnitt IV. 2. Die vom BVerfG verwendete Deutung der Formel von „allgemeinem Gesetz“ erlaubt dies, weil sie sich in ihrem ersten Teil zwar gegen Sonderrecht gegen Meinung richtet, dann aber im zweiten Teil solches Recht doch zulässt, wenn die durch die Äußerung der Meinung bedrohten Rechtsgüter im Einzelfall den Vorrang verdienen. Vgl. etwa BVerfGE 7, 198 (209 f.); 50, 234 (240 f.). Dies ist nach der Rspr. des BVerfG der Fall, wenn die Meinung 1. als Schmähkritik, 2. als Formalbeleidigung oder 3. als Verletzung der Menschenwürde einzustufen ist. Vgl. BVerfGE 82, 43 (51); 82, 272 (280 f.); 93, 266 (294). 16 Soweit bestimmte Meinungen verboten sind, gibt es neben der strafrechtlichen Sanktionierung noch andere Möglichkeiten rechtlicher Nachteile, etwa zivilrechtlicher Art (Unterlassungs-, Beseitigungs-, Schadenersatzpflichten) oder verwaltungsrechtlicher Art (etwa Lizenzentzug für Rundfunkstationen, disziplinarrechtliche Maßnahmen gegenüber Personen in einem Sonderstatusverhältnis zum Staat). Der Einfachheit halber steht hier die Strafrechtssanktion im Mittelpunkt. 17 Vgl. für Deutschland und die Fallgruppe (1) §§ 185 ff. StGB, für die Fallgruppen (2) und (3) § 130 StGB. Generell zu den Fallgruppen „group libel, breach of the peace, and incitement to hatred“ David Kretzmer, Freedom of Speech and Racism, Cardozo Law Review 8 (1987), S. 445 (494 ff.), und rechtsvergleichend Stephen J. Roth, The Laws of Six Countries. An Analytical Comparison, in: Louis Greenspan/Cyril Levitt (eds.), Under the Shadow of Weimar. Democracy, Law, and Racial Incitement in Six Countries, Westport, Conn. 1993, S. 177 (192 ff.). Die Fallgruppe (4) ist in den USA stärker als in Deutschland entwickelt, wird aber zunehmend auch bei uns diskutiert. Vgl. Peter Rädler, Gesetze gegen Rassendiskriminierung, ZRP 1997, S. 5 ff.; Natasha Minsker, „I Have a Dream – Never Forget“: When Rhetoric Becomes Law. A Comparison of the Jurisprudence of Race in Germany and the United States, Harvard Black Letter Law Journal 14 (1998), S. 116 ff.; und zu Einwirkungen des EG-Rechts auf Antidiskriminie-

II. Strukturierung der Argumentation

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Hier soll nicht in eine Analyse dieser Rechtsregelungen eingetreten werden.18 Vielmehr sollen die Argumente vorgetragen und die Werte benannt werden, die typischerweise bei aggressiver Rede in Konflikt geraten. Ich wähle dazu eine dialektische Weise der Darstellung. Nach einer kurzen Charakterisierung der Art der einschlägigen Argumente (II.) trage ich idealtypisch die Argumente vor, die nach amerikanischer und liberaler Sicht für den Vorrang der Redefreiheit in solchen Fällen sprechen (III.). Anschließend kommt die Konkurrenzsicht zur Sprache, die in der Regel die Vorrangverhältnisse umkehrt. Diese wird von vielen als kommunitaristisch bezeichnet (IV.). Im letzten Abschnitt prüfe ich diese Qualifizierung und komme zu einem vermittelnden Ergebnis im Rahmen des „liberalen Kommunitarismus“ (V.).

II. Strukturierung der Argumentation Einschlägige Argumente für und gegen einen Vorrang von Rede gegenüber konkurrierenden Werten19 lassen sich grob einteilen in solche, die auf die Folgen der Äußerung abstellen sowie solche, die unabhängig von möglichen oder wahrscheinlichen Konsequenzen auf den Sprecher und dessen Autonomie im weitesten Sinn des Wortes abheben.20 Weitgehende Einigkeit besteht in der Annahme, dass sich die beiden Argumentformen analytisch unterscheiden lassen, aber der Sache nach beide in die Abwägung der Gewichtigkeit von Meinungsfreiheit hineingehören. Während Autonomieargumente eher individualistisch ausgerichtet sind und im Verletzungsfall „Ungerechtigkeit“ indizieren, sind Folgenargumente stärker probabilistisch und anhand der Kategorien „zweckmäßig, gut“ oder „unzweckmäßig, schlecht“ in Bezug auf kollektive Rechtsgüter einzustufen. Weiterhin kann man, von der Mikroebene auf die Makroebene überblendend, für die beiden Auffassungen vom rungsmaßnahmen in Deutschland Susanne Baer, Recht gegen Fremdenfeindlichkeit und andere Ausgrenzungen, ZRP 2001, S. 500 ff. 18 Dazu näher Brugger (Fn. 6 und 10); Zimmer (Fn. 11). 19 Vgl. zum Folgenden zum Teil noch ausdifferenzierter Rosenfeld (Fn. 12), Abschnitt I; Robert Post, Racist Speech, Democracy, and the First Amendment, William and Mary Law Review 32 (1991), S. 271 ff. 20 Vgl. zu dieser gängigen – schon von Häntzschel (Fn. 1), S. 652, benutzten – Unterscheidung etwa Susan J. Brison, The Autonomy Defense of Free Speech: Ethics 108 (1998), S. 312 (321 f.), die näher auf unterschiedliche Autonomiebegriffe eingeht. Siehe auch Winfried Brugger, Freiheit der Rede und Organisation der Meinungsfreiheit. Eine liberale Konzeption der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 GG, EuGRZ 1987, S. 189 (197 f.) m.w.N. Das BVerfG arbeitet in ständiger Rspr. mit dieser Unterscheidung. Vgl. die vielzitierte Passage aus dem Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198 (208): „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt … Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist … Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ,the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom‘ (Cardozo).“

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Vorrang oder Nachrang aggressiver Rede die jeweiligen Menschen-, Gesellschaftsund Staatsbilder vergleichen. Ferner steht Kommunikation immer in einem Zusammenhang von Äußerer, Rezipient und Publikum im Allgemeinen.21 Für konsequentialistische Argumente ist dieser Bezug eine Selbstverständlichkeit, für rein rednerorientierte Auffassungen nicht unbedingt – sie können solipsistisch oder stark rechteorientiert sein.22 Was immer der Redner für Rechte als Kommunikant haben mag, entsprechende Rechte für Rezipienten und eventuelle Konflikte mit konfligierenden Rechtsgütern müssen mit in die Abwägung eingestellt werden. Das gilt umso mehr, als hier eine weitere Prämisse unterstellt werden soll: Aggressive, radikale Werturteile können für die Angegriffenen schmerzhaft, also mit Kosten verbunden sein.23 Solche Rede zu erlauben, mag in der Abwägung von Vorteilen und Nachteilen empfehlenswert oder nicht empfehlenswert sein, auf jeden Fall sind die Kostenfaktoren zu berücksichtigen. Schließlich ist darauf zu achten, ob und wie gewichtig historische Umstände sich in den genannten Argumenten faktisch widerspiegeln bzw. normativ widerspiegeln sollten, etwa in Bezug auf die Gefahreinschätzung aggressiver Rede oder die Schutzwürdigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen.

III. Argumente für einen Vorrang von aggressiver Rede Lassen wir zunächst den liberalen amerikanischen24 Advokaten der Redefreiheit zu Wort kommen, der für den Schutz aggressiver Äußerungen in öffentlich bedeutsamen Angelegenheiten eintritt25 : 21 Rechtlich drückt sich diese Differenzierung dadurch aus, dass Beleidigungsdelikte den Schutz der konkret Angegriffenen bezwecken, Normen dagegen, die den „öffentlichen Frieden“ sichern wollen, auf das Gesamtpublikum abstellen. 22 Mary Ann Glendon, Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse, 1991, sieht dies als ein Wesensmerkmal der vorherrschenden amerikanischen politischen Kultur an. Vgl. die eindrücklichen Kapitelüberschriften: „The Land of Rights“, „The Illusion of Absoluteness“, „The Lone Rights Bearer“, „The Missing Language of Responsibility“, „Rights Insularity“. 23 Das ist nicht unbestritten. Manche bestreiten, dass durch Rede überhaupt Kosten anfallen bzw., etwas schwächer, dass Kosten anfallen, die nicht durch Gegenrede kompensiert werden könnten. Vgl. Joshua Cohen, Freedom of Expression, in: David Heyd (ed.), Toleration. An Elusive Virtue, 1996, S. 175 (180 f.), der dies „free speech minimalism“ nennt. Geteilt wird also nicht die Botschaft des amerikanischen Kinderreims: „Sticks and stones may break my bones, but names will never hurt me“; hierzu Kretzmer (Fn. 17), S. 459. Speziell auf die Kosten bezogen: Simon F. Lee, The Cost of Free Speech, 1990; Cohen, ebd., S. 175, 189 f., oben Fn. 17 zu Post und Kretzmer und unten Fn. 73 f., 116, 120. 24 „Amerikanisch“ und „liberal“ bezieht sich hier auf die herrschende Lehre und Rspr. Gegen diese gibt es heftige Kritik von der Minderheit, deren Sicht in Abschnitt III. idealtypisch dargestellt und mit einigen Autoren (Fn. 59) nachgewiesen wird. Die US-Minderheitssicht vertritt der Tendenz nach die deutsche, europäische und völkerrechtliche Sicht. 25 Die Literatur zu diesem Thema ist reichhaltig. Hier folgen nur exemplarische Hinweise. Vgl. etwa Emerson (Fn. 1); James Weinstein, Hate Speech, Pornography, and the Radical Attack

III. Argumente für einen Vorrang von aggressiver Rede

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1. Autonomie. Redefreiheit ist nur für Menschen, dann aber für alle Menschen bedeutsam. Nur über Kommunikation können sie sich als das entfalten, was sie sind – partiell instinktentbundene Menschen und deshalb frei für moralische Ausrichtung und individuelle Persönlichkeitsformung.26 In der moralischen Ansprechbarkeit kommt die Würde des Menschen, seine Personalität, zum Ausdruck; in der Formung zu einem unverwechselbaren Individuum über Kommunikation drückt sich seine Persönlichkeit aus.27 Handlungen sind Ausdruck der Personalität und Individualität des Menschen, weswegen die vorgängige Persönlichkeitsbildung und Ansprechbarkeit als moralische Person über Kommunikation wichtiger sind als die letztlich daraus resultierenden Handlungen. Deshalb verdient Kommunikationsfreiheit einen Sonderstatus. Weil Menschen nicht nur Meinungen haben, sondern das sind, was sich in ihren Meinungen verkörpert28, ist die Freiheit der Rede primär ein auf das Individuum selbst bezogenes Recht. Konflikte des Einzelnen mit kollektiven Präferenzen sind aber nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, wie die Erfahrung zeigt. Deshalb sollte die Redefreiheit nicht nur überhaupt gegen Mehrheitsdominanz geschützt, sondern stark, ja wegen des Autonomiebezugs vorrangig geschützt werden. Eingriffe in die Redefreiheit sind in aller Regel als Verletzungen seiner Freiheit und Gleichheit anzusehen. Die Freiheitsverletzung ergibt sich daraus, dass dem Menschen von staatlicher Seite aus unter Androhung von Strafe gesagt wird, was er denken und wie er urteilen oder jedenfalls nicht denken und urteilen soll; die Gleichheitsverletzung resultiert daraus, dass bestimmten Menschen oder Gruppen freigestellt wird, sich eigenständig ein Urteil zu bilden und dieses zu vertreten, anderen Menschen und Gruppen dagegen, die dem vorherrschenden Meinungsklima widersprechen, ebendieses Recht abgesprochen wird. Vergleichbare Freiheits- und Gleichheitsverletzungen ergeben sich auf Hörerseite. Das ist unvertretbarer Paternalismus.29 on Free Speech Doctrine, 1999; ders., Hate Speech, Viewpoint Neutrality, and the American Concept of Democracy, in: Hensley (Fn. 14), S. 146 ff.; Harry M. Bracken, Freedom of Speech. Words Are Not Deeds, 1994; Sullivan (Fn. 14). 26 Vgl. Ernst-Joachim Lampe, Grenzen des Rechtspositivismus. Eine rechtsanthropologische Untersuchung, 1988, zusammenfassend S. 193 ff. 27 Damit sind zwei bzw. drei unterschiedliche Autonomiebegriffe angesprochen: Gleichheit als Person und moralisch ansprechbares Wesen, Unterschiedlichkeit der einzelnen Persönlichkeiten, expressiver Individualismus. 28 Vgl. Kaleb (Fn. 4), S. 233: „[The speakers’] expression is not only theirs, it is them.“ Das ist der Unterschied zu Handlungen: Meinungsäußerungen sind in der Regel konstitutiver mit der Person und Persönlichkeit des Äußerers verbunden als dessen Handlungen. Ferner wirken Handlungen in der Regel unausweichlicher in Interessen anderer ein als Reden: Bei Letzteren ist Gegenrede möglich. Deshalb wird nach dieser Sicht der Redefreiheit ein besonderer Status verliehen. 29 Vgl. Christina E. Wells, Reinvigorating Autonomy. Freedom and Responsibility in the Supreme Court’s First Amendment Jurisprudence, Harvard Civil Rights-Civil Liberties Review 32 (1997), S. 159 (174): „Distrust of the ability of citizens to make decisions is antithetical to autonomy …“. Sie zitiert ebd. in Fn. 62 die Entscheidung First National Bank v. Belloti, 435 U.S. 765, 791 f. (1979): „[T]he people in our democracy are entrusted with the responsibility for

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§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede?

2. Meinung, Argumentation, Emotion. Für aggressive Rede kann nichts anderes gelten als für angepasste Mainstream-Rede oder zivilisierte Ausdrucksformen von Kritik. Starke Wertungen, wie sie in aggressiver Rede zum Ausdruck kommen, sind in der Regel Ausdruck tiefgreifender Konflikte, die der Redner mit den vorherrschenden Zuständen in Gesellschaft und Staat hat. Emotion – von Kritik über Ablehnung bis zu Hass – ist entweder Ausdruck von höchstpersönlicher Bewertung und schon deshalb zu achten30, oder sie ist zumindest in Kauf zu nehmende Nebenfolge der kritischen Einstellung des Äußerers.31 Das schließt nicht aus, sondern ein, dass gesellschaftliche Institutionen und staatliche Instanzen sich für zivilisierte Umgangsformen und Kommunikationsweisen einsetzen, aber eben nur werbend und erziehend, nicht strafrechtlich sanktionierend. Rechtssanktionen haben die Tendenz, statt den Stil zu optimieren die Botschaften und Beurteilungen zu dezimieren. 3. Folgenargument 1. Aggressive Rede kann zugestandenermaßen die angegriffenen Personen oder Gruppen in ihren Achtungs- und Ehransprüchen beeinträchtigen. Doch kann dies berechtigt sein: Soweit mit aggressiven Werturteilen explizit oder implizit auf reale oder unterstellte Faktenlagen Bezug genommen wird, sollte eine unverstellte Diskussion immer erlaubt sein. Denn entweder geht der Äußerer von falschen Annahmen aus, was sich in einer offenen Diskussion ergeben wird – dann besteht Hoffnung, dass der Redner seine Meinung revidiert. Oder aber die Sachverhaltslage ist in der Tat so, wie der Äußerer unterstellt – dann besteht jedenfalls aufgrund realer Aufklärung kein Grund für ihn, seine Meinung zu ändern. judging and evaluating the relative merits of conflicting arguments … [I]f there be any danger that the people cannot evaluate the information and arguments advanced … it is a danger contemplated by the Framers of the First Amendment.“ 30 Vgl. Cohen v. California, 403 U.S. 15, 26 (1971): „[M]uch linguistic expression serves a dual communicative function: it conveys not only ideas capable of relatively precise, detached explication, but otherwise inexpressible emotions as well. In fact, words are often chosen as much for their emotive as their cognitive force. We cannot sanction the view that the Constitution, while solicitous of the cognitive content of individual speech, has little or no regard for that emotive function which, practically speaking, may often be the more important element of the overall message sought to be [communicated].“ Zitiert nach Kathleen M. Sullivan/Gerald Gunther, First Amendment Law, New York, N.Y. 1999, S. 63. Vgl. schon ebd., S. 25 zu Masses Publishing Co. v. Patten, 244 Fed. 535 (S.D.N.Y. 1917). Learned Hand, der District Judge dieser Entscheidung, hielt fest: Meinungen „fall within the scope of that right to criticise either by temperate reasoning, or by immoderate and indecent invective, which is normally the privilege of the individual in countries dependent upon the free expression of opinion as the ultimate source of authority.“ Etwas später spricht er von „the normal assumption of democratic government that the suppression of hostile criticism does not turn upon the justice of its substance or the decency and propriety of its temper“. Hierzu und zu der „essential connection between the form and content of speech“ Weinstein,Viewpoint Neutrality (Fn. 25), S. 154. Nach BVerfGE 81, 278 (291) gilt für den Schutz von Kunstwerken – und für Meinungen kann in der Sache nichts anderes gelten – Folgendes: „Die Anstößigkeit der Darstellung nimmt ihr nicht die Eigenschaft als Kunstwerk. Kunst ist einer staatlichen Stil- oder Niveaukontrolle nicht zugänglich.“ 31 James Madison formulierte: „Some degree of abuse is inseparable from the proper use of everything.“ Zitiert nach Cohen (Fn. 23), S. 191.

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Die Wahrheit über gesellschaftlich und politisch relevante Sachverhalte sollte immer gesagt oder aber in der Diskussion herausgefiltert werden dürfen.32 Auf die ersten beiden Beispielsfälle bezogen: Soweit ein Redner sozialhilfeberechtigte Ausländer als Parasiten einstuft oder die Kriminalitätsraten von Ausländern geißelt und dabei von Zahlen ausgeht, die falsch oder übertrieben sind, kann die öffentliche Auseinandersetzung dies klarstellen; das kann zu einer Revision der Bewertung führen. Soweit die Zahlen sich als korrekt herausstellen, wird sich eine Einstellungsänderung jedenfalls nicht aufgrund der Faktenlage ergeben. 4. Folgenargument 2. Soweit die Werturteile ohne Faktenbasis geäußert wurden, wie etwa im dritten Beispiel der öffentlichen Demonstration von Symbolen rassischer Überlegenheit, liegt kein Faktendisput, sondern ein Wertungsstreit zwischen Personen und Gruppen vor. Solche Wertungsstreitigkeiten sind öffentlich auszutragen und nicht mit staatlicher Gewalt zu unterbinden. Nur so können Lernprozesse angeregt werden und können die besseren Argumente gewinnen. Dass sie dies tun werden, kann in einer auch nur einigermaßen aufgeklärten Gemeinschaft vorausgesetzt werden.33 Zudem können die kommunikativen Aggressoren so Dampf ablassen.34 So „verdampft“ die Aggression oder wird doch zumindest partiell abgebaut, jedenfalls in der Mehrheit der Fälle. Damit wird die Wahrscheinlichkeit von Tätlichkeiten verringert. 5. Folgenargument 3. Soweit aber Tätlichkeiten begangen werden oder solche Tätlichkeiten durch sogenannte „fighting words“ drohen, liegt entweder überhaupt keine Rede mehr vor, sondern eine Handlung, die man unterbinden oder bestrafen darf; oder aber wir sind mit der Art von Handlung konfrontiert, die wegen des unmittelbar drohenden Umschlags in eine Tätlichkeit den Staat als Bewahrer des Friedens und der körperlichen Unversehrtheit auf den Plan ruft.35 Äußerungen dagegen zu bestrafen, die vielleicht mittelbar und langfristig zu Einbußen für das Gemeinwesen führen, sollte in einem liberalen Staat, der die Meinungsfreiheit respektiert, ausgeschlossen sein.36 Denn solche nicht klar ersichtlichen und nicht 32

Wie schon oben Fn. 8 gesagt, geht es hier nur um öffentlichkeitsbedeutsame Angelegenheiten. Für die Veröffentlichung privater, intimer, wenngleich „wahrer“ Information mag und wird in der Regel anderes gelten. 33 Dies ist jedenfalls die Ansicht in den USA. Vgl. Roth (Fn. 17), S. 180 über die dortige „full reliance on the power of the ,free market of ideas‘ in which [it is held] the good is bound to win over the evil“. 34 Vgl. Kretzmer (Fn. 17), S. 487 m.w.N. und Coliver (Fn. 10), S. 374. 35 Letzteres ist die Definition von „fighting words“, die nach der US-Sicht beschränkt oder bestraft werden dürfen, soweit das einschlägige Gesetz dies meinungsneutral tut. Vgl. Cohen (Fn. 23), S. 208, und R.A.V. v. St. Paul (Fn. 7). 36 Vgl. Justice Holmes, dissenting in Abrams v. United States, 250 U.S. 616, 630 (1919): „Every year if not every day we have to wager our salvation upon some prophesy based upon imperfect knowledge. While that experiment is part of our system I think that we should be eternally vigilant against attempts to check the expression of opinions that we loathe and believe to be fraught with death, unless they so imminently threaten immediate interference with the

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§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede?

unmittelbar drohenden Schäden für Leib und Leben von konkreten Personen zu beurteilen, erfordert unsichere Prognoseurteile, in die dann die Vorurteile der herrschenden Schichten einfließen. Die Schäden treten vielleicht ein, sicher ist es aber nicht. Sicher ist dagegen bei staatlicher Beschneidung der Redefreiheit, dass Würde, Persönlichkeit, Freiheit und Gleichheit der Äußerer beschnitten werden. In einem solchen Konflikt ist der sichere Schaden für die Meinungsfreiheit zu vermeiden und die Möglichkeit eines eventuell eintretenden Schadens für die öffentliche Sicherheit hinzunehmen. Zudem kann in solchen Lagen die anstößige Rede immer mit Gegenrede beantwortet werden, was dem liberalen Motto „Im Zweifel lieber mehr Rede als weniger Rede“37 Entfaltungsraum lässt. 6. Ehrangriffe und Beleidigung. Was speziell Ansprüche von Personen und Gruppen auf Achtung und Schutz vor rhetorischen Angriffen angeht, so ist bei faktenunabhängigen Werturteilen – schlicht abschätzigen Meinungen einer Gruppe über andere Gruppen – die Unterschiedlichkeit der Wertung als Ausdruck der Persönlichkeit des Äußerers zu achten. Das mag in der Gesellschaft zu Unruhe führen, aber ein näherer Blick zeigt, dass dies durchaus eine produktive Unruhe sein kann. So kann sich eine auf den ersten Blick als reine Meinung darstellende Abwertung einer Person oder Gruppe bei näherem Hinsehen als eine doch auf bewussten oder unbewussten Faktenannahmen aufbauende Meinung herausstellen. Damit ist Revision oder auch Bestätigung durch nähere Konfrontation mit den Fakten möglich – ein Gewinn für Wahrheitsfindung. Denken wir an Äußerungen wie: Italiener sind Mafiosi, Deutsche sind Neonazis, Polen klauen, bis hin zu Äußerungen über die Unterlegenheit oder Überlegenheit von Rassen. Zu den ersten drei Behauptungen kann man Kriminalitätsstatistiken sprechen lassen und diese mit entsprechenden Statistiken anderer Gruppen und Länder vergleichen. Selbst wenn sich ein Korn Wahrheit in den Behauptungen findet, kann man auf nicht-gruppenbezogene Gründe für höhere Kriminalitätsraten hinweisen. Was die Überlegenheit von Rassen angeht, so ist es nicht immer ausgeschlossen, auf mögliche Referenzfelder im Tatsächlichen hinzuweisen, wenngleich das dann thematisierbare Feld von Punkten, in denen alle

lawful and pressing purposes of the law that an immediate check is required to save our country.“ 37 Vgl. das berühmte Diktum von Justice Brandeis, concurring in Whitney v. California, 274 U.S. 357, 375 f. (1927): „Those who won our independence by revolution were no cowards. They did not fear political change. They did not exalt order at the cost of liberty. To courageous, self-reliant men, with confidence in the power of free and fearless reasoning applied through the processes of popular government, no danger flowing from speech can be deemed clear and present, unless the incidence of the evil apprehended is so imminent that may befall even before there is opportunity for full discussion. If there be time to expose through discussion the falsehood or fallacies, to avert the evil by the processes of education, the remedy to be applied is more speech, not enfored silence.“ Hervorhebung durch Winfried Brugger. Zitiert in Cohen (Fn. 23), S. 191, 201.

III. Argumente für einen Vorrang von aggressiver Rede

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Menschen gleich sind38, überzeugte Rassisten nicht ohne weiteres umstimmen wird.39 Zudem führen reine Wertungen in Form von Herabsetzungen nicht notwendigerweise zu einer Ehrabschneidung. Eine Ehrabschneidung oder Achtungsverletzung liegt nur für den Fall vor, dass die angegriffene Person oder Gruppe sich in ihrer Selbsteinschätzung von der Fremdeinschätzung abhängig macht.40 Das muss aber nicht sein, denn eine solche Abwertung, ohne entsprechende Unterfütterung durch Fakten oder Tatsachenbehauptungen, sagt eigentlich mehr über den Äußerer als den Adressaten aus, und die negative Wertung muss gar nicht auf die Adressaten fallen. Oft wird sie mehr über den Äußerer enthüllen als über den Adressaten, gerade in ihrer Aggressivität! 7. Kollektivbeleidigung. Ein Weiteres kommt bei Kollektivbeleidigungen hinzu. Individuelle Ehrangriffe sind klar zu lokalisieren: Wir kennen den Beleidiger, wir wissen, wer gemeint ist. Bei kollektiven Ehrangriffen auf Gruppen wie Deutsche, Italiener, Polen usw. ist dies nicht so klar. Wenn über Gruppen herabsetzende Werturteile geäußert werden, so sind solche Äußerungen in aller Regel ohne Schwierigkeit so verstehbar, dass aus Sicht des Äußerers viele oder zu viele Mitglieder der Gruppe dem Negativkriterium entsprechen. Selten wird die Äußerung notwendigerweise so zu interpretieren sein, dass wirklich alle Mitglieder der Gruppe, ohne auch nur eine Ausnahme, gemeint sein sollen. Die Verallgemeinerung eines Vorwurfs („Alle X sind Y“) lässt sich oft verstehen als Ausdruck der Empörung, die zur Übertreibung und somit auch zur Stereotypisierung neigt.41 Verständige Menschen wissen, dass man Stereotypen nicht für bare Münze nehmen darf. Zudem sind zu grobe Klassifizierungen in menschlicher Kommunikation sowieso unausweich-

38 Vgl. Philip Selznick, The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community, 1992, S. 96 ff. 39 Der Fairness halber ist hinzuzufügen, dass sich Überzeugungsüberzeugte in jedem politischen Spektrum finden lassen. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ ist eine Haltung, die nicht an Rassismus gebunden ist. 40 Vgl. Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, 1997, S. 4: „One is not simply fixed by the name that one is called. In being called an injurious name, one is derogated and demeaned. But the name holds out another possibility as well: by being called a name, one is also, paradoxically, given a certain possibility for social existence, initiated into a temporal life of language that exceeds the prior purposes that animate that call. Thus the injurious address may appear to fix or paralyze the one it hails, but it may also produce an unexpected and enabling response. If to be addressed is to be interpellated, then the offensive call runs the risk of inaugurating a subject in speech who comes to use language to counter the offensive call.“ Siehe auch S. 163 und unten Fn. 104. 41 Cohen (Fn. 23), S. 192, 193, zählt dies zu den unentrinnbaren „unhappy facts of life“: „[A]gainst a background of sharp disagreement, efforts at persuasion sometimes proceed through exaggeration, vilification, and distortion.“

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§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede?

lich42: Man kann nicht in jeder Situation allen Menschen in ihrer vollen Individualität und Besonderheit gerecht werden.43 Selbst wenn wirklich alle gemeint sein sollten, die gerade wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit mit einer negativen Bewertung versehen werden, dann bleibt dies immer noch eine Äußerung, die durch die Persönlichkeit des Sprechers mitkonstituiert wird, nicht notwendigerweise exklusiv oder auch nur primär durch Charakteristika der angegriffenen Gruppe. Der Adressat hat die Freiheit, zu sagen: „Ich bin Mitglied der Gruppe, die du rhetorisch angreifst. Aber vor allem bin ich eigenständige Person, und was du über diese Bezugsgruppe sagt, kümmert mich nicht oder berührt mich nicht. Zwar liegt mir meine Gruppe am Herzen, aber letztendlich bin ich doch immer mehr und anderes als diese Bezugsgruppe.“44 Und ob man nun berührt wird oder nicht – Gegenrede ist immer möglich. Deshalb spricht in Bezug auf den Schutz von Individual- wie Kollektivehre viel dafür, reine Wertungen herabsetzender Art nicht zu sanktionieren, jedenfalls soweit es um öffentlich bedeutsame Angelegenheiten geht. Durch solche Wertungen werden die Adressaten nicht wirklich, jedenfalls nicht unausweichlich, in ihrem Ansehen gemindert. Der Äußerer dagegen kann sich sehr wohl im gesellschaftlichen Leben abwerten und isolieren, zum Paria werden, wenn er ausreichend krasse Urteile abgibt. Anderes sollte gelten, soweit Abwertungen sich erkennbar auf konkrete Tatsachenbehauptungen stützen, die, wenn sie wahr wären, das soziale Ansehen und berufliche Fortkommen beschädigen können. Denn diese Stellungen sind oft mühsam durch konkretes soziales und berufliches Engagement erworben worden; solches Ansehen zu schützen, gebietet die Gerechtigkeit, aber eben nur, soweit es um faktengestützte Vorwürfe geht, denn nur solche betreffen und treffen den Adressaten wirklich und unausweichlich, sollten sie denn wahr sein. Dieser Sicht der Meinungsfreiheit, die aggressive Rede bei öffentlichkeitsbedeutsamen Angelegenheiten schützt, entspricht ein spezifisches Bild von Mensch, Gesellschaft und Staat sowie von Neutralität und Integration.

42 Hierzu Niklas Luhmann, Meinungsfreiheit, öffentliche Meinung, Demokratie, in: ErnstJoachim Lampe (Hrsg.), Meinungsfreiheit als Menschenrecht, 1998, S. 99 (104 f.), unter dem Stichwort „Schemata“. 43 Wenn etwa ein Bundeskanzler sagt: „Lehrer sind faul“, dann wissen wir, was gemeint ist: „Zu viele Lehrer sind faul“, aus seiner Sicht. 44 Vgl. Sullivan (Fn. 14), S. 12 f., zu der amerikanischen Tradition als einer „that views civil rights and civil liberties as supporting social fluidity rather than entrenchment in fixed groups … we should not be stuck in group identities that are ascribed to us – through, for example, the operation of prejudice or selective disregard or indifference. Instead, we should be able to join or exit our interest-group memberships and our expressive and intimate associations relatively easily“ (S. 12). Damit ist einer der Kernpunkte des assoziativen Liberalismus angesprochen: Wichtigkeit der Vergemeinschaftung, aber unter der Bedingung von „join and exit“. Vgl. Brugger, Liberalismus (Fn. 9), S. 217, und Post (Fn. 19), S. 294.

III. Argumente für einen Vorrang von aggressiver Rede

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8. Der einzelne Mensch ist moralische Person sowie unverwechselbares und nicht austauschbares Individuum. In Kommunikation geht es um seinen Status als expressives Subjekt.45 Gesellschaftliche Normen und staatliche Einschränkungen müssen sich vor ihm rechtfertigen, und nicht umgekehrt.46 Das kann man legitimatorischen Individualismus nennen.47 Redefreiheit muss nicht aggressiv sein – oft wird sie keinen Anstoß erregen. Aber es muss erlaubt sein, sich auch fundamentalkritisch und rhetorisch-aggressiv zu äußern, weil solche Äußerungen konstitutiver Teil der Persönlichkeit des Äußerers sind und als sein Beitrag zur Behandlung öffentlich bedeutsamer Angelegenheiten anzusehen sind. 9. Das gesellschaftliche Zusammenwirken muss nach dieser Sicht nicht oder nicht vorrangig negativ oder aggressiv sein – Solidarität, Kooperation sind nicht ausgeschlossen, sondern eingeschlossen. Aber Konflikte und Auseinandersetzungen werden als denkbar und wahrscheinlich angesehen und sollen offen zur Sprache kommen. Manchmal oder oft werden solche Konflikte zivilisiert ausgetragen werden, aber wenn es denn so ist, dass es heftige Auseinandersetzungen gibt, dann muss dies rechtlich geduldet werden, solange die Grenze zur aktuell drohenden Tätlichkeit nicht überschritten ist.48 10. Der Staat darf und muss die körperliche Unversehrtheit schützen und soll durch die Effektivität des Ausschlusses von privater Gewalt für ein friedliches und sicheres Zusammenleben sorgen. Aber er darf nicht jede Unruhe, wertende Übertreibung oder rhetorische Aggression zu unterdrücken suchen. Leben in Gesellschaft, insbesondere in multikultureller Gesellschaft, ist Leben im Unruhezustand.49 Diese Unruhe, Ausdruck der Reflexions- und Artikulationsfähigkeit unterschiedlicher Menschen und Gruppen, ist in einem liberalen Staat aufrechtzuerhalten50, sonst 45

Dies lässt sich repräsentativ anhand einer Zusammenfassung der Position von Justice Brennan, einem der die h.M. vertretenden Richter der U.S. Supreme Court, darlegen, die von David E. Marion, The Jurisprudence of Justice William J. Brennan, Jr., 1997, S. VIII f., stammt. Marion nennt folgende Stichworte: „autonomous individualism“, „committed to freeing people from the constraints of ,collective society‘, whether rooted in nature, tradition, history, or majoritarian preferences, so that they may define themselves in the image of their own choosing“, „enhancement of self through expressive activity, ideally resulting in complete individual differentiation“, „freeing up people to enjoy the maximum of self-expression and self-determination“. 46 Vgl. schon oben Fn. 29 und Post (Fn. 19), S. 281: „In America ,the censorial power is in the people over the Government, and not in the Government over the people‘.“ Bezug genommen wird auf New York Times Co. v. Sullivan, 376 U.S. 254, 274 (1964). 47 Hierzu näher Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 45 ff. 48 Vgl. Cohen (Fn. 23), S. 188 Fn. 62: „To be sure, civility has its place in public deliberation. But so do anger, disgust, bitter criticism, and open expressions of hostility.“ 49 Dieser Punkt wird anschaulich von Sullivan (Fn. 14), S. 6, zusammengefasst: „In the [Supreme] Court’s view, government may regulate the clash of bodies but not the stirring of hearts and minds.“ Vgl. schon oben Fn. 14. 50 Vgl. Roth (Fn. 17), S. 179 f.: „The United States regards the more conspicuous strength of ethnic groups as an expression of greater pluralism, an acceptance of being ,beyong the melting pot‘, and feels that their greater strength makes laws for the protection of these racial groups

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schlägt die Friedensfunktion des Staates in die Bewahrung von Friedhofsruhe um.51 Kurz zusammengefasst: Der Einzelmensch steht vor der Gesellschaft. Die Gesellschaft mit ihren Regulierungsmechanismen steht vor dem Staat und seinem Zwangsmonopol.52 Staatliche Zwangsanwendung ist unter Gesichtspunkten der Demokratie nur legitim, wenn alle Bürger und Gruppen das formal gleiche Recht hatten, an der Diskussion und Entscheidung der für alle geltenden Regeln mitzuwirken.53 11. Neutralität und Integration. Der Staat muss sich gegenüber dem Meinungsspektrum der Bürger neutral verhalten.54 Nur so lassen sich Würde, Freiheit, Gleichheit aller Bürger sichern. Nur so wird sich, falls das überhaupt möglich ist, wirklich genuine Integration erreichen lassen: Integration im Sinne der freien gesellschaftlichen Anerkennung des anderen Individuums oder der anderen Gruppe als gleich achtenswert55, und politische Integration im Sinne des Erfordernisses, dass alle Meinungen aller Bürger geäußert werden dürfen und nicht bestimmte Wertungen einzelner Personen und Gruppen von vornherein ausgeschlossen sind.56 Wer so etwas

unnecessary. In Europe, the contrary view prevails: Greater pluralism is seen as making protective laws imperative.“ 51 Vgl. Cohen v. California, 403 U.S. 15, 24 (1971): „To many, the immediate consequence of this [broad freedom of speech] may often appear to be only verbal tumult, discord, and even offensive utterances. These are, however, within established limits, in truth necessary side effects of the broader enduring values which the process of open debate permits us to achieve. That the air may at times seem filled with verbal cacophony is, in this sense, not a sign of weakness but of strength.“ Ähnlich Terminiello v. Chicago, 337 U.S. 1, 4 (1949). 52 Rosenfeld (Fn. 12), S. 15 bei Fn. 17, nennt drei Merkmale des US-Verständnisses von Politik und Meinungsfreiheit: „strong preference for liberty over equality, commitment to individualism, and a natural rights tradition derived from Locke which champions freedom from the state – or negative freedom – over freedom through the state – or positive freedom“. 53 Vgl. Post (Fn. 19), S. 325 ff. 54 Vgl. Justice Marshall in Police Department of Chicago v. Mosley, 408 U.S. 92, 95 f. (1972): „[A]bove all else, the First Amendment means that government has no power to restrict expression because of its message, its ideas, its subject matter, or its content.“ Zitiert in Cohen (Fn. 23), S. 177 Fn. 18. 55 Diese Sicht wurde von dem dissentierenden Richter Harlan in Plessy v. Ferguson ausgedrückt: „If the two races [that is: black and white, W.B.] are to meet upon terms of social equality, it must be the result of natural affinities, a mutual appreciation of each other’s merits and a voluntary consent of individuals … [Legislation] is powerless to eradicate racial instincts or to abolish distinctions based on physical differences, and the attempt to do so can only result in accentuating the difficulties of the present situation“: 163 U.S. 537, 551 f. (1896). 56 Vgl. C. Edwin Baker, Scope of the First Amendment Freedom of Speech, FAA (Fn. 1), S. 12 (13); Robert Post, Community and the First Amendment, Arizona State Law Journal 29 (1997), S. 473 (480 ff.); ders. (Fn. 19), S. 280 ff.; Weinstein, Viewpoint Neutrality (Fn. 25), S. 147, 150 („[G]overnment must treat each individual as an equal, autonomous, and rational agent. It follows from this precept that each person has a right to persuade others about any matter of public concern …“), 161, 164.

IV. Argumente für eine Beschränkung von aggressiver Rede

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tut, begeht die Todsünde gegen die Meinungsfreiheit57 und hat den ersten Schritt getan von einem liberalen zu einem autoritären und tyrannischen Gemeinwesen.58

IV. Argumente für eine Beschränkung von aggressiver Rede Nunmehr spricht der deutsche, europäische und vom Völkerrecht inspirierte Advokat, der das kritische Potential von Meinungsfreiheit schützen, aber für aggressive Rede und „hate speech“ staatliche Beschränkung zulassen will.59 1. Autonomie. Meinungsfreiheit ist für jeden Menschen in der Tat wichtig. Kommunikation ist die Schiene für moralische Reflexion und persönliche Entfaltung und deshalb grundlegend für die Autonomie des Menschen. In Stellungnahmen formt und präsentiert sich der Mensch anderen Menschen und setzt sich mit diesen ins Verhältnis. Doch darf der legitimatorische Invididualismus nicht übertrieben werden, insbesondere sich nicht einseitig gegen eine Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft wenden.60 Zwar muss der Letztbezug Individuum in der Tat gegenüber 57

Vgl. Sullivan (Fn. 14), S. 9: „[V]iewpoint discrimination by the government is the cardinal First Amendment sin, all the more when it is directed against political dissent.“ 58 Der kolumbianische Vertreter bei der Konferenz zur Formulierung und Ratifizierung der Rassendiskriminierungskonvention (Fn. 11) übte mit folgenden Worten Kritik an der in Art. 4 RDK vorgesehenen Pflicht zum Kriminalisierung rassistischer Äußerungen: „[P]unishing ideas, whatever they may be, is to aid and abet tyranny, and leads to the abuse of power … As far as we are concerned and as far as democracy is concerned, ideas should be fought with ideas and reasons; theories must be refuted by arguments and not by the scaffold, prison, exile, confiscation or fines.“ Zitiert bei Kretzmer (Fn. 17), S. 457. 59 Die deutsche Verfassungsrechtsliteratur hat für diese Sicht einige Sympathie, insbesondere soweit sie mangelnden Ehrenschutz durch das BVerfG rügt. Vgl. dazu unten Fn. 62, 64, 65, 76, 92, 103, 119, 123 zu Kriele, Isensee und Stark. Auch das Völkerrecht steht diesem Advokaten nahe, vgl. die Darstellung bei Zimmer (Fn. 11). In den USA gibt es lautstarke Proteste gegen die im Vorigen dargestellte h.M. Vgl. exemplarisch Mari J. Matsuda u. a., Words that Wound. Critical Race Theory, Assaultive Speech, and the First Amendment, Boulder, Co. 1994; Thomas D. Jones, Human Rights. Group Defamation, Freedom of Expression, and the Law of Nations, 1998; Laura J. Lederer/Richard Delgado (eds.), The Price We Pay. The Case Against Racist Speech, Hate Progapanda, and Pornography, New York, N.Y. 1995; Richard Delgado/Jean Stefanic (eds.), Must We Defend Nazis? Hate Speech, Pornography, and the New First Amendment, 1997. Wie diese Titel andeuten, wenden sich viele der Argumente gegen aggressive und Hassrede auch gegen Pornographie. Darauf wird hier nicht näher eingegangen. In Deutschland wird diese US-Minderheitsicht z. B. propagiert von Susanne Baer, Violence: Dilemmas of Democracy and Law, in: David Kretzmer/Francine Kershman Hazan (eds.), Freedom of Speech and Incitement Against Democracy, 2000, S. 63 ff. 60 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205): „Dieses Wertsystem [des GG hat] seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde …“ und die daran anschließende Menschenbildformel des BVerfG: „Das Menschenbild des GG ist also nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das GG hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit

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kollektiver Bevormundung verteidigt werden. Doch lässt sich der Gemeinschaftsbezug des Menschen in Kommunikation nicht nur von Souveränitätsanmaßungen kollektiver Macht aus thematisieren, die dann zu überzogenen Distanzierungen des Menschen gegenüber seiner Umwelt führen – im Extremfall zu einem „Ich gegen jeden anderen und die Welt“. Die „Freiheit zu erfüllter Persönlichkeitsentfaltung“ ist genauso wichtig. Diese bedarf der vielen Gemeinschaften, die der Staat zu achten und deren Zusammenleben er zu schützen hat. Aggressive oder hasserfüllte Rede, die gegen Individuen und Gruppen gerichtet ist, bestreitet diesen Adressaten gerade das Recht, sich frei und gleichberechtigt als Individuum und Gruppe in das Gemeinwesen einzubringen. Wenn der Staat solche Reden beschneidet, dann verletzt er nicht Freiheit und Gleichheit der Äußerer, sondern sichert freiheitliche Entfaltung und gleiche Anerkennung der Angegriffenen. Beschränkungen der Redefreiheit von Hetzern stellen auch keinen Paternalismus dar, sondern sichern nur den grundlegenden Bürgerstatus für alle Mitglieder des Gemeinwesens durch die notwendige Eliminierung von Botschaften, die ebendiesen Status beschränken würden. Die Freiheit der Rede ist zwar ein besonders wichtiges Recht, aber noch grundlegender ist der Status als Mitglied des Gemeinwesens, das „equal concern and respect“ verdient.61 2. Meinung, Argumentation, Emotion. Durch eine solche Beschränkung von aggressiver Rede würde dem Redner auch nicht wirklich verboten, seine öffentlichkeitsbedeutsame Kritik zu äußern. Denn in aller Regel ist es möglich, das, was einen im Tiefsten bewegt, auch ohne Aggression, Attacken und Ehrangriffe zu äußern. Man muss dazu nur eine zivilisierte Form wählen: Fortiter in re, suaviter in modo.62 Das hätte den zusätzlichen Vorteil, dass im öffentlichen und politischen Raum, in dem die gesellschaftlichen Dispute ausgetragen werden, eine gewisse Zivilität zu erwarten wäre; so würden sich sicher mehr Bürger in der Politik engagieren als in einem Meinungsklima, das so verroht ist, dass nur noch die gröbsten Charaktere sich Angriffen von Gegnern aussetzen würden.63 Ferner könnte sich und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“ Ständige Rspr. seit BVerfGE 4, 7 (15 f.). 61 Zu dieser Formel siehe Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, S. 183 ff., 272 ff. Die Formel kann für beide Seiten in diesem Disput verwendet werden. Dworkin selbst sieht ihre Bedeutung primär im Schutz des Redners, auch des Äußerers aggressiver (oder pornographischer) Rede. Vgl. sein Buch: Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution, Cambridge, Mass. 1996, Kap. 8 – 10. Im oben genannten Sinn Jones (Fn. 59), S. 244 ff. 62 Zu diesem Sprichwort siehe Bull (Fn. 13), S. 172 f. mit Fn. 44. Auf S. 184 warnt Bull gegen den „weitestgehende[n] Verzicht auf die Wahrung einer ,anständigen‘ Form“. Vgl. auch Ralf Stark, Ehrenschutz in Deutschland, 1996, S. 210 f., These 10: „Entgegen der höchstrichterlichen Rspr. ist bei der Frage nach der Zulässigkeit eines Werturteils … auf die Form der Meinungsäußerung abzustellen. Zu prüfen ist demnach, ob es zur Geltendmachung einer Meinung erforderlich war, diese oder jene Formulierung zu wählen. Kommt man bei dieser Frage dazu, daß die in Rede stehende Äußerung auch mit weniger einschneidenden Formulierungen hätte überzeugend artikuliert werden können, ist ihr der Schutz des Art. 5 I GG zu versagen.“ 63 Vgl. Bull (Fn. 13), S. 185 ff.

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durch einen Abbau von Emotionalität mehr Rationalität im öffentlichen Diskurs entfalten. 3. Folgenargument 1. Soweit aggressive Rede sich implizit oder explizit auf Faktenlagen bezieht, sollte es zwar in der Tat möglich sein, über eine öffentliche Auseinandersetzung die Wahrheit herauszufinden. Doch schadet die leichtfertige Behauptung von Tatsachen, soweit sie sich mit rhetorischer Aggression verbündet, dem Zusammenleben unterschiedlicher Individuen und Gruppen. Deshalb sollten für solche Meinungen weitergehende Darlegungs- und Beweisführungspflichten gelten.64 Insbesondere ist der Tendenz vorzubeugen, über möglichst pauschale Sachverhaltsunterstellungen, die mangels Spezifikation keines Beweises oder keiner Widerlegung mehr fähig sind, Ehrabschneidungen zu rechtfertigen.65 Das heißt auf die beiden ersten Beispielsfälle bezogen: Soweit ein Redner behauptet, die sozialhilfeberechtigten Ausländer seien Parasiten, darf eine solche Äußerung an die Pflicht gebunden werden, zu sagen, auf welche Daten sich dieses Urteil bezieht; ferner ergibt sich schon aus dem zuvor Gesagten, dass der Redner seine Behauptung einer ungerechtfertigen Inanspruchnahme dieser Leistungen durch Ausländer auch auf eine andere Art als auf diese den Menschenstatus beschneidende Weise sagen könnte. Deshalb sollte auch die Verwendung des Wortes „Parasit“ bestraft werden.66 Die gleiche Darlegungspflicht gälte für abwertende Werturteile gegenüber Ausländern als Kriminellen. 4. Folgenargument 2. Soweit, wie in der dritten Botschaft mit der Verwendung rassistischer Symbole, reine Werturteile zu sehen sind, die nicht auf Sachverhaltsunterstellungen aufbauen, sind diese Wertungen zugegebenermaßen wissenschaftlich nicht zu widerlegen. Es handelt sich um höchstpersönliche Wertungen des Äußerers, die in einem liberalen Staat grundsätzlich durch die Meinungsfreiheit geschützt sein sollten. Doch muss anderes gelten für Werturteile, die derart starke Abwertungen des Gegenübers zum Gegenstand haben, dass diesem der grundlegende Freiheits- und Gleichheitsstatus abgesprochen wird. Solche Diffamierungen tragen zu gesellschaftlichen Lernprozessen nichts bei. Im Gegenteil hat es sich gezeigt, dass mit solchen Parolen ethnische Säuberungen und Völkermord gerechtfertigt und Ausbeutung und Unterdrückung aufrechterhalten werden.67 Es gewinnen also nicht immer die besseren Argumente. Das gibt dem Staat das Recht und die Pflicht, je-

64 So Martin Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, S. 1897, 1899 f., 1902; Stark (Fn. 62), S. 219, These 8, und S. 221 f., These 19. 65 Zu diesem Argument Kriele (Fn. 64), S. 1900; AG Linz, NStZ-RR 1996, S. 358, 359: „Grobe Klimavergiftungen … zu verhindern, ist die Aufgabe des § 130 StGB …“. 66 Sie wird in Deutschland auch bestraft. Vgl. oben Fn. 5. 67 Vgl. Kretzmer (Fn. 17), S. 447: „[In] modern times racism has either led to, or facilitated, the commission of unspeakable crimes and caused untold human suffering … Historical experience teaches us that racism is not merely another of society’s daily evils. Rather, it is an evil that can take on catastrophic proportions.“ Vgl. ferner ebd., S. 458, zum „Sonderfall Rassismus“.

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denfalls die klar bösen und unmoralischen Argumente vom Kampf der Meinungen auszuschließen.68 Der Rekurs auf das Dampfablassen überzeugt nicht. Vielleicht ist es in der Tat so, dass der Äußerer durch seine Hassrede sich beruhigt, aber das muss nicht sein: Vielleicht steigert er sich umso mehr in seinen Hass hinein. Ferner kann man nicht unterstellen, dass der Dampf sich folgenlos in der übrigen Luft auflöst. Vielmehr kann und soll solche rhetorische Aggression Wirkungen beim Publikum erzeugen, Anhängerschaft gewinnen etwa für Ausländerfeindlichkeit und Hass auf Asylbewerber und sonstige Minderheiten. Das kann und wird oft fatale Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben haben – statt Miteinander Gegeneinander, statt Gleichberechtigung Unterdrückung, statt Friede Aggression. Deshalb sollten solche Hetzreden verboten werden.69 Erziehung allein reicht nicht; man braucht die symbolische und real abschreckende Macht des Strafrechts.70 5. Folgenargument 3. Die Aufgabe des Staates darf demgemäß nicht beschränkt werden auf die Sicherung von körperlicher Unversehrtheit in Person-zu-PersonSituationen gegen unmittelbar drohende Tätlichkeiten. Diese Aufgabe ist zwar wichtig und unaufgebbar, sie ist aber zu eng auf die Mikrosituation von Gewalt bezogen und übersieht die genauso wichtige, ja wichtigere Makrosituation von drohender Gewalt. Denn es sind gerade die mittel- und langfristig bei vielen Zuhörern wirkenden Aggressions- und Hassbotschaften, die früher oder später breitflächig in Hasstaten, Gewalttaten bis hin zu Mord und Vertreibung umschlagen. Effektive Gefahrenabwehr sollte sich auch gegen solche Breitseiten an Aggression richten, die jederzeit abrufbare Gewaltpotentiale hervorbringen. Deshalb sind nicht nur „unmittelbare“ Gefahren von Tätlichkeit unter Strafe zu stellen, sondern auch die abstrakte Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass Hassreden in Hassstraftaten umschlagen. Schon die Gefahr einer Gefahr eines Flächenbrandes von Gewalt sollte ausgeschaltet werden.71 Deshalb muss der Staat in diesem Grenzbereich das politische Klima kontrollieren.72 68

Nach Art. 4 der Rassendiskriminierungskonvention (Fn. 11) haben die Mitgliedstaaten rassistische Äußerungen und Organisationen unter Strafe zu stellen. Zum Begriff „Rassismus“ noch unten V.7. 69 Sie sind in Deutschland auch verboten, soweit sie „Volksverhetzung“ im Sinne des § 130 StGB darstellen. 70 Vgl. Jones (Fn. 59), S. 152 f.: „Laws, particularly the criminal law, have themselves the character and purpose of social enlightenment and often prove to be the most effective means of education. By condemning certain actions, laws not only hold out the threat of punishment to those who violate them, but set standards of decent human behavior to which the citizen, in his social attitude, should conform“ (S. 152). Das Zitat nimmt Bezug auf eine Stellungnahme des World Jewish Congress. 71 Genau das ist die Konzeption des § 130 StGB. Vgl. Thomas Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, 2000, S. 212: „Die Schreckgespenster der Volksverhetzung heißen ,Pogrom‘, ,Massaker‘, und ,Genozid‘. Der Tatbestand der Volksverhetzung richtet sich daher im Kern gegen Verhaltensweisen, die bei denkbar ungünstigem Verlauf geeignet sein könnten, erneut einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutschen Boden zu bereiten.“ Ähnlich

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6. Soweit Ehrangriffe und Beleidigungen vorliegen durch abwertende Werturteile mit oder ohne Faktenunterfütterung, darf nicht einseitig auf die Entfaltungsinteressen des Beleidigers geblickt werden. Ehrangriffe und Hetzereien zeitigen Folgen, die in die Gesamtabwägung einfließen müssen. Der Hinweis darauf, dass bei aggressiver Rede ja keine Tätlichkeiten im Strafrechtssinn – also Körperverletzungen bis hin zu Tötungen – vorliegen, greift zu kurz. Denn Worte können, wenn sie aggressiv und hasserfüllt sind, zu Taten, Tätlichkeiten werden, die die Angegriffenen genauso stark, eventuell auch stärker, verletzen als Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit.73 Diese ist nur die eine Seite der Gesamtpersönlichkeit, die psychische Unversehrtheit ist die andere: Selbst-, Sozial- und Weltvertrauen ist nur möglich, wenn man sich in der Gesellschaft gleichberechtigt und gleichgeachtet bewegen und einbringen kann. Rhetorische Aggression gegenüber Individuen und Gruppen lässt deren Stimme allzu oft verstummen, jedenfalls soweit die Angegriffenen Minderheiten darstellen.74 Und auf Dauer werden sich solche von mächtigen Gruppen gegenüber schwächeren Gruppen geäußerte Abwertungen in den Köpfen der Minderheiten festsetzen und diese in ihrem Aktionsradius und in ihrem Gleichheitsstatus beeinträchtigen. 7. Zwischen Einzel- und Kollektivbeleidigung ist also kein Unterschied zu machen. Menschen sind nicht primär isolierte Individuen. Sie werden oft durch ihre Gruppenzugehörigkeiten in einem erheblichen Ausmaß in ihrem Selbstverständnis bestimmt, so dass Gruppenangriffe in der Regel als Angriffe auf jeden Einzelnen aufgefasst werden können.75 Wen immer der Äußernde mit aggressiven Botschaften gegenüber einer Gruppe treffen will – ob nur einige, viele oder alle GruppenmitJones (Fn. 59), S. 152. Das Standard-Zitat hierzu ist Gordon Allport, Die Natur des Vorurteils, 1971 (englisch: The Nature of Prejudice, 1954), S. 28 ff., 62 ff. 72 Vgl. schon oben Fn. 65 und z. B. Friedrich Kübler, Rassenhetze und Meinungsfreiheit, AöR 125 (2000), S. 109 (127): „[I]n jedem Fall [von Hassstraftaten] findet sich als condicio sine qua non der Gewaltanwendung ein spezifisches Meinungsklima … ein Komplex von populären Annahmen und Überzeugungen, durch die bestimmte Gruppen als minderwertig stigmatisiert und ausgegrenzt wurden.“ 73 Insbesondere in der angloamerikanischen Literatur gibt es genauere Untersuchungen über die Art von Schaden („harm“), die hier vorliegt. Vgl. Kap. 3 in: Lederer/Delgado (Fn. 59); Kap. 1 in: Delgado/Stefanic (Fn. 59): „Words that Wound“ und den gleichnamigen Titel von Matsuda u. a. (Fn. 59). Das letztgenannte Buch beginnt mit folgendem Satz: „This is a book about assaultive speech, about words that are used as weapons to ambush, terrorize, wound, humiliate, and degrade.“ Siehe auch Charles R. Lawrence, If He Hollers Let Him Go. Regulating Racist Speech on Campus, Duke Law Journal 1990, S. 431 ff., hier zitiert nach FAA (Fn. 1), S. 254 ff., und unten Fn. 92, 116, 120. 74 Auf herabsetzendes „labeling“ und darauf folgendes „silencing“ wird in der amerikanischen Literatur immer wieder hingewiesen. Vgl. die ersten beiden Aufsätze in Kap. 3 von Lederer/Delgado (Fn. 59): „Cross-Burning and the Sound of Silence“, S. 114 ff., „Silencing Women’s Speech“, S. 122 ff. Letzteres bezieht sich auf Folgen von Pornographie. 75 Kretzmer (Fn. 17), S. 466, zitiert David Riesman, Democracy and Defamation. Control of Group Libel, Columbia Law Review, vol. 42, S. 731: „It is only through strengthening the protection of the groups to which an individual belongs that his own values and his own reputation can be adequately safeguarded.“

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glieder –, eines ist sicher: Von Adressatenseite aus können sich alle betroffen und verletzt fühlen; bei Minderheitsgruppen wird das noch öfter der Fall sein als bei Mehrheitsgruppen. Hassreden sind zwar zunächst in der Tat nur Botschaften des Redners und verraten zugegebenermaßen viel über dessen Persönlichkeit. Aber rechtlich von den absehbaren Folgen für das Selbstbewusstsein der angegriffenen Gruppen zu abstrahieren, wäre fatal. Schwache Minderheiten werden durch solche rhetorischen Aggressionen in die Defensive gedrängt76 : Sie müssen sich, soweit es um Faktenunterstellungen geht, gegen diese wehren. Sie müssen, soweit es um für sich stehende Abwertungen geht, um den Anspruch auf gleiche Achtung kämpfen, den sie doch als solche schon haben sollten. Dieser Bedrängnis werden manche oder viele von ihnen nicht gewachsen sein; ihr Selbst wird sich nicht genuin entwickeln können, sondern durch aufgezwungene Fremdabwertungen geschädigt sein.77 Sie werden den benutzten Stereotypen oft nicht effektiv begegnen können. Die Rechtsordnung sollte nicht durch ein Zuviel an Meinungsfreiheit eine Prämie auf den Aggressor aussetzen; Opferschutz sollte vor Täterschutz stehen. Deshalb ist es auch verfehlt, das Schutzgut Ehre nur auf tatsachengestützte Reputationsschäden zu beschränken. Solche Schäden sollte eine Rechtsordnung in der Tat abschrecken und, falls sie eintreten, bestrafen. Doch bezieht sich der Achtungsund Ehranspruch des Menschen auch auf normative Abwertungen, die bei den Angegriffenen Wunden schlagen, auch wenn sie nur innerlich und nicht auch äußerlich bluten.78 Allen Individuen und Gruppen steht in der Gesellschaft ein Anspruch auf grundsätzliche Gleichbehandlung im Sinne des gleichen Achtungsanspruchs gegenüber aggressiven Worten und physischen Tätlichkeiten zu, egal ob sie vom Staat oder anderen Individuen und Gruppen herrühren. Ferner empfiehlt sich auch, im allgemeinen Umgang miteinander jedenfalls Minimalbestandteile von kommunikativer Zivilität aufrechtzuerhalten und rechtlich abzusichern, denn Mangel an Zivilität im gegenseitigen Umgang ist die Vorstufe zu expliziter Aggression gegenüber ungeliebten Personen und Gruppen.79 76

Vgl. Josef Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 5 (17): „Wer das Recht der Ehre reklamiert, befindet sich notwendig in der Defensivposition, ist Opfer.“ 77 Kretzmer (Fn. 17), S. 466, fasst Untersuchungen zu den Folgen rassischer Stigmatisierung zusammen: „self-hatred, humiliation, isolation, impairment of the capacity to form close interracial relationships, and adverse effects on relationships within a given group“. 78 Der engere Ehrbegriff wird in den USA vertreten, der weitere in Deutschland. Vgl. die instruktiven Vergleiche bei James Q. Whitman, Enforcing Civility and Respect. Three Societies, Yale Law Journal 109 (2000), S. 1279 (1295 ff., 1372 ff.). 79 Vgl. Jones (Fn. 59), S. 152: „Group defamation is a condition precedent to more aggressive and violent forms of racial discrimination“; Rosenfeld (Fn. 12), S. 99 (am Ende): „It would of course be preferable if hate could be defeated by reason. But since unfortunately that has failed all too often, there seems no alternative but to combat hate speech through regulation in order to secure a minimum of civility“; Ralf Stark, Die Ehre – das ungeschützte Verfassungsgut, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 235 (240): „Der Verrohung der Sprache darf nicht noch einmal die Verrohung der politischen Sitten und – als Kulmination des Ganzen – eine Zunahme der politischen Gewalt folgen.”

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Die vorhergehenden Argumente lassen sich in ein konsistentes Menschen-, Gesellschafts- und Staatsbild übersetzen und haben auch Folgen für das Neutralitätsund Integrationsverständnis. 8. Die Individualität ist zwar Ausgangspunkt des Menschenbildes, doch ist diese stärker eingebettet in soziale Bezüge und Gemeinschaftsidentitäten: Jeder ist immer schon Sohn oder Tochter von konkreten Eltern, Bürger eines bestimmten Landes und entwickelt im Laufe seines Lebens Loyalitäten als Mitglied partikularer Gemeinschaften, die für sein Selbstverständnis und seine Selbstachtung genauso wichtig sind wie sein isoliertes Ich – wenn nicht noch wichtiger. Grundlage ist also die konstitutive Spannungs- und Ergänzungslage von Individuum und Gemeinschaft; das kann man Kommunitarismus nennen.80 In dieser Spannungslage ist auch die Meinungsfreiheit zu verstehen: Sie ist ein Garant des Ausdrucks von Individualität, aber auch eingebunden in tradierte Sprachverständnisse.81 Ferner hat Kommunikation nicht nur die Aufgabe, Kritik an Gemeinschaftsvorgaben zu ermöglichen, sondern Gemeinschaft auch zu bewahren. Dieses setzt aber voraus, dass Basiselemente von friedlichem und produktivem Umgang miteinander beachtet und rechtlich bewehrt werden. 9. Das gesellschaftliche Leben wird wie in der amerikanischen Sicht als durch Koordination und Konflikt geprägt angesehen, so dass neben Affirmation Kritik möglich sein muss und rechtlich zu gewährleisten ist. Aber was Ausmaß und Heftigkeit der Kritik an anderen Personen und Gruppen angeht, so wird entweder bestritten, dass für gutmeinende Personen wirklich ernsthafte Konflikte zwischen Gruppen auftreten können.82 Oder deren Existenz wird zugestanden, aber es werden dann strengere Zivilitäts- und Gleichachtungspostulate gefordert und rechtlich abgesichert, um das Selbstbewusstsein der angegriffenen Personen und Gruppen zu stärken und Asymmetrien an gesellschaftlicher Macht zu verhindern. 10. Die staatliche Gewalt ist nicht nur für die Sicherung des Friedens im Sinne der körperlichen Integrität zuständig, sondern auch für die Achtung und den Schutz der Integrität der Psyche der einzelnen Personen und Bevölkerungsteile, soweit diese durch rhetorische Aggression Schaden zu nehmen drohen. Ein „gutes Klima“ sollte 80 Vgl. Note, A Communitarian Defense of Group Libel Laws, Harvard Law Review 101 (1988), S. 683 (689): „Communitarians argue that human agency cannot be intelligibly abstracted from the ends and purposes that an individual has as a member of society. It is only as residents of particular regions, as practitioners of certain callings, as adherents to particular religions, and, ultimately, as citizens of particular regimes that individuals arrive at determinate choices about how to live.“ 81 Hierzu näher Kenneth L. Karst, Boundaries and Reasons. Freedom of Expression and the Subordination of Groups, University of Illinois Law Review 1990, S. 95 ff., hier zitiert nach dem Nachdruck in FAA (Fn. 1), S. 246 (247): „To be introduced to a culture is to enter a community of meaning … the meanings we learn become part of our senses of who we are“; Post, Community (Fn. 56), S. 475 f.; Ernst-Joachim Lampe, Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Demokratie, in: ders., Meinungsfreiheit (Fn. 42), S. 69 f. 82 Bull (Fn. 13), S. 164, 168, weist unter Hinweis auf Ralf Dahrendorf auf die Konfliktscheu in Deutschland hin.

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zwischen allen Menschen herrschen.83 Jedenfalls muss ein feindliches, hasserfülltes Klima vermieden werden, durch Bestrafung von Hassrede und übertriebener, unsachlicher Kritik und Diffamierung von Bevölkerungsteilen.84 Denn diese schlägt früher oder später in Hasstaten bis zu schlimmen Verfolgungen um und hält Unterdrückungsverhältnisse gegenüber Minderheiten aufrecht. Dies zu verhindern, rechtfertigt schon im Vorfeld tätlicher Auseinandersetzungen rechtliche Maßnahmen gegenüber Botschaften, die auf lange Sicht ein produktives und gleichberechtigtes Miteinander in Staat und Gesellschaft bedrohen. 11. Neutralität und Integration. Der Staat braucht also gegenüber den geäußerten Meinungen nicht gänzlich neutral zu sein. Er ist neutral in einem weiten Bereich vertretbarer Wertungen; wenn aber die Kritik Elementarbestandteile von Zivilität, Gleichberechtigung und freier Entfaltungsmöglichkeit von benachteiligten Gruppen bedroht, darf und muss der Staat parteiisch sein. Er muss sich auf die Seite der Armen, Schwachen und Unterdrückten stellen.85 Integration aller auf Dauer setzt Exklusion von Botschaften und Bestrafung von Botschaftern voraus, die genau dieses Ziel bedrohen. Wer diese beiden Argumentationsreihen vor sich sieht, kann nicht anders als erstaunt sein: Jede von ihnen erscheint plausibel oder gar überzeugend, und doch widersprechen sie sich in der Sache.86 Jede von ihnen kann sich auf die entsprechende 83 Vgl. schon oben Fn. 63, 72, und Rainer Hofmann, Incitement to National and Racial Hatred. The Legal Situation in Germany, in: Coliver (Fn. 10), S. 159 (164): „The objective of Article 131 [Federal Criminal Code in its old version] is the maintenance of social harmony to which incitement to racial hatred is considered to pose a serious threat.“ 84 In diesem Sinne ist § 130 StGB – Bestrafung von „Volksverhetzung“ – nicht nur der Sache nach ein „Klimadelikt“. Das Wort Schutz des Klimas wird auch tatsächlich verwendet. Vgl. Wandres (Fn. 71), S. 213. Gleiches gilt für die entsprechenden völkerrechtlichen Verbote von aggressiver und Hassrede. Vgl. die vielen Bezüge auf „Klima“ in Zimmer (Fn. 11). Ferner wird in § 130 StGB das Kriterium von Diffamierung genau dazu benutzt, zulässige heftige Kritik an Ausländern von unzulässiger, strafbarer Kritik – Volksverhetzung – abzugrenzen. Vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl. 2001, § 130 Rn. 11: „Gemeint ist [mit Aufstacheln zum Hass] insbesondere juden- und ausländerfeindliche Propaganda in Form von pauschalen Diffamierungen und Diskriminierungen.“ 85 Aus deutscher Sicht schlägt also das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz durch. Beide werden als Angleichungsverpflichtung für sozial Benachteiligte gesehen. Vgl. aus amerikanischer Sicht Lawrence, (Fn. 73), S. 255: „Until we have eradicated racism and sexism and no longer share in the fruits of those forms of domination, we cannot justly strike the balance over the protest of those who are dominated. My plea is simply that we listen to the victims …“. Ähnlich Baer (Fn. 59). Vgl. auch Rosenfeld (Fn. 12), S. 21 bei Fn. 29: „[T]he principal role of free speech … becomes the protection of oppressed and marginalized discourses and their proponents against the hegemonic tendencies of the discourses of the powerful.“ 86 Schon Mill (Fn. 3), S. 46, hat diesen Fall bedacht: „Bei jedem Gegenstand aber, bei dem Verschiedenheit der Meinung möglich ist, hängt die Wahrheit von einem Abwägen zwischen zwei Reihen einander widerstreitender Gründe ab.“ Ich hoffe, mit der bisherigen Darstellung im Sinne Mills die beiden Auffassungen „in ihrer einleuchtendsten und überzeugendsten Form“ (S. 47) präsentiert zu haben.

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verfassungsrechtliche Grundlage berufen, denn die Werte von Autonomie, Würde, Freiheit und Gleichheit und Demokratie sind in der US-Verfassung, im Grundgesetz, in vielen weiteren modernen Verfassungen sowie im Völkerrecht explizit verankert oder implizit vorausgesetzt.87 Ferner ist unbestritten, dass es zu den legitimen Staatsaufgaben gehört, den Frieden zu sichern, Integration zu bewirken und für Ehrenschutz einzutreten. Trotzdem ergeben sich deutliche, ja dramatische Unterschiede im Verständnis der Verfassungsgüter und Rechtsziele, wie die Ausgangsbeispiele verdeutlichen: Scharfe, übertriebene Kritik an Ausländern oder Asylbewerbern und Eintreten für rassistische Theorien sind in den USA erlaubt, in Deutschland, in den Europaratsstaaten und im Völkerrecht verboten. Wir haben hier einen klaren Beleg für die These, dass in manchen Fällen der einschlägige Rechtstext das Verständnis des in ihm Geregelten nicht, jedenfalls nicht vorrangig festlegt; das kulturell und geschichtlich geprägte Vorverständnis schlägt stattdessen durch. Dass dies so ist, erkennt man daran, dass deutsche Juristen, die zum ersten Mal vom amerikanischen Umgang mit aggressiver Rede hören, oft Unverständnis äußern; umgekehrt gilt das Gleiche. Aber „abwegig“ ist weder die eine noch die andere Ansicht – das zumindest sollte die Darstellung der in Konkurrenz stehenden Argumentationslinien veranschaulichen. Eine Abwägung fällt schwer, wenn man erst einmal die Gründe und Gegengründe auf sich einwirken lässt.88 Konsens ist nicht zu erwarten – das zeigt der Grundsatzdissens der modernen Rechtsstaaten in dieser Frage. Wie sollte man sich in einem solchen Konflikt entscheiden? Eine der Möglichkeiten ist rechtsphilosophische Reflexion, und ein möglicher Ansatzpunkt ist die Erörterung des geschilderten Konflikts auf der Ebene der Spannung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus.

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Zu simpel sind Stellungnahmen, die den Unterschied zwischen den USA und Europa darin sehen, dass nur in Europa die Menschenwürde und Rechte von Minderheiten geachtet würden. So aber Roger Errera, The Freedom of the Press: The United States, France, and Other European Countries, in: Vicki C. Jackson/Mark Tushnet, Comparative Constitutional Law, 1999, S. 1249 (1265): „The European philosophy and attitude are very different from those that have prevailed in the United States. Our societies, I think, rest ultimately on essential moral values. Among them preeminence must be given to respect for the dignity of the individual and concern for minority rights.“ Es geht um unterschiedliche Konzeptionen dieser Werte, die im Streit miteinander stehen! 88 Deshalb verwundert es nicht, dass sich in der Literatur, soweit man von den unverrückbar Überzeugten der einen oder anderen Auffassung absieht, viele Sowohl-als-Auch-Arbeiten finden. Vgl. etwa Bull (Fn. 13) und Coliver (Fn. 10), S. 363. Selbst der einen stärkeren Ehrenschutz durch das BVerfG einfordernde Isensee erwähnt die „Gefahr staatlicher Überreglementierung“: Fn. 76, S. 46.

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V. Aggressive Rede als Beispiel für den Kampf zwischen Liberalismus und Kommunitarismus? 1. Die Spannung der beiden Konzeptionen von Meinungsfreiheit kann man nicht nur geographisch und rechtsvergleichend als eine Auseinandersetzung zwischen den USA einerseits, Deutschland, Europa und der der übrigen Welt andererseits ansehen. Man kann diese Divergenzen auch sozial- und rechtsphilosophisch analysieren, was nach Ansicht mancher am besten in der Spannung von amerikanischem Liberalismus und dem Kommunitarismus des Rests der aufgeklärten Rechtswelt geschieht.89 Die rechtliche Behandlung von aggressiver Rede wäre dann eine Illustration dieser alternativen Sichtweisen.90 Denn ist es nicht so, dass die US-Sicht sehr viel stärker auf dem isolierten und sich gegen andere und den Staat behauptenden Individuum aufbaut91, die Konkurrenzsicht dagegen weit intensiver auf die Gemeinschaftsbezüge der Menschen im Leben und in Kommunikation abhebt?92 So richtig das ist, sollte man sich doch nicht vorschnell in einen Antagonismus von Liberalismus gegen Kommunitarismus hineinbegeben. Denn sowohl der „Liberalismus“ als auch der „Kommunitarismus“ umfasst eine ganze Theoriefamilie mit jeweils mehreren Varianten, und je nach Variante ist der Bezug zur Konkurrenzphilosophie näher oder entfernter. Der Liberalismus etwa kann stärker auf das vereinzelte Individuum93 oder auf das Individuum in Assoziation abstellen94; im letztgenannten Fall liegt eine Affinität zum Kommunitarismus vor. Der Kommunitarismus betont zwar in der Tat die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums, doch muss dies nicht zu einer Unterjochung des Individuums führen – ganz im Gegenteil.95 Moderner Kommunitarismus steht nicht mehr auf dem Boden kollektiver Unterwerfung oder gänzlicher Eingebundenheit des Menschen in vorgegebene 89 Vgl. zu diesem Streit Stephen Mulhall/Adam Swift, Liberals and Communitarians, 1992; Höffe (Fn. 47), S. 130 ff., 296 ff., 354 ff.; Brugger, Liberalismus (Fn. 9), S. 253 ff. 90 So etwa Note (Fn. 80), S. 683 ff., und implizit in den meisten Beiträgen des Symposiumsbandes „Free Speech and Community“, in: Arizona State Law Journal 29 (1997), S. 459 ff. Vgl. ferner Kargl (Fn. 5), S. 180; Baer (Fn. 59), S. 91 mit Fn. 132. 91 Vgl. zu dieser Einschätzung Rosenfeld (Fn. 12), S. 15 bei Fn. 17: „strong preference for liberty over equality, commitment to individualism, and … freedom from the state …“. 92 Vgl. repräsentativ Kriele (Fn. 64), S. 1897: „Der Mensch ist auf Gemeinschaft hin angelegt, nicht ein isoliertes Individuum. Ein Rufmord, der ihn seines sozialen Umfelds beraubt, gehört neben Mord, Körperverletzung und Raub seiner gesamten Habe zum Schlimmsten, was einem Menschen angetan werden kann.“ 93 Vgl. Gottfried Dietze, Reiner Liberalismus, 1985, S. 5: „Reiner Liberalismus ist die Idee des unbegrenzten, unersättlichen Dranges nach Freiheit“, 62: „Als Trieb zu mehr Freiheit ist der Liberalismus ähnlich egoistisch und egotistisch wie die Freiheit selbst“. Vgl. auch oben Fn. 22. 94 So etwa bei John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville. Man kann den assoziativen Liberalismus auch Verfassungsliberalismus nennen. Vgl. Brugger, Liberalismus (Fn. 9), § 7. 95 Schlagwortartig gesagt geht es im modernen Kommunitarismus um „integrity and integration“. Dies ist ein Grundthema bei Selznick (Fn. 38). Dieser spricht auch von „independence“ und „interdependence“, S. 369.

V. Kampf zwischen Liberalismus und Kommunitarismus?

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Gemeinschaften. Vielmehr wird die liberale Grundidee von der Eigenständigkeit des Menschen und seiner Wahlfreiheit96 in unterschiedlicher Gewichtung aufgenommen97: (1) Der konservative Kommunitarismus sieht in der Tat die Menschen stark, aber nicht exklusiv als durch ihre soziale, kulturelle und politische Umwelt geprägt an. „Freiheit der Wahl“ wird sozial als Wert und rechtlich als Grundrecht anerkannt; zur erfüllten Wirklichkeit seiner Freiheit soll der Mensch nach dieser Theorie allerdings in der Regel durch Identifikation mit den überkommenen partikularen Lebensformen kommen, gelegentliche Distanzierungen und Reformulierungen inklusive, nicht exklusive. (2) Der liberale Kommunitarismus sieht zwischen „Eigenständigkeit“ des Menschen und „Gemeinschaftsgebundenheit“ des Individuums ein konstitutives Gleichgewicht, unterscheidet aber nach Art der Vergemeinschaftung, die von flüchtigen Vergesellschaftungen bis zu starken Identifikationsgemeinschaften reichen. Ferner unterscheidet er auch nach Zeitperiode und Kultur- oder Rechtskreis: In der Welt finden sich unterschiedlich geprägte Gemeinschaften, die sich „von innen“ definieren, aber „nach außen“ in gestufter Verantwortung vermitteln müssen. (3) Der egalitäre Kommunitarismus, Universalismus oder auch Liberalismus schließlich sieht im gemeinsamen Menschsein die entscheidende Gemeinschaft. Über diese Gleichheit in Vernunftbegabung, Sprachfähigkeit, Moralreflexion und Grundbedürfnissen sollte Gemeinschaft vor allem konstruiert werden. Alle unterschiedlichen und partikularen Ausformungen von Menschsein sollten sich gleich und frei entfalten können – gehe es um Individuen oder Gruppen; ferner sollten sie alle gleich geachtet und gefördert werden, unter Kompensation von Armut und Schwäche.98 2. Bezogen auf die rechtliche Behandlung von aggressiver Rede, ergeben sich Gemeinsamkeiten und tun sich Unterschiede auf. Zunächst zu einigen Gemeinsamkeiten: Liberalismus und Kommunitarismus gehen von der Freiheit des Menschen in Kommunikation und Assoziation aus und halten einen möglichst zivilisierten und informierten Diskurs für ein politisch wünschenswertes Ziel, für das sich der Einzelne und gesellschaftliche Gruppen einsetzen sollten und für das die staatlichen Organe werben dürfen. Unterschiedlich wird die Rolle des Staates gesehen: In der US-liberalen Sicht ist die Rolle des Staates bei politischen Auseinandersetzungen, insbesondere im strafrechtlichen Bereich, beschränkt auf die Si-

96 Zu diesem Ausgangspunkt aller Liberalismen siehe Brugger, Liberalismus (Fn. 9), S. 172. 97 Vgl. zu den drei folgenden Typen Brugger, Liberalismus (Fn. 9), S. 258 ff. 98 Im Anschluss an die Schlagworte oben Fn. 95 könnte man sagen: Im konservativen Kommunitarismus geht es schwerpunktmäßig um „integrity, integration, particularity“, im liberalen um „integrity, liberty, integration“, im egalitären, universalistischen um „integrity, integration, equalization“.

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cherung der körperlichen Integrität, die Gewaltfreiheit der Auseinandersetzungen.99 Zivilisierte Auseinandersetzung ist erwünscht, wird aber nicht über Rechtssanktionen erzwungen.100 In einer freien Gesellschaft sind Konflikte zwischen Individuen und Gruppen zu erwarten, deren sachliche Heftigkeit sich oft mit emotionaler Hitze und scharfen, verletzendenWorten paaren wird. Eventuelle Einbußen an Zivilität im gegenseitigen Umgang sind der Preis der Freiheit in politischen Angelegenheiten für die offene Erörterung aller das Publikum bewegenden Angelegenheiten in rechtlicher Freiheit und Gleichheit.101 Diese Beschränkung der staatlichen Kompetenz kann aber durchaus als kommunitaristisch angesehen werden, denn in diesem Denken wird stark auf die persönlichkeits- und integrationsfördernde Funktion von intermediären Organisationen (der „Gesellschaft“) gesetzt; die Aufgaben des Staates im sanktionierenden Bereich werden im Zweifel eher beschnitten als entgrenzt.102 3. Liberalismus wie Kommunitarismus können mit der Aussage leben, dass der Mensch immer schon in Gemeinschaft aufwächst und dass über kulturelle Werte seine eigene Wertschätzung als Individuum und als Mitglied diverser Gruppen stark beeinflusst wird. Doch betont die US-Sicht stärker die Möglichkeit von Konflikten zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften und die daraus resultierende Provokation für individuelle und kollektive Stellungnahmen – eine sicher realistische Annahme. Erwünschter Effekt solcher Gegenrede ist nicht nur ein argumentativer Kampf um die richtige oder doch für alle Beteiligten akzeptable Lösung, sondern auch die Stärkung der Eigenständigkeit und Kreativität der Persönlichkeit. Diese im Konfliktfall notwendige Separierung setzt eine gewisse Robustheit voraus, die in der Tat sensiblen Gemütern oder benachteiligten Gruppen schwerer fallen wird als vom Naturell sowieso schon kernigen Persönlichkeiten103 oder dominanten Gruppen. Doch beharrt die US-Sicht trotzdem auf der Erwünschtheit solcher Verselbständigungen im Konfliktfall: Ohne

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Vgl. oben III. 5. und 9. Anders in der deutschen, europäischen und völkerrechtlichen Konkurrenzsicht: Dort geht es um strafrechtlichen Schutz für physische und psychische Integrität und um eine Ausweitung des Begriffs von Tat: Worte werden als Taten eingestuft, denen man nicht ausweichen kann und deren Schaden man nicht durch Gegenrede abwenden kann. Vgl. die Bezugnahme auf Rufmord bei Kriele, oben Fn. 92 und unten Fn. 116. Man könnte auch sagen, dass in dieser Sicht der Gewaltbegriff expandiert wird. Er erstreckt sich nicht nur auf körperliche Gewalt, sondern auch auf seelische Pein. 101 Vgl. oben Fn. 7 und 30 zu RAV und Cohen. 102 Vgl. die glänzende Darstellung von Robert Nisbet, Community and Power, 1962, ferner Brugger, Liberalismus (Fn. 9), S. 257. 103 Dieser Punkt wird von Kriele und Isensee betont. Aber müssen Persönlichkeiten mit einer gewissen Robustheit gleich mit „Dickhäutern und Skrupellosen … den Ungenierten“ gleichgestellt werden, „deren eigener Ruf ohnehin schon ruiniert ist, die aber immer noch fähig sind, den guten Ruf der Demokratie zu beschädigen“? So Isensee (Fn. 76), S. 37. Hier schwingt viel negatives Vorverständnis mit. 100

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Anstrengung und Mut kein Selbst, auf das man stolz sein kann.104 Der Aufforderung, aggressiver Rede mit Gegenrede entgegenzutreten, jedenfalls nicht auf strafrechtliche Nachteile für den Angreifer zählen zu dürfen, entspricht auf der Handlungsebene der amerikanische Siedlermythos des „Go West Young Man“. Dieser expressive und aktive Invididualismus ist sicher „liberal“, aber deshalb noch nicht antikommunitaristisch. Denn eine Antipathie gegen Gemeinschaften ist nicht notwendigerweise enthalten; sie werden lediglich in ihrer sowohl Freiheit ermöglichenden als auch, je nach Lage, Freiheit unterdrückenden Funktion thematisiert105 und im Konfliktfall der Beurteilung durch das Individuum unterworfen. Das ist liberaler Kommunitarismus. 4. Sollte Kollektivbeleidigung oder Hassrede gegen Gruppen strafrechtlich belangt werden, soweit es um politische Angelegenheiten geht? Nein, sagt die USliberale Sicht, ja, sagt die Konkurrenzsicht. Beide bewegen sich im Rahmen kommunitaristischer Gedanken. Zunächst betont der Kommunitarismus die identitätsvermittelnde Funktion von Gruppenzugehörigkeit.106 Das scheint für die These zu sprechen, dass Gruppenbeleidigungen immer auch deren Mitglieder – alle Mitglieder – treffen.107 Doch ist das eher eine These des konservativen Kommunitarismus, nicht seiner liberalen Variante. Diese sieht Identitätsbildung in der Spannung von Gruppe und Individuum. Letzteres ist für seine Selbstidentifikation und eigene Wertschätzung nicht unentrinnbar in die Gruppenzugehörigkeit hineingebannt108, und schon gar nicht in Bezug auf externe (Ab-)Wertungen.109 Zudem müsste man hier eine Unterscheidung treffen zwischen Gemeinschaften, die Kerngehalte von Identität betreffen und solchen, die eher flüchtiger Art sind110 ; von den Kerngemein104

Vgl. Fn. 37, 40, 44, 45; Mill (Fn. 3), S. 42, sowie die Parallele bei Ernst Blochs Konzeption des „aufrechten Gangs“, den man ohne weiteres auf Kommunikation fortschreiben kann: Naturrecht und menschliche Würde, 1961, S. 12, 14. 105 Hierzu Selznick (Fn. 38), S. 360. 106 Vgl. Post, Community (Fn. 56), S. 475 ff.; Selznick (Fn. 38), S. 357 ff. 107 Vgl. Note (Fn. 80), S. 683: „This note argues that communitarianism provides a compelling justification for group libel laws.“ 108 Vgl. Sullivan (Fn. 14), S. 12 zur „tradition in American constitutional law [as] one that views civil rights and civil liberties as supporting social fluidity rather than entrenchment in fixed groups“. Sullivan historisiert diesen Punkt: Anders könnte die Lage in stark traditionell oder religiös geprägten Gesellschaften sein: ebd., S. 12 f. 109 So aber Note (Fn. 80), S. 690: „[The] offense that the members of [the attacked groups] take at group vilification reflects a constitutive component of their identities. It is not possible … as liberalism supposes, to disregard such sensibilities while still respecting the personhood of the individuals who experience them.“ Ähnlich S. 691, 699 Fn. 110. Vorsichtiger S. 695 Fn. 85: „In linking individual dignity to reputation – to a person’s estimation in the opinion of others – this formulation recognizes that a person’s identity is in part comprised of his or her standing in the community.“ Hervorhebungen von Winfried Brugger. 110 Das tut Note (Fn. 80), S. 693 mit Fn. 74, 697. Die Liste bestätigt dasjenige, was schon oben Fn. 85 gesagt wurde: Es geht im Grunde um alle wesentlichen Gleich- oder Ungleichbehandlungen des Art. 3 Abs. 3 GG, sexuelle Präferenzen inklusive. Generell zu „core participation“ Selznick (Fn. 38), S. 184 ff.

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schaften sich zu distanzieren, ist schwerer, von den Gelegenheitsvergesellschaftungen leichter. Aber auch gegenüber Kerngruppen wie Familie oder Religionsgemeinschaft ist das Individuum mehr als Mitglied, hat Eigenstand, so dass eine Gleichsetzung von Individual- und Kollektivbeleidigung nicht unbedingt geboten ist. Im liberalen Kommunitarismus ist sie eher abzulehnen, weil die Letztentscheidung in Bezug auf Identifikation oder Distanzierung beim Individuum liegt. Zudem darf man Fremdzuweisung von Eigenschaften nicht mit Eigenverständnis gleichsetzen; jedenfalls sollte das Recht solches nicht fördern. 5. Ist diese gegen Kollektivbeleidigungen gerichtete Sicht nicht ahistorisch und zu idealistisch? Leugnet oder übersieht sie nicht die reale Existenz von Unterdrückung und die Ausbeutung ungeliebter Gruppen, auch durch symbolisches und rhetorisches Niedermachen?111 Muss nicht jedenfalls ein historisch sensibler und auf Gleichheit bedachter Kommunitarismus jedem einzelnen Menschen wie jeder einzelnen Gruppe gleiche Achtung und Förderung zukommen lassen? Und heißt das nicht bei benachteiligten Gruppen: Förderung auch durch strafrechtlich bewehrte Abwehr rhetorischer Angriffe auf ihr Selbstwertgefühl durch Normen gegen Kollektivbeleidigungen und Volksverhetzung? Nicht unbedingt, denn die Zulassung von aggressiver Rede führt nicht in jedem Fall zur Verschärfung oder Aufrechterhaltung bestehender Hierarchieverhältnisse. Das kann so sein, es kann aber auch der umgekehrte Fall eintreten: Die argumentative Gegenwehr in zivilisierter oder aggressiver Art und Weise kann der erste Schritt zur Befreiung von Unterdrückung sein!112 So kann zum Beispiel Segregation durch Integration ersetzt werden.113 Das wäre im Sinne des liberalen Kommunitarismus. Was jeweils der Fall sein wird, ist nicht von vornherein klar. Auf jeden Fall wäre es unsinnig, aggressive Rede a priori als ausbeuterisch, unterdrückerisch und grundlos darzustellen und ihr Resultat dementsprechend ausschließlich in schlimmen Folgen für kollektives Selbstbewusstsein oder gar körperliche Unversehrtheit zu sehen.114 111 Solches wird etwa in feministischer Rechtsliteratur behauptet. Vgl. repräsentativ Baer (Fn. 59), S. 79 („[T]he grand liberal theories behind speech law lack an adequate recognition of power“), 91 ff. (Abschnitt IV. ist betitelt: „An Alternative Point of View: Speech and Hierarchy“) unter Aufnahme von Arbeiten von Catherine MacKinnon. 112 Und umgekehrt kann das Verbot aggressiver (ehrverletzender, volksverhetzender usw.) Rede sich auch gegen Gruppen richten, die sich emanzipieren und ihre Befreiungsthesen äußern wollen. Note (Fn. 80), S. 692, zitiert in Fn. 71 aus einer amerikanischen Gerichtsentscheidung: „[If] Nazi speech can be restricted because of its offensiveness, then ,the anti-racist himself could be oppressed‘“; ähnlich das Argument in Roth (Fn. 17), S. 184. Vgl. auch Rosenfeld (Fn. 12), S. 7, 55, Fn. 52; Coliver (Fn. 10), S. 369 f.; Post (Fn. 19), S. 297 mit Fn. 161. Zahlreiche weitere Beispiele bei James Weinstein, A Brief Introduction to Free Speech Doctrine, in: Symposium (Fn. 90), S. 461 (462 f.); Kretzmer (Fn. 17), S. 511. 113 Auf das Beispiel aggressiver Rede zur Verwirklichung von Rassengleichberechtigung in den 60er und 70er Jahren in den USAweisen Verteidiger der amerikanischen Auffassung immer wieder hin. Vgl. neben Fn. 112 etwa Kent Greenawalt, Fighting Words. Individuals, Communities, and Liberties of Speech, 1995, S. 151 f.; Allport (Fn. 71), S. 505. 114 Man nehme ein Ehepaar. Der Mann (die Frau) schreit die Frau (den Mann) an: Ich hasse dich! Das ist Hassrede, reiner Hass, so scheint es. Bei näherem Hinsehen (juristisch: kon-

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6. Der Kommunitarismus hat in der Tat eine Affinität zu der Auffassung, dass die Ehre und das Ansehen wichtige Schutzgüter sind. Menschen tragen sprachlich, normativ und kulturell die konkrete Welt, in der sie aufwachsen, immer schon in sich – als Schatz oder auch als Ballast, falls sie sich durch solche Vorprägungen in ihrer Entfaltung beeinträchtigt sehen. Wie auch immer: Klar ist, dass der Partizipations- und Anerkennungsstatus in den jeweiligen Gemeinschaften wichtig für die Identitätsbildung und die erhoffte Wertschätzung von Seiten anderer ist. In diesem Sinne ist Ehre ein soziales Konstrukt, das zwar an der Leiblichkeit des Menschen ansetzt, aber eigentlich erst durch wechselseitige Anerkennung als „Mensch“ und „Person“ überhaupt bzw. als „Persönlichkeit“ in diversen sozialen Rollen zustande kommt. Solche Ehrschätzung ist für die meisten Menschen wichtig, aber auch fragil, ein leicht zerbrechliches Gut.115 Das Wechselspiel von Eigenwertzuschreibung und realer oder unterstellter Wert- oder Geringschätzung durch andere ist komplex und oft undurchschaubar. Deshalb kann der Ausdruck von Geringschätzung oder Nichtschätzung oder gar aggressives Bestreiten von Achtungswürdigkeit in der Tat erhebliche psychische Wunden schlagen, die für die Betroffenen so schlimm sein können wie körperliche Verletzungen.116 Nicht umsonst gibt es Begriffe wie Rufmord, Ehrabschneider, die die Parallelisierung zu körperlichen Eingriffen andeuten. Trotzdem verbietet sich ein zu schneller Schluss auf die Notwendigkeit eines expansiven Ehrbegriffs und dessen strafrechtliche Durchsetzung in allen Fällen, in denen die aggressive Redeweise wirklich „weh tut“.117 Die wichtigsten Gründe sind textsensitiver Auslegung) wird schnell deutlich: Dem Schreier geht es um irgendein Sachanliegen (Du liebst mich nicht, vernachlässigst mich, unterdrückst mich, gibst zu viel Geld aus o. ä.), das ihm (ihr) so auf den Nägeln brennt, dass er (sie) gar nicht anders kann, als erst einmal loszuschreien: Ich hasse dich! Das Beispiel lässt sich analog auf öffentliche Auseinandersetzungen übertragen. Hinter dem Ausdruck von Abneigung oder Hass wird sich oft ein Sachanliegen geltend machen. 115 Ehre ist nach Schopenhauer „objektiv, die Meinung Anderer von unserem Wert, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung“. Zitiert bei Isensee (Fn. 76), S. 16. Vgl. auch S. 37: „Ehre [ist] ihrem Wesen nach ein privates, überdies ein leicht zerbrechliches, jedenfalls kein öffentliches Gut [, das sich] rechtlich erst aktualisiert, wenn sie angegriffen und bedroht wird.“ 116 Reichspräsident Friedrich Ebert soll nach einem Beleidigungsprozess, in dem er sich nicht gänzlich gegen den Vorwurf eines „Landesverrats“ hatte verteidigen können, gesagt haben: „Der seelische Schmerz peinigt schlimmer. Sie haben mich politisch umgebracht, nun wollen sie mich auch noch moralisch morden. Das überlebe ich nicht.“ Zitiert in Heinrich Senfft, Schmäher vor Gericht. Persönlichkeitsschutz und öffentliche Meinung in Deutschland, 1994, S. 7. 117 Was sich nicht verbietet, ist die Einsicht in die Tatsache, dass zivilisatorische Werte des langsamen Aufbaus und der ständigen Pflege bedürfen, und dass man im Hinblick auf Förderung wie Gefährdung auch eine Langzeitperspektive einnehmen muss, also nicht nur auf den Augenblick und den unmittelbaren Schaden schauen sollte. Vgl. Winfried Brugger, The Moral Commonwealth. Zur Verfassung von Gesellschaft und Staat aus Sicht des Kommunitarismus, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 84 (2001), S. 149 (171 f.). Das lässt sich auch auf die langfristigen Folgen der Zulassung oder des Verbots von aggressiver Rede beziehen, die aber eben, wie dargestellt, nicht so klar sind. Je nach Kontext

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schon angesprochen worden: Gesellschaftliche Regulierungsmechanismen sollten einen Vorrang vor staatlichen haben118 ; die Ausweitung des Ehrbegriffs führt in große Unsicherheit und mag eine Übersteigerung von Sensibilität herbeiführen; exzessive Ehransprüche wiederum mögen sich in einem Zustand großflächig verbreiten, in dem es wegen der rechtlichen Sanktionsmechanismen profitabler wird, „Opfer“ zu werden, als sich tatkräftig zu wehren. Weiterhin ist den Folgenargumenten zu widersprechen, die zu pessimistisch davon ausgehen, jeder öffentliche Angriff auf die Ehre führe unausweichlich zu Isolierung und zur Vernichtung bisheriger Wertschätzung.119 Ein „Rufmord“ führt nicht unbedingt zu einem „Ermordeten“, er kann durchaus auf den Ruf des „Mörders“ zurückfallen. Wer einen Körperbehinderten „Krüppel“ nennt, macht sich in den Augen der meisten eher selbst zum Krüppel, jedenfalls zum moralisch Behinderten.120 Viel hängt von der Art des Angriffs ab: Schlichte Herabsetzungen ohne Tatsachenbehauptungen wird das Publikum, soweit es nicht schon vor dem Angriff voreingenommen ist, als primäre Wertungen des Äußerers erkennen und nicht ohne weiteres dem Angegriffenen ankreiden. Soweit Ehrabschneidungen auf konkrete Tatsachenbehauptungen gestützt sind, ist es in Deutschland und Amerika möglich, sich dagegen zu wehren.121 Prekär ist die Lage in der Tat bei nur pauschal faktengestützten Werturteilen oder Verdächtigungen, bei denen die Faktenkomponenten nicht spezifisch genug sind, um bewiesen oder widerlegt zu werden122 : Hier kann man sich den Anschein des faktengestützten Werturteils in der Tat erschleichen – aber auch nur, wenn das Publikum nicht differenziert genug wahrnimmt, um welche können sie Integration und Anerkennung fördern oder gefährden. Vgl. die Stellungnahmen von Rosenfeld (Fn. 12), S. 48 f., 80, und Coliver (Fn. 10), S. 363. 118 Dies betont selbst Isensee (Fn. 76), S. 46, der ansonsten für einen stärkeren staatlichen Ehrenschutz eintritt: „Für die sensiblen Fragen des Ehrenschutzes stehen in erster Linie außerrechtliche Normen bereit: Moral, Ethos, Konvention, Takt, soziales Sensorium.“ Anschließend warnt er vor einem Zusammenschluss von political correctness und Rechtssanktionen. 119 Diese Ansicht vertritt Kriele (Fn. 92), S. 1897. Vgl. ferner S. 1903: „[Die] Medien sollten zu besonderer Sorgfalt verpflichtet sein. Ihr Rufmord kann das gesamte soziale Beziehungsnetz des Opfers zerstören. Erfolgt er z. B. durch eine bundesweite Fernsehsendung – wo soll der Angegriffene hinfliehen? In der ganzen Bundesrepublik richten sich die Augen auf ihn als einen Ehrlosen … Die Ehrabschneiderei durch Medien kann den Bürger also im Kern seiner menschlichen und beruflichen Existenz treffen und ihn für den Rest seines Lebens in Unglück und Verbitterung zurücklassen“, 1905: „Alle Gerechtigkeit beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört in diesem Zusammenhang das menschliche Schicksal der ehrlos Gemachten: ihr buchstäbliches Gekränktsein, ihre Vereinsamung, ihre Bitterkeit, ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihre Tränen, ihre durchwachten Nächte und Selbstmordgedanken.“ 120 Vgl. BVerfGE 86, 1. 121 Ob die Ausgestaltung von Rechtsschutz im Einzelnen ausreicht, ist eine Frage, die noch zu diskutieren wäre. Kritisch insoweit Kriele (Fn. 76), Isensee (Fn. 76) sowie Stark (Fn. 62 und 79). 122 Man denke an Vorwürfe wie „merkwürdige Transaktionen“ oder: „Etwas grenzt ans Kriminelle“.

V. Kampf zwischen Liberalismus und Kommunitarismus?

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Art von Werturteil es sich handelt. Schlicht zu unterstellen, dass das Publikum gegenüber den Massenmedien ein „natürliches Primärvertrauen“ habe123, also erst einmal alles glaubt, was es so liest oder im Fernsehen sieht, halte ich nicht für überzeugend. Mir scheint eine natürliche Skepsis beim Publikum vorzuliegen. Je nachdem, aus welchem Lager oder aus welcher Gazette der Angriff kommt, kann man meistens schon ahnen, was folgt: Die Opposition schimpft heftig gegen das Regierungsprogramm und nennt den Bundeskanzler einen Gauner und Heuchler, der die Wähler zu täuschen suche. Wer hätte etwas anderes erwartet? Damit soll nicht geleugnet werden, dass es Fälle gibt, in denen in ihrem Ehrgefühl Angegriffene sich tatsächlich nicht gleichberechtigt verteidigen konnten und Blessuren davontragen, aber was wären die Einbußen, wenn die Rechtsordnung alle solche Eingriffe verhindern und abschrecken würde? Jedenfalls in öffentlichkeitsbedeutsamen Angelegenheiten führte ein expansiv verstandener und mit Rechtssanktionen bewehrter Ehrenschutz zur konkreten Gefahr einer Eliminierung von politisch bedeutsamer Kritik, die doch unter Freiheits- und Gleichheitsgesichtspunkten Voraussetzung dafür ist, dass kollektiv verbindliche Anordnungen das Volk – also jeden Bürger – als „Autor“ der Gesetze für sich in Anspruch nehmen und integrieren können.124 Zivilität im Umgang und Offenheit des politischen Diskurses stehen hier in der Tat in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis, das nicht ohne weiteres aufgeht. Dies ist eine Spannungslage innerhalb des liberalen Kommunitarismus, nicht jenseits seiner Eckpfeiler. 7. Wie steht der Kommunitarismus zu Ausländerfeindlichkeit und Rassismus als Themen in aggressiv verpackten Botschaften? Dem Kommunitarismus geht es um eine Reflexion auf die Kriterien, die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen begründen, und um Lebensformen in Gesellschaft und Staat, in denen die Menschen sich integrativ und unter Wahrung ihrer Integrität entfalten können. Der Kommunitarismus ist keine uniforme, monolithische Theorie: Er behandelt und analysiert alle möglichen Lebensformen intern und in ihrem Zusammenwirken, entweder mit einer Präferenz für die kleinere Gemeinschaft (konservativer Kommunitarismus) oder für die Menschheitsgemeinschaft (egalitärer, universalistischer Kommunitarismus); der liberale Kommunitarismus geht von der Bedeutung aller Gemeinschaftsbindungen aus und versucht, zwischen Nah- und Fernhorizont ausgewogene Relationen zu bilden. Fragen der Zugehörigkeit können sich intern in den Gemeinschaften ergeben, aber auch im Verhältnis der Gemeinschaften zueinander. Außerhalb der universellen Gemeinschaft der Menschen als Menschen geht es immer um das Verhältnis von Inklusion gegen Exklusion und um unterschiedliche Identifikations- und Solidaritätsgrade. Wer soll qua Geburt, wegen bestimmter Eigen123

So aber Kriele (Fn. 64), S. 1903: „Dies gilt umso mehr, als die Menschen den Medien ein natürliches Primärvertrauen entgegenbringen.“ Ähnlich S. 1904. 124 Vgl. schon oben Fn. 56. Diese Argumente schließen es also nicht aus, dass in nichtpolitischen Angelegenheiten – etwa privaten Streitigkeiten – ein Mehr an Ehrenschutz möglich oder empfehlenswert ist. Doch dürfte auch dort nicht kurzschlüssig davon ausgegangen werden, dass jeder Versuch der Ehrabschneidung Ehre tatsächlich abschneidet.

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§ 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede?

schaften, Leistungen oder Verhältnisse automatisch oder qua Wahl Mitglied gerade dieser Gemeinschaft (der Familie, der Glaubensgemeinschaft, der Berufsgruppe usw.) werden oder auch nicht werden? Wer soll nach Eintritt unter welchen Bedingungen wieder ausgeschlossen werden können? Die Diskussion und Beantwortung solcher Fragen gehört unabweisbar zum menschlichen Leben und zum kulturellen Gepäck von Lebensformen. Sie von vornherein als fremdenfeindlich oder rassistisch abzuqualifizieren und den Anschein zu erwecken, alle könnten und sollten in alles integriert werden, wäre töricht. Das gilt auch für die staatliche Gemeinschaft und politische Organisationen generell. Auch sie bedürfen der Diskussion und Entscheidung über die Voraussetzungen der Begründung und Auflösung von Mitgliedschaft. Das gilt jedenfalls so lange, wie die betreffende Organisation, sagen wir ein Staat, noch partikulare Gestalt hat: ein bestimmtes Gebiet mit einem bestimmten Volk, für das diese Staatsgewalt eine besondere, dichte Verantwortlichkeit auf Gegenseitigkeit übernimmt. Dass Staaten solche dichten Verantwortlichkeiten für ihre Bürger haben sollten, etwa in Sachen Fürsorge, wird auch von allen vorausgesetzt. Dagegen wird von vielen bestritten, dass Diskurse über die Eintritts- und Austrittsbedingungen robust und offen geführt werden sollen. Von Vertretern eines egalitären Universalismus und Kommunitarismus wird – konsistent – eine Parallele zwischen „einheimischen Schwachen und Unterdrückten“ und „zuwanderungswilligen Schwachen und Unterdrückten“ gezogen. Diskurse über deren soziale und politische Gleichstellung sollen erstens möglichst zivilisiert werden. Sie sollen zweitens möglichst ergebnisvorherbestimmt geführt werden – denn in Bezug auf den letztgenannten Punkt werden erhebliche Unterschiede eigentlich nicht mehr als tolerabel angesehen und im Grunde als „Rassismus“ eingestuft. Wie sehen konservative und liberale Kommunitarier diese Auffassung? Sie würden generell eine zivilisierte Diskussion bevorzugen, aber heftige, auch aggressive Stellungnahmen nicht rechtlich ausschließen. Im Ergebnis würden sie sich dagegen wehren, dass von vornherein „keine erheblichen Ungleichheiten“ in der Behandlung von Einheimischen und Fremden, Ansässigen und Zuwanderungswillen eingefordert werden dürfen. Denn für konservative Kommunitarier gibt es deutliche Präferenzen für die kleinere Gemeinschaft vor der größeren, hier der nationalstaatlich geprägten Gemeinschaft vor der Weltgemeinschaft. Für liberale Kommunitarier kommt es auf eine Vermittlung von Nähe- und Fernverhältnissen an, ohne dass eine klare Präferenz für das eine oder andere vorherrscht.125 Das heißt: In beiden Varianten wird es als legitim angesehen, Unterschiede in der Verteilung von Vorteilen und Belastungen zwischen Einheimischen und Fremden zu vertreten: Zuwanderung 125 Allerdings geht auch der liberale Kommunitarismus von einer moralgenetischen „priority of the particular“ aus, die sich angemessen in einer Moralphilosophie widerspiegeln muss und etwa gegen überzogene Grade an weltweiter Solidarität argumentiert. Vgl. Selznick (Fn. 38), S. 193 ff. Danach ist es moralisch und rechtlich legitim oder sogar geboten, zwischen näher Stehenden und ferner Stehenden Unterschiede zu machen – für egalitäre Kommunitaristen ist das schon in der Nähe von „Rassismus“ angesiedelt.

V. Kampf zwischen Liberalismus und Kommunitarismus?

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könnte dann also stark (konservativ) oder doch zumindest deutlich (liberal) eingeschränkt werden, ohne dass dies auf eine „Ausländerfeindlichkeit“ hinauslaufen muss; vielmehr wird die Unterscheidung von dichteren und loseren Verantwortlichkeiten im menschlichen Umgang als Ausdruck von Loyalität und Identifikation mit der gewachsenen Gemeinschaft angesehen; solches nicht zu berücksichtigen, wäre aus dieser Sicht heraus unmoralisch und ungerecht. Beide Auffassungen würden aber in Übereinstimmung mit dem egalitären Kommunitarismus universalistischer Prägung davon ausgehen, dass der Status eines jeden Menschen als Menschen auch zählt und keine gänzlich vernachlässigenswerte Komponente ist: Der Mensch als Mensch ist im universalistischen Kommunitarismus der vorrangige Gesichtspunkt, im liberalen Kommunitarismus ein mit näheren und dichteren Gemeinschaften zu vermittelnder, im konservativen Konservativismus ein jedenfalls in Elementarbestandteilen zu schützender Referenzpunkt für Achtung und Berücksichtigung. Zuwanderung in einem gewissen, deutlichen oder gar starken Umfang muss also möglich sein. Was Ungleichbehandlungen zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern im Staat angeht, so sind Elementarrechte – ein näher zu bestimmendes Niveau von Menschenrechten – immer zu gewährleisten126 ; je nach Variante können die Gleichbehandlungsanforderungen steigen, bis zu einer fast völligen Angleichung und einer schnellen Einbürgerung von faktisch im Staat lebenden Fremden ohne große Loyalitätsansprüche oder Identifikationsleistungen. Wie steht es mit dem Rassismus? Dieser kann unterschiedliche Formen annehmen: von der bloßen Vertretung einer Theorie einer rassischen Überlegenheit der Gruppe X gegenüber der Gruppe Y oder generell gegenüber allen anderen Gruppen/ Rassen über allgemeine Handlungsanweisungen bis hin zur Propagierung oder faktischen Durchführung von Vertreibungen und Völkermord. Moderner Kommunitarismus hat immer eine Basiskomponente von Integrität und Integration aller Menschen. Aus seiner Sicht ist genuiner Rassismus in den genannten Formen abzulehnen. Doch ist Vorsicht geboten: Nicht jede Ungleichbehandlung zwischen Einheimischen und Fremden ist Rassismus; das sieht der Tendenz nach nur der egalitär-universelle Kommunitarismus so. Für die beiden anderen Formen gibt es legitime Gesichtspunkte für Einschluss und Ausschluss, die je nach Lebensform oder Politikorganisation anders gelagert sein können. All diese Gesichtspunkte von Ausschluss führen, so kann man formulieren, zu „Minderungen“, „Abwertungen“ des gleichen Menschenstatus, also zu „Rassismus“ jedenfalls i.w.S. des Wortes, so wie es der egalitäre Universalismus benutzt. Anders dagegen der konservative und liberale Kommunitarismus: Rhetorische Rassismen i.w.S. fördern den zivilisierten Dialog nicht, sind aber in einer freien Gesellschaft hinzunehmen, in der keine Sprachpolizei herrscht und in der die Öffentlichkeit sich über die Angemessenheit von Inklusionen und Exklusionen auseinandersetzen können soll. Solche Auseinandersetzungen sollten nicht automatisch zu rechtlichen Sanktionen über Volks126 Vgl. etwa Michael Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, 1996, Kap. I 1: Moralischer Minimalismus.

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verhetzungsparagraphen oder Beleidigungsnormen führen oder weitflächig durch solche Normen abgeschreckt werden. Sonst wäre man mit einer Lage konfrontiert, in der der egalitäre Universalismus und Kommunitarismus als eine vielleicht richtige, aber jedenfalls umstrittene Konzeption von Gemeinschaft, Integration, Gerechtigkeit sich anmaßte, die alleinig richtige zu sein. Damit wäre man auf dem Weg in den autoritären Staat: Wir hätten dann nämlich eine einseitige Okkupation und staatliche Bewehrung der Ausdeutung von Rechtsmaßstäben, bei der doch alle Bürger gleiche Freiheit und gleichen Wert haben sollten.

Teil 3: Europäische Integration in Statuslehre und Kommunitarismus

§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international. Eine Würdigung und Aktualisierung anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 2011 I. Vorteile und Nachteile des Klassikerstatus Georg Jellinek war schon in jungen Jahren als umfassend gebildeter Wissenschaftler bekannt. Trotzdem war der institutionelle Erfolg, die Berufung auf einen seinen Kenntnissen entsprechenden Lehrstuhl, wegen Vorbehalten gegenüber seiner Herkunft aus einer jüdischen Familie mit Mühen und Verzögerungen verbunden.1 Spätestens in seinen Heidelberger Jahren als Ordinarius für Allgemeines Staatsrecht, Völkerrecht und Politik 1890 bis 1911 war er als einer der führenden Lehrer des Staatsrechts und der Staatslehre anerkannt. Nach seinem Tod im 60. Lebensjahr 1911 sprach Max Weber von einem „Mann, der zu den wenigen gehörte, die in ihrem Fach Weltruf genossen …, zu dem jahraus jahrein ein breiter und doch erlesener Schülerkreis zusammenströmte“ und von dem er selbst in wesentlichen Aspekten profitierte.2 Das American Journal of International Law veröffentlichte folgende Todesanzeige: „In the recent death, January 13, 1911, of Professor Georg Jellinek … the students of political science have sustained an irreparable loss. This eminent publicist was not only one of the leading authorities of the world on political science, but he was also the recognized head of the juristic school of political thought in Germany.“3 Inzwischen hat Georg Jellinek Klassikerstatus erreicht: Die meisten seiner Schriften4 1

Zu Leben und Werk siehe die familienbiographische Studie von K. Kempter, Die Jellineks 1820 – 1955, 1998; Art. Georg Jellinek, in: G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl., 1996, S. 215 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 450 ff., sowie aus neuerer Zeit die Werkanalysen von S. L. Paulson/M. Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, 2000; J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000; A. Anter (Hrsg.), Die normative Kraft des Faktischen. Das Staatsverständnis Georg Jellineks, 2004. 2 Zitiert in M. Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, 3. Aufl., 1984, S. 484. 3 Bd. 5 (1911), S. 716. Schon 1896 war ihm der Ehrendoktor der Princeton University verliehen worden. 4 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1905; ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1976 (Nachdruck des 5. Neudrucks der 3. Aufl., die von Walter Jellinek mit Verwertung des handschriftlichen Nachlasses durchgesehen und ergänzt wurde); ders., Die Lehre von den Staatenverbindungen, hrsg. von W. Pauly, 1996 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1882); ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. I und II, Berlin 1911; ders., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, sowie: Replik auf Emile Boutmy, in: R. Schnur (Hrsg.), Zur

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§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

liegen in mehreren Auflagen und Nachdrucken vor; vieles ist übersetzt worden.5 Aus seinem facettenreichen Werk werden insbesondere die folgenden Begriffsbildungen und Teile immer wieder zitiert: (1) das Wort vom Recht als ethischem Minimum, (2) die die französische Staatslehre in Aufregung versetzende These über den Ursprung der Menschenrechte, der in Nordamerika und nicht in Frankreich liege und mehr mit Roger Williams als Jean-Jacques Rousseau zu tun habe, (3) die Zwei-Seiten-Theorie des Staates in seiner monumentalen Staatslehre von 1900, (4) das berühmte Wort von der normativen Kraft des Faktischen sowie (5) die hier näher zu behandelnde Statuslehre aus seinem Buch „Das System der subjektiven öffentlichen Rechte“ von 1892, hier nach der 2. Auflage 1905 und als „System“ zitiert.6 Das Erreichen des Klassikerstatus7 ist die höchste und umfassendste Stufe der wissenschaftlichen Reputation: Man ist in aller Munde. Trotzdem sind mit diesem Status tendenziell auch Nachteile verbunden: Je öfter man zitiert wird und je mehr Wiedererkennungseffekte hervorgerufen werden, desto skizzen- und stichwortartiger wird der entsprechende Werkteil referiert; der Gesamtzusammenhang eines Begriffs und einer Lehre in der jeweiligen Komplexität geht dann in der Regel verloren. Solche Reduktion von Komplexität ist insbesondere dann unvermeidbar, wenn der Verweisungszusammenhang wechselt von der wissenschaftlichen Monographie zu kürzeren Darstellungen in lehrbuchartiger oder didaktischer Form; der Zeitablauf und neuere Sach- oder Theorieentwicklungen tun ein Übriges dazu, um die Klassikerzitation zum schönen, aber nicht mehr unbedingt weiterführenden Beiwerk zu machen. Ein solches Schicksal muss Georg Jellineks Statuslehre nicht treffen; sie ist nicht nur nach wie vor für unser Staatsrecht und sein Grundrechtsverständnis aktuell, sondern gewinnt noch an Analysekraft, wenn man sie in ihrem Zusammenhang des „Systems der subjektiven öffentlichen Rechte“ versteht und in Jellinekschen Geiste auf internationale Bezüge ausweitet. Das soll hier, notwendig auch in dieser Differenzierung wieder verkürzend, geschehen.

Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 1 ff., 113 ff.; ders., Das Recht der Minoritäten, hrsg. von W. Pauly, 1996 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1898); ders., Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1967 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1878). 5 Nachweise im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: www.d-nb.de sowie in Kempter (Fn. 1); Kleinheyer/Schröder (Fn. 1) und Paulson/Schulte (Fn. 1), S. 391 ff. 6 Neuere Analysen der Statuslehre bei R. Alexy, Grundrecht und Status, und W. Pauly, Georg Jellineks „System der subjektiven öffentlichen Rechte“, in: Paulson/Schulte (Fn. 1), S. 209 ff., 227 ff.; ferner bei Kersten (Fn. 1), § 9 F; E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, Kap. 1; C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 23 ff. Ein anglo-amerikanisches Pendant zu Jellineks Statuslehre findet sich bei Thomas H. Marshall, Citizenship and Social Class (1950), um einen Aufsatz von Tom Bottomore ergänzte Neuaufl. London 1992, Teil I; dazu eine neuere Kommentierung bei A. Graser, Gemeinschaften ohne Grenzen, 2008, S. 71 ff. 7 Zum Umgang mit „Klassikertexten im Verfassungsleben“ P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998, S. 481 ff.

II. Die Sichtweise der juristischen Logik

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In fast allen Grundrechtslehrbüchern und GG-Kommentaren wird bei den Arten und Funktionen der Grundrechte auf Georg Jellineks Statuslehre als Basis hingewiesen.8 Exemplarisch lesen wir bei Pieroth und Schlink Folgendes: „Die klassischen Funktionen der Grundrechte im Verhältnis zwischen Einzelnen und Staat sind von Georg Jellinek … mit den Begriffen des status negativus, status positivus und status activus unterschieden worden. Dabei bezeichnet status jeweils einen Zustand des Einzelnen gegenüber dem Staat, der in verschiedenen Grundrechten ausgeformt und gesichert ist.“9 Die Autoren beschreiben dann im Einzelnen die logische Struktur dieser drei Grundrechtsarten und weisen auf neuere Begrifflichkeiten wie die Wertoder objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte hin, wie sie am prominentesten in der Lüth-Entscheidung in BVerfGE 7, 198 entwickelt worden ist. Grob gesprochen kann man sagen: Das heutige System der Grundrechte baut auf Jellinek und Lüth auf, mit neueren Aktualisierungen in Rechtsprechung und Wissenschaft, die sich auf Drittwirkung, Einrichtungsgarantien, Auslegungsmaximen, Verfahrensgarantien, Teilhabe- und Schutzrechte erstrecken. So richtig und zentral dies ist, geht damit doch vieles von dem verloren, was Georg Jellinek in seinem „System“ oder gar in seinem Gesamtwerk mit der Statuslehre verband. Erst in dieser Gesamtsicht wird die interdisziplinäre und gegenwartsbezogene Relevanz dieser Lehre und ihre ungeheure Reichweite über den Nationalstaat und die juristische Logik hinaus deutlich. Darauf wird jetzt der Blick gerichtet. In die Statuslehre gehen rechtslogische, zweck- und wertanalytische oder sozialwissenschaftliche, rechtsgeschichtliche und rechtsethische Analysen ein, die hier skizziert werden. Unberücksichtigt bleiben Jellineks umfangreiche komparative Beschreibungen der Statusrechtslage im Deutschen Reich, seinen Ländern sowie in Österreich, der Schweiz und den USA.

II. Die Sichtweise der juristischen Logik In den Eingangsabschnitten des „Systems“ entwickelt Jellinek neukantianisch, rechtspositivistisch, ja fast kelsenianisch eine Analyse des Rechtsbegriffs, von objektivem Recht sowie subjektiven Rechten im öffentlichen Recht wie im Privatrecht.

8 Prominente Ausnahme: der GG-Kommentar von Horst Dreier, wo Jellineks „System der subjektiven öffentlichen Rechte“ bei den Literaturangaben zu den „Vorbemerkungen“ nicht vorkommt, bei den „Allgemeinen Grundrechtslehren“ (Abschnitt C) auch nicht. Laut Sachregister wird die Statuslehre in der 2. Aufl. von 2004 nur in Art. 17 Rn. 14, 15, 47 erwähnt und in Rn. 14 von Hartmut Bauer als „Prokrustesbett“ bezeichnet. Das ist eine unzutreffende Charakterisierung, wie hier zu zeigen sein wird. 9 B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte-Staatsrecht II, 23. Aufl., 2007, § 4 I, Rn. 57; ähnlich F. Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl., 2008, § 5 Rn. 1 ff., und viele andere Autoren. Zur Statuslehre im Verwaltungsrecht siehe H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober/W. Kluth, Verwaltungsrecht Bd. 1, 12. Aufl., 2007, §§ 32 IV, 43.

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Es geht ihm um die „Glieder eines einheitlichen logischen Ganzen“10. Sein spezifisch rechtslogischer Zugang besteht darin, dass er die Rechtsbegriffe von empirischen Begriffen, Kausalerklärungen, Naturrechtslehren oder Metaphysik abgrenzt. „Eine juristische Theorie muß eben die Erscheinungen des Rechtslebens erklären können: sie darf weder psychologisch noch naturwissenschaftlich, weder empirisch, noch realistisch, sie muß vielmehr ausschliesslich juristisch sein.“11 In diesem Sinne behandelt Jellinek das objektive Recht als Prius vor dem subjektiven Recht; die subjektiven Rechte werden analysiert in der Vermittlung von Interessen- und Willenstheorie: „Was objektiv gefaßt als Gut erscheint, wird subjektiv zum Interesse“12, sagt Jellinek und fügt hinzu: „Der Wille ist das notwendige Mittel, durch welches das Etwas zum Gute oder Interesse wird.“13 Das Verhältnis des objektiven Rechts zum subjektiven Recht führt ihn zu den Modalitäten „Gebieten, Verbieten, Erlauben, Gewähren, Versagen, Entziehen“14. Die Abgrenzung zwischen privaten und öffentlichen subjektiven Rechten bemisst sich nach der Art des Interesses: Private Rechte werden im exklusiven oder überwiegenden Interesse des Individuums verliehen, sie dienen seinen Genussmöglichkeiten, modal sind sie Dürfen-Rechte. Subjektive öffentliche Rechte dagegen werden zumindest auch und oft vorrangig im staatsgliedlichen Interesse verliehen. Hier steht der Mensch, wie Jellinek meint, „nicht als isolierte [oder privat assoziierte, bourgeoise] Persönlichkeit, sondern als Glied des Gemeinwesens“15 im Vordergrund.

III. Zweck, Wert, Gemeinschaft, Gemeinwesen Für Jellinek ist das politische Gemeinwesen in Form des modernen Staates die höchste und umfassendste Organisation: eine Gemeinschaft der Gemeinschaften. Sie teilt mit diesen die notwendige Ausrichtung an Ziel, Zweck und Wert als einheitsstiftenden Momenten.16 Schon die natürliche Person gewinnt die Dimensionen von Subjekt, Einheit und Zurechnung über die von ihr geschätzten oder verfolgten Ziele und Zwecke; diese verweisen auf ihre Wertbeziehungen. Das gilt auch für Gemeinschaften im weiten Sinne, die solche Aktivitäten und Ziele bündeln, die das separate Individuum nicht erreichen kann. In verstärktem Maße trifft dies für Gemeinschaften im engeren, dichteren, Sinne zu, die nicht nur lose assoziiert sind, 10

Jellinek, System (Fn. 4), S. 58. Jellinek, System (Fn. 4), S. 34 f. 12 Jellinek, System (Fn. 4), S. 43. 13 Jellinek, System (Fn. 4), S. 44. 14 Jellinek, System (Fn. 4), S. 45. 15 Jellinek, System (Fn. 4), S. 53. 16 Siehe insbesondere Kap. III im „System“. Zu Jellineks Verständnis des Aufbaus der sozialen und Rechtswelt, das gelegentlich als zu staatszentriert oder etatistisch angesehen wird, siehe W. Brugger, Georg Jellinek als Sozialtheoretiker und Kommunitarist, in: Der Staat 49 (2010), S. 405 ff. 11

IV. Rechtsethik und Rechtsgeschichte

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sondern dauerhafte, strukturierte Verbandsverhältnisse aufgebaut haben, in denen vertikale Elemente von Autorität, Anordnung und Herrschaft wirksam sind. Solches kommt schon in manchen Sozialformen vor, etwa bei der elterlichen Autorität, tritt aber stärker in den Vordergrund bei rechtlich anerkannten oder eingerichteten und staatlich eingeordneten Gemeinschaften. Dann wird über ein „Familienrecht“ „elterliche Gewalt“ verliehen, wird der soziale Interessenverband zur juristischen Person etwa in Form des eingetragenen Vereins oder der anerkannten Religionsgemeinschaft. All diese Gemeinschaften werden durch das politische Gemeinwesen umformt: „Es ist die Welt menschlicher Zwecke und Werte, in welcher das Rechtssystem seine Stelle hat.“17 „Je intensiver und je dauernder die einigenden Zwecke sind, desto stärker erscheint uns auch die Einheit ausgeprägt.“18 In diesem Sinne ist nun auch das Gemeinwesen Staat eine „teleologische Einheit“19, weil sie zeiten-, personen- und herrscherüberdauernd auf einem Territorium über das jeweilige Volk unwiderstehliche Staatsgewalt ausübt: „Die theoretische Basis der juristischen Erfassung des Staatsbegriffes ist die unzweifelhafte natürlich-historische Tatsache des auf abgegrenztem Gebiete seßhaften von einer Obrigkeit beherrschten Volkes …“.20

IV. Rechtsethik und Rechtsgeschichte Hier ist der Punkt, wo Jellinek die formale Analyse anhand von Rechtslogik und Zweckeinheit mit Ethik und Geschichte auffüllt. Rein logisch spricht nichts dagegen, Recht als herrschaftliche Normierung und Staat als unbegrenzte Herrschaft, als gerechtigkeitsdefinierende Macht21 oder gerechtigkeitsersetzende Willkürherrschaft22 anzusehen. Jellinek spricht in der Tat von der „formellen Souveränität“ des Staates, die unbegrenzt, über die Staatsgewalt alles andere unterwerfend sei23 und so als „potentiell allseitige[s] Subjektionsverhältnis“24 verstanden werden könne; mehrfach erwähnt er Sklavenstaaten, die den Sklaven nur natürliche Willensfähig17

Jellinek, System (Fn. 4), S. 16. Jellinek, System (Fn. 4), S. 25. 19 Jellinek, System (Fn. 4), S. 26. 20 Jellinek, System (Fn. 4), S. 21. 21 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 21 zu Hobbes’ Ansicht, dass Gerechtigkeit von Recht und Gesetz abhängt und zu Rousseaus Ansicht, dass der allgemeine Wille nicht irren könne. 22 Diese Sichtweise herrscht in Machttheorien oder relativistischen Theorien vor, die der Ansicht sind, über Gerechtigkeit könnten keine objektiven bzw. objektiv nachweisbaren Urteile gefällt werden. In den letztgenannten Sichtweisen ist allerdings auf den genauen Gehalt von „Willkür“ zu achten: Nicht alles, was der Wille kürt, ist notwendig Willkür. Siehe A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 1974, Kap. 11. 23 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 9 f. 24 Jellinek, System (Fn. 4), S. 197. 18

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keit, aber keine Rechtsfähigkeit zuerkannten.25 Doch ergibt sich ein anderes Bild, wenn man die formale Analyse material ergänzt, wie das Jellinek tut.26 Dann geht es um eine Analyse der absoluten oder relativen, konstanten oder wechselnden Zwecke27, deren Erfüllung sich die Staatsgewalt im Laufe der Geschichte vorgenommen hat oder hier, heute und in der Zukunft vornehmen sollte.28 Schon immer herrschte Kampf um gute Herrschaft, um Gemeinwohlorientierung, und der Geschichtsverlauf stellt sich für Jellinek als eine Entwicklung dar, in der die Bindung von Macht und kollektivem Zwang zunächst durch andere als rechtliche Mächte, nämlich Religion und Tradition, zustande kam, dann durch objektive Rechtsbindung in Form von Grundverträgen und Verfassungen, schließlich durch die Subjektivierung der durch diese Bindungen objektiv Begünstigten.29 Viele ideengeschichtliche Stränge und realgeschichtliche Kämpfe haben an der Ausformulierung des Subjekts- und Personenbegriffs sowie dessen Verstärkung durch individualrechtliche Garantien mitgewirkt – vor allem das Natur- und Vernunftrechtsdenken, der Kampf um Religionsfreiheit und ökonomische Entfaltung sowie die bürgerlichen Revolutionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.30 Damit war der Boden bereitet für eine materiale und kategoriale Anreicherung des formellen, rein instrumentellen Rechtsbegriffs mit seiner Fixierung auf welche Einheitszwecke auch immer, hin zu einem zweiten, auf Eigenständigkeit und Gegenseitigkeit abhebenden Rechts- und Staatsverständnis. An diesem Punkt über25

Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 10, 28, 82. Hier liegt eine Nähe zu Rudolph von Ihering vor, der in „Der Zweck im Recht“, 1. Bd., 5. Aufl., 1916, S. 249 ff., 339 ff. die Charakteristika des Rechts mit (1) Norm, (2) Zwang und (3) Zweck/Interesse beschreibt. 27 Ausführlich analysiert in Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), Kap. VIII. Wenn Udo Di Fabio in „Die Staatsrechtslehre und der Staat“, Paderborn 2003, S. 32, kritisiert, dass eine „Sozialwissenschaft des Staates ohne unmittelbaren Ertrag und ohne unmittelbare Möglichkeit zur Übersetzung in Rechtsgebote“ bleibt, dann ist das insofern richtig, als es um analytisch unterschiedliche Methoden geht. Aber die Formalanalyse, in der jeder Inhalt Recht werden kann, ist eben, wenn sie historisch untersucht wird und auf Zukunftsoptionen hin befragbar sein soll, auf die Leitlinien zu beziehen, die das Formalgefüge von „Recht überhaupt“ überschreiten in Richtung auf „prägendes Recht“ zu einer bestimmten Periode in einem bestimmten Rechtskreis. Genau das ist Jellineks berechtigtes Anliegen. So auch Stolleis (Fn. 1), Bd. 2, S. 453: „Es war plausibel, die einzelnen Gebiete empirischer und normativer Forschung zu trennen und gleichzeitig auf ihrer engen Verzahnung zu beharren.“ 28 Zu dieser für Jellinek wichtigen Unterscheidung der Blicke „nach hinten“ und „nach vorn“, der die historische und die ethische Sichtweise entsprechen, siehe Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 184, 214 f., 265. 29 Siehe vor allem seine Untersuchungen zur Geschichte der Menschenrechte: Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn. 4); dazu M. Stolleis, Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Paulson/Schulte (Fn. 1), S. 103 ff.; W. Brugger, Historismus und Pragmatismus in Georg Jellineks „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, in: Festschrift für Hans Joas zum 60. Geburtstag, passim. 30 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 36 f. und ders., System (Fn. 4), S. 28: „Es ist eine als Produkt jahrtausendelanger Entwicklung erkannte sittliche Forderung, den Menschen schlechthin als Rechtssubjekt anzuerkennen …“. 26

V. Zunehmende Subjektivierung und Individualisierung

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schreitet Jellinek die rein juristische Innensicht formaler Zuständigkeit und Herrschaft über welche Zweckverfolgung auch immer: „Alles Recht ist Beziehung von Rechtssubjekten … Auch der Staat kann nur Rechte haben, wenn ihm Rechtspersönlichkeiten gegenüberstehen. Ein faktisches Herrschaftsverhältnis wird zum rechtlichen nur dann, wenn beide Glieder: Herrschender und Beherrschter als solche Rechtsgenossen sind“31 und sich gegenseitig anerkennen. Nur so kann eine Macht etabliert werden, „welche den gleichen Wert der Ansprüche von herrschender und unterworfener Persönlichkeit garantieren könnte“32.33 Somit ist moderne Staatlichkeit weit komplexer als in zwangs- oder gewaltfixierten Sichtweisen oder rein instrumentellen Rechtsverständnissen unterstellt. Der Staat ist für Jellinek eine Organisation, die 1. gebietsbezogen ist, 2. ein Volk hat, entweder als bloße Bevölkerung oder als Volk im emphatischen Einheitssinne. Sie übt 3. Herrschaft aus als juristische Person, die formell frei, souverän ist, keine gleichberechtigten weltlichen Nebenmächte kennt, aber 4. als Zweckeinheit material gebunden ist, nämlich 5. an die Gegenseitigkeit von Berechtigung und Verpflichtung, sowie 6. an das Gemeinwohl, das sich 7. objektiv- und subjektivrechtlich ausbuchstabiert je nach geschichtlicher Lage, politischer Durchsetzung und verfassungsrechtlicher Ausgestaltung.34

V. Zunehmende Subjektivierung und Individualisierung als Bewegung der Moderne Sobald man auf der Grundlage der dargelegten „ethischen Moderne“ steht, die Subjekte in Relationsverhältnissen unter Achtung prinzipieller Gegenseitigkeit von Recht und Pflicht versteht, kann man ebenenspezifische Subjektstatus unterscheiden: In Moral und Ethik bezeichnet „Person“ den allen Menschen oder die der 31 Jellinek, System (Fn. 4), S. 10. Jellinek äußert an verschiedenen Stellen Einwände gegen die Genossenschaftstheorie: Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 349 ff.; ders., System (Fn. 4), S. 7, 283 f. Die Kritik richtet sich aber im Schwerpunkt gegen deren Behauptung unabgeleiteter oder selbständiger Herrschaftsrechte von außerhalb der Staatlichkeit angesiedelten Organisationen, etwa Kirchen oder weltlichen Gemeinden. Jellinek übernimmt aber von dieser Theorie, wie das Zitat zeigt, den Gedanken des nicht nur subjizierten Untertanen, sondern des Rechte besitzenden Genossen. 32 Jellinek, System (Fn. 4), S. 10. 33 Siehe auch Jellinek, System (Fn. 4), S. 195: „Nur indem der Staat sich als rechtlich beschränkt auffasst, wird er zum Rechtssubjekt. Ein handelndes Wesen, das gar nicht Träger von Pflichten ist, ist Machtsubjekt, nicht Rechtssubjekt. Im Begriffe des Rechtes ist bereits der der Beschränkung enthalten.“ Vgl. auch ders., System (Fn. 4), S. 215 ff. zur Doppelung der Begriffe Herrschaft und Gewalt sowie S. 292 zur inhaltlichen Auffüllung der formellen Freiheit „durch den ganzen historischen Zustand der Gesellschaft“. 34 Geht man von diesem Ausgangspunkt aus, relativiert sich die häufig gegen Jellineks Statuslehre vorgebrachte Kritik, die auf deren zu großen Formalismus abstellt; siehe die Nachweise zu dieser Kritik bei Alexy (Fn. 6), S. 222 f.

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Gattung Mensch zukommende Fähigkeit zwecktätigen Handelns sowie dessen Artikulation und Rechtfertigung im sozialen Zusammenhang; Art und Umfang der konkreten Ausgestaltung samt damit einhergehender Identitätsbildung wären Ausfluss von „Persönlichkeit“. Entsprechend wären auf Rechts- und Verfassungsebene „Rechtsperson“ und „Rechtspersönlichkeit“ zu unterscheiden. Erstere findet sich im Grundgesetz in Art. 1, Letztere in Art. 2 sowie den anderen Freiheitsrechten geschützt, die den Raum der Rechtspersönlichkeitsentfaltung konturieren. Jellinek benutzt an einigen Stellen diese Ausdifferenzierung, an anderen Stellen unterscheidet er nicht zwischen den beiden Ebenen und vermischt gelegentlich auch die Begriffe Person und Persönlichkeit.35 Welche Richtung nimmt nun die neuere Rechts- und Verfassungsgeschichte in Bezug auf die Wichtigkeit der Entwicklung von Individualität und den Schutz von entsprechender Persönlichkeitsentfaltung? „Die Persönlichkeit des Individuums ist … keine stetige, sondern eine veränderliche Größe … Alle sozialen und politischen Kämpfe der neueren Zeit hatten die Vergrößerung der Persönlichkeit zum Inhalt. Dem Sklaven und Leibeigenen wurde sie gegeben, die der Untertanen ist gewachsen … Der Bürger des modernen Staates mit Wahlrecht, ungehinderter Erwerbs- und Besitzfähigkeit ist eine dem Umfang nach von dem an die Scholle gebundenen, von der Teilnahme an dem Staate ausgeschlossenen Angehörigen des feudalen und absoluten Staates verschiedene Persönlichkeiten.“36 „Da größtmögliche, d. h. mit dem Gesamtwohl möglichst verträgliche Ausbildung und Gewährleistung der Individualität zu den wichtigsten Gemeinwohlzwecken zählt, ist die hierauf gerichtete staatliche Tätigkeit ebenfalls eine im Gemeininteresse geübte.“37

VI. Die Formulierung der Statuslehre Damit ist das Themenfeld der Statuslehre erreicht. Diese hat nach Jellinek zwar zunächst vom Status subiectionis, von der formell unbegrenzten Herrschaftsbefugnis des Staates auszugehen, die – im Sklavenstaat – den Rechtsstatus der „Person“ überhaupt leugnet oder – in repressiven Staaten – den Rechtsstatus der „Persönlichkeit“, seine konkrete Persönlichkeitsentfaltung, stark einschränkt. Doch kennzeichnend für den modernen Staat an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die Einschränkung und Transformation seiner Herrschaft durch die Status negativus, positivus und activus: „Einmal zieht der Staat eine Grenzlinie zwischen sich und der subjizierten Persönlichkeit, er erkennt eine staatsfreie, d. h. seiner Herrschaft prinzipiell entzogene Sphäre des Individuums an … Er hat, zum positiven Handeln im individuellen Interesse sich bestimmend, dem einzelnen die rechtliche Fähigkeit 35 Siehe S. 28 ff., 56, 57, 81 ff., 193 ff., 257 und die Rekonstruktion bei Brugger, Jellinek (Fn. 16), Abschnitte II und III. 36 Jellinek, System (Fn. 4), S. 84; siehe auch S. 71, 86 f. 37 Jellinek, System (Fn. 4), S. 201; siehe auch S. 359.

VI. Die Formulierung der Statuslehre

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anerschaffen, seine Tätigkeit in Anspruch zu nehmen … Endlich gesteht der Staat, dessen Willen an dem menschlicher Individuen seine Substanz hat, einem kleineren oder größeren Kreise von Individuen die Fähigkeit zu, in seinem, des Staates Interesse tätig zu werden …“.38 „Durch die Zugehörigkeit zum Staate, durch die Gliedstellung, welche der Mensch in ihm empfängt, wird er … nach verschiedenen Richtungen qualifiziert. Die möglichen Beziehungen, in denen er zum Staate stehen kann, versetzen ihn in eine Reihe rechtlich relevanter Zustände. Die Ansprüche, die sich aus diesen Zuständen ergeben, sind das, was man als subjektive öffentliche Rechte bezeichnet. Sie bestehen … ausschliesslich aus Ansprüchen, die sich unmittelbar auf rechtliche Zustände gründen.“39 „Durch die die Basis aller staatlichen Wirksamkeit bildende Unterwerfung unter den Staat befindet sich der einzelne innerhalb der individuellen Pflichtsphäre, im passiven Status, im status subiectionis, in dem die Selbstbestimmung und daher die Persönlichkeit ausgeschlossen ist … Zur Vollziehung bestimmter Zwecke berufen, ist [der Staat aber] durch die ihm sittlich notwendige Anerkennung der Persönlichkeit der ihm Eingegliederten in seiner Handlungsfähigkeit ebenfalls beschränkt; er erscheint durch die Rechtsordnung selbst rechtlich verpflichtet.40 … Die neuere Geschichte hat nicht zum geringsten die stetige Vergrößerung der Einzelpersönlichkeit und damit die Einschränkung des Staates zum Inhalt … Die „Herrschaft des Staates ist eine sachlich begrenzte, im Gemeininteresse ausgeübte Herrschaft. Sie ist eine Herrschaft über nicht allseitig Subjizierte, d. h. über Freie. Dem Staatsmitgliede kommt daher ein Status zu, in dem er Herr ist, eine staatsfreie, das Imperium verneinende Sphäre. Es ist die der individuellen Freiheitssphäre, des negativen Status, des status libertatis, in welcher die streng individuellen Zwecke durch die freie Tat des Individuums ihre Befriedigung finden … Die gesamte Tätigkeit des Staates ist im Interesse der Beherrschten ausgeübt … [So gewährt er] dem Individuum positive Ansprüche … , erkennt er ihm den positiven Status, den status civitatis zu … Die Tätigkeit des Staates ist nur durch individuelle Tat möglich. Indem der Staat dem Individuum die Fähigkeit zuerkennt, für den Staat tätig zu werden, versetzt er ihn in einen Zustand gesteigerter, qualifizierter, aktiver Zivität. Es ist der aktive Status, der Status aktiver Zivität, in welchem der sich befindet, der die s.g. politischen Rechte im engeren Sinne auszuüben berechtigt ist.“41 „In diesen vier Status: dem passiven, dem negativen, dem positiven, dem aktiven erschöpft sich die gliedliche Stellung des Individuums im Staat. Leistungen an den Staat, Freiheit vom Staat, Forderungen an den Staat, Leistungen für den Staat sind die Gesichtspunkte, unter welchen die öffentliche Rechtsstellung des Individuums begriffen sein will. Diese vier Status bilden eine aufsteigende Linie, indem das Individuum zuvörderst dem Staate Gehorsam leistend der Persönlichkeit bar erscheint, 38 39 40 41

Jellinek, System (Fn. 4), S. 85. Jellinek, System (Fn. 4), S. 86 Siehe auch Jellinek, System (Fn. 4), S. 197. Jellinek, System (Fn. 4), S. 86 f.

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hierauf ihm eine selbständige, staatsfreie Sphäre zuerkannt wird, sodann der Staat selbst sich zu Leistungen verpflichtet, bis schliesslich der individuelle Wille an der staatlichen Herrschaftsausübung teilnimmt oder sogar als Träger des staatlichen Imperiums anerkannt wird.“42 Diese zusammenfassenden Zitate können wie folgt gegliedert werden: (1) Vorrangig ist die Gliedstellung des Menschen in einem größeren Ganzen im allgemeinen (Status iwS) und die Gliedstellung des Menschen im modernen Staat im besonderen (Status ieS).43 Das ist ein kommunitaristischer Ausgangspunkt, der primäre von sekundären Gemeinschaften unterscheidet und eine Stufung von sozialer, rechtlicher und zuletzt, wenngleich unverzichtbar, staatlicher Gemeinschaft voraussetzt. Zudem kann man das Wort Glied oder Mitglied in Richtung Eigenständigkeit, Integrität auch in Integration, verstehen; Jellinek tut das nicht immer44, er präferiert meist den Gleiches anzielenden Begriff „Genosse“45 im Gegensatz zum bloßen „Untertanen“. (2) Diese Gliedstellung umfasst eine Relationsbeziehung zwischen dem Ganzen und den Gliedern, die Jellinek auch ein „streng persönliches Verhältnis zwischen Staat und Individuum“46 nennt.47 Man kann die Relation auch als abstrakte oder konzeptionelle Qualifikation der Persönlichkeit charakterisieren.48 (a) Beiden Mitgliedern kommt Subjekt-, Person und Persönlichkeitscharakter und nicht nur Objektoder Subjektionscharakter zu. (b) Ferner beziehen sich diese Relationen auf ein „Sein“49, also eine Beziehung, die für den Gesamtcharakter der beiden Subjekte wie deren Beziehung konstitutiv, identitätsbestimmend ist. (c) Jellinek spricht insoweit auch von einem dauernden Verhältnis, von dauernden Eigenschaften und Fähigkeiten.50 Zusammenfassend: So kann „zwar der Inhalt von Rechten, nicht aber der von Zuständen allseitig begrifflich bestimmt werden … Der rechtliche Zustand bedeutet ein dauerndes, kraft juristischer Anschauungsweise hypostasiertes Verhältnis, ein Sein im juristischen Sinne … Die zum Sein verdichtete Relation zwischen 42

Jellinek, System (Fn. 4), S. 87 f. Der allgemeinere Fall will sagen, dass es „Status“ in allen Ganzheiten verkörpernden Lebensgemeinschaften innerhalb und außerhalb des Rechtes gibt. Das sagt und erläutert Jellinek selbst: ders., System (Fn. 4), S. 88 ff. Siehe dazu ausführlich Brugger, Jellinek (Fn. 16). 44 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 53, 82, 88, 90, 117, 118 f., 266; ders., Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 34, 350. 45 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 10; ders., Staatslehre (Fn. 4), S. 259, aber auch ders., Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 349. 46 Jellinek, System (Fn. 4), S. 57. 47 Es gibt natürlich auch privatrechtliche Relationen oder Status: Jellinek, System (Fn. 4), S. 58. 48 Vergleiche Jellinek, System (Fn. 4), S. 52, wo die konkreten subjektiven öffentlichen Rechte als konkrete Qualifikationen der Persönlichkeit bezeichnet werden. 49 Jellinek, System (Fn. 4), S. 84. 50 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 56, 57. 43

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Individuum und Staat bleibt nämlich als solche ganz unverändert, welchen konkreten Inhalt man ihr auch setzen möge.“51 (3) Die einzelnen Gliedstellungen, Richtungen, Zustände, Seinsrelationen, Status gliedern sich aus in solche der (a) Unterordnung, des Rechtsgehorsams, der (b) Abwehr von Herrschaft über Abwehrrechte, der (c) positiven Leistungen im Individualinteresse im Hinblick auf staatliche Leistungen durch Verwaltung und Gerichte52, sowie der (d) Aneignung der bislang fremden Staatsgewalt durch die Betroffenen über die Stadien Herrschersouveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität. Der Fall (a) ist ein Pflichtenstatus, der, soweit er reicht, individuelle Berechtigungen ausschließt; dort herrscht dann die Hoheitsgewalt des Staates. Die berechtigenden Status (b) bis (d) sind noch keine Rechte, aber ihr Haben53, ihre „Anerkennung“54, ihre Achtung, Verwirklichung und Förderung führt zur Notwendigkeit von (4) Recht, genauer: subjektiven öffentlichen Rechten, die dann im Bedrohensoder Verletzungsfalle zu (5) einzelnen Rechtsansprüchen sich wandeln. „Eine konkrete, aus dem subjektiven Recht entspringende, gegen eine bestimmte Person gerichtete aktuelle Forderung ist aber ein Anspruch.“55 Die Ansprüche wiederum können sich (a) auf die materiellen Gehalte, Interessen, Güter und/oder (b) formell auf deren gerichtliche Durchsetzung erstrecken.56 (6) Die von Jellinek analysierten Modi rechtlicher Wirkungen57 gliedern sich dann je nach Status und konkretem Recht/Anspruch. Das Recht kann die natürliche Freiheit beschränken, anerkennen oder erweitern. Auf der Pflichten- oder beschränkenden Seite finden sich dann Befehl, Machtversagen, Verbot, Strafe, Entzug 51

Jellinek, System (Fn. 4), S. 118. Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 121. 53 Jellinek formuliert: „Das Recht hat ein Haben, die Person ein Sein zum Inhalt“, Jellinek, System (Fn. 4), S. 84. 54 Jellinek, System (Fn. 4), S. 122. 55 Jellinek, System (Fn. 4), S. 55; siehe auch S. 105. 56 Bei einem Vergleich von Kap. IX und XXI im „System“ fällt auf, dass einmal mehr materielle Leistungen, ein andermal mehr Rechtsschutzansprüche im Vordergrund stehen. Jellinek hält eine Einteilung möglicher materieller Ansprüche für „juristisch unerspriesslich“ (S. 122). Für wichtig hält er die „Anerkennung“ der Bürger in den konstitutiven Status, etwa im Status libertatis oder als Wahlbürger (S. 122 f.). An einer Stelle wird der Rechtsschutzanspruch als „im Zentrum des positiven Rechts“ stehend angesehen, „als das wesentliche Merkmal der Persönlichkeit überhaupt“ (S. 124). Das erinnert an den Satz von Chief Justice John Marshall aus Marbury v. Madison, dass in einem Rechtsstaat „right and remedy“gekoppelt sein müssen: 5 U.S. (Cranch) 137, 163 (1803): „It is a general and indisputable rule that where there is a legal right, there is also a legal remedy by suit or action at law whenever that right is invaded.“ Marshall zitiert Blackstone an dieser Stelle. Umgesetzt auf das Grundgesetz, würde das Art. 19 Abs. 4 und die Prozedurkomponente im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 normativ adeln. 57 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 45 ff., 52, 58 f., 194. 52

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und polizeilicher Zwang. Rechteverleihend, rechtspräzisierend oder rechtskreiserweiternd sind die Modi von Erlauben, Dürfen, Gewähren und Machtverleihen in Form von subjektiven privaten oder öffentlichen Rechten und Kompetenzen für Träger von Hoheitsgewalt.

VII. Analyse der Statuslehre im Einzelnen 1. Funktionale Sichtweise von staatlicher Herrschaft In der Wendung von formeller zu materieller Sichtweise von Recht und Staat wird gleichzeitig alle Ausübung von Staatsgewalt abfragbar nach den konkreten Leistungen, die sie für konkret zu benennende Individuen und Gruppen erbringt.58 Sie muss mehr als Willkürherrschaft sein. Wenn der Staat als umgreifendes Gemeinwesen verstanden wird, ist gleichzeitig klar, dass Nutznießer einer solchen Frage das Volk sein muss. Aber in welcher Art und Weise? Insbesondere für den Unterwerfungs- und Gehorsamsstatus könnte man dies bezweifeln, nicht zuletzt wenn man sich Zitate von Jellinek vor Augen führt, die an einigen Stellen eher auf ungezügelte Staatsgewalt als auf deren Bändigung oder ethische Orientierung abstellen: „Menschen, die befehlen, und solche, die diesen Befehlen Gehorsam leisten, bilden das Substrat des Staates.“59 „Herrschaft heißt aber die Fähigkeit haben, seinen Willen anderen unbedingt zur Erfüllung auferlegen, gegen anderen Willen unbedingt durchsetzen zu können.“60 „Herrschaftsgewalt … ist unwiderstehliche Gewalt.“61 Der Kontext dieser und anderer Stellen bietet jedoch eine anspruchsvollere Deutung an: Nach Jellinek besteht die Leistung des frühen souveränen Staates mit seinem Vorrang des Status passivus in der Vereinheitlichung bislang feudalistisch, ständisch und religiös zersplitterter Herrschaft, die potentiell und öfters auch aktuell zu Fehdestreitigkeiten, Kriegen und Religionszwietracht führte und somit Anarchie und Chaos, Rechtsunfrieden und Rechtlosigkeit durch unübersichtliche und ungeklärte Herrschaftsverhältnisse förderte.62 Für solche Fälle bedarf es der souveränen Herrschaft als höchster und umfassendster Macht, die neben sich keinen Konkurrenten duldet. Das klingt zu Recht nach Thomas Hobbes, aber eben einem nicht mehr anthropologischen Homo-homini-lupus-Hobbes, sondern einem geschichtlich kontextualisierten Hobbes, der seine Aktualität auch heute nicht verloren hat: Wenn die Verhältnisse, aus welchen Gründen auch immer, sich so entwickeln, dass Chaos 58 Siehe zu diesem wie den folgenden Punkten der klassischen wie auch aktualisierten Statuslehre die Illustration anhand des Schaubildes im Anhang unter XII. 59 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 176. 60 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 180. 61 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 429. 62 Zur Kontrastfolie mittelalterlicher Herrschaft siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 17 f., 46 ff.; ders., System (Fn. 4), S. 287; zu den Glaubenskriegen ders., Menschenund Bürgerrechte (Fn. 4), S. 68.

VII. Analyse der Statuslehre im Einzelnen

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und Bürgerkrieg herrschen und jeder um sein Leben fürchten muss, dann besteht die Leistung eines vorrangigen Status subiectionis darin, erst einmal Ruhe und Frieden zu schaffen. Das Leben mag nicht alles und nicht das höchste Gut für menschliche Wesen sein, aber ohne das Leben, den Lebensschutz, die körperliche Integrität, und diese schützende Habeas-Corpus-Rechte63 ist alles andere nichts, jedenfalls existentiell bedroht. Zudem ist die Entwicklung der territorialen Einheitsherrschaft nach Jellinek untrennbar verbunden mit der Nationenbildung, die ein politisches WirGefühl hervorbringt und so meist die Vorstufe für die spätere Demokratisierung im Status activus ist.64 Unter diesen Bedingungen – aber auch nur diesen!65 – ist also schon die unbeschränkte Souveränität performance-orientiert.

2. Vom Lebensschutz zum komplexen Freiheitsverständnis Sobald die Lebensverhältnisse einigermaßen sicher sind, besteht die Chance, dass anspruchsvollere Arten politischer Organisation in den Vordergrund drängen. Jellinek thematisiert diese zweite Dimension im Prinzip der Freiheit, zunächst im Status libertatis in Form von Abwehrrechten gegen das hoheitliche Repressionsarsenal, das, wenn es nicht mehr erkennbar Bedrohungen von Leben oder körperlicher Integrität durch Dritte abwehrt, sondern als „normales Regelungsinstrumentarium“ eingesetzt wird, schnell zu Souveränitätsanmaßungen und Willkürmaßnahmen mutiert. Dem nur Rechtssphären abgrenzenden minimalen Rechtsstaat stehen „die Herzen kalt gegenüber …“66, meint Jellinek; er „setzt im Grunde dem Staate ausschließlich negative Zwecke, er soll nur abwehren und strafen, nichts geben. Die Negation ist und bleibt dem Herzen aber fremd, das Nichts ist kein Objekt für das Gefühl“67. Das weist schon auf die Bedeutung von Status activus und positivus hin. Auch der Status activus mit seinen Mitwirkungsrechten im Allgemeinen bis zum Wahlrecht als Höhepunkt lässt sich als Freiheitsverwirklichung ansehen: Dann steht 63

Während Jellinek die Religionsfreiheit als das „Durchreißrecht“ ansieht, hält Martin Kriele die Habeas-Corpus- Rechte für die ersten und grundlegenden Menschenrechte. Siehe Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn. 4) und dazu Brugger, Historismus (Fn. 29); M. Kriele, Habeas Corpus als Urgrundrecht, in: ders., Recht, Vernunft, Wirklichkeit, 1990, S. 71 ff. 64 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 48 ff., 57 ff.; ders., Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 262 ff. 65 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 20: „Sobald nämlich die neue Gesellschaftsbildung vollendet ist, hat der Absolutismus seine weltgeschichtliche Rolle ausgespielt. Er wird unvernünftig, wie jede politische Idee, die nicht mehr schöpferisch zu wirken vermag.“ Erhellend zu dieser Ebene auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, §§ 9 ff. zur Souveränität als Bedingung inneren Friedens, sowie U. Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion, 2008, S. 15 ff. 66 Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 56. 67 Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 57.

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nicht mehr die Abwehr von Bevormundung und Reglementierung durch die Staatsgewalt im privaten, gesellschaftlichen, ökonomischen oder religiösen Bereich im Vordergrund68, sondern deren Umwandlung von einer fremden Macht in eine eigene: Mitwirken statt Abwarten69, kollektive Selbstregierung statt Fremdregiertsein. „[N]ur sich selbst kann niemand unrecht thun“, sagt Kant.70 Ähnlich äußert sich Jellinek, der wie Kant noch in der Monarchie lebte und ebenfalls wie Kant der Richtung nach schon eine Demokratie bzw. Republik anzielt: „Frei ist derjenige, der niemand unterworfen ist als sich selbst; das ist die zweite weltgeschichtliche Nuance der Freiheitsidee in der neueren Geschichte.“71 72 Von hier ist es auch kein großer Schritt mehr zu heutigen Beschreibungen dieser Dualität von Freiheitsdenken etwa bei Habermas.73 Die Volksherrschaft steht aber immer noch über das Majoritätsprinzip in der Gefahr der Vergleichgültigung derjenigen Individuen und Gruppen, die nicht nur vorübergehend politisch verlieren, sondern aus welchen Gründen auch immer permanente, strukturelle Minderheiten darstellen, die keine Chance auf Erlangung politischer Macht haben.74 Um diese Bevölkerungsteile als Volksmitglieder oder -genossen zu integrieren, bedarf es zusätzlich des Status positivus, der materiell – etwa über ein garantiertes Existenzminimum – und prozedural – über die gerichtliche Geltendmachung streitiger Ansprüche – diese Individuen und Gruppen politisch und rechtlich inkludiert statt exkludiert. Erst im Zusammenwirken dieses dreidimensionalen Freiheitsbegriffs, dem zudem noch eine Vitalvoraussetzung für Freiheitsentfaltung überhaupt – Lebensschutz – vorgeschaltet ist, hat nach Jellinek die „ethische Moderne“ in der Entwicklung des modernen Verfassungsstaats eine, wenn 68

Siehe eindrücklich Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 51. Eindrücklich beschrieben von H. Joas, Die Kreativität des Handelns, 1992, S. 374. 70 Siehe I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: Werke, Preußische Akademieausgabe Bd. VIII, 1968, S. 294 f. zum Prinzip der Selbständigkeit: „Alles Recht hängt nämlich von Gesetzen ab. Ein öffentliches Gesetz aber, welches für Alle das, was ihnen rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soll, bestimmt … [sollte] niemand … Unrecht thun können. Hiezu aber ist kein anderer Wille, als der des gesamten Volkes (da Alle über Alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt) möglich: denn nur sich selbst kann niemand unrecht thun.“ 71 Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 53 f. 72 Überschlägig betrachtet kann man Jellinek als Liberalen und „auf dem Weg befindlichen“, aber noch nicht ganz angekommenen Demokraten ansehen. Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 140 f., 287 f. und Kempter (Fn. 1), S. 309 ff., insbes. S. 311, 321, 325 ff., 333. 73 Siehe J. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl., 1992, Kap. III-I zur Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie. Diese Konzeption findet viel Zustimmung in der gegenwärtigen Staats(rechts)lehre. Siehe exemplarisch Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, § 2 I bis III; H.-M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 285 ff. Peter Häberles Kritik an Jellineks Statuslehre, wonach diese den Grundrechten ein „aktiv-bürgerliches Moment“ vorenthalte, ist also überzogen: Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl., Karlsruhe 1972, S. 18. 74 Dazu immer noch erhellend Jellineks Schrift über die Minoritätenrechte: Jellinek, Minoritäten (Fn. 4), S. 27 ff. 69

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nicht sogar die Vollform oder Erfüllungsgestalt angenommen.75 „Fürsorge für alle Klassen des Volkes, Befriedigung eines jeden gerechten Interesses, Herstellung des sozialen Friedens, das sind die Leitsterne der modernsten Politik, das ist das Ergebnis, aus dem die neueste Gestaltung der Staatsidee entspringt.“76 Man sieht leicht, dass diese Konzeption mindestens genauso viel Differenzierungspotential in sich trägt wie etwa Isaiah Berlins „Two Concepts of Liberty“77 oder John Rawls’ Unterscheidung von Recht auf Freiheit und Wert der Freiheit.78

3. Vom Freiheitsverständnis zum Gleichheitsverständnis Dieser Aufbau der drei bzw. vier Freiheitsdimensionen lässt sich auch in Kategorien von Gleichheit79 darlegen: Der Status subjectionis war unverzichtbare Voraussetzung zur Ersetzung der vielen Ungleichheiten und Privilegierungen im feudalen und ständischen Staat durch die eine große Gleichheit als Untertan, die zur „Nivellierung der Gesellschaft“80 führte, zur „Nivellierung der sozialen Unterschiede, Herabdrückung aller dem Könige Untergebenen auf das gleiche Maß von rechtlicher Verpflichtung gegen die Krone“81. Die souveräne Herrschaft ersetzte die vielen états durch einen état mit klarem Oben und Unten: Herrscher und Untertan82, der zum Staatsangehörigen wurde.83 Mittels des Status negativus konnten die Un75 Siehe die geschichtlichen Rekonstruktionen des modernen Staates in Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), Nr. 34 – 36 und ders., Staatslehre (Fn. 4), Kap. 10 – 5. Die Nähe etwa zum Freiheitsfunktonalismus bei Heinig (Fn. 73), S. 176 ff., 211 ff., oder R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, Kap. C wie generell zu allen Autoren, die mit einem komplexen Freiheitsbegriff arbeiten, ist offensichtlich. 76 Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 61. 77 Siehe I. Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1958), in: ders., Freiheit. Vier Versuche, 1995, S. 197 ff. 78 Siehe J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, Nr. 32 über „Der Begriff der Freiheit“. 79 Man könnte auch noch an andere Leitbegriffe denken. Etwa an Leben: vom Überleben zum guten und selbstbestimmten Leben. Oder von formaler zu realer und repräsentativer Demokratie. Oder von minimaler zu entfalteter Legitimität. Oder vom preventive state zum protective state. Oder von formaler zu materialer Gerechtigkeit. Oder von formaler Republik (keine Monarchie) zu reicher, materialer Republik. Siehe zu diesen Möglichkeiten StL 48; W. Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, S. 374 ff.; M. Anderheiden, Republik und Gemeinwohl, 2008, Kap. 7 und 8; S. Kirste, Rechtsphilosophie, 2010, Kap. IV 4, 5. 80 Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 18. 81 Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 19; siehe auch ders., System (Fn. 4), S. 135, wonach Rechtsgleichheit „eine grundsätzliche Verneinung ständischer und konfessioneller Abstufung des Rechts“ beinhaltet, ferner „die allgemeine Verpflichtung des Staates, Gleiches mit gleichem Masse zu messen, sowohl in Gesetzgebung, als in Gericht und Verwaltung“. 82 Siehe schon die Zitate oben nach Fn. 58. 83 Siehe die ausführliche verfassungsgeschichtliche Analyse bei Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, §§ 18 und 19.

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tertanen eine Distanz zwischen Herrschen und Gehorchen einlegen; damit war die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft gesetzt, ein Mindestmaß von Liberalismus gesichert: „Als das [absolute] Königtum … stirbt, tritt … die moderne Gesellschaft sein Erbe an.“84 Damit war auch formelle Chancengleichheit gesichert, aber noch keine materielle Chancengleichheit, das setzte den Kampf um den Status positivus voraus. Dieser wiederum wurde erheblich gefördert durch die Angleichung der Wahlrechte und letztlich das allgemeine und gleiche Wahlrecht aller Bürger, der Frauen inklusive85, acht Jahre nach Jellineks Tod, 1919 in der Weimarer Reichsverfassung. Es verwundert also nicht, wenn Rechtsphilosophen wie Gustav Radbruch86 im Gleichheitsprinzip das wesentliche Gerechtigkeitselement sehen oder wenn Ronald Dworkin neben „equal respect“ für die unterschiedlichen Lebenspläne der Individuen, also den Status libertatis, noch „equal concern“, gleiche Sorge im Status positivus, einfordert.87

4. Problem – Lösung, Fortschritt – Kontingenz – Entwicklung, subjektive und objektive Garantien im Recht Die Entwicklung der vier Jellinekschen Status wie der folgenden neueren Status hat sich nicht von selbst oder naturwüchsig ergeben. Sie resultierten alle aus Problemen, die als solche von Betroffenen, meist Untertanen, dann Besitzbürgern, dann sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten bei den Herrschaftsträgern als ungerecht oder unzweckmäßig angemahnt und nicht selten politisch, gegen Widerstände, durch Kampf errungen wurden.88 Auch die Wahl einer geeigneten Lösung kann 84

Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 20. Siehe Art. 22 WRV. Hier ist einer der wenigen Punkte, an denen die deutsche Verfassungsgeschichte nicht „verspätet“ war (Fn. 96), sondern früher als andere Vergleichsstaaten agierte. So wurde das Frauenwahlrecht in den USA erst durch eine Verfassungsergänzung 1920 eingeführt. Jellineks Frau Camilla war eine frühe Kämpferin für gleiche Frauenrechte, siehe Kempter (Fn. 1), Kap. VI 5 und IX. 86 Siehe G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 1999, § 9. 87 Siehe R. Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass. 1978, S. 180 ff., 272 ff., 292. 88 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 50 f.; ders., Menschen- und Bürgerrechte, S. 127 und ders., System, S. 95 f.: „Die einzelnen Grundrechte sind … in ihrer konkreten gesetzlichen Fassung nur historisch verständlich. Sie sind … zuvörderst Negationen bisher in Kraft gewesener Beschränkungen. Weil es früher eine Zensur gab, wurde Pressfreiheit, weil Gewissenszwang herrschte, Glaubensfreiheit proklamiert.“ Gleichsinnig R. A. Nisbet, Community and Power, New York u. a. 1962, S. 87 f. Jellineks Analyse in Form von ProblemLösung bzw. Ungerechtigkeit-Gerechtigkeit nimmt die Motive auf, die Michel Foucault in einseitigerer Form dann in den 1970er Jahren als weitgehend negativ konnotierte Unterdrückungsgeschichte analysiert hat, ohne die Zunahme an Problemlösungskompetenz, sprich: angereichertem Gerechtigkeitsdenken angemessen einzubeziehen. Siehe exemplarisch M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, 1974, in dem Kapitel „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 95: „Die Menschheit schreitet nicht langsam von Kampf zu Kampf bis zu 85

VII. Analyse der Statuslehre im Einzelnen

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kontrovers sein; das zeigt exemplarisch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Auseinandersetzungen darüber, ob die schlimme Lage des Proletariats durch eine soziale Umgestaltung der sich industrialisierenden Gesellschaft oder durch Sozialismus und Kommunismus gebessert werden sollte.89 Grob allerdings – dem Konzept und nicht schon der konkreten Konzeption90 nach – lassen sich, wie Jellineks Entwicklungsreihe zeigt, gewisse sich anbietende subjektiv-rechtliche und objektivrechtliche, institutionelle Lösungen jeweiliger Probleme benennen. Also etwa: Kaum macht sich der souveräne Staat breit und sorgt für Ruhe und Ordnung, ist der Boden bereitet für Rufe nach mehr Freiheit vom Staat, was bei klugen Souveränen zu mehr Zurückhaltung führt, aber in der Regel politische Kämpfe gegen die Staatsmacht erfordert. Die funktionelle Sicht des Staates ist in der Regel verknüpft mit historischen Kämpfen um institutionelle und subjektivrechtliche Neujustierung der kollektiven politischen Macht.91 Bei all dem ist keine Geschichtsautomatik, gar im Sinne eines unvermeidlichen Fortschritts, eingebaut. Es ist dies ein historischer Kontextualismus, dessen Grundlage die geschichtliche Kontingenz der Ereignisse ist, die zum Bewusstsein und der Formulierung eines Problems guter Herrschaft und der Durchsetzung der nächsten Entwicklungsstufe führt, von der nicht nur eine Änderung der Lage, sondern eine bessere Zweckbestimmung und -durchsetzung erwartet wird.92 Die komeiner universellen Gegenseitigkeit fort … sie verankert alle ihre Gewaltsamkeiten in Regelsystemen und bewegt sich so von Herrschaft zu Herrschaft.“ Hierzu die kritische Analyse von Y.-L. Chiang, Umdenken des Verfassungsstaates im Anschluss an Michel Foucault, 2003. 89 Generell zum Problem-Lösung-Denken E.-J. Lampe, Grenzen des Rechtspositivismus, 1988, S. 196 ff., sowie viele Denker des Pragmatismus, zusammengefasst von H. Joas/ W. Knöbl, Sozialtheorie, 2004, S. 188 f., 717 f., 722 f. Siehe auch das entsprechende Kapitel 10 I bei Stolleis (Fn. 1), Bd. 1, 1988, S. 394 ff.: „Die Entstehung des öffentlichen Rechts als Antwort auf Krisen der frühen Neuzeit“. 90 Zu dieser Unterscheidung von John Rawls und Ronald Dworkin siehe Brugger, Liberalismus (Fn. 79), S. 111 f., 119, 237 f., 333. 91 Siehe zur in der Regel notwendigen Ergänzung von objektiv- und subjektivrechtlichen Elementen im Recht Jellinek, Staatslehre, S. 343; ders., System (Fn. 4), S. 8: „Jedes subjektive Recht setzt das Dasein einer Rechtsordnung, durch die es geschaffen sowie anerkannt und in grösserem oder geringerem Masse geschützt wird“, voraus, sowie ders., System (Fn. 4), S. 16: „Vorstellung von subjektiven Rechten und objektiven rechtlichen Institutionen“, und S. 26. Das Schaubild bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass die jeweils erkämpften Status mit einem spezifischen und zentralen Schutzgut zu tun haben, das subjektivrechtlich und objektivrechtlich zu passenden Instrumentarien führt. Die einzelnen ordnungsrechtlichen Instrumente sind in der 3. Spalte aufgeführt, daneben in der 4. Spalte auch noch die jeweils herausragenden Vertreter der Politischen Philosophie und Rechtsphilosophie. Wie in Fn. 79 dargelegt, könnte man das Schutzgut auch anders als „Freiheit“ nennen. Freiheit steht aber bei Jellinek selbst an den meisten Stellen im Vordergrund; das trifft auch auf die Mehrzahl moderner staatswissenschaftlicher Arbeiten zu. Siehe exemplarisch Grabitz (Fn. 6); Möllers und Heinig (Fn. 73). 92 Jellineks Analyse des Entwicklungsgedankens in Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 42 ff. ist so qualitätsvoll wie neuere Darstellungen der Stärken und Schwächen des Entwicklungsdenkens in Recht und Staat, etwa bei Nonet/Selznick, Law and Society in Transition. Toward Responsive Law, 2. Aufl., New Brunswick 2001, Kap. I und im Epilogue.

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§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

plexere Staatsaufgabenbestimmung soll das Anlassproblem – etwa Souveränitätsanmaßungen – bewältigen, durch Freiheitsrechte, horizontale und vertikale Gewaltenteilung samt Scheidung weltlicher von geistlicher Macht, wird aber in der Regel selbst wieder neue Problemen erzeugen wegen der immer zu erwartenden „unintended consequences“ selbst des kreativsten Handelns oder der rationalsten Planung.93 Kontingenz meint zumindest: kein Determinismus, aber auch nicht bloße Zufälligkeit, sondern Abhängigkeit der Realgeschichte samt der sie reflektierenden philosophischen Begrifflichkeit und der jeweils passenden institutionellen Arrangements von den Deutungen, Bewertungen und kreativen Handlungen aller beteiligten Akteure.94 Es hätte auch anders kommen können, aber es ist in dem, was Jellinek für seine Zeit beschreibt, nicht anders gekommen. Rückblickend spricht auch einiges dafür, dass die von ihm genannten Probleme und Problemlösungen „standard threats“95 und „standard solutions“ kollektiver Organisation darstellen. Die Abfolge der vier klassischen Status ist also eine funktionelle, die nicht identisch mit der historischen Ereignisgeschichte sein muss; die Benennung „verspätete Nation“ für Deutschland macht das deutlich.96 Das Schaubild bringt diese Flexibilität je nach Lage und historischer Kontingenz dadurch ein, dass bei den institutionellen Lösungen jeweils nur Konzepte oder Prinzipien wie Gewaltenteilung oder Kommunikationsgrundrechte genannt sind; wie die konkreten Konzeptionen oder Regeln faktisch aussehen oder aussehen sollten, sagt eine solche abstrakte Bezeichnung nicht. Das wird von Land zu Land und in den einzelnen Geschichtsperioden verschieden sein und auch in Ländern mit im Prinzip übereinstimmender Wert- und Verfassungsstruktur zu Divergenzen und Konkurrenzen führen, etwa bei der Bewertung von Hassrede.97 Allerdings gibt es in den grundsätzlichen Arrangements, wie Jellinek meint, in aller Regel nicht unendlich viele institutionelle Optionen.98 Der Werkzeugkasten ist beschränkt, und die Minimalverständnisse der Organisationsprinzipien wie etwa Demokratie (Wahl- und Abwahlmöglichkeit in überschaubaren Zeiträumen) und Gewaltenteilung (keine Allmacht in einem Zweig der Staatsgewalt; gegenseitige Kontrolle) waren damals und sind auch heute noch konsentiert. Die Anreicherung des Staatsverständnisses auf der Ziel- und Zweckebene ist nicht nur etwas Gutes, sondern auch etwas Problematisches: „Entwicklung ist nur jene 93 Die „unintended consequences“ hat schon Jellinek beschrieben: Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 49; siehe auch Joas, Kreativität (Fn. 69), S. 345. 94 Siehe zu diesen Punkten schon oben Fn. 89 zu Joas/Knöbl, sowie Joas, Kreativität (Fn. 69), Kap. 4.2 und 4.3. 95 Siehe zu diesem Ausdruck H. Shue, Basic Rights: Subsistence, Affluence, and U.S. Foreign Policy, 2. Aufl., Princeton, N.J. 1996, S. 17, 29 – 34. 96 Siehe den gleichnamigen Buchtitel von Helmuth Plessner (1935), 1974. Der Sache nach spricht Jellinek dies schon an: Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 48, 52 f. 97 Siehe W. Brugger, Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und zum amerikanischen Recht, AöR 128 (2003), S. 372 ff. 98 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 40 und 13 Fn. 1: „Sorgsame historische Untersuchung lehrt, dass für alle ethischen, politischen und juristischen Grundfragen eine bestimmte Zahl typischer Lösungen existiert.“

VIII. Status vor dem modernen Staat?

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Änderung, die vom Einfachen zum Komplizierten führt.“99 „Die einmal geschaffenen Institutionen … ändern allmählich ihre Zwecke; neue Zwecke treten hinzu und überwiegen häufig die alten gänzlich oder drängen sie in den Hintergrund ….“100 Je zahlreicher die Facetten von Freiheit oder Gleichheit oder Demokratie sind und je anspruchsvoller die Anforderungen an die Staatsmaschine formuliert werden, desto größer ist die Gefahr, dass die Erfüllung der einen Funktion auf Kosten einer anderen geht101; desto eher werden also Spannungen und politische Streitigkeiten bzw. heutzutage Verfassungskonflikte auftreten: Meint Säkularisierung eine strikte Trennung von Staat und Kirchen, oder werden Kooperation und Verweis auf christliche Traditionen erlaubt?102 Wenn mit der Liberalisierung, also der Beschränkung und Disziplinierung und Kultivierung der Staatsmacht durch den Status negativus, ernst gemacht wird, lässt sich dann noch effektiv brutalen Angriffen auf das Lebensrecht der Bevölkerung entgegnen, etwa in Fällen von finalen Todesschüssen oder von Terroristen gekaperten Flugzeugen?103 Wenn die sozialen Rechte umfangreicher werden und sich weite Teile der Bevölkerung auf staatliche Leistungen einstellen, wo genau muss dann Verzicht auf Distanzierung von staatlicher Reglementierung und auf Begrenzung von Besteuerung geleistet werden?104 Wie genau sollte die Freiheit des Status libertatis mit der Sicherheit des Status subiectionis abgewogen werden?105 Schon die Fragen machen deutlich, dass hier in der Regel Kompromisse und Abwägungen notwendig werden, je nach Spannung oder Widerspruch, Normallage oder außergewöhnlicher Lage. Deshalb ist leicht einzusehen, dass Grund- und Menschenrechte nicht nur nach organisatorischer Ausgestaltung verlangen, sondern auch nach Beschränkungsvorbehalten.

VIII. Status vor dem modernen Staat? Gab es vor dem modernen, souveränen Staat schon Statusverhältnisse? Die Antwort ist: ja und nein! Für alle vier Status gab es nach Jellinek106 schon im mit99

Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 43. Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 47. 101 Allgemein hierzu Nonet/Selznick (Fn. 92), im Epilogue. Siehe auch Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 61 zu sozialistischen Forderungen im Rahmen des Status positivus, die die vorherigen Stadien der Rechtsentwicklung bedrohen würden. 102 Siehe W. Brugger, Distanz, Gleichheit, Nähe. Drei Staat-Kirche-Modelle, in: Astrid Reuter/Hans G. Kippenberg (Hrsg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, 2010, S. 119 – 143, passim. 103 Siehe Brugger, Liberalismus (Fn. 79), Kap. 18 und BVerfGE 115, 118. 104 Siehe Heinig (Fn. 73) und P. Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit, 2004. 105 Siehe W. Brugger, Freiheit und Sicherheit. Eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen, 2004; W. Hassemer, In dubio pro libertate, 2009. 106 Siehe Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn. 4), S. 31 ff. und 69 ff. (zum Verhältnis englischen und germanischen Rechts); Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 327 f. (zum Verhältnis 100

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§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

telalterlichen, feudalen Staat und im alten Reich funktionelle Äquivalente, allerdings in im Schutzumfang und der Subjektivierung abgeschwächter Form: Der Status subiectionis war für die Betroffenen kein territorial-sachlicher Unterworfenheitsstatus mit allgemeiner Gehorsamspflicht gegenüber den Anordnungen und Regelungen des Rechtssubjekts Staat; stattdessen waren sie Untertanen des Leibherrn oder Landesherrn; in diesem Abhängigkeitsverhältnis waren Dienst- und Abgabepflichten der Untertanen mit Fürsorgepflichten des Herrschers seinem Volk gegenüber korreliert. Den Herrscherpflichten entsprach zwar kein individuelles Klagerecht vor unabhängigen Gerichten, aber als objektive Pflicht des Herrschers zur Fürsorge um Leib und Leben sowie Familie und Ehre der Untertanen bestand ein Analogon zum Status positivus, wenngleich die faktische Aufgabenerfüllung dem Leitbild des guten Fürsten nicht immer entsprach. Das funktionelle Äquivalent zum Status libertatis bildet der „Dualismus zwischen Königsrecht und Volksrecht …, den das Mittelalter niemals überwunden hat“107. Späterhin „stehen [die Stände] überall als selbständige Körperschaften dem Könige oder Landesherrn gegenüber“108 ; oft werden die gegenseitigen Rechte und Pflichten vertraglich geregelt. Wahlrechte des Status activus waren bei weitem nicht so verbreitet wie zu Jellineks Zeiten, wo der Parlamentarismus als Forum der Volksrechte dabei war, sich immer mehr Rechte gegen den Monarchen zu erkämpfen, aber besonders herausgehobene Stände wie Fürsten, Geistliche und freie Städte hatten sich Wahl- und Mitspracherechte für Königs- und Kaiserwahlen erkämpft; das einfache Volk konnte sich mit Rechtsschutzbegehren an die Herrscher wenden. Die Entstehung des modernen Einheitsstaates in Form der königlichen Territorialitätsherrschaft und insbesondere des Absolutismus stellte demgegenüber, wie Jellinek treffend sagt, eine Einverleibung der vielen Herrschaftsmächte nach oben dar, verbunden mit einer Gleichschaltung der vielgliedrigen Untertanenebenen nach unten, in Richtung eines Staatsvolkes mit einheitlichem Staatsbürger- und Gehorsamsstatus.109 Mit dem Erreichen dieser breitflächigen Nivellierung über souveräne Macht hatte das erste Stadium des modernen Staates aber auch seine weltgeschichtliche Aufgabe der Etablierung von Einheitsherrschaft statt Zersplitterung, Rechtsfrieden statt Unfrieden und Vergesellschaftung statt Feudalisierung erfüllt.110 König – Volk); S. 316 ff. (zum Verhältnis mittelalterlicher „Staat“ und neuzeitlicher Staat); ders., Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 17 f. (zur mittelalterlichen Herrschaft); S. 53 (Zurückführung der königlichen Herrschaft im Mittelalter auf das Volk); S. 237 ff. (Entwicklung des Parlamentarismus); ders., System (Fn. 4), S. 287 (Ausdehnung der Wahlrechte). Siehe dazu auch Grawert (Fn. 83), vor allem in Teil 1; P. Graf Kielmannsegg, Volkssouveränität, 1977, Kap. 1 und 2. 107 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 319. 108 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 320. 109 Siehe schon oben Abschnitt VII. 1. und zum Beispiel Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 18 f., 47 ff. 110 Dieser Schritt ist nicht nur für die Art und den Umfang von Herrschaft entscheidend, sondern auch für die Art und Weise, wie juristisches Denken samt seinen staatsrechtlichen Begriffen konstruiert wird. Erst in einer solchen Lage wird die mittelalterliche Heterarchie von

IX. Statusverhältnisse unterhalb der Staatsebene

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Die höchste Gewalt wandert vom König als natürlicher einheitsverkörpernder Person zum Staat als einheitlicher juristischer Person. Deren Einheitsgewalt wird dann, wie die geschichtliche Entwicklung zeigt, durch die Status libertatis, activus und positivus zunehmend intern ausdifferenziert, transformiert und positiv auf seine Gemeinwohlaufgabe als Heimstätte aller Bürger hin orientiert.

IX. Statusverhältnisse unterhalb der Staatsebene Die Staatsgewalt ist seit Entstehen des modernen souveränen Flächenstaates eine einheitliche.111 Sie hat sich im absolutistischen Anfangsstadium alle vormals konkurrierenden Kräfte einverleibt oder aber, im Falle der Kirche, wenn schon nicht gleich, so doch auf Dauer eine Distanz zwischen weltlichen und geistlichen Akteuren und Zuständigkeiten eingelegt.112 Der sich fortentwickelnde Staat hat aber in vielen Fällen auch „Ausverleibungen“ in Formen mittelbarer Staatsverwaltung vorgenommen, etwa bei den Kommunen.113 Die Länder in Bundesstaaten stellen ebenfalls solche Ausverleibungen dar.114 In all diesen Fällen finden sich nach Jellinek Analogien zu den vier Status auf der Zentralebene. Das hat zwei Gründe: Zum ersten liegt das im Charakter einer jeden ausgegliederten staatlichen Organisation als kollektive „Zweckerledigungsgemeinschaft“115: Soweit ein Träger mittelbarer Staatsgewalt für eine bestimmte Aufgabe – wie die Gemeinde bei der Erledigung lokaler Angelegenheiten – „eine bessere Erledigung“116 erreichen kann als die höhere Ebene, Rechtsminderung und Rechtsprivilegierung ersetzt durch eine klare Hierarchie mit einer Spitze, erst dann kann von Einheit von Recht und Organisation/Staat die Rede sein, erst dann wird der Begriff der Souveränität fassbar, erst dann existieren Staatsbürger in einem einheitlichen Verstande, erst dann lassen sich Begriffe wie Konsistenz oder Kohärenz sinnvoll andenken. Erst dann kann, weitergedacht, eine Reine Rechtslehre sinnvoll über eine hypothetische Grundnorm an der Spitze der Hierarchie nachdenken. Das ist der Hintergrund der oben Abschnitt I skizzierten juristischen Logik. Siehe zu diesen Zusammenhängen Stolleis, Geschichte (Fn. 1), Bd. 1, Kap. 10. 111 Siehe etwa Jellinek, System (Fn. 4), S. 26 f., 229. 112 Zu Staat-Kirche-Verhältnissen näher Jellinek, System (Fn. 4), S. 272 f. 113 Siehe generell Jellinek, System (Fn. 4), Kap. 11 – 17 zu privatrechtlichen wie öffentlichrechtlichen Verbänden. 114 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), Kap. XVIII, S. 294 ff.: „Die Gliedstaaten sind Mitglieder des Bundesstaates. In dieser Eigenschaft empfangen sie notwendig die mehrfache Qualifizierung, die sich für jede Persönlichkeit aus der Mitgliedschaft an einem Gemeinwesen ergeben“ (S. 295). Dann folgt die Aufzählung der einzelnen Status. Dazu auch Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 253 ff. 115 Siehe schon oben Abschnitt III; S Kap. 3 sowie Brugger, Jellinek (Fn. 16), Abschnitt III. 116 Jellinek, System (Fn. 4), S. 267; siehe auch ders., Staatslehre (Fn. 4), S. 260 zum Gesichtspunkt „zweckmäßigster Weise“. Zu einer Positionierung dieses Gesichtspunktes im Rahmen dreier Säulen des Gemeinwohls – Rechtssicherheit, Legitimität, Zweckmäßigkeit – siehe W. Brugger, Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und

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§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

sprechen Gründe der Zweckmäßigkeit für eine solche Ausverleibung. Zum zweiten kommt hier das Homogenitätsprinzip zum Tragen: Auch eine organisatorisch ausgegliederte Staatseinheit bleibt ein Träger öffentlicher Gewalt und muss jedenfalls im Wesentlichen die Legitimationskriterien erfüllen, die für den machtdelegierenden Träger konstitutiv sind: also eine sinnvolle gegenseitige Verweisung der vier Status. Das zeigt sich exemplarisch an der kommunalen Selbstverwaltung117: Von der Genossenschaftstheorie noch als ursprüngliche und eigenständige Hoheitsmacht angesehen118, ist sie nach Jellinek – und ist sie heute noch – ein Träger delegierter öffentlicher Macht. Deshalb muss die Statuslehre analog und kann nicht direkt herangezogen werden: Der gemeindliche Status subiectionis erstreckt sich auf den Umfang delegierter Regelungsbefugnisse, insbesondere bei Eingriffen in Freiheit und Eigentum; deren Wahrnehmung kann verpflichtend oder aber freigestellt sein. Der beschränkte Umfang solcher Kompetenzen umreißt gleichzeitig den Status libertatis der Gemeindebürger, wie umgekehrt die Selbstverwaltungsträger in den ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten ihren Status negativus gegen staatliche Übergriffe geltend machen können; wie schon beim Bürger ist auch hier die positive Rechtsschutzkomponente korreliert. Der Status positivus besteht ansonsten im konkreten Aufgabenbereich, also bei der Allzuständigkeit für die lokalen Angelegenheiten: „Armenpflege …, Volksschulen, Gymnasien … Spitäler … Strassenbeleuchtung, gutes Trinkwasser, Reinlichkeit der öffentlichen Plätze, Bepflanzung von Gärten … Kanäle …“119. Die Wahl- und Mitwirkungsrechte werden doppelt wirksam: in der demokratischen Struktur des Gemeinde- oder Stadtrats; zwischen Selbstverwaltungsträger und Staat kann man heutzutage eine sekundäre Komponente des Aktivstatus in den prozeduralen Kompensationsmechanismen bei Beschränkungen des Umfangs der lokalen Angelegenheiten sehen. Ähnliche Statusstrukturen, in jeweiliger Anpassung an den Hauptzweck der Organisation, sieht Jellinek bei allen mit Imperium versehenen Verbänden, etwa bei „Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten“120. „Indem der Staat einen Verband mit Imperium ausstattet, schafft er zweifache öffentlich-rechtliche Verhältnisse. Er steigert den Status einer solchen Verbandspersönlichkeit bis zum aktiven und qualifiziert die Ansprüche der Verbandsmitglieder sowohl auf Leistungen von

Zweckmäßigkeit, in: ders./S. Kirste/M. Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002, S. 17 ff. 117 Siehe speziell Jellinek, System (Fn. 4), Kap. 17 und ders., Ausgewählte Schriften II, Nr. 45. 118 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 7, 283 ff. Jellinek benutzt aber öfters, wie schon Fn. 31 erwähnt, den Begriff des „Genossen“ in Kontrast zum „Untertanen“. Ersterer ist Mitglied im Verband mit aktiven Mitwirkungsrechten und nur beschränkt subjiziert, also mit Status libertatis versehen. 119 Jellinek, System (Fn. 4), S. 283. 120 Jellinek, System (Fn. 4), S. 268.

X. Neue Status: Status culturalis und oecologicus?

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seiten des Verbandes, als auch auf Teilnahme an dessen Willensbildung, Verwaltung und Rechtsprechung.“121 Selbst wenn kein Imperium verliehen wird, es also um privatrechtliche Vereinigungen geht, besteht die Notwendigkeit einer Legitimitätsabsicherung im Rahmen der rechtlichen Anerkennung des betreffenden Gebildes als juristische Person über eine Kontrolle anhand der vier Status.122 Die einseitige Regelungsbefugnis gegenüber den Mitgliedern ist dann in der Regel ausgeschlossen – das freiwillige Koordinationsmodell herrscht vor. Aber was den Status positivus angeht, das Proprium des Aktivitätsbereichs des Vereins, so wird es keine rechtliche Anerkennung für eine „Räuberbande“123 geben oder, heute, im Rahmen des Art. 21 GG, für politische Parteien, die ihren Mitgliedern eine autoritäre Führerstruktur rechts- oder linksradikaler Couleur aufzwingen statt einen wirklichen Status activus und eines Status libertatis mit Eintritts- und Austrittsoption anzubieten.124 Subjektion liegt vor, soweit diese Verbände für Fehlverhalten einer Rechtssanktion unterworfen werden: von Haftung bis zum Entzug der rechtlichen Anerkennung. Der Status positivus kommt dadurch zum Tragen, dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, Rechtsschutz gegen staatliche Eingriffe zu bemühen; je nach Art der Vereinigung können gesetzlich bestimmte Leistungen dazutreten.125

X. Neue Status: Status culturalis und oecologicus? 1. Exklusivität der vier Status? Jellinek vertritt in dem Einführungskapitel VII des „Systems“, das der ausführlichen Erörterung der einzelnen Status vorgeschaltet ist, eine Exklusivitätsthese: „In diesen vier Status: dem passiven, dem negativen, dem positiven, dem aktiven erschöpft sich die gliedliche Stellung des Individuums im Staat.“126 „Die Revolution und die in ihrem Gefolge vordringende konstitutionelle Idee haben das Werk des Absolutismus nicht gestört, sondern vollendet.“127 Die vier Status bilden für ihn „eine aufsteigende Linie“128. Was Letzteres meint, ist schon erörtert worden: eine im Laufe der modernen Geschichte bis 1900 sowie weitergedacht bis heute meist über poli121

Jellinek, System (Fn. 4), S. 269. Siehe Jellinek, System (Fn. 4), Kap. VI und zur Abgrenzung „öffentlich“ und „privat“ auch Kap. V. 123 Jellinek, System (Fn. 4), S. 30. 124 Siehe BVerfGE 2, 1; 5, 85. 125 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 261. 126 Jellinek, System (Fn. 4), S. 87. 127 Jellinek, System (Fn. 4), S. 287. 128 Jellinek, System (Fn. 4), S. 87. 122

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§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

tischen Kampf erreichte Anreicherung des modernen Konstitutionalismus in Form eines komplexen Freiheits-, Gleichheits-, Lebens-, Demokratie-, Republik- und Gerechtigkeitsverständnisses.129 Damit hat die Konstitutionalisierung an die Stelle der „Verschlingung“ aller Herrschaftsmächte im souveränen Staat eine selbst auferlegte „Entschlingung“ gesetzt, an die Stelle der „Ein-Verleibung“ ist die „VielVerleibung“ in Form von unterschiedlichen Personen und Persönlichkeiten mit eigenem Rechtsstatus getreten, aber eben für Jellinek immer ausgehend von der Einheitsplattform der Staatsorganisation. Ist die Folgerung des Abschlusses der Statuslehre zwingend? Oder zu restriktiv? Solche Fragen betreffen alle Autoren, die seit dieser Zeit die vier klassischen Status um neuere Status ergänzt haben. Exemplarisch ist Peter Häberle zu nennen, der in zahlreichen Publikationen für eine Ergänzung der Jellinekschen Status etwa um den Status activus processualis, den Status Europaeus und den Status mundialis hominis eingetreten ist.130 Zunächst ist das Argument zu großer Restriktivität der Statuslehre, wenn sie denn nur die vier klassischen Ausformungen umfasste, zu relativieren: Die vier Status decken, wie Jellinek an vielen Stellen deutlich macht, zahlreiche Rechte und Ansprüche ab: So umfasst etwa der Status positivus alle möglichen Arten von sozialstaatlicher Tätigkeit, aber eben auch die Rechtsschutzkomponente. Es ist kein Problem, diese Ebene im Sinne der neueren deutschen Grundrechtsdogmatik131 nicht nur im Reaktionsmodus schon geschehener Verletzungen und gerichtlicher Kontrolle zu verstehen, sondern vorzuverlagern auf präventive Anhörungsrechte oder vorbeugenden Rechtsschutz. Dafür spricht der von Jellinek diagnostizierte Weg der Moderne zur stärkeren Bedeutung des Individualrechts132, was man als Argument für eine Effektivierung des Freiheits- und Aktivstatus ansehen kann. In diesem Sinne könnte man den Häberleschen Status activus processualis als eine Untergliederung oder Verfeinerung der Jellinekschen Status einstufen; der Jellineksche Rahmen würde im Umfang der Rechte, aber nicht in der Grundkategorie des Status überschritten.133 Ein zweites Beispiel: Der Status libertatis ist bei Jellinek vor allem als Begrenzung des Umfangs staatlicher Regelungsmacht entwickelt, aber nichts hindert einen daran, auch Regelungsmodalitäten über den Status libertatis zu unterscheiden und so einzutreten für einen Vorrang argumentierender, motivierender und influenzierender statt reglementierender und imperativer Instrumentarien.134 129

Siehe oben Abschnitt VII 2, 3 mit Fn. 79. Siehe Häberle (Fn. 7), S. 132, 213, 407, 450, 724 ff., 744; ders., Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl., 2009, S. 355 f. Nachweise zu weiteren Vorschlägen einer Statusergänzung bei Alexy (Fn. 6), S. 209; Pauly (Fn. 6), S. 228. 131 Siehe etwa Pieroth/Schlink (Fn. 9), Rn. 99. 132 Siehe oben Abschnitt V. 133 Nachweise hierzu bei Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 9), § 32 Rn. 23. 134 Die Motivationsebene wird von Jellinek ausführlich behandelt. Siehe etwa Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), Kap. IV, insbesondere Abschnitt III 10, sowie Kap. 22 I. Generell gilt: Die hier vorgenommene Aktualisierung der Statuslehre könnte im Hinblick auf die Verwaltungsrechtstypen auch noch ergänzt werden. 130

X. Neue Status: Status culturalis und oecologicus?

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Was die logische Ebene des Problems angeht, so ist die schon in Abschnitt VI. dargelegte Struktur von „Status“ zu den mit ihm zusammenhängenden subjektiven öffentlichen Rechten und den aktualisierten einzelnen Ansprüchen zu bedenken. „Status“ ist für Jellinek ein „juristisches Sein“ des Menschen im Staat, ein streng persönliches, dauerndes, konstitutives, qualifizierendes, identitätsbestimmendes Verhältnis zweier Rechtssubjekte mit Relations- und insbesondere Gegenseitigkeitscharakter, wobei die Relationen sich dann in die vier Status ausgliedern. Ab wann eine solche Relation nicht nur ein Mehr-oder-weniger-Haben von Rechten und Ansprüchen, sondern ein identitätsprägendes juristisches Sein darstellt, ist aber weniger eine Frage der Logik, sondern des Empfindens, Einschätzens und der begrifflichen Einordnung der betreffenden Qualifikation oder Relation.135 Das kann beide Ebenen betreffen: Die Logik reicht jedenfalls nicht aus, wenn man bestimmen will, wo genau eine Republik, eine Demokratie, ein Rechtsstaat beginnt oder endet; die Erfahrung in der Konstruktion von Organisationsbegriffen und deren Kontrastierung mit konkurrierenden Konzepten gehört dazu.136 So ist es auch im Relationsbereich Individuum-Staat. Alle vier klassischen Status haben, wie gesehen, Vorläufer im vormodernen Staat. Damit fehlt ihnen die entwickelte Form, aber Status könnte man sie schon nennen, wenn sie denn, was eine begriffliche Frage ist, schon als konstitutive, identitätsprägende Gestalt und Ausformung in der betreffenden Relation zwischen dem Einzelnen und der politischen Herrschaft gesehen worden sind und zu entsprechenden Argumenten für die Verleihung von Rechten und Ansprüchen taugten. In diesem erfahrungswissenschaftlichen und konstruktivistischen Sinn wären die vier Status nicht ein für allemal abschließend, sondern nur herausragende Beispiele für ein aufeinander abgestimmtes, gut funktionierendes, gegenseitig Effektivität und Legitimität absicherndes „System der öffentlichen Rechte“137 der einzelnen Menschen und Bürger, samt deren vorausliegendem Passivstatus des Rechtsgehorsams. Wenn denn neue Rechte und Ansprüche dazutreten, die auf einen neuen Status schließen lassen, wäre das nicht ausgeschlossen; wie viele und wie wichtige Rechte dies sein müssen für eine Statuskreation im Jellinekschen Sinne, kann streitig sein. In diesem Sinne könnte man folgende Stelle von Jellinek lesen, wo

135 Ein aktuelles Beispiel hierzu: In seinem Urteil vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag hat das BVerfG erhöhte Anforderungen parlamentarischer Legitimation an die Abgabe von Souveränitätsrechten für den Fall gestellt, dass die Machtverschiebung die politische „Identität“ der Bundesrepublik Deutschland betrifft; BVerfGE 123, 267. Die Logik kann diesen Punkt nicht bestimmen; hier sind notwendig organisationelle und normative Vorverständnisse Teil des Beurteilungsprozesses. Siehe die Stellungnahmen von C. Calliess und M. Nettesheim in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 2009, S. 8. 136 Man beachte: Es geht bei diesen Beurteilungsschwierigkeiten um die Subsumtion; die Begriffe selbst sollten, worauf Jellinek großen Wert legt, möglichst klar und präzis sein. Siehe Jellinek, System (Fn. 4), Kap. III, etwa S. 13 („genaue Abgrenzung der Welt der juristischen Begriffe“) und Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), Kap. I. 137 Jellinek, System (Fn. 4), Kap. VII.

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§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

er von der „nicht gewürdigten Tatsache [spricht], dass zwar der Inhalt von Rechten, nicht aber der von Zuständen allseitig begrifflich bestimmt werden kann“138.

2. Status oecologicus? Anders würde es sich verhalten, wenn man ebenfalls mit Jellinek auf das Merkmal „streng persönliches Verhältnis zwischen Staat und Individuum“139 abstellt. Dann gäbe es keine „Status“, jedenfalls nicht im eigentlichen oder Vollsinn, in abgeleiteten Herrschaftsbeziehungen, seien diese unterhalb oder oberhalb des souveränen Zentrums angesiedelt. Für die unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten öffentlichrechtlichen Verbände ist dies schon dargelegt worden; für die folgende supranationale Ebene gälte das Gleiche: Dort kann es – nur – statusanaloge Verhältnisse geben, es muss sie aus Gründen der Homogenität aber auch geben. Ausgeschlossen wären aber auch eigentliche Statusverhältnisse, die nicht direkt die Relation Staat-Bürger betreffen, sondern Rahmen- oder mediatisierende Bedingungen, etwa ökologischer Art. Wenn der Staat die Ökologie durch eine Staatszielbestimmung wie in Art. 20 a GG und ein Umweltrecht schützt, dann könnte man von einer nur indirekten Beziehung zwischen Staat und Bürger ausgehen, wenn und soweit bestimmte Umweltgüter einer besonderen Vorsorge sowie Diversitätsund Nachhaltigkeitsgarantie unterstellt werden: Die neue Wertigkeit von Boden, Wasser, Luft oder Tieren kann sich in Adjustierungen von Selbst- und Weltverhältnissen insgesamt ausdrücken; dann steht eine Ausdehnung des Anthropozentrismus auf andere Lebewesen oder gar die Natur im Ganzen im Raume oder sogar dessen Ersetzung durch eine Ethik des Leidens oder des Eigenwerts der Natur in Form des Pathozentrismus, Biozentrismus und radikalen Physiozentrismus.140 Mit einer solchen Neubewertung oder Umwertung der Werte ist aber noch nicht der Schritt zu einem juristischen Status oecologicus getan. Dieser setzt die Umsetzung der einschlägigen „Werte“ in gegenseitige Rechte und Ansprüche voraus.141 Hier scheint die anthropozentrische Grundlage der Statuslehre durch: Eine Rechtsbeziehung muss sich eben letztlich immer in Relationen zwischen Subjekten konstituieren und kann nie direkt über das Verhältnis einer Person zu einer Sache ablaufen.142 Sachen oder Tiere können nicht die den Status subiectionis, libertatis, positivus oder activus entsprechenden Rechte und Ansprüche geltend machen. „Trees“ 138

Jellinek, System (Fn. 4), S. 118. Jellinek, System (Fn. 4), S. 57. 140 Siehe A. Krebs, Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe, in: J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, 2. Aufl., 2005, S. 390 ff. 141 Siehe oben Abschnitt IV, ferner die in diese Richtung weisende Bemerkung in Jellinek, System (Fn. 4), S. 99. 142 Siehe R. Gröschner, Dialogik der Rechtsverhältnisse, in: W. Brugger/U. Neumann/ S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 90 f. 139

X. Neue Status: Status culturalis und oecologicus?

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do not have „rights“143, sie könnten höchstens Rechte haben, falls man die für den modernen Rechtsstaat konstitutive Korrelation von „right and remedy“144 aufbräche und per Prozessstandschaft oder Stellvertretung eine Rechtswahrung gewährleistete. Anders gesagt: Wie auch immer und was auch immer der Staat regelt, er muss in Relationsmodi vorgehen und dem Bürger so im Umweltrecht deutlich machen, wie weit sein Status libertatis etwa in der Ausnutzung von Boden, Wasser und Luft geht und wo ihm der Status subiectionis des Staates entgegentritt. In diesem Sinne wäre für das Umweltrecht ein Status oecologicus überhaupt möglich. Er ist auch von der Sache her geboten, denn die Umweltzerstörung hat in den letzten 100 Jahren Ausmaße angenommen, die für Jellinek unabsehbar waren. Politisch sind „grüne“ Ziele in allen Parteien dem Grunde nach und in Bezug auf viele inhaltliche Positionen akzeptiert; die rechtliche Schutzwürdigkeit steht außer Frage und wird über Deutschland hinaus weltweit als Problem anerkannt. Die Unterschiede im Schutzniveau, d. h. in der Abwägung von Status subiectionis und Status libertatis bei der Umweltnutzung, zwischen den Kontinenten und Staaten, betreffen die einzelnen subjektiven privaten und öffentlichen Rechte und Ansprüche; solche Differenzen schließen aber nach Jellinek einen einheitlichen Status nicht aus, für dessen Existenz zahlreiche und gewichtige Rechtsnormen sprechen.145

3. Status culturalis? Die deutsche Staatsrechtswissenschaft versucht seit längerem, die Kulturstaatlichkeit als identitätsbestimmendes Merkmal unseres Gemeinwesens zu analysieren und zu etablieren.146 Solches setzt auf gesellschaftlicher oder sozialtheoretischer Ebene voraus, dass (1) „Kulturalität“ ein für Menschen und so auch das deutsche Volk wesentliches Merkmal ist, sodann dass (2) dieses Merkmal so deutlich auch in den Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern ausgeprägt ist und nach entsprechenden Berechtigungen und Verpflichtungen verlangt, dass man einen überzeugenden Korrelationszusammenhang zwischen Status, Rechten und Ansprüchen herstellen kann.

143

Siehe die für das Gegenteil argumentierende klassische Abhandlung von Christopher D. Stone in Southern California Law Review 1972, S. 450 ff.: „Should Trees Have Standing? – Toward Legal Rights for Natural Objects.“ 144 Siehe oben Fn. 56. 145 Siehe z. B. D. Murswiek, Umweltschutz als Staatszweck, 1995; R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998; K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 182 ff., 247 ff.; Häberle, Europäische Verfassungslehre (Fn. 130), S. 526 ff. 146 Siehe die Vorträge von Udo Steiner und Dieter Grimm über „Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen“ in VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff., 46 ff., sowie die Vorträge von Karl-Peter Sommermann und Stefan Huster über „Kultur im Verfassungsstaat“ in VVDStRL 65 (2006), S. 7 ff., 51 ff.

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(1) Die erstgenannte Voraussetzung kann man ohne weiteres bejahen: Alle Menschen sind nicht nur durch Sozialität geprägt, die auch Tiere pflegen, sondern durch Kulturalität im Sinne der Fähigkeit und Notwendigkeit der symbolischen Besetzung, Benennung und Überformung ihrer Lebenswelt147: Alle menschlichen Leitbegriffe, vom Privaten („Liebe“) über das Gesellschaftliche („das Kunstwerk“) bis zum Staatlichen („moderner Verfassungsstaat“) sind so reich konnotiert, dass sie nicht anders denn als höchst voraussetzungsvolle und symbolträchtige Gestalten gelungenen oder misslungenen Zusammenlebens angesehen werden können, je nachdem, ob eine Annäherung an die „Erfüllungsgestalt“ des leitenden Maßstabs gelingt oder aber ein „Versagensfall“ vorliegt. Jellinek würde dieser Einschätzung zustimmen, allerdings eine genauere geschichtliche Verortung in Bezug auf das moderne Subjektivitätsdenken vornehmen: „Das selbstberechtigte Individuum ist überall erst das Produkt hoher Kultur gewesen“148, sprich: des abendländischen Autonomiedenkens. (2) Was die Rechtsbeziehungen zwischen Bürgern und Staat angeht, so stellt sich die Lage differenziert dar: Unzweifelhaft gehört die „Staatssymbolik“ zur Kulturalität; sie stiftet eine Loyalitäts- oder auch Kritikbeziehung149 zwischen dem Staat und seinen Bürgern, ist aber, auf das Gesamtleben der Bürgerschaft bezogen, eine relativ enge sektorale Beziehung. Dies gilt jedenfalls, wenn man Kulturalität in ihrer umfassenden Charakteristik als Faktor zur sinnhaften Bereicherung des Lebens jenseits des finanziellen Auskommens ansieht, dessen Basis im Status positivus abgesichert wird. Kulturalität in diesem weiten Sinn – von der Unterhaltungskultur bis zur „hohen“ Kultur – wird aber nicht vom Staat geschaffen, sondern von „Kulturschaffenden“ aller Art im Status libertatis. Allerdings widmet sich unser Staat seit langem auch der Kulturförderung in diesem Sinne, und die Verfassungsrechtswissenschaft hat dazu im Rahmen der objektiven Grundrechtsfunktionen eine dogmatische Struktur entwickelt: die „wertentscheidende Grundsatznorm“, hier bezogen auf die Kunstfreiheit, die Förderung nahelegt.150 Will man von hier aus den Schritt zu einem juristischen Status machen, so setzt dies voraus, dass Statusverhältnisse sich nicht nur in der direkten Distanz zum und der Mitwirkung am Staat sowie der finanziellen Unterstützung der Bürgerschaft entwickeln können, sondern auch in der Unterstützung der symbolischen Welten von 147

Siehe exemplarisch E. Cassirer, Ein Versuch über den Menschen: Einführung in die Philosophie der Kultur, 2., verbesserte Aufl., 2007; F. H. Tenbruck , Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 2. Aufl., 1989, insbes. Kap. 2: Der Mensch, ein Kulturwesen; Brugger, Liberalismus (Fn. 79), S. 24, 79 f.; M. Schlette/M. Jung (Hrsg.), Anthropologie der Artikulation, 2005. 148 Jellinek, Ausgewählte Schriften (Fn. 4), S. 43. 149 Klassisches Beispiel hierfür sind Verunglimpfungen der Staatssymbole. Siehe § 90 a StGB und T. Mori, Die Meinungs- und Kunstfreiheit und der Strafrechtsschutz der Staatssymbole. Eine rechtsvergleichende Analyse von Deutschland und den USA, JöR N.F. 48 (2000), S. 117 ff. 150 Siehe Pieroth/Schlink (Fn. 9), Rn. 76.

X. Neue Status: Status culturalis und oecologicus?

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Bedeutungsvermittlung durch Kultur jeder Art. Diesen Schluss sollte man unterstützen: Geld ist nicht alles nach der deutschen Tradition, der Geist zählt auch. Dass dies so ist, zeigt die Bedeutung der Kommunikationsrechte im Grundgesetz, die nicht nur funktionell über politische Einflussnahme zur materiellen Erlangung von „Habenrechten“ dienen können, sondern die als „Seinsrechte“ auch unentbehrlich zum Aufbau einer über Sinn und Bedeutung gesteuerten Selbst-, Fremd- und Weltinterpretation sind.151 Das wäre auch im Sinne von Jellinek, der – etwas zu eng – den Status libertatis manchmal vorrangig als reinen Abwehr- und Minimalstaat bezeichnet, an dem wenig Gefühlserregendes hängt.152 Der Status libertatis setzt aber auch die Kulturaktivitäten auf Seiten der Gesellschaft frei! Jellinek positioniert die kulturunterstützende Funktion des Staates im Prozess der Nationenbildung: „Nicht nur negative, sondern auch positive Leistungen sind es, die [die Bewegung unserer Zeit] vom Staate verlangen muss. Nicht nur Schutz gegen äußere Feinde und unrechtmäßige Angriffe der Nebenmenschen, sondern Pflege und Förderung aller Kulturinteressen ist die Konsequenz der Einfügung des nationalen Gedankens in die Staatsidee gewesen. Ist doch die Nation nichts anderes als eine individualisierte Kulturgemeinschaft … Der moderne Staat ist Kulturstaat geworden, dessen Verwaltung sich immer weiter ausdehnt, um alles zu umfassen, was das Gesamtinteresse des Volkes erfordert.“153 Damit ist jedoch weder gemeint, dass der Staat primär zur Kulturschaffung zuständig ist (das würde dem Status negativus widersprechen), noch dass die Kulturförderung eine exklusiv nationale Angelegenheit ist. Staatliche Kulturförderung ist zunächst subsidiär zu individueller und gruppenmäßiger Kreation: „Förderung … kann ausschließlich in dem Setzen der äußerer Bedingungen bestehen. Gesundheit, Wissenschaft, Kunst, Handel usw. kann der Staat nicht unmittelbar erzeugen …“154; er tritt bei der Schaffung sinnhafter Welten und Werke in der Regel „in Ergänzung … individueller als genossenschaftlicher Tat auf…“155. Von dieser Sichtweise ist es kein großer Schritt zu einer Dogmatik objektiver Grundrechtsfunktionen, die Förderung von Wissenschaft und Kunst sowie sonstiger Kulturgüter als Staatsaufgabe benennt. Die nationalstaatsübergreifende Wirkkraft der Kultur wird von Jellinek ebenfalls betont. Für ihn „zeugen“ die schon zu seiner Zeit zahlreichen internationalen Vereinigungen „von der steigenden Bedeutung des weit über den Einzelstaat hinausragenden Culturlebens …“156. Die internationalen Organisationen sind für Jellinek 151 Dazu zuletzt M. Hochhuth, Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S. 100 f., 188 ff., 211 ff. 152 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften (Fn. 4), S. 56 f. 153 Jellinek, Ausgewählte Schriften (Fn. 4), S. 60 f. Die Formulierung weist auf die schon weiter oben angesprochene Spannung zwischen den einzelnen Status hin: Förderung im Status culturalis ist eine sinnvolle staatliche Aktivität, darf aber den Status libertatis nicht zu stark beeinträchtigen. 154 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 260. 155 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 261. 156 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 110.

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nicht nur „physisch wirkende Kräfte, sondern auch Ordnungen … durch welche sich die Entwicklung eines höheren als des, wie alles Individuelle, einseitigen und beschränkten Einzelvolkes vollzieht, nämlich der Civilisation, deren Subject nicht Staat und Volk, sondern die Menschheit ist“157.

XI. Status oberhalb des Staates: Status europaeus und Status universalis? 1. Vom Staat zur Staatengemeinschaft und zum Staatensystem Wie diese Zitate zeigen, war Jellinek nicht nur Verfassungshistoriker und Staatsrechtler, sondern auch Völkerrechtler und hatte ein klares Auge für die Notwendigkeit und auch Existenz der transnationalen Zusammenarbeit. In den Kapiteln XVIII und XIX des „Systems“ finden sich dazu Analysen, noch ausführlicher ist seine „Lehre von den Staatenverbindungen“ von 1882.158 Jellinek betont, dass die Staaten seit langem im Zustand der Staatengemeinschaft leben, wo ihre Interessenwahrnehmung, wie die anderer Realerscheinungen, oft „durchkreuzt, gehemmt, beeinflußt, verändert [wird] durch andere [Staaten]“159. „Tagtäglich sehen wir Staaten einander Leistungen versprechen und Versprechen erfüllen, sich zur Erreichung gemeinsamer Zwecke verbinden und Normen für diese Verbindungen festsetzen … weit davon entfernt, seinen historischen Lauf sich allein vorzuzeichnen, ist [der Staat] abhängig von den politischen, ökonomischen, socialen Verhältnissen der anderen Staaten. Auf allen Gebieten seines Daseins und Wirkens ist der Einzelstaat bedingt durch die Gesammtheit der anderen.“160 Völkervertrags- oder völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtungen überwinden so den naturrechtlichen Status naturalis und schaffen einen Status civilis, der für Jellinek eine „Nebenordnung, aber keine organisierte Ueber- und Unterordnung“161 staatlich-herrschaftlicher Art darstellt. Immerhin: Soweit die Verpflichtungen reichen, ist zwar nicht per Subiection, aber „Restriction“162 ein Analogon zum Status passivus festgesetzt.163 Jenseits dieses Bereichs liegt analog ein Status libertatis vor. Der Status positivus wird durch die

157

Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 111; siehe auch ders, System (Fn. 4), S. 311 f. Von Walter Pauly neu ediert und versehen mit einer insbesondere Jellinek und Kelsen vergleichenden Einleitung in Bezug auf den Prozess der europäischen Einigung (Fn. 1). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die in der Pauly-Edition nachgewiesene Originalpaginierung. 159 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 91. 160 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 92 f. 161 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 93. 162 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 99. 163 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 315 ff. 158

XI. Status oberhalb des Staates: Status europaeus und Status universalis?

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bilateralen oder multilateralen Aufgaben bestimmt, die die Völkerrechtssubjekte über die aktiven Bindungsakte übernommen haben.164 Überschlägig sieht Jellinek drei Stadien der Völkerrechtsentwicklung vor sich: Gegeneinander, Nebeneinander und Miteinander165, heute würde man sagen: Kriegsrecht, Koexistenzrecht und Kooperationsrecht. Er analysiert die einzelnen Instrumente wie den Verwaltungsvertrag und den politischen Vertrag, worunter etwa Allianzverträge wie heute der Nato-Vertrag fallen. Aber er sieht auch Möglichkeiten engerer Kooperation, die in Richtung Europarecht weisen: „Wenn aber die Interessen, welche durch den Vertrag gewahrt werden sollen, zusammenfallen, wenn ein gemeinschaftliches Interesse vorliegt und demnach nicht Ergänzungsbedürfnis, sondern Solidarität den Grund des Vertrages bildet, dann erlangt die Vereinbarung einen ganz anderen Charakter. Nicht Austausch, sondern Gemeinsamkeit wird da der Zweck sein … Hier ist das Band von Staat zu Staat ein festeres und innigeres als im ersten Fall. Nicht sowohl ein Sich Vertragen, als vielmehr ein Sich Verbünden ist hier der Zweck der Vereinigung.“166 Er denkt insbesondere an die „Interessen des ökonomischen, literarischen, des Rechtslebens, der Verkehrsverbindungen, kurz des ganzen modernen materiellen und geistigen Verkehrslebens“167, zu denen schon zu seiner Zeit eine Vielzahl von Handels-, Schiffahrts-, Post- und Telegraphenverträgen und Erfindungen gehörten wie auch die „Eisenbahnen, welche unmerklich die Grenzen der Staaten überschreiten“, ganz abgesehen von den „Telegraphendrähte[n], welche den Erdball umschlingend den staatslosen Ozean durchlaufen“168 – das Internet lässt grüßen! In diesem Sinne entwickeln sich innerhalb der Staatengemeinschaft „durch geographische und historische Zusammengehörigkeit die Staatensysteme, als durch lebhafteren und reicheren Verkehr und in Folge dessen durch specielle gemeinsame Rechtsnormen sich abschließende internationale Gruppen. So kann man insbesondere von dem europäischen Staatensysteme als einer besonderen Gruppe innerhalb der Staatengemeinschaft reden. Diese völkerrechtliche Staatengemeinschaft wird aber im Laufe der Culturentwicklung eine immer innigere. Immer mehr gemeinsame Interessen entstehen, d. h. Interessen, welche über das Wohl und Wehe eines einzelnen Volkes hinausragen und, je mehr gemeinsame Interessen, desto grösser die Zahl und mannigfacher die Art der Lebensverhältnisse, in welche die Staaten zu einander treten, desto breiter das Geflecht der internationalen Rechtsnormen, das sie umschlingt.“169 Fast prophetisch kommentiert Jellinek diese Ausbreitung des Völ164 J. von Bernstorff, Völkerrecht als modernes öffentliches Recht, in: Paulson/Schulte (Fn. 1), S. 183, 191 f. sieht die Parallele, die Jellinek zwischen dem Staatsrecht und dem öffentlichen Recht zieht, übersieht aber die analoge Anwendung der Statuslehre. 165 Siehe die Andeutung Jellinek, System (Fn. 4), S. 320. 166 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 107 f. 167 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 109. 168 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 97. 169 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 96.

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kerrechts und der Hoffnung auf immer engere Beziehungen: „Dieser Process ist erst in den ersten Anfängen begriffen, und es läßt sich noch gar nicht bestimmen, welche Momente des Staatslebens in die neue Bewegung hineingezogen werden.“170 Ein Status universalis für Individuen, etwa in Form der direkten Anrufung internationaler Gerichte, war zu seiner Zeit noch nicht gegeben; Jellinek diskutiert die analoge völkerrechtliche Anwendungsebene der Statuslehre exklusiv für den zwischenstaatlichen Bereich171 und spricht von der „falsche[n] Lehre vom Individuum als völkerrechtlichem Subjekt“172. Und dennoch: Viele völkerrechtliche Verpflichtungen führen in Form des Rechtsreflexes zu Vorteilen für die Bürger der einzelnen Staaten. Könnte das nicht im Laufe der von ihm an anderen Stellen diagnostizierten Zunahme individueller Berechtigungen173 zu einem Status universalis im Völkerrecht führen? Jellinek sieht auch diesen Trend: „Die Tendenz der internationalen Entwickelung geht aber zweifellos dahin, jene Reflexwirkung immer mehr in subjektive Ansprüche zu verwandeln.“174 Die Rechtsentwicklung nach dem 2. Weltkrieg hat diesen Trend an vielen, wenngleich bei weitem nicht allen rechtlichen Sollbruchstellen konstitutionalisiert: durch die Gewährleistung von „Menschenrechten“ statt Staatsbürgerrechten in nationalstaatlichen Verfassungen sowie durch die partielle Einräumung von individuellen Klagerechten im Rahmen internationaler Menschenrechtspakte.175 Klar ist immerhin, dass schon zu Jellineks Zeit eine Dreistufigkeit der Weltrechtsorganisation von Staat über Kontinentalrechtsorganisation, in seiner Terminologie: Staatensystem, hin zu einer Weltrechtsorganisation, bei Jellinek: Staatengemeinschaft, im Blickfeld ist176; ein politisches Gemeinwesen, ein Staat, liegt jedoch nur auf der ersten Ebene vor.177 Das zeigt, dass Jellinek die völkerrechtlichen Organisationen als Nebenordnungen in Form von Staatenbünden und nicht Überordnungen bundesstaatlichen Charakters ansieht: Völkerrecht schafft eine Rechtsordnung zwischen den Staaten als selbständigen Rechtssubjekten mit gegenseitigen Bindungen und Pflichten, die im Falle der Einsetzung von Organisationen bis zu Rechtsnormen reichen können, aber eigenständige Herrschaft, Souveränität können 170 Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 110 f.; siehe auch S. 98 und die pessimistischere Stellungnahme in ders., Staatslehre (Fn. 4), S. 378 f. 171 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), Kap. XIX. 172 Jellinek, System (Fn. 4), S. 327 Fn. 1. 173 Oben Abschnitt V. 174 Jellinek, System (Fn. 4), S. 327. 175 Siehe K. Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl., 2004, Rn. 217 ff.; K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 7. 176 Siehe etwa Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 95. 177 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 312: Der Begriff Gemeinwesen ist enger als Gemeinschaft. Erstere ist „die organisierte, einen selbständigen Willen über dem Willen der Glieder besitzende Gemeinschaft. Dieser engere Begriff passt auf die Staatengemeinschaft nicht.“ Immerhin benutzt Jellinek für unwiderrufliche mehrseitige völkerrechtliche Vereinbarungen einmal den Begriff „ius supra partes“, Jellinek, System (Fn. 4), S. 313.

XI. Status oberhalb des Staates: Status europaeus und Status universalis?

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sie als Staatenbund nicht ausüben. Tertium non datur. Es gibt für ihn keinen Status mixtus, wie das für das heutige Europarecht mit seinen sektoral unterschiedlichen Vorrangverhältnissen je nach Kompetenzfeld zutrifft.178 So eng und überholt das klingt, so weit und flexibel ist sein Souveränitätsverständnis, denn dessen Kern besteht nicht zuletzt in der Möglichkeit der Selbstbindung und Abgabe von Kompetenzen an unterstaatliche (Länder in Bund) wie transnationale Träger öffentlicher Gewalt, von Legislativ- über Verwaltungs- bis hin zu Judikativbefugnissen.179 All das steht jedoch unter dem Souveränitäts- und Prüfungsvorbehalt des kompetenzabgebenden Staates: „In letzter Instanz entscheidet im Conflictsfalle der Staat, die Bundeszwecke [im Staatenbund] gegen seine höchsten particulären Zwecke abwägend, über seine Zuständigkeit, denn selbst der Spruch eines Bundesgerichtes [im Staatenbund] hat, so lange der Staat souverän bleibt, nur die Bedeutung eines Schiedsspruches, dem er kraft seiner Souveränetät Gehorsam verweigern kann“180: aus heutiger Sicht: für den Fall eines ausbrechenden Rechtsaktes.181

2. Souveränität zu stark, zu schwach, zu partikularistisch Die in Abschnitt VII dargestellte funktionale Rekonstruktion staatlicher Herrschaft lässt sich auch für die Entwicklung transnationaler Herrschaftsorganisationen heranziehen, sei es nun begrifflich in der Form des Staatenbundes oder des Bundesstaates oder eines Staatenverbundes. Berücksichtigt man dabei mit Jellinek die geschichtlich auf das politische Gemeinwesen hinzugekommenen neuen Aufgaben, so unterscheiden sich diese kaum kategorial von früheren Epochen182, sondern vor allem dem unterschiedlichen Grad der Entwicklung nach, geht es um Wirtschaftsregulierung, militärische Waffen, das Kommunikationswesen oder die soziale Fürsorge. Vielmehr steht die Entwicklung der Staatenwelt und insbesondere der Europäischen Union nach dem 2. Weltkrieg unter dem Eindruck von Ereignissen, die deutlich machten, dass die staatliche Souveränität zu schwach, zu stark oder zu partikularistisch ist und deshalb nach einer transnationalen Lösung verlangt. a) Nationalstaatliche Souveränität ist zu schwach, wenn die jeweilige Aufgabe die territorialen Grenzen des Staatsgebiets überschreitet. In den Worten Jellineks: „Die zivilisierten Staaten jedoch stehen kraft ihrer nicht durch die Mittel des Einzelstaates allein lösbaren Aufgaben, sodann historisch wirkender Kräfte, vor allem kraft der gemeinsamen an den Staatsgrenzen nicht ihr Ende findenden [Ökonomie und] Kultur in einer sozialen, in ununterbrochenem Verkehr sich äussernden Gemein178 179 180 181 182

Dazu ausführlich die Einleitung von Pauly in: Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4). Siehe Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 34 ff., 172 ff. Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 183 f. Siehe die Entscheidung des BVerfG zum Lissabon-Vertrag in Fn. 135. Siehe Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 258 f.

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schaft.“183 184 Damit nimmt Jellinek Bezug auf seinen allgemeinen Zweck- und Gemeinschaftsgedanken, der Gemeinwohlaufgaben dem angemessensten und effektivsten Akteur unterstellt185: von der Einzelperson über lose und dichte Gemeinschaften sozialer und rechtlicher Prägung bis hin zu den politischen Gemeinschaften auf staatlicher Ebene sowie darunter und darüber angesiedelten Organisationsebenen. Unter diesem Leitgedanken steht die ökonomisch-funktionellrechtliche Legitimation der europäischen Einigung sowie das gesamte internationale Wirtschaftsrecht mit seinen völkerrechtlichen Instrumenten bis hin zu Völkerumweltrecht. b) Nationalstaatliche Souveränität oder auch europarechtliche Herrschaft ist zu stark für den Fall, dass sie den Rechtsstatus der ihr eingegliederten natürlichen und juristischen Personen entweder gar nicht oder nicht ausreichend achtet. Dann bietet sich eine Verlagerung auf eine Instanz weiter oben an, soweit von dieser eine bessere Ausbalancierung zu erwarten und diese Subsidiarität rechtlich abgesichert ist. Ohne weiteres zu erwarten ist freilich eine solche Abgabe von Herrschaftsrechten nicht. Sie bedarf in der Regel erheblicher Souveränitätsanmaßungen, die zu sozialen und politischen Unruhen führen; manchmal bedarf es auch einer Katastrophe auf der unteren Ebene, wie wir das im 2. Weltkrieg mit Deutschland erlebt haben. In Jellinekschen Kategorien befindet man sich hier in dem Bereich, in dem entweder der Personcharakter des Individuums überhaupt geleugnet wird – Fälle von Versklavung oder sonstigen Entzugs von Rechtssubjektivität – oder aber der Minimalbereich von Persönlichkeitsentfaltung angetastet wird, sei es im Status libertatis, activus oder positivus!186 Souveränitätsanmaßungen können auch vorliegen bei zu starker politischer Reglementierung der privaten, gesellschaftlichen Assoziationen, falls die „Zwischenräume“187 zwischen Individuum und Gesellschaft zu eng gemacht werden, falls eine einheitliche Staatsethik, welcher Art auch immer, die Pluralität und Diversität gesellschaftlicher Lebensformen ausschalten will.188 c) Nationalstaatliche oder europarechtliche Herrschaft ist zu partikularistisch, wenn außerhalb des schon erwähnten Kreises von Totalitarismus im Staat oder zwischen Staaten Binnendifferenzierungen eingezogen werden, die sich angesichts des sich entwickelnden rechtsethischen Standes nicht mehr legitimieren lassen. Dazu 183

Jellinek, System (Fn. 4), S. 311. Die Fn. 2 in Jellinek, System (Fn. 4), S. 311 wie auch die weiter oben zitierten Stellen aus Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 108 ff. machen deutlich, dass Jellinek auch stark an ökonomische Entwicklungen denkt. 185 Siehe oben Abschnitt III und eindrücklich auch Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 287 f. mit Formulierungen der „Staatsweisheit“, die an Art. 29 GG erinnern, ferner Brugger, Gemeinwohl (Fn. 116). 186 Siehe oben Abschnitte VI. und VII. sowie zu den notwendigen Minimalrechten Jellinek, System (Fn. 4), S. 132. 187 Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn. 4), S. 71. 188 Siehe Jellinek, Ausgewählte Schriften II (Fn. 4), S. 44, ders., Staatslehre, S. 259 ff. und Brugger, Jellinek (Fn. 16). 184

XI. Status oberhalb des Staates: Status europaeus und Status universalis?

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gehören Unterscheidungen nach Ausländer/Bürger189 wie bei der grundgesetzlichen Dualität von Menschen- und Deutschenrechten, sowie ausgeschlossene Differenzierungskriterien, die sich typischerweise in den Diskriminierungsverboten wiederfinden. In den gleichen Zusammenhang gehört die Causa Österreich mit der behaupteten Diskriminierung von Ausländern, die zu einer Klarstellung der insoweit tragenden rechtsethischen Maßstäbe in Art. 7 EUV geführt hat.190 Dazu gehören auch alle politischen Kritiken, die die Europäische Union nicht als „Festung Europa“, sondern als möglichst für Immigranten offenes Europa konstituieren wollen. So konkret konnte Jellinek noch nicht werden, seine Auffassung der immer weitere Kreise sich erschließenden Solidarität vom Einzelnen über den Staat bis zur Menschheit im Ganzen191 lässt aber folgenden Schluss zu: Trotz des Ausgangs vom Partikularsubjekt natürliche Person oder juristische Person Staat ist in der ethischen Moderne ein gestuftes Eintreten und Fördern aller menschlichen Interessen „von nah bis fern“ angemessen und notwendig192; damit ist gleichzeitig der rechtsethische Hintergrund des Art. 1 Abs. 2 GG mit seinem Menschenrechtsbekenntnis sowie der Präambel des EUV bezeichnet, in der unter anderem der Entschluss zur Förderung von „Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt“ betont wird. d) In allen drei Fällen geht es um eine qualifizierte Sichtweise der drei Staatskriterien: Gebiet, Gewalt, Volk. Das zu kleine Gebiet kann für die Nichteffektivität des „zu schwachen“ Staates und seiner Regelungen bedeutsam sein – das Umweltrecht ist das beste Beispiel. Die „zu starke“ Staatsgewalt neigt zu Souveränitätsanmaßungen und sollte deshalb generell – „zu viel Macht korrumpiert“ – wie auch speziell – „die deutsche Gefahr“ nach dem Ende des 2. Weltkriegs – verfassungsrechtlich und völkerrechtlich eingebunden werden. Soweit das gelingt und soweit über den Status activus eine Transformation der fremden Herrschaft in kollektive Selbstregierung zustande kommt, sollte man mit dem überkommenen Begriff „Gewalt“ vorsichtig sein und nach Alternativen suchen193 ; der Sache nach tut dies Jellinek auch oft, wenn er etwa die außerrechtlichen und außerstaatlichen Motivationskräfte für Regelgehorsam untersucht194 oder bei den Staatsaufgaben neben hoheitlicher Regelung in Form von Beschränkung die Aufgaben von Bewahrung, Umhegung und Förderung von Individuen und Gruppen betont.195 Das Volk ist zunächst Bevölkerung auf dem Staatsgebiet und dessen Regelungen unterworfen. Über 189 Siehe Jellinek, System (Fn. 4), S. 116 f. und ausführlich A. Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes. Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft, 2001. 190 Siehe T. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., 2004, §§ 1 – 39 und 8 – 32. 191 Siehe Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 252 ff. 192 Diese Maxime macht Jellinek zu einem „liberalen Kommunitaristen“. Dazu Brugger, Jellinek (Fn. 16). 193 Hier liegt bei Jellinek des Öfteren eine begriffliche Einseitigkeit vor. Dazu Brugger, Jellinek (Fn. 16). 194 Siehe Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), Kap. 4 III. 195 Siehe Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), Kap. 8 III.

272

§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

die Bildung der Nationalstaaten und die Ausbreitung des Status activus in der Demokratie bildete sich in vielen Staaten Europas ein emphatischer Begriff der politischen Einigung, der nach Jellinek rein vertraglich oder über puren Willensentschluss nicht konstruierbar ist: „Die Thatsache, dass eine Gesammtheit sich als eine Einheit fühlt und weiß und diese Einheit dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie sich als Gesammtpersönlichkeit, als wollendes und handelndes Subject constituiert, das ist der innere Entstehungsgrund des Staates, unter welchen äußeren Verhältnissen oder Beiwerken sie auch immer vor sich gehen mag.“196 Betrachtet man unter diesen Gesichtspunkten die europäische Einigung, so überwögen bei Jellinek die Bedenken gegenüber deren „staatlichem“ Charakter. Eine transnationale Rechtsgemeinschaft kann und muss in der Regel durch vertragliches Handeln eingesetzt werden, und Jellinek konstatiert widerwillig Stimmen, die insofern von „pactirten Verfassungen“197 sprechen. „Aber die primäre Ordnung des Staates, die erste Einsetzung der Staatsgewalt durch Vertrag ist undenkbar … Denn wo kein höherer Wille vorhanden ist, der den Vertrag zu einem dauernden, von der Willensänderung der Vertragschliessenden unabhängigen macht, besteht der Vertrag nur so lange, als es mit den höchsten Interessen der Contrahenten, die natürlich immer particulärer Natur sind, verträglich ist. Die etwa eingesetzte Societätsgewalt kann daher nie das hervorragendste Merkmal einer Staatsgewalt haben: sie kann nicht herrschen, nicht bedingungslos befehlen, sondern ist immer auf den guten Willen der Gesellschaftsmitglieder angewiesen.“198 d) Wie immer sich die Herrschaftsverhältnisse und deren duale, triadische oder sonstige kategoriale Einordnung in Europa entwickeln, so stellt doch Jellineks Statuslehre nach wie vor einen fruchtbaren juristischen Analyse- und rechtsethischen Bewertungsrahmen unterstaatlicher, staatlicher und überstaatlicher Rechtsorganisation dar. Sie ist eben, wie eine genauere Untersuchung zeigt, nicht beschränkt auf einen isolierten Nationalstaat im absolutistischen Anfangsstadium oder im modernen Entwicklungsstadium mit den vier klassischen Status. Die Statuslehre bietet vielmehr auf der Grundlage der von Jellinek wie von uns bejahten „ethischen Moderne“ und der neuzeitlichen Territorialherrschaft einen Rahmen politischer Organisation, der zwar noch ein Zentrum voraussetzt, den sich in seiner Verfassung selbst bindenden Staat, der seine Verfassung aber auch dazu benutzt, um Macht nach unten und oben zu delegieren, immer unter Achtung der notwendigen gesellschaftlichen „Zwischenräume“ und deren Organisationspotential. Die Statuslehre ist auch ausbaubar, soweit über neue Ansprüche und Rechte nicht nur das „Haben“ ausgedehnt wird, sondern sich ein neues, identitätsschaffendes „Sein“ in unserer Positionierung zur politischen Macht bildet. Wenn es stimmt, was eingangs gesagt wurde, dass die moderne deutsche Grundrechtsdogmatik auf Jellinek und Lüth aufruht, dann schmälert man die Bedeutung der kreativen Konstruktion von objektiven Grund196 197 198

Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 257. Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 257. Jellinek, Staatenverbindungen (Fn. 4), S. 257 f.

XII. Schaubild

273

rechtsfunktionen oder der Sicht der Grundrechte als positiv anleitende Werte in Lüth nicht, wenn man konstatiert, dass diese Anreichung der Grundrechte schon in Jellineks Staatsaufgabenlehre angelegt und über die klassischen wie neueren Status auf die Grundrechtsdogmatik beziehbar ist. Das Recht im modernen Staat hat eben nach Jellinek nicht nur zu versagen und abzugrenzen, sondern auch zu umhegen, pflegen und fördern. Wie das am besten zu bewerkstelligen ist, ob über Verfassungsziele oder grundrechtsdogmatische Verfeinerungen, das haben die Verfassungsrechtswissenschaft und die Verfassungsgerichtsbarkeit in eigener Kompetenz zu entscheiden – im Anschluss an Jellineks Statuslehre in gegenwartsbezogener Fortschreibung.

XII. Schaubild: Eine aktualisierte Version von Georg Jellineks Statuslehre Staat-Bürger- Schutzgut/ Verhältnis Problem: Unsicherheit durch

Lösung: Sicherung durch

Vertreter in Ideengeschichte

1. Souveräni- Leben / Machtzersplitterung, tät: Bürgerkrieg, Bürger im sta- Anarchie tus subiectionis

Territorialstaat, Fürsten-, dann Staatssouveränität, Nationalstaat, Säkularisierung

Bodin Hobbes

Freiheit von / Souveränitätsanmaßungen, Bevormundung in der Gesellschaft: Religion, Wirtschaft, Privatsphäre

Gewaltenteilung, Abwehrrechte, Rechtsstaat, zum Teil Föderalismus, Selbst(vor)sorge

Montesquieu Locke Kant Federalist Papers

Politische Freiheit zu / Sou3. Demokraveränitätsanmaßungen, politie: Bürger im sta- tische Entmündigung tus activus

Grundrechte auf Kommunikation, politische Partizipation, Volkssouveränität

Rousseau Kant

4. Sozialstaat: Gesellschaftliche Freiheit zu Bürger im sta- / Souveränitätsindifferenz: Verarmung, soziale Ausbeutus positivus tung der Schwachen

Sozialversicherung, Soziale Rechte in Verfassung oder Gesetzgebung, objektive Grundrechtsfunktionen

von Stein Heller Rawls BVerfG in LüthUrteil

5. ÖkologiÖkologische Lebens- und scher Staat: Freiheitsvoraussetzungen / Bürger im sta- Umweltzerstörung tus oecologicus

Ressourcenschutz, Schutz der öffentlichen Umweltgüter, Staatsziel Umweltschutz

Jonas Theorie ökonom. Externalitäten, „Von Anthropozu Bio- und Ökozentrik“

2. Liberalität: Bürger im status libertatis, negativus

274

§ 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international

Staat-Bürger- Schutzgut/ Verhältnis Problem: Unsicherheit durch

Lösung: Sicherung durch

Vertreter in Ideengeschichte

6. Kulturstaat: Kulturelle EntfaltungsvorBürger im sta- aussetzungen / Kälte, Anonymität des modernen tus culturalis Massenlebens 7. Transnatio- Freiheit im nationalen politischen Verband / Souveränalität I: Bürger im sta- nitätsdefizite, Nationalstaatus europaeus ten in Europa zu schwach, zu stark, zu partikularistisch

Staatsziel Kultur, objektive Grundrechtsfunktionen zur Unterstützung reicher Lebenswelten Europarecht: Eingliederung in Europäische Gemeinschaft / Union EMRK

Georg Jellinek, Häberle u. a.

Völkerrecht: Eingliederung in internationale Organisationen, Menschenrechtspakte

Universalmoral: Eine Welt / Menschheit Kant Rawls Habermas

8. Transnationalität II: Bürger im status universalis

Freiheit im Staatenverbund / Nationalstaaten, EU in der Welt zu schwach, zu stark, zu partikularistisch

Europaidee: Churchill, Monnet, Schuman, Hallstein u. a.

§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus und zu seiner Bedeutung für die Verfassung Deutschlands und Europas I. Entstehung und Autoren des Kommunitarismus Der Kommunitarismus ist keine klar umrissene Theorie, sondern eine politischphilosophische Richtung mit interner Ausdifferenzierung; diese Weite teilt er mit vielen anderen „Großtheorien“ von Individuum, Gesellschaft und Staat wie etwa dem Liberalismus und seinen diversen Varianten. Anders als beim klassischen Liberalismus stehen bei ihm nicht die „Freiheit von“ Unterdrückung durch kollektive Gewalten und damit die Freisetzung „individueller Wahl“ im Vordergrund, sondern die Gefahren, die von einer Absolutsetzung der Wahlfreiheit für die Gesellschaft als Ganze wie auch für die Einzelnen drohen. Die einschlägigen Negativstichworte lauten „Isolierung“, „Atomisierung“, „Fragmentierung“, „Anonymität“, „Ausbeutbarkeit“. Die einschlägigen Positivstichworte dagegen sind „Partizipation“, „Zugehörigkeit“, „Erfüllung in Gemeinschaft“.1 Freilich wäre es zu einfach, ein Gegeneinander von „Freiheit oder Gemeinschaft“ zu konstruieren; dazu sind die Verhältnisse zu komplex. Es geht um die Verhältnisbestimmung von Individuum und Gemeinschaft, von Freiheit und Bindung in Gesellschaft und Staat. Die moderne Kommunitarismusdiskussion entstand in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie zentrierte sich um Stellungnahmen, die in kritischer Absicht gegen John Rawls’ bahnbrechendes Werk von 1971, „A Theory of Justice“2 vorgebracht wurden.3 Soweit die Kommentatoren bei Rawls einen übertriebenen In1 Vgl. P. Selznick, The Idea of a Communitarian Morality, California Law Review 75 (1987), S. 445, 454, 455: „A communitarian morality … is not at its core a philosophy of liberation. The central value is not freedom or independence but belonging.“ „Liberalism … is a philosophy of liberation, not of belonging.“ M. Walzer, Lokale Kritik, globale Standards, 1996, S. 152, spricht von „Werten und Tugenden der Bindung“ und erwähnt als Beispiele „Liebe, Loyalität, Treue, Freundschaft, Hingabe, Engagement, Patriotismus …“. Diese Beschreibung betrifft nur die Schwerpunktbildung, schließt aber nicht die Integration liberaler Prinzipien aus, wie im Weiteren noch zu zeigen sein wird. 2 Deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, (1975) 1979. 3 Den ideengeschichtlichen Hintergrund dieser neueren Kontroverse bildet die Spannung zwischen Aristotelismus und Hegelianismus einerseits und Kantianismus andererseits. Erstere haben Affinitäten zum Kommunitarismus, Letzterer bildet eine wichtige Basis für den Neutralitätsliberalismus und den ethischen Liberalismus. Außer Betracht bleiben auch deutsche

276

§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus

dividualismus, Rationalismus und Konstruktivismus, ein verengtes Personverständnis und einen überzogenen Universalismus rügen, sind sie im Laufe der Zeit als Kommunitarier oder Kommunitaristen bezeichnet worden, was eine bloße Sammelbezeichnung ist und nicht besagt, dass alle Kritiker die gleichen Argumente benutzen oder identische Schlüsse ziehen. Als prominenteste Vertreter und Programmschriften des amerikanischen Kommunitarismus gelten Michael Sandel mit „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982)4, Alasdair MacIntyre mit „After Virtue“ (1981)5, Charles Taylor mit „Sources of the Self. The Making of the Modern Identity“ (1989)6, Michael Walzer mit „Spheres of Justice“ (1983)7, Philip Selznick mit „The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community“ (1992)8 sowie Amitai Etzioni, Gründer der Kommunitarier-Zeitschrift „The Responsive Community. Rights and Responsibilities“ mit mehreren Monographien, z. B. „The Spirit of Community. Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda“ (1993).9 In der Zwischenzeit haben diese und viele andere Autoren zahlreiche weitere Werke vorgelegt; auch in Deutschland gibt es mittlerweile eine breite Diskussion in Wissenschaft, Politik und Publizistik um den Kommunitarismus.10 Die zum Teil heftige Kritik an der „Theorie der Gerechtigkeit“ hat John Rawls dazu Traditionslinien von Gemeinschaftsdenken, die es nach der Perversion des Gemeinschaftsdenkens unter der nationalsozialistischen Herrschaft schwer hatten, sich gegen andere Theorieströmungen zu behaupten. 4 Vgl. auch M. Sandel, Democracy’s Discontent: America in Search of a Public Philosophy, 1996; ders., Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: A. Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft, 1993, S. 18 ff. 5 Deutsch: Der Verlust der Tugend, 1995. Vgl. auch ders., Whose Justice? Which Rationality?, 1988; ders., Ist Patriotismus eine Tugend?, in: Honneth (Fn. 4), S. 84 ff. 6 Deutsch: Quellen des Selbst. Die Entstehung des neuzeitlichen Individualismus, 1999. Vgl. auch Taylor, Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 1988; ders., Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Honneth (Fn. 4), S. 103 ff. 7 Deutsch: Sphären der Gerechtigkeit, 1992. Vgl. auch M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, 1990; ders., Lokale Kritik – globale Standards (Fn. 1); ders., Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: Honneth (Fn. 4), S. 157 ff. 8 Hierzu die Besprechung von W. Brugger, The Moral Commonwealth. Gesellschaft und Staat aus Sicht des Kommunitarismus, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 84 (2001), S. 149 ff. Vgl. auch P. Selznick, The Communitarian Persuasion, 2002. 9 Deutsch: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, 1995. Zu diesem Buch wie zu anderen Werken Etzionis W. Reese-Schäfer, Amitai Etzioni zur Einführung, 2001. 10 Vgl. etwa, um nur eine kleine Auswahl zu nennen, die Sammelbände von Honneth (Fn. 4); C. Zahlmann (Hrsg.), Kommunitarismus in der Diskussion, 1992; M. Brumlik/H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, 1993, und G. Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, 1994; ferner R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus (1994), 1996; W. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, 1997; ders., Was ist Kommunitarismus?, 3. Auflage 2001.

II. Drei Kernpunkte des Kommunitarismus

277

veranlasst, seine Theorie in Teilen zu revidieren bzw. neu zu interpretieren, so dass manche inzwischen vom „alten/frühen Rawls“ und vom „neuen/späten Rawls“ oder von „Rawls I“ und „Rawls II“ sprechen. Seine neuen Interpretationen, die im Ergebnis kommunitaristische Gedanken stärker betonen oder integrieren, sind in dem Band „Political Liberalism“ (1993)11 zusammengefasst; Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit Rawls hier ist aber „Eine Theorie der Gerechtigkeit“.

II. Drei Kernpunkte des Kommunitarismus 1. Kommunitarismus lässt sich nicht auf eine einzige Variante von Gemeinschaftsdenken reduzieren, sondern umfasst eine Theoriegattung mit mehreren Varianten. Dass dies so ist, wird schnell deutlich, wenn man sich folgende Fragen stellt: Was genau ist es, das allen Menschen oder einzelnen Menschen und Gruppen gemeinsam ist und sie verbindet, zu Verbündeten macht? Oder das sie verbinden sollte? Wenn ich etwa am Personcharakter eines jeden Menschen ansetze und daraus Rechte ableite, wie das die Menschenrechte tun, dann werden damit Fragen nach Nationalität, Klasse, Rasse oder Religion irrelevant. Wenn ich dagegen an der Staatsangehörigkeit als Gemeinschaftskriterium ansetze, dann kann ich differenzieren zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen und nur den Deutschen das Versammlungsund Vereinigungsrecht, die Freizügigkeit, die Berufsfreiheit und das Wahlrecht zusprechen.12 Wenn ich die Unionsbürgerschaft nehme, dann ist eine Differenz vorgegeben zwischen Bürgern der Europäischen Union und sonstigen Personen. Wenn ich vom Christentum als prägendem Gemeinschaftsfaktor ausgehe, dann muss es auch Heiden geben, für die zumindest in mancher Hinsicht anderes gilt als für Christen. Die Kehrseite eines jeden Rekurses auf einen prägenden Faktor der Gemeinschaftsbildung ist eine Differenz, eine Innen-Außen-Differenzierung, die in aller Regel mit einem Vorrang des internen Gemeinwohls vor den Ansprüchen anderer Personen, Gruppen und Gemeinschaften einhergeht. 2. Wie auch immer man die Akzente von Gemeinschaft setzt, Zugehörigkeit, Mitgliedschaft und die Möglichkeit des Zusammenwirkens und der Identifikation mit der Referenzgruppe sind konstitutive Merkmale des Kommunitarismus. Im Vordergrund steht nicht die „Freiheit von“ Gemeinschaft und Bindung, sondern die „Freiheit zu“ Bindung in geteilten Lebensformen. Von solcher Persönlichkeitsentfaltung in Gemeinschaften erhofft sich der Kommunitarismus reichere menschliche Erfüllung als von der leeren, abstrakten Freiheit zu allem und jedem, die in Gefahr 11 Eine deutsche Übersetzung der wichtigsten neueren Aufsätze von Rawls findet sich in: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, (1992), 1994 mit einer ausführlichen Einleitung von W. Hinsch. Der Leitaufsatz „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ ist auch in: Honneth (Fn. 4), S. 36 ff., enthalten. 12 Vgl. Art. 8, 9, 11, 12 und 38 GG i.V.m. § 12 BWahlG.

278

§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus

steht, sich im Nichts zu verirren oder totalitären Verführungen zu erliegen.13 Hier zeigt sich der Unterschied des Kommunitarismus zum Aufklärungsliberalismus, dem es vor allem um die Befreiung der Menschen aus wirtschaftlicher, politischer und religiöser Unmündigkeit und Bevormundung ging. Letzterer drehte sich um die „Freiheit von …“, Ersterer stellt die zusätzliche Frage nach dem Wozu und Woraufhin der Freiheit, wenn sie Unterdrückung und Ausbeutung abgelegt hat.14 3. Der Kommunitarismus ist daher schwerpunktmäßig anthropologisch und sozialphilosophisch ausgerichtet. Er klärt Grundlagen menschlichen Zusammenlebens und Strukturen gesellschaftlicher Organisation, ist also in der klassisch-liberalen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft eher auf der Seite privater Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung angesiedelt. Das umfasst Markt und Wettbewerb, reduziert private Assoziationen aber nicht auf diese Ordnungsmechanismen, sondern thematisiert viele andere Formen außerstaatlicher Lebensformen, von Ehe und Familie über Berufs- und Religionsverbände bis zu vielgestaltigen Formen des Engagements in der Zivilgesellschaft. Kommunitarismus vermittelt zwischen dem für sich stehenden Individuum und der zentralisierten Markt- und Staatsmacht, ohne diese auszuschließen; diese bilden vielmehr wichtige Bezugspunkte in dem Dreieck Markt-Staat-Zivilgesellschaft.15 Das heißt für rechtliche Organisation im Allgemeinen und Staaten sowie supranationale Gebilde im Besonderen, dass sich aus kommunitaristischen Einsichten oder Empfehlungen nicht ohne weiteres Kompetenzen zu deren Durchsetzung mit Rechtszwang ergeben. Vielmehr sollten Gesellschaft und Staat so organisiert sein, dass den Grundbedürfnissen der Menschen nach Leben in Gemeinschaft Rechnung getragen werden kann. Um das zu sichern, mag auch einmal Zwang ins Spiel kommen, insbesondere zur Sicherung der Gewaltfreiheit im Umgang zwischen Individuen, Gruppen und Organisationen, aber im Regelfall geht es um Ermöglichung, Umhegung und Koordination der vielgestaltigen menschlichen Lebensformen. Will man dieses allen Kommunitarismusformen zugrundeliegende Menschenbild zusammenfassen, so kann man dazu eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts benutzen: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isoliert souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – 13 Zu den Gefahren der abstrakten Freiheit siehe G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 5. Zur Gefährdung durch Totalitarismen siehe R. Nisbet, Community and Power, 1962, S. 255, 268. In dieser frühen Schrift findet sich auf S. VII ff. eine treffende Zusammenfassung kommunitaristischer Themen, soweit sich diese gegen einen übertriebenen Individualismus richten: alienation from the past; alienation from physical place and nature; alienation from things; alienation from the social bond – that is, community. 14 Vgl. E.-W. Böckenförde, Erfolge und Grenzen der Aufklärung, Universitas 8 (1995), S. 720, 721: „Ziel der Aufklärung war und ist die Befreiung des Menschen nicht nur von Unterdrückung, sondern auch von vorgegebener (rechtlicher und geistiger) Abhängigkeit … Die Grenze der Aufklärung zeigt sich bei der Frage nach dem Woraufhin der Freiheit.“ 15 Vgl. Reese-Schäfer, Etzioni (Fn. 9), S. 53, 66, 70, 100; Selznick, Persuasion (Fn. 8), S. XXI, 46, 63 ff.

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus

279

Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne deren Eigenwert anzutasten.“16

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus Innerhalb dieser allgemeinen Merkmale lassen sich mehrere Varianten von kommunitaristischen Theorien unterscheiden17: (1) der konservative oder substantialistische Kommunitarismus, (2) der liberale Kommunitarismus oder kommunitaristische Liberalismus, und (3) der egalitär-universalistische Kommunitarismus, für den das Personsein eines jeden Menschen, kantisch gesprochen, die Menschheit in einem jeden von uns der entscheidende Gemeinschaftsfaktor ist. Da es um eine Verhältnisbestimmung von Wahlfreiheit und Gemeinschaft(en) und nicht um ein kategorisches Individuum-gegen-Gemeinschaft geht, könnte man die drei Konzeptionen weitgehend auch als Liberalismusvarianten ansehen. Jedenfalls stellen der konservative und der liberale Kommunitarismus zeitgenössische kritische Bestandsaufnahmen bestimmter Varianten des Liberalismus dar.18 Wenn man insoweit auf die Trias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ als Basis liberaler Theorien zurückgreift19, dann bezieht sich das Freiheitsmoment auf die Diskussion, ob bzw. unter welchen Umständen Gemeinschaften zur Erfüllung menschlicher Selbstbestimmung förderlich oder hemmend sind. Das Gleichheitsmoment bezieht sich auf die Frage, in welcher Hinsicht einzelne Menschen oder Gruppen oder gar alle Menschen „gleich“ sind (oder sein sollen) oder eine „Gemeinschaft“ bilden (sollen); je nach Ausrichtung kann man hier enge (stark konservative, partikularistische), weite (universelle, „progressive“) sowie vermittelnde Sichtweisen vertreten. Dementsprechend würde dann auch das dritte Moment, die Brüderlichkeit, Solidarität oder das gegenseitige Füreinandereinstehen, interpretiert: entweder mit dem Schwerpunkt auf dem Nahhorizont der Lebenswelt (partikularistisch, konservativ), oder mit dem Schwerpunkt auf größtmöglicher Ausdehnung auf jeden Menschen (universell, „progressiv“), oder aber in einer vermittelnden Art und Weise, die nach Nähe und Ferne unterscheidet und nach angemessener Stufung von Verantwortlichkeit sucht. Kommunitaristische Themen sind also mit dem liberalen Selbstverständnis aufs engste verbunden – affirmativ oder kritisch. 16

BVerfGE 4, 7, 15 f. Ständige Rechtsprechung. Hierzu ausführlicher W. Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, Archiv des öffentlichen Rechts 123 (1998), S. 337, 343 ff., abgedruckt auch in: ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, § 11; ders., Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, S. 109, 122 ff. 18 Vgl. S. Mulhall/A. Swift, Liberals and Communitarians, 1992, S. 155, 163 f. 19 Vgl. J. Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, vol. IV: Harmless Wrongdoing, 1988, S. 82. 17

280

§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus

Nichtliberal in einem schwachen definitorischen Sinn wäre eine kommunitaristische Theorie erst dann, wenn sie überhaupt keinen Raum für individuelle Selbstbestimmung und weitergedacht für grundrechtliche Abwehrrechte enthielte oder wenn sie im politischen Raum das Selbstverständnis einer Gruppe als ausreichendes Kriterium zur Unterdrückung oder gar Eliminierung anderer Gruppen ansähe.20 Mit solchen Theorien und Praktiken soll der konservative Kommunitarismus nicht in Zusammenhang gebracht werden; auch er ist in der modernen Diskussion Grundeinsichten der Aufklärung über den Selbstwert des Individuums als Person verpflichtet. Zur Veranschaulichung dient das folgende Schaubild: Drei Versionen des Kommunitarismus I. Substantialistischer, II. Liberaler Kommunitarismus konservativer Kommunitarismus

III. Universalistischer, egalitärer Kommunitarismus

1. Anthropologie, Menschenbild

Individuum in Gemeinschaft stark verwurzelt

Individuum auf plurale Lebensformen angewiesen

Autonomes Individuum, allgemeine Vernunftbegabung

2. Freiheitsverständnis

„Freiheit zu“ erfülltem Leben in Gemeinschaften

„Freiheit“ und Erfüllung „in“ Gemeinschaften

Erfüllung durch „Freiheit von“ Gemeinschaften

3. Rolle überkom- Tendenziell konstitu- Von instrumentell bis mener Lebens- tiv; vorgegeben; ends konstitutiv; vor- und aufgegeben formen für Le- prior to self bensführung

Tendenziell instrumentell; der Wahlfreiheit aufgegeben; self prior to ends

4. Begriff der Moral

Vorrang historische Traditionen, ethische Praktiken; Konventionalmoral

Gegenseitige Verwei- Vorrang reflexiver, sung von Konventio- kritischer Moral vor nalmoral und reflexi- Konventionalmoral ver, kritischer Moral

5. Rechtfertigung moralischer Normen; principium dijudicationis

Rekurs auf „Sein“, konkrete Substanz von gut und gerecht; partikular; Innenperspektive; marginale Verallgemeinerung

Rekurs von „Sein“ auf „Sollen“ über Erfüllungs- gestalten; partikular und allgemein; „von innen nach außen“; vorsichtige Verallgemeinerung

Rekurs auf „Sollen“ durch Abstrahierung, Prozeduralisierung, Diskurs; „von außen nach innen“; expansive Verallgemeinerung

6. Befolgung moralischer Normen; principium executionis über

Eingebundensein in konkrete Solidarverhältnisse

Immanenz und Transzendenz konkreter Solidarverhältnisse

Appell an Vernunft und Selbstzweckhaftigkeit aller Menschen

20 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Auflage der Ausgabe von 1963, 1991, S. 26 ff. mit seiner Konzeption des Freund-Feind-Denkens.

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus

281

I. Substantialistischer, II. Liberaler konservativer KomKommunitarismus munitarismus

III. Universalistischer, egalitärer Kommunitarismus

7. Verhältnis Gemeinschaft – Gerechtigkeit

Gemeinschaft ersetzt oder definiert Gerechtigkeit

Gemeinschaft und Gerechtigkeit sind in Balance zu bringen

8. Verhältnis kollektive Ziele – individuelle Rechte

Tendenziell Vorrang kollektiver Ziele

Balance kollektiver Ziele und individueller Rechte

Universelle Gerechtigkeit ersetzt oder übertrumpft partikulare Gemeinschaft Vorrang individueller Rechte

9. Verständnis des Primär Achtung und staatlichen Ge- Förderung überkommener Lebensformen, meinwohls sekundär allgemeine Freiheits- und Gleichheitsrechte

Balance von Achtung und Förderung von besonderen Lebensformen und allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsrechten

Gleiche Achtung und Förderung von allen Menschen und Gruppen; Neutralität gegenüber Lebensformen

10. Status von Minderheiten

Offener, zivilisierter Kampf um Anerkennung

Prämie auf Minderheitenstatus

Prämie auf Mehrheitsstatus

Primär Nahhorizont 11. Verantwortder Moral lichkeit der Menschen untereinander

Sphärentheorie der Primär Fernhorizont Verantwortlichkeit, der Moral gestuft vom Nah- bis zum Fernhorizont der Moral

12. Begriff der Rechtsperson

Person und Persönlichkeit

Abstrakte Rechtsperson

Demokratische Partizipation und zumindest partiellen substantiellen Konsens

Demokratische Partizipation und gleiche Freiheits- und Gleichheitsrechte

Konkrete Persönlichkeit

13. Politische In- Substantiellen Kontegration, Sta- sens und/oder demokratische Beteiligung bilität durch

Zur Verdeutlichung dessen, wie kommunitaristische Theorien soziale Verantwortung, das staatliche Innen-Außen-Verhältnis sowie die Lebensführungsneutralität des politischen Gemeinwesens verstehen, ist es hilfreich, sich den Kontrast zum Rawls’schen Liberalismus vor Augen zu führen.

282

§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus

IV. Menschenbild, Gesellschafts- und Staatsverständnis in der liberalen Erfahrung und in der liberalen Gesellschaftsvertragstheorie Die Entstehung des Liberalismus als politische Theorie geht im Wesentlichen auf drei Unrechtserfahrungen zurück: (1) Ungleichheit und (2) Unfreiheit im Feudalismus und im Zentralstaat der Moderne sowie (3) Bevormundung und unauflösbare Konflikte im religiösen Bereich.21 Die Forderungen, die in die positive Theorie des Liberalismus einfließen, sind dementsprechend Rechtsgleichheit aller Bürger, „Freiheit von“ staatlicher Unterdrückung durch Verpflichtung der öffentlichen Gewalt auf Schutz von „Leben, Freiheit, Eigentum“ und auf gewaltenteilige Sicherungen, sowie Neutralität des Staates im religiös-weltanschaulichen Bereich. Zur Veranschaulichung dieser positiven Elemente bietet sich ein Menschenbild an, dessen Grundlage die individuelle Selbstbestimmung ist, mit einer gewissen Abgrenzung zur Gemeinschaftsbindung. Diese hatte sich ja in der konkreten historischen Gestalt des Feudalismus und des souveränen Einheitsstaates eher als Unterdrückung denn als Verwirklichungsbedingung eines erfüllten Lebens dargestellt. So rückt „Wahlfreiheit“ in eine zentrale Rolle der politischen Theorie; der staatlichen Organisation muss „zugestimmt“ werden; „Konsens“ ist erforderlich. Vom Konsensgedanken ist es nicht mehr allzu weit zum Demokratiegedanken, dem status activus als kollektive Verwirklichungsbedingung des status libertatis, womit der Staatstyp „liberale Demokratie“ oder „demokratischer Rechtsstaat“ umschrieben ist. Nimmt man die Erfahrungen der sozialen Verelendung in den westlichen Industriestaaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dazu, kommt man zu der Forderung, die Freiheit aller Bürger, auch der Armen und Schwachen, müsse „real“ werden, was ohne „Besitz und Bildung“ oder, allgemeiner gesprochen, ohne sozialstaatliche Intervention, den status positivus, nicht verwirklicht werden könne. Integriert man jetzt noch die Erfahrungen des 2. Weltkriegs und der zunehmenden Vernetzung aller Nationen und Wirtschaftssysteme der Welt, kann sich die sozialliberale Theorie von der bislang vorherrschenden Thematisierung nationalstaatlicher Binnenverhältnisse lösen. Sie kann dann durch die Einrichtung eines status europaeus und status universalis eine transnationale Berücksichtigung der europäischen Interessen und der Basisinteressen aller Menschen einfordern. Wenn wir uns nach dieser Skizze der wichtigsten Entwicklungsschritte des modernen Staates überlegen, auf welche Art und Weise wir die Legitimität unseres Grundgesetzes (wie jedes anderen modernen politischen Gemeinwesens) beurteilen könnten, dann setzt ein solcher Beurteilungsschritt jedenfalls eine gewisse Abstrahierung von der gegebenen Staatsorganisation und deren positiver Rechtsordnung 21 Vgl. G. Jellinek, Die Entstehung der modernen Staatsidee, in: Ausgewählte Schriften und Reden, Band 2, 1911, S. 45 ff., 61 ff.; E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2. Auflage 1992, S. 92 ff., 143 ff., 209 ff.; D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 53 ff.; C. Larmore, Politischer Liberalismus, in: Honneth (Fn. 4), S. 131 ff., 149.

IV. Menschenbild und Staatsverständnis in der liberalen Erfahrung

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voraus. Aber wie soll man diesen abstrakteren Status bestimmen, von dem aus beurteilt wird? Ein prominenter Weg liberaler politischer Theorie führt über die gedankliche Konstruktion eines Gesellschafts- oder Staatsgründungsvertrags zur Beurteilung real existierender oder zum Entwurf neuer Verfassungen. Dieses „konstruktivistische“ Modell hat eine lange Tradition, die von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant bis zu John Rawls22 reicht. John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll, ist von vielen im Kern wie folgt gelesen und verstanden worden23 : Die staatlichen Legitimationsprinzipien müssen so geartet sein, dass ihnen alle Bürger zustimmen können. Da eine solche Zustimmung nie von allen zu erhalten ist, werden die Bürger in einem Zustand vorgestellt, in dem sie ihre konkrete Situiertheit in der Gesellschaft nicht kennen. Alle Besonderheiten außerhalb unseres Wissens über allgemeine Merkmale von Menschsein sind so „neutralisiert“; das sichert die faire Findung der Prinzipien legitimer Staatsorganisation, denn ansonsten würden die Menschen ihr Wissen um ihre konkrete Stellung in der Gesellschaft zu einseitigen, willkürlichen Festlegungen benutzen. Gleichzeitig werden diese Menschen als „frei“ vorgestellt, nämlich als frei von konkreten persönlichen, gesellschaftlichen oder staatlichen Bindungen. Sie sind auch „gleich“, weil ihre Besonderheiten nicht zählen oder nicht bekannt sind; jedes Individuum zählt nur als ein anonymer „allgemeiner Mensch“ und nicht als Persönlichkeit mit konkreten Loyalitäten und Bindungen. Wird in einer solchen Situation über die Prinzipien beraten, die konkrete Staatsverfassungen beachten müssen, um legitim zu sein, so bietet es sich an, größtmögliche Freiheit aller Bürger über grundrechtliche Abwehrrechte gegen die Staatsmacht zu garantieren. Da wir in dieser Situation nicht wissen, wie unsere gesellschaftliche Lage ist, würden alle auch für ein effektives soziales Sicherungsnetz eintreten, also soziale Rechte auf Basisgüter eines erfüllten Lebens verbürgen. Für diese Lösung wird angeführt, dass die Vorteile etwa natürlicher Art, die jemand aufgrund der „Lebenslotterien“ in der Gesellschaft hat (man denke an Gesundheit, Schönheit, Intelligenz)24, willkürlich sind; es spricht also nichts gegen eine starke Umverteilung zugunsten der weniger Begünstigten. Mehr oder weniger Vergleich22 Ich sehe hier von weiteren prominenten modernen Vertretern dieses Theorietyps wie etwa J. Buchanan und D. Gauthier ab. Eine gute Übersicht über die wichtigsten Stationen dieses Theorietyps bis hin zu John Rawls bietet H. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftsvertragstheorien, 1990. 23 Es geht hier nicht um die Frage, ob die „Theorie der Gerechtigkeit“ in dem folgenden Sinn verstanden werden muss; darüber lässt sich trefflich streiten. Zumindest stellt die obige Zusammenfassung die Lesart vieler kommunitaristischer Kritiker dar. 24 Die Lebenslotterien beziehen sich aber noch auf andere Ebenen: die familiäre Lotterie (Aufwachsen in einer der Entwicklung des Kindes förderlichen oder nicht förderlichen Familie), die Schichtenlotterie (Aufwachsen in der Ober-, Mittel-, Unterschicht), die kulturellhistorische Lotterie (Aufwachsen in einer friedlichen oder kriegerischen Zeit, in einer Gesellschaft, die mitgebrachte Talente belohnt oder verschmäht etc.). In einem weiten Sinn zählen zu den Lebenslotterien alle Merkmale von Personen, die eine Gesellschaft entweder positiv oder negativ bewertet.

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bares muss zwischen armen und reichen Staaten gelten. Neutralität des Staates in Lebensführungsfragen sollte in diesem Legitimationsvertrag auch enthalten sein, da wir nicht wissen, ob wir im wirklichen Leben der Mehrheitsreligion angehören oder Mitglieder einer unliebsamen Minderheit sind – nur über weitreichende Gleichheitsrechte bzw. Diskriminierungsverbote können wir uns gegen dann drohende Unterdrückungsgefahren wappnen. Jeder kühle Rechner kann solche Überlegungen anstellen, es bedarf nicht besonderer moralischer oder altruistischer Motive; rationale Überlegung und Kosten-Nutzen-Abwägung hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ um unsere konkrete Lage reichen aus.

V. Die kommunitaristische Sicht Es ist leicht zu sehen, warum die kommunitaristischen Kritiker Rawls einen übertriebenen Rationalismus, Individualismus und Konstruktivismus, ein verengtes Personverständnis und einen überzogenen Universalismus vorgeworfen haben; auch gegen den stark egalitären Zug seiner Theorie lassen sich Einwände formulieren. 1. Was die Menschen und ihr Verhältnis zu Gemeinschaften angeht, so scheint die Freiheit der Menschen vor allem die negative „Freiheit von“ Bindung zu sein; Vergemeinschaftung ist vor allem ein Akt der individuellen Wahl, und die Lebensformen rücken in die Nähe der instrumentellen Befriedigung individueller Präferenzen. Das, monieren die Kommunitaristen, verzerrt die wirkliche Bedeutung der Vergemeinschaftung. Menschen sind immer schon vergemeinschaftet. Menschen werden in Familien, Weltanschauungsgemeinschaften, Staaten (jeweils ohne Zustimmung!) hineingeboren und in diesen (jedenfalls zeitenweise ohne Zustimmung!) erzogen. Die individuellen Identitäten und Lebensentwürfe werden erheblich durch kulturell vorentworfene Lebensformen und deren Ideale geprägt.25 Von daher muss man zwischen etwas schlicht „wollen“ und etwas „hochschätzen“ differenzieren; der bloße Präferenzgedanke führt nicht zu einem angemessenen Verständnis von Individual- oder Gemeinwohl.26 Ferner verfehlt die Rede von dem „self“, das „prior to its ends“ sei, die Wirklichkeit menschlicher Erfahrung jedenfalls im Persönlichkeitsaufbau; konstitutive Gemeinschaften prägen die Individuen so stark, dass deren „ends prior to their selves“ sind.27 In der „konservativen“ Variante des Kommunitarismus wird die Vorgegebenheit verbindlicher Rollen samt den einschlägigen Rollenverständnissen betont sowie Freiheit vor allem als „Freiheit zur“ Bejahung und Einübung einschlägiger Rollen verstanden. In der liberalen Variante des 25 Vgl. Selznick (Fn. 1), S. 447: „First is the concept of a social self … In the beginning is society, not the individual“; T. Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 1990, S. 62 ff., 71 ff. u. ö. zur „Primärwelt“. 26 Zu der Unterscheidung von „desiring“ und „valuing“ siehe T. Pinkard, Democratic Liberalism and Social Union, 1987, S. 8 ff. 27 Vgl. Sandel, Liberalism (Fn. 4), S. 15 ff., 50 ff., 54.

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Kommunitarismus wird deutlicher hervorgehoben, dass es eine Vielzahl von Gruppierungen und Gemeinschaften gibt, die von der Gelegenheitsvergesellschaftung bis zum perennierenden Gebilde28 reicht. Demgemäß können die Gruppierungen instrumentell bis konstitutiv für das Selbstverständnis des Individuums sein. Ferner bleibt das Element der freien Wahl in allen Gemeinschaften bedeutsam: in der Option des Eintritts oder zumindest des Austritts sowie oft auch in der Möglichkeit des Eintretens für Veränderung im Innenbereich. Vergemeinschaftung ist also nach der liberal-kommunitären Sicht nicht mit Unterwerfung oder Kollektivierung zu identifizieren; solche Erscheinungen sind keine „Erfüllungsgestalten“29 von Gemeinschaft, sondern deren Verfehlung. Erfüllend wirkt Gemeinschaft, wenn die Integrität der Personen in ihnen geachtet wird und wenn Individualität und Gemeinschaftsbindungen gefördert werden.30 Nimmt man Rawls’ Position ein, dann kann man durchaus entgegnen, dass das Absehen von den konkreten Bindungen der Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht unbedingt mit der „kalten“ Freiheit der Unabhängigkeit, einem starken Individualismus und einer instrumentellen Auffassung von Gemeinschaft verbunden ist. Aber es ist kaum zu bestreiten, dass die Konstruktion des „allgemeinen Menschen“ hinter dem Schleier des Nichtwissens die konkreten Bindungen und deren variierende Bedeutung für erfülltes Menschsein nicht thematisiert, sondern eben explizit ausblendet. Ferner führt das Abstellen auf das rational kalkulierende Individuum im Urzustand von dem komplexen Bild der Freiheit zu und in Gemeinschaften eher weg und trübt so den Blick auf konkrete Ideale gelungener Lebensführung im Invididual- wie Kollektivbereich.31 Die „Theorie der Gerechtigkeit“ 28 Ein Ausdruck von Max Weber, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. 1973, S. 451. 29 Zu den Begriffen „master ideal“ und „Erfüllungsgestalt“ siehe P. Selznick, Sociology and Natural Law, Natural Law Forum 6 (1961), S. 84 ff.; Rentsch (Fn. 25), S. 106, 113, 176, 184, 192, 243. 30 Vgl. Selznick (Fn. 1), S. 447 f.: „the social self is not necessarily a subordinate or heteronomous self. The self is a social product, but that product is a unique person.“ „It is a viable but precarious outcome of social interaction – which may enhance or distort communication, enlarge or cramp perspectives. Moral competence therefore depends on the nature and quality of social participation“; Mulhall/Swift (Fn. 18), S. 254, 260 ff. Ähnlich das Menschenbild des Grundgesetzes, oben Fn. 16. Diese Formel wiederum habe ich ganz im Sinne des liberalen Kommunitarismus versucht zu systematisieren, etwa in: Das Menschenbild der Menschenrechte, Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), S. 121 ff. 31 Utilitaristische oder Präferenztheorien, die sich dieser Problematik bewusst sind und die Probleme bereinigen wollen, tun dies, indem sie den kruden Präferenzgesichtspunkt durch ideale oder evolutionäre Gesichtspunkte läutern oder relativieren. So rekurriert etwa J. St. Mill in seiner Programmschrift „Der Utilitarismus“ (1861), 1976, S. 14 f., nicht nur auf faktische Präferenzen, sondern auf „höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste“; demgemäß könne keine utilitaristische Ableitung „angemessen sein, die nicht viele stoische und christliche Elemente einbezieht“. R.W. Trapp baut grundlegende Gerechtigkeitsüberzeugungen in seinen „Gerechtigkeitsutilitarismus“ ein: Nicht-klassischer Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1988, etwa S. 14 ff.

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hat also in der Tat einen deutlichen Einschlag von Rationalismus und Invidualismus und baut auf einem angreifbaren Konstruktivismus32 auf. 2. Soziale Gerechtigkeit und Verantwortung füreinander: Vielleicht hat Rawls’ Konstruktivismus den Vorteil, dass durch den Schleier des Nichtwissens im Staatsgründungsakt und im zwischenstaatlichen Verkehr die sozialstaatliche Verantwortung füreinander den rechten Ort zugewiesen bekommt. Effektive Umverteilung und Bereitstellung von Grundgütern für alle Armen und Schwachen unter Achtung der Freiheitsrechte sind Postulate, die aus Sicht von Rawls allgemein zustimmungsfähige Prinzipien für alle rationalen Invididuen darstellen, denn sie dienen zur Verminderung des Risikos, dass man zur Gruppe der Armen und Schwachen zählt, und zur Behebung der Willkür der Ausstattung der Individuen und Nationen mit im gesellschaftlichen Verkehr privilegierten Eigenschaften oder Reichtümern. Sicher werden viele „rationale Individuen“ dies hinter dem Schleier des Nichtwissens so sehen, doch bei weitem nicht alle: Warum nicht das Risiko auf sich nehmen, dass man zu den Armen und Schwachen zählt, und darauf hoffen, dass man es gut getroffen hat im Leben? Eine solche Haltung wäre nicht a priori „irrational“, sondern vielleicht nur für Menschen mit ausgeprägter Versicherungsmentalität. Von der risikoreicheren Haltung aus bräuchte man keinen oder doch höchstens einen minimalen Sozialstaat. Auch über die „Willkürlichkeit“ der in der Lebenslotterie verteilten Privilegien wie etwa Gesundheit, Schönheit, Intelligenz lässt sich streiten – Konsens beim fiktiven Legitimationsvertrag hinter dem Schleier des Nichtwissens ist jedenfalls nicht zu erwarten. Nicht alles, was man nicht „verdient“ hat, ist deshalb schon „willkürlich“ und damit auszugleichen. Eher ist es „zufällig“, wie man in den Lebenslotterien abschneidet, was für eine gewisse, aber doch nicht zu expansive Umverteilung der Früchte der Arbeit spricht. Und selbst wenn man Glück gehabt hat in der ursprünglichen Ausstattungslotterie, kann immer noch viel schiefgehen.33 Ferner: Sollte man nicht aus Gründen der Gerechtigkeit von vornherein auch einen Blick darauf werfen, warum manche es zu etwas bringen und andere nicht, obwohl die „Ausstattung“ ähnlich war? All diese Aspekte, so kann man mit Fug und Recht behaupten, gehören in eine „Theorie der Gerechtigkeit“ mit hinein und könnten das Postulat der effizienten Umverteilung aufgrund der Willkürlichkeit der Lebenslotterien relativieren. 32 Kritisiert werden hier gewisse Überziehungen und Einseitigkeiten der Konstruktion des Verfassungsvertrags hinter dem „Schleier des Nichtwissens“, nicht dagegen das Darstellungsmittel „Gesellschaftsvertrag“ generell, denn eine jede normative Moraltheorie und Legitimitätslehre muss bis zu einem gewissen Grad vom Gegebenen – den abfragbaren Präferenzen oder dem bloßen Blick auf das positive Recht – abstrahieren und einen Beurteilungsstandpunkt entwerfen: „konstruieren“. Das gilt auch für den Kommunitarismus, der dazu allerdings, wie hier dargelegt, einen anderen Weg wählt als die Gesellschaftsvertragstheorien im Allgemeinen und der „konstruktivistische“ Rawls im Besonderen. 33 Vgl. W. Brugger, Für Schutz der Flüchtlinge – gegen das Grundrecht auf Asyl!, JZ 1993, S. 119 ff., auch in: ders., Liberalismus (Fn. 17), § 14; Sandel, Liberalism? (Fn. 4), S. 66 ff.

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Das gilt schließlich auch für die „Willkürlichkeit“ der Unterschiede zwischen armen und reichen Staaten.34 Diese Unterschiede gründen sicherlich in zum Teil „nicht verdienten“ Umständen (wie zum Beispiel in dem Besitz oder Fehlen von wertvollen Bodenschätzen oder in klimatischen Umständen); doch gilt auch hier, dass „nicht verdient“ nicht umstandslos und kategorisch mit „willkürlich“ gleichzusetzen ist. Ferner muss es zumindest auch darauf ankommen, was arme und reiche (sowie weitergedacht: repressive und freiheitliche) Nationen aus ihrer Lage gemacht oder nicht gemacht haben.35 Kommunitaristische Theoretiker gestehen zu, dass Postulate sozialer Gerechtigkeit inner- und zwischenstaatlich auf Bindungen zurückgreifen müssen, die jenseits des egoistischen Interesses einzelner Individuen, Gruppen oder Staaten liegen; insoweit muss in der Tat jedes soziale Engagement vom reinen Eigen- oder Binneninteresse abstrahieren und ein allgemeines, moralisches Interesse verdeutlichen. Darin liegt noch kein bedenklicher Konstruktivismus. Die Frage ist, ob man alle Besonderheiten der Personen, Gruppen und Staaten und deren persönliche und kollektive Entwicklungen bei Legitimationsüberlegungen außer Acht lassen sollte, um dieses allgemeine Interesse zu formulieren. Rawls ist dieser Ansicht und hofft anscheinend, alle vernünftig denkenden Personen von seiner Sicht der Dinge überzeugen zu können. Doch ist das, wie gesehen, nicht der Fall. Konsens ist so nicht zu erreichen. Seine Konstruktion des Nichtwissens ist von vornherein auf einen egalitären und universalistischen Liberalismus zugeschnitten, in den sich persönliche und geschichtliche Besonderheiten einpassen müssen.36 Was könnte ein Kommunitarier zur sozialen Verantwortung und zur Sozialstaatsproblematik sagen? Er würde vom Konkreten zum Abstrakteren hin argumentieren, also nicht vom fiktiven „allgemeinen Menschen“ oder „allgemeinen Staat“ ohne Eigenschaften ausgehen wollen, sondern von den konkreten Persönlichkeiten und deren Gemeinschaften – angefangen von Familien über gesellschaftliche Vereinigungen (etwa Religionsgemeinschaften, berufliche Assoziationen usw.) bis hin zum Staat und zu supranationalen Organisationen – und auf deren jeweilige Verantwortlichkeiten reflektieren. In jedem dieser Bereiche lassen sich konkrete gegenseitige Verantwortlichkeiten aufweisen, die in Organisationsstrukturen und institutionellen und persönlichen Idealen (natürlich unterschiedlicher Verbindlichkeit) verdichtet, wenngleich nicht ein für allemal festgeschrieben sind. Alle Gemeinschaften – von der kontraktuellen Gelegenheitsvergesellschaftung bis 34 Vgl. W. Brugger, Menschenrechte von Flüchtlingen in universalistischer und kommunitaristischer Sicht, ARSP 80 (1994), S. 318 ff., auch in: ders., Liberalismus (Fn. 17), § 13. 35 Armut kann behoben, Reichtum kann verprasst werden – individuell wie kollektiv. Repression kann friedlich oder revolutionär aufgehoben, Freiheit kann verspielt werden. Das sind Gesichtspunkte, die in Diskussionen über gerechte Verteilung relevant sind! 36 Wobei man die Inhalte von der Argumentationsmethode unterscheiden muss. Man kann, wie das viele Kommunitarier tun, für den Sozialstaat und auch für starke Umverteilung eintreten, aber mit anderen Argumenten und mit klarem Verständnis und offenen Worten dafür, dass die einschlägigen Argumente nicht für jeden rationalen Menschen zwingend sind.

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zu den perennierenden Gebilden – tragen kulturell geprägte „Erfüllungsgestalten“ in sich, die weder „vom Himmel gekommen“ noch von situativen Präferenzen Einzelner abhängig sind. Die Erfüllungsgestalten sind durch Tradition und Kultur geprägt, aber auch für Revision im Lichte neuer Erkenntnis und Bewertung offen. Auf jeden Fall bilden sie den internen Anknüpfungspunkt für die Bestimmung konkreter sozialer Verantwortlichkeiten, etwa von Eltern, Berufskollegen, Glaubensbrüdern, Rechtsstaaten.37 Diese partikular geprägten Vorbilder sozialen Engagements tragen oft moralische Verallgemeinerungspotentiale38 in sich, die man auch Brückenprinzipien nennen könnte: (1) In vielen Gemeinschaften insbesondere im Nahbereich der Ethik lernt man schon „andere“ kennen und in den eigenen Verantwortungsbereich mit einzubeziehen – „Männer“ lernen „Frauen“ kennen und lieben, und umgekehrt; als „Eltern“ kümmern sie sich um „Kinder“. Im weiteren Umkreis steht die Sorge für die „Verwandtschaft“, aber auch das Sichkümmern um „Freunde“. (2) Die meisten Menschen leben in unterschiedlichen Gemeinschaften und treffen in jeder Gemeinschaft auf „andere“ Gruppenangehörige, mit denen sie spezielle Bande entwickeln; Mehrfachmitgliedschaften in Gruppen können Konflikte in einzelnen Bereichen lösen helfen. (3) Viele Gemeinschaften greifen über enge regionale oder nationale Grenzen hinaus – man denke an Religionen oder Berufsgruppen wie etwa die „internationale Arbeiterbewegung“ oder die weithin universelle Gemeinschaft im Wissenschaftsbereich. (4) Viele „unpersönliche“ Beziehungen, etwa im Geschäftsbereich, führen dazu, dass kooperatives Handelns allen Beteiligten zugute kommt und zu einer Perspektivenerweiterung und Zivilisierung sowie Stabilisierung der Kontakte führt. (5) Weil alle Menschen bestimmte Grundbedürfnisse wie etwa nach Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Anerkennung etc. teilen, können wir Entbehrungen, die andere in dieser Hinsicht erleiden, nachvollziehen und in unsere moralische Erfahrung integrieren. (6) Nationalstaaten wie Volkswirtschaften treten notwendigerweise miteinander in Verkehr und müssen sich auf das Faktum ein-

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Es steht in dieser Art von Reflexion also nicht das Moment der Freiwilligkeit der Übernahme von Verantwortung oder die Berufung auf subjektive Rechte im Vordergrund, sondern das angemessene Verständnis der jeweiligen Gemeinschaft und der mit dieser einhergehenden Verpflichtungen, die eben oft nicht freiwillig übernommen sind, sondern in die man hineingeboren wurde oder die einem von anderen zugeschrieben werden. Man denke etwa an kollektive Verantwortlichkeiten als Deutscher für die Nazizeit oder als US-Amerikaner für die Sklaverei. „Freiwilligkeit“, „Konsens“ äußert sich in solchen Situationen oft nur durch den Akt der Distanzierung, im Extremfall durch die Austritts-Option. Zur Überbetonung des Moments der Freiwilligkeit und der freien Wahl für gegenseitige Verantwortlichkeit im Liberalismus siehe Selznick (Fn. 1), S. 451 f. 38 Das Potential einer Erfüllungsgestalt wird natürlich nicht immer erreicht, sondern manchmal auch verfehlt. Das ist Teil menschlicher Praxis, spricht aber nicht gegen die Bedeutung von jeweiligen „master ideals“ für bestimmte Lebensformen. In diesem Sinne sind z. B. hohe Scheidungsraten kein untrügliches Indiz dafür, dass die Institution Ehe gescheitert ist. Vielmehr geben hohe Scheidungsraten Anlass zu der Frage, ob die Erfüllungsgestalt Ehe richtig gedeutet wird.

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stellen, dass sie auf einem Kontinent oder in der gemeinsamen Welt agieren und aufeinander Einfluss nehmen. Selbst diese verkürzende Darstellung macht schon den Kontrast zum Vorgehen von Rawls deutlich: Hier wird „von innen nach außen“ gefühlt und gedacht, empfunden und argumentiert39, während dort eher „von außen nach innen“, von der externen Warte des allgemeinen Menschseins hin zu den besonderen Formen, verfahren wird.40 Hier bemühen wir uns darum, möglichst viel über unsere partikulare Moral zu erfahren und sie im besten Sinn zu verstehen, dort versuchen wir, hinter dem Schleier des Nichtwissens konkrete Situiertheiten und Loyalitäten zu vergessen. Warum vergessen? Weil Rawls die konkrete Situiertheit der Menschen und die überkommene Moral jedenfalls für die Beantwortung von Legitimationsfragen verdächtig sind. Er sieht sie dem starken Verdacht ausgesetzt, vom individuellen und kollektiven Egoismus beeinflusst zu sein, was man auf der einen Seite nicht generell ausschließen kann, aber auf der anderen Seite auch nicht a priori annehmen sollte. Der kommunitaristische Standpunkt hat noch eine weitere Charakteristik: Da er von unterschiedlichen Lebensformen ausgeht, in denen spezifische Verantwortlichkeiten verankert sind, die vom Nahhorizont der Ethik (Beispiel: Familie) über den mittleren Horizont (sonstige spezielle Verantwortlichkeiten, etwa im Beruf, in der Religionsgemeinschaft, im Nationalstaat) bis zum Fernhorizont der Ethik (was alle Menschen sich gegenseitig als Menschen und im Staatenverkehr schulden) reichen, wird er immer schon von einer Stufen- oder Sphärentheorie der gegenseitigen Verantwortlichkeit geleitet.41 Soziale Gerechtigkeit ist nach dieser Sicht die angemessene Stufung der vielen Verantwortlichkeiten, ohne dass von vornherein eine Priorität nach innen (konservativer Kommunitarismus) oder nach außen, in Richtung allgemeine Menschheitsverantwortlichkeit (universalistischer, egalitärer Kommunitarismus) vorgegeben wäre. Schließlich erlaubt und erfordert der Kommunitarismus in Diskussionen über soziale Gerechtigkeit nicht nur Querschnittsanalysen existierender Gemeinschafts39

Vgl. Mulhall/Swift (Fn. 18), S. 102 ff., 129; Walzer, Lokale Kritik (Fn. 1), S. 61 ff. Vgl. Walzer, Kritik und Gemeinsinn (Fn. 7), Kap. I, der den Rawls’schen Konstruktivismus als „Pfad der Erfindung“ bezeichnet, während er selbst den kommunitaristischen „Pfad der Interpretation“ in der Moraltheorie bevorzugt (daneben gibt es noch den „Pfad der Entdeckung“, etwa in den Offenbarungsreligionen): „Alle unsere moralischen Kategorien, Beziehungen, Verpflichtungen und Hoffnungen sind bereits von dieser existierenden Moral geformt und werden in ihrem Vokabular formuliert. Die Pfade der Entdeckung und Erfindung sind Fluchtversuche: Versuche, zu irgendeinem äußeren und allgemeingültigen Standard zu finden, mittels dessen die moralische Existenz zu beurteilen wäre. Diese Anstrengung … ist … unnötig. Die Kritik des Bestehenden beginnt – oder kann doch beginnen – mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen“ (a.a.O., S. 31). 41 Vgl. Selznick (Fn. 1), S. 450 f.; Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik (Fn. 4), S. 29; ders., Democracy’s Discontent (Fn. 4), S. 16 f., 342 ff.; Walzer , Kritik und Gemeinsinn (Fn. 7), S. 17; ders., Lokale Kritik (Fn. 1), S. 42 ff., 154, 160 mit Fn. 26, 164 ff.; Brugger (Fn. 34), S. 326 ff. anhand des Michael Walzers Buch „Sphären der Gerechtigkeit“ entlehnten Flüchtlingsbeispiels. 40

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formen, sondern auch historische Längsschnittanalysen. Das sind Fragen danach, warum denn bestimmte Personen, Gruppen und Nationen es zu etwas gebracht haben, andere nicht. Solche Punkte in Gerechtigkeitsdiskussionen zunächst einmal auszublenden hinter einem Schleier des Nichtwissens, hält der Kommunitarismus für irrational und ungerecht. Das heißt nicht, dass man einen mittellosen Menschen, der „selbst dran schuld ist“, sterben lässt, oder dass man einem Bürgerkriegsland, das es in Jahrzehnten nicht geschafft hat, eine lebens- und freiheitsverträgliche Ordnung zu schaffen, jede Hilfe verweigert. Aber es impliziert, dass die staatliche Grundordnung in ihren einschlägigen Bestimmungen Differenzierungen bei der eigenen Opferbereitschaft erlauben muss. Differenzierungen müssen auch bei allen Personen nützlichen Grundgütern wie Einkommen und Vermögen möglich sein; Ungleichheiten in der Verteilung von solchen Grundgütern lassen sich nicht nur dann rechtfertigen, wenn sie jedermann Nutzen bringen, sondern auch, wenn sie Ausdruck des zurechenbar besseren oder schlechteren Fertigwerdens mit den Widrigkeiten des Lebens sind.42 3. Hier wird auch der Unterschied in den Begriffen der Moral zwischen dem konstruktivistischen Universalismus und dem Kommunitarismus deutlich. Der Rawls’sche Universalismus geht von „allgemeinen Menschen“ aus, die nur durch „allgemeine“ Eigenschaften wie etwa Rationalität und einen generellen Sinn für Gerechtigkeit gekennzeichnet sind. Konkrete Loyalitäten und Positionierungen mit entsprechenden Verhältnisbestimmungen moralischer Verpflichtungen kommen in diesem Stadium der Reflexion nicht vor. So wird Moral entkontextualisiert, entsubjektiviert und ahistorisch gedacht: Einziger Bezugspunkt moralischer Reflexion ist der freie und gleiche Mensch, sind alle Menschen als rationale Wesen, die Lebenspläne formen, allerdings mit dem Risiko, diese nicht verwirklichen zu können, weil man es in den Lebenslotterien „schlecht getroffen“ hat, was in der Folge dann zur starken Sozialstaatlichkeit als Risikominderungsinstrument führt. Die kommunitaristische Moral ist dagegen zunächst eine aus dem konkreten Individual- und Gemeinleben entwickelte Konventionalmoral. Über die angesprochenen Verallgemeinerungsschienen ist aber eine Berücksichtigung der Interessen anderer Menschen und Gruppen bis hin zu allgemeinen Menschheitsinteressen und damit zur Universalmoral möglich, ja sogar bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich, was man von Appellen an den „rational actor“ hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht sagen kann.43 Angezielt ist also eine gegenseitige Befruchtung 42

Das würde negativ zum Beispiel den Faulpelz treffen, der arbeiten könnte, aber nicht arbeiten will. Nach Rawls’ Gerechtigkeitsauffassung wäre das womöglich – je nach Interpretation des folgenden Satzes – ausgeschlossen: „Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht“: Theorie der Gerechtigkeit, Taschenbuchausgabe (Fn. 2), S. 83. 43 Selznick (Fn. 1), S. 446 macht darauf aufmerksam, dass das Rawls’sche Differenzprinzip, das Ausdruck der starken Umverteilung in Richtung Arme und Schwache ist, im Rahmen unserer Tradition wirkungsmächtig und identitätsbildend von jüdisch-christlichem Gedan-

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von Konventional- und kritischer Moral, von Partikular- und Universalethik.44 Der konservative Kommunitarismus lässt sich dadurch kennzeichnen, dass er Verallgemeinerungsschritte nur marginal und zögernd macht, während der liberale Kommunitarismus hier offener ist. Er ist aber immer bemüht, den Anschluss an die Konventionalmoral zu halten, d. h. deutlich zu machen, warum und inwieweit diese Ausweitung schon integraler Teil der Erfüllungsgestalten unserer überkommenen Moral ist45; ferner behält er die einschlägigen Sphären und Stufen moralischer Verantwortlichkeit im Blick. In egalitär-universalistischen Moraltheorien aller Art geraten genau diese beiden Punkte tendenziell ins Abseits. Die Anbindung an die konkrete, überkommene Moral hat den zusätzlichen Vorteil, dass in einer solchen Theorie das principium dijudicationis, die Bestimmung des Umfangs konkreter Verbindlichkeiten, und das principium executionis, die Motivation zur Erfüllung der konkreten Pflichten, eng verbunden bleiben. Eine Moraltheorie tut gut daran, diese Verknüpfung nicht aufzulösen; nur durch gegenseitige Befruchtung der beiden Aspekte kommt eine „vollständige Moraltheorie“46 zustande. Ohne deutliche Anknüpfung an die Konventionalmoral, d. h. an Praktiken, Einstellungen, Gewohnheiten, Loyalitäten, die moralische Pflichten verdichten, bleiben moralische Postulate leer, beliebig, utopisch und auch leicht ideologisch ausbeutbar.47 Man übersieht etwas Wesentliches, wenn man die Befolgung moralischer Gebote lediglich als psychologisches Problem abtut, das man mit der richtigen Pädagogik lösen könne. Die Befolgungsbereitschaft weist indirekt auch auf die angesprochene Stufung hin, ist also Teil der Dijudikation, wenngleich mit ihr nicht identisch. Für „allgemeine Menschen“, die alle gleich frei sind und nichts Konkretes kengut geprägt ist: „This principle strongly echoes the Judeo-Christian association of righteousness with concern for the poor and powerless, for ,the least of my brethren‘. But the premises are different. The difference principle is founded in rationality and reciprocal advantage, not in sympathy and benevolence … This way of thinking faithfully reflects the troubled ethos of welfare liberalism.“ 44 Vgl. hierzu Selznick, Commonwealth (Fn. 8), Kap.14 mit der Unterscheidung von „piety“ und „civility“. In der Sache (wenngleich nicht in der Terminologie) ähnlich und anhand des Beispiels europäische Einigung: M. Karlsson, Preface, und A. Ingram, The Empire Strikes Back: Liberal Solidarity in a Europe des Patries, beide in: Recht, Gerechtigkeit und der Staat (Rechtstheorie, Beiheft 15), 1993, S. V ff., 7 ff. 45 Vgl. Walzer (Fn. 39, 40); Selznick, Commonwealth (Fn. 8), S. 393: „Properly understood, critical morality is (1) informed by historical and comparative study of moral experience; (2) anchored in the ethos of a particular culture; (3) responsive to the demand for justification; (4) enriched by dialogue; and (5) refined by a reasoned elaboration of concepts and principles.“ 46 Hierzu W. Kersting, Verfassung und kommunitäre Demokratie, in: Frankenberg (Fn. 10), S. 84 ff., der, wie der hier vertretene liberale Kommunitarismus, auf eine Synthese der beiden Ansätze abzielt. 47 Vgl. Selznick, Commonwealth (Fn. 8), S. 395: „Critical morality … cannot be freefloating and self-contained. The attempt to judge without preconceptions, in a spirit of wholesale rejection, leads to sterility and irrelevance or to the arbitrary imposition of unworkable ideas.“ Umgekehrt ist auch die Gefahr des Absolutsetzens der Partikularmoral zu sehen: Engstirnigkeit, Abschottung, Ausgrenzung, Freund-Feind-Denken. Vgl. a.a.O., S. 390, 392 f.; Brugger, Menschenrechte von Flüchtlingen (Fn. 34), S. 333 Fn. 73.

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wissen, scheint es kein Moralbefolgungsproblem zu geben; in der Konstruktion von Rawls ist dieses immer noch klärungsbedürftig. Sicher genügt kein rationales Kalkül, denn dieses ist streitig und eine höchst prekäre Grundlage für moralisches Engagement.48 Zudem verbaut das Ausgehen in der moralischen Reflexion vom „allgemeinen Menschen“ den Blick auf die angemessene Stufung von sozialem Ausgleich und gegenseitiger Fürsorge zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften und tendiert zur einseitigen Bevorzugung des Fernhorizonts der Ethik.49 4. Es gibt allerdings neben dem „konstruktivistischen“ Rawls noch einen (wenn man so will) kommunitaristischen Rawls in der „Theorie der Gerechtigkeit“, vor allem an den Stellen, wo das Verfahren des Überlegungsgleichgewichts beschrieben wird.50 Dieses besteht in dem Hin- und Herwandern des Blickes und der moralischen Reflexion zwischen konkreten moralischen Intuitionen und Urteilen (etwa: Farbige oder Juden oder … dürfen nicht diskriminiert werden) und solchen übergreifenden Prinzipien, in denen diese konkreten Einschätzungen konsistent und kohärent zu thematisieren und damit auch zu rechtfertigen sind (also etwa: Alle Menschen sind unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Religion gleich zu behandeln). Die Interpretation der konkreten Urteile aus dem Blickwinkel der allgemeinen Prinzipien hat unvermeidlich eine verallgemeinernde Dimension, weil jedenfalls bis zu einem gewissen Grad von den Besonderheiten der konkreten Ausgangsfälle abstrahiert werden muss. Wenn wir dieses Verfahren als Basis der Erarbeitung einer angemessenen Moraltheorie ansehen, dann stellt sich allerdings die Frage: Soll eine der beiden Perspektiven den Vorrang erhalten? Wer Moral von vornherein nur als für jeden Menschen in gleicher Weise gültige und einsehbare Moral versteht, für den bietet sich ein Vorrang und eine Universalisierung der Prinzipienebene an, denn dort ist es (allerdings nur in der Theorie) einfach, partikulare Vorverständnisse und Besonderheiten per Abstraktion verschwinden zu lassen (etwa hinter einem „Schleier des Nichtwissens“). Wer dagegen, wie der konservative Kommunitarismus, Moral primär durch konkrete Moralurteile und konventionelle Verständnisse bestimmt ansieht, für den steht Vorsicht gegenüber der Ausblendung des Besonderen und der Besonderheiten auf der Tagesordnung. Hält man dagegen, wie der liberale Kommunitarismus, die Balance offen, dann hängt es von Intuition und Reflexion, Konvention und Kritik, Überzeugung und Dialog ab, ob und inwieweit Prinzipienbildung konkrete Moralurteile verallgemeinert oder aber konkrete Moralurteile abstrakte Prinzipien relativieren oder uminterpretieren.

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Vgl. oben Fn. 43. Es ist kein Zufall, dass Kommunitaristen oft darauf hinweisen, dass universell-egalitär orientierte Liberale Schwierigkeiten haben, mit dem Phänomen des Patriotismus etwas anzufangen, der mit der Verbundenheit, Loyalität und Opferbereitschaft nur oder zumindest vorrangig für das eigene Vaterland (und nicht alle Länder) zu tun hat. Vgl. die einschlägigen Stellungnahmen in: Honneth (Fn. 4), S. 15, 69, 84 ff., 92 ff., 111 f., 116 ff., 121 ff., 199 f.; Kersting (Fn. 46), S. 93 ff.; Selznick, Commonwealth (Fn. 8), S. 389 f. 50 Vgl. Rawls, Theorie (Fn. 27), S. 38 f., 68 ff. u. ö. 49

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5. Praktische Rationalität im liberalen Kommunitarismus: Die vorangehenden Erläuterungen zum Moralverständnis im liberalen Kommunitarismus sind Spezifikationen der ihn leitenden Konzeption praktischer Rationalität:51 a) Praktische Vernunft ist erfahrungsgeleitet, auf der Ebene individuellen Lebens wie gemeinschaftlicher Lebensformen. Da Erlebnisse, die zu normativen Beurteilungen von Personen, Situationen und Institutionen führen, immer konkret sind, muss Theorie auf diese Erlebnisse zurückbezogen bleiben. Sie braucht sie nicht „abzubilden“ (wenn dies überhaupt möglich wäre), sondern sollte sie in der Reflexion begrifflich und konzeptionell verarbeiten, affirmativ oder kritisch, sich aber immer bewusst bleiben, dass die kontingenten Erfahrungen das Primäre bleiben müssen – ansonsten besteht die Gefahr, dass Theorie utopisch, manipulativ und beliebig wird oder sich gegen neue Erfahrungen immunisiert.52 Das „Sollen“ praktischer Urteile muss also im und aus dem „Sein“ der Praxis entwickelbar sein.53 Vom „Leben“ führt die Schiene über „Erleben“ zu „Erfahrung“, zu „Beurteilung“ und „Handlung“ und letztlich zur „Theorie praktischer Vernunft“, wobei die Verbindung zwischen allen Elementen aufrechterhalten werden muss. Logische oder deduktive Folgerungen einmal gewählter Prämissen sind in dieser Sichtweise nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern zunächst einmal bloße Behauptungen ohne praktisch zwingende Konsequenzen. b) Eine kritische Rolle wird der praktischen Vernunft damit nicht versagt, denn Reflexion auf Negativerfahrungen durch Formulierung von praktischen Maßstäben in Moral und Recht kommt oft in Krisenzeiten zustande, in denen bisherige Verständnisse und Praktiken nicht mehr weiterführen, Kritik und Reform also angezeigt sind.54 Weiterhin gibt es Erfahrungen, die viele, vielleicht sogar alle Menschen 51

Praktische Rationalität, so wie sie hier verstanden wird, hat Affinitäten zum Kritischen Rationalismus, wie er von Karl Popper und Hans Albert entwickelt worden ist. So könnten etwa die bei Fn. 38 genannten Verallgemeinerungsschienen als „Brückenprinzipien“ im Albertschen Sinne rekonstruiert werden: Traktat über kritische Vernunft, 3. Auflage 1975, S. 76 f. Walzer, Kritik und Gemeinsinn (Fn. 7), S. 34, thematisiert die Moralentwicklung anhand der Kategorie „Versuch und Irrtum“. Noch mehr Impulse verdankt das hier entwickelte Rationalitätsverständnis allerdings Philip Selznicks Exposition in Kap. 2 von „The Moral Commonwealth“ (Fn. 8), die in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus steht. Zu beachten ist, dass man im Rahmen dieses methodischen Ansatzes inhaltlich, je nach Sachlage, durchaus auch konservative oder egalitär-universalistische Positionen vertreten kann. 52 Vgl. schon oben Selznick (Fn. 47) zur „critical morality“ und Rentsch (Fn. 25), S. 62 ff., 71 ff. u. ö. zur „Primärwelt“, ferner W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537, 569 f. 53 Damit wird nicht die logische Unterscheidbarkeit von Sein und Sollen bestritten, sondern nur darauf aufmerksam gemacht, dass in Erfüllungsgestalten praktischer Lebensvollzüge und Lebensformen beide Ebenen aufeinander verweisen. Vgl. Selznick (Fn. 29) zu „master ideal“ und Rentsch (Fn. 25), S. 121. 54 Da praktische Rationalität auf theoretischer Rationalität aufbaut, gehören zu „Erfahrung“ selbstverständlich auch Erkenntnisse über das Funktionieren der empirischen Welt, über Kausalitäten im engeren Sinn wie Voraussetzungen und absehbare Folgen beabsichtigter Maßnahmen.

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machen und gleichsinnig beurteilen (etwa im Bereich der Grundbedürfnisse) oder die zwar nicht alle Menschen machen, aber trotzdem im gleichen Sinn beurteilen – man denke an exemplarische Unrechtserfahrungen, die zur Formulierung von Menschenrechtsforderungen und zur Unterstützung solcher Forderungen auch durch Nichtopfer führen.55 c) Da Erleben, das Gewinnen von Erfahrung und Erfahrungsreflexion Grundbedingungen von Menschsein überhaupt sind, zählen für die praktische Vernunft die Erfahrungen aller Menschen, und da alle diese Menschen kommunikative Wesen sind, zählen Dialog, Bemühen um Konsens oder jedenfalls verträgliche Kompromisse ebenfalls zur praktischen Rationalität. Sie ist also demokratisch; die Stimme aller zählt, es gibt kein Zwei-Klassen-Schema der Moralerkenntnis mit einer kategorischen Abstufung von besonders Einsichtigen und bloßen Meinungsvertretern. Im Streit um soziale Gerechtigkeit kommt es nicht nur auf die Bedürfnisse derjenigen an, die etwas einfordern, sondern immer auch auf die Perspektive derjenigen, die etwas geben sollen.56 Genauso müssen bei politischen Entscheidungen die Mehrheits- wie die Minderheitsverständnisse berücksichtigt werden. d) Dabei ist zu berücksichtigen, dass Vernunft neben der Wahl geeigneter Mittel für feststehende Zwecke auch Zweckreflexion umfasst. Im individuellen wie im kollektiven Leben bedarf es der Reflexion auf Ideale gelungener Lebensführung als Individuum und als Mitglied von Gemeinschaften, angefangen von familiären, beruflichen und weltanschaulichen Gemeinschaften bis hin zum Staat, zur Europäischen Union und zur Völkerrechtsgemeinschaft und deren leitenden Gemeinwohlund Gerechtigkeitsverständnissen. Praktische Rationalität heißt Wissen um die Komplexität der Charakterisierungen und Verbindungen von Mittel und Zweck; je nach Lage und Perspektive verschieben sich hier die Einschätzungen. Praktische Rationalität umfasst die Entwicklung von Erfüllungsgestalten, arbeitet also mit der Unterscheidung von Vorform oder Basiskonzept und Erfüllungsgestalt oder Vollform. Moralisch handeln etwa heißt zumindest, dass man andere nicht quält, aber ist damit auch die Pflicht umfasst, allen Bedürftigen zu helfen? Staat ist jedes politische Gemeinwesen, das effektiv die Hoheitsgewalt über ein Gebiet und ein Volk ausübt, aber Rechtsstaat meint mehr als das, und sozialer Rechtsstaat greift noch weiter. Die Erfüllungsgestalten sind kulturell vorgeprägt, aber nicht ein- für allemal in Stein gemeißelt. Sie können erreicht oder verfehlt werden; hieran können Affirmation und Kritik anschließen. Konsens soll angezielt werden, ist aber nicht immer zu erreichen.

55 Näher zur Struktur „exemplarischer Unrechtserfahrungen“ Brugger, Liberalismus (Fn. 17), S. 109 f., 129 f., 291 ff.; Walzer, Lokale Kritik (Fn. 1), S. 13 ff. 56 Das wird oft nicht deutlich gesagt, vor allem in Menschenrechtsdiskussionen, wenn es um soziale Rechte, Fürsorge, Asyl oder Zuwanderung geht. Da Menschenrechte aber auf rechtliche Verankerung abzielen, muss man neben dem meist unstreitigen „Recht auf“ diverse Güter immer auch den Adressaten dieser Verpflichtung, also das oft streitige „Recht gegen“ benennen, und die Interessen und Gerechtigkeitsvorstellungen der Verpflichteten mit einbeziehen. Hierzu Brugger, Liberalismus (Fn. 17), S. 130 ff., 303 ff.

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e) Erfüllungsgestalten gibt es für alle Lebensformen, private, gesellschaftliche, staatliche, supranationale. Praktische Rationalität ist also bereichsspezifisch und plural und somit auf gegenseitige Abschichtung und Koordination angewiesen. Wann immer ein Wert absolut gesetzt und gegen alle anderen, konkurrierenden Werte durchgesetzt wird, spricht alles für ideologische Voreingenommenheit und eine „Tyrannei der Werte“57 in Form des einen, dominanten Werts. Der unvoreingenommene Blick auf die einschlägigen Erfahrungen und Kontexte wird aber in aller Regel zeigen, dass in den jeweiligen Lebenszusammenhängen mehrere Ideale und Ziele einschlägig sind und nach Beachtung verlangen. Dies gilt nicht nur für schwierige Entscheidungen im individuellen Leben, sondern auch in Politik und Recht.58 Von daher muss praktische Rationalität misstrauisch sein gegen Alles-oderNichts-Lösungen; gegen absolut geltende Prinzipien und unbeschränkbare Rechte, die sich immer durchsetzen, was die Folgen auch sein mögen59; gegen schroffe Entgegensetzungen von „Sein und Sollen“, „theoretischer und praktischer Vernunft“, „Gefühl und Verstand“, „Intuition und Reflexion“. Sie hält sich offen für und hält Ausschau nach Gemeinsamem im Unterschiedlichen, nach Kontinuitäten im Wechsel, nach Vollformen bislang rudimentär entwickelter Rationalitätsformen und Lebensbereiche. Kurz: Praktische Rationalität ist erfahrungsgeleitet, reflexionsorientiert, dialogisch, plural, kontinuitätsbedacht, entwicklungsoffen und auf Erfüllungsformen hin angelegt. 6. Der moderne Staat in kommunitaristischer Perspektive: Nach Thematisierung der Bereiche Mensch-Gemeinschaft, Moral- und Rationalitätsverständnis sowie soziale Verantwortung und Gerechtigkeit im Rawls’schen Konstruktivismus und im Kommunitarismus können wir zum Verständnis des modernen Staates zurückkehren, mit dem der Abschnitt IV. begann. Dort wurde in groben Zügen erst die Unrechtserfahrung skizziert, die zur Entstehung des politischen Liberalismus führte, anschließend die theoretische Behandlung dieser Erfahrung in der Gesellschaftsvertragstheorie Rawls’scher Prägung dargelegt. Wenn man dem kommunitaristischen Moral- und Rationalitätsverständnis folgt, dann brauchen wir keinen „Schleier des Nichtwissens“ à la Rawls, um zu Ethik, Moral und Recht und zur Verfassungslegitimität etwas sagen zu können. Wir können, wenn wir erst einmal verstanden haben, welche konkreten Absichten in seine Formulierung eingegangen sind und dass diese auf angreifbaren Prämissen wie der Versicherungsmentalität der Verhandlungspartner und der Willkürlichkeit der Lebenslotterien aufbauen, den Schleier des Nichtwissens schlicht wegnehmen. Dann brauchen wir nicht mehr zu vergessen, 57 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Carl Schmitt in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, 1967, S. 37 ff. Dies ist auch der Kernpunkt von Michael Walzers Buch „Sphären der Gerechtigkeit“ (Fn. 7). Vgl. dort S. 46 ff. 58 Vgl. ausführlich W. Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, JuS 1996, S. 674 ff., auch in: ders., Liberalismus (Fn. 17), § 1; Walzer , Lokale Kritik (Fn. 1), S. 127 ff. 59 Vgl. zu einem solchen Fall W. Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), S. 67 ff., auch in: ders., Liberalismus (Fn. 17), § 18.

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wer wir sind, sondern wir sollten uns, in Fortführung des Verfahrens des Überlegungsgleichgewichts, darauf besinnen und verständigen, wofür wir als Individuen und mit unseren Gemeinschaften stehen. Wenn wir eine solche Überlegung im Hinblick auf die Legitimitätsgrundlagen unseres Gemeinwesens anstellen, dann sehen wir anhand der schon zu Beginn des IV. Abschnitts eingebrachten Stichworte, dass es sich hier um eine stufenweise Ausweitung relevanter Legitimitätskategorien in Antwort auf konkrete Unrechtserfahrungen, also Entwicklungsschritte von einer Basis- oder Vorform zu einer Vollform oder Erfüllungsgestalt legitimer Staatlichkeit und, weitergedacht, supranationaler Organisation handelt. Man kann hierfür unterschiedliche Begrifflichkeiten wählen: Im Rahmen von Georg Jellineks Statuslehre60 kann man die Entwicklung vom modernen, zentralistischen Flächenstaat zu Beginn der Neuzeit bis hin ins 20. Jahrhundert als eine fortschreitende komplexere Positionierung des Bürgers im Staat sehen: vom status subjectionis im souveränen Staat über den status libertatis und den status activus im demokratischen Rechtsstaat bis hin zum status positivus im Sozialstaat in der Folge der industriellen Revolution und dem status europaeus bzw. universalis im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse des 2. Weltkriegs. Heute, im Rahmen unserer Tradition und Reflexion auf die Grundlagen moderner Staatlichkeit, umfasst Verfassungslegitimität alle diese Prinzipien und die ihr zugeordneten, passenden Institutionen. Es ist durchaus möglich, diese Anreicherung des staatlichen Legitimitätsverständnisses auch in anderen Kategorien zu thematisieren: Man könnte etwa an folgende Entwicklungslinien denken: von ökonomischer und demokratischer zu sozialer und universeller Freiheit61; von formaler und politischer zu sozialer und globaler Gleichheit im Sinne von gleichem Respekt für alle Menschen und gleicher Berücksichtigung der Interessen aller Menschen62; oder von formaler zu materialer und globaler Rechtsstaatlichkeit63 ; oder von Mehrheitsdemokratie zu freiheitlicher, repräsentativer, kommunitärer Demokratie64 ; oder vom Rechtsschutzstaat zum Leistungsstaat65; oder von repressiver zu autonomer und responsiver Rechtsordnung66. Diese Beispiele belegen die Fruchtbarkeit des kommunitaristischen Ratio60 Vgl. G. Jellinek, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, 2. Aufl. 1905, Kap. VII-X und ders., Entstehung (Fn. 21), S. 45 ff., 61 ff. 61 In diesem Sinne kann man John Rawls und (moderne Rekonstruktionen von) Kant lesen. Zu Letzterem siehe Bielefeldt (Fn. 22), Kap. IV. 62 Dieser Position steht R. Dworkin nahe mit seinem Grundwert „equal concern and respect“: Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 297 ff. 63 Vgl. E. Denninger, Staatsrecht 1, 1973, Kap. IV ff.; ders., Menschenrechte und Grundgesetz, 1994. 64 Vgl. Kersting, Verfassung (Fn. 46); Selznick, Commonwealth (Fn. 8), S. 501 ff. 65 J. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, 1984, S. 97 ff. 66 P. Nonet/P. Selznick, Law and Society in Transition. Toward Responsive Law, 1978. In Kap. I dieses Buches findet sich eine präzise Darlegung der Leistung und Grenzen evolutionären Denkens.

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nalitätsverständnisses, das sich in den geschichtlichen Rekonstruktionen legitimer Staatlichkeit widerspiegelt: (1) Alle diese Konzepte sind erfahrungsgeleitet; sie spiegeln konkrete geschichtliche Unrechtserfahrungen wider. (2) Sie sind kritisch, weil sie aus Krisenerfahrungen geboren wurden, aber auf deren positive Bewältigung angelegt sind. (3) Sie alle bemühen sich um Dialog, friedliche Streitbeilegung und größtmögliche Zustimmung. (4) Zu diesem Zweck verfeinern die Autoren die Staatszwecke und reichern sie an; gleichzeitig verzichtet der Staat in Verfolgung seiner Ziele dem Grundsatz nach auf bestimmte Mittel wie Manipulation und Repression. (5) Schließlich wird deutlich, dass sich Legitimität nicht angemessen durch ein einzelnes Prinzip und eine einzelne Institution verwirklichen lässt. Es bedarf im Bereich staatlicher Institutionen komplexer, sich gegenseitig in Schach haltender und sich gleichzeitig unterstützender Arrangements der Gewalten67, um der Komplexität der Verhältnisse und den anspruchsvollen Staatszielen Rechnung zu tragen. Das ist nichts anderes als der institutionelle Ausdruck der vielfältigen Bürger-Staat-Positionierungen, die, wenn man sie denn im Rahmen eines einzelnen Prinzips thematisieren will, einer entsprechenden Binnendifferenzierung bedürfen, um die unausweichlichen Spannungen (etwa zwischen dem Menschen als Privatperson, bourgeois und dem Bürger, citoyen) in den Griff zu bekommen.

VI. Kommunitarismus und Einigung Europas 1. Kommunitarismus ist nicht primär eine Rechts- und Staatstheorie, sondern sieht den Aufbau der menschlichen Welt zunächst von den Primärverhältnissen und vom Nahhorizont menschlichen Erlebens aus, der allerdings dann notwendig auch zu gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Sekundärorganisationen und zum weiteren Horizont individuellen wie kollektiven Erlebens und Handelns führt.68 Diesem Sachverhalt trägt die Europäische Union dadurch Rechnung, dass sie den einzelnen Individuen der Mitgliedstaaten der EU, den Verbänden wie Ehe, Familie, Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften sowie generell „gesellschaftlichen“ Assoziationen jedweder Art Grundrechtsschutz gewährt. Rechtstechnisch geschieht dies auf mehreren Ebenen: durch Verpflichtung der EG und EU auf die Europäische Menschenrechtskonvention, durch Bezug des Europäischen Gerichtshofs auf die Verfassungs- und Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten, durch die politisch beschlossene, aber noch nicht in eine verbindliche Rechtsform gegossene Grundrechtecharta sowie diejenigen Prinzipien des EG-Rechts, die der Sache nach wirt-

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So soll Gewaltenteilung nicht nur Tyrannei verhindern, sondern gleichzeitig die Erledigung von Staatsausgaben optimieren. Manchmal geht das zusammen, manchmal ergeben sich aus dieser dualen Funktionsbestimmung auch Spannungen. 68 Vgl. oben II. 3. und VI. 1.

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schaftliche Grundrechte auf individueller wie kollektiver Ebene verkörpern.69 Es geht insoweit, ganz kommunitaristisch, um Gewährleistung, Umhegung und Schutz nicht-staatlicher Organisationen70, von intimen Assoziationen wie Ehe und Familie bis hin zur ökonomischen Großorganisation, die EU-weit, grenzenüberschreitend, Produkte herstellt und Handel betreibt. Aufbau von unten nach oben, von Individuum und Gesellschaft über die politische Ordnung zu Mitgliedstaat und Europäischer Union ist das Motto. 2. Die ursprüngliche Europäische Wirtschaftsgemeinschaft selbst wurde in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet und hat sich im Laufe der folgenden fünf Jahrzehnte in ihren Aktivitäten und ihrem Selbstverständnis erweitert und transformiert durch Wegfall des „W“ in „EWG“ in eine „Europäische Gemeinschaft“, verbunden mit der Begründung einer „Europäischen Union“, die das Ziel einer politischen Einigung deutlicher benennt. Ein kurzer Blick zurück auf das Anfangsstadium lohnt.71 Drei Hauptmotive für die Einigung Europas standen im Vordergrund, die allesamt als auch kommunitaristisch eingestuft werden können72 : (1) Nach den Schrecken des 2. Weltkriegs sollte ein Regime etabliert werden, das Machtmissbrauch verhindern und Frieden in Europa garantieren, insbesondere aber auch den Aggressor Deutschland in Europa einbinden und kontrollieren sollte. Nach Ausbruch des Kalten Krieges gewann die Friedenssicherungsdimension eine zusätzliche Ost-West- und Block-Komponente. (2) Nachdem frühe Versuche einer militärischen und politischen Einigung fehlschlugen, stand für lange Zeit die ökonomische Integration Europas im Vordergrund. Mit dieser „funktionellen“ Einigung sollte eine effektivere und weiträumigere kapitalistische Wettbewerbswirtschaft zwischen den E(W)G-Ländern eingerichtet werden; gleichzeitig war es das Ziel der Mitgliedstaaten, grenzenüberschreitende Probleme etwa im Bereich des Verkehrs und des Umweltschutzes zu lösen. (3) Die politische Einigung Europas schritt langsamer voran. Mit dem Schritt zur Europäischen Union durch den Maastrichter Vertrag im Jahr 1992 und den Folgebestrebungen kam es zu einem Prozess, in dem immer mehr „politische“ Aktivitäten aus den Bereichen Inneres und Justiz sowie Außen- und Sicherheitspolitik einem – wenngleich noch nicht wie die Wirtschaftskompetenzen vergemeinschafteten – Regime europaweiter Koordination und Kooperation unterstellt wurden.73 69

Vgl. Art. 6 Abs. 2 EU-Vertrag; Art. 3 Abs. 1 c EG-Vertrag und z. B. T. Oppermann, Europarecht, 2. Auflage 1999, Rn. 489 ff. und die Nachweise in G. F. Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 261 ff., 357 ff., 462 ff. 70 Vgl. oben II. 3. 71 Zur Geschichte der europäischen Einigung und zu den leitenden Legitimations- oder Gemeinwohlkriterien siehe etwa A. Bleckmann, Europarecht, 6. Auflage 1997, Rn. 26 ff.; Oppermann (Fn. 69), § 1. 72 Es soll nicht behauptet werden, dass die kommunitaristische Deutung dieser Entwicklung und Kriterien die einzig mögliche ist. Daneben gibt es andere Deutungen, etwa systemtheoretische, ökonomische, neutralitätsliberale usw. 73 Zu dem hiermit angesprochenen Drei-Säulen-Modell der EU siehe Art. 1 EU-Vertrag und U. Haltern, Europarecht, 2005, S. 55 f.

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Nimmt man dann noch die militärischen Verteidigungssysteme auf transnationaler Ebene dazu, die nach wie vor stärker bei der NATO als bei rein europäischen Streitkräften liegen, dann lässt sich das Gesamtbild so beschreiben: Grenzüberschreitende wirtschaftspolitische Aktivitäten sind heutzutage weitgehend in der EG vergemeinschaftet; für damit verknüpfte Bereiche wie etwa Umweltschutz, Forschung und technologische Entwicklung gilt weitgehend das Gleiche. Stärker politisch-rechtsstaatliche Bereiche wie etwa Verwaltungs- und Polizeiaufgaben sowie identitätsbestimmende Aktivitäten etwa im Bildungsbereich sind weniger europäisiert. Für solche Bereiche wie auch Systeme sozialen Ausgleichs bleiben die Mitgliedstaaten nach wie vor primär verantwortlich. Immerhin: In vielen Bereichen haben die Mitgliedstaaten der EU durch Delegation staatlicher Macht und Souveränität über den Nationalstaat hinaus eine politisch-rechtliche Kontinentorganisation geschaffen, die nicht mehr nur – als internationale, völkerrechtliche Organisation – das Handeln unabhängiger Staaten intergouvernemental koordiniert, sondern einem supranationalen Regime unterstellt. Dieses Regime übt auf Rechtsetzungs- und Rechtsüberwachungsebene eigenständige, wenngleich nach wie vor stark durch die Mitgliedstaaten getragene und kontrollierte Macht aus; lediglich die Exekutivebene ist deutlich schwächer entwickelt. 3. Diese Entwicklung lässt sich ohne weiteres im Rahmen der kommunitaristischen Rationalitätskategorien von „erfahrungsgeleitet, reflexionsorientiert, dialogisch, plural, kontinuitätsbedacht, entwicklungsoffen und auf Erfüllungsformen hin angelegt“74 thematisieren. a) Erfahrungsgeleitet waren die Reflexion auf Europa und die institutionelle Entwicklung der europäischen Einigung vor allem, weil sie das Versagen des deutschen Nationalstaates, das Unglück über ganz Europa brachte, „reparieren“ wollten. Mittel war die Kreation einer „höheren“, erst sechs, dann immer mehr Mitgliedstaaten umfassenden westeuropäischen Organisationsstufe, in der das Sicherheitsrisiko Deutschland gezähmt und gleichzeitig zerstörerische nationalstaatliche Ressentiments eliminiert werden sollten; nach Überwindung des Kalten Kriegs haben sich die Ziele Frieden, Wohlstand, Freiheit auf ganz Europa erweitert. Erwähnung verdient auch die Parallelentwicklung auf völkerrechtlicher Ebene, deren wichtigstes Element das sich nach dem 2. Weltkrieg durchsetzende Menschenrechtssystem ist. Dieses fängt an bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1945 und reicht über den UN-Zivil- und UN-Sozial-Pakt von 1966 bis hin zu einem inzwischen weit gespannten Netz von regionalen und internationalen Menschenrechtspakten.75 Beachtet werden sollte allerdings die Grenze philosophischer Reflexion im Allgemeinen wie auch kommunitaristischer Rationalität im Besonderen: Solches „Lernen aus der Geschichte“ in Form von „Nie wieder Holocaust“ und „Nie wieder 74

Vgl. oben nach Fn. 59. Die einschlägigen Texte sind zusammengestellt in dem Band: Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz, 5. Auflage 2004 (Beck-Texte im dtv). 75

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Krieg in Europa“ ist in dem, was abgewehrt werden soll, ziemlich klar, weil es um exemplarische Unrechtserfahrungen geht. Im Positiven, insbesondere hinsichtlich Umfang, Tiefe und Letztziel europäischer Einigung sowie der dafür erforderlichen Institutionen, ist die philosophische Lektion nicht so klar. In der Regel sind hier mehrere Optionen möglich, was der Politik mehrere Möglichkeiten legitimer Wahl eröffnet. Einleuchtend ist im Nachkriegseuropa ein Rechtsregime, das transnational den Menschenrechtsschutz effektiviert; dafür steht aber schon die Europäische Menschenrechtskonvention und das stärker werdende System der Menschenrechte auf Völkerrechtsebene. Eine separate Europäische Grundrechtecharta ist nicht a priori notwendig; sie kann aber bei zunehmendem Dichtegrad europäischer Regelungen erforderlich werden, falls die anderen Grundrechtssysteme nicht ausreichen. Einleuchtend ist auch eine supranationale Verständigung über Umfang, Ziel und Grenze militärischer Macht. Dafür steht schon die NATO; eine EU-Streitmacht ist sicher eine mögliche Option, aber auf der Ebene kommunitaristischer Reflexion kein Muss, wenngleich einiges für eine Entsprechung von politischer, ökonomischer und militärischer Organisation spricht. Es ergibt angesichts der zunehmenden Globalisierung von Wirtschaft, Handel und Information auch Sinn, dass die europäischen Staaten sich politisch und ökonomisch stärker zusammenschließen; die Effektivierung und Bändigung dieser Bereiche gelingt nicht mehr nationalstaatlich, sondern setzt ein kontinentweites oder gar weltweites Rechtsregime voraus. Man kann insoweit eher an das klassische völkerrechtliche Instrumentarium gegenseitiger Abstimmung und Koordination über Gewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht in Form multilateraler Abkommen denken; man kann aber auch an dichtere, unabhängigere Rechtsorganisationen denken, wie sie exemplarisch in der EG entwickelt worden sind. Hier lässt die kommunitaristische Reflexion mehrere vertretbare Möglichkeiten offen; politische Entscheidung und pragmatisches Kalkül müssen die Abwägung in die eine oder andere Richtung lenken. b) Die Gesamtentwicklung der EU ist über die gesamten 50 Jahre im Sinne kommunitaristischer Rationalität „dialogisch, plural, kontinuitätsbedacht und entwicklungsoffen“ vorangeschritten. Sie hat sich, rechtstechnisch gesprochen, über völkerrechtliche Verträge mit weitreichenden Delegationen vormals nationalstaatlicher Kompetenzen vollzogen, also im Konsens, wenngleich ab und zu erst nach Streit über Art, Weg und Schnelligkeit der Einigung Europas. Trotz mancher Hürde und gelegentlichen Abwartens war eine Kontinuitätslinie auszumachen: Letztlich hat die EU ihre Kompetenz gegenüber den Mitgliedstaaten erweitert, so dass man inzwischen zu Recht von einer supranationalen Rechts- und Verfassungsorganisation spricht, die an Eigenständigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten erheblich gewonnen hat. Eine vollständige Verstaatlichung in Form von Vereinigten Staaten von Europa ist jedoch noch nicht eingetreten; eine solche Entwicklung ist auch nicht konkret absehbar. c) Hier ist die Verbindung zu dem kommunitaristischen Rationalitätskriterium „Zweckreflexion“, das sich, europarechtlich gewendet, als Besinnung auf das Endstadium europäischer Einigung darstellt. Wenn denn kontinuierlich die Kom-

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petenzen von EG und EU zunehmen, und im Prozess weiterer Ausdehnung der EU der acquis communautaire nicht angetastet werden darf76, also höchstens ein Mehr und nicht ein Weniger an europäischer Integration herauskommen darf, was soll dann das Endziel sein? Die Verträge bezeichnen das Ziel nicht; es ist aber an mehreren Stellen von einer „immer engeren Union“ der Mitgliedstaaten oder Völker die Rede.77 „Immer enger“ könnte bedeuten, dass die Integration Europas erst dann gelungen ist, wenn von der Zahl der Mitgliedstaaten und von der Intensität sowie Extensivität der rechtlichen Regelungen her eine kontinentweite Verstaatlichung in Form von Vereinigten Staaten von Europa eingetreten ist. Es könnte auch weniger als das bedeuten, obwohl man dann terminologisch Schwierigkeiten hat, dieses Gebilde zu benennen. Denn entweder entsteht wirklich Bundesstaatlichkeit europaweit – dann fallen die bisherigen Mitgliedstaaten, die bislang (wenngleich schon abgeschwächt) „Herren der Verträge“ waren, mehr oder weniger zurück in den Status, den in Deutschland die Länder haben. Oder aber die europäische Einigung begnügt sich mit einem Weniger. Das heißt dann aber konsequenterweise, dass dieses Gebilde in einem Zwischen bleibt und auf Mehrschichtenregierung, Verfassungsverbund und geteilte Souveränität setzen muss. 4. Die Ungelöstheit dieser Zielfrage78 hängt mit einem Problem zusammen, das kommunitaristische Reflexion benennen kann: a) „Immer engere Union“ ergibt wenig Sinn. Sinnvoll ist diese Formulierung nur von einem Zustand aus, der „noch nicht eng genug“ ist. Aber „immer enger“, ernst gemeint, endet mit „zu eng“. Kommunitaristisch geht es um eine sinnvolle Abwägung von Autonomie, Integrität (von Personen, gesellschaftlichen Gruppen, Staaten) und Integration (durch deren Zusammenschluss mit anderen Personen, Gruppen, Staaten), innerhalb und zwischen den Bereichen Markt, Staat, Zivilgesellschaft, unter Achtung bewährter Strukturen.79 Integration ist kein Selbstzweck. Sie muss sinnvoll oder geboten sein zur Durchführung von Aktivitäten und zur Befriedigung von Interessen, die separat oder auf der organisatorisch kleineren Stufe zu kurz kämen. Damit ist das Subsidiaritätsprinzip angesprochen, das inzwischen im Europarecht verankert ist80, aber eben in Spannung zur Forderung nach immer engerem Zusammenrücken steht. Das Subsidiaritätsprinzip gilt rechtstechnisch für die Ebene Mitgliedstaat – EG, aber kommunitaristisch verstanden gilt es sowohl für die Ab76

Vgl. Art. 2 5. Spiegelstrich EU-Vertrag. Vgl. Präambel und Art. 1 Abs. 2 EU-Vertrag; siehe auch Präambel, EG-Vertrag. 78 Hierzu Oppermann (Fn. 69), Rn. 887 ff., 912 ff.; E.-W. Böckenförde, Staat, Nation, Europa, 1999, S. 98. 79 Diese kommunitaristische Maxime ist in Art. 29 Abs. 1 GG treffend für die Frage nach der Neugliederung des Bundesgebiets formuliert: „Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit … zu berücksichtigen.“ 80 Vgl. Art. 5 EG-Vertrag. 77

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grenzung gesellschaftlicher zu staatlicher Organisation als auch für den Rahmen politischer Organisation, der von Kommunen und Ländern über Nationalstaaten und Regionen bis hin zu kontinentalweiten Rechtsgebilden und dem Völkerrecht reicht. Man kann dies auch föderale Gliederung in einem weiteren Sinne nennen.81 Eine solche Gesellschafts- und Rechtsstruktur sucht nach gelungenen Abgrenzungen von Nähe und Distanz; bemüht sich um eine jedenfalls grobe Entsprechung der Loyalitäten und Identitäten im Sozial- und Rechts-/Staatsbereich82 ; weiß, dass funktionierende Organisationen und Institutionen nicht beliebig planbar und einsetzbar sind; will demgemäß bewährte Strukturen so weit wie möglich bewahren und pflegen. b) Das führt zu einer weiteren Spannung, die eine von mehreren möglichen Erklärungen dafür liefert, warum es über das Endziel der europäischen Einigung keinen Konsens gibt. Der Schritt über die nationalstaatliche Organisation Europas hinaus in Richtung europäische Einigung war wesentlich bedingt durch die von Deutschland begangenen Gräueltaten im 2. Weltkrieg sowie das Versagen nationalstaatlicher Gesamtorganisation Europas bei der Friedenssicherung. Doch ist dieser negative Blick auf die Leistungsfähigkeit nationalstaatlicher Organisation einseitig, wie parallel zur Etablierung von EG und EU zunehmend wieder deutlich wurde. Denn diese Staaten erbringen auch erhebliche Leistungen für ihre Völker: Die Mitgliedstaaten der EU sind demokratisch, rechtsstaatlich und sozialstaatlich organisiert; sie stellen oft Schicksals- und Erinnerungsgemeinschaften dar, die dem Volk Zusammenhang und Zusammenhalt sowie eine eigene, unverwechselbare Gestalt vermitteln; in ihnen finden sich oft gelungene Kombinationen von Integrationsfaktoren, die von Geschichte über Sprache und Kultur zu Kunst und Religion reichen; sie haben eigene Mythen und Symbole. Kurz: Sie sind oft in der Lage, aus einer Bevölkerung ein Volk zu machen, das aus mehr als isolierten Individuen und ökonomischen Akteuren besteht. Solches ist nicht selbstverständlich, sondern stellt ein hohes Gut dar, das in aller Regel lange Entwicklungszeiträume braucht, um sich zu entwickeln, und das deshalb gehegt und gepflegt und nicht ohne Not aufgegeben werden sollte. Dass dies so ist, sieht man vor allem anhand des Kontrastes zum sich vereinigenden Europa: Die Europäische Union hat in fast allen genannten Aspekten Defizite; jedenfalls sind die Integrationsfaktoren in aller Regel schwächer entwickelt als auf der Ebene der bisherigen Mitgliedstaaten.83 Europa hat eine Flagge, aber wo kommt sie her, was bedeutet sie? Die EU hat eine Hymne, aber wie heißt sie, wie oft wird sie gespielt, kann man sie mitsingen? Europa ist auf der Suche nach Symbolen – 81 Vgl. Selznick, Persuasion (Fn. 8), S. 40 f.; ders., Commonwealth (Fn. 8), S. 369: „What we prize in communities is not unity of any sort, at any cost, but unity that preserves the integrity of persons, groups, and institutions. Thus understood, community is profoundly federalist in spirit and in structure. It is a unity of unities.“ 82 Vgl. Böckenförde (Fn. 78), S. 94 zum Schritthalten der unterschiedlichen Entwicklungsstadien, unter Zitation von BVerfGE 89, 155, 186 – Maastricht-Urteil. 83 Vgl. ausführlich U. Haltern, Europäische Verfassung und europäische Identität, Abschnitt IV., in diesem Band; ders. (Fn. 73), S. 20 ff., 60 ff.

VI. Kommunitarismus und Einigung Europas

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der 2002/03 tagende „Verfassungskonvent“ mit seinen Anklängen an den Konvent von Philadelphia im Jahr 1787, der zur Gründung der USA führte, ist ein Beispiel; aber ist es realistisch, ein „neues Philadelphia“ zu erwarten? Europa hat keine gemeinsame Sprache; die meisten Mitgliedstaaten der EU haben eine Landessprache.84 Europa hat viele unterschiedliche Kulturen, aber keine nur europäische Kultur: Soweit es um das Aufklärungserbe in europäischer Treuhänderschaft geht, etwa die Menschenwürdeidee und das Menschenrechtsdenken, sind diese Werte universalistisch angelegt.85 Soweit es um moderne Oberflächenkultur etwa im Unterhaltungsbereich geht, gibt es eigentlich keine europäische Kultur; diese ist, wenn überhaupt transnational geprägt, dann amerikanisch dominiert. Den meisten Europäern steht ihr – man beachte schon das Wort – Vaterland näher als die Union; wie viele würden Europa ihre „Heimat“ nennen?86 Die EU hat inzwischen eine gemeinsame Währung. Das sollte man nicht gering schätzen. Aber diese Erfolgsgeschichte ist noch jungen Datums, hat noch keine Krise hinter sich und ist, verglichen mit anderen Integrationsfaktoren, weniger identitätsbestimmend als geschäfts- und urlaubserleichternd.87 Zusammengefasst: Blickt man von der Versagensgeschichte des deutschen Nationalstaates und der nationalstaatlichen Organisation Europas weg und hin zu den Leistungen der Mitgliedstaaten der EU, dann kann man auf zwei sich widersprechende Kollektivantriebe schließen: Wir wollen ein Mehr an europäischer Einigung, aber eigentlich nicht ein Weniger an nationalstaatlichem Zusammenhalt! Genau dieser Widerspruch drückt sich in vielen Formelkompromissen des Europarechts aus.88 Nimmt man dann noch national unterschiedliche Vorstellungen von Umfang, Intensität und Ziel europäischer Einigung hinzu89, dann muss man kon84 Das ist der Kernpunkt einer Auseinandersetzung zwischen Dieter Grimm und Jürgen Habermas. Vgl. D. Grimm, Does Europe Need a Constitution?, European Law Journal 1 (1995); J. Habermas, Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 185 ff. 85 Das zeigt, dass Kriterien wie „Einhaltung der Menschenrechte“ notwendig, aber sicher nicht zureichend dafür sind, den Kreis möglicher Mitglieder der EU zu bestimmen. Es bedarf darüber hinaus engerer, partikularistischer Kriterien, die wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer gerade als Europäer (und nicht nur als Weltbürger) stiften. 86 Damit soll nicht geleugnet werden, dass es spezielle Personengruppen (politische und ökonomische Eliten) gibt, denen Europa stark am Herzen liegt, oder dass es spezielle Lagen gibt, in denen einem Europa nahe steht. Vgl. zu Letzterem die Briefe aus dem Obristengefängnis von G. A. Mangakis, Freiheit, meine Geliebte, 2001, S. 18, 37 f., 43 f. 87 Haltern (Fn. 83), Fn. 97, bemerkt: „Nichts ist gedächtnisloser als Geld.“ 88 Man vergleiche dazu die Präambeln und Eingangsartikel des EU-Vertrags und EGVertrags, die eine große Bandbreite von partikularen, mitgliedstaatlichen Werten einerseits und europäischen, ja oft universellen Werten andererseits erwähnen. Damit soll ein Oberflächenkonsens erzielt werden, weil auf dieser Ebene der Schein aufrechterhalten wird, man könnte das alles ohne Verluste bei dem einen oder anderen erreichen. 89 Etwa zwischen ökonomischem Zweckverband unter weitgehender Wahrung nationalstaatlicher Souveränität, wirklichem Bundesstaat oder Staatenverbund. Der Haupttext baut weitgehend auf allen Kommunitarismen gemeinsamen Aspekten auf, mit einer gewissen Anlehnung an den liberalen Kommunitarismus. Es wäre durchaus möglich, die drei Hauptformen des Kommunitarismus weiter zu entfalten und auf diese unterschiedlichen Zielvorstellungen

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§ 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus

statieren, dass es trotz vieler Gemeinsamkeiten auch genuine Spannungen innerhalb der Mitgliedstaaten gibt, die es verhindern werden, dass Europa in absehbarer Zeit zu einem „Vereinigte Staaten von Europa“ wird, analog zum amerikanischen Modell. Kommunitaristisch ist diese Spannung nicht unbedingt zerstörerisch. Sie macht die rechtliche Entscheidungslage in der EU sicherlich kompliziert und zwingt die Staatsbürger und Unionsbürger (nicht zu vergessen: die Weltbürger), mit mehreren Identitäten und gestuften Loyalitäten zu leben. Aber das muss kein Nachteil sein: Wenn es denn in der Tat so ist, dass wir in unserem Selbstverständnis zum Teil Deutsche, Europäer und Weltbürger sind (um nur einige wichtige Identitäten zu nennen), dann ist es sogar von Vorteil, wenn die Rechtsorganisation diese Sphären widerspiegelt.90 Dann ist die psychologische, soziale und rechtliche Lage zwar öfters etwas unübersichtlich, aber auf der anderen Seite kann es so vielleicht gelingen, eine Dominanz und Überwältigung durch eine der drei Ebenen abzuwehren. Wenn es dann noch gelingt, im Rahmen des kommunitaristischen Dreiecks von Markt-StaatZivilgesellschaft Machtanmaßungen eines der drei Bereiche vorzubeugen91, dann ist das eine zwar komplizierte, prekäre und anstrengende, aber angesichts der Reallage, in der wir uns befinden, durchaus befriedende und jedenfalls partiell befriedigende Lage.

europäischer Einigung zu beziehen. So hat etwa das ökonomische Zweckverbandsmodell starke Affinitäten zum konservativen Kommunitarismus, der partikular gewachsene politische Gemeinschaften so weit wie möglich bewahren will; das Bundesstaatsmodell dagegen hat deutliche Einschläge von universalistischem Kommunitarismus, allerdings reduziert auf kontinentstaatliche Organisation – sozusagen „Europa als ganze Welt“ oder doch zumindest Vorbild der ganzen Welt. 90 Vgl. generell zum Sphärendenken im Kommunitarismus oben Fn. 41, zum Entsprechungsdenken Fn. 82, sowie Brugger, Liberalismus (Fn. 18), S. 103, 108 f, 122 f., 140 f., 196, 267, 271, 299, 303, 309, 330, 404 f. Gewisse Verluste sind natürlich bei der Rechtssicherheit hinzunehmen. 91 Dies ist ein Grundthema in Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ (Fn. 7); vgl. auch Selznick, Persuasion (Fn. 8), S. 94 ff. zur Affirmation von Markt und Wettbewerb, verbunden mit einer Kritik an überbordender Marktmentalität.

Teil 4: Hard Cases

§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse Sicherheit, securitas, se cura – das Wort sagt es schon: ohne Sorge.1 Ein Mensch, der ohne Furcht und Angst lebt, ist frei, und entfaltet sich persönliche Freiheit in Sachen, entsteht vor uns das Bild von Leben, Freiheit und Eigentum in Sicherheit. Dieser Schutzgüter-Dreiklang, verstärkt durch den Sicherheits-Gleichklang, tönt so vollkommen wie die ersten Takte von Beethovens 5. Symphonie, erscheint so verheißungsvoll wie das Füllhorn in der Hand der Frauengestalt Securitas auf römischen Münzen, das Sicherheit in Hülle und Fülle verspricht.2 Die Realität belehrt uns jedoch schnell eines Besseren: Umfassende Sicherheit in all den Beziehungen und Aktionsfeldern, die für ein gelungenes Leben bedeutsam sind, ist nicht zu haben. Statt auf natürliche und göttliche Vorsehung bauen zu können,3 müssen wir uns selbst vorsehen, Vorsorge gegen Risiken und Gefahren treffen, soweit dies möglich, sinnvoll und für freie Menschen angemessen ist. Wir können uns zwar mit René Descartes bei Abwägungen von Freiheit und Sicherheit unserer Existenz sicher sein, cogito et dubito ergo sum, aber deren Entfaltung bleibt in risikoreiche Verhältnisse gebannt.4 Da verwundert es nicht, dass das Bedürfnis nach Sicherheit sich inzwischen ein Begriffsfeld geschaffen hat, das von individueller, sozialer, politischer, nationaler, internationaler, innerer, äußerer, technischer, wirtschaftlicher, medizinischer,

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Siehe M. Makropoulos, Art. Sicherheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 1995, Sp. 745; A. Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, Teil I, Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), 123, 133. Siehe auch F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973, S. 148, 167 Fn. 49. 2 Siehe Schrimm-Heins I (Fn. 1), S. 139; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht. Aspekte der Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion, 1987, S. 29; Kaufmann (Fn. 1), S. 52. 3 Zum vorneuzeitlichen, vorgegebenen, „archaischen“ Selbst- und Weltverständnis ausführlich Kaufmann (Fn. 1), Kap. 4, z. B. S. 211 f. Siehe auch J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 2. Aufl. 1928, S. 77 f., 333, zur mittelalterlichen Weltsicht: „Alles, was sich im Leben einen festen Platz erobert, was zur Lebensform wird, gilt als göttliche Einsetzung, die gewöhnlichsten Sitten und Gebräuche so gut wie die höchsten Dinge in Gottes Weltplan.“ 4 Hierzu A. Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, Teil II, Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 115, 127 f.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

Rechts-, System-, Reaktor-, Betriebs-, Straßen- und Verkehrssicherheit bis zur Datensicherheit reicht.5 Allen diesen Sicherheitsfeldern kann hier nicht nachgegangen werden, schon gar nicht in der eigentlich gebotenen Mehrebenenanalyse vom deutschen öffentlichen Recht über den europäischen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“6 bis zur Rechtsvergleichung und zum Völkerrecht.7 Ich konzentriere mich auf eine staatsund verfassungstheoretische Skizze, einen Blick ins Grundgesetz und zwei Fallbeispiele, deren verbindende Klammer das Anliegen des politischen Klimaschutzes ist.

I. Vormoderne Sichtweisen von Freiheit und Sicherheit Für das moderne Verhältnis von Freiheit und Sicherheit am wichtigsten ist die neuzeitliche Entwicklung großflächiger Territorialgebilde mit einheitlicher Herrschaftsgewalt, für die sich die Theorie des Staates im engeren oder modernen Sinn entwickelt hat. Doch ist schon für die vorhergehenden Stadien herrschaftlicher Organisation im Römischen Reich und im christlichen Mittelalter eine Ausrichtung an Sicherheit und Freiheit oder begrifflichen Äquivalenten charakteristisch. Securitas wurde im 1. Jahrhundert nach Christus zum politischen Begriff, der die Pax Romana repräsentierte. Seit der augusteischen Zeit standen die Begriffe „pax“, „securitas“ und „libertas“ für den Herrschafts- und Stabilitätsanspruch des Römischen Reichs, der vom christlichen Mittelalter übernommen und auf Kaiser und Könige als Verteidiger von Sicherheit und Freiheit unter der Schutzherrschaft Gottes übertragen wurde.8 Im Mittelalter waren Bedrohungen von Leib und Leben sowie Gefahren für den Bestand und den Austausch von Gütern allgegenwärtig,9 bei Rechtsverletzungen 5

Siehe etwa Schrimm-Heins I (Fn. 1), S. 123 f. und II (Fn. 4), S. 212, sowie Kaufmann (Fn. 1), S. 49 ff., 140 ff., 344. 6 Siehe Art. 2 und 29 EUV sowie Art. 61 EGV; ausführlich hierzu M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 557 ff., 618 ff. 7 Hierzu jüngst C. Walter/S. Vöneky/V. Röben/F. Schorkopf (eds.), Terrorism as a Challenge for National and International Law: Security versus Liberty, 2004. 8 Näher W. Conze, Art. Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 831, 832 ff.; Schrimm-Heins I (Fn. 1), S. 137 ff.; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1997, S. 29; Makropoulos (Fn. 1), Sp. 745 ff.; Kaufmann (Fn. 1), S. 52 f. 9 Eine eindrückliche Beschreibung findet sich bei Huizinga (Fn. 3), Kap. 1, insbesondere S. 25 f., 34 f.: „Das Volk kann sein eigenes Schicksal und die Ereignisse jener Zeit nicht anders erfassen, denn als eine fortwährende Abfolge von Mißwirtschaft und Aussaugerei, Krieg und Räuberei, Teuerung, Not und Pestilenz. Die chronischen Formen, die der Krieg anzunehmen pflegte, die fortwährende Beunruhigung von Stadt und Land durch allerlei gefährliches Gesindel, die ewige Bedrohung einer harten und unzuverlässigen Gerichtsbarkeit und außerdem

I. Vormoderne Sichtweisen von Freiheit und Sicherheit

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drohten Blutrache und Fehde.10 Dagegen sollten vielfältige lehens-, land-, korporations- und kirchenrechtliche Eide, Schutzbünde sowie der Aufbau herrschaftlicher Gerichtsbarkeit helfen,11 die einen wichtigen Teil der polyarchischen12 mittelalterlichen Verfassung13 bildeten. „Friede und Freiheit“ oder „Friede und Sicherheit“ sollten vertikal – etwa zwischen dem Papst und dem künftigen Kaiser14 – und horizontal – zum Beispiel zwischen Städte- und Ritterbünden – gewährleistet werden; daneben traten Bündnisse zur Sicherung von Verkehrswegen für Händler und Pilger,15 schließlich auch mit der Zunahme europäischer Fürstentümer immer mehr Bündnis-, Neutralitäts- und Protektionsverträge zwischen den Landesherren.16 Damit entwickelten sich begriffliche Unterscheidungen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht,17 innerer und äußerer Sicherheit18 und mit zeitlichem Abstand auch Vorformen von Völkerrecht.19 „Securitas publica“ wurde allmählich zum übergreifenden Begriff politischer Herrschaft.20 noch der Druck von Höllenfurcht, Teufel- und Hexenangst nährten ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit, das wohl dazu angetan war, den Hintergrund des Lebens schwarz zu färben.“ 10 Siehe H.-J. Becker, Das Gewaltmonopol des Staates und die Sicherheit der Bürger, NJW 1995, S. 2077, 2078: „Seit der archaischen Zeit sind die Rechtskulturen Europas von den Gesetzen der Blutrache und der Sippenfehde bestimmt. Die Zeugnisse aus germanischer bzw. fränkischer Zeit lassen erkennen, dass jeder freigeborene Mann zur Rache nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet war, wenn Leben, Ehre oder Besitz seiner Familie verletzt worden waren.“ 11 Zur Entwicklung der Gerichtsbarkeit Willoweit (Fn. 8), §§ 7 I 4; 9 II; 10 II 3; 12 III 2, IV 1; 15 I 4, sowie die Artikel Gerichtsverfassung (G. Buchda, Sp. 1563 ff.); Gesetzlicher Richter (P. Knauer, Sp. 1620 ff.) in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I, 1971, sowie den Artikel Landesfürstliche Gerichte (G. Theuerkauf, Sp. 1375 f.) in: ebd., Bd. 2, 1978. 12 So der Ausdruck von G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie-Werkausgabe Bd. 12, 1970, S. 478. 13 Zur Verwendung des Begriffs Verfassung für diese Periode siehe H. Mohnhaupt/ D. Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, 1995, S. 14 ff., 53 ff. 14 Conze (Fn. 8), S. 835: „Regelmäßig wurde seit der Karolingerzeit nach vorliegenden Formeln dem Papst vom künftigen Kaiser vor seiner Krönung ein Sicherheitseid geschworen (promissio regis), ein Schutzversprechen zunächst nur für die Kirche, sodann auch für die Person des Papstes und (seit Otto I.) seine Nachfolger mit der Versicherung: securitatem de vita, de membris, de papatu, de captione …“. Siehe auch Schrimm-Heins I (Fn. 1), S. 149 ff. 15 Siehe allgemein Becker (Fn. 10), S. 2079 f., und Conze (Fn. 8), S. 834 ff., 836 f., im Speziellen zum Straßenfrieden. „Nicht nur der Kaiser, sondern … die Landesherren sahen im Schutz der Verkehrswege ihre Aufgabe und schlossen miteinander Bündnisse zu diesem Zweck …“. 16 Siehe Conze (Fn. 8), S. 838 f. 17 Siehe M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, 1980, S. 70 f., 394 ff. 18 Siehe Conze (Fn. 8), S. 842 f. 19 Siehe O. Kimminich/St. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl. 2000, S. 35 ff.; H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl. 1995, S. 85 ff.; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 382 ff.; Stolleis I (Fn. 17), S. 186 ff., 398; Huizinga (Fn. 3), S. 344.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

Dass diesen Sicherheitsbündnissen im Inneren wie im Äußeren oft kein tatsächlicher Friedenszustand entsprach, machten die schwer zu unterdrückenden Fehden durch das ganze Mittelalter sowie politische und religiöse Rivalitäten seit dem Spätmittelalter21 und besonders sinnfällig der 30-jährige Krieg deutlich.22 Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 übernimmt das Völkerrecht seine Aufgabe kollektiver Sicherheitsgewährleistung.23 Fasst man diese Entwicklung bis zur frühen Neuzeit zusammen, so lässt sich eine erstaunliche Kontinuität in der normativen Bestimmung herrschaftlicher Aufgaben feststellen: Schaffung von Frieden und Recht sowie Herstellung des Landfriedens,24 Schutz und Sicherung von Leib, Leben, Besitz und Familie der Untertanen, im Ausgleich für Treue- und Dienstpflichten.25 Dass diese Güter auch heute noch schutzwürdig sind, steht außer Frage. Trotzdem kann eine moderne Reflexion nur 20

Eine gelungene Systematisierung findet sich bei J. Althusius, Politica, methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Nachdruck der 3. Aufl., Herborn 1614, Aalen 1961: „Sicherheit muß also im Gebiet allen gewährt werden, damit jeder, der in ihm lebt, geht, durchwandert, sich aufhält, seine Angelegenheiten ohne eines anderen Beleidigung, Verletzung oder Hinderung besorgen kann, also daß das ganze Gebiet und jedes seiner Teile stets geschützt, in Frieden und frei seien, ohne irgend eine Gefahr oder Furcht vor Gewalt und Gewalttätigkeit.“ Zitiert bei Robbers (Fn. 2), S. 34 f. Parallel dazu kann man die Beschreibung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Fürst und Untertanen in der frühen Neuzeit bei J. Bodin lesen. Die Schutzpflicht des Fürsten erstreckt sich in „Sechs Bücher über den Staat“ von 1576 „ganz allgemein genommen auf alle Untertanen, die einem Fürsten oder einer souveränen Herrschaft unterstehen … der Fürst [hat] die Pflicht, mit Mitteln der Waffengewalt und der Gesetzgebung die Sicherheit von Leib und Leben, Eigentum und Familie seiner Untertanen zu gewährleisten und … umgekehrt [schuldet] der Untertan seinem Fürsten Treue, Ergebenheit, Gehorsam, Unterstützung und Hilfe …“: 1. Buch, 7. Kap., zitiert nach der von P. C. Mayer-Tasch hrsg. Ausgabe von 1981, S. 187. S. auch S. 188: „Kein Versprechen ist aber ernster zu nehmen als das, Eigentum, Leben und Ehre des Schwachen gegen den Stärkeren, des Armen gegen den Reichen, des notgepeinigten Rechtschaffenen gegen die Willkür des Schurken zu verteidigen.“ 21 Siehe Schulze (Fn. 19), S. 43 f., und schon oben Fn. 3. 22 Seine Ablösung durch einen realen Friedenszustand führte zu einer Stärkung des Ziels von Freiheit und Sicherheit, wie die Worte des Prager Friedens von 1635 bezeugen. Dieser sollte geschlossen werden, um „die werte Teutsche Nation, zu voriger Integrität, Tranquillität, Libertät und Sicherheit“ zurückzuführen. Zitiert nach Conze (Fn. 8), S. 841. Libertät meint hier allerdings noch nicht moderne Selbstbestimmung, sondern „das Verbot einer allumfassenden kaiserlichen Monarchie, das Lebensrecht der drei großen Konfessionen, die Mitsprache in Reichsangelegenheiten und nicht zuletzt den Schutz der kleinen Herrschaftsträger vor den machtpolitischen Ambitionen der größeren deutschen Staaten“. So Willoweit (Fn. 8), S. 170 f. 23 Hierzu Kimminich/Hobe (Fn. 19), S. 40; Willoweit (Fn. 8), S. 143 f. 24 Siehe H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 60, 347; Willoweit (Fn. 8), S. 29, 44, 59, 66, 81, 101; Möstl (Fn. 6), S. 5. 25 Diese Kontinuität in der Betonung von Sicherheit führt K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 3, zur Einstufung der „Rechtssicherheit“ als zeitloser Staatszweck. Ferner ist Sicherheit in aller Regel ein relationaler Staatszweck, also auf konkrete Schutzgüter bezogen und dann ins Spiel gebracht, wenn Unsicherheitslagen drohen. Siehe U. K. Preuß, Verfassungstheoretische Überlegungen zur normativen Begründung des Wohlfahrtsstaates, in: Chr. Sachße/H. T. Engelhardt (Hrsg.) Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, 1990, S. 106, 107.

I. Vormoderne Sichtweisen von Freiheit und Sicherheit

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beschränkt an die geistigen Voraussetzungen dieser Tradition anknüpfen. Das hat mehrere Gründe. Zum Ersten erfolgt die normative Verankerung dieser Ziele in antiken oder christlichen Ordoverständnissen vorgegebener und vernünftiger Natur- oder Gottesordnung, in der den Menschen – Herrschern wie Untertanen – Status und Entfaltungsmöglichkeiten mehr oder weniger vorgezeichnet sind;26 der Schritt von objektiv vorgegebener zu subjektiv aufgegebener Ordnung27 ist noch nicht getan.28 Wahrung und Besserung des überkommenen Rechts stehen vor freibestimmter Rechtsetzung.29 Gutes Recht ist bis in die Neuzeit alt, neues Recht muss sich als alt ausgeben, um akzeptiert zu werden.30 26 Siehe die Zusammenfassungen einschlägiger Rechts- und Staatsphilosophien bei E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002, S. 95, 125 f., 142, 176, 263, 286, 308; ferner Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1980, S. 50 ff.; Schrimm-Heins II (Fn. 4), S. 115; P. Graf Kielmannsegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, 1977, S. 18 f.; Stolleis I (Fn. 17), S. 90; Huizinga (Fn. 3), S. 76 ff., und schon Fn. 3. 27 Siehe H. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 299 ff.; G. Geismann/K. Herb Einleitung, in: dies. (Hrsg.) Hobbes über die Freiheit (Widmungsschreiben, Vorwort an die Leser und Kap. I-III aus „De Cive“), 1988, S. 9, 11 ff.; W. Euchner, Einleitung, in: J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1977, S. 9, 16, 44; E. Heintel, Die naturrechtliche Fundierung des Ordogedankens in der Tradition, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, 1978, S. 19 ff. zu der aristotelischen Formel „ens et bonum convertuntur“ und mit einer Zusammenfassung auf S. 23: „Der Ordogedanke geht aus von dem Kosmos als Inbegriff alles natürlich seienden Individuellen, versteht diesen Kosmos jedoch als ,Schöpfung‘, d. h. bezogen auf eine höchste Sinninstanz (Gott), die sich in Natur und Geschichte offenbart und ihr alles umschließendes Heilshandeln besonders dem (gefallenen) Menschen und seiner ,Rechtfertigung‘ bzw. ,Erlösung‘ zuwendet, jenem Geschöpf, das auch in seiner Sündhaftigkeit und mit seiner Freiheit eingegliedert bleibt in die ,Vernünftigkeit des Wirklichen‘ im Zeichen der Vorsehung.“ 28 Hierzu Bodins eindrückliche Beschreibung in „Sechs Bücher“ (Fn. 20), 1. Buch, 1. Kap., S. 103, von der Minimalaufgabe des Staates zum Lebensschutz bis hin zur Aufgabe von Staaten wie Untertanen, zur Klarheit des Denkens zu finden, sich den Naturschönheiten zuzuwenden, um schließlich „die vollendete Harmonie dieser unserer ganzen Welt erkennen“ zu können. So gelange man zur „Entdeckung der ersten Ursache und des Schöpfers eines so großartigen Meisterwerks“. Siehe demgegenüber Sommermann (Fn. 25), S. 21, im Vorgriff auf die Wende in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts: „Je weiter sich das [18.] Jahrhundert neigt, desto stärker verlagert sich im Einklang mit dem Zeitgeist der Bedeutungsschwerpunkt der Begriffe ,Wohlfahrt‘ oder ,Glückseligkeit‘ vom Gemeinwesen zur Person, vom Kollektiven zum Individuellen“, und Robbers (Fn. 2), S. 30, 33 f.: „Die Voraussetzungen für die Idee der Sicherheit als Menschenrecht sind erst dort gegeben, wo dem Einzelnen selbst seine Verwirklichung und Verteidigung im Staat in die Hand gegeben ist, sei es durch Widerstandsrecht, durch Wahlrecht der politischen Vertreter oder endlich durch die Möglichkeit, Gerichte zur Durchsetzung seines Rechts anzurufen.“ 29 Willoweit (Fn. 8), S. 119 ff. 30 So Reinhard (Fn. 19), S. 283. Siehe auch F. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, 6. Aufl. 1973, S. 123 ff. mit notwendigen Differenzierungen: „Der Staatszweck ist nach dem germanischen Staatsbegriff beharrend, erhaltend: er liegt in der Bewahrung der bestehenden Ordnung, des guten alten Rechts. Das germanische Gemeinwesen

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

Zum Zweiten sind die Minimalziele politischer Organisation – Herstellung des Landfriedens und Rechtsgüterschutz – tendenziell verknüpft mit Maximalzielen wie Tugend und Glückseligkeit im Gemeinwesen. Die Herrschaftsorganisation ist auch für das materielle und spirituelle Wohlergehen des Volkes zuständig,31 sei diese Zuständigkeit vermittelt über den sakralen Charakter des mittelalterlichen Königtums, die Verbundherrschaft von Kaiser und Papst, aristotelisch inspirierte Vorstellungen sittlich vollkommenen Lebens oder das landesherrliche Kirchenregiment.32 Der liberale Schritt zur Beschränkung der Staatszwecke ist noch nicht getan. Zum Dritten bewegen wir uns bis zu diesem Zeitpunkt trotz des theoretischen Vorrangs der einheitlichen Reichsidee33 in vielfältig feudal und ständisch gestuften Ordnungen mit asymmetrischen Freiheiten und Würden.34 Diesen eignet zwar ein ist seinem Begriff nach vor allem Rechts- und Ordnungsstaat“ (S. 123). „Der Staatszweck der christlichen Weltanschauung ist daneben von fortschreitender, tätiger, ausgreifender Natur. Nicht das überlieferte und seiende Gewohnheitsrecht, sondern das niemals ganz erreichte, aber ewig zu erstrebende göttlich-natürliche Vernunftrecht … und vor allem seine biblisch-theologischen Untergründe: das ist es, was der Staat achten und zur Geltung bringen soll. Der christlich-mittelalterliche Staat ist nicht reine Rechtsanstalt, sondern stellt das Ideal des intensiven Wohlfahrts- oder Kulturstaats auf“ (S. 124). „Das göttliche Recht fällt also nicht immer mit dem Gewohnheitsrecht der Völker zusammen und steht oft im Gegensatz zu ihm als das sittliche Postulat, das neue Recht, der umwälzende, reformatorische Kulturgedanke“ (S. 125). Eine noch größere Gestaltungsmacht nimmt dann der absolutistische Staat für sich in Anspruch. Dazu zusammenfassend Stolleis I (Fn. 17), S. 397. 31 Siehe etwa Huizinga (Fn. 3), S. 78: „Die höchste Aufgabe im Staat, die Beschirmung der Kirche, die Verbreitung des Glaubens, der Schutz des Volkes vor Unterdrückung, die Handhabung des allgemeinen Wohls, Bekämpfung von Gewalt und Tyrannei, Befestigung des Friedens …“ sowie Bodin, Sechs Bücher (Fn. 20), 1. Buch, 1. Kap., 101: „Wenn nun aber die wahre Glückseligkeit des Staates gleichzusetzen ist mit der des einzelnen Menschen und wenn das höchste Gut des Staates … in den Tugenden des Verstandes und der Kontemplation besteht, dann folgt daraus zwingend, daß ein Volk wahrer Glückseligkeit teilhaftig ist, wenn es als Ziel vor Augen hat, sich in der Betrachtung der natürlichen, menschlichen und göttlichen Dinge zu üben und für alles den mächtigen Fürsten der Natur zu lobpreisen.“ Siehe schon oben Fn. 27 zu Geismann/Herb. 32 Willoweit (Fn. 8), S. 27 f., 49 ff., 85 f., 103, 121, 126, 133 f. Speziell zum aristotelischen Einfluss Kielmannsegg (Fn. 26), S. 36 ff. 33 Kimminich/Hobe (Fn. 19), S. 34 ff.; R. Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1996, S. 35, 46; Schulze (Fn. 19), S. 19 ff., 41 f., 58 ff., 85; Hegel (Fn. 12), S. 447: „Die kaiserliche Gewalt wurde im ganzen für etwas sehr Großes und Hohes ausgegeben: der Kaiser galt für das weltliche Oberhaupt der gesamten Christenheit; je größer aber diese Vorstellung war, desto weniger galt die Macht der Kaiser in der Wirklichkeit.“ Ähnlich J. Burckhardt, zitiert in H. Fuhrmann, Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, 1997, S. 71: „Die deutsche Krone, mit ihrem römischen Kaisertum behaftet, [war] zu schwach zum Leben und zum Sterben [und] aller nationalen Aufgaben … unfähig.“ Vgl. schon oben Fn. 12. 34 Vgl. G. Dilcher, Art. Freiheit (MA), in: HRG Bd. 1 (Fn. 11), Sp. 1227 ff.; Kielmannsegg (Fn. 26), S. 24; D. Willoweit, Geschichtliche Wandlungen der Eigentumsordnung und ihre Bedeutung für die Menschenrechtsdiskussion, in: J. Schwartländer/D. Willoweit (Hrsg.) Das Recht des Menschen auf Eigentum, 1983, S. 7 ff.; Maier (Fn. 26), S. 33 ff.; Robbers (Fn. 2), S. 29 f.: „Stets war der alte Gedanke der allgemeinen Schutzpflicht des Landesherrn für die

I. Vormoderne Sichtweisen von Freiheit und Sicherheit

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personales Gegenseitigkeits- und Fürsorgemoment zwischen Lehnsherr und Vasall, Herrscher und Untertan,35 doch ist dieses noch nicht verankert in der Zweipoligkeit von politischer Einheitsgewalt36 und homogenem Staatsvolk37. Schon gar nicht kommt den Untertanen ein allgemeiner Freiheits-, Gleichheits- und Würdestatus38 zu, der sie der Herrschaftsgewalt nicht mehr nachordnen, sondern legitimatorisch vorordnen würde. Zum Vierten gründet die Verpflichtung des Herrschers zur Wahrung von Frieden und Recht oft ununterschieden in Tradition, Gott, Natur oder Vernunft.39 Der Herrscher soll überkommene Machtstrukturen und religiöse Gebote achten, Fürstentugenden nachkommen und zunehmend auch pragmatisch seine Macht erhalten, etwa bei Machiavelli.40 Der Rechtscharakter der Schutzverpflichtungen bildet in der Erhaltung des Landfriedens gegenwärtig. Unterhalb dieser Ebene jedoch war die Sicherheitsgarantie des der Sicherung Bedürftigen aufgesplittert in vielfältig abgestufte Schutzprivilegien …“; Mayer-Tasch, Einführung in Bodin (Fn. 20), S. 27: „Die politische Verfassung des Ständestaates zeigte im 16. Jahrhundert noch eine Pyramidalstruktur weitverzweigter vertikaler Rechtsbeziehungen. Der Rechtsbefehl des Königs erreichte die … ,Familien’ in aller Regel nicht direkt, sondern allenfalls durch Vermittlung eines regional gestuften Systems politischer Institutionen und Amtsträger.“ 35 Kern (Fn. 30), S. 152, 241; Zippelius (Fn. 33), S. 26 f., 61 ff. 36 Schulze (Fn. 19), S. 42, spricht von den Territorialstaaten, aus denen sich das Reich zusammensetzte, als „eine[r] fast zoologische[n] Fülle von Kurfürstentümern, Herzogtümern, Fürstentümern, Bistümern, Grafschaften, Reichsstädten, Abteien und Balleien.“ Siehe auch Willoweit (Fn. 8), S. 31; Reinhard (Fn. 19), S. 407; U. Volkmann, Relativität des Staates. Staatsbegriff und Staatsverständnis im Spiegel der jüngeren Geschichte, JuS 1996, S. 1058 f.; Stolleis I (Fn. 17), S. 397, 402. 37 Kern (Fn. 30), S. 243: „Das frühe Mittelalter (bis zur Ausbildung konkreter ständischer Verfassungsformen) läßt die Gesamtheit, welche dem Herrscher gegenübersteht, wesentlich unbestimmt und formlos vertreten werden durch proceres, maiores und meliores usf.“ Erst nach Ablösung auch der feudal-ständischen Gesellschaftsordnung ist der Boden bereitet für ein einheitliches Verständnis von „Staatsvolk“. Zur Änderung in der frühen Neuzeit Stolleis I (Fn. 17), S. 70; D. Grimm, Der Staat in der kontinentaleuropäischen Tradition, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 53, 58 ff. 38 Zum Unterschied von vorneuzeitlichen „Würden“ und „Würdigkeiten“ gegenüber der modernen, einem jeden Menschen zukommenden „Würde“ siehe H. Bielefeldt, Zum Ethos der menschenrechtlichen Demokratie. Eine Einführung am Beispiel des Grundgesetzes, 1991, S. 17 ff. 39 Siehe neben Fn. 3, S. 27, 28, 30 Stolleis I (Fn. 17), S. 268 f.; Robbers (Fn. 2), S. 33 f. Ausführlich zu den Fürstenspiegeln Sommermann (Fn. 25), S. 9 ff. Zur Bindung an natürliche und göttliche Gesetze siehe exemplarisch Bodin, Sechs Bücher (Fn. 20), S. 38 ff., 207, 214, 230. Man kann allerdings im Vorrang dieser Verpflichtungsmodi auch eine Bindung der nachrangigen Rechtsmodalität sehen. Wenn diese Folgerung oft nicht (klar) gezogen wurde, dann vielleicht auch wegen der unvermeidlichen Streitigkeiten über die Umsetzung dieser vorrechtlichen Kriterien zwischen Herrscher und Rechtsunterworfenen. Dieses Streitigkeitsproblem findet dann Eingang in die Reflexion der Vertragstheoretiker Hobbes, Locke und Kant. 40 Pragmatisch geboten kann Rechtsgüterschutz des Volkes sein, um die Herrschaft zu erringen oder gegen rivalisierende Kräfte zu bewahren. Siehe Grimm (Fn. 37), S. 60. In diesem Sinne argumentiert N. Machiavelli in den „Discorsi“ (1531), 1. Buch, 5. Kap.: „Von den weisen Gesetzgebern wurde die Sicherung der Freiheit immer zu den notwendigsten Einrichtungen

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Regel keinen von Natur, Religion und Tradition isolierten Verbindlichkeitsgrund; dazu sind die Einbindungen von Herrschaft zu verwoben.41 Bei Schutzversprechen oder Verträgen tritt das Moment rechtlichen Gebundenseins zwar deutlich hervor,42 es wirkt aber vorrangig zwischen einzelnen Herrschaftsverbänden und Ständen43 und weniger in der dualen Gegenüberstellung von Souverän und Volk. Zudem ist die Rechtsbindung lange stärker personalrechtlich als territorial und staatsrechtlich geprägt.44 In diesem Sinne existieren Verfassungsverträge zwischen Herrschaftsträgern, aber eine Staatsverfassung im engeren Sinn mit umfassender Souveränität oder gar eingebauter Rechtsbindung und Bindungskontrolle liegt noch nicht vor.45 Dafür wird oft ein Widerstandsrecht als letzte Schranke gegen Herrschaftswillkür in Anspruch genommen.46 einer Republik gezählt.“ Zitiert nach H. Münkler, Niccolò Machiavelli, Politische Schriften, 1990, S. 139. Je nach den Umständen kann es auch um andere Maßnahmen bis hin zur Unterdrückung gehen, weil Machiavelli vor allem die Erhaltung (auch Erweiterung) der Republik in Krisenzeiten vor Augen steht. Vgl. die bei Münkler, ebd. zitierten Stellen S. 13, 34 ff., 55 f., 57, sowie Schulze (Fn. 19), 45 ff., S. 49, zur die Schutzdimension bei Machiavelli doch einschließenden Staatsraison: „… denn das Verlangen des Volkes ist berechtigter als das Verlangen der Großen, da diese auf Bedrückung ausgehen, das Volk aber auf Schutz von Bedrückung“. 41 Kern (Fn. 30), § 6, S. 131 ff., 245: „Da die mittelalterliche Weltanschauung zwischen Sittlichkeit, Sitte und Recht grundsätzlich nicht unterschied, so kam einer solchen [Rechtsgebundenheit des Fürsten] … nicht nur sittliche oder naturrechtliche, sondern positivrechtliche Geltung zu“ (S. 131). Kern fügt in einer Anmerkung hinzu: „Diese Ausdrucksweise würde das Mittelalter selbstverständlich kaum verstanden haben.“ 42 Siehe exemplarisch die Ambivalenz bei Bodin, der am Übergang zum neuzeitlichen Staat und zu Hobbes steht. Er vertritt einerseits wie Hobbes eine starke Souveränitätsthese, über die der Herrscher die höchste und umfassende Macht hat und „beliebig“ regieren, d. h. vor allem einseitig Gesetze erlassen und durchsetzen kann. Andererseits ist der Herrscher über „Verträge“ und „Versprechen“ dann doch horizontal und vertikal gebunden: Sechs Bücher (Fn. 20), 1. Buch, 8. Kap., S. 210, gegenüber ebd., S. 214 ff., und 1. Buch, 7. Kap., S. 188. 43 Anschaulich beschrieben von Hegel (Fn. 12), S. 447 ff., 460 ff. Siehe auch die Zusammenstellung bei Zippelius (Fn. 33), S. 36 ff., und H. Vorländer, Verfassung. Idee und Geschichte, 1999, S. 13 f., 30 f. 44 Kimminich/Hobe (Fn. 19), S. 35, 41; Schulze (Fn. 19), S. 23, 38; Stolleis I (Fn. 17), S. 70 f., 82. 45 K. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, § 3 I; Willoweit (Fn. 8), § 25 III 2. 46 Kern (Fn. 30), XI f., §§ 5 ff. mit einer Zusammenfassung auf S. 144 f.; Chr. Link, Jus resistendi. Zum Widerstandsrecht im deutschen Staatsdenken, in: A. Scheuermann u. a. (Hrsg.) Convivium utriusque iuris, FS Dordet, 1976, S. 55 ff.; Kielmannsegg (Fn. 26), S. 22 f., 80 ff. u. ö.; R. v. Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, 2001; ders., Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669, 1999. Zusammenfassend zu den Argumentationstypen für ein Widerstandsrecht 16: „Als Grundtypen widerstandsrechtlicher Begründungen wurden … der Hinweis auf ständische und in den leges fundamentales festgelegte Rechtsbestände, auf die Bindung des Herrschers durch das Naturrecht und auf einen Vertrag zwischen Herrscher und Unterworfenen insgesamt genannt.“ Siehe schon die Zusammenstellung von K. Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, 1916, S. 522 ff.: Gemeindienlichkeit der Herrschaft; Achtung naturrechtlich-religiöser Gebote;

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Dem entspricht es, dass – fünftens – noch kein ausgebildetes subjektives Recht des Volkes gegen den Herrscher auf effektiven Schutz der einschlägigen Rechtsgüter vorliegt, das mit einem Recht auf Durchsetzung durch unabhängige Gerichte gekoppelt wäre. Gerichte als Foren zur Streitentscheidung existierten zwar schon lange,47 und die Landfriedensbewegung kämpfte jahrhundertelang um die Ersetzung der Fehde durch eine geordnete Streitentscheidung,48 aber Herrschen und Richten gehörten weitgehend noch zusammen.49 Die Gerichtskörper blieben in wesentlichen Aspekten vormodern: Landesherr und höhere Stände dominierten die Besetzung der Richterbank,50 höhere und niedrigere sowie geistliche und weltliche Gerichte konkurrierten,51 der Zugang war oft beschränkt, und die Entscheidung als Rechtsspruch war nicht frei von politischen Pressionen, wie die Existenz von Machtsprüchen bis ins aufgeklärte Preußen hinein belegt.52

Respektierung des Herrschaftsvertrags; Achtung von Menschenrechten. Im Einzelnen gibt es viele Unterschiede und Differenzierungen: Das Widerstandsrecht kann religiös, moralisch oder rechtlich begründet sein. Es kann sich auf besondere Stände oder das Volk beziehen. Es kann den Rechtsunterworfenen prinzipiell zugestanden sein, aber relativiert werden durch die Unsicherheit über die Frage, ob die verbindlichen Schranken oder Zwecke der Herrschaft wirklich verfehlt wurden, die dann zu einer Prärogative des Herrschers führt. 47 Dazu schon Fn. 11 sowie Beispiele aus den Jahrhunderten bei Willoweit (Fn. 8), S. 35, 44, 58, 66, 78, 83, 101, 160, 177 f., 195; zusammenfassend Reinhard (Fn. 19), S. 282 ff. 48 Siehe speziell zum auf dem Wormser Reichstag von 1495 abgeschlossenen „Ewigen Landfrieden“ Becker (Fn. 10). Generell zur Bedeutung der Eliminierung der Selbsthilfe auch Bull (Fn. 24), S. 71. 49 Kielmannsegg (Fn. 26), S. 19: „Die Funktion von Herrschaft konnte [im Mittelalter] nur die Bewahrung des Rechts sein, die Sicherung des Rechts für jeden einzelnen. Das Amt des mittelalterlichen Herrschers wurde denn auch bis in das Spätmittelalter hinein im Kern als richterliches Amt begriffen … Die Vorstellung vom Herrscher als Richter hat bis tief in die Neuzeit hinein nachgewirkt …“; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, 1992, S. 116 f. 50 Siehe die raffinierte Begründung von Machiavelli für die Einrichtung einer Gerichtsbarkeit, in: Der Fürst, Reclam-Ausgabe 1961, S. 110: „Wohlgeordnete Staaten und kluge Fürsten waren stets mit allem Fleiße darauf bedacht, die Großen nicht zur Verzweiflung zu treiben und das Volk zufriedenzustellen. Denn das ist eine der wichtigsten Obliegenheiten eines Herrschers … Deshalb schuf [der König von Frankreich] ein unparteiisches Gericht, das ohne Nachteil für den König die Großen züchtigte und das Volk begünstigte. Diese Einrichtung war so vorzüglich und weise wie nur möglich und die beste Gewähr für die Sicherheit des Königs und des Reiches. Hieraus kann man die weitere Lehre entnehmen, daß die Fürsten alles Unliebsame andern übertragen, alle Gnaden aber selbst verteilen sollen.“ 51 Dazu schon oben Fn. 11. 52 Vgl. U. Seif, Recht und Gerechtigkeit. Die Garantie des gesetzlichen Richters und die Gewaltenteilungskonzeptionen des 17. bis 19. Jahrhunderts, Der Staat 42 (2003), S. 110, 124 ff.; Reinhard (Fn. 19), S. 297 ff.; Chr.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 8. Aufl. 1993, Rn. 103, 106, 141, 145, 149; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 2002, Rn. 128 ff.; Willoweit (Fn. 8), § 26 III 2.

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II. Moderne Staatszwecklehren in der Gesellschaftsvertragstheorie Die Entwicklung der Gesellschaftsvertragstheorie von Thomas Hobbes über John Locke und Jean-Jacques Rousseau zu Immanuel Kant stellt einen unverzichtbaren Schritt für das moderne Verständnis von Freiheit und Sicherheit dar.53 Die Hauptpunkte dieser Entwicklung werden meist wie folgt zusammengefasst: Bei Hobbes hat der Staat vor allem für den Lebensschutz einzustehen, bei Locke wird die Sicherung des Eigentums betont, bei Rousseau die Demokratie und bei Kant die Freiheit.54 So richtig das ist, trifft das doch noch nicht den entscheidenden Unterschied zwischen den genannten Gesellschaftsvertragstheorien und den früheren Staatszweckbestimmungen, die ja auch schon auf innere und äußere Sicherheit und Frieden durch Schutz wichtiger Individualgüter abgestellt hatten. Werfen wir deshalb einen kurzen Blick auf die Autoren. Bei Thomas Hobbes55 steht zwar die Sicherung von Leben gegen innere und äußere Aggressoren im Vordergrund seiner Werke De Cive (1642) und Leviathan (1651), aber der Zweck der politischen Vergemeinschaftung geht weit über die Sicherung des Überlebens hinaus – Ziel ist das gute Leben. „So ist es für das menschliche Leben notwendig, einige Rechte beizubehalten, wie das Recht, über den eigenen Körper zu herrschen, das Recht auf Wasser, Luft, Körperbewegung, auf Verbindungswege von Ort zu Ort, sowie auf alle Dinge, ohne die ein Mensch nicht oder nicht angenehm leben kann.“56 Das umfasst auch die Sicherheit, „sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben [zu] können.“57 Die Differenz zu vorneuzeitlichen Staatstheorien besteht nicht in den Schutzgütern, sondern in der Umkehrung der Begründungsrelation: Gemeinschaft ordnet 53 Siehe exemplarisch die Untersuchungen von H. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftsvertragstheorien, 1990; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994; P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987. Letzterer behandelt nur neuere Autoren (John Rawls, Robert Nozick, James Buchanan). 54 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 4; D. Murswiek, Umweltschutz als Staatszweck. Die ökologischen Legitimitätsgrundlagen des Staates, 1995, S. 18; Bull (Fn. 24), S. 22 f.; Preuß (Fn. 25), S. 106 f. 55 Hobbes’ unmittelbarer Einfluss in Deutschland war gering, siehe Willoweit (Fn. 8), S. 154; hier geht es um die langfristige staatstheoretische Wirkung, die immens war. 56 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Kap. 15, S. 118, zitiert nach der von I. Fetscher hrsg. Fassung, 1966. Vgl. auch die Einleitung, S. 5: „Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke dar, salus populi (die Sicherheit des Volkes) seine Aufgabe … Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod.“ 57 Hobbes, Leviathan (Fn. 56), Kap. 17, S. 134.

II. Moderne Staatszwecklehren in der Gesellschaftsvertragstheorie

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nicht mehr Freiheit, sondern die Freiheit der Menschen führt zu einer Ordnungsaufgabe.58 Hobbes argumentiert wie alle Gesellschaftsvertragstheoretiker im fiktiven Übergang vom Naturzustand zum politisch verfassten Zustand, den die Vernunft gebietet.59 Im Naturzustand trachten wir alle nach Lebenserhaltung und Lustgewinn. Zudem sind wir alle frei,60 können nämlich ein Recht auf alles in Anspruch nehmen.61 Wir sind auch alle gleich, weil ein jeder von uns jeden anderen in seinem Leben und seinen Gütern bedrohen kann.62 Damit werden antike und mittelalterliche Sichtweisen vorgegebener Ordnungen und prästabilierter Harmonie aufgegeben,63 an ihre Stelle tritt die von der Selbsterhaltungsvernunft gestellte Aufgabe, politische Ordnungen zu konstruieren und zu gestalten, um der prästabilierten Disharmonie und der im Naturzustand immer drohenden Unsicherheit in den natürlichen Rechten Herr zu werden.64 Gleichzeitig ziehen der moderne Empirismus, Rationalismus, Individualismus und Atomismus65 in die politische Theorie ein. Allerdings führt die gleiche Freiheit bei Hobbes, aus der historischen Situation von Anarchie und Bürgerkrieg heraus durchaus verständlich, zu radikalen Gefährdungen von innerer und äußerer Sicherheit, die er anthropologisiert66 und damit tendenziell entkontextualisiert:67 Homo homini lupus, bellum omnium in omnes.68 Dieser Zustand kann nur noch

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Näher Geismann/Herb (Fn. 27), S. 13 ff. mit einer Darstellung der antiaristotelisch vom Einzelnen zum Ganzen und vom Naturzustand zum politischen Zustand voranschreitenden „geometrischen“, resolutiv-kompositorischen Methode. Vgl. demgegenüber die Bodin-Zitate oben Fn. 28, 31. Siehe auch die folgende Fußnote und schon oben Fn. 27 zu Ryffel. 59 Speziell zu Hobbes’ Methode Fetscher, Einleitung zu Leviathan (Fn. 56), S. IX, XIII, XLV f. 60 Leviathan (Fn. 56), Kap. 21, S. 168: „alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei“. 61 Leviathan (Fn. 56), Kap. 14, S. 99, 100; Kap. 15, S. 110; Kap. 18, S. 140. 62 Leviathan (Fn. 56), Kap. 13 und 14, S. 105. 63 Vgl. Fetscher, Einleitung zu Leviathan (Fn. 56), S. XX, und allgemein Euchner, Einleitung zu Locke (Fn. 27), S. 16, und oben Fn. 27 zu Geismann/Herb. 64 Siehe Geismann/Herb (Fn. 27), S. 12, 15, die bei Hobbes das Problem der Rechtsunsicherheit im vor-politischen Zustand als Kernpunkt der Theorie ansehen, nicht das im Folgenden erwähnte anthropologische Argument. Aus Sicht dieser Autoren steht Hobbes also Locke und Kant ganz nahe, weil auch bei diesen Autoren die Rechtsunsicherheit zentral ist, unabhängig von positiveren oder negativeren Menschenbildern. 65 Dazu ein schönes Zitat von Chr. Hill in „The Century of Revolution (1603 – 1714)“, 1963, S. 4, hier zitiert nach Euchner (Fn. 27), S. 47 Fn. 54: „Shakespeare had thought of the universe and of society in terms of degree, hierarchy; in 1714 both society and the universe seemed to consist of competing atoms.“ 66 Siehe Leviathan (Fn. 56), Kap. 13, S. 95, zu den drei hauptsächlichen Konfliktsursachen: „Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen, drittens Ruhmsucht“. 67 Siehe Mayer-Tasch (Fn. 20), S. 30, zu der „Überakzentuierung der Ordnungslegitimität“ bei Bodin und Hobbes, ferner Schrimm-Heins II (Fn. 4), S. 175, 180. 68 Leviathan (Fn. 56), Kap. 13, S. 96, 98; De Cive (Fn. 27), Widmungsschreiben, S. 40 f. und Kap. I 12, S. 128 f.

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durch einen drittbegünstigenden Unterwerfungsvertrag bewältigt werden.69 Bei dem gedachten Abschluss taucht kurz, einmalig, ein Demokratiekriterium auf – es geht um vernünftige Selbst- und nicht Fremdherrschaft.70 Aber kaum ist diese eingerichtet, ersetzt die Übermacht des Souveräns die Privatmacht bedrohlicher Individuen, Gruppen und Stände, die um Leben, Güter, Ehre und Religion streiten. Der Staat hat die Zwangsgewalt monopolisiert. Sicherheit ist weitgehend hergestellt,71 aber um welchen Preis?72 Der Preis ist nicht eine Tyrannenherrschaft.73 Der Souverän soll Überleben und Wohlleben der Untertanen sichern, das ist Sinn und Zweck seiner Existenz, dazu verpflichten ihn die natürlichen Gesetze, Gott und der Unterwerfungsvertrag, der ein Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Volk begründet.74 Aber all diese Einbindungen souveräner Macht liegen außerhalb des Staatsrechts.75 Rechtlich bildet 69

Siehe die eindrückliche Kontrastierung in De Cive, Kap. X, S. 1, zitiert nach Geismann/ Herb Einleitung (Fn. 27), S. 29 f.: „Außerhalb des Staates hat zwar jeder das Recht auf alles, aber kann sich doch keines Besitzes erfreuen; im Staate kann ein jeder sein beschränktes Recht sicher genießen … Endlich besteht außerhalb des Staates die Herrschaft der Leidenschaften, Krieg, Furcht, Armut, Häßlichkeit, Einsamkeit, Barbarei, Unwissenheit, Rohheit; dagegen besteht im Staate die Herrschaft der Vernunft, Frieden, Sicherheit, Reichtum, Schmuck, Gemeinschaft, Glanz, Wissenschaft und Wohlwollen.“ Zur Dialektik dieser Machtverteilung vgl. auch Schrimm-Heins II (Fn. 4), S. 186: „In Hobbes’ System bedingen sich die Macht des Souveräns und die Ohnmacht der Untertanen wechselseitig.“ 70 Siehe Leviathan (Fn. 56), Kap. 16, 17 am Ende, sowie z. B. Kap. 21, S. 168: „Ferner ist die Zustimmung eines Untertans zur souveränen Gewalt in den Worten enthalten: ,Ich autorisiere alle ihre Handlungen oder nehme sie auf mich‘.“ 71 Absolute Sicherheit wird als offenbar unrealistisch nicht angezielt. Siehe Hobbes, De Cive, Kap. VI 3, zitiert bei Isensee (Fn. 54), S. 4: „Allerdings ist es unmöglich, die Menschen gänzlich vor gegenseitigen Schädigungen zu schützen … Dagegen kann man Vorsorge treffen, daß kein gerechter Grund zur Furcht bestehe.“ 72 Hierzu M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, § 11: Risiko: Bürgerkrieg mit Polizeimitteln. 73 Siehe Fetscher (Fn. 59), S. XXXI: „Der mächtige Leviathan bleibt immer ein Mittel, kein Selbstzweck.“ 74 Siehe Leviathan (Fn. 56), Kap. 30 am Anfang, S. 255: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. Hierzu ist er kraft natürlichen Gesetzes verpflichtet, sowie zur Rechenschaft vor Gott, dem Schöpfer dieses Gesetzes, und nur vor ihm. Mit ,Sicherheit’ ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt.“ 75 Siehe Leviathan (Fn. 56), Kap. 18, S. 137: „Da von den Vertragsschließenden das Recht, ihre Person zu verkörpern, demjenigen, den sie zum Souverän ernennen, nur durch einen untereinander und nicht zwischen ihm und jedem einzelnen von ihnen abgeschlossenen Vertrag übertragen wurde, kann seitens des Souveräns der Vertrag nicht gebrochen werden.“ Es handelt sich eben, wie schon angeführt, um einen drittbegünstigenden Vertrag, der den Dritten nicht gleichzeitig verpflichtet. Man könnte auch so sagen: Horizontal, im Gesellschaftsvertragsverhältnis, ist der Vertrag gegenseitig bindend, vertikal, bei der Machtübergabe, ist der Vertrag einseitig bindend.

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der Wille des Souveräns das Gesetz, das wiederum Recht und Gerechtigkeit determiniert.76 Auctoritas non veritas facit legem.77 Bei John Locke finden wir in den „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ (1690) parallele Schutzgüterbestimmungen: Der Staat hat Leben, Freiheit und Eigentum zu sichern. Auch bei ihm ist der Naturzustand freier und gleicher Menschen78 potenziell unfriedlich. Allerdings scheint das Maß an drohender Lebensgefahr etwas geringer,79 da Locke das Hobbessche natürliche „Recht auf alles“ von vornherein auf durch das natürliche und göttliche Gesetz beschränkte, allseitig verträgliche Freiheitsentfaltung reduziert.80 Nach Erfindung des Geldes kommen jedoch größere Ungleichheiten und Konflikte zwischen Menschen auf,81 über geldvermittelte Raffgier entsteht so doch noch das Hobbessche Bild eines drohenden Kriegs aller gegen alle. Was auf der ökonomischen Makroebene gut und produktiv ist, die Entstehung einer Geld- und Wettbewerbswirtschaft, ist auf der psychologischen Mikroebene höchst gefahrenträchtig: Die Tugend der überschaubaren ökonomischen Selbstvorsorge wird in der Geldwirtschaft abgelöst durch zunehmende Habgier und Neigung zum verbrecherischen Mehrbesitz.82 Locke vertritt nicht wie Bernhard de Mandeville83 oder Adam Smith84 die These eines aus vielen Egoismen sich automatisch herausbildenden Gemeinwohls,85 vielmehr entsteht für ihn ein Zustand „voll von Furcht und beständiger Gefahr“, in dem der Genuss des „Eigentum[s] … sehr ungewiß und sehr unsicher“ wird. Kein Wunder, dass die Lockesche Vernunft in einer solchen Situation den Menschen den Eintritt in einen bürgerlichen Zustand empfiehlt „zum Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich mit der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse“.86

76 Leviathan (Fn. 56), Kap. 13, S. 98; Kap. 30, S. 264: „Unter einem guten Gesetz verstehe ich nicht ein gerechtes Gesetz, denn kein Gesetz kann ungerecht sein. Das Gesetz wird von der souveränen Macht erlassen …“. 77 Siehe zu diesem Gedanken Leviathan (Fn. 56), Kap. 26, S. 210: „Autorität des Gesetzes, die nur im Befehl des Souveräns besteht“. In einer Originalfassung, Amsterdam 1668, S. 133 heißt es: „Authoritas, non Veritas facit Legem“. 78 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), S. 2. Abhandlung, § 4. 79 Anders noch der frühe Locke, zitiert bei Euchner (Fn. 27), S. 14 in einer Passage, die von Hobbes stammen könnte: Ohne Regierung gibt es „ … keinen Frieden, keine Sicherheit, keinen Genuß, Feindschaft unter den Menschen, keinen sicheren Besitz, und jene Schwärme stechenden Elends, die Anarchie und Rebellion begleiten“. 80 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, § 6. 81 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, §§ 47 ff. 82 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, §§ 37, 111. 83 The Fable of the Bees or Private Vices Made Public Benefits, London 1714. 84 An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. 85 Zum Verhältnis von Locke, Mandeville und Adam Smith siehe I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 1960, Kap. 1, ferner Euchner (Fn. 27), S. 34 f. 86 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, § 123.

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Die von Hobbes abweichende Schwerpunktbildung wird an folgenden Punkten deutlich: (1) Bei Locke werden die natürlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum aus dem Naturzustand über den Gesellschaftsvertrag – eine Art von treuhänderischer Übereinkunft – mit in den bürgerlichen Zustand als Rechtstitel hineingenommen; der Souverän bei Locke ist nicht nur wie bei Hobbes gut beraten, diese Güter zu schützen, er ist dazu von Rechts wegen verpflichtet.87 (2) Damit steht in Übereinstimmung, dass nach Locke dem Volk bei einer willkürlichen Verletzung dieser Schutzgüter ein Widerstandsrecht zukommt,88 während bei Hobbes ein solches nach der Konstruktion nicht möglich ist – dort kann das politische Gebilde bei Zweckverfehlung nur in den Naturzustand zurückfallen, was die natürlichen Rechte quasi wieder aufleben lässt. (3) Weiterhin positioniert Locke den Staat neu: Dieser ist durch seine Machtfülle nicht nur Garant von Frieden, sondern selbst Gefahr für Leben, Freiheit und Eigentum seiner Bürger. Deshalb tritt Locke für eine gewaltenteilige Wahrnehmung der Staatsgewalten ein,89 eine für Hobbes nicht friedensund freiheitssichernde, sondern -gefährdende Einrichtung!90 (4) Schließlich betont Locke die bei Hobbes nicht vorhandene Rechtsbindung durch einmal erlassene, allgemeine Gesetze, während bei Hobbes der Souverän lediglich gut beraten, aber nicht rechtlich dazu verpflichtet ist, sich an sein einmal erlassenes Gesetz zu halten.91 Ähnlich wie bei Locke steht auch in Jean-Jacques Rousseaus „Du contrat social“ (1762) das Gefährdungspotenzial staatlicher Macht für menschliche Freiheit im Vordergrund. „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“92 Bei Rousseau sind die Menschen zwar auf Selbsterhaltung bedacht, aber eigentlich 87 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, § 131: strikte Bindung der Staatsmacht an das Gemeinwohl i.S.d. Schutzgüterformel. 88 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, § 149 mit Formulierungen, die später in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und in der Präambel der US-Verfassung wiederkehren. 89 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, §§ 134 ff. Insoweit liegt eine starke Ähnlichkeit mit Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ (1748) vor, der allerdings kein Vertragstheoretiker ist, sondern Freiheit und Sicherheit der Bürger aus der Entwicklung konkreter Gemeinschaften in ihrer natürlichen Umgebung und im Rahmen ihrer Sitten und Gebräuche bestimmt. Nach Montesquieu bedarf die Freiheit der Bürger der Sicherung durch gewaltenteilig umzusetzende Gesetze, die horizontal gegen andere Bürger und vertikal gegen die Staatsgewalt Leben, Freiheit und Eigentum schützen. Bei Montesquieu wird auch schon der Schritt zur Gerichtskontrolle sowie zur Subjektivierung von Rechtspositionen getan. Das zeigt sich vor allem, wie auch später bei Kant (Fn. 109), bei der Meinungsfreiheit: Vom Geist der Gesetze, Ausgabe Weigand, 1965, Buch XII, Kap. 11 und Buch XIX, Kap. 27: „Zum Genuß der Freiheit ist es nötig, daß jeder sagen kann, was er denkt“, S. 309. In diesem Kapitel finden sich auch erhellende Passagen zur unten VII. behandelten Volksverhetzung. Montesquieu behandelt in Buch XIII, Kap. 12 ff. auch den Beitrag von Steuern zur Sicherung von Freiheit. 90 Siehe Leviathan (Fn. 56), Kap. 29, S. 248, gegen die Lehre: „Die souveräne Gewalt ist teilbar. Denn heißt die souveräne Gewalt teilen etwas anderes als sie auflösen? Geteilte Gewalten zerstören sich nämlich gegenseitig.“ 91 Zwei Abhandlungen (Fn. 27), 2. Abhandlung, §§ 136 ff. 92 1. Buch, Kap. 1, 10, zitiert nach der von Kurt Weigand besorgten Ausgabe „Staat und Gesellschaft“, o. J. (Goldmann-Taschenbuch Nr. 532).

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genügsam.93 Konflikte entstehen erst durch fortschreitende Zivilisation. Bei Locke war dies die Erfindung des Geldes und damit des wirtschaftlichen Wettbewerbs, bei Rousseau fungieren als Krisenherde das gesellschaftliche Zusammenwirken, das den Hang zur Vergleichung und zum Mehr-Sein und Mehr-Haben mit sich führt, sodann das Streben nach Eigentum. Beides führt zu erheblichen Ungleichheiten und letztlich zur Tyrannei der Gewalt, die den Hintergrund der Eingangssätze des Contrat social bildet. Rousseau schlägt zur Verhinderung von Gewalt und Fremdherrschaft den Abschluss eines Urvertrags durch freie und gleiche Bürger vor,94 der die Anerkennung von Leben, Freiheit und Eigentum gewährleisten soll.95 Mit diesem Urvertrag haben die Bürger das ursprüngliche Recht auf alles96 aufgegeben, aber dafür gleichzeitig „einen vorteilhaften Tausch vorgenommen – zwischen einer ungewissen und misslichen Daseinsweise und einer besseren und sicheren anderen, zwischen der natürlichen Unabhängigkeit und der Freiheit, zwischen der Macht, anderen zu schaden und ihrer eigenen Sicherheit …“.97 Durch den Gesellschaftsvertrag wird, ganz wie bei Hobbes und Locke, eine überwältigende Macht eingesetzt.98 Die Bildung des politischen Gemeinwillens geschieht aber nicht wie bei Hobbes durch einen einmaligen demokratischen Akt der Unterwerfung unter einen konkreten Willensträger, der fürderhin Fremdbestimmung an die Stelle von Selbstbestimmung setzt, sondern durch die Übereignung aller natürlichen Rechte an den Gemeinwillen als einen politischen Körper und Souverän, der in Permanenz auf das Gemeinwohl i.S. allgemeiner Freiheits-, Gleichheits- und Güterachtung sowie der Wohlstandsmehrung verpflichtet ist. Freiheit und Sicherheit fließen so im demokratischen Akt der Einsetzung des Volkes als Souverän und bei der Verpflichtung auf den Gemeinwillen zusammen: „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit.“99 Damit ist das demokratische Prinzip in der Staatstheorie verankert. Gleichzeitig fällt Rousseau in der Ausformung dieses Prinzips hinter Locke und Kant 93

Zu Rousseaus Menschenbild, das dem Contrat social zugrunde liegt, siehe den Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755). 94 Siehe Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 2, S. 11: „Da alle gleich und frei geboren sind …“. 95 Siehe Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 6, S. 18: „Es ist eine Form der Vergesellschaftung zu finden, die mit der gesamten gemeinsamen Kraft die Person und die Habe jedes Teilhabers verteidigt und schützt. In ihr soll sich jeder mit allen vereinigen und dennoch nur sich selbst gehorchen, und ebenso frei bleiben wie zuvor.“ Siehe auch 1. Buch, Kap. 8, S. 21: „Freiheit und … Eigentum“; 1. Buch, Kap. 9, S. 24: „Anerkennung der Güter … das gesetzliche Eigentum“; 2. Buch, Kap. 4, S. 30: „Leben und Freiheit“; 2. Buch, Kap. 4, S. 32 zu Freiheitsund Lebensschutz; 2. Buch, Kap. 5, S. 33 zur „Erhaltung“ der Vertragsschließenden. 96 Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 8, S. 21. 97 Contrat social (Fn. 92), S. 1. Buch, Kap. 4, S. 32. Siehe auch 3. Buch, Kap. 9, S. 73: „Die Untertanen rühmen sich der öffentlichen Ruhe, die Staatsbürger der Freiheit der einzelnen. Der eine zieht die Sicherheit der Besitztümer vor, und der andere die Sicherheit der Personen.“ 98 Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 4, S. 29 f. 99 Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 8, S. 22.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

zurück,100 weil seine Souveränitätskonzeption identitär und nicht repräsentativ ist; weil er keine wirkliche Gewaltenteilungslehre zur Mäßigung des Souveräns entworfen hat; und weil er das politische Gemeinwesen mit seiner Zwangsgewalt nicht wie Kant auf äußere gesetzwidrige Handlungen beschränkt, sondern den Zugriff auf die Innerlichkeit erlaubt.101 Immanuel Kant schließt in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“ (1797)102 und in der Theorie-Praxis-Schrift (1793)103 in vielem an Hobbes, Locke und Rousseau an: Die politische Ordnung hat sich vor den Menschen und ihrer Freiheit und Gleichheit zu rechtfertigen und nicht umgekehrt. Bei Kant ist der fiktive Naturzustand weder ein Krieg aller gegen alle noch ein Zustand prästabilierter Harmonie. Sein Problem liegt in der Unsicherheit der rechtlichen Bestimmtheit und Durchsetzbarkeit des rechtlichen Mein und Dein. So entsteht die Gefahr von Streit, Gewalt und Anarchie, ein durchaus Hobbesscher und Lockescher Gedanke.104 Die Vernunft gebietet dann den Austritt aus dem natürlichen oder privativen Zustand in den bürgerlichen Rechtszustand, in dem allein „jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann“.105 Dazu zählen Leben, Freiheit und Eigentum, die das öffentliche Recht mit seinen Zwangsmöglichkeiten zu sichern hat. Wie bei Hobbes, Locke und Rousseau ist die Zwangsausübung beim Staat monopolisiert und mit einer Friedenspflicht für die Bürger verbunden.106 Allerdings ist Zwangsausübung von vornherein an die Durchsetzung gegenseitig verträglicher Freiheit gebunden,107 was bei Hobbes’ Souverän nicht der Fall ist, während bei Locke über die Anbindung der Staatsgewalt an „Leben, Freiheit und Eigentum“ eine vergleichbare Bindung vorgenommen wird. Die reziproke Freiheit bezeichnet Kant als ein angeborenes, das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner

100 Zusammenfassend zur Rousseau-Kritik Bielefeldt (Fn. 53), S. 86 ff.; Kersting (Fn. 53), S. 165 ff., 170 ff. 101 Zum Rousseauschen Zwang, frei zu sein, siehe Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 7, S. 21. 102 Werke, Akademieausgabe, Bd. VI, 1968, S. 203 ff. 103 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis: Werke, Akademieausgabe, Bd. VIII, 1968, S. 273 ff. 104 In der Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103) spricht Kant im Zusammenhang mit seiner Ablehnung eines Widerstandsrechts vom „Zustand der Anarchie mit all ihren Greueln“, S. 302 Anm. Das lässt sich nicht nur auf das Stadium des Zurückfallens in den Naturzustand aus dem bürgerlichen Zustand beziehen, sondern auch schon auf den fiktiven Zeitpunkt des noch nicht erfolgten Eintretens in eben diesen Zustand. Vgl. auch Metaphysik der Sitten (Fn. 102), §§ 41, 42, 44. Zur Rechtsunsicherheit im Naturzustand als alle drei Autoren übergreifender Gesichtspunkt schon oben Geismann/Herb (Fn. 27, 64). 105 Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103), S. 289. 106 Siehe Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103), S. 305: „Es muß in jedem gemeinen Wesen ein Gehorsam unter dem Mechanismus der Staatsverfassung nach Zwangsgesetzen … aber zugleich ein Geist der Freiheit sein …“. 107 Siehe etwa Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103), S. 289 f.

II. Moderne Staatszwecklehren in der Gesellschaftsvertragstheorie

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Menschheit zustehende Recht“108 ; damit wird über die Rechtsmaßstäblichkeit hinaus der Gedanke von Menschenrechten und deren Subjektivierung eingeführt,109 ein Schritt über Hobbes und Locke hinaus.110 Wie Locke will Kant den Staat gewaltenteilig organisieren und eingrenzen.111 Partizipatorisch ist bei Kant der Zustimmungsgedanke schon aufgenommen und repräsentativ ausgeformt, wenngleich noch nicht explizit zur Forderung demokratischer Staatsorganisation weiterentwickelt.112 Mit Kant ist in der Staatstheorie eine bis heute unabdingbare Argumentationslinie entwickelt worden: Mensch vor Staat, Autonomie vor Heteronomie, also Freiheit vor Sicherheit. Aber das Gegenteil gilt auch: Ohne Sicherheit keine Freiheit,113 insbesondere soweit es um Gefahren für Leib und Leben geht.114 Menschen stoßen mit ihren Möglichkeiten der freiwilligen Selbstorganisation an Unsicherheits- und Gehorsamsgrenzen, womit unabhängig von pessimistischeren oder optimistischeren Menschenbildern à la Hobbes und Locke zwangsbewehrtes Recht und eine Organisation staatlicher Macht notwendig werden.115 Da diese aber zur Gefahr von Willkür führt,116 ist weitergedacht demokratische Kontrolle durch die eigentlich Begünstigten, das Volk, notwendig. Freiheitssicherung bedarf des demokratisch legitimierten allgemeinen Gesetzes und gewaltenteiliger Umsetzung, ja sogar grundrechtlicher Absicherung. 108

Metaphysik der Sitten (Fn. 102), S. 237. Ganz deutlich wird dies, wenn Kant von der Freiheit der Feder, dem Palladium der Volksrechte spricht: Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103), S. 304. Ähnlich schon Montesquieu, oben Fn. 89. 110 Anders als Locke freilich verneint Kant wie Hobbes die Möglichkeit eines Widerstandsrechts. Siehe Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103), S. 299 ff. Bei Rousseau finden sich Andeutungen von Subjektivierung im Contrat social (Fn. 92), 1. Buch, Kap. 4, S. 14: „Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf seine Würde als Mensch, auf die Menschenrechte, ja sogar auf seine Pflichten verzichten.“ An der Stelle wendet sich Rousseau gegen die Sklaverei und die Veräußerung von Menschen. 111 Metaphysik der Sitten (Fn. 102), §§ 45 ff. 112 Zur ambivalenten Haltung Kants siehe W. Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, S. 156 ff. 113 In der Nachfolge Kants hat dies W. v. Humboldt deutlich gesagt: Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (1792), 1954, S. 66: „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“ 114 Hierzu Chr. Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, DVBl. 2003, S. 1096, 1101 ff., 1104, und unten bei Fn. 181 ff. 115 Siehe Humboldt (Fn. 113), S. 65 f.: „[Die] Uneinigkeiten der Menschen … erfordern allemal schlechterdings eine solche [staatliche] Gewalt“ (S. 65), ein die gesamte Gesellschaftsvertragstheorie durchziehendes Motiv (Fn. 64), das auch für die Gegenwartsreflexion bestimmend ist. S. z. B. O. Höffe Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, Kap. 4. 116 Siehe Montesquieus Monitum, Geist der Gesetze (Fn. 89), S. 11. Buch, Kap. 4, S. 215: „Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse.“ Ähnlich Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 102), § 49: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein …“. 109

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

In den bürgerlichen Revolutionen Amerikas und Frankreichs117 sind diese Einsichten umgesetzt worden; mit der Entscheidung des U.S. Supreme Court in Marbury v. Madison vor 200 Jahren tritt die Verfassungsgerichtsbarkeit als eigenständiges Element von Freiheitssicherung hinzu.118 Doch werfen wir noch einen staatstheoretischen Blick auf die deutsche Entwicklung von Polizei, Rechtsstaat und Sozialstaat im 18. und 19. Jahrhundert.

III. Wandlungen von Polizei, Rechtsstaat und Sozialstaat Über das ganze Mittelalter und die beginnende Neuzeit war die Sicherungsaufgabe der Herrscher nicht nur begrenzt auf die Abwehr von Gewalt und Willkür; sie erstreckte sich, jedenfalls dem Anspruch nach, auch auf Fürsorge für die Untergebenen durch die Herrscher gegenüber Armut, Krankheit und Unbill,119 sowie auf die Förderung von Moral und Religion.120 „Schutz und Schirm“ sollte der Herrscher gewähren, die Untertanen waren zur Erbringung von Gefolgschaft und Gehorsam verpflichtet.121 Mit dem Entstehen der Territorialherrschaft und des Absolutismus sowie der damit verknüpften Polizeiordnungen wurde diese Fürsorgeaufgabe aus den engeren mittelalterlichen Personalverbindungen herausgenommen und breitflächiger obrigkeitlich geregelt.122 Der „guten Policey“ war neben der Abwehr von Ge117 Hierzu generell Kriele (Fn. 72), §§ 37 ff., sowie speziell unter dem Gesichtspunkt von „Freiheit und Sicherheit“ Isensee (Fn. 54), S. 12 ff.; Robbers (Fn. 2), S. 51 ff.; Sommermann (Fn. 25), S. 91 ff.; Ryffel (Fn. 27), S. 307 ff.; H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 25 ff. 118 Hierzu ausführlich W. Kremp (Hrsg.), 24. Februar 1803. Die Erfindung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Folgen, 2003, mit den Beiträgen von W. Brugger, Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit. 200 Jahre Marbury v. Madison, S. 9 ff., W. Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in den USA und Europa: Zweihundert Jahre Marbury v. Madison, S. 23 ff., und Ch. Abernathy, The Lost European Aspirations of US Constitutional Law, S. 37 ff. 119 Siehe schon oben Abschnitt II sowie Willoweit (Fn. 8), S. 29, zu den Aufgaben des Königs im 8. und 9. Jahrhundert: „Der König hat … höchst konkret dafür zu sorgen, daß die Menschen nicht zu gewalttätiger Selbsthilfe schreiten und Rechte Einzelner nicht willkürlich verletzt werden. Die Schutzlosen, Kirchen und Kleriker, Witwen und Waisen, kommen daher in den Befehlen des Königs besonders häufig vor.“ 120 Zu einigen notwendigen Relativierungen siehe Schulze (Fn. 19), S. 35 f., aber auch 83. 121 Vgl. Maier (Fn. 26), S. 36 f.; Schulze (Fn. 19), S. 25; Kern (Fn. 30), S. 152, 240, und schon oben Fn. 34. 122 Zu diesem Übergang A. Benz, Der moderne Staat, 2001, S. 13 ff.; Willoweit (Fn. 8), S. 121; Reinhard (Fn. 19), S. 300 f.; Maier (Fn. 30), S. 24, 69 ff., zusammenfassend S. 259: „Die Entstehung des modernen Polizeigedankens und der polizeilichen Tätigkeit des Staates ist ein charakteristischer Vorgang der neueren europäischen Verfassungsgeschichte … das Vordringen der staatlichen ,Polizei‘ (Verwaltung) [hängt] mit der Lockerung der überkommenen ständischen und religiösen Ordnungen zusammen, die im Ausgang des Mittelalters in den

III. Wandlungen von Polizei, Rechtsstaat und Sozialstaat

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fahren gelegen an der Glückseligkeit der Untertanen, dem Wohlergehen aller.123 Dies geschah aber unter dem Dach eines nacharistotelischen Paternalismus124, zum Teil auch im Rahmen der Natur- und Vernunftsrechtslehren – etwa bei Christian Thomasius und Christian Wolff125 –, gegen den sich dann der liberale Kant mit seiner Unterscheidung von väterlicher und vaterländischer Regierung wandte.126 Glückseligkeits-, Wohlfahrts- und Rechtszweck waren im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts oft nicht unterschieden.127 Im aufgeklärten Absolutismus gab es liberale Abstriche an diesen expansiven Staatszwecken.128 Theokratie und Despotie wurden beschränkt,129 aber die in der Aufklärung eigentlich angelegte Selbstbestimmung eines jeden Menschen und Volkes in materieller wie ideeller, ökonomischer wie politischer Hinsicht blieb im aufgeklärten Absolutismus deutscher Prägung auf halber Strecke stecken, wovon die Entwicklung im zu Ende gehenden 18. Jahrhundert130 und im 19. Jahrhundert131 Zeugnis ablegt. meisten europäischen Ländern eintritt. Die Krise der großen mittelalterlichen ,Selbstverwaltungskörper‘ (L. von Stein) – Kirche, Städte, Grundherrschaft – und die daraus folgenden Störungen im Bereich des politischen und sozialen Lebens rufen den modernen Staat als Ordnungsstifter auf den Plan, der mit seiner Polizei immer tiefer in die bis dahin autonomen, jetzt aber zur Selbstordnung nicht mehr fähigen ständischen Sozialbereiche vordringt und so allmählich das gesamte innere Leben der Gesellschaft seinem Gebot unterwirft.“ 123 Zusammenfassend Zippelius (Fn. 33), § 14; Menger (Fn. 52), Rn. 97 f.; Schulze (Fn. 19), 97; Stolleis I (Fn. 17), S. 370, mit einer anschaulichen Beschreibung, und Conze (Fn. 8), S. 845, zu im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Einschätzungen: „Die Verbindung von Lebenssicherung mit Eigentum, Wohlfahrt, Ruhe, Zufriedenheit, Bequemlichkeit und ähnlichen Attributen für die Existenz wohlbehüteter Untertanen, denen der Selbstschutz abgenommen und denen dank der Fürsorge der Obrigkeit ermöglicht worden ist, die Früchte ihrer Arbeit ungefährdet zu genießen.“ 124 Maier (Fn. 26), S. 25, 50 f., 162 f., 165 ff.; Willoweit (Fn. 8), S. 184; Schrimm-Heins II (Fn. 4), S. 209; Kern (Fn. 30), S. 246 f.; Möstl (Fn. 6), S. 7 f. mit zahlreichen Nachweisen. 125 Siehe näher Sommermann (Fn. 25), S. 15 ff.; Maier (Fn. 26), S. 31; Schrimm-Heins II (Fn. 4), S. 209; Stolleis I (Fn. 17), S. 268 ff., mit einer Typologie einschlägiger Naturrechtstypen auf S. 269. 126 Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103), S. 291. Siehe etwa auch den Grundsatz des Freiherrn von Bielfeld: „Die erste Pflicht der Polizey ist, den Bürgern Sicherheit für das Leben und für ihre Personen, für ihre Ehre und ihr Vermögen zu verschaffen.“ J. F. v. Bielfeld, Lehrbegriff der Staatskunst (1761), 3. Aufl., Bd. 1, Breslau und Leipzig 1777, S. 192. 127 Maier (Fn. 26), S. 24, 73, 185 f.; Menger (Fn. 52), Rn. 95. 128 Sommermann (Fn. 25), S. 19 ff., 23 ff.; Maier (Fn. 26), S. 190. 129 Das ist nach E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143, 149, ein Teil des ursprünglichen Rechtsstaatsbegriffs: „Die polemischen Gegenbegriffe sind nicht Monarchie oder Aristokratie, sondern Theokratie und Despotie.“ 130 Man denke an das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, das im ersten Teil von aufklärerischer Freiheit und Gleichheit der Bürger geprägt war, im zweiten Teil dagegen weitgehend die bislang vorherrschende Ständeordnung konservierte. Hierzu H. Hattenhauer, Einführung in das ALR, 3. Aufl. 1996, S. 10 ff., 16 ff., 19: „Das ALR war für eine Monarchie verfaßt worden, die noch immer eine absolutistische war … Die Verfassung des Ständestaates bestimmte die Systematik des II. Teils. Die Bausteine der ständischen Hierar-

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

Immerhin: Der wachsende Einfluss des Liberalismus zeigt sich in Deutschland in der Zunahme limitierender Staatszwecke, wie sie bei Kant repräsentativ formuliert sind: Gegenseitige Freiheit ist zu sichern, nur dazu darf der Staat Zwang einsetzen, nicht um der Glückseligkeit Einzelner willen, über die keine Einhelligkeit herzustellen ist.132 Der Rechtsstaat wird allmählich133 vom Polizeistaat geschieden. Der Staat ist primär für Gefahrenabwehr, nur noch sekundär für wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten zuständig. Manche liberale Denker und Rechtsstaatstheoretiker sehen die Staatsgewalt nur noch als Rechtssicherungsinstanz,134 aber die breite Mehrheit will von, modern gesprochen, sekundären sozialstaatlichen Sicherungen für Arme und Schwache nicht absehen,135 wie man exemplarisch am Allgemeinen Landrecht Preußens136 und bei Kant137 sehen kann.138 chie – Bauern-, Bürger-, Adelsstand und Königtum: ,der Staat‘ – waren das Material des Staatsgebäudes … Im I. Teil dagegen begegnete der Mensch seinesgleichen unabhängig von seinen ständischen Rechten und Pflichten.“ 131 Nachweise bei Maier (Fn. 26), S. 261 f., 287 f., 293; Volkmann (Fn. 36), S. 1059 f.; Grimm (Fn. 37), S. 64 f.; Stolleis II (Fn. 49), S. 99 ff., 187 ff. 132 Vgl. als weiteres Beispiel den Polizeiwissenschaftler J. v. Sonnenfels, dargestellt bei Maier (Fn. 26), S. 187 f., wonach die (von Förderungen zu unterscheidende) Zwangsgewalt des Staates sich auf Sicherheitsprobleme konzentrieren sollte, und zwar insbesondere auf „die Sicherheit der Handlungen und Personen, die Sicherheit der Ehre, und die Sicherheit der Güter“. 133 Maier (Fn. 26), S. 203, 205, 260. 134 Vgl. insbesondere Humboldt (Fn. 113); weitere Nachweise bei Sommermann (Fn. 25), S. 36 ff., Conze (Fn. 8), S. 851 ff.; Böckenförde (Fn. 129), S. 150 f. 135 Böckenförde (Fn. 129), 145 f.; Sommermann (Fn. 25), 24 ff., 27 ff., 48 ff.; Conze (Fn. 8), 853 ff.; Maier (Fn. 26), S. 207 ff., 293; H.-Chr. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat, VVDStRL 48 (1989), S. 7, 34 f.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HdbStR I, 1987, § 24 Rn. 13. 136 In dessen Einleitung formuliert § 83 unter der Überschrift „Quelle des Rechts“: „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eignes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können.“ Die Sicherungsaufgabe des Staates ergibt sich aus Teil II, Titel 17, § 1: „Der Staat ist für die Sicherheit seiner Unterthanen, in Ansehung ihrer Personen, ihrer Ehre, ihrer Rechte, und ihres Vermögens zu sorgen verpflichtet.“ § 76 der Einleitung, der vom „Verhältnis des Staats gegen seine Bürger“ handelt, formuliert sogar subjektiv-rechtlich: „Jeder Einwohner des Staats ist den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt.“Aus diesen Normen ergibt sich folgerichtig die Konzentration der Polizeiaufgaben auf Gefahrenabwehr in Teil II, Titel 17, § 10: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahren zu treffen, ist das Amt der Polizey.“ Aber trotz dieser liberalen Zurücknahme vormals expansiverer Staatszwecke wird dem Wohlfahrtszweck jedenfalls in seiner Schutzfunktion für Arme und Schwache nicht abgeschworen, wie Teil II, Titel 17, § 2, deutlich macht: „Dem Staate kommt es … zu, zur Handhabung der Gerechtigkeit, zur Vorsorge für diejenigen, welche sich nicht selbst vorstehn können, und zur Verhütung sowohl, als Bestrafung der Verbrechen, die nöthigen Anstalten zu treffen.“ 137 Schon bei Kant ist der Wohlfahrtszweck nicht gänzlich aus der Staatspraxis vertrieben. Die Regierung darf nämlich aus pragmatischen Gründen, „um [die] Stärke und Festigkeit [des Gemeinwesens] sowohl innerlich, als wider äußerliche Feinde zu sichern“, sozialstaatlich tätig werden, solange sie nicht gegen das Rechtsgesetz verstößt: Theorie-Praxis-Schrift (Fn. 103),

IV. Anschlussfähigkeit des klassischen Theorierahmens?

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Dass die Versuche einer Eliminierung des Wohlfahrtszwecks aus dem Bereich der Staatsaufgaben auf irrealen wirtschaftsliberalen Annahmen über den Zuwachs allgemeinen Reichtums und die Gerechtigkeit der daraus entstehenden Sozialordnung beruhten,139 zeigte spätestens die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung.140 Der Sozialstaat als Antwort auf die drängende „soziale Frage“ kann als die unter modernen Verhältnissen neu formulierte Schutz-und-Schirm-Verantwortung der im 19. Jahrhundert zunächst rechtsstaatlich gebändigten und dann seit 1919 auch voll demokratisch legitimierten deutschen öffentlichen Gewalt verstanden werden.141

IV. Anschlussfähigkeit des klassischen Theorierahmens für die Ordnungsprobleme der Gegenwart? Fragt man nach, welche Ordnungsprobleme das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert für den modernen Staat gestellt hat bzw. stellt, so sind vier Punkte zu nennen: ökologische und informationelle Bedrohungen, nationalstaatliche Entgleisungen oder Schwächen sowie schließlich Neujustierungen zwischen staatlicher und privater Aufgabenerfüllung. Diese vier Entwicklungsstränge entfaltet die hier skizzierte Staats- und Verfassungstheorie nicht zureichend, ist sie doch im Kern Theorie des Rechts ihrer Zeit. Doch ist sie anschlussfähig für die meisten dieser 298. Das relativiert etwas die Einschätzung von Isensee (Fn. 54), S. 10. Siehe auch Metaphysik der Sitten (Fn. 102), Allg. Anmerkung nach § 49, S. 325. Näher hierzu O. Höffe, „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, 2001, S. 132 ff. Zu Versuchen, sozialstaatliche Gehalte in Kants drei Rechtsprinzipien „Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit“ zu thematisieren, siehe Brugger, Liberalismus (Fn. 112), S. 156 ff. Kritisch hierzu W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1993, S. 58 ff., 376 f. 138 Siehe etwa auch R. v. Mohl: „Wer möchte und könnte in einem Staate leben, der nur Justiz übte, allein gar keine polizeiliche Hülfe eintreten ließe?“ „ … Ohne unmittelbare Stütze und Hülfe der Rechtspflege kann der Bürger möglicherweise sein ganzes Leben ruhig hinbringen, nicht aber eine Stunde ohne fühlbare Einwirkung einer guten Polizei. Es ist daher geradezu thörigt, von dem ,Polizei‘staate als von etwas an sich Verkehrtem und zu Beseitigendem zu reden, ihm den ,Rechts‘staat gegenüberzustellen. Der Staat hat sowohl für Polizei als auch für Recht zu sorgen“: Polizeiwissenschaft (1831), Bd. I, 3. Aufl. 1866, Anm. 1 zu 5 und Anm. 4 zu 9. 139 Grimm (Fn. 37), S. 65 ff., 75; Brugger (Fn. 112), S. 168 f., 202 f. 140 Dazu Conze (Fn. 8), S. 855 f.; Maier (Fn. 26), S. 267 f.; Makropoulos (Fn. 1), Sp. 748 f.; Sommermann (Fn. 25), S. 22 m.w.N. zu den strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem spätabsolutistischen Wohlfahrtsstaat und dem modernen Sozial- oder Leistungsstaat. 141 Ausführlich hierzu der Sammelband „Sicherheit und Freiheit“ (Fn. 25). Spätestens in Weimar ging mit dem Sozialstaat eine Verschiebung in der Legitimationsgrundlage einher: Der Sozialstaat sollte nicht mehr Fremdsorge, sondern Hilfe bei der Selbstsorge anbieten, damit persönliche und politische Autonomie wirklich werden kann. Siehe Preuß (Fn. 25), S. 106, 118 ff., 124 ff.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

Themen, wie die folgende Zusammenfassung in Bezug auf sicherungsbedürftige Rechtsgüter, Erledigungsmodalitäten und Akteure andeuten soll. Die Schutzgüter sind über viele Jahrhunderte identisch: innere und äußere Sicherheit, Schaffung und Erhaltung von Frieden, Recht und Ordnung.142 Mit den bürgerlichen Revolutionen treten Leben, Freiheit und Eigentum als nunmehr einheitliche und individualisierte Schutzgüter hinzu.143 Ferner ist die Familie zu schützen, also weitergedacht die Möglichkeit der Integration in Gemeinschaften zu gewährleisten.144 Die Ehre als psychisch-soziale Dimension von menschlicher Integrität wird als schutzwürdig ausgewiesen.145 Es geht auch um die Sicherung von wirtschaftlichen und beruflichen Aktivitäten, bis hin zur Sicherheit der Handelswege146 – sozusagen ein Vorgriff auf das technische Sicherheitsrecht und grenzüberschreitenden Handelsverkehr.147 Schutzwürdig ist schon nach Bodin „gutes Wasser“ und nach Hobbes „das Recht auf Wasser [und] Luft“, worin wir Vorläufer der ökologischen Staatsziele sehen.148 Selbst informationelle Sicherungsbedürfnisse werden schon angesprochen, wenn etwa in Günther Heinrich von Bergs „Handbuch des Teutschen Policeyrechts“ von 1799 gewarnt wird, die Sicherheitspolizei dürfe ihre Gewalt nie „dazu mißbrauchen, selbst die Sicherheit der Bürger zu stören“. Sie dürfe „nie in eine mißtrauische Staatsinquisition ausarten, die in das Innere der Familien eindringt, jede gesellschaftliche Freude verbittert, Verdacht unter Freunden

142 Vgl. neben den Angaben in den vorigen Abschnitten etwa Bull (Fn. 24), S. 60; G.-J. Glaeßner, Sicherheit und Freiheit, Aus Politik und Zeitgeschichte B 10 – 11 (2002), S. 50, 57; K. A. Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986, 6 f., S. 21; R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 41 f. 143 Zuvor waren Freiheit und Eigentum ständisch gegliedert. Siehe Fn. 34. 144 Vgl. oben Fn. 10, S. 20; das sind Vorboten des modernen Kommunitarismus, der daneben auch an assoziative Freiheit anknüpft. Siehe Brugger (Fn. 112), §§ 7 IV und 11. 145 Vgl. oben Fn. 10, 20, 126, 132, 136 und unten Fn. 149 sowie Hobbes über die Freiheit (Fn. 27), S. 115, 193; Leviathan (Fn. 56), 17. Kap., S. 133, 18. Kap., S. 142; Becker (Fn. 10), S. 2078; Robbers (Fn. 2), S. 49, 95, 98, 102, 198, 236, 238 sowie allgemein zur Bedeutung von Ehre im Mittelalter Huizinga (Fn. 3), S. 22, 347. 146 Vgl. oben Fn. 14, 19, 55. Schon für das Mittelalter diagnostiziert Grimm (Fn. 37), S. 55: „Fernhandel und Frühformen des Kapitalismus“. 147 Siehe unten Fn. 154. 148 Siehe oben Fn. 56 zu Hobbes und generell hierzu Bull (Fn. 24), S. 224 ff.; Sommermann (Fn. 25), S. 247 ff.; Steinberg (Fn. 142); J. Nida-Rümelin/D. v. d. Pfordten (Hrsg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2. Auflage, 2002. Auch bei Bodin finden sich solche ökologischen Gedanken: „Wenn [der Mensch] sich dann den Naturschönheiten zuwendet, wird er entzückt sein von der Vielfalt der Tiere, Pflanzen und Stoffe und sich Gedanken machen über ihre jeweilige Gestalt, Beschaffenheit und Vorzüge, über das, was sie zueinander hinzieht und voneinander abstößt und über die Ursachenkette, durch die sie alle verbunden sind“: Sechs Bücher (Fn. 20), 1. Buch, 1. Kap., S. 103. Auf S. 102 spricht er davon, wie wichtig „gutes Wasser“ ist und unterscheidet Aufgaben, „um die man sich in jedem Gemeinwesen zu allererst und mit größter Sorgfalt zu kümmern pflegt“, von solchen, „die einem das Leben erleichtern“.

IV. Anschlussfähigkeit des klassischen Theorierahmens?

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und Verwandten ausstreut, schändliche Heuchelei erzeugt, und überall um sich her sclavische Furcht verbreitet“.149 Privatisierungsdiskussionen, wie sie seit einiger Zeit angesichts leerer staatlicher Kassen und überforderter staatlicher Regelungsmechanismen geführt werden, sind natürlich in der hier vorgestellten Literatur nicht zu erwarten. Trotzdem verdeutlicht schon die mit Locke und Kant einsetzende Liberalisierung im Rechtsdiskurs, dass der Zurücknahme staatlicher Kompetenzen kein Zuständigkeitsvakuum entspricht. Sie soll gerade private und gesellschaftliche Initiative freisetzen.150 Hegel führt dies fort mit seiner Konzeption von „bürgerlicher Gesellschaft“ und der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft.151 Damit wird letztlich eine objektive Grenze von Staatsgewalt angezeigt. Weitergedacht führt dies zu einem subjektiven Freiheitsrecht der Bürger und angesichts leerer Staatskassen bis zu einem gewissen Umfang auch zu einer Selbstorganisations- und Versicherungspflicht.152 Was transnationale oder grenzüberschreitende Rechtsorganisationsformen angeht, die wegen staatlicher Ohnmacht oder Übermacht zur Sicherung wichtiger Rechtsgüter erforderlich sind, so schlossen die seit dem Mittelalter unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation entstandenen Bündnisse in Bezug auf äußere Sicherheit oder die Sicherheit der Handelswege nicht nur „Lücken im Leistungsangebot der werdenden Staatsgewalt“153, sondern sind auch als Vor-

149 Zitiert nach der 2. Aufl., Erster Theil, Hannover 1802, 211. Der Text fährt fort: „Jenes rasche und nachdrückliche Verfahren, wenn gefährliche Plane oder Unternehmungen vereitelt und unterdrückt werden sollen, muß stets den Grundsätzen der Gerechtigkeit gemäß sein, und darf nie die bürgerliche Freyheit oder die Rechte des Eigenthums willkürlich kränken, oder auf einen bloßen leichten Verdacht hin die Ehre des Bürgers verletzen.“ 150 Siehe hierzu vor allem die Interpretation von Locke durch C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, 1962. Hierzu auch Euchner, Einleitung (Fn. 27), S. 10 f., 33, 48 f. 151 Siehe die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 3. Teil, 2. und 3. Abschnitt und allgemein zu dieser Unterscheidung Grimm (Fn. 37), S. 59 f., 65 f., 67 f., 69 f. Bei Hegel wird gleichzeitig der „Staat“ mit besonderer Dignität versehen, worin man i.S.d. oben Gesagten einen Rückschritt sehen kann. So Isensee (Fn. 54), S. 11. 152 Die schon im 17. Jahrhundert einsetzende und dann im 18. und 19. Jahrhundert stärker werdende Assekuranzbewegung ist ein früher Vorläufer dieser im 21. Jahrhundert wieder sich aufdrängenden Not zur Selbstvorsorge. Hierzu Conze (Fn. 8), S. 848 f.: „Nach dem Vorlauf der Assekuranz für Seetransporte … im 14. Jahrhundert … kam das moderne Versicherungswesen im 17. Jahrhundert auf. Im 18. Jahrhundert mehrten sich Feuer-, Vieh-, Hagel- und … Lebensversicherungen …“. Ausführlich zur Entstehung des Versicherungswesens die Beiträge von P. Koch in dem von H. L. Müller-Lutz/K.-H. Rehnert hrsg. Sammelband „Beiträge zur Geschichte des deutschen Versicherungswesens“, 1995, insbes. S. 151 ff., 171 ff., 224 ff. Siehe auch Kaufmann (Fn. 1), S. 154 m.w.N. in Fn. 19 und Schrimm-Heins II (Fn. 4), S. 210 ff. mit dem Hinweis darauf, dass der Begriff „soziale Sicherheit“ als „social security“ zum ersten Mal 1935 von dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt propagiert wurde. Inzwischen ist der Begriff z. B. in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen worden. Vgl. deren Art. 22 und 25. 153 So Reinhard (Fn. 19), 247.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

boten von Organisationen wie NATO und EU verstehbar.154 Solche Bündnisse und Schutzverträge nahmen mit wachsendem Grad von Territorialisierung, Säkularisierung und Machtvereinheitlichung staatliche und im gegenseitigen Verkehr völkerrechtliche Züge an. All das zeigt, dass die bürgerliche, moderne, aber noch vorpostmoderne Staats- und Verfassungstheorie schon für fast alle Gebiete notleidender Sicherheit und Freiheit anschlussfähig ist. Die bei den Leitsätzen abgedruckten Schaubilder zur Entwicklung der Staatszwecklehre sollen diese Behauptung illustrieren. Blenden wir von diesen Schutzgütern über zu den Akteuren und Modalitäten zur Sicherung der betreffenden Güter, so ist zunächst ein naheliegendes Missverständnis abzuwehren. Der Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit von Leben, Freiheit, Eigentum, Lebensgemeinschaften, Ehre, Information, Ökologie und grenzüberschreitendem Verkehr führt konzeptionell nicht automatisch zu einer staatlichen Eigenerledigungspflicht. Vielmehr ist zu differenzieren – und lässt sich im Rahmen der dargelegten Theorieentwicklung differenzieren155 – zwischen den staatlichen Schutzzwecken, den dazu besten Mitteln sowie den einzuschaltenden Akteuren: 154 Vgl. zu dem Traditionsstrang zwischen der mittelalterlichen und der europarechtlichen Sicherung von Handelswegen Chr. Calliess, Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat. Eine verfassungsrechtliche Gratwanderung im staatstheoretischen Kompaß, ZRP 2000, 1, 2, 4, ferner EuGH, Urteil vom 9. Dez. 1997, Rs. C-265/95 – Kommission vs. Frankreich, zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Schutz des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs gegen private Gewalt, EuGRZ 1997, S. 620 ff., Rn. 53: „Diese Feststellung ist besonders deshalb geboten, weil die … Sachbeschädigungen und Drohungen nicht nur die Ein- oder Durchfuhr der von den Gewalttaten unmittelbar betroffenen Erzeugnisse in Frankreich gefährden, sondern auch eine Atmosphäre der Unsicherheit schaffen können, die sich auf die gesamten Handelsströme nachteilig auswirkt.“ 155 Diesem Schluss scheint die Garde der Souveränitätstheoretiker zu widersprechen, doch unterscheidet schon Bodin zwischen der ersten Frage nach dem höchsten Ziel des Staates – also den zu schützenden Gütern; danach ist „nach den Mitteln und Wegen zu fragen …, wie dieses erreicht werden kann“: Sechs Bücher (Fn. 20), 1. Buch, Kap. 1, S. 98. Siehe auch den bei Sommermann (Fn. 25), S. 42 zitierten K. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, 3 Bde., Heidelberg 1839 – 42, 5. Buch ( = Bd. 1, 1839, 147 – 168): „Überdies bestimmen die Grundsätze des Rechts in vielen Fällen nur das Ziel, auf welches die Bestrebungen gerichtet sein sollen, nicht aber den Weg, welcher zu dem Ziel führt.“ Solche Sätze eröffnen Reflexions- und Entscheidungsmöglichkeiten für bestmögliche – also nicht notwendigerweise staatliche – Erledigungsarten. Ähnliches gilt für Hobbes, dessen Theorie zwar eine souveräne, aber nicht totalitäre Staatsorganisation befürwortet. Hobbes’ Theorie leidet an einer gewissen Vereinseitigung durch Anthropologisierung eines historischen Kontextes, nämlich der zu seiner Zeit herrschenden Anarchie und den Bürgerkriegsverwüstungen, die er in sein konfliktträchtiges Menschenbild einbaut. Liest man Hobbes aber kontextgebunden, dann überzeugt sein Plädoyer für die alles überwältigende Staatsmacht vor allem für Situationen „stechenden Elends, die Anarchie und Rebellion begleiten“ (Fn. 79), aber nicht mehr für Situationen, in denen erst einmal Frieden geschaffen worden ist. Dann könnten konzeptionell andere Überlegungen von ihm in den Vordergrund treten. Hobbes formuliert explizit: „Mit Sicherheit ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“: Leviathan (Fn. 56), Kap. 30, S. 255. Das kann man als Freisetzung gesellschaftlich-ökonomischer Initiative ansehen. So sieht es auch Isensee (Fn. 54), S. 14. Hobbes ist auch kein totalitärer

V. Freiheit und Sicherheit im Grundgesetz

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Den Staat trifft zwar die originäre Aufgabe zur Ausschaltung von Gewalt und Lebensbedrohungen sowie zu geregelter Streitentscheidung,156 in Bezug auf die Organisation des Schutzes für weitergehende Staatsziele ist die moderne Staatstheorie aber offen für exklusive, kooperative oder auch in gesellschaftliche Selbstorganisation delegierte Verantwortlichkeiten. Je nach Gefahrenlage und Problemlösungspotenzial ist ein Entscheidungsspielraum eröffnet, der von außerrechtlichen zu privat-, straf- und öffentlichrechtlichen Instrumenten, von Geld über Polizei zu Gesetzen,157 von Befehl und Zwang bis zu indirekter Steuerung und subsidiärer Auffangverantwortung158 reicht. Die Staatstheorie ist schließlich außerhalb des staatlichen Zwangsmonopols offen für eine Auswahl von Akteuren, die vom Nationalstaat bis zu transnationalen oder innerstaatlichen Organisationen genauso reicht, wie sie gesellschaftliche Akteure kennt, die in privatrechtlichen, öffentlichrechtlichen oder gemischten Rechtsformen handeln.

V. Freiheit und Sicherheit im Grundgesetz Wenden wir den Blick von der Staats- und Verfassungstheorie zum Verfassungsrecht. Im Grundgesetz bildet Freiheit einen herausragenden Verfassungs-

Sicherheitsfanatiker, sondern andeutungsweise liberaler Vorsorgedenker: „[Es] ist …unmöglich, die Menschen gänzlich vor gegenseitigen Schädigungen zu schützen … Dagegen kann man Vorsorge treffen, daß kein gerechter Grund zur Furcht besteht“: De Cive, Kap. VI 3, zitiert nach Isensee, ebd., 4, und diskutiert bei Murswiek (Fn. 54), S. 17. 156 Siehe Grimm (Fn. 37), S. 82 f.; Bull (Fn. 24), S. 60, 68, 101 f., 217, 348, 352; Böckenförde, Freiheit und Recht, Freiheit und Staat, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 42, 53, 56; A. Scherzberg, Wozu und wie überhaupt noch öffentliches Recht?, 2003, S. 35, 38; Hauer (unten Fn. 163), S. 5. Deshalb nennt Murswiek diese Sicherheitsaufgabe „notwendig“: Fn. 54, 8, 13 f. Ähnlich G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 82 zu „Sine Qua Non Activities“ der Staatsgewalt. Hierzu K. Eichenberger, Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staatsaufgabe, in: ders., Der Staat der Gegenwart, 1980, S. 73, 94: „Es gibt offenbar Aufgabenbereiche [wie die Wahrung des inneren Friedens], die dem souveränen Staat gerade zufolge seiner Souveränität nicht zur freien Disposition stehen. Sie sind ihm wesensgemäß mitgegeben, die Erfüllung unabdingbar vorgegeben“. So auch Chr. Starck, Frieden als Staatsziel, in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 231 f. K. Stern, Der moderne Staat. Aufgaben Grenzen und Reformgedanken, FS Kirchhoff, 2002, S. 263, 268, spricht von den „unentbehrlichen Staatsaufgaben“, den „Kernaufgaben“, den „die Staatlichkeit definierenden Tätigkeiten“, „wie Sicherheit nach innen und außen, Gewährleistung von Freiheit und Gerechtigkeit, sowie allenfalls allgemeine Wohlfahrtsförderung“. 157 So die Einteilung von F. I. Michelman, The Protective Function of the State in Constitutional Law, Vortrag bei einer Tagung der Venedig-Kommission an der Universität Göttingen am 23. und 24. Mai 2003, in: G. Nolte (Hrsg.), European and US Constitutionalism, 2005, S. 156 ff. 158 Siehe exemplarisch zu neuen Steuerungsformen E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 18 ff.; Schuppert (Fn. 156), Kap. 2 C, D; Scherzberg (Fn. 156), S. 15 ff., und schon Bull (Fn. 24), S. 215 und § 21.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

wert.159 Dagegen fehlt ein vergleichbar prominentes Staatsziel160 „Sicherheit“. Das erklärt sich aus der Reaktion der Grundgesetzgeber161 gegenüber der weit hinter Hobbes zurückfallenden nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.162 Die Textlücke im Grundgesetz163 wird nicht nur im historisch-normativen Rückblick deutlich. Die Lücke steht auch vor Augen im Gegenwartsvergleich moderner Verfassungen164 159

Dazu ausführlich E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976. Zur Terminologie: Die Begriffe Staatszwecke und Staatsziele und weitergedacht Staatsaufgaben werden in der Literatur nicht immer gleich benutzt. Im Vordergrund steht entweder eine Abstufung nach Abstraktionsgrad (von den ganz abstrakten Zwecken zu den auf mittlerer Konkretionsstufe angesiedelten Zielen bis zu den spezifischen Aufgaben) oder eine Differenzierung nach vorpositiven und positiven Feldern staatlicher Tätigkeit (von den vorverfassungsrechtlichen, durch Empirie oder Theorie – etwa Vernunftrecht – ausgewiesenen Zwecken des Staates zu den verfassungsrechtlichen Entsprechungen in Zielen sowie noch konkreteren Aufgaben). Vgl. zum Beispiel Bull (Fn. 24), S. 43 ff., 114 ff.; Link (Fn. 135), S. 17 ff., und G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat – nach vierzig Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 15, 17 ff., 61 ff., 108; D. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff.; Brugger (Fn. 112), S. 359 ff.; Murswiek (Fn. 54), S. 10 ff. Es finden sich auch Kombinationen dieser Sichtweisen oder noch andere Unterteilungen. Siehe Möstl (Fn. 6), S. 37 ff.; Sommermann (Fn. 25), S. 3, 355 ff., 377 ff. Auf jeden Fall können Werte wie „Freiheit“ und „Sicherheit“ sowohl vorpositive Staatszwecke als auch verfassungsintegrierte Staatsziele sein, die dann oft, aber eben nicht automatisch, auch zu Staatsaufgaben i.S. staatlicher Erledigungspflichten führen. 161 Die Lage in den Landesverfassungen ist uneinheitlich, aber mehrheitlich dem Grundgesetz vergleichbar. Am ehesten noch in Richtung eines allgemeinen Staatsziels „Sicherheit“ formuliert Art. 99 der Verfassung Bayerns: „Die Verfassung dient dem Schutz und dem geistigen und leiblichen Wohl aller Einwohner. Ihr Schutz gegen Angriffe von außen ist gewährleistet durch das Völkerrecht, nach innen durch die Gesetze, die Rechtspflege und die Polizei.“ 162 Siehe die Berichte von H. Dreier und W. Pauly zu „Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus“, VVDStRL 60 (2001), S. 9 ff., 73 ff. 163 Das gilt auch für Österreich, dessen Bundesverfassungsgesetz ebenfalls kein explizites allgemeines Verfassungsrechtsgut „Sicherheit“ kennt. Doch wird dort wie in Deutschland „Sicherheit“ als implizit verankert angesehen, etwa in Art. 1 B-VG, nach dem „Österreich … eine demokratische Republik“ ist. Vgl. hierzu A. Hauer, Ruhe, Ordnung, Sicherheit. Eine Studie zu den Aufgaben der Polizei in Österreich, 2000, S. 2 ff.: „Die ,Gefahrenabwehr‘ ist in Österreich von Verfassungs wegen Staatsaufgabe. Der Staat ist kraft besonderen Verfassungsauftrages verpflichtet, Gefahren für bestimmte Schutzgüter, nämlich Gefahren für die Existenz des Staates selbst, dann Gefahren für das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit, die Freiheit und das Habe der Menschen sowie letztlich sonstige Gefahren für ein geordnetes und friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft, mit Hilfe seiner Organe abzuwehren. Die verfassungsrechtliche Grundlegung einer Staatsaufgabe zur Abwehr dieser Gefahren läßt sich anhand folgender Überlegungen nachweisen“ (S. 2 f.). Dann folgt der Hinweis auf Art. 1 B-VG sowie auf Spezialnormen, die mit Sicherheit zu tun haben. 164 Beginnend mit der Grundrechteerklärung von Virginia von 1776, Art. 1, der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 und Art. 2 und 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Siehe als modernes Beispiel etwa Art. 2 der Bundesverfassung der Schweiz von 1999: „Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes“; die folgenden Absätze enthalten weitere Staats-„Zwecke“. Siehe auch Art. 57, der 160

V. Freiheit und Sicherheit im Grundgesetz

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sowie europäischer und internationaler Rechtsinstrumente.165 Exemplarisch zeigen dies die Formulierungen in Art. 2 und 29 des EU-Vertrags und Art. 61 des EGVertrags vom „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ sowie Art. 5 Abs. 1 S. 1 der EMRK und Art. 6 der Charta der Grundrechte der EU mit ihrer Aussage: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“.166 Trotz der Textlücke – ja vielleicht gerade wegen ihr – kommt der Sicherheitsauftrag in der Staatsrechtslehre nicht zu kurz. Im Grundgesetz steht die Subjektivierung von Sicherheitsbelangen an dritter Stelle einer Argumentationskette, die vom Rechtsstaat zu den grundrechtlichen Schutzpflichten fortschreitet und schließlich zur Subjektivierung in einem Grundrecht auf Sicherheit führt;167 zusätzlich werden Argumente aus den grundrechtlichen Schrankenvorbehalten168 dem Demokratieprinzip169, dem Sozialstaatsprinzip170 und diversen Kompetenztiteln171 zur Wahrnehmung der Aufgaben innerer und äußerer Sicherheit genannt.172 Streitig ist das „Grundrecht auf Sicherheit“, das 1983 Josef Isensee173 und 1987 Gerhard Robbers174 propagiert haben175. Vertreter eines solchen Grundrechts176 klarstellt, dass Bund und Kantone im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen eine gemeinsame, auf Koordination abzielende Sicherheitsverantwortung haben. 165 Nachweise bei P. J. Tettinger, Freiheit in Sicherheit, FS Kirchhoff, 2002, S. 281, 292 ff.; Möstl (Fn. 6), §§ 11, 12. 166 Die Vorschriften haben allerdings einen spezifischen Bezug zu Einschränkungen der körperlichen Bewegungsfreiheit und Freiheitsentziehungen. Siehe dazu näher J. Frowein/ W. Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Art. 5 Rn. 1 ff. und N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.), Komm. zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 6 Rn. 1, 10 ff. 167 Siehe etwa J. Limbach, Ist die kollektive Sicherheit Feind der individuellen Freiheit?, AnwBl 2002, S. 454: „Trotz des Schweigens des Grundgesetzes ergibt sich eine Pflicht des Staates, für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, aus dem Gesamtsinn der Verfassung, vornan aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, allerdings mit Präferenz für ein „Staatsziel der Sicherheit“ vor einem Grundrecht auf Sicherheit, ebd., S. 455. 168 Vgl. etwa Art. 13 Abs. 4, 7 GG. Zum weiteren Umfeld gehören auch Art. 8 Abs. 1 und 26 sowie die weiter unten behandelten Vorschriften zur wehrhaften Demokratie. 169 Das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 1 und 38 Abs. 1 GG weist darauf hin, dass die Entscheidung der Bürger im politischen Prozess, die letztlich auf ein Gesetz über die Balance von Freiheit und Sicherheit hinausläuft, jedenfalls starke Beachtung verdient. 170 Das Sozialstaatsprinzip weist darauf hin, dass in vielen Fällen Bürger nicht selbst oder in privatrechtlicher Form für ausreichende innere Sicherheit sorgen können; dann gebietet das Sozialstaatsprinzip ein staatliches Eingreifen. 171 Siehe insbesondere Art. 24 Abs. 2; 35 Abs. 2; 73 Nr. 1, 6, 10; 74 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3, 4, 6, 11 a, 22; 80 a; 87 Abs. 1; 87 a; 115 a ff. GG. 172 Zusammenfassend V. Götz, Innere Sicherheit, HdbStR III, 1988, § 79 Rn. 2; Chr. Gusy, Polizeirecht, 5. Aufl. 2003, Rn. 72 ff. 173 Oben Fn. 54. 174 Oben Fn. 2. 175 Siehe K. Stern, Ein Beitrag zur Inpflichtnahme des Staates für die Optimierung der Grundrechte, FS Korinek, 2002, S. 1, 19 zum „umstrittensten Problem der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte“.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

weisen auf die immer schon und nach wie vor gegebene Gefahr von privater und gesellschaftlicher Gewalttätigkeit und Rechtlosigkeit hin, die stärkere Schutzpflichten des Staates und im Extremfall auch subjektive Ansprüche erfordere. Da der Staat durch das seit der Neuzeit in Anspruch genommene Monopol legitimer Gewaltanwendung private Selbstverteidigungsrechte expropriiert habe, sei es nur angemessen, jedenfalls bei existenziellen Gefahren und klaren Verantwortlichkeiten subjektive Berechtigungen einzuräumen.177 Gegner eines Grundrechts auf Sicherheit178 sehen damit die Stufung von privater Freiheit und staatlicher Reglementierung auf den Kopf gestellt; Sicherheit rücke vor Freiheit; das könne dazu führen, dass der Staat nicht mehr den Freiheitseingriff, sondern der Bürger seine Freiheitsausübung rechtfertigen müsse. Gewisse Akzentverschiebungen zwischen den beiden Lagern sind bei konkreten Abwägungsfragen zu erwarten, aber die Unterschiede sind nicht dramatisch. Denn die „Erfinder“ des Grundrechts auf Sicherheit haben von Anfang an dieses subjektive Recht nur selten durchschlagen lassen. Das zeigt sich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich weitgehend innerhalb des von Isensee und Robbers vorgezeichneten Rahmens179 hält. Das Gericht sieht die Sicherheit von Staat und Bürgern als unverzichtbare Verfassungswerte und Staatsziele an180, hält an der Priorität der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte fest, sieht aber auch bei Gefahren insbesondere für Leib und Leben staatliche Schutzpflichten vorliegen. Diese sind zwar primär durch gesetzgeberische Gestaltung zu konkretisieren, aber je nach der Art des bedrohten Rechtsguts, dem Bedrohungsgrad und Verantwortungszusammenhang kann die Schutzverpflichtung 176 Vgl. neben Isensee und Robbers z. B. Bundesinnenminister O. Schily, zitiert in: Horst Meier, Ein Grundrecht auf Sicherheit?, Merkur 2003, S. 174: „Ich orientiere mich an dem Grundrecht auf Sicherheit … Wer durch Terror und Kriminalität bedroht wird, lebt nicht frei. Das Grundrecht auf Sicherheit steht auch, zwar nicht direkt, aber sehr wohl indirekt, im Grundgesetz“; Calliess, Sicherheit (Fn. 154), S. 6. 177 Dieser Zusammenhang wird schon im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 in der Einleitung im Abschnitt „Verhältniß des Staats gegen seine Bürger“ in den §§ 76 und 77 hervorgehoben: „Jeder Einwohner des Staats ist den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt. Dagegen ist niemand sich durch eigne Gewalt Recht zu verschaffen befugt.“ Im Grunde greift dieser Zusammenhang schon auf das Verbot der Fehde im Ewigen Landfrieden von Worms im Jahr 1495 zurück (Fn. 11, 47, 48). 178 Siehe z. B. M. Kniesel, „Innere Sicherheit“ und Grundgesetz, ZRP 1996, S. 482, 486; Gusy (Fn. 172), Rn. 74; W. Hassemer, Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Drei Thesen, Vorgänge 2002, S. 10 f.; Meier (Fn. 176), S. 174 ff.; E. Denninger, Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 33, 47, 377. 179 Isensee (Fn. 54), S. 34 ff.; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, HdbStR V, 1992, § 111, Rn. 77 ff., 86 ff.; Robbers (Fn. 2), S. 204, 246 ff. Zu neueren Verfeinerungen dieses Ansatzes siehe exemplarisch Möstl (Fn. 6), S. 84 ff., 108, und Calliess, Gewährleistung (Fn. 114), S. 1102 ff. 180 BVerfGE 49, 24, 56 f. unter Bezugnahme auf BVerwGE 49, 202, 209: „Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.“

VI. Das Beispiel Volksverhetzung

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zunehmen.181 Droht ein Untermaß an Schutz und liegt ein überschaubarer Begünstigtenkreis vor, kann sich die Schutzpflicht zu einem Anspruch auf Einschreiten verdichten.182 Meist aber liegt zwischen dem Untermaßverbot gegenüber dem von dritter Seite bedrohten Opfer und dem Übermaßverbot gegenüber dem von einem staatlichen Eingriff bedrohten Privaten ein deutlicher legislativer oder auch exekutiver Einschätzungsspielraum.

VI. Das Beispiel Volksverhetzung Die zwei Beispiele behandeln nicht klare Gefahren für Leib und Leben, die evidente staatliche Schutzpflichten auslösen;183 vielmehr stehen grundrechtlich geschützte Aktivitäten im Vordergrund, die nicht sicher, sondern nur möglicherweise und mit zeitlichem Abstand zu Risiken für Rechtsgüter führen und somit die Frage nach staatlicher Vorsorge auslösen. Es geht also um Spannungslagen von Freiheit und Sicherheit, bei deren Auflösung neben Rechtstext und einschlägiger Dogmatik wohl auch eher libertäre oder sekuritäre Vorverständnisse eine Rolle spielen. § 130 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB enthält ein Verbot von Volksverhetzung184 in der Variante des Aufstachelns zum Hass gegen Teile der Bevölkerung.185 Die Tat181 Siehe BVerfGE 39, 1, 42; 46, 160, 164; 49, 24, 53; 49, 889, 140 ff.; 53, 30, 57 ff.; 56, 54, 73 ff.; 88, 203, 251. 182 Siehe neben Fn. 181 die neueren Nachweise bei Stern (Fn. 175), S. 16, 19 f. 183 In Bezug auf solche Lagen verstärken sich Freiheits- und Sicherheitsinteressen gegenseitig, so dass besonders starke Gründe für eine staatliche Schutzverpflichtung sprechen. Humboldt (Fn. 113); Schily (Fn. 176); Calliess, Sicherheit (Fn. 154), S. 5 f.; ders., Gewährleistung (Fn. 114), S. 1096, 1100 ff. Staatlicher Zwang zur Erzwingung einer Aussage einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person ist als „Folter“ unter allen Umständen verboten, auch wenn die Person klar Gefahrverursacher ist und die gesuchte Information ein Menschenleben oder viele Menschenleben retten könnte. Das ergibt sich z. B. aus § 35 Polizeigesetz BadenWürttemberg, Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG und mehreren völkerrechtlichen Konventionen, etwa Art. 3 EMRK. Zur Problematik eines solchen absoluten Verbotes siehe W. Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), S. 67 ff.; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, S. 165 ff.; ders., Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?, in diesem Band § 12, S. 391 ff.; J. Isensee, Der Verfassungsstaat als Friedensgarant, in: R. Mellinghoff u. a. (Hrsg.) Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, Abschnitt VI 2. 184 Ausführlich zu diesem Paragraphen samt dessen Abs. III sowie zum parallelen Ehrenschutz in den §§ 185 ff. StGB W. Brugger, Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht, in diesem Band § 6, S. 165 ff.; ders. Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Ein Streit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland, JöR N.F. 52 (2004), S. 513 ff.; ders. Constitutional Treatment of Hate Speech, in: E. Riedel (Hrsg.), Stocktaking in German Public Law, 2002, S. 117 ff. 185 Die beiden anderen Varianten in Abs. 1 und 2 beziehen sich auf Aufforderungen zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen, bei denen das Meinungselement zurücktritt und die Gefahr für subjektive Rechtsgüter der Angegriffenen zunimmt, sowie auf Angriffe auf die Men-

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

handlung besteht in Äußerungen, die dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, da es nach Art. 5 Abs. 1 GG gleichgültig ist, ob ein Werturteil begründet oder grundlos, rational oder emotional, wertvoll oder wertlos, harmlos oder gefährlich, ausgeglichen oder überspitzt ist.186 Lässt sich diese Strafvorschrift über die Schranke des „allgemeinen Gesetzes“ in Art. 5 Abs. 2 GG rechtfertigen?187 Auf den ersten Blick ist das nicht der Fall, denn was § 130 Abs. 1, 2 StGB verbietet, ist klar „Sonderrecht“, Verbot und Sanktionierung gerade einer bestimmten Meinungsäußerung. In einem liberalen Gemeinwesen sollte die staatliche Steuerung der Meinungsbildungsprozesse über Strafrechtssanktionen verdächtig und mit einer Vermutung der Verfassungswidrigkeit belegt sein.188 Wenn man mit der h. M. trotzdem Sonderrecht gegen Meinung zulässt, soweit im Einzelfall das öffentliche Rechtsgut den Wert der Meinungsfreiheit überwiegt,189 dann liegt jedenfalls auf dem Strafrechtsverbot eine hohe Begründungslast, die dadurch noch gesteigert wird, dass die Meinungsfreiheit im Grundgesetz als besonders wertvolles Gut gilt.190 Welches konkurrierende Rechtsgut soll durch § 130 Abs. 1 und 2 StGB in der Variante des Aufstachelns zum Hass geschützt werden? (1) Die moralische oder sittliche Empörung über die Äußerung des Volksverhetzers kann nicht ausreichen, denn Sinn und Zweck einer Garantie der Mei-

schenwürde, die ein Zurücktreten der Meinungsfreiheit rechtfertigen, vgl. BVerfGE 93, 266, 293. Bei der letztgenannten Alternative taucht das hier behandelte Problem allerdings in anderer Einkleidung auf: bei der Frage, ab welcher engeren oder weiteren Sicht man von einem Angriff auf die Menschenwürde ausgehen kann. Dazu einige Hinweise in meinen Fn. 184 zitierten Arbeiten sowie unten Fn. 200 zum Gedicht „Der Asylbetrüger in Deutschland“. 186 Vgl. etwa BVerfGE 33, 1, 14 f.; 61, 1, 7 f.; 54, 129, 138 f.; 61, 6, 7; 66, 116, 151; 76, 171, 192; 90, 241, 247; 102, 347, 366; Th. Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, 2000, S. 277 f.; D. Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1697, 1698. 187 Die Prüfung der Schranke „Recht der persönlichen Ehre“ bleibt außer Betracht. Sie betrifft die §§ 185 ff. StGB; bei § 130 StGB kommt sie bei einigen Tatalternativen indirekt zur Geltung. 188 Andeutungsweise in diese Richtung BVerfGE 69, 315, 346; 95, 220, 235 f. und m.w.N. Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, Art. 5 Rn. 56; Art. 3 Abs. 3 GG spricht ebenfalls für diese Einschätzung. Allgemein hierzu D. Grimm, Politische Parteien, in: HdbVfR, 2. Aufl., § 14 Rn. 28: „Es kommt verfassungsrechtlich … darauf an, daß die staatliche Beteiligung am Willensbildungsprozeß dessen Offenheit nicht beeinträchtigt. Der Staat darf weder meinungsnoch interessenunterdrückend oder -manipulierend tätig werden noch die Kommunikationsmittel monopolisieren, um dadurch den Kreislauf zu unterbinden“. Deutlich strenger ist insoweit der U.S. Supreme Court, siehe die Nachweise bei Brugger, Verbot (Fn. 184), bei Fn. 38. 189 Vgl. etwa BVerfGE 7, 198, 209; 62, 230, 244; 71, 162, 175 f.; 97, 125, 146. 190 BVerfGE 7, 198, 203; 66, 116, 150; 69, 315, 344 f.; 71, 206, 214; 93, 266, 295 f.; NJW 2001, S. 61 ff.; Grimm (Fn. 186), S. 1698, 1700 f.; W. Hoffmann-Riem, Nachvollziehende Grundrechtskontrolle. Zum Verhältnis von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit am Beispiel von Konflikten zwischen Medienfreiheit und Persönlichkeitsrecht, AöR 128 (2003), S. 173, 196 ff., 213 ff.

VI. Das Beispiel Volksverhetzung

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nungsfreiheit ist es gerade, von herrschenden Einschätzungen abweichende Positionen zu schützen.191 (2) Gegen eine Bestrafung von Meinungen wegen Unmoral spricht auch die allgemein vertretene Ansicht, man könne im Bereich der Meinungen nicht nach Wahrheit und Falschheit unterscheiden.192 Wer das auf Schutzbereichsseite behauptet, kann dem nicht auf Schrankenseite prompt den Boden entziehen. (3) Nach h.M. dient der § 130 StGB dem öffentlichen Frieden.193 Das ist so überzeugend wie problematisch. Denn dieses Rechtsgut umfasst objektive und subjektive Elemente, die sich schwer präzis bestimmen und in ein klares Verhältnis setzen lassen: Objektiv ist auf reale Gefahren für individuelle oder kollektive Rechtsgüter abzustellen, subjektiv auf das Gefühl der Bevölkerung, sicher leben zu können. (4) Das Problem zeigen zahlreiche Äußerungen aus Gesetzgebungsgeschichte194, Rechtsprechung und Lehre, wonach die Strafbarkeit der Volksverhetzung einem guten politischen Klima dienen195 oder zumindest ein feindliches Klima zwischen den Bevölkerungsteilen ausschließen soll.196 Der Konflikt mit der Meinungsfreiheit spitzt sich zu, wenn Vorschriften zum Schutz des öffentlichen Friedens ein „öf191 Siehe Abschnitt I in Brugger, Schutz (Fn. 184); ders., Verbot (Fn. 184), sowie BVerfGE 69, 315, 347 („effektiver Minderheitenschutz“) zu Art. 8 und implizit auch Art. 5 GG; H. Maurer, Das Verbot politischer Parteien. Zur Problematik des Art. 21 Abs. 2 GG, AöR 96 (1971), S. 203, 213 ff. Vgl. auch generell zum „Gefühlsschutz“ T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Normen zum Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, Einleitung und § 3.4 c. 192 Vgl. schon Fn. 186. 193 Hörnle (Fn. 191), §§ 4.1 und 15.1 m.w.N.; je nach Tatbestandsvariante tritt der Würdeschutz hinzu. Von dieser generellen Einordnung ist das gleichlautende einschränkende Tatbestandsmerkmal in § 130 Abs. 1 StGB zu unterscheiden. 194 Siehe BT-Drucks.12/8588, 8 zu § 130 Abs. 3 StGB und BGHSt 46, 36, 40; 46, 212, 221 f. 195 Siehe E. v. Bubnoff, Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl., § 125 Rn. 41, wonach sich aus einer Analyse des Begriffs erkennen lässt, „daß der öffentliche Friede, sieht man in ihm einen Zustand einträchtigen Mit- und Nebeneinanderlebens, gegen Störungen leicht anfällig ist, da ihn schon Unfriedenheiten harmloserer Art, etwa der Ausbruch heftiger Meinungsverschiedenheiten, in Frage stellen können …“. Siehe auch M. Wehinger, Kollektivbeleidigung, Volksverhetzung. Der strafrechtliche Schutz von Bevölkerungsgruppen durch die §§ 185 ff. und § 130 StGB, 1994, S. 83: „Öffentlicher Friede läßt sich grob umschreiben als das harmonische und einträchtige Zusammenleben der Menschen … Das ,soziale Phänomen‘ des gesellschaftlichen Friedens … teilt sich dem einzelnen vor allem als eine soziale Atmosphäre, ein gesellschaftliches Klima mit … Der öffentliche Friede wird … nicht nur durch schwere gesellschaftliche Spannungen oder durch Rechtsbrüche gestört. Bereits das Vorhandensein latenter Feindseligkeiten, etwa zwischen Angehörigen verschiedener Bevölkerungsgruppen, kann zu einer Friedensstörung führen, indem es beispielsweise zu Diskriminierungen oder heftigen Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten kommt, eben zu ,Unfrieden aller Art‘.“ 196 Nachweise bei Brugger, Schutz (Fn. 184) in Fn. 65, 72; ders., Verbot (Fn. 184), Fn. 68 ff.; Hörnle (Fn. 191), § 4.3 und 4.4; W. Kargl, Rechtsextremistische Parolen als Volksverhetzung, Jura 2001, S. 176, 180 mit Fn. 47, 58; Wandres (Fn. 186), S. 213; G. Jacobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung, ZSW 97 (1985), S. 751, 774, 779 ff.

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fentliches Klima, das nicht durch Unruhe, Unfrieden oder Unsicherheit gekennzeichnet ist“, schützen wollen „unabhängig davon, ob auf diese Weise zugleich ein latentes Gefahrenpotential produziert wird“.197 Damit wird ohne Gefährdung individueller Rechtsgüter politischer Klimaschutz betrieben durch Bestrafung von Meinungen, welche die Mehrheit oder aufgeklärte Minderheiten empören. Wenn das richtig ist, wären fast alle Aussagen des BVerfG zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit durch die Schranke der „allgemeinen Gesetze“ konterkariert. Weil man das nicht unterstellen kann, bestehen gegen strafrechtliche Sanktionen198 zugunsten des Rechtsguts „politischer Klimaschutz“ erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.199 Nehmen wir ein Beispiel. Ein Kritiker der Ausländerpolitik gibt öffentlich folgende Stellungnahme ab: „Schluss mit der Invasion und Überfremdung unseres Landes durch diese kriminellen Ausländer, die unsere Freiheit und unser Eigentum bedrohen und uns mit Drogen überschwemmen.“200 Es spricht vieles dafür, dass diese Äußerung nach § 130 Abs. 1, 2 StGB strafbar wäre, wenn man sie im Lichte des Klimaschutzes interpretiert.201 197

So Schönke/Schröder-Lenckner, StGB, 26. Aufl., § 126 Rn. 1, auch zu § 130. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass die Förderung eines „guten“ politischen Klimas (wie immer man dieses bestimmt) eine individuelle und kollektive Tugend sein sollte, für die man eintreten und für die man in Erziehung und Schule Werbung machen sollte. Hierzu Robbers (Fn. 2), S. 226; W. Brugger, Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht, Der Staat 42 (2003), S. 77 ff. 199 Siehe Hörnle (Fn. 191), § 4.4 und § 15.3 c am Ende, die dem Gesetzgeber empfiehlt, diese Variante des § 130 I Nr. 1 StGB zu streichen, und allgemein zur Bedeutung nicht durch Strafrechtssanktionen bedrohter Rede BVerfGE 54, 129, 139 und 61, 1, 9 f. 200 Das Beispiel wird in meinen Aufsätzen „Verbot“, „Schutz“ und „Constitutional Treatment“ (Fn. 184) erörtert. Es ist angelehnt an VG Frankfurt, NJW 1993, S. 2067 f.; kritisch zu dieser Entscheidung G. Roellecke, Keine Freiheit den Feinden der Freiheit, NJW 1993, S. 3306 ff. Einengend auch VG Regensburg, NJW 1994, S. 2040 f., und VGH BW, DVBl. 1993, S. 1314 f. Siehe auch die Gerichtsentscheidungen zu dem Gedicht „Der Asylbetrüger in Deutschland“, abgedruckt in BayObLG, NJW 1994, S. 952, die zum Teil zu einer Bestrafung nach § 130 StGB geführt haben, zum Teil nicht. Dort stand die § 130-Variante „Angriff auf die Menschenwürde“ im Vordergrund, aber zum „Aufstacheln zur Volksverhetzung“ finden sich ebenfalls Äußerungen: OLG Frankfurt, NJW 1995, S. 143 ff. gegenüber BayObLG, NJW 1995, S. 145 f. Hierzu auch OLG Karlsruhe, MDR 1995, S. 735 f.; KG, JR 1998, S. 213 ff.; BVerwG, NJW 1997, S. 2341 f., und Hörnle (Fn. 191), § 15 2 b, cc. 201 Eine solche Äußerung, könnte man sagen, stachelt zum Hass gegen Ausländer als einem Teil der Bevölkerung auf, schafft durch Übertreibung der Kriminalitätsrate ein feindliches Klima und bereitet so der ausländischen Bevölkerung vermutlich ein Rechtsunsicherheitsgefühl. Die h. M. interpretiert das Merkmal „Aufstacheln“ wie folgt: „Aufstacheln zum Haß ist eine verstärkte, auf die Gefühle des Adressaten abzielende, über bloße Äußerung von Ablehnung und Verachtung hinausgehende Form des Anreizens zu einer emotional gesteigerten feindseligen Haltung … Nicht ausreichend ist eine … Darstellung von negativ zu wertenden Tatsachen (z. B. Kriminalitätsbelastung einzelner Bevölkerungsgruppen), sofern sie nicht durch einseitige Verzerrungen und wahrheitswidrige Verfälschung auf eine ,Stimmungsmache‘ abzielt.“ So mwN Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 130 Rn. 8. Man sieht deutlich, dass bestimmte „Haltungen“, „Gesinnungen“ abgeschreckt werden sollen. In diesem Sinne tatsächlich 198

VI. Das Beispiel Volksverhetzung

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Grundrechtlich betrachtet handelt es sich bei dieser Äußerung aber um eine politische, ja hochpolitische Äußerung, denn sowohl Zuwanderung als auch Kriminalität sind innenpolitische Kernfragen,202 somit sollte vor der Bestrafung einer solchen Äußerung eine besonders hohe Hürde liegen.203 Eine solche liegt aber beim Strafrechtsgut „politischer Klimaschutz“ sicher nicht vor, denn dahinter verbirgt sich parteipolitische Strategie204 oder politische Korrektheit oder der herrschende Zeitgeist, vielleicht eine plausible Moral oder sogar die eine richtige Moral. Trotzdem gilt: Diese darf staatlicherseits genauso wenig mit dem Strafrecht verordnet werden wie die richtige Religion.205 Das Problem einer Bestrafung dieser Art von Hassrede liegt darin, dass sie abstrakte Gefährdungen betrifft, die deutlich vor einer Beantwortbarkeit der Frage liegen: „Wer soll wo und wann was gegen wen tun?“206 Es liegt also nur die Gefahr P. Bockelmann, zitiert bei Hörnle, § 4.1; siehe auch W. Mitsch, Das deutsche Strafrecht und die Bekämpfung rassischer Diskriminierung und Gewalttaten, in: E. Klein (Hrsg.) Rassische Diskriminierung. Erscheinungsformen und Bekämpfungsmöglichkeiten, 2002, S. 147, 163 f. Verfassungsrechtlich ist „Stimmungsmache“ nichts Negatives, da unstreitig ist, dass durch Meinungen Wirkungen erzielt werden sollen. Ferner stellt sich bei „Hass“ immer die Frage, ob hinter ihm ein aus Sicht des Äußerers wichtiges Anliegen oder Problem liegt, das ihn nicht nur rational, sondern auch emotional bewegt, bis hin zu negativen Gefühlsausbrüchen; siehe Brugger (Fn. 198), 84. Stellt man auf „einseitige Verzerrung“ ab, so ist höchst unklar, was darunter zu verstehen ist: Soweit es um reine Wertungen geht, sind diese subjektiv so, wie sie sind. Soweit es um Interpretation von Fakten geht, fallen diese nach h. M. unter die Kategorie von Werturteilen. Will man einen „ausgeglichenen“ Konnex von Urteil und Faktum verlangen, ist man bei Sorgfaltspflichten der Ermittlung einschlägiger Faktenlagen, was jedenfalls bei politischen Urteilen von Einzelpersonen unverhältnismäßig wäre. 202 Generalanwalt K. Nehm, Ein Jahr danach, NJW 2002, S. 2665, 2671 hält zum Beispiel eine „Neubesinnung“ für nötig: „Lässt man die Lebensläufe der Beschuldigten unserer Verfahren [nach dem 11. September 2001] Revue passieren, so fällt immer wieder auf, wie sehr vermeintliche religiöse Toleranz und Fremdenfreundlichkeit sowie eine großzügige Duldungsund Einbürgerungspraxis zu einer islamistisch-fundamentalistischen Subkultur in unserem Lande beigetragen haben.“ Diese Meinung muss man nicht teilen, aber sie macht den „politischen“ Charakter der hier diskutierten Fragen deutlich. 203 Anderes mag gelten für private oder geschäftliche Äußerungen oder reine Tatsachenbehauptungen. 204 Ein wichtiger Gesichtspunkt: Meist ist es so, dass bei den in Parlamenten vertretenen Parteien die konservativste Partei keine Partei „rechts“ von ihr und die „linkeste“ Partei keine Partei „links“ von ihr sehen will. Gerade diese vom Mainstream abweichenden Meinungen und Parteien sind auf Grundrechtsschutz angewiesen. Ein dazu passendes Beispiel aus der Rechtsprechung ist der Versuch der CSU, nicht mit der NPD in Verbindung gebracht zu werden: BVerfGE 61, 1. 205 Zu diesem Punkt allgemein E. Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, VVDStRL 37 (1979), S. 7, 31: „… das Dekretieren letzter Wahrheiten und existenzieller Sinngebung ist [dem Staat] ebenso verwehrt wie einer politischen Partei die Durchsetzung eines mit dem Anspruch auf den Besitz absoluter Wahrheit auftretenden Programmes. Die freiheitliche Demokratie muß streitbar sein …“. 206 Wandres (Fn. 186), S. 213; Hörnle (Fn. 191), § 15.3 b. Der Rechtscharakter der Vorschrift wird beschrieben als abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt, als potenzielles Gefährdungsdelikt, als Eignungsdelikt, als konkretes Gefährdungsdelikt oder als abstraktes Gefähr-

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

einer Gefahr,207 vielleicht nur ein nicht gänzlich auszuschließendes Restrisiko eines Eingriffs in Leben, Freiheit oder Eigentum irgendeiner Person durch irgendeinen Aufgehetzten irgendwann in der Zukunft vor.208 Gleichzeitig steht aber fest, dass § 130 Abs. 1, 2 StGB in der geschilderten Variante unmittelbar, direkt und gezielt in die durch eine Vermutung der Freiheit geschützte und in dem Beispielsfall hochpolitische Äußerung eingreift.209 Ein offensichtlicher Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit!210 Die Rechtsprechung ist nicht aus einem Guss, es gibt der Meinungsfreiheit mehr oder auch weniger gewogene Entscheidungen.211 Klar ist, dass bei scharfen und faktisch vielleicht übertriebenen ausländerkritischen oder gar antisemitischen Äußerungen der § 130 Abs. 1 und 2 StGB der Meinungsfreiheit den Rang abläuft; jedenfalls besteht die reelle Gefahr einer Kriminalsanktion.212 Dieser Abschredungsdelikt mit tatbestandlicher Restriktionsmöglichkeit. Siehe die Nachweise bei Hörnle, ebd., § 15.4 a. 207 So treffend Wandres (Fn. 186), S. 221. 208 Hörnle (Fn. 191), § 4.3, stellt berechtigterweise die Frage, „wie weit der Strafbarkeitsbereich nach vorne verlagert werden darf … wie ,verdünnt‘ das Gefahrenpotenzial für ein Individualrechtsgut sein darf, damit eine Strafbarkeit noch gerechtfertigt werden kann. Diese schwierige Frage des notwendigen Zusammenhangs von Handlung und Gefährdung wird umgangen, wenn man sich auf ein kollektives Rechtsgut ,öffentlicher Friede‘ zurückzieht. Die bequeme Formel vom ,aufgehetzten Klima‘ verschleiert die dahinter liegenden Probleme, anstatt zu einer rationalen Debatte über Gefährdungspotenziale beizutragen.“ Ähnlich Mitsch (Fn. 201), S. 171 f.; Jacobs (Fn. 196), S. 783: „Daß die Klimadelikte in das Strafrecht eines freiheitlichen Staates nicht passen, heißt nicht, das betreffende Verhalten sei wünschenswert oder auch nur sozial neutral, sondern heißt einzig, daß es keine Zwangswirkung hat und daß deshalb auch nicht per Strafrechtszwang darauf reagiert werden sollte.“ Das gilt alles schon ohne Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 GG! 209 Siehe neben Fn. 202 BVerfGE 69, 315, 345: „Die Gefahr, daß … Meinungskundgaben demagogisch mißbraucht und in fragwürdiger Weise emotionalisiert werden können, kann im Bereich der Versammlungsfreiheit ebensowenig maßgebend für die grundsätzliche Einschätzung sein wie auf dem Gebiet der Meinungs- und Pressefreiheit“; ferner Grimm (Fn. 186), S. 1701, 1703 f. 210 Dieser nationale Konflikt spiegelt sich auch supranational wider: vor allem im Rahmen der Auslegung des UN-Paktes zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. 3. 1966, BGBl. 1969 II 962. Hierzu einige Hinweise bei Brugger (Fn. 184). 211 Dazu liefern die StGB-Kommentare zu § 130 sowie, parallel hierzu, §§ 185 ff. StGB, umfangreiches Material. Zur Haltung der Rechtsprechung siehe die vorigen Fußnoten sowie, in einem versammlungsrechtlichen Zusammenhang, die meinungsfreiheitsfreundlichen Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2001, S. 2069 ff., 2072 ff. Anders stellt sich das Bild dar bei der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit auch der einfachen Auschwitzleugnung, BVerfGE 90, 241. Dazu meine Kritik in den oben Fn. 184 zitierten Aufsätzen. 212 Hörnle (Fn. 191), §§ 15.2 b; 15.3 b; 15.3 c; Ergebnisse Nr. 13; Mitsch (Fn. 201), S. 171 und J. Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus. Die Änderungen der §§ 130 und 86 a StGB als Reaktion auf fremdenfeindliche Gewalt im Licht der Geschichte des politischen Strafrechts in Deutschland, 1998, etwa S. 13, 231 f. Zur Parallelsituation bei Versammlungsverboten vgl. die Auseinandersetzung zwischen dem OVG Münster und dem BVerfG, oben Fn. 211, sowie V. Neumann, Feinderklärung gegen rechts? Versammlungsrecht zwischen

VII. Das Beispiel Parteiverbot

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ckungseffekt ist bewusst und gewollt, was man angesichts unserer Geschichte für moralisch vertretbar oder geboten halten mag. Aber verfassungsrechtlich enthüllt dieser „chilling effect“ für freie politische Rede gewisse rhetorische Mitnahmeeffekte der herrschenden Dogmatik ohne entsprechenden Substanzwert. Man muss sich beim „Strafklima“213 schon entscheiden: Meint politischer „Klimaschutz“ Schutz nur der mitteleuropäisch ausgeglichenen Mainstreamkommunikation mit geringen Temperaturschwankungen nach oben und unten, um extremere Meinungen und Haltungen von vornherein zu eliminieren,214 oder soll politische Auseinandersetzung auch Eiszeiten und hitzige Turbulenzen umfassen dürfen in der Hoffnung, auch radikale Meinungen einzubinden, solange nicht wirklich reale Gefahren für Leben, Freiheit und Eigentum drohen?215

VII. Das Beispiel Parteiverbot Das Parteiverbot in Art. 21 Abs. 2 GG216 weist viele Parallelen zur Spannung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Verbot der Volksverhetzung auf. Bei allen Rechtsgüterschutz und Gesinnungssanktion, in: C. Leggewie/H. Meier (Hrsg.), Verbot der NPD oder mit Rechtsradikalen leben?, 2002, S. 155, 167: „Der Exkurs in das Versammlungsrecht hat gezeigt, daß nicht alle Behörden und Gerichte das Recht fachgerecht anwenden und dagegen gefeit sind, Gesinnungen statt konkreter Verhaltensweisen zu sanktionieren.“ 213 Ausdruck von Hassemer (Fn. 178), S. 13. 214 Wandres (Fn. 186), S. 212 hält m. E. treffend fest: „Die Schreckgespenster der Volksverhetzung heißen ,Pogrom‘, ,Massaker‘ und ,Genozid‘. Der Tatbestand der Volksverhetzung richtet sich daher im Kern gegen Verhaltensweisen, die bei denkbar ungünstigem Verlauf geeignet sein könnten, erneut einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutschen Boden zu bereiten.“ Ähnlich Hörnle (Fn. 191), § 15.2 a. Wenn man tatrichterlich den „denkbar ungünstigsten Verlauf“ annimmt, wird es natürlich schwierig, die inkriminierte Äußerung meinungsfreiheitsfreundlich zu interpretieren. So der Tendenz nach auch Hörnle, ebd., § 4.4 c. 215 Idealtypisch wird diese Sicht vom US-Verfassungsrecht vertreten. Dazu meine oben Fn. 184, 198 genannten Aufsätze. Meine Kritik hier ist aber mit dem US-Ansatz nicht identisch. Wie dargelegt, scheint mir in Teilen der Rechtsprechung eine Spannung mit der überkommenen deutschen Dogmatik der Meinungsfreiheit vorzuliegen. Beide oben beschriebenen Tendenzen haben ihre Gefahren. Die Gefahr des „politisch korrekten“ Verständnisses von Meinungsfreiheit (welch ein Widerspruch, aber man muss ihn benennen!) ist Ausklammerung intensiver, auch emotional aufgeheizter Diskussion gerade hochpolitischer Fragen, im Endeffekt: „Quietismus“, so W. Leisner, Ungeeignete Themen für Wahlkämpfe – Zurück zum unmündigen Bürger?, NJW 2002, S. 1699 f.; siehe auch Grimm (Fn. 186), S. 1704 zu „affirmatives Meinungsklima“. Die Gefahr rhetorischer Turbulenzen und Eiszeiten ist eine Brutalisierung des öffentlichen Dialogs. Dazu Brugger (Fn. 198), S. 92 ff. 216 Rechtsvergleichend zum Parteiverbot G. P. Boventer, Grenzen politischer Freiheit im demokratischen Staat. Das Konzept der streitbaren Demokratie in einem internationalen Vergleich, 1985; G. Nolte/G. Fox, Intolerant Democracies, in: G. H. Fox/B. R. Roth (eds.), Democratic Governance and International Law, 2000, S. 389 ff.; M. Morlok, Parteiverbot als Verfassungsschutz. Ein unauflösbarer Widerspruch?, NJW 2001, S. 2931 ff., mit der Schlussfolgerung: „Nach diesem Befund kennen ältere Demokratien keine eigenen Regelungen des Parteiverbots, sondern rekurrieren gegebenenfalls auf das allgemeine Vereinsverbot … die

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

kommunikativen Freiheiten ist nicht nur die Äußerung, sondern auch deren Wirkung geschützt;217 das muss auch für politische Parteien gelten, die Regierungsmacht erringen wollen. Folglich kann es nicht darauf ankommen, ob die Parteimeinungen rational oder emotional, nützlich oder schädlich, richtig oder falsch sind. Denn wenn die später im Parlament erlassenen Gesetze einen Rückbezug auf freie und gleiche Bürger in Anspruch nehmen wollen, sich als Selbst- und nicht als Fremdgesetzgebung ausweisen wollen,218 müssen alle Parteimeinungen gleichermaßen eine Chance gehabt haben, zur Mehrheit zu werden. Trotzdem enthält der Art. 21 GG in Form des Parteiverbots eine Sonderrechtsschranke gegen spezifische Meinungen sowie daraus folgende Handlungen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind,219 dem Pendant zum Schutzgut öffentlicher Friede bei § 130 Abs. 1, 2 StGB. Die Abschirmung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (=fdGO) gegenüber Beschädigung durch radikale Parteien jeder Couleur soll allgemeine Freiheit und Sicherheit gewährleisten, allerdings unter Inkaufnahme der Einschränkung von Freiheit und Gleichheit mancher Bürger und Parteien.220 Die dieser Konzeption innewohnenden Spannungen sind vielfach erörtert worden,221 von den Staatsrechtslehrertagungen 1958 und 1978222 bis zur Diskussion um bundesrepublikanische Rechtslage … entspricht im Wesentlichen dem Standard post-diktatorischer Rechtsordnungen“ (S. 2936). 217 Siehe z. B. BVerfGE 7, 198, 210; 30, 173, 189; 93, 266, 289. 218 Zu diesen autonomiebezogenen und demokratietheoretischen Grundlagen vgl. Grimm (Fn. 188), § 14 Rn. 28; Morlok (Fn. 216), S. 2933; U. Volkmann, BKGG, Stand 2001, C Art. 20 Rn. 13 ff. 219 Solche Sonderrechtsverbote sind, wie schon oben Fn. 188 erwähnt, in einer liberalen Ordnung prinzipiell verdächtig. Sie bedürfen spezieller Begründung, sonst könnte in einer Formulierung von Denninger (Fn. 205), S. 17, das „Licht der für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit“ „in der streitbaren Atmosphäre nur noch spärlich unter dem Scheffel der allgemeinen Mißbrauchsabwehr“ flackern. 220 Man kann eine solche Einschränkung entweder als äußere Begrenzung oder als innere, schon in der „Freiheit“ oder „Demokratie“ selbst angelegte Grenze ansehen, wie H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S. 741, 751, darlegt. Man könnte sie auch verstehen i.S.d. Unterscheidung von Regeln erster Ordnung (die die Regeln des Spiels darlegen) und Regeln zweiter Ordnung (die dann den Wettbewerb im Rahmen des Spiels um den Gewinn – hier von Wählerstimmen – betreffen). Zu dieser Unterscheidung G. Brennan/ J. Buchanan, Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle Politische Ökonomie, 1993, Kap. 1 III. 221 Siehe schon BVerfGE 2, 1, 11 f.; 5, 85, 134 ff.; H. Steinberger, Konzeptionen und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 196 ff. und jüngst etwa K. Groh, Der NPD-Verbotsantrag. Eine Reanimation der streitbaren Demokratie?, ZRP 2000, S. 500, 503 f.; Morlok (Fn. 216), S. 2931 f., 2941 f. 222 Siehe die Beiträge K. Hesse und G. E. Kafka zu „Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat“, VVDStRL 17 (1959), S. 11 ff., 53 ff. sowie von E. Denninger und H. H. Klein zu „Verfassungstreue und Schutz der Verfassung“, VVDStRL 37 (1979), S. 7 ff., 53 ff.

VII. Das Beispiel Parteiverbot

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das Verbot der NPD in den letzten Jahren.223 Klar ist, dass dem Grundgesetz im Allgemeinen wie dem Art. 21 Abs. 2 GG im Besonderen eine material geprägte Sicht von Freiheit und Demokratie entspricht.224 Rein formale Sichtweisen von Freiheit, die den Willen zur Unfreiheit von sich selbst oder anderen in Form der Selbst- oder Fremdversklavung einschließt,225 oder von Demokratie, die den Mehrheitswillen zur ihrer Abschaffung achtet,226 sind ausgeschlossen. Doch wie verträgt sich diese materiale Sicht mit der für die Kommunikationsfreiheiten vertretenen These, dass der Staat die Wahrheit oder Falschheit von Meinungen nicht beurteilen kann? Handelt es sich hier um königliche Schutzbereichskleider, die sich beim Blick auf die Schranken als Jammerlappen erweisen? Nicht unbedingt, aber die Auflösung dieser Spannung ist kompliziert227 und in der Staatsrechtslehre nicht konsentiert. Vier Konzeptionen zum Parteiverbot lassen sich unterscheiden. (1) Man könnte für ein Verbot von Parteien rein wegen der Unmoral und Ungerechtigkeit der Parteiziele eintreten, verglichen mit der materialen Grundordnung des Grundgesetzes.228 (2) Nach der „Wehret-den-Anfängen“-Ansicht bedarf es zumindest eines Restrisikos für die fdGO, sollte die Partei politischen Einfluss gewinnen und andere Bürger per Gesetz und Zwang im allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsstatus verletzen. (3) Etwas enger könnte man für das Erfordernis einer abstrakten Gefahr für die fdGO als Voraussetzung des Parteiverbots eintreten. Dann wären reale Anhaltspunkte für eine wahrscheinliche Beeinträchtigung der fdGO durch das Parteihandeln notwendig, ohne dass in jedem Einzelfall ein konkreter Schaden drohen muss.229 223

Dazu etwa der Sammelband von Leggewie/Meier (Fn. 212). Siehe jüngst M. Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, 2003. 225 G. Dietze, Reiner Liberalismus, 1985, S. 5, 13, 35, 47, 62, 79. 226 Viele Staatsrechtslehrer der Weimarer Zeit hielten eine legale Abschaffung der Demokratie für möglich. Siehe m.w.N. Groh (Fn. 221), S. 503 mit Fn. 47; Volkmann (Fn. 218), C Art. 21 Rn. 92 Fn. 604. Siehe etwa H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 389: „Das Prinzip der majoritären Selbstbestimmung steht einer totalitären Demokratie nicht im Wege.“ Darstellung der Kelsenschen Haltung bei H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl. 1990, S. 262 ff., 266. 227 Hierzu aus der älteren Literatur Steinberger (Fn. 221), 1. Teil 2. und 3. Abschnitt und S. 595 ff., sowie unten Fn. 231. 228 Diese Überlegung klingt bei Volkmann (Fn. 218), C Art. 21 Rn. 95 an, wenn er primär auf das Ausmaß des materialen Gegensatzes zwischen Parteiziel und fdGO abhebt und Fragen der Gefährdung dahinter zurücktreten lässt. Die Parallele bei der Volksverhetzung wäre die von Lenckner vertretene Ansicht, oben Fn. 197. 229 Dieses Verständnis von abstrakter Gefahr knüpft an an W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 70, der diese unter Verweis auf BVerwG, DÖV 1970, S. 713, 715, und neuestens BVerwG, DVBl. 2002, S. 1562, 1564 dann für gegeben hält, „wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, daß mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall 224

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

(4) Eine konkrete Gefahr für die fdGO als Voraussetzung für ein Parteiverbot zu verlangen, widerspräche klar dem Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG, der ein Beeinträchtigungsziel ausreichen lässt und keine drohende Beseitigung verlangt.230 Welche Sichtweise des Parteiverbots ist vorzugswürdig? Die meisten Stellungnahmen konzentrieren sich auf die Konzeptionen (2) und (3), also das Erfordernis eine Restrisikos oder einer abstrakten Gefahr für die fdGO.231 Die Intensität der wissenschaftlichen Auseinandersetzung folgt nicht zuletzt daraus, dass die zwei Parteiverbotsurteile des Bundesverfassungsgerichts Argumente für beide Sichtweisen enthalten.232 einzutreten pflegt und daher Anlaß besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz, insbesondere einer Polizeiverordnung, zu bekämpfen, was wiederum zur Folge hat, daß auf den Nachweis eines Schadens im Einzelfall verzichtet werden kann.“ Schon die „Möglichkeit“ eines Schadens lässt Lisken/Denninger-Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, E 32, ausreichen: Nach ihm „bezeichnet die ,abstrakte Gefahr‘ nur die gedachte Möglichkeit einer konkreten Gefahr. Bei ihr handelt es sich um ,eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnismitteln fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Falle ihres Eintritts eine Gefahr … darstellt‘“. Dieser weite Begriff entspricht hier eher der Restrisikokonzeption. 230 Das wird von Groh (Fn. 221), S. 505, übersehen. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 717, spricht ebenfalls von der „konkreten Gefahr der ,Beeinträchtigung‘“. 231 Wenngleich der Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG es nicht ausschließt, für das Verbot einer Partei schon deshalb einzutreten, weil deren Ziele schlicht unmoralisch und ungerecht sind, wie dies Konzeption (1) voraussetzt, ist diese Sicht doch abzulehnen. Entweder widerspräche sie der für Art. 5 wie 21 GG vertretenen These, man könne richtige und falsche Meinungen nicht unterscheiden. Oder aber man verabschiedete sich von dieser dogmatischen Aussage. Dann bräuchte man allerdings eine „starke“ kognitivistische Theorie, die Wahrheits- und Gerechtigkeitsansprüche klar identifizieren kann; solche Theorien sind aber umstritten; vgl. etwa A. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle. Zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts, 2002. Selbst wenn man die Erkenntnisansprüche negativ auf „evident ungerechte“ Ziele reduzierte, was politisch auch nicht-kognitivistische Theorien mittragen könnte, bestehen starke Bedenken. Diese rühren zum einen daher, dass ein solches Zielverbot ohne unterstützende Aktivitäten einen starken Einschlag von Gesinnungssanktion hätte; siehe Morlok (Fn. 216), S. 2939. Zum anderen würde man die Partei mit ihren Mitgliedern ihres Freiheits-, Gleichheits- und politischen Mitwirkungsstatus berauben, ohne dass auf der Gegenseite Einbußen in den entsprechenden Rechten zur Debatte stehen. Das sollte für ein Parteiverbot nicht ausreichen und reicht nach h.M. auch nicht aus. vgl. etwa Maurer (Fn. 191), S. 229: „Wenn [die demokratische Ordnung] nicht bedroht ist, dann bedarf sie auch keines Schutzes“; ähnlich Morlok (Fn. 216), S. 2940; Horst Meier, In der Nachfolge der NSDAP? Das SRP-Urteil und das Verfahren gegen die NPD, Blätter für deutsche und internationale Politik, 2003, S. 485, 494. Im SRP-Urteil allerdings ist die Rede davon, „der Sinn des verfassungsgerichtlichen Spruches“ sei es, „diese Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung auszuscheiden“: BVerfGE 2, 1, 73. 232 Siehe mit Anklängen an die Restrisikothese BVerfGE 5, 85, 143 f. BVerfGE 25, 88, 100 kann man so lesen, dass schon die Tatsache der Existenz einer Organisation das Restrisiko begründet. Im technischen Bereich führt ein Restrisiko in der Regel nicht zu einem Verbot; z. B. BVerfGE 49, 89, 140 ff. Zur Restrisikothese am besten passt die Aussage, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu prüfen ist bzw. durch Art. 21 Abs. 2 GG ersetzt werde – gerade ein frühes Verbot führe zu einer Freiheits- und Gleichheits- sowie Demokratieverkürzung für weniger Parteimitglieder als ein spätes; das BVerfG hat in seinen beiden Urteilen die Ver-

VII. Das Beispiel Parteiverbot

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Zwei Ansichten zur abstrakten Gefahr lassen sich unterscheiden – eine engere und eine weitergehende. Eine idealtypische restriktive Sicht des Parteiverbots233 verlangt (1) eine größere Partei, die vielleicht schon (2) einmal oder – enger – (3) mehrfach in einem Parlament vertreten war oder (4) aktuell vertreten ist. Noch restriktiver, schon nahe an eine konkrete Gefahr für die fdGO heranreichend, wären (5) das Erfordernis einer Koalitionsfähigkeit der zu verbietenden Partei in einem Landes- oder im Bundesparlament sowie die Prüfung, ob (6) manche oder viele Parteimitglieder oder sonst ihr zurechenbare Personen individuell Strafrechtsgrenzen überschritten haben, also dasjenige praktizieren, was bei einem Erfolg der Partei als Eingriff in wichtige Individualrechtsgüter zu erwarten wäre. Schließlich müsste man (7) verlangen, dass die Ziele und Strukturen der zu verbietenden Partei denjenigen der nationalsozialistischen Herrschaft ähnlich234 oder – enger – fast gleich sind235, wobei allerdings „linke“ Bedrohungen wie „rechte“ Bedrohungen der fdGO zu behandeln sind, man also eigentlich eine Wesensverwandtschaft zum Totalitarismus fordern muss.236 Weitergehende Ansichten einer abstrakten Gefahr für die fdGO verneinen oder relativieren diese Erfordernisse.237 Sonach sind auch kleinere Parteien außerhalb der Parlamente einem Parteiverbot ausgesetzt; eine Verhältnismäßigkeitsprüfung entfällt. Für die Einschätzung des Gefahrengrades spielen Argumente eine Rolle, die hältnismäßigkeit nicht geprüft. Etwas enger, zur abstrakten Gefahr tendierend, sind die Aussagen des BVerfG, die eine aktiv-kämpferische Haltung und eine planmäßige Hetze verlangen, ohne dass das Stadium strafbarer Vorbereitungs- oder Versuchshandlungen erreicht sein muss: BVerfGE 5, 85, 141 f., 384 f. Siehe aber auch die Anklänge an Konzeption (1) in Fn. 231 am Ende. 233 Dieser Sichtweise neigen zu Hesse (Fn. 230), Rn. 715, 717; G. F. Schuppert, in: Mitarbeiterkomm. zum BVerfGG, 1992, Vor §§ 43 ff. Rn. 1, 12 ff.; § 46 Rn. 9 ff.; Morlok (Fn. 216), S. 2939 f.; R. Wassermann, Aktivierung der wehrhaften Demokratie. Zum Antrag auf NPDVerbot, NJW 2000, S. 3760, 3762; Meier (Fn. 231); R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.) GG, 4. Aufl. 2000, Art. 21 Rn. 226, 228, 232 ff. (für eine „engere Auslegung“ eintretend, mit allerdings weitgehenden Erläuterungen). 234 Eine Variante dieses Arguments ist die von Maurer (Fn. 191), S. 216 f. vertretene These, Handlungen jenseits des rein geistigen Meinungskampfes, die auf physischen und psychischen Terror, Irreführung, Diffamierung, Massensuggestion und Hetzpropaganda hinausliefen, indizierten reale Gefahren für die fdGO, womit offenbar der Anschluss an BVerfGE 2, 1, 51 ff.; 5, 85, 384 f. hergestellt wird. Das überzeugt abgesehen von „physischem Terror“ nicht ohne weiteres, wenn man Partei-Meinungen im Rahmen der Meinungsfreiheitsdogmatik sieht, die ja gerade überzogene Werturteile in politischen Angelegenheiten zulassen will: Fn. 186. Ob eine Äußerung als „Hetzpropaganda“ oder als legitimer, wenngleich überzogener Beitrag zur Politik angesehen wird, hängt oft vom Standpunkt des Hörers ab. Dazu schon oben Fn. 201, 215. 235 Dieser Punkt geht zurück auf BVerfGE 2, 1, 69. 236 Zu diesem Punkt BVerfGE 2, 1, 12: „Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates …“; R. Dreier, Verfassung und „streitbare Demokratie“, in: Leggewie/Meier (Fn. 212), S. 81, 84 f. 237 Siehe etwa Stern (Fn. 45), S. 207; J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.) GG, 3. Aufl.2003, Art. 21 Rn. 156 und 168 (sogar die Bedeutungslosigkeit der Gefahrenfrage andeutend, i.S.v. Konzeption [1]); Volkmann (Fn. 218), C Art. 21 Rn. 93, 97; Chr. Gusy, in: AKGG, 3. Aufl. 2001, Art. 21 Rn. 115, 118; R. Streinz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 233), Art. 21 Rn. 233.

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§ 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit

implizit oder explizit auf die besondere Gefährdung gerade Deutscher durch – Frage: falls überhaupt, nur? – rechtsradikale Verführungen abheben238, sei es allgemein oder jedenfalls in Krisenlagen etwa ökonomischer Art oder bei Zunahme von „Ausländerfeindlichkeit“.239 Dazu kann man zwei Haltungen vertreten: (a) Entweder man geht davon aus, dass diese Gefahr einer Gefahr durch die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland ein für allemal bewiesen sei; Deutsche hätten eben einen autoritären Charakter und seien für Rechtsradikalismus anfällig sowie tendenziell unbelehrbar, jedenfalls in schwierigen Zeiten.240 Genau dies sei in der Textfassung des Art. 21 Abs. 2 GG zum Ausdruck gekommen; dessen historische Auslegung sei damit auch diejenige der Gegenwart. Damit unterscheiden sich Bonn und Berlin insoweit nicht von Weimar; den Anfängen ist nach wie vor zu wehren. (b) Oder aber man unterscheidet damals von heute und gesteht der großen Mehrheit der Deutschen einen Lernprozess zu, der sich auch in schwierigen Zeiten bewähren werde.241 Dann spricht bei kleineren, parlamentarisch nicht oder nur sporadisch 238

Daneben wird gelegentlich auf einen Punkt hingewiesen, der anders geartet ist: Sollten außenpolitische Belange für die Möglichkeit eines weitergehenden Parteiverbots sprechen, insbesondere bei ausländerkritischen oder antisemitischen Parteien? Siehe die Hinweise bei Meier (Fn. 231), S. 491, und in den Beiträgen in Leggewie/Meier (Fn. 212), S. 104, 143, 150. Schon im Lüth-Urteil kommt ein solcher außenpolitischer Aspekt zur Sprache: BVerfGE 7, 198, 216. 239 Allgemein hierzu Schuppert (Fn. 233), Vor §§ 43 ff., Rn. 7: Es geht um „das unterschiedliche Maß des Vertrauens in die Selbstregulierungskräfte des Prozesses freier politischer Auseinandersetzungen“. Was „Ausländerfeindlichkeit“ angeht, ist allerdings Vorsicht geboten. Die Meinungsfreiheit und die Parteienfreiheit müssen es ermöglichen, zu Fragen von Inklusion und Exklusion deutlich Stellung zu beziehen, sonst gewinnt „political correctness“ gegen das doch als so bedeutend eingestufte Gut der Meinungsfreiheit. Hierzu Volkmann (Fn. 218), C Art. 21 Rn. 95; Brugger (Fn. 184, 198) und oben Abschnitt VI. 240 Siehe z. B. E. Stein/G. Frank, Staatsrecht, 17. Aufl., § 41 IV 3; Groh (Fn. 221), S. 501, 505 mit Verweis auf K. Sontheimer, Deutschlands politische Kultur, 1990, S. 33 ff. – vgl. dort auch S. 32, 152; Hörnle (Fn. 191), § 15.6 c, cc; Kaufmann (Fn. 1), S. 346. Dort S. 192, 237 Fn. 74 zu einschlägigen Thesen von Th. Adorno. Adornos Untersuchungen zum „autoritären Charakter“ sind primär tiefenpsychologisch angelegt und wurden mit anderen in den USA durchgeführt. Es finden sich aber auch Aussagen zu Deutschland. Siehe Th. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, 1973, S. 13 f. Zur These, die Deutschen seien speziell für Antisemitismus anfällig, siehe die umstrittenen Thesen von D. J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, 1996, insbes. Kap. 15, S. 439, 440, 446 ff., 451, 454 ff., 460, 464 f., 466 f., 484 (zum „dämonisierenden Rassenantisemitismus der Deutschen“). 241 Vgl. etwa BVerfGE 20, 56, 103: „Die freiheitliche Demokratie nimmt prinzipiell die Risiken in Kauf, die darin liegen, daß die politische Willensbildung der Urteilskraft und der Aktivität der Bürger anvertraut ist“, allerdings im harmloseren Zusammenhang der Parteienfinanzierung; Morlok (Fn. 216), S. 2042: „Immerhin hat sich die Demokratie in der Bundesrepublik als gefestigt erwiesen und eine gesicherte Identität gefunden.“ Ähnlich Meier (Fn. 231), S. 490. Morlok spricht ebd. auf S. 2033 einen oft übersehenen Gesichtspunkt an: Durch politische Reaktionen gegen extreme Meinungen und Parteien werden gemeinsame Grundwerte vor dem Vergessen oder vor der Erstarrung und bloß gebetsmühlenartiger Wiederholung gerettet. Das ist ein klassisch-liberaler Gedanke, der schon von J. St. Mill in Kap. 2 von „On Liberty“ (1859) betont worden ist. Hierzu Brugger (Fn. 198), S. 77.

VII. Das Beispiel Parteiverbot

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erfolgreichen, im Übrigen aber von den etablierten Kräften gemiedenen Parteien viel dafür, diese nur als Restrisiko und nicht als reales abstraktes Risiko für die fdGO anzusehen. Dann dürfte eine solche Partei nur gemäß der Restrisikokonzeption verboten werden.242 Diese lässt sich im Rahmen des Wortlauts des Art. 21 Abs. 2 GG zweifellos vertreten, der ein eher expansives Verständnis des Parteiverbots nahelegt, insbesondere wenn man ihn mit starker Betonung auf der damaligen und vielleicht auch heutigen Gefahr von Radikalismus in Deutschland liest. Interpretiert man Art. 21 Abs. 2 GG dagegen systematisch mit Blick auf die Parteien als primär gesellschaftliche Gebilde, die staatliche Herrschaft von unten nach oben legitimieren sollen, unter Einbezug aller Meinungen und Interessen, auch der uns abstoßenden, dann spricht im Hinblick auf die Bedeutung der kommunikativen Freiheiten und die gewachsenen demokratischen Strukturen in Deutschland mehr für die enge Sicht der notwendigen abstrakten Gefahr für die fdGO als Voraussetzung eines Parteiverbots.243 Dann sollte man dem deutschen Volk die Lösung von politischen Klimakonflikten244 zutrauen, die jenseits des Spektrums von hanseatischer Kühle bis zu bayerischer Hitze auch noch gelegentliche Eiszeiten und hochgradige Turbulenzen umfassen.245

242 Andeutungsweise in diese Richtung H. Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S. 741, 752, der zwar von der „über viele Jahre stabilen westdeutschen Demokratie“ spricht, dann aber in der dazugehörigen Fn. 161 relativiert: „Eine echte Bewährungsprobe steht dem Grundgesetz wohl erst noch bevor.“ Ein – nicht hinnehmbares? – Restrisiko bleibt also! 243 Unterstützend könnte man anfügen, dass außerhalb des Parteiverbots, für nicht verbotene Parteien, ein streng formaler Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit gilt, siehe etwa BVerfGE 88, 322, 337 f. 244 Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs zwischen Meinungs- und Parteienfreiheit verwundert es nicht, dass auch bei Letzterer die bei der Volksverhetzung ganz prominente Begifflichkeit des Klimaschutzes (oben Fn. 195 f.), auftaucht. Morlok (Fn. 216), S. 2042 mit einer engen Fassung von Klimaschutz: „Das Institut des Parteiverbots ist aber mit dem Risiko belastet, einen Druck in Richtung ,politischer Korrektheit‘ auszuüben. Gegen die aus der Drohung und gar dem Einsatz des Parteiverbots erwachsende Gefahr für das politische Klima sind Maßnahmen des politischen Klimaschutzes geraten: durch forcierte Rechtsstaatlichkeit.“ 245 Siehe zur „Demokratie“ als „Ruhepunkt, zu dem der nach rechts und links ausschlagende politische Pendel immer wieder zurückkehren muß“ – besser: kann und sollte –, H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 68.

§ 11 Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das Kreuz in der Schule I. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihre leitenden Prämissen In der Entscheidung vom 16. 5. 19951 hat die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) das gesetzlich vorgeschriebene Anbringen von Kreuzen und Kruzifixen in staatlichen bayerischen Pflichtschulen als Verstoß gegen die negative Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG2 angesehen. Mehrere Argumente, die nach der Auffassung der Minderheit für eine verfassungsgemäße Regelung sprachen, waren nach Auffassung der Mehrheit letztlich nicht ausreichend, das Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu vermeiden: Es war nach Mehrheitssicht erstens nicht entscheidend, dass Bayern in Übereinstimmung mit früheren Entscheidungen des BVerfG3 seine Verfassung und seine schulrechtlichen Vorschriften so ausformuliert hat, dass zwar für die Volksschule die christliche Gemeinschaftsschule als Schulform vorgesehen war, die einschlägigen Vorschriften aber Toleranz und Nichtdiskriminierung ausdrücklich vorschreiben. So 1

Amtliche Entscheidungssammlung des BVerfG, BVerfGE 93, 1. Die Norm lautet: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Im Zusammenhang damit steht Art. 3 Abs. 3 GG, der in der hier interessierenden Passage lautet: „Niemand darf wegen … seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 140 GG inkorporiert die Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung in das GG. Vgl. auch Art. 33 Abs. 2, 3 GG. 3 Vgl. insbesondere BVerfGE 41, 29; 41, 65; 41, 88 (jeweils zur Zulässigkeit von christlichen Gemeinschaftsschulen); 52, 223 (zur Zulässigkeit eines freiwilligen Schulgebets). Leitsätze 2 und 3 der erstgenannten Entscheidung, auf der die beiden folgenden aufbauen, lauten: „Es ist Aufgabe des demokratischen Landesgesetzgebers, das im Schulwesen unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen ,negativer‘ und ,positiver‘ Religionsfreiheit nach dem Prinzip der ,Konkordanz‘ zwischen den verschiedenen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern zu lösen. Eine Schulform, die weltanschaulich-religiöse Zwänge soweit wie möglich ausschaltet sowie Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen – wenn auch von einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her – bietet und dabei das Toleranzgebot beachtet, führt Eltern und Kinder, die eine religiöse Erziehung ablehnen, nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt.“ 2

I. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

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legt zwar Art. 135 der bayerischen Verfassung die Schulform christliche Gemeinschaftsschule für die öffentlichen Volksschulen fest. Art. 131 Abs. 2 der Verfassung zählt aber zu den obersten Erziehungszielen „Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen“, die nicht christlich geprägt sein müssen.4 § 13 Abs. 1 Satz 3 der bayerischen Volksschulordnung, die für verfassungswidrig erklärte Norm, setzt die Pflicht fest, in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen, fährt dann aber fort: „Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten.“5 Mit anderen Worten: Die Vorschriften lassen sich so verstehen und sind von der untergerichtlichen Rechtsprechung6 auch so verstanden worden, dass an bayerischen Schulen Schüler aller Religionen und Weltanschauungen gleichberechtigt und in gegenseitiger Toleranz miteinander lernen sollen. Zweitens ist es nach Auffassung der Mehrheit irrelevant, dass die Kreuze nicht aktiv als Objekte von Verehrung oder Anbetung in den allgemeinen Unterricht einbezogen worden sind.7 Das ist nach den zitierten Vorschriften auch ausgeschlossen, denn alle sind sich einig, dass in einem Staat mit Religionsfreiheit der Staat nicht einseitig missionieren und Glauben generell oder aber partikulare

4 Vollständig lautet Art. 131 der Verfassung Bayerns, der von den Bildungszielen handelt, folgendermaßen: „(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden. (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt. (3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerverständigung zu erziehen. (4) Die Mädchen sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.“ – Daneben sieht Art. 107 Abs. 1 Glaubens- und Gewissensfreiheit vor; nach Art. 136 Abs. 1 sind an allen Schulen beim Unterricht die religiösen Empfindungen aller zu achten. Im Hinblick auf das Gesamt dieser Normen sieht der bayerische Verfassungsgerichtshof das Bildungsziel „Ehrfurcht vor Gott“ als verfassungsgemäß an, wenn es nicht zur Missionierung oder Diskriminierung Andersgläubiger dient, sondern als Hinweis auf die für Bayern prägende Tradition verstanden wird, in der Ehrfurcht vor Gott einen hohen, allerdings nicht für jeden verbindlichen Wert darstellt. Vgl. BayVerfGH, NJW 1988, S. 3141. 5 Vollständig lautet § 13 Abs. 1 der Volksschulordnung: „Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten.“ 6 Vgl. VG Regensburg, BayVBl. 1991, S. 345; VGH München, BayVBl. 1991, S. 751. 7 Vom allgemeinen Unterricht in den profanen Fächern ist zu unterscheiden der frei gewählte Religionsunterricht, der nach Art. 7 Abs. 3 GG ordentliches Lehrfach ist. Soweit es sich um Religionsunterricht der christlichen Kirchen handelt, wird dort das Kreuz natürlich in seiner spezifisch religiösen Bedeutung behandelt. Soweit die Symbolik des Kreuzes in allgemeinen Bildungsfächern wie Deutsch oder Geschichte behandelt wird, versteht es sich von selbst, dass es dann als Gegenstand von offener, unverbauter Analyse und nicht als Objekt religiöser Verehrung dient. Hierzu H. Maier, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 176 ff.

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

Glaubensinhalte verbindlich vorgeben oder Menschen zur Identifikation mit religiösen Symbolen zwingen darf. Die Mehrheit ist drittens nicht von den Thesen überzeugt, das Kreuz lasse sich, in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung des BVerfG zur Schulform „christliche Gemeinschaftsschule“8 auch in Bayern9, als prägender Kultur- und Bildungsfaktor der abendländischen Welt verstehen, der unter anderem für Werte wie Solidarität und Toleranz stehe, die weithin akzeptiert und in den Landesverfassungen wie dem Grundgesetz vorausgesetzt oder auch spezifisch als Bildungsziele festgesetzt seien10. Die Mehrheit des Gerichts folgt den Argumenten nicht, dass das Kreuz an der Wand des Schulzimmers auf diese für das bayerische Gemeinwesen charakteristische Quelle moralischer Prägung hinweise und sie in einem schwachen Sinne unterstütze, ohne deshalb andere Religionen und Weltanschauungen auszuschließen; dass die christlichen Schüler somit durch das Kreuz in Haltungen wie Solidarität und Toleranz unterstützt würden, während die nichtchristlichen Minderheiten sich aus ihren eigenen Weltanschauungen moralisch motivieren lassen können; dass die Nichtchristen das Kreuz zur Kenntnis oder auch nicht zur Kenntnis nehmen, sich zu ihm – affirmativ oder kritisch – verhalten oder auch nicht verhalten können. Stattdessen sieht die Mehrheit des BVerfG einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die negative Religionsfreiheit aller Nichtchristen vorliegen, die „unter dem Kreuz“11 8

Vgl. oben Fn. 3. 1975 war die Zulässigkeit der christlichen Gemeinschaftsschule in Bayern vom BVerfG noch ausdrücklich festgehalten worden: BVerfGE 41, 65. A.a.O., S. 83 ff. prüft das Gericht die oben Fn. 4 genannten Verfassungsvorschriften und hält fest: „Zweifellos ist das Christliche – als Ganzes gesehen – ein Stück abendländischer Tradition. Die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam sind, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet werden, äußern aus der gemeinsamen Vergangenheit des abendländischen Kulturkreises eine gewisse verpflichtende Kraft; denn die gesamte abendländische Kultur ist weitgehend vom Christentum geprägt worden. Dieses gemeinsam Christliche braucht aber mit den konkreten Glaubensinhalten der einzelnen christlichen Bekenntnisse nicht unbedingt identisch zu sein. Es wäre auch nicht Sache des religiös-weltanschaulich neutralen Staates, darüber zu befinden, welches die grundsätzlichen und übereinstimmenden Glaubensinhalte der verschiedenen christlichen Bekenntnisse sind. Man kann daher unter den Grundsätzen im Sinne von Art. 135 Satz 2 bayer. Verfassung … in Achtung der religiös-weltanschaulichen Gefühle Andersdenkender die Werte und Normen verstehen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind“ (S. 84 f.). Hierzu auch die Darlegungen von H. Lübbe zur Zivilreligion, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 237 ff. 10 Vgl. zur bayerischen Verfassung oben Fn. 4 sowie m.w.Nachw. zu anderen Landesverfassungen W. Brugger, Das störende Kreuz in der Schule, JuS 1996, S. 233, 237, Fn. 36. 11 So das BVerfG (Fn. 1), S. 18. Die Formulierung erweckt den – falschen – Eindruck, es habe sich um ein bedrohliches, vermutlich großes Kruzifix direkt über der Tafel gehandelt, so dass unabhängig vom konkreten Verhalten des Lehrers der Eindruck aufkommen musste oder konnte, der Lehrer berufe sich auch auf die Autorität des über ihm und der Klasse hängenden Kruzifixes. So war die Lage aber zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG nicht. An anderer Stelle in der Entscheidung wird berichtet: „Der Konflikt“ zwischen Schulleitung und den 9

I. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

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lernen müssen. Solches sei den nichtchristlichen Schülern und deren Eltern nicht zumutbar. Das Kreuz sei ein genuin christliches Symbol mit Vorbild-, Appell- und Missionierungscharakter und lasse sich nicht oder jedenfalls nicht primär als Ausdruck allgemein abendländischer Werte verstehen. Es sei kein legitimer Ausdruck der positiven Religionsfreiheit, wenn Eltern über demokratische Mehrheitsentscheidungen versuchten, gerade das Christentum als vorzügswürdige Religion in die Schulen hineinzutragen, wo die Schüler keine Möglichkeit hätten, dem Kreuz auszuweichen. Das verbiete die vor allem in Art. 4 Abs. 1, 3 Abs. 3 und 140 GG niedergelegte Neutralität des Staates in weltanschaulich-religiösen Fragen.12 Zwar sei in der Tat das Christentum für das Abendland in vielfacher Hinsicht ein prägender Kultur- und Bildungsfaktor gewesen, zu dem inzwischen auch die Toleranz für Andersdenkende gehört, und der Staat dürfe Rücksicht auf Eltern nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung wünschten. Doch sei diese in staatlichen Schulen nur durch den frei zu wählenden Religionsunterricht oder durch freiwillige aktive Teilnahme etwa an einem Schulgebet möglich, nicht aber durch gesetzlich angeordnetes Anbringen gerade des christlichen Kreuzes an der Wand des Schulzimmers, dem man nicht ausweichen könne. Die gesellschaftlichen, politischen und juristischen Reaktionen auf diese Entscheidung waren zahlreich und heftig, in Zustimmung wie Ablehnung. Es steht außer Frage, dass diese Entscheidung zu den umstrittensten der Rechtsprechung des BVerfG zählt. Die verfassungsrechtlichen Einzelargumente für und gegen diese Entscheidung sollen hier nicht im Mittelpunkt stehen.13 Klar ist jedenfalls, dass die Evidenz der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Ergebnisses von einigen wenigen Prämissen geleitet wird, die sich in der Einschätzung und Abwägung der vielen Einzelaspekte niederschlagen. Die zwei Kernpunkte sind durch die vorhergehenden kurzen Hinweise schon deutlich geworden: (1) Unser Gemeinwesen muss in weltanschaulich-religiösen Fragen neutral sein. Das ist der Kern der Art. 4 I, 3 III und 140 GG; darin sind sich alle Juristen einig. Aber wie weit reicht dieses Gebot, was meint es konkret? Sicher darf ein freier Staat keine Klägern „wurde zunächst dadurch beigelegt, daß das Kruzifix gegen ein kleineres über der Tür angebrachtes Kreuz ohne Korpus ausgewechselt wurde“ (a.a.O., S. 3). Auf diese Sachverhaltslage bezieht sich die Formulierung ,unter dem Kreuz‘. Es wäre im Übrigen im Rahmen verfassungskonformer Auslegung ohne weiteres möglich gewesen, auf die Notwendigkeit einer solchen Kompromisslösung hinzuweisen, um dem – in der Tat bedenklichen, falls wirklich gegebenen – Eindruck entgegenzuwirken, Nichtchristen müssten ,unter dem Kreuz‘ lernen. Nicht die Formulierung ,unter dem Kreuz‘ ist das Problem, sondern seine Bejahung im konkreten Fall. 12 Hierzu oben Fn. 2. 13 Vgl. hierzu, m.w.Nachw., die Referate von Czermak und Geis, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 13 ff., 41 ff. Zahlreiche (wenngleich bei weitem nicht alle) gesellschaftliche und politische Stellungnahmen sind gesammelt in: P. Pappert (Hrsg.), Den Nerv getroffen. Engagierte Stimmen zum Kruzifix-Urteil von Karlsruhe, o. J.; B. Streithofen (Hrsg.), Das Kruzifix-Urteil. Deutschland vor einem neuen Kulturkampf?, 1995.

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religiöse Missionierung betreiben; kein Mensch darf zur Identifikation mit einer bestimmten Religion gezwungen werden; es soll Toleranz und Gleichberechtigung der Religionen und Weltanschauungen herrschen. Aber gilt dies auch für ,Erinnerungen‘ an prägende weltanschauliche Traditionen, die keinem gebieten, sich ihnen anzuschließen? Die, soweit die Fakten keine andere Sprache sprechen, auch keine Diskriminierung anderer Religionen und Weltanschauungen darstellen? Die lediglich die sowieso schon christlichen Schüler in Werthaltungen wie Solidarität und Toleranz unterstützen, während die nichtchristlichen Schüler ,nur‘ den Anblick des zugegebenermaßen auch christlichen Symbols ertragen müssen? (2) Damit eng zusammen hängt die Einschätzung der Bedeutung des Kreuzes im konkreten Land und in der konkreten Situation. Hat das Kreuz in Bayern in der Tat mehrere Bedeutungen, partikular-religiöse und allgemein-ethische, vielleicht sogar volkstümliche?14 Wer entscheidet über diese Bedeutungen? Reicht es zur Bejahung einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit aus, dass ein nichtchristlicher Schüler sich beeinträchtigt fühlt? Oder muss sich dieser Schüler entgegenhalten lassen, man könne das Kreuz an der Wand auch als bloße ,Erinnerung‘ oder als schwache, nicht diskriminierende Unterstützung der sowieso schon christlichen Mitschüler in allgemein vom staatlichen Erziehungsauftrag angezielten Werten wie etwa Solidarität und Toleranz ansehen? Kann man ihm entgegenhalten, selbst wenn das Kreuz appellativen Charakter haben sollte, stehe es ihm als Nichtchristen ja frei, es mit Missachtung zu strafen; dieses Recht stehe ihm sogar kraft Verfassung und Gesetzes zu und Toleranz sei gerade ein Bestandteil der von ihm abgelehnten Religion?15 Ich will mich auf den ersten Problemkomplex konzentrieren, die staatliche Neutralität in weltanschaulich-religiösen Fragen, die einen Ausschnitt der allgemeineren Frage nach der staatlichen Neutralität in allen die Lebensführung der Bürger betreffenden Fragen darstellt. Die gesamte Argumentationsstruktur der Mehrheit des BVerfG zeichnet sich durch eine Einschätzung der Fakten und eine Gewichtung der einschlägigen Argumente aus, die der Sache nach durch das Prinzip der strikten Neutralität der politischen Gewalt in Lebensführungsfragen im Allgemeinen und in Weltanschauungsfragen im Besonderen geprägt ist. Diese Maxime wiederum ist Ausdruck einer bestimmten Art von Liberalismus, die man Neutrali14

Zu der Vielzahl von Kreuzesbedeutungen innerhalb wie außerhalb des Christentums und auch speziell in Bayern siehe in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 165 ff., 173 ff., 180 ff., 194, 223, 250 f. 15 Der letzte Teil des Arguments bezieht sich auf das moderne Verständnis des Christentums, das durch die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zur Zulässigkeit der christlichen Gemeinschaftsschule – oben Fn. 3 – für das Schulwesen auch als verbindlich festgeschrieben worden ist. Was diese Entscheidungen also auszeichnet, ist das Bemühen um eine Konkordanz von Christlichkeit und Säkularität, von gesellschaftlichen und staatlichen Werten, von Mehrheits- und Minderheitsüberzeugungen im Schulbereich, ohne dass einer der beiden Aspekte den anderen gänzlich übertrumpft.

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tätsliberalismus nennen kann.16 Wenn wir Liberalismus im weiten Sinn als durch die Werte ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ charakterisierbar ansehen17, dann betont der Neutralitätsliberalismus die ersten beiden Prinzipien, den Status negativus, dasjenige, wogegen sich Bürger über Grundrechte wehren dürfen, wenn der Staat in ihre persönliche Lebensführung eingreifen will. Die leitende Prämisse lautet: Ein jeder Bürger hat das gleiche Recht, sein Leben nach eigener Wahl zu führen. Der Staat darf nur dann eingreifen, wenn ein Bürger in die Freiheit anderer eingreift und diesen Schaden zufügen will; Selbstschädigung reicht nicht aus. Illegitim sind staatliche Freiheitsrestriktionen in der Absicht, bestimmte Lebensstile oder gar Religionen und Weltanschauungen zu bevorzugen.18 So darf der Staat zum Beispiel abweichende sexuelle Lebensstile nicht negativ bewerten, auch wenn diese nach Mehrheitsauffassung als ,unmoralisch‘ oder als Verfehlungen ,gelungener‘ Sexualität eingestuft werden sollten, solange die Betroffenen erwachsen sind und konsensual handeln; man denke an Prostitution, Homosexualität oder Sadomasochismus. In der ,starken‘ Ausprägung dieser Theorie muss der Staat auch in der Förderungsdimension strikt neutral sein: Er darf keine Lebensstile oder Lebensformen bevorzugt fördern, sofern nicht alle Bürger zustimmen. Eine besondere Förderung etwa von Ehe und Familie, wie sie das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 1 enthält, wäre illegitim, weil diese Lebensformen nicht alle Bürger Deutschlands als wertvoll empfinden. Das staatliche Gemeinwohl besteht nach dieser liberalen, ,antiperfektionistischen‘19 Sicht ausschließlich im Schutz größtmöglicher Wahlfreiheit aller Individuen und Gruppen unter Wahrung strikter staatlicher Neutralität. Das heißt: Ob die Bürger und Gruppen den weiten rechtlichen Rahmen für individuelle Selbstentfaltung tatsächlich ausnützen oder aber sich, etwa aus religiösen Gründen, stärker zurücknehmen und für das Allgemeinwohl engagieren, geht die öffentliche Gewalt nichts an. Diese Neutralität in Bezug auf individuelle Lebensstile ist nicht ,wertneutral‘, vielmehr fungiert als leitender staatlicher Wert die Gewährleistung der Rahmenbedingungen für größtmögliche gleiche Entfaltungsfreiheit, ohne dass die Ausnutzung dieses Rahmens speziell gefördert wird. Zu den einschlägigen Rah16

Vgl. S. Huster, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 69 ff.; P. Selznick, The Idea of a Communitarian Morality, 75 Cal.L.Rev. 1987, S. 445, 447: „[In classical and welfare liberalism, the] individual is the proper locus of moral choice. The political community should be neutral with respect to ends; it should not say what is the good life; it should provide only a framework for discourse and a vehicle for registering individual preferences.“ 17 Vgl. J. Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, Vol. 4: Harmless Wrongdoing, 1988, S. 82. 18 Insoweit stimmen Kant und Mill überein. Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, insbes. die Einleitung in die Rechtslehre (1797), Preußische Akademieausgabe Band VI, 1968, S. 203, 229 ff.; J. St. Mill, On Liberty (1859); deutsch: Über Freiheit, 1969. Das wären dann auch Grenzen der kollektiven Entscheidungsmacht des politischen Prozesses. 19 Zu dieser Charakterisierung des Neutralitätsliberalismus siehe S. Mulhall/A. Swift, Liberals and Communitarians, 1992, S. 25 ff., 153 f., 229 ff., 252 ff., 289 ff.

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menbedingungen gehören insbesondere grundrechtliche Abwehrrechte und demokratische Mitwirkungsrechte. Im Sinne einer negativen Abgrenzung entspricht dem Gedanken der Absicherung gleicher Freiheit im deutschen Verfassungsrecht der Schutz der ,freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ gegen aggressive Feinde dieser Art von freiheitlicher Rechtsordnung.20 Der Neutralitätsliberalismus kann sich mit dem ökonomischen Liberalismus verbünden, also von der genannten Trias nur oder vorrangig auf Freiheit und (Rechts-)Gleichheit im gesellschaftlichen Verkehr im Allgemeinen und im Wettbewerb im Besonderen abheben; Brüderlichkeit wird dann überhaupt nicht oder aber nur marginal berücksichtigt.21 Er kann aber der Brüderlichkeit oder, moderner gesprochen, der Solidarität und Sozialstaatlichkeit, durchaus auch einen breiteren Raum einräumen und sich als Sozialliberalismus oder, noch stärker, als egalitärer, effektive Chancengleichheit für alle verbürgender Liberalismus präsentieren. Hier soll es aus zwei Gründen um die letztgenannte Version gehen: Zum einen ist der Sozialliberalismus in das Grundgesetz mit integriert, wie das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 zeigt. Zum anderen wird der soziale und egalitäre Liberalismus in den aktuellen Diskussionen vor allem in den USA von vielen prominenten Stimmen vertreten22, die sich sozusagen für eine Anreicherung des amerikanischen Gerechtigkeitsverständnisses um das deutsche Sozialstaatsdenken und den Einbau eines effizienten Sozialstaatsprinzips in die US-Verfassung bemühen, unter Wahrung der strikten Neutralität des Staates. Viele, wenngleich bei weitem nicht alle Liberale sehen in dem strikt neutralen und gleichzeitig effizienten egalitären Liberalismus die attraktivste und einzig legitime Form der Staatsorganisation, ja der Völkerrechtsorganisation, die ebenfalls effektive Chancengleichheit zwischen den Völkern anzielen und durch entsprechende Vorkehrungen verwirklichen muss. Einschlägige Stichworte sind hier: ,sozial gerechte Weltwirtschaftsordnung‘, ,unbeschränktes Asylgrundrecht‘, ,Recht auf Einwanderung‘, ,Recht auf Entwicklungshilfe‘, ,Recht auf Partizipation am common heritage of mankind‘, Kritik an der ,passiven Ungerechtigkeit‘ der Duldung schlimmer Zustände in der Welt durch Völker und Staaten, die Abhilfe schaffen könnten. Das Grundgesetz hat zweifellos Affinitäten zum Neutralitätsprinzip und zum Sozialliberalismus; es akzeptiert auch universelle Verantwortlichkeiten. Keines dieser Prinzipien ist jedoch als alle anderen Überlegungen übertrumpfende, absolut geltende Rechtsregel23 verankert: So wird Neutralität in Bezug auf Überzeugungen und Lebensstile weitgehend verankert, aber nicht vollständig, wie das Beispiel des besonderen Schutzes der traditionellen Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 deutlich 20

Vgl. Art. 9 Abs. 2, 18 und 21 Abs. 2 GG. Moderne Hauptvertreter sind F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl. 1991, und R. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, o. J. 22 Zu diesen ,welfare liberals‘ zählen vor allem John Rawls, Bruce Ackerman, Charles Larmore und Ronald Dworkin. 23 Zu subjektiven Rechten als Trümpfen siehe R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 158 ff., zur Abgrenzung von Prinzipien und Regeln a.a.O., S. 58 ff., 71, 130 ff. 21

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macht. Das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 verpflichtet zum Schutz aller Armen und Schwachen, gleichzeitig gilt aber, wie viele für den Wirtschaftsbereich relevante Grundrechte deutlich machen, das Leistungsprinzip mit den sich aus ihm ergebenden gesellschaftlichen Ungleichheiten.24 Schließlich unterscheidet das Grundgesetz trotz vieler Öffnungsklauseln für supranationale Bindungen immer noch deutlich zwischen innen und außen und übernimmt im Innenbereich mehr Verantwortlichkeiten als gegenüber Europa oder dem Rest der Welt.25 Aus Sicht des universell-egalitären Neutralitätsliberalismus sind das Zeichen defizitärer Staatsorganisation und verarmten moralischen Bewusstseins – einschlägige kritische Stichworte sind ,überholtes Nationalstaatsdenken‘, ,Bevormundungsstaat‘, ,Ethnozentrismus‘, ,Deutschtümelei‘, ,Festung Europa‘. Doch gelten diese Beurteilungen eben nur, falls man die Prämissen dieser Art von Liberalismus als moralisch verbindlich ansieht. Das ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Kernpunkt politischen Streites, parteipolitischer Stellungnahme, verfassungsrechtlicher Auslegung sowie auch rechtsphilosophischer Kontroversen. Hier sollen die Prämissen des universellen, egalitären Neutralitätsliberalismus rechtsphilosophisch befragt werden. Der Standpunkt, von dem aus die Fragen und Kritikpunkte formuliert werden, ist der des Kommunitarismus, genauer: der von anderen Kommunitarismusvarianten abzugrenzende liberale Kommunitarismus. Dieser scheint mir eine überzeugendere Konzeption für das Verständnis des modernen westlichen Staates im Allgemeinen und die Problematik des Kreuzes in der Schule im Rahmen des Grundgesetzes im Besonderen zu bieten als der strikte Neutralitätsliberalismus, wobei man bei all den im Folgenden herauszuarbeitenden Differenzen auch den gemeinsamen Rahmen eines im weiten Sinn verstandenen Liberalismus nicht vergessen sollte. Die folgenden Darlegungen sind also auf der Ebene der politischen Philosophie oder der Verfassungstheorie angesiedelt. Sie sind nicht unmittelbar in deutsches Verfassungsrecht oder Grundgesetzdogmatik zu übersetzen. Doch bilden sie, wie der Eingangs- und der Schlussteil zu der KreuzEntscheidung des BVerfG deutlich machen sollen, den argumentativen Hintergrund, vor dem die konkreten Gewichtungen der Mehrheit und der Minderheit erklärbar werden. Die Mehrheit trifft ihre Abwägungen auf der Basis des von ihr der Sache nach favorisierten Neutralitätsliberalismus. Dem Minderheitsvotum liegt ein liberaler Kommunitarismus zugrunde, und die These dieses Artikels ist es, dass nach Abwägung der beiden konkurrierenden Verfassungstheorien mehr für den liberalen Kommunitarismus der unterlegenen Minderheit des BVerfG spricht. 24 Zwar hat das BVerfG schon früh entschieden, das Grundgesetz sei in Bezug auf die Wirtschaftsverfassung neutral, vgl. BVerfGE 4, 7, 17 f. Doch ergibt sich aus dem Zusammenhang der Art. 2 Abs. 1 (Vertragsfreiheit), 9 Abs. 1 (Vereinigungsfreiheit), 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit), 14 Abs. 1 und Abs. 2 (Eigentumsfreiheit) und 19 Abs. 3 GG (Grundrechtsschutz juristischer Personen), dass private Initiative und Wettbewerb stark geschützt sind. Diese Verfassungsrechtslage ist durch den Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft noch verstärkt worden. 25 Vgl. W. Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 38 ff.

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

II. Kommunitarismus und Liberalismus oder Kommunitarismus gegen Liberalismus? Der Kommunitarismus ist keine klar umrissene Theorie, sondern eine politischphilosophische Richtung mit interner Ausdifferenzierung; diese Weite teilt er mit jeder anderen ,Großtheorie‘ von Individuum, Gesellschaft und Staat wie etwa dem Liberalismus und seinen diversen Varianten. Anders als beim Liberalismus stehen bei ihm nicht die ,Freiheit von‘ Unterdrückung durch kollektive Gewalten und damit die Freisetzung ,individueller Wahl‘ im Vordergrund, sondern die Gefahren, die von einer Absolutsetzung der Wahlfreiheit für die Gesellschaft als Ganze wie auch für die Einzelnen drohen. Die einschlägigen Negativstichworte lauten ,Isolierung‘, ,Atomisierung‘, ,Fragmentierung‘, ,Anonymität‘, ,Ausbeutbarkeit‘. Die einschlägigen Positivstichworte dagegen sind ,Partizipation‘, ,Zugehörigkeit‘, ,Erfüllung in Gemeinschaft‘.26 Freilich wäre es zu einfach, ein Gegeneinander von ,Freiheit oder Gemeinschaft‘ zu konstruieren; dazu sind die Verhältnisse, wie jede einigermaßen ausgefeilte liberale oder kommunitaristische Theorie weiß, zu komplex. Es geht um die Verhältnisbestimmung von Individuum und Gemeinschaft, von Freiheit und Bindung in Gesellschaft und Staat. Die aktuelle Diskussion zentriert sich um Stellungnahmen, die in kritischer Absicht gegen John Rawls‘ bahnbrechendes Werk von 1971, „A Theory of Justice“27 vorgebracht worden sind.28 Soweit die Kommentatoren einen übertriebenen Individualismus, Rationalismus und Konstruktivismus, ein verengtes Personverständnis und einen überzogenen Universalismus rügen, sind sie im Laufe der Zeit als Kommunitarier oder Kommunitaristen bezeichnet worden, was eine bloße Sammelbezeichnung ist und nicht besagt, dass alle Kritiker die gleichen Argumente benutzen oder identische Schlüsse ziehen. Als prominenteste Vertreter und Programmschriften des amerikanischen Kommunitarismus werden meist angesehen 26 Vgl. Selznick (Fn. 16), S. 454, 455: „A communitarian morality … is not at its core a philosophy of liberation. The central value is not freedom or independence but belonging.“ „Liberalism … is a philosophy of liberation, not of belonging.“ M. Walzer, Lokale Kritik, globale Standards, 1996, S. 152 spricht von „Werten und Tugenden der Bindung“ und erwähnt als Beispiele „Liebe, Loyalität, Treue, Freundschaft, Hingabe, Engagement, Patriotismus …“. Diese Beschreibung betrifft nur die Schwerpunktbildung, schließt aber nicht die Integration liberaler Prinzipien aus, wie im Weiteren noch zu zeigen sein wird. Zum Kontrast zwischen Liberalismus/Aufklärung und Gemeinschaftsdenken auch E.-W. Böckenförde, Erfolge und Grenzen der Aufklärung, Universitas 8 (1995), S. 720, 721: „Ziel der Aufklärung war und ist die Befreiung des Menschen nicht nur von Unterdrückung, sondern auch von (rechtlicher und geistiger) Abhängigkeit … Die Grenze der Aufklärung zeigt sich bei der Frage nach dem Woraufhin der Freiheit.“ 27 Deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, (1975), 1979. Zur Bedeutung und Wirkungsgeschichte dieses Buches vgl. W. Kersting, John Rawls zur Einführung, 1993, S. 7 ff. 28 Ideengeschichtlicher Hintergrund dieser neueren Kontroverse bildet die Spannung zwischen Aristotelismus und Hegelianismus einerseits und Kantianismus andererseits. Erstere haben Affinitäten zum Kommunitarismus, Letzterer bildet eine wichtige Basis für den Neutralitätsliberalismus. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.

II. Kommunitarismus und Liberalismus / Kommunitarismus gegen Liberalismus? 357

Michael Sandel mit „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982)29, Alasdair MacIntyre mit „After Virtue“ (1981)30, Charles Taylor mit „Sources of the Self. The Making of the Modern Identity“ (1989)31 und Michael Walzer mit „Spheres of Justice“ (1983)32. In der Zwischenzeit haben diese und viele andere Autoren zahlreiche weitere Werke vorgelegt; auch in Deutschland gibt es mittlerweile eine breite Diskussion in Wissenschaft, Politik und Publizistik um den Kommunitarismus.33 Die zum Teil heftige Kritik an der ,Theorie der Gerechtigkeit‘ hat John Rawls dazu veranlasst, seine Theorie in Teilen zu revidieren bzw. neu zu interpretieren, so dass manche inzwischen vom ,alten/frühen Rawls‘ und vom ,neuen/späten Rawls‘ oder von ,Rawls I‘ und ,Rawls II‘ sprechen. Seine neuen Interpretationen, die im Ergebnis kommunitaristische Gedanken stärker betonen oder integrieren, sind in dem Band „Political Liberalism“ (1993)34 zusammengefasst; auf einige dieser Punkte gehe ich im Folgenden ein.35 Zur Strukturierung der Auseinandersetzung mit dem universell-egalitären Neutralitätsliberalismus ist es nützlich, in idealtypischer Form36 drei unterschiedliche Versionen des Kommunitarismus im Rahmen dieses weiten Theorietyps zu kenn29 Vgl. auch Sandel, Democracy’s Discontent: America in Search of a Public Philosophy, 1996; ders., Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: A. Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen der modernen Gesellschaft, 1993, S. 18 ff. 30 Deutsch: Der Verlust der Tugend, 1995. Vgl. auch ders., Whose Justice? Whose Rationality?, 1988; ders., Ist Patriotismus eine Tugend?, in: Honneth (Fn. 29), S. 84 ff. 31 Deutsch: Quellen des Selbst. Die Entstehung des neuzeitlichen Individualismus, 1988. Vgl. auch Taylor, Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 1988; ders., Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Honneth (Fn. 29), S. 103 ff. 32 Deutsch: Sphären der Gerechtigkeit, 1992. Vgl. auch Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, 1990; ders., Lokale Kritik – globale Standards (Fn. 26); ders., Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: Honneth (Fn. 29), S. 157 ff. 33 Vgl. etwa, um nur eine kleine Auswahl zu nennen, die Sammelbände von Honneth (Fn. 29); C. Zahlmann (Hrsg.), Kommunitarismus in der Diskussion, 1992; M. Brumlik/ H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, 1993, und G. Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, 1994; ferner R. Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, (1994), 1996; W. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, 1997. 34 Eine deutsche Übersetzung der wichtigsten neueren Aufsätze von Rawls findet sich in: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, (1992), 1994 mit einer ausführlichen Einleitung von W. Hinsch. Der Leitaufsatz „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ ist auch in: Honneth (Fn. 29), S. 36 ff. enthalten. 35 Ausführlich zu Rawls I und II Hinsch (Fn. 34), Forst (Fn. 33), Kersting (Fn. 27) und Mulhall/Swift (Fn. 19). 36 Die späterhin eingestreuten illustrativen Zitate nehmen also nicht in Anspruch, den zitierten Autor oder das zitierte Werk in Gänze dem jeweiligen Typus zuordnen zu können. Affinitäten sind zwar durchaus zu diagnostizieren, doch wie weit diese wirklich reichen, muss der Detaillektüre überlassen bleiben.

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

zeichnen: den (1) konservativen oder substantialistischen Kommunitarismus, den (2) liberalen Kommunitarismus und den (3) universalistisch-egalitären Liberalismus, der, sofern als entscheidende Gemeinschaft ,alle Menschen als Menschen‘ fungieren, auch als universalistisch-egalitärer Kommunitarismus bezeichnet werden kann. Da es um eine Verhältnisbestimmung von Wahlfreiheit und Gemeinschaft(en) bzw. Vergemeinschaftung und nicht um ein kategorisches Individuum-gegen-Gemeinschaft geht, könnte man die drei Konzeptionen weitgehend auch als Liberalismusvarianten ansehen; jedenfalls stellen der konservative und der liberale Kommunitarismus zeitgenössische kritische Bestandsaufnahmen des Liberalismus bzw. bestimmter Varianten des Liberalismus dar.37 Wenn man insoweit noch einmal auf die Trias ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ als Basis liberaler Theorien zurückgreift, dann bezieht sich das Freiheitsmoment auf die Diskussion, ob bzw. unter welchen Umständen Gemeinschaften zur Erfüllung menschlicher Selbstbestimmung förderlich oder hinderlich sind. Das Gleichheitsmoment bezieht sich auf die Frage, in welcher Hinsicht einzelne Menschen oder Gruppen oder gar alle Menschen ,gleich‘ sind (bzw. sein sollen) oder eine ,Gemeinschaft‘ bilden (sollen); je nach Ausrichtung kann man hier enge (stark partikularistische, konservative) oder weite (universelle, progressive) sowie vermittelnde Sichtweisen vertreten. Dementsprechend würde dann auch das dritte Element, die Brüderlichkeit oder Solidarität, interpretiert: entweder mit dem Schwerpunkt auf dem Nahhorizont der Lebenswelt (partikularistisch, konservativ) oder mit dem Schwerpunkt auf größtmöglicher Ausweitung auf jeden Menschen (universell, progressiv), oder aber in einer vermittelnden Art und Weise. Kommunitaristische Themen sind also mit dem liberalen Selbstverständnis aufs engste verbunden – affirmativ oder kritisch. Nichtliberal in einem schwachen definitorischen Sinn wäre eine kommunitaristische Theorie erst dann, wenn sie überhaupt keinen Raum mehr für individuelle Selbstbestimmung und weitergedacht für grundrechtliche Abwehrrechte enthielte oder wenn sie im politischen Raum das Selbstverständnis einer Gruppe als ausreichenden Grund zur Unterdrückung oder gar Eliminierung anderer Gruppen38 ansähe. Mit solchen Theorien oder Praktiken soll der konservative Kommunitarismus nicht in Verbindung gebracht werden; auch in dieser Ausprägung ist er in dem angegebenen schwachen Sinn – nicht dagegen im Sinne stärker entwickelter Liberalismuskonzeptionen – liberal.39 Ebensowenig soll auf der anderen Seite der universelle, egalitäre Neutralitätsliberalismus so definiert werden, als ob er auf Gleichmacherei 37 Vgl. Mulhall/Swift (Fn. 19), S. 155, 163; Feinberg (Fn. 17), S. 82; Frankenberg (Fn. 33), S. 8; den Kommunitarismus als Gegenpol zum Liberalismus skizzieren O. Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, 1996, S. 164 ff., 184, und Kersting (Fn. 27), S. 185, 193. 38 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. der Ausgabe von 1963, 1991, S. 26 ff., mit seiner Konzeption des Freund-Feind-Denkens. 39 Mit dem ,liberalen Kommunitarismus‘ i. e.S. knüpfe ich terminologisch an P. Selznick an, der von ,kommunitarischem Liberalismus‘ spricht. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz in: Der Staat 34 (1995), S. 487 ff. Seiner Konzeption stehe ich auch sachlich nahe.

II. Kommunitarismus und Liberalismus / Kommunitarismus gegen Liberalismus? 359

aller Menschen in einem Weltstaat abzielte, in dem alles uniformiert werden sollte. Solche Auffassungen stellen Karikierungen der drei im weiten Sinn verstandenen Kommunitarismus- bzw. Liberalismusversionen dar, die in modernen westlichen Staaten um Vorherrschaft kämpfen und die im Folgenden in ihren Systemelementen skizziert werden. Zur Veranschaulichung dient die folgende Tabelle: Drei Versionen des Kommunitarismus I. Substantialistischer, II. Liberaler Kommunitarismus konservativer Kommunitarismus

III. Universalistischer, egalitärer Kommunitarismus

1. Anthropologie, Menschenbild

Individuum in Gemeinschaft stark verwurzelt

Individuum auf plurale Lebensformen angewiesen

Autonomes Individuum, allgemeine Vernunftbegabung

2. Freiheitsverständnis

,Freiheit zu‘ erfülltem ,Freiheit‘ und ErfülLeben in Gemeinlung ,in‘ Gemeinschaften schaften

Erfüllung durch ,Freiheit von‘ Gemeinschaften

3. Rolle überkom- Tendenziell konstitu- Von instrumentell bis mener Lebens- tiv; vorgegeben; ,ends konstitutiv; vor- und formen für Le- prior to self‘ aufgegeben bensführung

Tendenziell instrumentell; der Wahlfreiheit aufgegeben; ,self prior to ends‘

4. Begriff der Moral

Vorrang von Traditionen, ethischen Praktiken, Konventionalmoral

Gegenseitige Verwei- Vorrang reflexiver, sung von Konventio- kritischer Moral vor nalmoral und reflexi- Konventionalmoral ver, kritischer Moral

5. Rechtfertigung moralischer Normen; principium dijudicationis

Rekurs auf ,Sein‘, konkrete Substanz von gut und gerecht; partikular; Innenperspektive; marginale Verallgemeinerung

Rekurs von ,Sein‘ auf ,Sollen‘ über Erfüllungsgestalten; partikular und allgemein; ,von innen nach außen‘; gestufte Verallgemeinerung

Rekurs auf ,Sollen‘ durch Abstrahierung, Prozeduralisierung, Diskurs; ,von außen nach innen‘; expansive Verallgemeinerung

6. Befolgung moralischer Normen; principium executionis über

Eingebundenheit in konkrete Solidarverhältnisse

Immanenz und Transzendenz konkreter Solidarverhältnisse

Appell an Vernunft und Selbstzweckhaftigkeit aller Menschen

7. Verhältnis Gemeinschaft – Gerechtigkeit

Gemeinschaft ersetzt oder definiert Gerechtigkeit

Gemeinschaft und Gerechtigkeit sind in Balance zu bringen

Universelle Gerechtigkeit ersetzt oder übertrumpft partikulare Gemeinschaft

8. Verhältnis kollektive Ziele – individuelle Rechte

Vorrang kollektiver Ziele

Balance kollektiver Ziele und individueller Rechte

Vorrang individueller Rechte

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

Drei Versionen des Kommunitarismus (Fortsetzung) I. Substantialistischer, II. Liberaler konservativer KomKommunitarismus munitarismus

III. Universalistischer, egalitärer Kommunitarismus Gleiche Achtung und Förderung von allen Menschen und Gruppen; Neutralität gegenüber Lebensformen Prämie auf Minderheitenstatus

9. Verständnis des Primär Achtung und staatlichen Ge- Förderung überkommener Lebensformen, meinwohls sekundär allgemeine Freiheits- und Gleichheitsrechte 10. Status von Prämie auf MehrMinderheiten heitsstatus

Balance von Achtung und Förderung von besonderen Lebensformen und allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsrechten Offener, zivilisierter Kampf um Anerkennung

Primär Nahhorizont 11. Verantwortder Moral lichkeit der Menschen untereinander

Primär Fernhorizont Sphärentheorie der der Moral Verantwortlichkeit, gestuft vom Nah- bis zum Fernhorizont der Moral

12. Schwerpunkt Konkrete Persönlichdes Personbe- keit griffs

Konkrete Persönlichkeit und abstrakte Rechtsperson

Abstrakte Rechtsperson

13. Politische In- Substantiellen Kontegration, Sta- sens und/oder demokratische Beteiligung bilität durch

Demokratische Partizipation und zumindest partiellen substantiellen Konsens

Demokratische Partizipation und gleiche Freiheits- und Gleichheitsrechte

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus Zur Verdeutlichung dessen, wie kommunitaristische Theorien soziale Verantwortung, das staatliche Innen-Außen-Verhältnis sowie die weltanschaulich-religiöse Neutralität des politischen Gemeinwesens verstehen, ist es hilfreich, sich den Kontrast zur neutralitätsliberalen Sichtweise vor Augen zu führen.

1. Menschenbild, Gesellschafts- und Staatsverständnis in der liberalen Erfahrung und in der liberalen Gesellschaftsvertragstheorie Die Entstehung des Liberalismus als politische Theorie geht im Wesentlichen auf drei Unrechtserfahrungen zurück: Ungleichheit und Unfreiheit im Feudalismus und

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus

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im Zentralstaat der Moderne sowie Bevormundung und unauflösbare Konflikte im religiösen Bereich.40 Die Forderungen, die in die positive Theorie des Liberalismus einfließen, sind dementsprechend Rechtsgleichheit aller Bürger, ,Freiheit von‘ staatlicher Unterdrückung durch Verpflichtung der öffentlichen Gewalt auf Schutz von ,Leben, Freiheit, Eigentum‘ und auf gewaltenteilige Sicherungen, sowie Neutralität des Staates im religiös-weltanschaulichen Bereich. Zur Veranschaulichung dieser positiven Elemente bietet sich ein Menschenbild an, dessen Grundlage die individuelle Selbstbestimmung ist, mit einer gewissen Abgrenzung zur Gemeinschaftsbindung. Diese hatte sich ja in der konkreten historischen Gestalt des Feudalismus und des souveränen Einheitsstaates eher als Unterdrückung denn als Verwirklichungsbedingung eines erfüllten Lebens dargestellt. So rückt ,Wahlfreiheit‘ in eine zentrale Rolle der politischen Theorie; der staatlichen Organisation muss ,zugestimmt‘ werden; ,Konsens‘ ist erforderlich. Vom Konsensgedanken ist es nicht mehr allzu weit zum Demokratiegedanken, dem Status activus als kollektive Verwirklichungsbedingung des Status libertatis, womit der Staatstyp ,liberale Demokratie‘ oder ,demokratischer Rechtsstaat‘ umschrieben ist. Nimmt man die Erfahrungen der sozialen Verelendung in den westlichen Industriestaaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dazu, kommt man zu der Forderung, die Freiheit aller Bürger, auch der Armen und Schwachen, müsse ,real‘ werden, was ohne ,Besitz und Bildung‘ oder, allgemeiner gesprochen, ohne sozialstaatliche Intervention, den Status positivus, nicht verwirklicht werden könne. Integriert man jetzt noch die Erfahrungen des 2. Weltkriegs und der zunehmenden Vernetzung aller Nationen und Wirtschaftssysteme der Welt, kann sich die egalitär-liberale Theorie von der bislang vorherrschenden Thematisierung nationalstaatlicher Binnenverhältnisse lösen und einen Status universalis der politischen Theorie und der Politik mit effektiver Berücksichtigung der Basisinteressen aller Menschen einfordern. Wenn wir uns nach dieser überschlägigen geschichtlichen Rekonstruktion der wichtigsten Entwicklungsschritte des modernen Staates überlegen, auf welche Art und Weise wir die Legitimität unseres Grundgesetzes (wie jedes anderen modernen politischen Gemeinwesens) beurteilen könnten, dann setzt ein solcher Beurteilungsschritt jedenfalls eine gewisse Abstrahierung von der gegebenen Staatsorganisation und deren positiver Rechtsordnung voraus. Aber wie soll man diesen abstrakteren Status bestimmen, von dem aus beurteilt wird? Ein prominenter Weg liberaler politischer Theorie führt über die gedankliche Konstruktion eines Gesellschafts- oder Staatsgründungsvertrags zur Beurteilung real existierender oder zum Entwurf neuer Verfassungen. Dieses ,konstruktivistische‘ Modell hat bei uns eine lange Tradition, die von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant bis zu John Rawls41 40

Vgl. G. Jellinek, Die Entstehung der modernen Staatsidee, in: Ausgewählte Schriften und Reden, Band 2, 1911, S. 45 ff., 61 ff.; E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2. Auflage 1992, S. 92 ff., 143 ff., 209 ff.; D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 53 ff.; C. Larmore, Politischer Liberalismus, in: Honneth (Fn. 29), S. 131 ff., 149. 41 Ich sehe hier von weiteren prominenten modernen Vertretern dieses Theorietyps wie etwa J. Buchanan und D. Gauthier ab. Eine gute Übersicht über die wichtigsten Stationen dieses

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reicht. John Rawls’ ,Theorie der Gerechtigkeit‘, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll, ist von vielen im Kern wie folgt gelesen und verstanden worden42 : Die staatlichen Legitimationsprinzipien müssen so geartet sein, dass ihnen alle Bürger zustimmen können. Da eine solche Zustimmung nie von allen zu erhalten ist, werden die Bürger in einem Zustand vorgestellt, in dem sie ihre konkrete Situiertheit in der Gesellschaft nicht kennen. Alle Besonderheiten außerhalb unseres Wissens über allgemeine Merkmale von Menschsein sind so ,neutralisiert‘; das sichert die faire Findung der Prinzipien legitimer Staatsorganisation, denn ansonsten würden die Menschen ihr Wissen um ihre konkrete Stellung in der Gesellschaft zu einseitigen, willkürlichen Festlegungen benutzen. Gleichzeitig werden diese Menschen alle ,frei‘ vorgestellt, nämlich als frei von konkreten persönlichen, gesellschaftlichen oder staatlichen Bindungen. Sie sind auch ,gleich‘, weil ihre Besonderheiten nicht zählen oder nicht bekannt sind; ein jeder und eine jede von ihnen ist ein anonymer ,allgemeiner Mensch‘, keine Persönlichkeit mit konkreten Loyalitäten und Bindungen. Wird in einer solchen Situation über die Prinzipien beraten, die konkrete Staatsverfassungen beachten müssen, um legitim zu sein, so bietet es sich an, größtmögliche Freiheit aller Bürger über grundrechtliche Abwehrrechte gegen die Staatsmacht zu garantieren. Da wir in dieser Situation nicht wissen, wie unsere gesellschaftliche Lage ist, würden alle auch für ein effektives soziales Sicherungsnetz eintreten, also soziale Rechte auf Basisgüter eines erfüllten Lebens verbürgen. Für diese Lösung wird angeführt, dass die Vorteile etwa natürlicher Art, die jemand aufgrund der ,Lebenslotterien‘ in der Gesellschaft hat (man denke an Gesundheit, Schönheit, Intelligenz)43, willkürlich sind; es spricht also nichts gegen eine starke Umverteilung zugunsten der weniger Begünstigten; mehr oder weniger Vergleichbares muss zwischen armen und reichen Staaten gelten. Neutralität des Staates in Lebensführungsfragen sollte in diesem Legitimationsvertrag auch enthalten sein, da wir nicht wissen, ob wir im wirklichen Leben der Mehrheitsreligion angehören oder Mitglieder einer unliebsamen Minderheit sind – nur über weitreichende Gleichheitsrechte bzw. Diskriminierungsverbote können wir uns gegen mit jedwedem Minderheitsstatus verbundene Unterdrückungsgefahren wappnen. Jeder kühle Rechner kann solche Überlegungen anstellen, es bedarf nicht besonderer moralischer Theorietyps bis hin zu John Rawls bietet H. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftsvertragstheorien, 1990. 42 Es geht hier nicht um die Frage, ob die ,Theorie der Gerechtigkeit‘ in dem folgenden Sinn verstanden werden muss; darüber lässt sich trefflich streiten und ist über 25 Jahre heftig gestritten worden. Zumindest stellt die obige Zusammenfassung die Lesart vieler kommunitaristischer Kritiker dar. 43 Die Lebenslotterien beziehen sich aber auch noch auf andere Ebenen: die familiäre Lotterie (Aufwachsen in einer der Entwicklung des Kindes förderlichen oder nicht förderlichen Familie), die Schichtenlotterie (Aufwachsen in der Ober-, Mittel-, Unterschicht), die kulturellhistorische Lotterie (Aufwachsen in einer friedlichen oder kriegerischen Zeit, in einer Gesellschaft, die mitgebrachte Talente belohnt oder verschmäht etc.). In einem weiten Sinn zählen zu den Lebenslotterien alle Merkmale von Personen, die eine Gesellschaft entweder positiv oder negativ bewertet.

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oder altruistischer Motive; rationale Überlegung und Kosten-Nutzen-Abwägung hinter dem ,Schleier des Nichtwissens‘ um unsere konkrete Lage reichen aus.

2. Die kommunitaristische Sicht Es ist leicht zu sehen, warum die kommunitaristischen Kritiker Rawls einen übertriebenen Rationalismus, Individualismus und Konstruktivismus, ein verengtes Personverständnis und einen überzogenen Universalismus vorgeworfen haben; auch gegen den stark egalitären Zug seiner Theorie lassen sich Einwände formulieren. a) Was die Menschen und ihr Verhältnis zu Gemeinschaften angeht, so scheint die Freiheit der Menschen vor allem die negative ,Freiheit von‘ Bindung zu sein; Vergemeinschaftung ist vor allem ein Akt der individuellen Wahl, und die Lebensformen rücken in die Nähe der instrumentellen Befriedigung individueller Präferenzen. Das, monieren die Kommunitaristen, verzerrt die wirkliche Bedeutung der Vergemeinschaftung. Menschen sind immer schon vergemeinschaftet. Menschen werden in Familien, Weltanschauungsgemeinschaften, Staaten (jeweils ohne Zustimmung!) hineingeboren und in diesen (jedenfalls zeitenweise ohne Zustimmung!) erzogen. Die individuellen Identitäten und Lebensentwürfe werden erheblich durch kulturell vorentworfene Lebensformen und deren Ideale geprägt44 ; von daher muss man zwischen etwas schlicht ,wollen‘ und etwas ,hochschätzen‘ differenzieren; der bloße Präferenzgedanke führt nicht zu einem angemessenen Verständnis von Individualoder Gemeinwohl.45 Ferner verfehlt die Rede von dem ,self‘, das ,prior to its ends‘ sei, die Wirklichkeit menschlicher Erfahrung; konstitutive Gemeinschaften prägen die Individuen so stark, dass deren ,ends prior to their selves‘ sind.46 In der ,konservativen‘ Variante des Kommunitarismus wird die Vorgegebenheit verbindlicher Rollen samt den einschlägigen Rollenverständnissen betont sowie Freiheit vor allem als ,Freiheit zur‘ Bejahung und Einübung einschlägiger Rollen verstanden.47 In der ,liberalen‘ Variante des Kommunitarismus wird deutlicher hervorgehoben, dass es eine Vielzahl von Gruppierungen und Gemeinschaften gibt, die von der Gelegen-

44 Vgl. Selznick (Fn. 16), S. 447: „First is the concept of a social self … In the beginning is society, not the individual“; T. Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 1990, S. 62 ff., 71 ff. u. ö. zur ,Primärwelt‘. 45 Zu der Unterscheidung von ,desiring‘ und ,valuing‘ siehe T. Pinkard, Democratic Liberalism and Social Union, 1987, S. 8 ff. 46 Vgl. Sandel, Liberalism (Fn. 29), S. 15 ff., 50 ff., 54. 47 Vgl. als Beispiel den oben Fn. 4 zitierten Art. 131 Abs. 4 der bayerischen Verfassung. Da nach meinem Verständnis des ,konservativen Kommunitarismus‘ Abwehrrechte und Gleichheitsrechte gegen staatliche Bevormundung und Diskriminierung zumindest gegen starke Eingriffe mitgedacht werden müssen, dürften Mädchen im Rahmen der Schulpflicht zwar zu Unterricht in Säuglingspflege etc. gezwungen werden; unzulässig wäre aber auch nach dieser Variante des Kommunitarismus Zwang zur Übernahme der Mutter- und Hausfrauenrolle im wirklichen Leben.

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heitsvergesellschaftung bis zum perennierenden Gebilde48 reichen; demgemäß können die Gruppierungen instrumentell bis konstitutiv für das Selbstverständnis des Individuums sein. Ferner bleibt das Element der freien Wahl in allen Gemeinschaften bedeutsam: in der Option des Eintritts oder zumindest des Austritts sowie oft auch in der Möglichkeit des Eintretens für Veränderung im Innenbereich. Vergemeinschaftung ist also nach der liberal-kommunitären Sicht nicht mit Unterwerfung oder Kollektivierung zu identifizieren; solche Erscheinungen sind keine ,Erfüllungsgestalten‘49 von Gemeinschaft, sondern deren Verfehlung. Erfüllend wirkt Gemeinschaft, wenn die Integrität der Personen in ihnen geachtet wird und wenn Individualität und Gemeinschaftsbindungen gefördert werden.50 Nimmt man Rawls’ Position ein, dann kann man durchaus entgegnen, dass das Absehen von den konkreten Bindungen der Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht unbedingt mit der ,kalten‘ Freiheit der Unabhängigkeit, einem starken Individualismus und einer instrumentellen Auffassung von Gemeinschaft verbunden ist. Aber es ist kaum zu bestreiten, dass die Konstruktion des ,allgemeinen Menschen‘ hinter dem Schleier des Nichtwissens die konkreten Bindungen und deren variierende Bedeutung für erfülltes Menschsein nicht thematisiert, sondern eben explizit ausblendet. Ferner führt das Abstellen auf das rational kalkulierende Individuum im Urzustand von dem komplexen Bild der Freiheit zu und in Gemeinschaften eher weg und trübt so den Blick auf konkrete Ideale gelungener Lebensführung im Invididual- wie Kollektivbereich.51 Die ,Theorie der Gerechtigkeit‘ 48 Ein Ausdruck von Max Weber, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. 1973, S. 451. Weitere Nachweise zur Soziologie der Gemeinschaftsformen und zu begrifflichen Differenzierungen bei W. Brugger, Radikaler und geläuterter Pluralismus, Der Staat 29 (1990), S. 497, 505 f.; Feinberg (Fn. 17), S. 101 ff.; P. Selznick, The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community, 1992, S. 357 ff.; Höffe (Fn. 37), S. 168 ff. 49 Zum Begriff ,master ideal‘ und ,Erfüllungsgestalt‘ siehe P. Selznick, Sociology and Natural Law, Natural Law Forum 6 (1961), S. 84 ff.; Rentsch (Fn. 44), S. 106, 113, 176, 184, 192, 243. 50 Vgl. Selznick (Fn. 16), S. 447 f.: „the social self is not necessarily a subordinate or heteronomous self. The self is a social product, but that product is a unique person.“ „It is a viable but precarious outcome of social interaction – which may enhance or distort communication, enlarge or cramp perspectives. Moral competence therefore depends on the nature and quality of social participation“; Mulhall/Swift (Fn. 19), S. 254, 260 ff. Die gleiche Zielrichtung hat das BVerfG, wenn es das Menschenbild des Grundgesetzes beschreibt. Vgl. etwa die repräsentative Formulierung in BVerfGE 4, 7, 15 f.: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“ Diese Formel wiederum habe ich ganz im Sinne des „liberalen Kommunitarismus“ versucht zu systematisieren, etwa in: Das Menschenbild der Menschenrechte, Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), S. 121 ff. 51 Utilitaristische oder Präferenztheorien, die sich dieser Problematik bewusst sind und die Probleme bereinigen wollen, tun dies, indem sie den kruden Präferenzgesichtspunkt durch ideale oder evolutionäre Gesichtspunkte läutern oder relativieren. So rekurriert etwa J. St. Mill in seiner Programmschrift „Der Utilitarismus“ (1861), 1976, S. 14 f. nicht nur auf faktische Präferenzen, sondern auf „höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste“; demgemäß könne

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hat also in der Tat einen deutlichen Einschlag von Rationalismus und Invidualismus und baut auf einem angreifbaren Konstruktivismus52 auf. b) Soziale Gerechtigkeit und Verantwortung füreinander: Vielleicht hat Rawls’ Konstruktivismus den Vorteil, dass durch den Schleier des Nichtwissens im innerstaatlichen Staatsgründungsakt und im zwischenstaatlichen Verkehr die sozialstaatliche Verantwortung füreinander den rechten Ort zugewiesen bekommt. Effektive Umverteilung und Bereitstellung von Grundgütern für alle Armen und Schwachen unter Achtung der Freiheitsrechte sind Postulate, die aus Sicht von Rawls allgemein zustimmungsfähige Prinzipien für alle rationalen Individuen darstellen, denn sie dienen zur Verminderung des Risikos, dass man zur Gruppe der Armen und Schwachen zählt, und zur Behebung der Willkür der Ausstattung der Individuen und Nationen mit im gesellschaftlichen Verkehr privilegierten Eigenschaften oder Reichtümern. Sicher werden viele ,rationale Individuen‘ dies hinter dem Schleier des Nichtwissens so sehen, doch bei weitem nicht alle: Warum nicht das Risiko auf sich nehmen, dass man zu den Armen und Schwachen zählt, und darauf hoffen, dass man es gut getroffen hat im Leben? Eine solche Haltung wäre nicht a priori ,irrational‘, sondern vielleicht nur für Menschen mit ausgeprägter Versicherungsmentalität. Von der risikoreicheren Haltung aus bräuchte man keinen oder doch höchstens einen minimalen Sozialstaat. Auch über die ,Willkürlichkeit‘ der in der Lebenslotterie verteilten Privilegien wie etwa Gesundheit, Schönheit, Intelligenz lässt sich streiten – Konsens beim fiktiven Legitimationsvertrag hinter dem Schleier des Nichtwissens ist jedenfalls nicht zu erwarten. Nicht alles, was man nicht ,verdient‘ hat, ist deshalb schon ,willkürlich‘ und damit auszugleichen. Eher ist es ,zufällig‘, wie man in den Lebenslotterien abschneidet, was für eine gewisse, aber doch nicht zu substantielle Umverteilung der Früchte der Arbeit spricht. Und selbst wenn man Glück gehabt hat in der ursprünglichen Ausstattungslotterie, kann immer noch viel schiefgehen.53 Ferner: Sollte man nicht aus Gründen der Gerechtigkeit von vornherein auch einen Blick darauf werfen, warum manche es zu etwas bringen und manche andere nicht, obwohl keine utilitaristische Ableitung „angemessen sein, die nicht viele stoische und christliche Elemente einbezieht“; R.W. Trapp baut grundlegende Gerechtigkeitsüberzeugungen in seinen „Gerechtigkeitsutilitarismus“ ein: Nicht-klassischer Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1988, etwa S. 14 ff. 52 Kritisiert werden hier gewisse Überziehungen und Einseitigkeiten der Konstruktion des Verfassungsvertrags hinter dem ,Schleier des Nichtwissens‘, nicht dagegen das Darstellungsmittel ,Gesellschaftsvertrag‘ generell, denn eine jede normative Moraltheorie und Legitimitätslehre muss bis zu einem gewissen Grad vom Gegebenen – den abfragbaren Präferenzen oder dem bloßen Blick auf das positive Recht – abstrahieren und einen Beurteilungsstandpunkt entwerfen: ,konstruieren‘. Das gilt auch für den Kommunitarismus, der dazu allerdings, wie hier dargelegt, einen anderen Weg wählt als die Gesellschaftsvertragstheorien im Allgemeinen und der ,konstruktivistische‘ Rawls im Besonderen. 53 Vgl. W. Brugger, Für Schutz der Flüchtlinge – gegen das Grundrecht auf Asyl!, JZ 1993, S. 119 ff.; Sandel (Fn. 29), S. 66 ff.

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die ,Ausstattung‘ ähnlich war? All diese Aspekte, so kann man mit Fug und Recht behaupten, gehören in eine ,Theorie der Gerechtigkeit‘ mit hinein und könnten das Postulat der effizienten Umverteilung aufgrund der Willkürlichkeit der Lebenslotterien relativieren. Das gilt schließlich auch für die ,Willkürlichkeit‘ der Unterschiede zwischen armen und reichen Staaten.54 Diese Unterschiede gründen sicherlich in zum Teil ,nicht verdienten‘ Umständen (wie zum Beispiel in dem Besitz oder Fehlen von wertvollen Bodenschätzen oder in klimatischen Umständen); doch gilt auch hier, dass ,nicht verdient‘ nicht umstandslos und kategorisch mit ,willkürlich‘ gleichzusetzen ist. Ferner muss es zumindest auch darauf ankommen, was arme und reiche (sowie weitergedacht: repressive und freiheitliche) Nationen aus ihrer Lage gemacht oder nicht gemacht haben.55 Kommunitaristische Theoretiker gestehen gerne zu, dass Postulate sozialer Gerechtigkeit inner- und zwischenstaatlich auf Bindungen zurückgreifen müssen, die jenseits des egoistischen Interesses einzelner Individuen, Gruppen oder Staaten liegen; insoweit muss in der Tat jedes soziale Engagement vom reinen Eigen- oder Binneninteresse abstrahieren und ein allgemeines, moralisches Interesse verdeutlichen. Darin liegt noch kein bedenklicher Konstruktivismus. Die Frage ist, ob man alle Besonderheiten der Personen, Gruppen und Staaten und deren persönliche und kollektive Entwicklungen bei Legitimationsüberlegungen außer Acht lassen sollte, um dieses allgemeine Interesse zu formulieren. Rawls ist dieser Ansicht und hofft anscheinend, alle vernünftig denkenden Personen von seiner Sicht der Dinge überzeugen zu können. Doch ist das, wie gesehen, nicht der Fall. Konsens ist so nicht zu erreichen, und seine Konstruktion des Nichtwissens ist auf einen egalitären und universalistischen Liberalismus als Legitimationskriterium aller erst in einem zweiten Schritt und sekundär zu berücksichtigenden persönlichen und geschichtlichen Besonderheiten zugeschnitten.56 Was könnte ein Kommunitarier zur sozialen Verantwortung und zur Sozialstaatsproblematik sagen? Er würde vom Konkreten zum Abstrakteren hin argumentieren, also nicht vom fiktiven ,allgemeinen Menschen‘ oder ,allgemeinen Staat‘ ohne Eigenschaften ausgehen wollen, sondern von den konkreten Persönlichkeiten und deren Gemeinschaften – angefangen von Familien über gesellschaftliche Vereinigungen (etwa Religionsgemeinschaften, berufliche Assoziationen usw.) bis hin zum Staat und zu supranationalen Organisationen, und auf deren jeweilige Verant54 Vgl. W. Brugger, Menschenrechte von Flüchtlingen in universalistischer und kommunitaristischer Sicht, ARSP 80 (1994), S. 318 ff. 55 Armut kann behoben, Reichtum kann verprasst werden – individuell wie kollektiv. Repression kann friedlich oder revolutionär aufgehoben, Freiheit kann verspielt werden. Das sind Gesichtspunkte, die in Diskussionen über gerechte Verteilung relevant sind! 56 Wobei man die Inhalte von der Argumentationsmethode unterscheiden muss. Man kann, wie das viele Kommunitarier tun, für den Sozialstaat und auch für starke Umverteilung eintreten, aber mit anderen Argumenten, und mit klarem Verständnis und offenen Worten dafür, dass die einschlägigen Argumente nicht für jeden rationalen Menschen zwingend sind.

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wortlichkeiten reflektieren. In jedem dieser Bereiche lassen sich konkrete gegenseitige Verantwortlichkeiten aufweisen, die in Organisationsstrukturen und institutionellen und persönlichen Idealen (natürlich unterschiedlicher Dichte) verdichtet, wenngleich nicht ein für allemal festgeschrieben sind. Alle Gemeinschaften – von der kontraktuellen Gelegenheitsvergesellschaftung bis zu den perennierenden Gebilden – tragen kulturell geprägte ,Erfüllungsgestalten‘ in sich, die weder ,vom Himmel gekommen‘ noch von situativen Präferenzen einzelner abhängig sind. Die Erfüllungsgestalten sind durch Tradition und Kultur geprägt, aber auch für Revision im Lichte neuer Erkenntnis und Bewertung offen. Auf jeden Fall bilden sie den internen Anknüpfungspunkt für die Bestimmung konkreter sozialer Verantwortlichkeiten, etwa von Eltern, Berufskollegen, Glaubensbrüdern, Rechtsstaaten.57 Diese partikular geprägten Vorbilder sozialen Engagements tragen oft ein moralisches Verallgemeinerungspotential58 in sich: (1) In vielen Gemeinschaften insbesondere im Nahbereich der Ethik lernt man schon ,andere‘ kennen und in den eigenen Verantwortungsbereich mit einzubeziehen – ,Männer‘ lernen ,Frauen‘ kennen und lieben, und umgekehrt; als ,Eltern‘ kümmern sie sich um ,Kinder‘. Im weiteren Umkreis steht die Sorge für die ,Verwandtschaft‘, aber auch das Sichkümmern um ,Freunde‘. (2) Die meisten Menschen leben in unterschiedlichen Gemeinschaften und treffen in jeder Gemeinschaft auf ,andere‘ Gruppenangehörige, mit denen sie spezielle Bande entwickeln; Mehrfachmitgliedschaften in Gruppen können Konflikte in einzelnen Bereichen lösen helfen. (3) Viele Gemeinschaften greifen über enge regionale oder nationale Grenzen hinaus – man denke an Religionen oder Berufsgruppen wie etwa die ,internationale Arbeiterbewegung‘ oder die weithin universelle Gemeinschaft im Wissenschaftsbereich. (4) Viele ,unpersönliche‘ Beziehungen, etwa im Geschäftsbereich, führen dazu, dass kooperatives Handeln allen Beteiligten zugute kommt und zu einer Perspektivenerweiterung und Zivilisierung sowie Stabilisierung der Kontakte führt. (5) Weil alle Menschen bestimmte Grundbedürfnisse wie etwa nach Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Anerkennung etc. teilen, können wir Entbehrungen, die andere in dieser Hinsicht er57

Es steht in dieser Art von Reflexion also nicht das Moment der Freiwilligkeit der Übernahme von Verantwortung oder die Berufung auf subjektive Rechte im Vordergrund, sondern das angemessene Verständnis der jeweiligen Gemeinschaft und der mit dieser einhergehenden Verpflichtungen, die eben oft nicht freiwillig übernommen sind, sondern in die man hineingeboren wurde oder die einem von anderen zugeschrieben werden. Man denke etwa an kollektive Verantwortlichkeiten als Deutscher für die Nazizeit oder als US-Amerikaner für die Sklaverei. ,Freiwilligkeit‘, ,Konsens‘ äußert sich in solchen Situationen oft nur durch den Akt der Distanzierung, etwa durch die Austritts-Option. Zur Überbetonung des Moments der Freiwilligkeit und der freien Wahl für gegenseitige Verantwortlichkeit im Liberalismus siehe Selznick (Fn. 16), S. 451 f. 58 Das Potential einer Erfüllungsgestalt wird natürlich nicht immer erreicht, sondern manchmal auch verfehlt. Das ist Teil menschlicher Praxis, spricht aber nicht gegen die Bedeutung von jeweiligen ,master ideals‘ für bestimmte Lebensformen. In diesem Sinne sind z. B. hohe Scheidungsraten kein untrügliches Indiz dafür, dass die Institution Ehe gescheitert ist. Vielmehr geben hohe Scheidungsraten Anlass zu der Frage, ob die Erfüllungsgestalt Ehe richtig gedeutet wird.

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leiden, nachvollziehen und in unsere moralische Erfahrung integrieren. (6) Nationalstaaten wie Volkswirtschaften treten notwendigerweise miteinander in Verkehr und müssen sich auf das Faktum einstellen, dass sie alle eine gemeinsame Welt bevölkern und gegenseitig aufeinander Einfluss nehmen. Selbst diese verkürzende Darstellung macht schon den Kontrast zum Vorgehen von Rawls deutlich: Hier wird ,von innen nach außen‘ gefühlt und gedacht, empfunden und argumentiert59, während dort eher ,von außen nach innen‘, von der externen Warte des allgemeinen Menschseins hin zu den besonderen Formen, verfahren wird.60 Hier bemühen wir uns darum, möglichst viel über unsere partikulare Moral zu erfahren und sie im besten Sinn zu verstehen, dort versuchen wir, hinter dem Schleier des Nichtwissens konkrete Situiertheiten und Loyalitäten zu vergessen. Warum vergessen? Weil Rawls die Partikularität der Menschen und die überkommene Moral jedenfalls für die Beantwortung von Legitimationsfragen verdächtig sind. Er sieht sie dem starken Verdacht ausgesetzt, vom individuellen und kollektiven Egoismus beeinflusst zu sein, was man auf der einen Seite nicht generell ausschließen kann, aber auf der anderen Seite auch nicht a priori annehmen sollte. Der kommunitaristische Standpunkt hat noch eine weitere Charakteristik: Da er von unterschiedlichen Lebensformen ausgeht, in denen spezifische Verantwortlichkeiten verankert sind, die vom Nahhorizont der Ethik (Beispiel: Familie) über den mittleren Horizont (sonstige spezielle Verantwortlichkeiten, etwa im Beruf, in der Religionsgemeinschaft, im Nationalstaat) bis zum Fernhorizont der Ethik (was alle Menschen sich gegenseitig als Menschen und im Staatenverkehr schulden) reichen, wird er immer schon von einer Stufen- oder Sphärentheorie der gegenseitigen Verantwortlichkeit geleitet.61 Soziale Gerechtigkeit ist nach dieser Sicht die angemessene Stufung der vielen Verantwortlichkeiten, ohne dass von vornherein eine Priorität nach innen (konservativer Kommunitarismus) oder nach außen, in Richtung allgemeine Menschheitsverantwortlichkeit (universalistischer, egalitärer Kommunitarismus) vorgegeben wäre. 59 Vgl. Mulhall/Swift (Fn. 19), S. 102 ff., 129; Walzer (Fn. 26), S. 61 ff., oben Fn. 49 und unten Fn. 64. 60 Vgl. M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn, 1993, Kap. I, der den Rawls’schen Konstruktivismus als ,Pfad der Erfindung‘ bezeichnet, während er selbst den kommunitaristischen ,Pfad der Interpretation‘ in der Moraltheorie bevorzugt (daneben gibt es noch den ,Pfad der Entdeckung‘, etwa in den Offenbarungsreligionen): „Alle unsere moralischen Kategorien, Beziehungen, Verpflichtungen und Hoffnungen sind bereits von dieser existierenden Moral geformt und werden in ihrem Vokabular formuliert. Die Pfade der Entdeckung und Erfindung sind Fluchtversuche: Versuche, zu irgendeinem äußeren und allgemeingültigen Standard zu finden, mittels dessen die moralische Existenz zu beurteilen wäre. Diese Anstrengung … ist … unnötig. Die Kritik des Bestehenden beginnt – oder kann doch beginnen – mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen“ (a.a.O., S. 31). 61 Vgl. Selznick (Fn. 16), S. 450 f.; Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik (Fn. 29), S. 29; ders., Democracy’s Discontent (Fn. 29), S. 16 f., 342 ff.; Walzer (Fn. 60), S. 17; ders. (Fn. 26), S. 42 ff., 154, 160 mit Fn. 26, 164 ff.; Brugger (Fn. 54), S. 326 ff. anhand des Michael Walzers Buch ,Sphären der Gerechtigkeit‘ entlehnten Flüchtlingsbeispiels.

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Schließlich erlaubt und erfordert der Kommunitarismus in Diskussionen über soziale Gerechtigkeit nicht nur Querschnittsanalysen existierender Gemeinschaftsformen, sondern auch historische Längsschnittsanalysen. Damit sind Fragen danach gemeint, warum denn bestimmte Personen, Gruppen und Nationen es zu etwas gebracht haben, andere nicht. Solche Punkte in Gerechtigkeitsdiskussionen zunächst einmal auszublenden hinter einem Schleier des Nichtwissens hält der Kommunitarismus für irrational und ungerecht. Das heißt nicht, dass man einen mittellosen Menschen, der ,selbst dran schuld ist‘, sterben lässt, oder dass man einem Bürgerkriegsland, das es in Jahrzehnten nicht geschafft hat, eine lebens- und freiheitsverträgliche Ordnung zu schaffen, jede Hilfe verweigert. Aber es impliziert, dass die staatliche Grundordnung in ihren einschlägigen Bestimmungen hier Differenzierungen bei der eigenen Opferbereitschaft erlauben muss. Differenzierungen müssen auch bei allen Personen nützlichen Grundgütern wie Einkommen und Vermögen möglich sein; Ungleichheiten in der Verteilung von solchen Grundgütern lassen sich nicht nur dann rechtfertigen, wenn sie jedermann Nutzen bringen, sondern auch, wenn sie Ausdruck des zurechenbaren besseren oder schlechteren Fertigwerdens mit den Widrigkeiten des Lebens sind.62 c) Hier wird auch der Unterschied in den Begriffen der Moral zwischen dem konstruktivistischen Universalismus und dem Kommunitarismus deutlich. Der Rawls’sche Universalismus geht von ,allgemeinen Menschen‘ aus, die nur durch ,allgemeine‘ Eigenschaften wie etwa Rationalität und einem generellen Sinn für Gerechtigkeit gekennzeichnet sind. Konkrete Loyalitäten und Positionierungen mit entsprechenden Verhältnisbestimmungen moralischer Verpflichtungen kommen in diesem Stadium der Reflexion nicht vor. So wird Moral entkontextualisiert, entsubjektiviert und ahistorisch gedacht: Einziger Bezugspunkt moralischer Reflexion ist der freie und gleiche Mensch, sind alle Menschen als rationale Wesen, die Lebenspläne formen, allerdings mit dem Risiko, diese nicht verwirklichen zu können, weil man es in den Lebenslotterien ,schlecht getroffen‘ hat, was in der Folge dann zur starken Sozialstaatlichkeit als Risikominderungsinstrument führt. Deutlich sind bei Rawls die starke Zurückhaltung gegenüber der internen Perspektive der Konventionalmoral und die Betonung der kritischen, externen Universalmoral. Die kommunitaristische Moral ist dagegen zunächst eine aus dem konkreten Individual- und Gemeinleben entwickelte Konventionalmoral. Über die angesprochenen Verallgemeinerungsschienen ist aber eine Berücksichtigung der Interessen anderer Menschen und Gruppen bis hin zu allgemeinen Menschheitsinteressen und damit zur Universalmoral möglich, ja sogar bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich, was man von Appellen an den homo oeconomicus hinter dem Schleier des 62 Das würde negativ zum Beispiel den Faulpelz treffen, der arbeiten könnte, aber nicht arbeiten will. Nach Rawls’ Gerechtigkeitsauffassung wäre das womöglich – je nach Interpretation des folgenden Satzes – ausgeschlossen: „Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht“: Theorie der Gerechtigkeit, 1979 (Fn. 27), S. 83.

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Nichtwissens nicht sagen kann.63 Angezielt ist also eine gegenseitige Befruchtung von Konventional- und kritischer Moral, von Partikular- und Universalethik.64 Der ,konservative Kommunitarismus‘ lässt sich dadurch kennzeichnen, dass er Verallgemeinerungsschritte nur marginal und zögernd macht, während der ,liberale Kommunitarismus‘ hier offener ist. Er ist aber immer bemüht, den Anschluss an die Konventionalmoral zu halten, d. h. deutlich zu machen, warum und inwieweit diese Ausweitung schon integraler Teil der Erfüllungsgestalten unserer überkommenen Moral ist65; ferner behält er die einschlägigen Sphären und Stufen moralischer Verantwortlichkeit im Blick. In egalitär-universalistischen Moraltheorien aller Art geraten genau diese beiden Punkte tendenziell ins Abseits. Die Anbindung an die konkrete, überkommene Moral hat den zusätzlichen Vorteil, dass in einer solchen Theorie das principium dijudicationis, die Bestimmung des Umfangs konkreter Verbindlichkeiten, und das principium executionis, die Motivation zur Erfüllung der konkreten Pflichten, eng verbunden bleiben. Eine Moraltheorie tut gut daran, diese Verknüpfung nicht aufzulösen; nur durch gegenseitige Befruchtung der beiden Aspekte kommt eine ,vollständige Moraltheorie‘66 zustande. Ohne deutliche Anknüpfung an die Konventionalmoral, d. h. an Praktiken, Einstellungen, Gewohnheiten, Loyalitäten, die moralische Pflichten verdichten, bleiben moralische Postulate leer, beliebig, utopisch und auch leicht ideologisch ausbeutbar.67 Man übersieht etwas Wesentliches, wenn man die Befolgung morali63 Selznick (Fn. 16), S. 446, macht darauf aufmerksam, dass das Rawls’sche Differenzprinzip, das Ausdruck der starken Umverteilung in Richtung Arme und Schwache ist, im Rahmen unserer Tradition wirkungsmächtig und identitätsbildend von jüdisch-christlichem Gedankengut geprägt ist: „This principle strongly echoes the Judeo-Christian association of righteousness with concern for the poor and powerless, for ,the least of my brethren‘. But the premises are different. The difference principle is founded in rationality and reciprocal advantage, not in sympathy and benevolence … This way of thinking faithfully reflects the troubled ethos of welfare liberalism.“ Vgl. auch Sandel (Fn. 61). 64 Vgl. hierzu Selznick (Fn. 48), Kap. 14 mit der Unterscheidung von ,piety‘ und ,civility‘. In der Sache (wenngleich in der Terminologie nicht) ähnlich und anhand des Beispiels europäische Einigung: M. Karlsson, Preface, und A. Ingram, The Empire Strikes Back: Liberal Solidarity in a Europe des Patries, beide in: Recht, Gerechtigkeit und der Staat (Rechtstheorie, Beiheft 15), 1993, S. V ff., 7 ff. 65 Vgl. Walzer (Fn. 60); Selznick (Fn. 48), S. 393: „Properly understood, critical morality is (1) informed by historical and comparative study of moral experience; (2) anchored in the ethos of a particular culture; (3) responsive to the demand for justification; (4) enriched by dialogue; and (5) refined by a reasoned elaboration of concepts and principles.“ 66 Hierzu W. Kersting, Verfassung und kommunitäre Demokratie, in: Frankenberg (Fn. 33), S. 84 ff., der, wie der hier vertretene liberale Kommunitarismus, auf eine Synthese der beiden Ansätze abzielt. 67 Vgl. Selznick (Fn. 48), S. 395: „Critical morality … cannot be free-floating and selfcontained. The attempt to judge without preconceptions, in a spirit of wholesale rejection, leads to sterility and irrelevance or to the arbitrary imposition of unworkable ideas.“ Umgekehrt ist auch die Gefahr des Absolutsetzens der Partikularmoral zu sehen: Engstirnigkeit, Abschottung, Ausgrenzung, Freund-Feind-Denken. Vgl. a.a.O., S. 390, 392 f.; Brugger (Fn. 54), S. 333 Fn. 73.

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus

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scher Gebote lediglich als psychologisches Problem abtut, das man mit der richtigen Pädagogik lösen könne. Die Befolgungsbereitschaft weist indirekt auch auf die angesprochene Stufung hin, ist also Teil der Dijudikation, wenngleich mit ihr nicht identisch. Für ,allgemeine Menschen‘, die alle gleich frei sind und nichts Konkretes wissen, scheint es kein Moralbefolgungsproblem zu geben; in der Konstruktion von Rawls ist dieses immer noch klärungsbedürftig. Sicher genügt kein rationales Kalkül, denn dieses ist streitig und eine höchst prekäre Grundlage für moralisches Engagement.68 Zudem verbaut das Ausgehen in der moralischen Reflexion vom ,allgemeinen Menschen‘ den Blick auf die angemessene Stufung von sozialem Ausgleich und gegenseitiger Fürsorge zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften und tendiert zur einseitigen Bevorzugung des Fernhorizonts der Ethik.69 d) Es gibt allerdings neben dem ,konstruktivistischen‘ Rawls noch einen (wenn man so will) ,kommunitaristischen Rawls‘ in der ,Theorie der Gerechtigkeit‘, vor allem an den Stellen, wo das Verfahren des Überlegungsgleichgewichts beschrieben wird.70 Dieses besteht in dem Hin- und Hergleiten des Blickes und der moralischen Reflexion zwischen konkreten moralischen Intuitionen und Urteilen (etwa: Farbige oder Juden oder … dürfen nicht diskriminiert werden) und solchen übergreifenden Prinzipien, in denen diese konkreten Einschätzungen konsistent und kohärent thematisierbar und damit auch rechtfertigbar sind (also etwa: Alle Menschen sind unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Religion gleich zu behandeln). Die Interpretation der konkreten Urteile aus dem Blickwinkel der allgemeinen Prinzipien hat unvermeidlicherweise eine verallgemeinernde Dimension, weil jedenfalls bis zu einem gewissen Grad von den Besonderheiten der konkreten Ausgangsfälle abstrahiert werden muss. Wenn wir dieses Verfahren als Basis der Erarbeitung einer angemessenen Moraltheorie ansehen, dann stellt sich allerdings die Frage: Soll eine der beiden Perspektiven den Vorrang erhalten? Wer Moral von vornherein nur als für jeden Menschen in gleicher Weise gültige und einsehbare Moral versteht, für den bietet sich ein Vorrang und eine Universalisierung der Prinzipienebene an, denn dort ist es (allerdings nur in der Theorie) einfach, partikulare Vorverständnisse und Besonderheiten per Abstraktion verschwinden zu lassen (etwa hinter einem ,Schleier des Nichtwissens‘). Wer dagegen, wie der ,konservative Kommunitarismus‘, Moral primär durch konkrete Moralurteile und konventionelle Verständnisse bestimmt ansieht, für den steht Vorsicht gegenüber der Ausblendung des Besonderen und der Besonderheiten auf der Tagesordnung. Hält man dagegen, wie der ,liberale Kommunitarismus‘, die Balance offen, dann hängt es von Intuition und Reflexion, 68

Vgl. oben Fn. 63. Es ist kein Zufall, dass Kommunitaristen oft darauf hinweisen, dass universell-egalitär orientierte Liberale Schwierigkeiten haben, mit dem Phänomen des Patriotismus etwas anzufangen, der mit der Verbundenheit, Loyalität und Opferbereitschaft nur oder zumindest vorrangig für das eigene Vaterland (und nicht alle Länder) zu tun hat. Vgl. die einschlägigen Stellungnahmen in: Honneth (Fn. 29), S. 15, 69, 84 ff., 92 ff., 111 f., 116 ff., 121 ff., 199 f.; Kersting (Fn. 66), S. 93 ff.; Selznick (Fn. 48), S. 389 f. 70 Vgl. Rawls, Theorie (Fn. 27), S. 38 f., 68 ff. u. ö. 69

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Konvention und Kritik, Überzeugung und Dialog ab, ob und inwieweit Prinzipienbildung konkrete Moralurteile verallgemeinert oder aber konkrete Moralurteile abstrakte Prinzipien relativieren oder uminterpretieren. e) Praktische Rationalität im liberalen Kommunitarismus: Die vorangehenden Erläuterungen zum Moralverständnis im liberalen Kommunitarismus sind Spezifikationen der ihn leitenden Konzeption praktischer Rationalität:71 (1) Praktische Vernunft ist erfahrungsgeleitet, auf der Ebene individuellen Lebens wie gemeinschaftlicher Lebensformen. Da Erlebnisse, die zu normativen Beurteilungen von Personen, Situationen und Institutionen führen, immer konkret sind, muss Theorie auf diese Erlebnisse zurückbezogen bleiben. Sie braucht sie nicht ,abzubilden‘ (wenn dies überhaupt möglich wäre), sondern sollte sie in der Reflexion begrifflich und konzeptionell verarbeiten, affirmativ oder kritisch, sich aber immer bewusst bleiben, dass die kontingenten Erfahrungen das Primäre bleiben müssen – ansonsten besteht die Gefahr, dass Theorie utopisch, manipulativ und beliebig wird oder sich gegen neue Erfahrungen immunisiert.72 Das ,Sollen‘ praktischer Urteile muss also im und aus dem ,Sein‘ der Praxis entwickelbar sein.73 Vom ,Leben‘ führt die Schiene über ,Erleben‘ zu ,Erfahrung‘, zu ,Beurteilung‘ und ,Handlung‘ und letztlich zur ,Theorie praktischer Vernunft‘, wobei die Verbindung zwischen allen Elementen aufrechterhalten werden muss. Logische oder deduktive Folgerungen einmal gewählter Prämissen sind in dieser Sichtweise nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern zunächst einmal bloße Behauptungen ohne praktisch zwingende Konsequenzen. (2) Eine kritische Rolle wird der praktischen Vernunft damit nicht versagt, denn Reflexion auf Negativerfahrungen durch Formulierung von praktischen Maßstäben in Moral und Recht kommt oft in Krisenzeiten zustande, in der bisherige Verständnisse und Praktiken nicht mehr weiterführen, Kritik und Reform also angesagt

71 Praktische Rationalität, so wie sie hier verstanden wird, hat Affinitäten zum Kritischen Rationalismus, wie er von Karl Popper und Hans Albert entwickelt worden ist. So könnten etwa die bei Fn. 58 genannten Verallgemeinerungsschienen als ,Brückenprinzipien‘ im Albertschen Sinne rekonstruiert werden: Traktat über kritische Vernunft, 3. Auflage 1975, S. 76 f. Walzer (Fn. 60), S. 34 thematisiert die Moralentwicklung anhand der Kategorie „Versuch und Irrtum“. Noch mehr Impulse verdankt das hier entwickelte Rationalitätsverständnis allerdings Philip Selznicks Exposition in Kap. 2 von „The Moral Commonwealth“ (Fn. 48), die in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus steht. Zu beachten ist, dass man im Rahmen dieses methodischen Ansatzes inhaltlich, je nach Sachlage, durchaus auch konservative oder egalitäruniversalistische Positionen vertreten kann. 72 Vgl. schon oben Selznick (Fn. 67) und Rentsch (Fn. 44), S. 62 ff., 71 ff. u. ö. zur ,Primärwelt‘, ferner W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537, 569 f. 73 Damit wird nicht die logische Unterscheidbarkeit von Sein und Sollen bestritten, sondern nur darauf aufmerksam gemacht, dass in Erfüllungsgestalten praktischer Lebensvollzüge und Lebensformen beide Ebenen aufeinander verweisen. Vgl. Selznick (Fn. 49) und Rentsch (Fn. 44), S. 121.

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sind.74 Weiterhin gibt es Erfahrungen, die viele, vielleicht sogar alle Menschen machen und gleichsinnig beurteilen (etwa im Bereich der Grundbedürfnisse) oder die zwar nicht alle Menschen machen, aber trotzdem im gleichen Sinn beurteilen – man denke an ,exemplarische Unrechtserfahrungen‘, die zur Formulierung von Menschenrechtsforderungen und zur Unterstützung solcher Forderungen auch durch Nichtopfer führen.75 (3) Da Erleben, Erfahrungen-Gewinnen und Erfahrungsreflexion Grundbedingungen von Menschsein überhaupt sind, zählen für die praktische Vernunft die Erfahrungen aller Menschen, und da alle diese Menschen kommunikative Wesen sind, zählen Dialog, Bemühen um Konsens oder jedenfalls verträgliche Kompromisse ebenfalls zur praktischen Rationalität. Sie ist also demokratisch; die Stimme aller zählt gleich, es gibt kein Zwei-Klassen-Schema der Moralerkenntnis mit einer Abstufung von besonders Einsichtigen und bloßen Meinungsvertretern. Im Streit um soziale Gerechtigkeit kommt es nicht nur auf die Bedürfnisse derjenigen an, die etwas einfordern, sondern immer auch auf die Perspektive derjenigen, die etwas geben sollen.76 Genauso müssen bei politischen Entscheidungen die Mehrheits- wie die Minderheitsverständnisse berücksichtigt werden. (4) Dabei ist zu berücksichtigen, dass Vernunft neben der Wahl geeigneter Mittel für feststehende Zwecke auch Zweckreflexion umfasst. Im individuellen wie im kollektiven Leben bedarf es der Reflexion auf Ideale gelungener Lebensführung als Individuum und als Mitglied von Gemeinschaften, angefangen von familiären, beruflichen und weltanschaulichen Gemeinschaften bis hin zum Staat und zur Völkerrechtsgemeinschaft und deren leitenden Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsverständnissen. Praktische Rationalität heißt Wissen um die Komplexität der Charakterisierungen und Verbindungen von Mittel und Zweck; je nach Lage und Perspektive verschieben sich hier die Einschätzungen. Praktische Rationalität umfasst die Entwicklung von Erfüllungsgestalten, arbeitet also mit der Unterscheidung von Vorform oder Basiskonzept und Erfüllungsgestalt oder Vollform. Moralisch handeln etwa heißt zumindest, dass man andere nicht unnötig quält, aber ist damit auch die Pflicht umfasst, allen Bedürftigen zu helfen? Staat ist jedes politische Gemeinwesen, das effektiv die Hoheitsgewalt über ein Gebiet und ein Volk ausübt, aber Rechtsstaat 74 Da praktische Rationalität auf theoretischer Rationalität aufbaut, gehören zu ,Erfahrung‘ selbstverständlich auch Erkenntnisse über das Funktionieren der empirischen Welt, über Kausalitäten im engeren Sinn wie Voraussetzungen und absehbare Folgen beabsichtigter Maßnahmen. 75 Näher zur Struktur ,exemplarischer Unrechtserfahrungen‘ Brugger (Fn. 72), S. 562 ff.; Walzer (Fn. 26), S. 13 ff. 76 Das wird oft nicht deutlich gesagt, vor allem in Menschenrechtsdiskussionen, wenn es um soziale Rechte, Fürsorge, Asyl oder Zuwanderung geht. Da Menschenrechte aber auf rechtliche Verankerung abzielen, muss man neben dem meist unstreitigen ,Recht auf‘ diverse Güter immer auch den Adressaten dieser Verpflichtung, also das oft streitige ,Recht gegen‘ benennen, und die Interessen und Gerechtigkeitsvorstellungen der Verpflichteten mit einbeziehen. Hierzu W. Brugger, Stufen der Begründung von Menschenrechten, Der Staat 31 (1992), S. 19, 31 ff.; ders. (Fn. 54), S. 326 ff.

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meint mehr als das, und sozialer Rechtsstaat greift noch weiter. Die Erfüllungsgestalten sind kulturell vorgeprägt, aber nicht ein- für allemal in Stein gemeißelt. Sie können erreicht oder verfehlt werden; hieran können Affirmation und Kritik anschließen. Konsens soll angezielt werden, ist aber nicht immer zu erreichen. (5) Erfüllungsgestalten gibt es für alle Lebensformen, private, gesellschaftliche, staatliche, supranationale. Praktische Rationalität ist also bereichsspezifisch und plural und somit auf gegenseitige Abschichtung und Koordination angewiesen. Wann immer ein Wert absolut gesetzt und gegen alle anderen, konkurrierenden Werte durchgesetzt wird, spricht alles für ideologische Voreingenommenheit und eine „Tyrannei der Werte“77, d. h. des einen, einmal gewählten Werts. Der unvoreingenommene Blick auf die einschlägigen Erfahrungen und Kontexte wird in aller Regel zeigen, dass in den jeweiligen Lebenszusammenhängen mehrere Ideale und Ziele einschlägig sind und nach Beachtung verlangen. Dies gilt nicht nur für schwierige Entscheidungen im individuellen Leben, sondern auch in Politik und Recht.78 Von daher muss praktische Rationalität misstrauisch sein gegen Alles-oder-Nichts-Lösungen; gegen absolut geltende Prinzipien und unbeschränkbare Rechte, die sich immer durchsetzen, was die Folgen auch sein mögen79; gegen schroffe Entgegensetzungen von ,Sein und Sollen‘, ,theoretischer und praktischer Vernunft‘, ,Gefühl und Verstand‘, ,Intuition und Reflexion‘ und ähnliches. Sie hält sich offen für und hält Ausschau nach Gemeinsamem im Unterschiedlichen, nach Kontinuitäten im Wechsel, nach Vollformen bislang rudimentär entwickelter Rationalitätsformen und Lebensbereiche. Kurz: Praktische Rationalität ist erfahrungsgeleitet, reflexionsorientiert, dialogisch, plural, kontinuitätsbedacht, entwicklungsoffen und auf Erfüllungsformen hin angelegt. f) Der moderne Staat in kommunitaristischer Perspektive: Nach Thematisierung der Bereiche Mensch – Gemeinschaft, Moral- und Rationalitätsverständnis sowie soziale Verantwortung und Gerechtigkeit im Rawls’schen Konstruktivismus und im Kommunitarismus können wir zum Verständnis des modernen Staates zurückkehren, mit dem der Abschnitt III.1. begann. Dort wurde in groben Zügen erst die Unrechtserfahrung skizziert, die zur Entstehung des politischen Liberalismus führte, anschließend die theoretische Behandlung dieser Erfahrung in der Gesellschaftsvertragstheorie Rawls’scher Prägung dargelegt. Wenn man dem kommunitaristischen Moral- und Rationalitätsverständnis folgt, dann brauchen wir keinen ,Schleier des Nichtwissens‘ à la Rawls, um zu Ethik, Moral und Recht und zur Verfas77 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Carl Schmitt in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, 1967, S. 37 ff. Dies ist auch der Kernpunkt von Michael Walzers Buch ,Sphären der Gerechtigkeit‘ (Fn. 32). Vgl. dort S. 46 ff. 78 Vgl. ausführlich W. Brugger, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung, JuS 1996, S. 674 ff.; ders., Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung, in diesem Band § 1, S. 33 ff.; Walzer (Fn. 26), S. 127 ff. 79 Vgl. zu einem solchen Fall W. Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), S. 67 ff.

III. Konservativer, liberaler und universalistischer Kommunitarismus

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sungslegitimität etwas sagen zu können. Wir können, wenn wir erst einmal verstanden haben, welche konkreten Absichten in seine Formulierung eingegangen sind und dass diese auf angreifbaren Prämissen wie der Versicherungsmentalität der Verhandlungspartner und der Willkürlichkeit der Lebenslotterien aufbauen, den Schleier des Nichtwissens schlicht wegnehmen. Dann brauchen wir nicht mehr zu vergessen, wer wir sind, sondern wir sollten uns, in Fortführung des Verfahrens des Überlegungsgleichgewichts, darauf besinnen und verständigen, wofür wir als Individuen und mit unseren Gemeinschaften stehen. Wenn wir eine solche Überlegung im Hinblick auf die Legitimitätsgrundlagen unseres Gemeinwesens anstellen, dann sehen wir anhand der schon zu Beginn des III. Abschnitts eingebrachten Stichworte, dass es sich hier um eine stufenweise Ausweitung relevanter Legitimitätskategorien in Antwort auf konkrete Unrechtserfahrungen, also Entwicklungsschritte von einer Basis- oder Vorform zu einer Vollform oder Erfüllungsgestalt legitimer Staatlichkeit handelt. Man kann hierfür unterschiedliche Begrifflichkeiten wählen: Im Rahmen von Georg Jellineks Statuslehre80 kann man die Entwicklung vom modernen, zentralistischen Flächenstaat zu Beginn der Neuzeit bis hin ins 20. Jahrhundert als eine fortschreitende komplexere Positionierung des Bürgers im Staat sehen: vom Status subjectionis im souveränen Staat über den Status libertatis und den Status activus im demokratischen Rechtsstaat bis hin zum Status positivus im Sozialstaat in der Folge der industriellen Revolution und dem Status universalis im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse des 2. Weltkriegs. Heute, im Rahmen unserer Tradition und Reflexion auf die Grundlagen moderner Staatlichkeit, umfasst Verfassungslegitimität alle diese Prinzipien und die ihr zugeordneten, passenden Institutionen. Es ist durchaus möglich, diese Anreicherung des staatlichen Legitimitätsverständnisses auch in anderen Kategorien zu thematisieren: Man könnte etwa an folgende Entwicklungslinien denken: von ökonomischer und demokratischer zu sozialer und universeller Freiheit81; von formaler und politischer zu sozialer und globaler Gleichheit im Sinne von gleichem Respekt für alle Menschen und gleicher Berücksichtigung der Interessen aller Menschen82; oder von formaler zu materialer und globaler Rechtsstaatlichkeit83 ; oder von Mehrheitsdemokratie zu freiheitlicher, repräsentativer, kommunitärer Demokratie84 ; oder vom Rechtsschutzstaat zum Leistungsstaat85; oder von repressiver zu autonomer und responsiver Rechtsord80 Vgl. G. Jellinek, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, 2. Aufl. 1905, Kap. VII–X und ders. (Fn. 40), S. 45 ff., 61 ff. 81 In diesem Sinne kann man John Rawls und (moderne Rekonstruktionen von) Kant lesen. Zu Letzterem siehe Bielefeldt (Fn. 41), Kap. IV. 82 Dieser Position steht R. Dworkin nahe mit seinem Grundwert „equal concern and respect“: Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 297 ff. 83 Vgl. E. Denninger, Staatsrecht 1, 1973, Kap. IV ff.; ders., Menschenrechte und Grundgesetz, 1994. 84 Vgl. Kersting (Fn. 66); Selznick (Fn. 48), S. 501 ff. 85 J. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, 1984, S. 97 ff.

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nung86. Diese Beispiele belegen die Fruchtbarkeit des kommunitaristischen Rationalitätsverständnisses, das sich in den geschichtlichen Rekonstruktionen legitimer Staatlichkeit widerspiegelt: (1) Alle diese Konzepte sind erfahrungsgeleitet; sie spiegeln Reaktionen auf konkrete geschichtliche Unrechtserfahrungen wider. (2) Sie sind kritisch, weil sie aus Krisenerfahrungen geboren wurden, aber auf deren positive Bewältigung angelegt sind. (3) Sie alle bemühen sich um Dialog, friedliche Streitbeilegung und größtmögliche Zustimmung. (4) Zu diesem Zweck verfeinern die Autoren die Staatswecke und reichern sie an; gleichzeitig verzichtet der Staat in der Verfolgung seiner Ziele dem Grundsatz nach auf bestimmte Mittel wie Manipulation und Repression. (5) Schließlich wird deutlich, dass sich Legitimität nicht angemessen durch ein einzelnes Prinzip und eine einzelne Institution verwirklichen lässt. Es bedarf im Bereich staatlicher Institutionen, wie jeder Verfassungsjurist weiß, komplexer, sich gegenseitig in Schach haltender und sich gleichzeitig unterstützender Arrangements der Gewalten87, um der Komplexität der Verhältnisse und den anspruchsvollen Staatszielen Rechnung zu tragen. Das ist nichts anderes als der institutionelle Ausdruck der vielfältigen Bürger-Staat-Positionierungen, die, wenn man sie denn im Rahmen eines einzelnen Prinzips thematisieren will, einer entsprechenden Binnendifferenzierung bedürfen, um die unausweichlichen Spannungen (etwa zwischen dem Menschen als Privatmann, bourgeois und dem Bürger, citoyen) in den Griff zu bekommen. Wichtig ist, Folgendes festzuhalten: Die Schritte von Erleben und Erfahrung zur positiven Ausformulierung und politischen Durchsetzung von leitenden praktischen Maßstäben implizieren mehrere Arten menschlichen Tätigwerdens: Emotion (etwa ,Unrechtserfahrung‘), Kognition (Ursachenanalyse, Untersuchung der betroffenen Interessen; Analyse möglicher Problemlösungen), Reflexion, Evaluation (Einschätzung von Mitteln und Zwecken; Zielreflexion, Formulierung positiver Standards), Kommunikation (Bemühung um Gemeinsinn und Begründung) und Volition (Tat, etwa durch Formulierung und Durchsetzung einer Verfassungsänderung oder Neuerlass einer Verfassung, also Evolution oder Revolution). Das ist eine weit komplexere und wirklichkeitsnähere Sicht legitimer Staatskonstruktion als die ausschließliche Konstruktion eines Schleiers des Nichtwissens, hinter dem allgemeine Menschen ohne Wissen um ihre Stellung in der Welt und konkrete Problemlagen verhandeln.88 Selbst wenn wir uns alle darauf verständigten, dass die oben 86 P. Nonet/P. Selznick, Law and Society in Transition. Toward Responsive Law, 1978. In Kap. I dieses Buches findet sich eine präzise Darlegung der Leistung und Grenzen evolutionären Denkens. 87 So soll Gewaltenteilung nicht nur Tyrannei verhindern, sondern gleichzeitig die Erledigung von Staatsausgaben optimieren. Manchmal geht das zusammen, manchmal ergeben sich aus dieser dualen Funktionsbestimmung auch Spannungen. 88 Rawls schlägt zur Entschärfung dieser Kritik einen Mehr-Stufen-Gang von Staatsbegründung vor, wobei von Stufe zu Stufe mehr Wissen über die realen Menschen und Umstände zugelassen wird, vgl. Theorie (Fn. 27), S. 223 ff. Das ist eine im Prinzip einleuchtende Strategie, doch bleibt es auch dann dabei, dass dasjenige, was im ersten, blinden Stadium vorentschieden ist, für die weiteren Stadien verbindlich ist, inhaltlich wie prozedural, und die

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genannten Erfüllungsgestalten legitimer Staatlichkeit die entscheidenden sind89, wird die konkrete Ausgestaltung der Verfassung und deren Verständnis doch immer noch im Detail (vielleicht sogar in manchem Grundsätzlichem) vom Verständnis des Problems und der passenden Problemlösungen sowie der prägenden Kultur abhängen. Die Kontingenz der konkreten Erfahrungen und der Mittel-Zweck-Einschätzungen ist nicht zu umgehen, die Richtung und Gewichtung konkreter Staatsorganisationsprinzipien in ihrem Verhältnis zueinander wird variieren. Dass dies so ist, wird evident, wenn man sich das Spektrum der Detail- und zum Teil auch Strukturdifferenzen moderner westlicher Staaten ansieht: Gewaltenteilig sind sie alle, aber die konkreten ,checks and balances‘ differieren erheblich. Demokratisch sind sie alle, aber die Formen variieren zwischen parlamentarischer und präsidialer Demokratie. Grundrechte haben sie alle, aber der Grad, bis zu dem diese auch sozialstaatliche Tätigkeiten anleiten, differiert erheblich usw. Es ist also selbst bei Einigkeit über die leitenden Prinzipien kein Konsens zu erwarten, wenn es an die konkrete Ausformulierung oder, späterhin, um konkrete Interpretation geht. Wenn man, wie Rawls, der Ansicht ist, dass eine moderne, gerechte Verfassung klare Prinzipien im Hinblick auf soziale Umverteilungen nach innen und außen enthalten sollte, dann sagt die kommunitaristische Reflexion, dass ein solches Ansinnen sich durchaus im Rahmen möglicher Gerechtigkeitskonzeptionen hält, aber streitig ist; Konsens ist deshalb nicht zu erwarten. Es bleibt nichts anders als offenes Eintreten für eine Sicht des jeweiligen Verständnisses sozialer Gerechtigkeit in der Hoffnung, dass die propagierte Sicht der Dinge sich im Prozess der Verfassungsgebung, Verfassungsänderung, Gesetzgebung oder der gerichtlichen Verfassungsinterpretation mit der erforderlichen Mehrheit durchsetzen wird.

IV. Zur Neutralität des modernen Staates 1. Der neue Rawls und der Kommunitarismus Damit können wir uns dem Neutralitätselement im Liberalismus zuwenden, das in der strikten Ausformulierung sagt, dass sich der Staat nicht nur im weltanschaulichreligiösen Bereich, sondern in allen die Lebensführung der Bürger betreffenden Vorentscheidungen sind, wie im Vorigen skizziert, streitig und angreifbar. Kommunitaristische Interpretationen von leitenden Erfüllungsgestalten können selbstverständlich auch umstritten sein, aber gerade weil dies so ist, sollten wir möglichst viel über diese wissen und nicht nichtwissen. 89 Könnten wir wirklich damit rechnen, in einem Dialog über die Bedeutung dieser Prinzipien alle zu überzeugen? Wohl kaum. Könnten wir den Widersprechenden vorwerfen, sie handelten oder urteilten evident irrational und ungerecht? Auch das ist zweifelhaft. Realistischer ist, dass sich sehr viele auf diese Prinzipien als solche einigen könnten, die nach gewissenhafter Prüfung sich sagen würden oder könnten, dass das, was den Widersprechenden zugemutet wird, verglichen mit anderen Alternativen zumutbar ist. Das ist der Idealfall in der wirklichen Welt von Verfassungslegitimation.

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

Fragen einer Wertung zu enthalten habe; solche Wertungen zu treffen, sei allein Sache der Bürger; der Staat dürfe keinen Lebensstil positiv oder negativ bewerten; strafrechtliche Sanktionen seien insoweit ausgeschlossen, ebenso selektive staatliche Förderungen, die nicht von allen Bürgern getragen würden.90 John Rawls ist dieser Ansicht; allerdings vertritt er sie in seinen neueren Schriften in einer etwas anderen Art und Weise als in der ,Theorie der Gerechtigkeit‘ von 1971. Rawls bekennt sich inzwischen anders oder eindeutiger als früher zu wesentlichen Elementen dessen, was ich hier als ,kommunitaristisches‘ Moral- und Rationalitätsverständnis charakterisiert habe91: So soll die ,Theorie der Gerechtigkeit‘ ganz im Sinne des Überlegungsgleichgewichts Ausdruck grundlegender Gerechtigkeitsintuitionen unserer Art von Gesellschaft sein und nicht Ausdruck übergeschichtlicher, allgemeinmenschlicher Rationalität.92 Er baut damit kontextuell und evolutionär auf der Geschichte der ,Erfahrungen‘, ,Krisen‘ und ,Lösungen‘ der modernen westlichen Welt auf; die Konstruktion des Gesellschaftsvertrags soll diese Entwicklung interpretativ auf den Begriff bringen.93 Dies gilt nach Rawls sowohl für das schon dargestellte egalitärsozialstaatliche Element seiner Theorie, das, wie gesehen, nicht so unstreitig ist, wie die Theorie insinuiert, als auch für den freiheitlich-abwehrrechtlichen Teil der Theorie, das Prinzip der größtmöglichen Freiheit aller in der persönlichen Lebensführung, die der Staat nur dann beschneiden darf, wenn sie sich negativ auf die gleiche Freiheit aller anderen auswirkt. Rawls versteht dieses Prinzip als höchstes Prinzip der Gerechtigkeit und Basis der Abwehrrechte, die ein legitimer Staat in der Verfassung allen Bürgern gewährleisten muss. Das Recht der Bürger auf Maximierung individueller Wahlfreiheit wird durch dieses Gegenseitigkeits- und Verträglichkeitsprinzip beschränkt. Rawls drückt diese Überlegungen in mehreren Bereichstrennungen aus: strikter Vorrang der Gerechtigkeit und der individuellen Abwehrrechte (right) vor Idealen gelungener Lebensführung (good); strikte Trennung der Ebene der Verfassung und 90

Vgl. schon oben nach Fn. 13. Vgl. schon oben Fn. 34 und 35. Rawls selbst bezeichnet sein altes und neues Vorgehen nun als kantischen Konstruktivismus, vgl. sein Buch „Die Idee des politischen Liberalismus“ (Fn. 27), S. 80 ff. Das steht in Kontrast zum hier gewählten Sprachgebrauch, der die evolutionäre Perspektive und die Fragerichtung ,von innen nach außen‘, ,von der Konventionalmoral zur kritischen Moral‘ als kommunitaristisch charakterisiert. Der von mir gewählte Sprachgebrauch leugnet nicht, dass jede Theorie bis zu einem gewissen Grad ,konstruieren‘ muss, sieht aber in Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ Überziehungen und Vereinseitigungen vorliegen. Vgl. hierzu schon oben Abschnitt III. 1. mit Fn. 52 sowie Walzer (Fn. 60), S. 17 ff. 92 Vgl. den programmatischen Aufsatz „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“, in: Honneth (Fn. 29), S. 36 ff., 42, 44 sowie: Die Idee des politischen Liberalismus (Fn. 34), S. 83 ff. 93 Man kann darüber streiten, ob man von dieser Perspektive aus noch dieses Darstellungsmittel braucht, vgl. Kersting (Fn. 27), S. 203 f. Zu der Frage, ob unabhängig von dieser evolutionären Seins-Perspektive bei Rawls noch ein genuines moralisches Sollen mitgedacht ist, vgl. Mulhall/Swift (Fn. 19), S. 175, 180, 183 ff., 192, 194 f. 91

IV. Zur Neutralität des modernen Staates

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der Politik von der individuellen Lebensführung und den dort wirksamen Idealen und Theorien; dem entspricht die strikte Trennung der Ebene der Verfassungs- oder politischen Moral und der persönlichen Ethik sowie der politischen und der privaten Identität der Menschen.94 Hinter diesen Begriffs- und Bereichsalternativen stehen Interpretationen geschichtlicher Erfahrungen, die mit dem nach wie vor benutzten Schleier des Nichtwissens dargestellt werden sollen: In der Neuzeit hat sich nach Rawls herausgestellt, was schon Kant festgehalten hat95, dass über Ideale persönlicher Lebensführung kein Konsens herzustellen ist; das gilt insbesondere für weltanschaulich-religiöse Konflikte, die staatlich nicht mehr mit Wahrheitsanspruch und Zwang in der einen oder anderen Weise entschieden werden konnten. Von daher schließt Rawls auf einen irreversiblen Pluralismus in Sachen gutes Leben, dem nur noch durch strikte Neutralität zu begegnen ist – dem Staat sind alle Lebensstile gleich, gleich gültig und gleichgültig, solange der eine nicht die gleiche Freiheit des anderen beschneidet. Deshalb müssen die Bürger lernen, strikt zwischen Moral und Ethik, Politik und gesellschaftlichem Leben, dem Gerechten und dem Guten zu unterscheiden. Das staatliche Gemeinwohl besteht ausschließlich in der Respektierung der größtmöglichen Wahlfreiheit; sobald Postulate guten individuellen oder kollektiven Lebens streitig werden, hat der Staat strikte Neutralität zu üben.96 So konsistent das klingt, sind doch aus kommunitaristischer Sicht einige Bedenken und Einschränkungen zu formulieren. Es geht in diesen allerdings nicht um eine Ersetzung von Neutralität durch Parteilichkeit oder von Liberalität durch staatliche Bevormundung, sondern um eine Kritik der Striktheit der Trennungen der angeführten Bereiche und der Absolutheit, mit der die Vorrangbeziehungen gesehen werden. Der Kommunitarismus ist zunächst mit Rawls der Ansicht, dass zur Charakterisierung praktischer Vernunft auf deren geschichtliche Formen abzustellen ist, und in der Moderne ist es zweifellos so, dass Wahlfreiheit von Individuen in ihren Beziehungen eine zentrale Bedeutung spielt; deswegen sind in der Tat grundrechtliche Abwehrrechte wichtig zur Legitimation des Staates. Allerdings darf die Wahlfreiheit nicht nur im Sinne aktueller Präferenz oder situativen Wollens verstanden werden, sondern bedarf der kulturellen Sinnräume zur Effektivierung, aber auch zu deren Disziplinierung, Zivilisierung und Moralisierung im Hinblick auf leitende Erfüllungsgestalten. Diese sind in unseren Gesellschaften oft dadurch geprägt, dass sie individuelle Wahl hochhalten und preisen, und insoweit entsprechen 94 Vgl. Gerechtigkeit als Fairneß (Fn. 92), S. 54 ff., 63 ff., sowie: Idee des politischen Liberalismus (Fn. 92), S. 293 ff., 333 ff., 364 ff. 95 Vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Werke Akademieausgabe VIII, 1968, S. 273, 290: Über Glückseligkeit denken „die Menschen gar verschieden …, so daß ihr Wille unter kein gemeinschaftliches Prinzip, folglich auch unter kein äußeres, mit jedermanns Freiheit zusammenstimmendes Gesetz gebracht werden kann“. 96 Halten sich Neutralitätsliberale an ihre eigenen Prämissen? Das wird etwa von Selznick (Fn. 48), S. 380 ff. bestritten und mit Beispielen belegt.

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

sich dann Präferenzliberalismus, Neutralitätsliberalismus und Kommunitarismus, doch ist das nicht durchgehend der Fall. Nach wie vor gibt es Lebensbereiche, deren Selbstverständnis inhaltlich angereichert und kulturell verdichtet ist, die von vielen als vorbildlich für freie Erfüllung in der Gemeinschaft als auch für politische Stabilität angesehen werden. Dazu gehören Ehe und Familie wie auch religiöse Gemeinschaften.

2. Das Beispiel Ehe und Familie Zum westlichen Ethos, das sich auch in den Verfassungen widerspiegelt, gehört der besondere Schutz traditioneller Ehen und Familien; exemplarisches Beispiel dafür ist Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt.97 Um diese Vorschrift im richtigen Kontext zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass sie nicht-eheliche Beziehungen homosexueller oder heterosexueller Art nicht verbietet; das liefe auf eine Uniformierung und Repression intimer Lebensstile hinaus, woran ein liberaler und kommunitärer Staat kein Interesse haben kann; dafür lässt sich keine Zustimmung finden. Die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und das Recht der Vereinigung zu beliebigen Zwecken in Art. 9 Abs. 1 GG bringen diese liberale Haltung gut zum Ausdruck. Trotzdem ist der grundgesetzlichen Ordnung das Ehe- und Familienleben nicht gleich, gleich gültig oder gleichgültig. An stabilen intimen Beziehungen und Verhältnissen, in denen Kinder mit Vater und Mutter aufwachsen und Individualität und Kommunalität lernen und internalisieren können, hat das grundgesetzliche Gemeinwesen ein Interesse, auch wenn einzelne oder gar viele Bürger flüchtige Beziehungen bevorzugen und keine Kinder wollen; deshalb werden diese konstitutiven Gemeinschaften besonders gefördert, während die anderen ,nur‘ geachtet werden. Man beachte: Es gibt durchaus Stimmen, die sich gegen die Ehe als solche oder gegen die bei uns alleinig vorgesehene Einehe aussprechen, diese als Domestizierungsinstrument und Repressionsverband ansehen und Art. 6 Abs. 1 GG als illegitime Bevorzugung einer Lebensform einstufen. Auch Familienleben mit seinen konstitutiven Banden wird nicht von allen angestrebt; viele Singles bevorzugen größere Wahlfreiheit und damit Unverbindlichkeit in ihren Freundschaften. Solchen Stimmen halten Kommunitaristen entgegen, dass in unserer Tradition nach wie vor viele an der besonderen Qualität der traditionellen Ehe- und Familienbeziehung für individuelle und soziale Persönlichkeitsbildung und staatliche Stabilität festhalten. Sie halten diese Privilegierung für die Widersprechenden zumutbar, weil Letztere mit ihren Legitimitätsüberzeugungen nicht gänzlich zurückgewiesen werden. Im 97 Art. 6 Abs. 1 GG lautet: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Vgl. auch Art. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Mit Erreichung des Heiratsalters haben Männer und Frauen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie nach den nationalen Gesetzen, die die Ausübung dieses Rechts regeln, zu gründen“; Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948; Art. 23 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966.

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Gegenteil: Wahlfreiheit steht ihnen in der außerehelichen Wahl ihrer intimen Partner zu; sie können, falls sie heiraten wollen, ihren Ehepartner frei wählen, die Innenbeziehungen weitgehend frei gestalten und im Fall des Scheiterns die Austrittsoption in Form der Scheidung wahrnehmen. Im Gesamtausgleich dieser divergierenden Überzeugungen sieht der Kommunitarist eine gelungene Synthese erfahrungsgeleiteter, reflexionsorientierter, dialogischer, pluraler, kontinuitätsbedachter, entwicklungsoffener und auf Erfüllungsgestalten hin angelegter staatlicher Gemeinwohlüberlegungen.98 Der konservative Kommunitarist wird hierbei der Kontinuitätswahrung mehr Gewicht beilegen als der Entwicklungsoffenheit. Ausdruck hierfür wäre, dass er unter Ehe nur die verschiedengeschlechtliche Ehe versteht. Der liberale Kommunitarist könnte darüber hinaus sehen und akzeptieren, dass auch in homosexuellen Beziehungen Stabilität und Intimität, Freiheit und Bindung, Loyalität und Füreinandereinstehen zustande kommen können – dann muss man über die Einführung passender rechtlicher Formen außerhalb von ,Ehe‘ im überkommenen Verständnis nachdenken. Der universell-egalitäre Kommunitarier bzw. überzeugte Neutralitätsliberale würde eine Gleichstellung von homosexueller und heterosexueller Ehe befürworten oder die Abschaffung des Sonderstatus von Ehe einfordern, soweit dies nicht dem Zweck der Staatlichkeit zuwiderläuft, etwa weil die traditionelle Ehe, aufs Ganze gesehen, die besten Voraussetzungen für Familiengründung und das Nachwachsen von Staatsbürgern schafft.99 98 Neutralitätsliberale, die so starken Wert auf strikte Bereichstrennungen legen, müssten konsequenterweise auch bei den Mitteln und Zielen staatlichen Handelns sensibel sein für Unterschiede, z. B., wie dieses Beispiel zeigt, für den Unterschied zwischen Zwang und Förderung (oder striktem Zwang und ,weichem Zwang‘). Zu oft wird in der meist kantisch orientierten liberalen politischen Theorie staatliches Handeln nur unter der Zwangsperspektive thematisiert. Vgl. etwa Kersting (Fn. 27), S. 196: „eine staatliche und somit zwangsbewehrte Politik des Guten“. Zu Kants äußere Freiheit und Zwang korrelierendem Rechtsbegriff siehe die Metaphysik der Sitten, § D in der Einleitung in die Rechtslehre (Fn. 18), S. 231: „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.“ Zu weiteren Differenzierungen siehe die folgende Fn. 99 Das Grundrecht von Ehe und Familie steht als Beispiel für besondere Förderung traditionell hochgehaltener Lebensformen. Für Kommunitaristen ist es auch denkbar, dass Lebensformen, die als ,Verfehlungen‘ einschlägiger Erfüllungsgestalten angesehen werden, negativ bewertet werden. Die einschlägigen Beispiele im Bereich Sexualität sind Prostitution, Homosexualität und Sadomasochismus, womit nicht gesagt werden soll, dass alle über den gleichen Leisten zu schlagen sind. Das sind komplexe und zu Recht streitige Themen. Hier soll nur auf einen Punkt hingewiesen werden: Soweit der staatliche Bereich ins Spiel gebracht wird, ist zwischen (1) Verbot bzw. strafrechtlicher Verfolgung, (2) Erlaubnis und Duldung, d. h. Toleranz im schwachen Sinn, und (3) staatlichen Bemühungen um volle Anerkennung für diese Lebensformen, z. B. durch positive Behandlung im Schulunterricht, zu unterscheiden. Konservative und liberale Kommunitaristen würden der Tendenz nach dem Neutralitätsliberalismus im Bereich (1) und (2) folgen, also staatliche Enthaltung und Freistellung befürworten, im Bereich (3) aber ihre Bedenken auch im politischen Bereich geltend machen. Ein sehr informativer Fall ist die Behandlung der Homosexualität in Bowers v. Hardwick durch den U.S. Supreme Court, 478 U.S. 186 (1986). Vgl. hierzu Selznick (Fn. 48), S. 404 ff.; W. Brugger, Persönlichkeitsentfaltung als Grundwert der amerikanischen Verfassung. Dargestellt am Beispiel des Streits um den Schutz von Abtreibung und Homosexualität, 1994, S. 41 ff.; Sandel, Democracy’s Discontent (Fn. 29), S. 103 ff. Siehe zum Sadomasochismus die Entscheidung des

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Das Beispiel zeigt, dass Kommunitaristen ganz liberal den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft bzw. Politik und Privatem anerkennen können – der Staat darf keine einheitliche Lebensführung erzwingen, sondern muss Wahlfreiheit grundsätzlich achten. Gleichzeitig aber scheinen die Unterschiede zum strikten Neutralitätsliberalismus auf: (1) Kommunitaristen sehen die Wahlfreiheit über die Präferenzperspektive hinaus im Hinblick auf leitende kulturelle Erfüllungsgestalten (hier von Ehe und Familie) informiert und strukturiert. (2) Sie achten auf Gemeinsames in Unterschiedlichem (Entwicklung von Loyalität, Stabilität und Solidarität von der kleineren Gemeinschaft der Ehe und Familie bis hin zur größeren Gemeinschaft des Staates bzw. weitergedacht: aller Menschen). (3) Sie sind kritisch gegenüber strikten Trennungen von etwa Gesellschaft und Staat oder partikularer Ethik und universeller Moral, weil dadurch die Aufbau- und Stufenverhältnisse von Gemeinschaftsformen, die immer auch Vermittlungsverhältnisse des Guten wie Gerechten sind, außer Blick und damit tendenziell in ein Gegenüber statt in eine Abgrenzung und Zuordnung geraten.100 (4) Kommunitaristen zielen zwar Konsens über Dialog an, glauben aber auch im Bereich des Dissenses Gemeinwohlentscheidungen treffen zu können, wenn verträgliche Kompromisse getroffen werden, wie das in Bezug auf das Beispiel von Ehe und Familie angedeutet wurde. (5) Die Chance für Konsens oder Dissens wird von Kommunitaristen im Übrigen für Fragen des Guten und Gerechten als gleich groß oder gleich gering angesehen; sie lässt sich nur a posteriori und nicht, wie tendenziell im Neutralitätsliberalismus, a priori entscheiden. Der Streit um die gerechte Grundstruktur eines Staates kann genauso intensiv sein wie bei Auseinandersetzungen um gelingende Persönlichkeitsentfaltung; es ist zum Beispiel nicht ausgeschlossen, dass sich mehr Menschen für einen besonderen Schutz von Ehe und Familie aussprechen als für den Rawls’schen Schluss von der Willkürlichkeit der Lebenslotterien auf egalitäre Umverteilung der Früchte gesellschaftlichen Erfolges nach innen und außen. (6) Um das gemeine Wohl im politischen Bereich muss nach kommunitaristischer Sicht gerungen werden. Konsens wird angezielt, weil ja die Interessen und Erfahrungen aller zählen, ist aber nicht notwendige Voraussetzung verbindlicher Entscheidung. Es geht in Diskussionen um das staatliche Gemeinwohl, um Achtung und Förderung des guten Lebens wie der gerechten Ordnung; grundrechtliche Abwehrrechte mit ihrer impliziten Unterscheidung der Bereiche von Staat und Gesellschaft bilden insoweit einen zentralen, aber nicht den einzigen Bestandteil der Freiheit der Bürger (genauso wie die soziale Verantwortung des Staates einen wichtigen, aber in Richtung und Gewichtung der angemessenen Stufung bedürftigen Bestandteil der Gleichheit und Solidarität der Bürger bildet). Wenn man so will, umfasst das staatliche Gemeinwohl Vorkehrungen zum (a) Wohl aller Individuen und Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Laskey, Jaggard and Brown v. The United Kingdom vom 17. 2. 1997 (105/1995/615/703 – 705). 100 Zu dem Anflug von ,Schizophrenie‘ in der strikten Trennung von privater und öffentlicher Identität im Rawls’schen Modell siehe Mulhall/Swift (Fn. 19), S. 178, 201, 209, 220 ff. Siehe auch Walzer (Fn. 26), S. 78 und 160: „nirgendwo stoßen wir auf eine klare Abtrennung der Bereiche“.

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Gemeinschaften und (b) deren angemessene Abschichtung und Zuordnung unter (c) Anzielung größtmöglicher Akzeptanz. Der Staat ist in diesem Sinne die Gemeinschaft der Gemeinschaften.101

3. Das Beispiel weltanschaulich-religiöse Neutralität Ganz kommunitaristisch betont Rawls nunmehr die ,Erfahrung aus der Geschichte‘, dass der moderne Staat religionsneutral sein muss. Es habe sich gezeigt, dass staatliche Bevormundung oder Parteinahme in diesem Bereich ,letzter Wahrheiten‘ nicht möglich sei; die Religionskriege seit Beginn der Neuzeit hätten demonstriert, dass der Staat vor allem der Friedenssicherung zwischen religiösen Gruppierungen zu dienen habe.102 Der Staat darf mit anderen Worten nur ,vorletzte Wahrheiten‘ im Sinne der Friedenssicherung und der Förderung der Achtung und Kooperation der gesellschaftlichen Gruppen unterstützen. Er darf, generell gesprochen, nur solche Aktivitäten entfalten, die von allen Weltanschauungsgruppen gestützt werden; Gründe für staatliches Handeln in diesem Bereich müssen allgemein zugänglich sein, nicht nur Anhängern einzelner Religionen oder Weltanschauungen. So plausibel diese Überlegungen für unser Verständnis der Rolle des Staates sind, bleibt doch zu fragen, was aus ihnen folgt: Meint Neutralität strikte Trennung oder nur substantielle Scheidung der Bereiche? Darüber kann man durchaus unterschiedlicher Ansicht sein, wie die unterschiedlichen Modelle des Verhältnisses von Staat und Kirche zeigen. Die Vereinigten Staaten etwa neigen einem strikten Trennungsmodell zu; Deutschland hat ein Modell gewählt, das durch Scheidung und Kooperation geprägt ist; die übergreifenden Tendenzen in modernen Rechtsstaaten scheinen auf eine vermittelnde Lösung zwischen strikter Trennung von Staat und Kirche einerseits und Staatskirche andererseits hinauszulaufen.103 Diese Differenzen repräsentieren partiell unterschiedliche Verständnisse der historischen Ausgangslage sowie des Problems weltanschaulicher Pluralität und deren Lösung; in den Differenzen kommen die schon angesprochenen Elemente menschlicher Tätigkeit bei der Lösung praktischer Fragen – Emotion, Kognition, Reflexion, Evaluation, Kommunikation und Volition – zum Ausdruck. Keine wie auch immer geartete Moral- oder Legitimitätstheorie wird wohl je imstande sein, bei komplexen, hoch umstrittenen Abwägungsfragen wie etwa nach dem richtigen Verhältnis von Staat und Kirche zu 101 Vgl. hierzu Brugger (Fn. 48), S. 497 ff. zum ,geläuterten Pluralismus‘ (gleich ,liberalen Kommunitarismus‘) und dessen Gemeinwohlverständnis, ferner ders., Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR (119) 1994, S. 1 ff. zu den Bestandteilen des Gemeinwohlbegriffs. 102 Vgl. J. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: Honneth (Fn. 29), S. 38, 44, 59, 64. 103 Vgl. Robbers, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 59 ff.

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einem in jeder Hinsicht eindeutigen und argumentativ zwingenden konsensschaffenden Schluss zu kommen.104 Doch lässt sich im Rahmen unserer Tradition eine Basislinie aufzeigen, die dem westlichen Verfassungstyp zugrunde liegt und die auch auf weitgehende Zustimmung bei den Bevölkerungen hoffen kann: Staat und Kirchen bzw. Religionen sollten grundsätzlich geschieden sein. Der Staat darf nicht zugunsten einer Religion oder Weltanschauung missionieren und Widersprechende mit Gewalt oder sonstigem Druck bekehren. Er muss alle Bekenntnisse gelten lassen und Toleranz üben. In diesem Sinn sind alle Religionen und Weltanschauungen gleichberechtigt. Von dieser Richtlinie aus leuchtet ein, dass es im Rahmen einer konkreten Verfassung möglich ist, Religion und Weltanschauung eher dem privaten Bereich und der rein gesellschaftlichen Öffentlichkeit zuzuordnen und Kooperationen mit staatlichen Veranstaltungen auszuschalten (Beispiel USA); genauso möglich ist es aber, den kirchlich verfassten Religionen die Möglichkeit einer Kooperation mit dem Staat zu verschaffen, sofern die genannten Grenzen eingehalten werden, also insbesondere das Missionierungsverbot und die Respektierung aller Religionen und Weltanschauungen (Beispiel Deutschland). Wie steht es mit der Förderungsdimension? Aus Neutralitätsgesichtspunkten bestehen keine Bedenken gegen die Förderung aller Religionen. Sind selektive Förderungen deshalb immer illegitim? Dafür spricht einiges, wenn man im Rahmen der westlichen Erfahrungen denkt und argumentiert. Doch hängt auch hier viel von der konkreten Entwicklung und Erfahrungsverarbeitung ab, von der nach kommunitaristischem Verständnis die Formulierung und Akzeptanz von Legitimationsmaßstäben nicht abgekoppelt werden dürfen. Wenn man sich ein Staatswesen vorstellt, das bislang stark von einer Religion und deren Werten geprägt war und das jetzt aus Einsicht oder aufgrund äußeren Druckes105 den Schritt zu einer grundsätzlichen Scheidung der beiden Bereiche vollzieht, dann würde sich aus deren Innensicht eine Ordnung als legitim verteidigen lassen, in der alle Religionen respektiert, aber nicht gleich gefördert werden. Stellt man sich etwa ein bislang homogen orthodoxes Land vor,106 das Staat und Kirche nunmehr auseinanderhalten, seine religiöse Tradition aber weiterhin fördern will, dann wäre es nicht von vornherein illegitim, wenn alle Religionen durch den Staat respektiert würden und die Bürger in der Wahl von Religion und Weltanschauung frei wären, in den Schulzimmern aber weiterhin nur Symbole der orthodoxen Religion verwendet würden, solange diese Symbole nicht 104 Und das heißt für die staatliche Rechtsordnung, für die Verfassung und auch für die Kriterien zur Beurteilung der Legitimität von Verfassungen, dass man nicht mit wirklichem Konsens rechnen kann, sondern eben größtmögliche Zustimmung anstreben sollte. Die Minderheit muss dann, soweit es um das Stadium des Verfassungsentwurfs geht, mit dieser ersten Unrechtserfahrung leben. 105 Etwa wegen der in den Menschenrechtspakten verankerten Religionsfreiheit. Vgl. etwa Art. 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966. 106 Sozusagen Russland ohne 70 Jahre kommunistische Herrschaft.

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aktiv im Unterricht zur Bekehrung Andersgläubiger eingesetzt werden.107 In dieser Situation wäre es auch nicht ausgeschlossen, dass in der Verfassung ,Ehrfurcht vor Christus‘ als geschichtlich prägender Wert und als Gut der Gemeinschaft eingestuft würde, solange das nicht in Missionierung, Bekehrung und Ausgrenzung Andersoder Nichtgläubiger umschlägt.108 Für einen ,konservativen Kommunitaristen‘ wären diese Förderungen nur der überkommenen, vorherrschenden Religion für eine beschriebene Situation (d. h. aber auch: nicht unbedingt auf Dauer) eine akzeptable Lösung.109 Im Rahmen des in unserer Tradition stärker religionspluralistischen und neutralitätsorientierten staatlichen Legitimationsverständnisses und eines ,liberalen Kommunitarismus‘ wird man auch selektive Förderungen von Religionen ausschließen müssen. Eine solche strikte Neutralität gilt aber nur gegenüber Religionen und Weltanschauungen als Quellen und, im Fall von organisierten Kirchen, Verwaltern letzter Wahrheiten, über die eine weltliche Gewalt nicht urteilen kann und die sie nicht vorschreiben sollte. Der Staat muss nicht unbedingt strikt neutral gegenüber solchen religiösen und weltanschaulichen Aspekten, Werten oder Symbolen sein, die ,vor‘ oder ,jenseits‘ der Verpflichtung auf letzte Wahrheiten liegen. Solches ist dann der Fall, wenn die einschlägigen Aspekte in das Alltagsverständnis der Gesamtkultur eingegangen sind und in diesem Sinn jenseits der engeren religiösen oder gar kultischen Dimension eine gesamtkulturelle Dimension und Ausweitung dazugewonnen haben, die dann aber zugleich eine Säkularisierung im weiten Sinn des Wortes darstellt. Man kann hier an die prägende Kultur denken, an die Eröffnung legislativer Sitzungsperioden durch einen Vertreter der vorherrschenden Religion, an das Aufstellen von Krippen zur Weihnachtszeit durch eine

107 So verstehe ich das Zitat von P. Selznick, Thinking about Community: Ten Theses, in: Society 32 (1995), S. 33, 35: „If a broad majority makes moderate claims, for example, with respect to … endorsing religion, some deference to those claims is appropriate. Although minorities should not be asked to endure palpable harms, they should be willing to suffer – on some matters, at some times – a sense of exclusion and apartness.“ – Vgl. In diesem Zusammenhang auch die Diskussion um ,Liberalismus 1 und 2‘ zwischen Charles Taylor, Amy Gutmann und Jürgen Habermas, in: Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1993, S. 44 ff., 127 ff., 160 ff., die sich auf den Sprachenstreit in Quebec bezieht. Taylor und Gutmann vertreten der Sache nach den hier so genannten liberalen Kommunitarismus. Siehe z. B. Gutmann, a.a.O., S. 128 und 130. 108 Das Beispiel spielt auf das Ende von Fn. 4 an. – Das 1997 von der russischen Staatsduma beschlossene „Gesetz über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen“ geht über solche Privilegierungen hinaus. Es sieht zum Beispiel eine Registrierungspflicht für Religionen vor und versagt diese nicht-traditionellen Religionen; diesen kommt auch kein voller Respekt zu. Vgl. FAZ v. 24. 6. 1997, S. 1 und 2 sowie FAZ v. 25. 6. 1997, S. 7. 109 Die gesellschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, mit einer solchen Situation umzugehen, sollten nicht verharmlost werden. Doch sind diese nicht größer als bei einer realistischen Einschätzung von Voraussetzungen und Folgen des strikten Neutralitätsliberalismus.

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Stadt, an Münzprägungen110 oder an Sprachwendungen.111 Weiterhin kann man an religiöse und weltanschauliche Aspekte, Symbole oder Werte denken, die prägender Teil des moralischen Bewusstseins und Selbstverständnisses eines konkreten Gemeinwesens geworden sind und damit ,zivilreligiösen‘ Charakter112 haben. Dann liegt, wie im vorhergehenden Fall, eine Verallgemeinerung, ein Überschreiten des Religiösen im engen Sinn vor.113 Der Konnex besteht in diesem Fall weniger mit der Alltagskultur, sondern mit der Moralverfassung des politischen Gemeinwesens, aus dem die Rechtsverfassung ihre moralische Verbindlichkeit und Überzeugungskraft für weite Teile der Bevölkerung schöpft. Ein politisches Gemeinwesen kann in einem solchen Fall ein legitimes Interesse daran haben, diesen prägenden Konnex nicht vorsätzlich abreißen zu lassen, sondern im Gegenteil zu unterstützen, denn die Überzeugungskraft und Auslegung von Rechtswerten wie Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen, Toleranz und soziale Verantwortung für die Bevölkerung versteht sich nicht von selbst, sondern ist eine höchst kontingente, prekäre Leistung. Man beachte wiederum: Dies sind nicht Werte, die von allen Menschen geteilt und in ihren Auswirkungen gewollt werden, faktischer Konsens ist nicht garantiert. Im Rahmen unserer Legitimitätsvorstellungen gehen die meisten von uns aber davon aus, dass wir die Akzeptanz solcher Werte bei Kindern und Jugendlichen (und damit letztlich bei den erwachsenen Bürgern) fördern sollten und dass wir sie in erhebli110 In all diesen Beispielen hat der U.S. Supreme Court – im Rahmen des strikten amerikanischen Trennungsmodells! – keine Verfassungsverletzung angenommen. Vgl. McGowan v. Maryland, 366 U.X. 420 (1061); Marsh v. Chambers, 463 U.S. 783 (1983); Lynch v. Donnelly, 465 U.S. 668 (1984). In Lynch verweist der Supreme Court auf eine Vielzahl staatlicher Äußerungen, die die Bedeutung religiöser Traditionen in den USA bestätigen: „examples of reference to our religious heritage are found in the statutorily prescribed national motto ,In God We Trust‘, which Congress and the President mandated for our currency, and in the language ,One Nation Under God‘, as part of our Pledge of Allegiance to the American flag. That pledge is recited by thousands of public school children – and adults – every year.“ Das Gericht betont aber auch einen zweiten Traditionsstrang, nämlich „the evidence of accommodation of all faiths and all forms of religious expression, and hostility toward none. Through this accommodation … governmental action has ,follow[ed] the best of our traditions‘ and ,respected the religious nature of our people‘.“ 111 Sprachwendungen wie ,Grüß Gott‘ oder ,Um Gottes willen‘ kommen im staatlichen Schulunterricht vor. – Weitergedacht gehört natürlich auch die partikulare Sprache zum allgemeinen Kulturbestand eines Volkes und Staates. 112 Hierzu näher H. Lübbe, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 237 ff. 113 Genau in diesem Sinne wurde bisher vom BVerfG die Zulässigkeit der Schulform ,christliche Gemeinschaftsschule‘ bejaht: Es gehe in ihr nicht um Werbung für eine bestimmte religiöse Botschaft unter Diskriminierung anderer weltanschaulicher Haltungen, sondern um ein positives Anknüpfen an eine prägende religiöse Tradition, deren Hauptwerte inzwischen positiviert und säkularisiert (d. h.: anschlussfähig für andere Letztdeutungen i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG) in die Moral- und Rechtsverfassung des Gemeinwesens eingegangen sind. Vgl. die Nachweise oben Fn. 3 und 9. Im Kruzifix-Beschluss hat sich nur die Minderheit dieser Sichtweise angeschlossen. Vgl. auch Brugger, Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche: Von strikter Trennung und Distanz über gegenseitiges Entgegenkommen bis zu Nähe, Unterstützung und Kooperation, in diesem Band § 4, S. 105 ff.

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chem Umfang im Recht auch verbindlich ausgestalten können, etwa durch staatliche Umverteilung zugunsten von Armen und Schwachen. Wenn (1) im Rahmen einer konkreten Tradition solche ,allgemeinen Werte‘ stark durch eine ,besondere Religion‘ verkörpert werden, wenn also die entsprechende Verfassungsmoral in erheblichem Maße von einer ,besonderen Religion‘ getragen wird,114 dann ist es nicht von vornherein als illegitim anzusehen, wenn diese Verbindung aufrechterhalten und gestützt wird.115 Dies gilt allerdings (2) nur dann, wenn die konkreten Verhältnisse deutlich machen, dass es sich primär um eine Unterstützung der ,allgemeinen Werte‘ ohne staatliche Identifizierung mit der genuin religiösen Botschaft handelt und Personen mit anderen religiösen oder weltanschaulichen Letztbegründungen nicht ausgeschlossen oder diskriminiert werden.116 Die Legitimität oder Illegitimität eines in einer deutschen Landesverfassung verankerten Wertes oder Erziehungsziels ,Ehrfurcht vor Gott‘ hängt von der Einhaltung dieser Grenzen ab.117 Im Rahmen dieser kommunitaristischen Konzeption werden die Bereiche von Staat und Religion geschieden, aber nicht strikt getrennt, weil man die Kontinuitäten und Aufbauverhältnisse von Moralität, Solidarität und Toleranz nicht schwächen will. Entspricht diese normative Abwägung den Verhältnissen in Deutschland im Allgemeinen oder in Bayern im Besonderen? Unzweifelhaft war unsere Gesellschaft lange christlich geprägt, worin schon eine konkrete Verallgemeinerung und Neutralisierung gegenüber den Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus liegt. In Bayern hat sich diese christliche Tradition besonders stark niedergeschlagen und findet in vielfältiger Weise auch jenseits religiöser Rituale Niederschlag; das Kreuz gehört auch zur Kultur- und Reallandschaft, zum Volkstum und zur Folklore.118 Die christliche Tradition bildet allerdings in Bayern wie in Deutschland und Europa nur einen wichtigen Traditionsstrang, neben dem der aufklärerische 114

Vgl. oben Fn. 63. In diesem Sinne kann man mit E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92, 112 sagen, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht garantieren kann (und nicht durchsetzen darf). Warum sollten aber bestehende Verbindungen zwischen religiös begründeten und moralisch-rechtlich verbindlichen Werthaltungen gekappt oder ins Private abgedrängt werden, solange klar ist, dass Letzteres im Vordergrund steht? Hierzu T. Würtenberger, in: W. Brugger/ S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 277 ff. 116 Ich schlage also zur Vermeidung von Missbrauch bei der Verwendung zivilreligiöser Argumente und Symbole einen Zwei-Stufen-Test vor: (1) Es muss in der jeweiligen politischen Gemeinschaft (das kann in Deutschland ein Land oder das Bundesgebiet sein) eine starke Prägung durch eine Religion wirklich vorhanden sein; Behauptungen einer Regierung genügen nicht; diese kann nicht von Staats wegen für verbindlich oder vorzugswürdig erklärt werden. Beide Voraussetzungen können von Gerichten überprüft werden; die Beantwortung der Frage, wo genau dogmatisch diese Punkte in die Grundrechtsprüfung einzubauen sind, kann hier offen bleiben. 117 Vgl. oben Fn. 4 und Fn. 109 f. 118 Vgl. BVerfGE 93, 1, 33; Lübbe, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998, S. 250 f. 115

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Liberalismus und Humanismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen steht. Für Solidarität mit unseren Verfassungswerten stehen in unserer Tradition beide Richtungen! Mit Toleranz hatten zeitenweise beide ihre Schwierigkeiten – antiaufklärerische Tendenzen lassen sich im Christentum und insbesondere im Katholizismus ebenso entdecken wie antikirchliche Affekte im aufklärerischen Liberalismus.119 Es ist verfassungsrechtlicher Ausdruck dieser Substanz unseres Wertbewusstseins und der Achtung beider Traditionsstränge, dass sich auf Bekenntnisfreiheit nach deutschem Verständnis sowohl Religionen wie Weltanschauungen berufen können und dass der positiven Bekenntnisfreiheit die negative entspricht. Auf diese Interpretation des Art. 4 Abs. 1 GG können sich alle Juristen einigen. Doch wie sollen Konflikte im Schulbereich gelöst werden, in dem unterschiedliche Bekenntnisse aufeinanderprallen, entweder direkt, zwischen Schülern, oder indirekt, über die Zuständigkeit der Länder für die Ausgestaltung des Erziehungsauftrags, in dem sich die mehrheitlichen Traditionen widerspiegeln können, die dann Minderheitspositionen entgegentreten? Die Lösung des Konflikts nach der liberalen kommunitaristischen Sicht120 liegt auf der Hand: Es kommt auf eine verträgliche Lösung an; beide Traditionen sollen Ausdruck finden können, sofern dies irgendwie möglich ist. Dies ist auch möglich, falls man mit Fug und Recht sagen kann, dass das Kreuz in der Schule die Nichtchristen nicht bekehren und unter Druck setzen soll, sondern für allgemeine Verfassungswerte wie Menschenwürde, Solidarität und Toleranz steht, die im Rahmen unserer Tradition zwar stark, wenngleich nicht ausschließlich christlich geprägt sind. Das Kreuz wäre zweifellos in seiner genuin christlichen Botschaft betroffen, wenn es aktiv im profanen Unterricht zur Missionierung, Bekehrung und Verehrung eingesetzt würde; anderes muss gelten, wenn es in Fächern wie Deutsch oder Geschichte als Objekt von unverstellter Analyse und Diskussion etwa der unterschiedlichen Kreuzesbedeutungen dient. Man kann den illegitimen Vorrang der genuin christlichen Botschaft aber auch dann bejahen, wenn das Kreuz etwa direkt über der Tafel (einem Unterrichtsinstrument) hinge und auffällig positioniert, also ,unübersehbar‘ wäre. Dann ist die Verbindung zwischen der staatlichen Autorität des Lehrers und der spezifisch christlichen Altarsymbolik zu eng. Anders ist die Sachlage, wenn das Kreuz an einer unauffälligeren Stelle hängt. Dann drängt sich nicht der Eindruck auf, dass man ,unter dem Kreuz‘ lernen müsse.121 Für die Christen in der Klasse wäre das Kreuz eine – aus Sicht des Staates und der christlichen Eltern willkommene – Un119 Vgl. Höffe (Fn. 37), Kap. 4; H. Maier, Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997, Kap. 4. 120 Mein Plädoyer für den liberalen Kommunitarismus ist auf der Ebene der Verfassungstheorie, nicht unmittelbar der Grundrechtsdogmatik, angesiedelt, doch hat die Wahl entweder des strikten Neutralitätsliberalismus oder des liberalen Kommunitarismus als leitender Verfassungstheorie Auswirkungen auf den Einsatz der einschlägigen dogmatischen Figuren, wie die Mehrheitsmeinung und das Minderheitsvotum in BVerfGE 93, 1 ff. deutlich zeigen. Dazu schon oben am Ende von Abschnitt I. 121 Vgl. schon oben Fn. 11.

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terstützung in den allgemein durch das Kreuz verkörperten Verfassungswerten etwa der Solidarität und Toleranz aus der mehrheitlich vertretenen Glaubenshaltung. Für die Nichtchristen stellt sich das Kreuz primär als ein Hinweis auf eine prägende ethische Tradition des Gemeinwesens dar, ohne dass damit ein Zwang zur Identifikation mit der religiösen Botschaft verbunden ist – man kann das Kreuz als bedeutungslos ansehen oder eine andere Letztbegründung für Verfassungswerte vertreten, ohne deshalb diskriminiert zu werden. Wenn die Verhältnisse so sind oder die Gesetze eine solche Lage anzielen und verbindlich machen, wie das in Bayern der Fall war122, kann man einer staatlichen Anordnung in einem christlich geprägten Land nicht die Legitimität absprechen, das Anbringen von Kreuzen in Schulzimmern vorzusehen. Damit ist nicht gesagt, dass dies die beste aller Politiken ist. Man kann und sollte sich durchaus fragen, ob bei zunehmender Multireligiosität bzw. Religionsindifferenz eine solche ,Erinnerung‘ und partiell säkulare, partiell religiöse Unterstützung sinnvoll ist – die Frage stellen heißt freilich nicht automatisch, wie der strikte Neutralitätsliberale unterstellen würde, sie zu verneinen. Doch sollte das Urteil ,illegitim‘ bzw., rechtlich weitergedacht, ,verfassungswidrig‘ für solche Fälle reserviert werden, in denen mehr als die in der konkreten Situation unvermeidliche Interessenbeeinträchtigung ausgeübt wird. Gibt die Situation zu erkennen, dass ein Bemühen um Ausgleich unterschiedlicher Traditionen vorliegt und dass der Kernbereich von Neutralität (keine Missionierung, kein Bekehrungs- oder Bekenntniszwang, kein Ausschluss anderer Letztbegründungen) nicht angegriffen wird, dann ist es objektiv plausibel, zumindest vertretbar, wenngleich nicht jeden überzeugend, dass es sich hier um eine legitime Zumutung für die betroffenen Minderheiten handelt. In diesem Sinne setzt Toleranz wirklich Toleranz auf beiden Seiten voraus, und staatliche Neutralität muss vom Bemühen um praktische Konkordanz getragen sein. Für Verfassungsgerichte heißt dies, dass sie im Schulbereich sowohl eine ,konservative‘ als auch eine ,neutralitätsliberale‘ Festlegung auf den Vorrang entweder der positiven oder der negativen Bekenntnisfreiheit vermeiden sollten. Aus der Sicht des ,liberalen Kommunitarismus‘ hat deshalb die Mehrheit des BVerfG falsch und hat die Minderheit mit ihrem Rekurs auf die frühere Rechtsprechung des Gerichts123 richtig entschieden. Zu unserer Verfassungstradition gehört es allerdings auch, Verfassungsgerichten und ihren Entscheidungen Respekt entgegenzubringen, selbst wenn wir der Überzeugung sind, dass diese falsch sind. Das schließt Kritik nicht aus, sondern ein, insbesondere wenn die Entscheidung den Eindruck erweckt, das Gericht habe mehr eine ,vernünftige verfassungspolitische Zielsetzung‘ durchsetzen wollen als Verfassungsrecht mit dem Ziel praktischer Konkordanz auszulegen. Der zuständige bayerische Gesetzgeber hat die Entscheidung des BVerfG zum Anlass genommen, 122 Verstöße gegen die Rechtsvorschriften können und müssen in einem Rechtsstaat vor die Gerichte gebracht werden. 123 Vgl. oben Fn. 3, 9.

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§ 11 Neutralitätsliberalismus und liberaler Kommunitarismus

den Art. 7 des Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen um einen Absatz 3 zu ergänzen, der folgendermaßen lautet: „Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit soweit wie möglich zu berücksichtigen.“ Wenn diese Vorschrift gerichtlich angegriffen wird und letztlich das BVerfG über diese neue Norm entscheiden muss – wie sollte dann die Entscheidung lauten? Aus einer liberal-kommunitaristischen Sicht ist das Ergebnis klar: Noch deutlicher als die Ausgangsvorschrift124 ist diese Norm vom kommunitaristischen Rationalitäts- und Legitimitätsverständnis inspiriert: Es geht um Wahrung und Unterstützung einer partikularen Tradition, der moralisch-ethischen Prägung Bayerns durch christliche und aufklärerische, humanitär-säkulare Werte, und deren praktischen Ausgleich im Schulunterricht. Die Konfliktmöglichkeiten werden gesehen und ernstgenommen; eine gütliche Einigung soll versucht werden auf der konkreten Ebene der einzelnen Klasse bzw. Schule – dies ist ganz im Sinne des im Kommunitarismus oft hervorgehobenen Subsidiaritätsprinzips.125 Wenn keine gütliche Einigung zustande kommen sollte, also Toleranz zwischen Schülern und Eltern nicht zum Konsens führt, ist ein gerechter staatlicher Ausgleich herbeizuführen. Soweit dann nicht in den für unsere Tradition unverzichtbaren Bereich der Abwehr religiöser Indoktrinierung und Identifikation eingegriffen wird, ist es legitim, wenn die Mehrheitsinteressen sich durchsetzen und die Anbringung eines Kreuzes im Schulzimmer vorsehen.126

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Vgl. oben Fn. 5 zu § 13 Abs. 1 BayVSO. Nachweise oben Fn. 59, 61. 126 In diesem Sinne hat der bayerische Verfassungsgerichtshof am 1. 8. 1997 entschieden, Az.: Vf, 6-VII-96, 17-VII-96, 1-VII-97, NJW 1997, S. 3157 ff. 125

§ 12 Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter? Im September 2002 wurde der 11-jährige Bankierssohn Jakob von Metzler von dem Studenten Magnus Gäfgen in Frankfurt entführt. Gäfgen forderte ein hohes Lösegeld von der Familie Metzler. Kurz nach der Geldübergabe wurde er verhaftet. Bei der Vernehmung machte er keine Angaben zu dem Verbleib von Jakob. Als der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner Gäfgen Gewalt androhte, um das Versteck des Entführten zu erfahren, nannte dieser den Fundort. Dort wurde das schon tote Kind entdeckt. Magnus Gäfgen wurde wegen Entführung und Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Polizeivizepräsident kam mit einer geringen Strafe davon. Das Gericht sah keine Rechtfertigung für die Aussageerpressung vorliegen und begründete das niedrige Straßmaß mit der für sich genommen ehrenwerten Absicht von Daschner, das Leben des entführten Jakob zu retten. Dieser Entführungsfall hat eine Diskussion losgetreten, die an ein in Deutschland bislang wirksames Tabu rührt: Die Polizei darf unter keinen Umständen foltern; schon eine Diskussion über mögliche Grenzen des Folterverbots erschüttert die Grundfesten des Rechtsstaats. Befürchtet wird, dass die gerade in Abwendung vom Unrechtsregime der Nazis in Art. 1 Grundgesetz (GG) absolut geschützte Würde eines jeden Menschen in einen Abwägungsstrudel gerät, bei dem sie gegen reale oder vermeintliche Bedürfnisse von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung verliert. Trotz dieser Befürchtungen ließ sich das Tabu nicht mehr aufrechterhalten. Schließlich ging es um die Rettung des Lebens von Jakob, nicht um die Strafverfolgung des Entführers. Es war klar, dass der Entführer und nicht lediglich ein Verdächtiger gefasst war. Die Polizei durfte nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen, dass Jakob noch lebt. Ist es dann ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn körperliche Gewalt gegen den Entführer angedroht und notfalls auch angewandt wird? So sah es der Frankfurter Polizeivizepräsident Daschner, und so sahen es je nach Umfrage die Hälfte oder etwa zwei Drittel der Bevölkerung, jedenfalls für die Androhung von körperlicher Gewalt. Juristen und Kommentatoren dagegen sahen und sehen fast einhellig die geschilderten Bedenken überwiegen und insistieren auf einem absoluten Folterverbot. Die moralische Zwickmühle der Polizisten wird zwar zugestanden. Wer aber als Amtsperson foltere, müsse strafrechtlich und disziplinarrechtlich verfolgt werden. Einige meinen, die Strafe könne gemildert werden. Andere votieren für eine spätere Begnadigung. Wieder andere beharren auf der Strenge des Gesetzes; sie zollen aber dem Polizisten, der dem gefassten Erpresser körperlichen Zwang androht oder diesen sogar anwendet und dafür die Strafe auf sich nimmt, moralischen Respekt.

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§ 12 Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?

I. Was sagen die Rechtsnormen? Die Texte aller einschlägigen Rechtsnormen weisen auf ein absolutes Verbot staatlichen Zwangs zur Herbeiführung von Aussagen durch Personen hin, die sich in Polizeigewahrsam befinden. Zudem stellen solche Aussageerpressungen „Folter“ dar, wie Art. 1 der UN-Anti-Folter-Konvention deutlich macht. Rechtlich einschlägig ist aber bei der beabsichtigten Abwehr einer Lebensbedrohung zunächst das Polizeirecht. Dieses fällt in die Zuständigkeit der Länder, deren Regelungen manchmal differieren, für diesen Fall aber in die gleiche Richtung zeigen. Wird eine Person festgenommen und steht fest, dass sie der Entführer und (polizeirechtlich gesprochen) „Handlungsstörer“ ist, so muss sie zur Beseitigung der Gefahr beitragen, also den Ort preisgeben, wo der Entführte versteckt ist. Damit droht allerdings eine Selbstbezichtigung des Entführers für ein späteres Strafverfahren. Solche Selbstbezichtigungen schließen moderne Rechtsstaaten aus, indem sie der ja strafrechtlich noch zu überführenden Person ein Aussageverweigerungsrecht zugestehen. Gefahrenabwehrrecht und Strafprozessrecht treten in einen Gegensatz: Aus Gründen der Gefahrenabwehr sollte die Aussagepflicht bestehen, aus Gründen fairer Strafverfolgung jedoch ausgesetzt werden. Die Lösung dieses Konflikts gibt § 12 II des hessischen Polizeigesetzes exemplarisch vor: Danach wird das grundsätzlich bestehende Aussageverweigerungsrecht eingeschränkt, „wenn die Auskunft für die Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist“.1 Folge einer Aussage des Entführers ist, dass die gewonnenen Informationen die Gefahr beseitigen (das Entführungsopfer wird gefunden); in einem späteren Strafverfahren dürfen sie allerdings nicht verwendet werden. Das schließt eine Strafbarkeit in aller Regel nicht aus, denn die bis zur Aussage gewonnenen Informationen der Polizei bleiben verwertbar. Was aber, wenn der Entführer keine Aussage machen will? Dann gibt das Polizeirecht den Amtswaltern die Möglichkeit der Vollstreckung, soweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird: Falls möglich, hat die Polizei die Gefahr selbst zu beseitigen. Muss sie auf den Handlungsstörer selbst zugreifen, stehen Zwangsgeld, Zwangshaft und Zwang gegen Sachen oder Personen zur Verfügung, bis hin zum Schusswaffengebrauch. Im äußersten Notfall darf die Polizei sogar den finalen Rettungsschuss einsetzen: „Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist“ – so formuliert exemplarisch § 54 II Polizeigesetz Baden-Württemberg (PolG BW). In der hier vorausgesetzten Entführungssituation würde nur die Anwendung körperlichen Zwangs helfen – Folter. Das ist jedoch verboten: „Die Polizei darf bei Vernehmungen

1 Vgl. auch die Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts – BVerfGE – Band 56, S. 37, 41 ff.

II. Die Antwort des Strafrechts

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zur Herbeiführung einer Aussage keinen Zwang anwenden“ (§ 35 PolG BW). Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Das absolute polizeirechtliche Verbot gilt auch im Verfassungsrecht und Völkerrecht. Art. 104 I 2 GG setzt fest: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.“ Diese Norm gründet in der Verbürgung der Menschenwürde in Art. 1 I GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Ausnahmen sind nicht vorgesehen, und es ist unbestritten, dass diese Normen auch Rechtsbrechern oder des Rechtsbruchs Verdächtigen zugutekommen. Im Völkerrecht gibt es mehrere von Deutschland ratifizierte Konventionen, die Folter ausschließen. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) formuliert: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Dieses Verbot ist ebenfalls absolut; selbst im Kriegsfall oder Notstandsfällen, in denen Tausende von Menschen bedroht sind, ist keine Ausnahme erlaubt. Die Rechtstextlage scheint also eindeutig: Festgenommene Personen dürfen nie in ihrem Willen gebrochen und zu einer Aussage gezwungen werden, was immer die Konsequenzen sind. Ob nun ein unschuldiges Opfer oder Tausende, Hunderttausende Opfer sterben müssen, für das Recht macht das keinen Unterschied. Keine Folter, ohne Ausnahme!

II. Die Antwort des Strafrechts Bietet das Strafrecht vielleicht eine Möglichkeit, ausnahmsweise den körperlichen Eingriff doch zu rechtfertigen? § 32 Strafgesetzbuch (StGB) regelt, dass eine durch Notwehr gebotene Handlung nicht rechtswidrig ist: „Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren.“ Danach durften sich Jakob und seine Eltern gegen die Entführung wehren, und die Eltern dürften nach einer Entführung, falls sie des Täters habhaft werden, alles Notwendige tun, um das Versteck zu erfahren, erforderlichenfalls auch Gewalt anwenden, „foltern“. Die Polizei dagegen darf dies nach herrschender Meinung nicht. Für sie gilt nicht das private Notwehr- und Nothilferecht. Vorrang hat das dargelegte Amtsrecht, das von Verfassungs- und Völkerrecht geboten, spezifischer auf die hier vorliegende Situation bezogen und zudem jüngeren Datums ist. Selbst wenn die völkerrechtlichen Folterverbote nur die reale Zwangsausübung und nicht schon deren Androhung verbieten sollten, hätte der grundgesetzliche Ausschluss von Zwang gegen Festgenommene Vorrang; die Brechung des Willens autonomer Personen gilt als Würdeverletzung, die Art. 1 I GG kategorisch ausschließt. Diese Einwände gelten auch gegenüber einer Berufung auf den „Rechtfertigenden Notstand“ in § 34 StGB, wonach auch ohne Vorliegen eines Angriffs bei einer Gefahr für das Leben in Rechtsgüter eines anderen eingegriffen werden darf, wenn nach einer angemessenen Abwägung der im Streit befindlichen Rechtsgüter das eine Rechtsgut (das bedrohte Leben des Opfers) das andere Rechtsgut (die körperliche Unversehrtheit des Entführers) wesentlich überwiegt.

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§ 12 Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?

Man mag sagen, dass das Leben des Entführungsopfers klar den Vorrang verdiene. Dem wird entgegengehalten: Selbst wenn man dies unterstellt, geht Amtsrecht vor Strafrecht; zudem ist die Benutzung des Mittels „Folter“ kategorisch verboten.

III. Ein zweiter Blick auf die Rechtslage Viele werden diese Rechtslage ungläubig zur Kenntnis nehmen und sagen: Hier wird die Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt, indem das Recht kaltblütige Entführer und Erpresser belohnt und das Opfer leiden lässt. Doch reicht moralische Entrüstung nicht aus; die Rechtsordnung soll ja gerade soziale Konflikte verbindlich und verlässlich entscheiden. Lässt sich das Evidenzerlebnis von Ungerechtigkeit ummünzen in Rechtsargumente? Das ist möglich, trotz der dargelegten Rechtstextlage. Nichtjuristen mag dies verblüffen, Juristen aber wissen, dass dasjenige, was das Recht wirklich anordnet, erst nach der Interpretation und Berücksichtigung aller einschlägigen Rechtsnormen erkennbar wird. Und Juristen sollten wissen, dass zu einer gelungenen Interpretation auch ein genauer Blick auf die Umstände des Falles gehört. Das Problem der Rechtssicht der herrschenden Meinung liegt in ihrer Einseitigkeit. Stellen wir uns die Idealfigur des Rechts, Justitia, vor. Ihre Augen sind verbunden, damit sie ohne Ansehen der Person – unvoreingenommen – entscheiden kann. Die eine Hand hält die Waage als Symbol der Gerechtigkeit; die andere umfasst das Schwert, das für die Durchsetzung des Rechts steht. Bislang ist es so, als ob Justitia, zu Recht aufgeschreckt durch die angedachte Folter, die Binde abnimmt, um unter Ansehung aller Umstände eine gerechte Entscheidung treffen zu können. Aber sie öffnet nur ein Auge, das die drohende Rechtsbeeinträchtigung des Entführers sieht und als inakzeptabel einstuft. Das andere Auge, das die legitimen Interessen des Entführten sehen und berücksichtigen sollte, bleibt geschlossen. Also öffnen wir auch das andere Auge und suchen im Polizei-, Verfassungs- und Völkerrecht nach Rechtsargumenten zugunsten des Entführungsopfers: Das Polizeirecht basiert auf drei Grundsätzen: 1. Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. 2. Die Polizei muss Gefahren effektiv verhüten oder beseitigen. 3. Das muss verhältnismäßig geschehen. Auf diese Grundsätze lassen sich die genannten Einzelregelungen zurückführen. Dies gilt auch im Extremfall, etwa einer Geiselnahme, bei der der finale Rettungsschuss eingesetzt werden darf, wenn kein anderes Rettungsmittel zur Verfügung steht. Bei einem unausweichbaren Konflikt von Leben gegen Leben darf und muss sich die Polizei auf die Seite des Opfers stellen, nicht die des Täters, sonst verliert die Rechtsordnung ihren Anspruch auf Legitimität und Gesetzesbefolgung. Nach herrschender Meinung muss ein Geiselnehmer notfalls den tödlichen Schuss zur Rettung der Geisel dulden, nicht aber die Brechung seines Willens. Letzteres verletzt die Menschenwürde i.S.v. Art. 1 I GG,

III. Ein zweiter Blick auf die Rechtslage

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Ersteres „nur“ das Leben, das Art. 2 II GG stark, aber nicht absolut schützt. Deshalb ist die Willensbrechung nicht ein erlaubtes Minus zum Mehr des Rettungsschusses. Die Zulässigkeit des finalen Rettungsschusses in unvermeidbaren Konfliktsituationen bietet aber eine Analogiebasis für Aussageerpressungen zur Rettung von Leben. Denn der Ausschluss von Zwang bei Vernehmungen basiert auf der generellen Hilflosigkeit des Festgenommen gegenüber der Polizeimacht und deren vielleicht einseitiger Fixierung auf Resultate um jeden Preis. In der Ausgangssituation ist aber die Sachverhaltstypik anders, ja umgekehrt: Der Entführer hat die Situation insoweit in der Hand, als nur er weiß, wo das Opfer versteckt ist. Die Polizei darf ihn bitten und auffordern, aber schon nicht täuschen und erst recht nicht körperlich antasten, so dass rechtskundige Entführer gegenüber Androhungen von Folter ruhig bleiben können: absolut verboten! Diese Umkehr der Sachverhaltstypik spiegelt sich in der Rechtstextlage, etwa dem exemplarischen § 35 PolG BW, nicht wider. Es liegt deshalb eine „Bewertungslücke“ in Form einer Fehlbewertung vor: Die Norm ist zu abstrakt, zu wenig trennscharf und nicht ausreichend auf die Fallumstände bezogen. Sie bedarf deshalb einer interpretativen Verengung für Fälle, in denen Leben gegen Leben oder Würde gegen Würde steht. Auch für Fälle, in denen Leben gegen Würde steht? Man könnte ja argumentieren, dass es für das Entführungsopfer „nur“ um Leib und Leben geht, während die Folter die „Würde“ des Entführers verletzt. Da aber „Leben“ Voraussetzung für „Würde“ ist, verdient jenes nach der Verfassung niedrigere (weil einschränkungsfähige) Rechtsgut den gleichen Schutz wie das höhere (weil nach dem Text schrankenlose) Rechtsgut Würde. Zudem spricht bei einer Entführungssituation vieles dafür, dass das versteckte Opfer selbst Würdeverletzungen erduldet: Sein Leib und seine Person wird als bloßes Mittel zum Zweck der Erpressung eingesetzt. Im Verfassungsrecht ist das absolute Verbot des Zwangs gegenüber Festgenommenen in Art. 104 I 2 GG im Lichte der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG zu sehen. Danach hat die Staatsgewalt die Würde eines jeden Menschen „zu achten und zu schützen“. Bislang war aber nur von der Achtung der Würde des Entführers die Rede, noch nicht von dem Schutz der Würde des Entführten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dem in Art. 2 II GG verankerten Lebensschutz komme als Vitalvoraussetzung der Menschenwürde ein besonderer Rang zu; insbesondere soweit es um rechtswidrige Angriffe von Seiten Dritter gehe, sei der Staat zum Schutz verpflichtet. Dabei habe die Staatsgewalt in eigener Kompetenz über die geeigneten und angemessenen Mittel zu entscheiden; wenn aber nur ein Mittel übrig bleibe, reduziere sich das Auswahlermessen auf dieses eine Mittel.2 Diese Rechtsprechung lässt sich auf den Ausgangsfall anwenden, falls dieser so gelagert ist, dass kein anderes Mittel als die Gewaltanwendung Erfolg verspricht. Damit stehen wir auch im Verfassungsrecht in einem Konflikt von Leben/Würde gegen Leben/Würde, in dem der rechtstreue Bürger den Vorrang verdient. 2

BVerfGE 39, 1, 42; 46, 160, 164 f.

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§ 12 Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?

Das Völkerrecht scheint einer Aufweichung des Folterverbotes zu widersprechen, wie Art. 3 EMRK zeigt. Doch ist auch hier eine Korrektur möglich, wenn man mit Justitias anderem Auge einen Blick auf Art. 2 EMRK wirft. Absatz 1 verbietet dem Staat grundsätzlich die Tötung von Menschen. Absatz 2 setzt aber eine Einschränkung fest: „Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich als unbedingt erforderliche Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen …“. In direkter Anwendung betrifft Art. 2 nur Tötungen wie den „finalen Rettungsschuss“, nicht Willensbeugungen durch Folter. Folter als Mittel der Staatsgewalt wird spezifisch und kategorisch durch Art. 3 ausgeschlossen. Aber im Hinblick auf die Situationstypik ist Art. 3 unspezifisch, zu abstrakt: Die Norm tut so, als ob zwischen dem nazistischen Folterknecht und dem Polizisten, der das Leben eines Entführten nur noch mit Zwangsanwendung retten kann, kein moralischer und rechtlicher Unterschied besteht. Das überzeugt nicht. Art. 3 stellt in die normative Abwägung nicht ein, dass der Entführer die Grenzen des Rechts überschritten hat, dass er die Pflicht hat, die Gefahr zu beseitigen und das Versteck zu verraten. Art. 3 übersieht, dass das Opfer nichts tun kann außer leiden und Würdeverletzungen hinnehmen, dass der Entführer die Fäden in der Hand hält, dass der Familie der Zugriff auf den Rechtsbrecher versagt wird durch die polizeiliche Gewahrsamsnahme. Dieser blinde Fleck von Art. 3 wird durch Art. 2 kompensiert, der insoweit spezieller sowie moralisch und rechtlich „passender“ ist. Die gerechte und auch rechtstechnisch beste Lösung liegt in einer Konkordanz beider Normen: Dann führt der Leitgedanke des Art. 2 II in unvermeidbaren Konfliktfällen von Leben/Würde gegen Leben/Würde zu einer Reduzierung des Anwendungsbereichs des Art. 3, der in Bezug auf das verbotene Mittel spezifischer ist. Art. 3 EMRK hieße somit: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Folter oder foltergleiche Behandlung wird nicht als Verletzung dieses Artikels angesehen, wenn sie das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Dritten ist und sich gegen den Verursacher dieser Gefahr wendet.“

IV. Der Grundvertrag zwischen Bürger und Staat Für eine besondere staatliche Verpflichtung zum Lebensschutz spricht auch die folgende Überlegung: Zwar ist nach herrschender Meinung das strafrechtliche Notwehr- und Nothilferecht für die Polizei nicht anwendbar, diese Normen werfen jedoch ein repräsentatives Licht auf das Recht in einem fiktiven Naturzustand: Jeder Mensch darf in dem gedachten vor-staatlichen Zustand seine Interessen und vor allem sein Leben gegen rechtswidrige Angriffe verteidigen. Wenn wir durch den Eintritt in eine staatliche Organisation unsere natürlichen Rechte abtreten und den Staat mit einem „Monopol legitimer Gewaltsamkeit“ (Max Weber) ausstatten, dann

V. Dammbruch nach innen und außen?

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wird quasi ein Grundvertrag zwischen den Individuen und dem Staat geschlossen: „Wir verzichten im Regelfall auf die Ausübung von Zwang. Dafür bist du nunmehr zuständig. Aber du musst die Streitigkeiten gerecht lösen und den Zwang, wenn es denn ohne ihn nicht geht, effektiv zur Rechtswahrung einsetzen. Das Niveau an allgemeinem Interessen- und vor allem Lebensschutz muss gesichert, besser noch gehoben werden.“ Letzteres kommt durch die Organisation einer Polizei meist auch zustande; diese kann effektiver vorgehen als ein Einzelner, der sein Recht gegen andere durchsetzen muss. Zudem erlaubt der höhere Organisationsgrad eine rechtsstaatliche Mäßigung: Die Staatsgewalt verzichtet auf besonders brutale Mittel, ohne dass das Schutzniveau erheblich absinkt. Gelegentliche Kosten an Rechtsdurchsetzung werden so akzeptabel, z. B. wenn ein wegen eines Verbrechens Angeklagter freigesprochen wird, obschon dieser die Tat zwar wahrscheinlich, aber eben nicht mit ausreichender Gewissheit begangen hat. Anders kann die Lage bei der Gefahrenabwehr sein, wenn es um Lebensschutz in einer Entführungssituation geht. Nehmen wir an, die Familie des Entführten hätte bei der Geldübergabe selbst den Erpresser gefangen. Dann dürfte die Familie im Rahmen der strafrechtlichen Nothilfe alles Erforderliche tun, auch „foltern“, um das Versteck des Opfers zu erfahren. Tritt nun aber die Polizei dazu und nimmt den Entführer in Obhut, sinkt das Schutzniveau deutlich unter das bisherige Maß. Nunmehr muss die Polizei den „Handlungsstörer“ gegen Zugriffe von Seiten der Familie, aber auch von Seiten eingriffsbereiter Bürger oder Polizisten, schützen, notfalls mit Gewalt, Waffengewalt, bis hin zur Tötung. So führt das absolute Verbot der Anwendung von Zwang gegenüber Festgenommenen zu einer Absenkung des Schutzniveaus für die Bürger im Hinblick auf die Staatsaufgabe, die der Primärgrund für den Eintritt in eine Staatsorganisation überhaupt ist: Sicherung von Leben. Damit bricht der Staat den Grundvertrag mit den Bürgern. Lebensschutz wird durch ihn weder optimiert noch respektiert, sondern dezimiert. Der Wert Zivilität setzt sich gegen die Staatsaufgaben Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum durch. Das ist jedenfalls bei drohendem Lebensverlust nicht folgerichtig. Für solche Fälle verdient Lebensschutz Vorrang vor Zivilitätswahrung. Falls die staatliche Rechtsordnung dem nicht Rechnung trägt, muss sie ihr Monopol legitimer Zwangsgewalt aufgeben und den Bürgern zurückgeben. Dann herrschte wirklich wieder mittelalterliches Faustrecht. Daran sollte keiner ein Interesse haben.

V. Dammbruch nach innen und außen? Gegen Aufweichungen des Folterverbots werden Bedenken erhoben: Lassen wir auch nur einen Fall von Folter zu, werden unsere Polizisten über kurz oder lang in vielen Situationen zu diesem Mittel greifen; ferner werden andere, rechtsstaatlich nicht so gefestigte Staaten die weltweit verankerten Folterverbote um so öfter missachten. Unbestreitbar ist, dass eine Organisation wie die Polizei, deren Hauptaufgabe effektive Gefahrenabwehr (und dann auch Strafverfolgung) ist,

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strukturell in Gefahr steht, rechtsstaatliche Grenzen zu überschreiten. Solche Fälle sind bei uns zwar selten, passieren aber doch immer wieder. Sie werden dann aber auch ruchbar und verfolgt. Würde die hier vorgeschlagene Einschränkung des Folterverbots solche Grenzüberschreitungen geradezu herausfordern? Das ist nicht der Fall, wenn man die Ausnahmekonstellation genau umreißt. Diese sollte acht Merkmale umfassen: (1) eine klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben oder die körperliche Integrität einer Person durch (5) einen identifizierten Aggressor, der (6) gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenbeseitigung in der Lage und (7) dazu auch verpflichtet ist. (8) Die Anwendung körperlichen Zwangs ist das einzig erfolgversprechende Mittel. Eine Ausnahme vom Folterverbot ist also nicht gerechtfertigt, wenn (1) ein bloßer Verdacht einer Gefahr vorliegt oder die Gefahr (2) lediglich mittelbar oder (3) unerheblich ist oder (4) ein nicht so gewichtiges Rechtsgut – etwa Eigentum – betrifft oder wenn (6 u. 7) die Polizei die Gefahr selbst oder (8) mit geringer eingreifenden Mittel beseitigen kann. (5) Gegen bloß Verdächtige, selbst stark Verdächtige, oder dritte Personen – etwa Verwandte oder Rechtsanwälte – darf nicht vorgegangen werden. Diese Merkmale sind Juristen bestens bekannt, sie sind justiziabel und ausreichend bestimmt, so dass Dammbrüche nicht zu befürchten sind. Zweifelsfälle sind natürlich nicht ausgeschlossen, etwa bezüglich der Frage, welche Intensitätsgrade von Eingriffen in die körperliche Integrität des Entführten für eine Abwägung mit dem Folterverbot erforderlich sind, aber dazu geben die Normen über den finalen Todesschuss jedenfalls Hinweise. So kann zum Beispiel (4) nicht jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zu einer Ausnahme vom Folterverbot führen; aber in Fällen, in denen ein Entführungsopfer etwa in einem Erdloch vergraben ist oder Verstümmelung droht, stellt sich die Lage anders dar. Klar ist anhand der genannten Kriterien, dass Aussageerpressungen in Guantanamo oder Abu Ghraib keine Ausnahme vom Folterverbot rechtfertigen. Die Gefahr einer mittel- und langfristigen Absenkung der Befolgung der völkerrechtlichen Folterverbote in Nichtrechtsstaaten lässt sich nicht leugnen. Dass eine klar umgrenzte Ausnahme vom Folterverbot jedoch eine erhebliche Schwächung herbeiführt, ist unwahrscheinlich: Unrechtsstaaten haben in der Regel so starke Motive für Repression, dass die Hemmschwelle für die Anwendung von Folter kaum von der Reputation im Rest der Welt abhängt. Aber hier drängt sich ein weiteres Argument gegen die Absolutheit des Folterverbots auf: Das Entführungsopfer, dessen sichere Bedrohung in Leib, Leben und Würde die Polizei beseitigen könnte, aber wegen des absoluten Folterverbots nicht beseitigt, dient sozusagen als Schutzschild für einen guten Zweck: die unsichere, erhoffte Bewahrung der allgemeinen Achtung der Folterverbote. Es wird von der Staatsmacht nur als Mittel eingesetzt. Darin liegt eine Würdeverletzung gegenüber dem Opfer durch Nichtwahrnehmung der Schutzaufgabe i.S.v. Art. 1 I GG. Zwar würde durch die Folter die Würde des Entführers verletzt, aber in einer solchen Situation von Würde gegen Würde kann und muss die Rechtsordnung sich auf die Seite des Opfers stellen und dem Täter die Preisgabe des Verstecks zumuten. Wenn die Rechtsnormen dies

VII. Weitere Einwände

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ausschließen, dann liegt ungerechtes Recht oder Nicht-Recht vor, und Staatlichkeit ist in Auflösung begriffen. Justitias Waage ist in Schieflage, und das Schwert gleitet ihr aus der Hand.

VI. Deontologie versus Konsequentialismus Eine Relativierung des Folterverbots wird von Vertretern absoluter, abwägungsfester Normen – „Deontologen“ – abgelehnt: „Manche Mittel sind so abscheulich, böse, unmoralisch, dass sie unter gar keinen Umständen benutzt werden dürfen! Deshalb gilt: Folter ist verboten, was auch immer die Folgen für das Opfer oder für uns alle sein mögen!“ Diese Position wird von „Konsequentialisten“ angegriffen, die der Ansicht sind, eine angemessene, gerechte Entscheidung setze unabweisbar die Berücksichtigung aller absehbaren Folgen voraus. Wie auch immer der Streit dieser zwei Denkrichtungen zu lösen ist: Soweit Leben/Würde gegen Leben/Würde steht und auf jeden Fall eine Würdeverletzung oder Folter vorliegt – entweder auf der Seite des Entführers oder des Opfers –, führt die deontologische Sichtweise zu einem Unentschieden. Das Patt kann nur durch weitere Argumente aufgelöst werden. Ein Argument ist schon angeführt worden: Opferschutz muss vor Täterschutz stehen. Ferner droht ein Dammbruch, wenn die Rechtsordnung in der geschilderten Ausnahmesituation dem Rechtsbrecher nicht in den Arm fällt. Dann verliert das Recht seine Legitimation für die Monopolisierung der Zwangsgewalt, dann dürften die Bürger für ihren Lebensschutz wieder selbst Zwang anwenden und Privatjustiz üben. Das wäre wirklich ein Rückschritt!

VII. Weitere Einwände Muss das absolute Folterverbot nicht schon deshalb verteidigt werden, weil das Opfer vielleicht schon tot ist, wie im Fall Jakob von Metzler, oder weil unklar ist, wie der gefasste Erpresser auf körperlichen Zwang reagiert? Für polizeiliches Handeln zur Gefahrenabwehr ist anerkannt, dass es auf die verständige Sicht ex ante ankommt. Wenn die Polizei nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen durfte, dass das Entführungsopfer noch lebt, dann ist sie zum Lebensschutz verpflichtet. Was die Zufügung von Schmerzen angeht, so kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen Schmerzen vermeiden wollen. Zudem gilt selbstverständlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Die List steht vor der Täuschung, die Drohung vor der Anwendung; bei der Anwendung sind geringer vor intensiver eingreifenden Mitteln auszuwählen. Schmerzzufügung ist schlimm, mit jedem Akt stirbt nicht nur im Gefolterten, sondern in jedem von uns ein Stück Menschlichkeit, Zivilität und Würde. Aber Justitias Blick sollte auch das Entführungsopfer sehen: Wenn wir davon ausgehen müssen, dass Untätigbleiben dessen Leiden verlängert und seine Würde

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attackiert, dann können wir nicht beim „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) stehenbleiben. Dann müssen wir uns zwischen zwei schlimmen, unmenschlichen, würdelosen Lagen entscheiden: für die zweitschlechteste Lösung! Müssten wir dann im Polizeirecht etwas Unregelbares regeln, Foltermethoden? Eigentlich ja, wenn aber Würde gegen Würde, sozusagen auch Rechtsstaat gegen Rechtsstaat steht, kann man die Normen ausreichen lassen, die im Strafrecht für Notwehr, Nothilfe und den rechtfertigenden Notstand gelten, ergänzt um einen für Polizeibeamte angehobenen Verhältnismäßigkeitsmaßstab sowie, falls möglich, richterliche Aufsicht.

VIII. Zur Rolle der Polizisten Die Übernahme dieser Entscheidung sollten wir nicht dem moralischen Empfinden der Polizisten überlassen. Wer darauf setzt, dass wir pro forma die Absolutheit des Folterverbots aufrechterhalten, den Polizisten aber moralisch zumuten sollten, das Richtige zu tun, nämlich doch Zwang anzuwenden, in der Erwartung, diese würden rechtlich milde bestraft oder bald begnadigt, verkennt den Ernst der Lage. Wirkt das Folterverbot wirklich absolut, sind Folterakte rechtswidrig. Wann immer ein Polizist daran denkt, trotzdem Schmerz zuzufügen, muss er von seinen Kollegen daran gehindert werden, notfalls mit Gewalt, bis hin zum Todesschuss. Das gilt im Übrigen auch für die Situation, in der ein Bombenleger von der Polizei gefasst worden ist, aber das Versteck der Bombe nicht verraten will, obwohl deren Explosion droht und Tausende von Menschenleben bedroht sind; in einer solchen Lage transformiert das absolute Folterverbot den Rechtsstaat sozusagen zu einem kollektiven Selbstmordpakt. Sollten wir Polizisten in eine solche Entscheidungsnot bringen? Das ist unmenschlich und zynisch. Entweder gilt das Folterverbot absolut, weil es so angeordnet und auch gerecht ist: Dann bleibt kein Raum für moralisches Verständnis und Hoffen auf Rechtsbruch mit anschließender milder Rechtssanktion. Oder es ist in der genannten Situation evident ungerecht und die Relativierung ist bei näherem Hinsehen schon im geltenden Recht angelegt: Dann muss die Ausnahme interpretativ oder legislativ formuliert werden, damit wir selbst, das gesamte Volk, für Recht und Gerechtigkeit und, wo immer möglich, für Zivilität und Würdewahrung einstehen.

Drucknachweise § 1 Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung, in: Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hrsg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Herder-Verlag: Freiburg i. Br. 2008, S. 49 – 94. § 2 Gemeinwohl als Integrationskonzept von Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit, in: Winfried Brugger/Stephan Kirste/Michael Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt. Nomos-Verlag: Baden-Baden 2002, S. 17 – 40. § 3 Zum Verhältnis von Menschenbild und Menschenrechten, in: Wilfried Härle/Bernhard Vogel (Hrsg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Herder-Verlag: Freiburg i. Br. 2007, S. 216 – 247. § 4 Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche: Von strikter Trennung und Distanz über gegenseitiges Entgegenkommen bis zu Nähe, Unterstützung und Kooperation, in: Archiv des öffentlichen Rechts 132 (2007), S. 4 – 43. § 5 Kants System der Redefreiheit, in: Der Staat 46 (2007), S. 515 – 540. § 6 Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und zum amerikanischen Recht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), S. 372 – 411. § 7 Schutz oder Verbot aggressiver Rede? Argumente aus liberaler und kommunitaristischer Sicht, in: Der Staat 42 (2003), S. 77 – 109. § 8 Georg Jellineks Statuslehre: national und international. Eine Würdigung und Aktualisierung anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 2011, in: Archiv des öffentlichen Rechts 136 (2011), S. 1 – 43. § 9 Zur Rationalität des Kommunitarismus und zu seiner Bedeutung für die Verfassung Deutschlands und Europas, in: Ralf Elm (Hrsg.), Vernunft und Freiheit in der Kultur Europas. Ursprünge, Wandel, Herausforderungen. Alber-Verlag, Freiburg/München 2006, S. 383 – 424. § 10 Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 63 (2004), S. 101 – 147. § 11 Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus. Dargestellt am Streit über das Kreuz in der Schule, in: Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Nomos-Verlag, Baden-Baden 1998, S. 109 – 154. § 12 Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 36 (2006), S. 9 – 15.